Die Christologie Emanuel Hirschs: Eine systematische und problemgeschichtliche Darstellung ihrer geschichtsmethodologischen, erkenntniskritischen und subjektivitätstheoretischen Grundlagen 9783110870145, 9783110128949


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Table of contents :
Vorwort
Siglenverzeichnis der Schriften Emanuel Hirschs
Vorrede: Zur Situation der Christologie
Einleitung: Leben und Werk Emanuel Hirschs
I. Die frühe Christologie Emanuel Hirschs
A. Hirschs Lutherdeutung als Ausgangspunkt seiner Christologie
1. Emanuel Hirsch als Schüler Karl Holls
2. Das Verständnis von Luthers Rechtfertigungslehre bei Holl
3. Hirschs Weiterführung der Lutherdeutung Holls
B. Die Christologie auf der Grundlage von Wort und Geschichte Jesu
1. Der methodische Ansatz von “Jesus Christus der Herr”
a) Das altkirchliche Dogma und der protestantische Neuansatz
b) Die Paradoxchristologie und die Korrelation Wort/Glaube
c) Die Tradition Schleiermachers und die Erfahrungstheologie
2. Jesu Wort und seine Aneignung durch das Gewissen
a) Die Bußforderung und die Reich-Gottes-Verkündigung Jesu
b) Die Innerlichkeit christlicher Gotteserfahrung
c) Jesu Gegenwart in seiner Herrschaft über das Gewissen
d) Die Evidenz der Gottheit Jesu für das Gewissen
e) Der ethisch-kategoriale Rahmen der Aneignung der Predigt Jesu
3. Jesu Geschichte als Offenbarungsgeschichte
a) Zur Präexistenzchristologie
b) Das Messiasbewußtsein Jesu
c) Jesu Leiden und Sterben
d) Die hermeneutische Amphibolie der Person Jesu
4. Die Ostererfahrung als Innewerden der ewigen Gegenwart des Gekreuzigten
a) Die Entstehung des Osterglaubens
b) Der “Christus κατά σάρκα” und die paulinische Christologie
c) Der Gehalt der Ostererfahrung
d) Zeit und Ewigkeit
II. Die geschichtsmethodologischen Grundlagen der Christologie
Einleitung: Das dogmatische Interesse am historischen Jesus
A. Der Begriff der Geschichtserkenntnis in der klassischen Historik
1. Die Entdeckung eines spezifisch historischen Wahrheitsbewußtseins bei Leopold von Ranke
2. Die hermeneutische Vertiefung des historischen Bewußtseins bei Johann Gustav Droysen
3. Die logische Klärung des Wissenschaftstheoretischen Orts der Historie bei Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert
B. Hirschs Anwendung der klassischen Historik auf die Erforschung des historischen Jesus
1. Hirschs Bezugnahme auf die klassische Historik
a) Die Anknüpfung an das Geschichtsverständnis Ranke
b) Die Rezeption der Geschichtshermeneutik Droysens
c) Die wissenschaftstheoretische Einordnung der Historie im Anschluß an Windelband und Rickert
2. Die historische Quellenkritik im Unterschied zur Formgeschichte
a) Die Funktion der Quellenkritik
b) Die synoptische Literarkritik
c) Die Kritik der Formgeschichte
3. Die Bestimmung des Individuellen
a) Das komparative Verfahren
b) Die individuelle Bestimmtheit des Allgemeinen
4. Die Unterscheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem
a) Das hermeneutische Problem
b) Die logische Struktur der Bestimmung des Wesentlichen
c) Die religionsgeschichtliche Durchführung
5. Die Gleichzeitigkeit als Ziel historischen Verstehens
a) Der handlungstheoretische Begriff der Geschichte
b) Das Fremdverstehen von Handlungssinn
c) Das historische Verstehen religiöser Subjektivität
III. Die subjektivitätstheoretische Struktur des Glaubens
Einleitung: Die Aufgabe einer Neubestimmung des Glaubensbegriffs
A. Fichte Grundlegung einer Theorie des Absoluten in der Wissenschaftslehre von 1801/02
1. Die Innerlichkeit des absoluten Wissens
2. Die synthetische Fünffachheit des absoluten Für-sich
3. Die Selbstkonstruktion der intellektuellen Anschauung
4. Der Begriff des absoluten Seins
B.Hirschs Explikation des Glaubensbegriffs im Horizont der Philosophie Fichtes
1. Der Glaube als Innerlichkeit
a) Der Hintergrund der Fichte-Kritik
b) Das Defizit des Systems der intellektuellen Anschauung
c) Die theologische Relevanz der idealistischen Philosophie
2. Der Glaube als Gewißheit
a) Der erste Systementwurf
b) Die Dialektik religiöser Gewißheit
c) Die Vermittlung von Luther und Fichte
d) Folgerungen für die Struktur der Glaubensgewißheit
3. Der Glaube als ganzheitlicher Lebensakt
a) Die Anknüpfung an Fichtes Freiheitsverständnis
b) Die menschliche Freiheit als Relat des Gottesverhältnisses
c) Zusammenfassung: Hirschs Fichte-Rezeption
IV. Die erkenntnistheoretische Grundlegung der Dogmatik
Einleitung: Emanuel Hirschs Denkweg zwischen 1926 und 1938 in erkenntnistheoretischer Hinsicht
A. Die exemplarischen Theorieprogramme neuzeitlicher Erkenntnistheorie
1. Der empiristische Ansatz bei J. Locke
2. Das rationalistische Gegenmodell bei G.W. Leibniz
3. Die transzendentalphilosophische Mitte bei I. Kant
B. Hirschs wahrheitstheoretische Entfaltung des Gottesgedankens
1. Die Zweistämmigkeit der Erkennntis und die Dialektik des Wahrheitsbewußtseins
a) Die Dialektik der neuzeitlichen Wissenschaft
b) Hirschs Deutung der Zwei-Quellen-Theorie Kants
2. Die Dialektik des Wahrheitsbewußtseins und die Absolutheit der Wahrheit
a) Die Endlichkeit des Wahrheitsbewußtseins
b) Die religionsphilosophische Dimension der Erkenntnistheorie
c) Gott als absolute Wahrheit
3. Das antinomische Verhältnis des Wahrheitsbewußtseins zur absoluten Wahrheit
a) Die Duplizität von absolutem Denken und absolutem Sein
b) Die Antinomie von Grund und Grenze
4. Die wahrheitstheoretische Entfaltung der Gotteslehre
a) Die drei Modi des Wahrheitsbewußtseins
b) Der Ansatz der materialen Gotteslehre
c) Die Aporetik der ethisch-religiösen Subjektivität
5. Systematische Aspekte der wahrheitstheoretischen Grundlegung der Dogmatik
V. Die späte Christologie Emanuel Hirschs
Einleitung: Der “Leitfaden zur christlichen Lehre” und sein dogmatisches Programm
A. Die Genese der Neuzeittheorie Hirschs in ihrer Bedeutung für das Programm des “Leitfadens”
1. Der frühe Streit um Luther
2. Die neuzeitliche Situation des Christentums
3. Die Wandlung der geschichtsphilosophischen Einordnung der Reformation und ihre theologische Konsequenz
B. Die Christologie im Rahmen der Dialektik von Gesetz und Evangelium
1. Das christologische Lehrstück
a) Der systematische Ort
b) Der formale Aufbau
2. Die materiale Durchführung der Christologie
a) Die christologischen Leitbegriffe
b) Die Anknüpfung an die reformatorischen Grundbegriffe
c) Der Wirklichkeitsbezug der christologischen Leitbegriffe
d) Das Verhältnis zu den christologischen Hoheitstiteln
e) Die gnadenhafte Gleichzeitigkeit des Glaubens mit Jesus
3. Die theoretische Struktur der Christologie
a) Gesetz und Evangelium in der Luther-Deutung Hirschs
b) Der kategoriale Status der Evangeliumsoffenbarung
c) Die innere Genese des christlichen Bewußtseins
4. Die Einheit von Glaube und christologischer Reflexion
Literaturverzeichnis
Namenregister
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Die Christologie Emanuel Hirschs: Eine systematische und problemgeschichtliche Darstellung ihrer geschichtsmethodologischen, erkenntniskritischen und subjektivitätstheoretischen Grundlagen
 9783110870145, 9783110128949

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Ulrich Barth Die Christologie Emanuel Hirschs

w DE

G

Ulrich Barth

Die Christologie Emanuel Hirschs Eine systematische und problemgeschichtliche Darstellung ihrer geschichtsmethodologischen, erkenntniskritischen und subjektivitätstheoretischen Grundlagen

Walter de Gruyter · Berlin · N e w York

1992

@ Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche

Bibliothek



ClP-Einheitsaufnahme

Barth, Ulrich Die Christologie Emanuel Hirschs : eine systematische und problemgeschichtliche Darstellung ihrer geschichtsmethodologischen, erkenntniskritischen und subjektivitätstheoretischen Grundlagen / Ulrich Barth. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1992 Zugl.: Göttingen, Univ., Habil.-Schr., 1990 ISBN 3-11-012894-2

©

Copyright 1991 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: Gesellschaft für wissenschaftliche Datenverarbeitung mbH, Göttingen Druck: Werner Hildebrand, Berlin 65 Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz und Bauer, Berlin 61

Hans-Joachim Birkner

zum Gedenken t 21. September 1991

Vorwort

Vorliegende Untersuchung, die ich für den Druck noch einmal überarbeitet habe, wurde im Sommersemester 1990 von der Göttinger Theologischen Fakultät als Habilitationsschrift für das Fachgebiet Systematische Theologie angenommen. Dafür weiß ich mich ihr zu Dank verpflichtet. Es ist mir ein Bedürfnis, an dieser Stelle meinen weiteren Dank auszusprechen, zuallererst meinem verehrten theologischen Lehrer, Herrn Prof. Dr. Hans-Walter Schütte, sowie den beiden Korreferenten, Herrn Prof. Dr. Dietz Lange und Herrn Prof. Dr. Falk Wagner (Wien), für die freundliche Bereitschaft, das mühsame Geschäft des Begutachtens zu übernehmen. Herrn Dr. Hasko von Bassi danke ich sodann für die Aufnahme des Buches in das P r o g r a m m des Verlages Walter de Gruyter. Bei der Erstellung der Druckfassung habe ich vielfältige Unterstützung erfahren. Claus-Dieter Osthövener und Christian Seysen haben bei der gedanklichen und stilistischen Überarbeitung mitgeholfen. Martin Ohst hat noch einmal die Zitate nachgeschlagen. Martin Arneth las die Fahnenkorrektur. Elisabeth Blumrich übernahm die Umbruchrevision. Text und Layout wurden von Sabine Lorenz gestaltet. Allen Beteiligten bin ich mit Dank verbunden. Danken möchte ich schließlich meinen Göttinger Freunden Wilhelm Gräb, H a r t m u t Ruddies und Dietrich Korsch für besonnenen Rat und tatkräftige Ermunterung in jenen fast wieder vergessenen Turbulenzen, die mit dem Werden dieses Buches verbunden waren. Göttingen, den 31. August 1991

U. B.

Inhaltsverzeichnis Vorwort

VII

Siglenverzeichnis der Schriften Emanuel Hirschs

XV

Vorrede: Zur Situation der Christologie

1

Einleitung: Leben und Werk Emanuel Hirschs

8

I.

Die frühe Christologie Emanuel Hirschs

13

A.

Hirschs Lutherdeutung als Ausgangspunkt seiner Christologie

15

1. 2. 3.

Emanuel Hirsch als Schüler Karl Holls Das Verständnis von Luthers Rechtfertigungslehre bei Holl .. Hirschs Weiterführung der Lutherdeutung Holls

15 19 40

B.

Die Christologie auf der Grundlage von Wort und Geschichte Jesu

54

1.

2.

3.

Der methodische Ansatz von "Jesus Christus der Herr" a) Das altkirchliche Dogma und der protestantische Neuansatz b) Die Paradoxchristologie und die Korrelation Wort/Glaube .. c) Die Tradition Schleiermachers und die Erfahrungstheologie Jesu Wort und seine Aneignung durch das Gewissen a) Die Bußforderung und die Reich-Gottes-Verkündigung Jesu b) Die Innerlichkeit christlicher Gotteserfahrung c) Jesu Gegenwart in seiner Herrschaft über das Gewissen d) Die Evidenz der Gottheit Jesu für das Gewissen e) Der ethisch-kategoriale Rahmen der Aneignung der Predigt Jesu Jesu Geschichte als OfFenbarungsgeschichte a) Zur Präexistenzchristologie b) Das Messiasbewußtsein Jesu c) Jesu Leiden und Sterben d) Die hermeneutische Amphibolie der Person Jesu

54 55 60 62 69 70 81 85 95 100 103 104 109 115 120

χ 4.

Inhaltsverzeichnis Die des a) b) c) d)

II.

Ostererfahrung als Innewerden der ewigen Gegenwart Gekreuzigten Die Entstehung des Osterglaubens Der "Christus κατά σάρκα" und die paulinische Christologie Der Gehalt der Ostererfahrung Zeit und Ewigkeit

Die geschichtsmethodologischen der Christologie

130 130 147 157 161

Grundlagen 165

Einleitung: Das dogmatische Interesse a m historischen Jesus . . .

167

A.

Der Begriff der Geschichtserkenntnis in der klassischen Historik

171

1.

Die Entdeckung eines spezifisch historischen Wahrheitsbewußtseins bei Leopold von R a n k e Die hermeneutische Vertiefung des historischen Bewußtseins bei J o h a n n Gustav Droysen Die logische Klärung des wissenschaftstheoretischen Orts der Historie bei Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert . . . .

204

Hirschs Anwendung der klassischen Historik auf die Erforschung des historischen Jesus

212

2. 3.

B.

1.

2.

3.

Hirschs Bezugnahme auf die klassische Historik a) Die Anknüpfung an das Geschichtsverständnis Ranke b) Die Rezeption der Geschichtshermeneutik Droysens c) Die wissenschaftstheoretische Einordnung der Historie im Anschluß an Windelband und Rickert Die historische Quellenkritik im Unterschied zur Formgeschichte a) Die Funktion der Quellenkritik b) Die synoptische Literarkritik c) Die Kritik der Formgeschichte Die Bestimmung des Individuellen a) Das komparative Verfahren b) Die individuelle Bestimmtheit des Allgemeinen

171 194

212 212 217 223 226 227 230 236 250 250 253

Inhaltsverzeichnis 4.

5.

III.

Die a) b) c) Die a) b) c)

Unterscheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem Das hermeneutische Problem Die logische Struktur der Bestimmung des Wesentlichen Die religionsgeschichtliche Durchführung Gleichzeitigkeit als Ziel historischen Verstehens Der handlungstheoretische Begriff der Geschichte Das Fremdverstehen von Handlungssinn Das historische Verstehen religiöser Subjektivität

XI 257 257 260 268 280 282 285 291

D i e s u b j e k t i v i t ä t s t h e o r e t i s c h e S t r u k t u r des G l a u b e n s

305

Einleitung: Die Aufgabe einer Neubestimmung des Glaubensbegriffs

307

Fichte Grundlegung einer Theorie des Absoluten in der Wissenschaftslehre von 1801 /02

311

1. 2. 3. 4.

Die Die Die Der

Innerlichkeit des absoluten Wissens synthetische Fünffachheit des absoluten Für-sich Selbstkonstruktion der intellektuellen Anschauung Begriff des absoluten Seins

313 328 338 351

B.

Hirschs Explikation des Glaubensbegriffs im Horizont der Philosophie Fichtes

355

Der a) b) c) Der a) b) c) d) Der a) b) c)

355 356 362 366 369 369 373 375 382 387 388 392 397

A.

1.

2.

3.

Glaube als Innerlichkeit Der Hintergrund der Fichte-Kritik Das Defizit des Systems der intellektuellen Anschauung Die theologische Relevanz der idealistischen Philosophie Glaube als Gewißheit Der erste Systementwurf Die Dialektik religiöser Gewißheit Die Vermittlung von Luther und Fichte Folgerungen für die Struktur der Glaubensgewißheit Glaube als ganzheitlicher Lebensakt Die Anknüpfung an Fichtes Freiheitsverständnis Die menschliche Freiheit als Relat des Gottesverhältnisses... Zusammenfassung: Hirschs Fichte-Rezeption

XII IV.

Inhaltsverzeichnis Die erkenntnistheoretische Grundlegung der D o g m a t i k

399

Einleitung: Emanuel Hirschs Denkweg zwischen 1926 und 1938 in erkenntnistheoretischer Hinsicht

401

Die exemplarischen Theorieprogramme neuzeitlicher Erkenntnistheorie

414

1. 2. 3.

Der empiristische Ansatz bei J. Locke Das rationalistische Gegenmodell bei G.W. Leibniz Die transzendentalphilosophische Mitte bei I. Kant

414 424 433

B.

Hirschs wahrheitstheoretische Entfaltung des Gottesgedankens

476

1.

Die Zweistämmigkeit der Erkennntis und die Dialektik des Wahrheitsbewußtseins a) Die Dialektik der neuzeitlichen Wissenschaft b) Hirschs Deutung der Zwei-Quellen-Theorie Kants Die Dialektik des Wahrheitsbewußtseins und die Absolutheit der Wahrheit a) Die Endlichkeit des Wahrheitsbewußtseins b) Die religionsphilosophische Dimension der Erkenntnistheorie ... c) Gott als absolute Wahrheit Das antinomische Verhältnis des Wahrheitsbewußtseins zur absoluten Wahrheit a) Die Duplizität von absolutem Denken und absolutem Sein b) Die Antinomie von Grund und Grenze Die wahrheitstheoretische Entfaltung der Gotteslehre a) Die drei Modi des Wahrheitsbewußtseins b) Der Ansatz der materialen Gotteslehre c) Die Aporetik der ethisch-religiösen Subjektivität Systematische Aspekte der wahrheitstheoretischen Grundlegung der Dogmatik

A.

2.

3.

4.

5.

V.

476 478 483 489 489 494 498 504 504 509 514 514 521 525 529

Die späte Christologie Emanuel Hirschs

547

Einleitung: Der "Leitfaden zur christlichen Lehre" und sein dogmatisches Programm

549

Inhaltsverzeichnis Α.

1. 2. 3.

B.

1.

2.

3.

4.

Die Genese der Neuzeittheorie Hirschs in ihrer Bedeutung f ü r das P r o g r a m m des "Leitfadens" Der Die Die der

frühe Streit u m Luther neuzeitliche Situation des Christentums W a n d l u n g der geschichtsphilosophischen Einordnung Reformation und ihre theologische Konsequenz

XIII

556 556 558 568

Die Christologie im R a h m e n der Dialektik von Gesetz u n d Evangelium

579

Das a) b) Die a) b) c) d) e) Die a) b) c) Die

579 579 585 587 587 595 603 607 611 614 614 619 630 632

christologische Lehrstück Der systematische Ort Der formale Aufbau materiale Durchführung der Christologie Die christologischen Leitbegriffe Die Anknüpfung an die reformatorisclien Grundbegriffe Der Wirklichkeitsbezug der christologischen Leitbegriffe Das Verhältnis zu den christologischen Hoheitstiteln Die gnadenhafte Gleichzeitigkeit des Glaubens mit Jesus . . . . theoretische S t r u k t u r der Christologie Gesetz und Evangelium in der Luther-Deutung Hirschs Der kategoriale Status der Evangeliumsoffenbarung Die innere Genese des christlichen Bewußtseins Einheit von Glaube und christologischer Reflexion

Literaturverzeichnis

639

Namenregister

665

Siglenverzeichnis der Schriften Emanuel Hirschs AchG

Die Auferstehungsgeschichten und der christliche Glaube (1940)

ARB

Antwort an Rudolf Bultmann (1926)

ATPE

Das Alte Testament und die Predigt des Evangeliums (1936)

BJ

Bultmanns Jesus (1926)

Br

Briefwechsel mit Paul Tillich (1917/18)

BWGJ

Betrachtungen zu Wort und Geschichte Jesu (1969)

ChFpB

Christliche Freiheit und politische Bindung (1935)

ChG

Christentum und Geschichte in Fichtes Philosophie (1920)

ChR

Christliche Rechenschaft (1978)

DSch

Deutschlands Schicksal (1920 u.ö.)

EE

Ethos und Evangelium (1966)

FE

Frühgeschichte des Evangeliums (1941)

FR

Fichtes Religionsphilosophie (1914)

FrChr

Freies Christentum (1951)

FVFE

Fragestellung und Verfahren . . . (1942)

GdlF

Brief über die Geschichte der literarischen Form der neutestamentlichen Evangelien (1970)

GGL

Die gegenwärtige geistige Lage (1934)

GlerA

Der Glaube nach evangelischer und römisch-katholischer Anschauung (1931)

GluN

Glanz und Niedergang der deutschen Universität (1979)

GneTh

Geschichte der neuern evangelischen Theologie (1949ff)

HchR

Hauptfragen christlicher Religionsphilosophie (1963)

HStD

Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik (1937)

ICh

Die idealistische Philosophie und das Christentum (1926)

JChH

Jesus Christus der Herr (1926; 1929 2 )

XVI

Siglenverzeichnis

KSt

Kierkegaaxd-Studien (1933)

LB

Luther-Brevier (1917)

LDB

Luthers deutsche Bibel (1928)

Lf

Leitfaden zur christlichen Lehre (1938)

LG

Luthers Gottesanschauung (1918)

LSt

Luther-Studien (1954)

LVH

Luthers Vorlesung über den Hebräerbrief (1929)

Ν

Nachwort 1964 zur Geschichte der neuern evangelischen Theologie (1980)

NAT

Nachwort zu meinem Buche über das Alte Testament (1976)

Offgl

Der OfFenbarungsglaube (1934)

Rg

Eine Randglosse zu 1. Korinther 7 (1926)

RGB

Die Reich-Gottes-Begriffe . . . (1921)

SchS

Schöpfung und Sünde (1931)

SdG

Der Sinn des Gebets (1921; 19282)

SLvE

Stilkritik und Literaranalyse im vierten Evangelium (1942)

StK

Staat und Kirche . . . (1929)

SvE

Studien zum vierten Evangelium (1936)

ThAO

Die Theologie des Andreas Oslander (1919)

VE

Das vierte Evangelium (1936)

WCh

Das Wesen des Christentums (1939)

WdG

Der Weg des Glaubens (1934)

WdTh

Der Weg der Theologie (1937)

WG1

Weltbewußtsein und Glaubensgeheimnis (1968)

WrCh

Das Wesen des reformatorischen Christentums (1963)

ZpCh

Zur paulinischen Christologie (1930)

ZPE

Zum Problem der Ethik (1923)

ZuG

Zweifel und Glaube (1937)

ZWG

Zwiesprache auf dem Weg zu Gott (1960)

Vorrede: Zur Situation der Christologie Die Geschichte der Christologie ist so vielfarbig und vieltönig wie die Geschichte des Christentums selbst. Wie die Christen über Gott, Welt und Mensch dachten, entsprechend haben sie ihre religiöse Anschauung von Jesus in Gedanken gefaßt. Es wäre abwegig, diesen Sachverhalt als solchen bereits mit dem Verdikt eines "Sündenfalls" innerhalb der Geschichte des Christentums zu belegen. Wenn man hier überhaupt von einem "christologischen Sündenfall" sprechen wollte, dann läge er in der Entstehung der Christologie als ganzer. Bereits die Anfänge des Christentums zeigen eine breite Palette lebendiger Jesusbilder. Die frühen schriftlichen Fixierungen und die abschließenden redaktionellen Bearbeitungen des Evangelienstoifs, die paulinische und die johanneische Fassung erster reflektierter Theologie, geschichtstheologische Historiographie, apokalyptische Visionsschilderungen und frühkirchliche Briefliteratur: alles das trägt deutliche Züge christologischer Konvergenz wie Divergenz. Die Geschichte der Christologie ist so zu einem großen gedanklichen Spektrum des Jesusglaubens geworden, welches zugleich Aufschluß über das allgemeine Denken der verschiedenen Zeitalter zu geben vermag. Epochale Vorgänge der Christentumsgeschichte spiegeln sich in - wenn man so sagen darf - epochalen Jesusbildern wider: Einmal ist Jesus kosmologisches göttliches Urprinzip, dessen Erlösungstat man "mit Notwendigkeit" beweisen kann und dem es substantiell "ähnlich zu werden" gilt (Athanasius). Ein andermal ist Jesus das sakramental zugängliche Mysterium der Weltkirche, in dem deren teleologisch geordnete Differenziertheit ihr ontotheologisches Einheitsprinzip findet (Thomas). Dann wieder ist Jesus der religiös abgründige Schmerzensmann, der des himmlischen Vaters Huld nur in der Gestalt des Leidens und Sterbens zu schmecken bekommt und damit zum Muster und Spender zugleich heilsgewissen und angefochtenen Glaubens wird (Luther). Und wiederum anderwärts ist Jesus das Geheimnis der Subjektivität, welches im Treiben der gesellschaftlichen und kirchlichen Verramschung von Individualität und Innerlichkeit allein Halt zu geben vermag (Kierkegaard). Die Reihe ließe sich noch ein gutes Stück weit fortsetzen. Aber schon nach diesen wenigen Schlaglichtern drängt sich unweigerlich die Frage auf: Wer war Jesus wirklich, er allein und ganz als er selbst? Es scheint: alles und keines davon. Mit dieser Antwort ist sicherlich noch kein Anlaß

2

Vorrede

zur Resignation gegeben. Immerhin, soviel wird m a n b e h a u p t e n dürfen: Eine dogmengeschichtlich reflektierte Theologie, welche die Mannigfaltigkeit christlichen Denkens nicht herabnivelliert oder gar z u m Verschwinden bringt, wird angesichts jener Vielfalt von Christologien nicht umhin können, die Frage zu stellen, wie es im Hinblick auf Jesus "eigentlich gewesen" ist. 1 Aber es läßt sich noch ein weiterer Schluß ziehen. Wenn eine Christologie wesentlich den Geist derjenigen Epoche zum Ausdruck bringt, in der sie gedacht und geschrieben worden ist, dann darf sie auch als Indikator für das spezifische Profil des jeweiligen Christentumsverständnisses aufgefaßt werden. Hegel hat einmal gesagt, die Religion sei der Ort, wo ein Volk sich die Definition dessen gebe, was es für das Wahre halte. Dieser Satz läßt sich unschwer abwandeln auf die Funktion der Christologie in der Geschichte der Theologie: Die Christologie ist der Ort, wo eine Epoche des Christentums sich die theologische Definition dessen gibt, was sie für das Wahre hält. Zu dieser geschichtsphilosophischen Aussagekraft der Christologie steht allerdings ihre lehrmäßige Fassung in einem merkwürdigen Kontrast. Den traditionellen mittelalterlichen und altprotestantischen Lehrschemata zufolge erscheint sie als ein Komplex, Topos oder Locus unter einer Vielzahl anderer. In methodischer und architektonischer Hinsicht kommt ihr prägnantes Profil nur in den seltensten Fällen lehrhaft zur Darstellung. Zu den wenigen Ausnahmen gehören Origenes und Schleiermacher. Origenes behandelt die Christologie in seinen "Prinzipien" des Christentums im ersten von vier Teilen, und hier gleich zu Beginn, unmittelbar im Anschluß an die Bestimmung des Gottesbegriffs. Diese Vorordnung der Christologie lebt von dem Gedanken eines trinitarisch strukturierten, heilsgeschichtlich verlaufenden Welterziehungsprozesses, dessen bewegendes Prinzip der göttliche Logos ist. 2 Bei Schleiermacher ist die Vorordnung der Christologie schwerer zu durchschauen. Im materialen Teil seiner "Glaubenslehre" ist die Christologie der Gnadenlehre eingereiht, wo sie im Schema der Zweiteilung von De persona u n d De officio bzw. Zwei-Naturen-Lehre und Drei-Ämter-Lehre verhandelt wird. Insofern ist die Lehreinteilung noch relativ konventionell. Der Eindruck ändert sich, wenn man die Einleitung der "Glaubenslehre" betrachtet. Das spezifisch neuprotestantische Profil dieser Prolegomena 1

2

Diese Frage indiziert noch keineswegs "die Ausbildung einer restlos historischen Anschauung der menschlichen Dinge" (E. TROELTSCH: Die Absolutheit des Christentums, 29; Hhg.v.Vf.), wenn sie auch von der historisierenden Perspektive des neuzeitlichen Bewußtseins, die Troeltsch so eindrucksvoll analysiert hat, nicht abgetrennt werden kann. Vgl. dazu die grundlegenden Ausführungen von H. KocH: Pronoia und Paideusis.

Zur Situation der Christologie

3

besteht bekanntlich darin, daß sie der Bestimmung des Wesens des Christentums formal genau diejenige Stellung zuweisen, die in der altprotestantischen Dogmatik die Lehre von der Heiligen Schrift eingenommen hatte. Von den drei traditionellen Themen der Prolegomena, nämlich Religionsbegriff, Theologiebegriff sowie Stellung und Funktion der Heiligen Schrift, bleiben die ersten beiden erhalten; das dritte wird ersetzt durch die Wesensbestimmung des Christentums. Dies wird somit zum Formalprinzip der gesamten Dogmatik, und zwar zu einem solchen, das zugleich als Materialprinzip fungiert. Das besonders Kunstvolle des Verfahrens der Einleitung besteht darin, daß der Religionsbegriff als Moment und der Dogmatikbegriff als Folge jener Wesensbestimmung expliziert werden. Das Wesen des Christentums ist für Schleiermacher darin beschlossen, daß in dieser ethisch-monotheistischen Religion alle einzelnen Akte der Frömmigkeit auf den geschichtlichen Jesus von Nazareth als den Erlöser bezogen sind. Diese Beziehung ist für Schleiermacher das, was eine Erscheinung innerhalb des Christentums als christlich qualifiziert. Wichtigste Konsequenz dieses Kriteriums ist die Kritik aller natürlichen Religion und natürlichen Theologie. Jene Beziehung auf Jesus wird von Schleiermacher deshalb schon in der Einleitung - nach ihren Grundzügen dargestellt. So enthält die "Glaubenslehre" bereits in der Einleitung eine Christologie in nuce. 3 Seit Schleiermacher hat die Christologie eine formale und materiale Vorrangstellung vor allen anderen Lehrstücken der Dogmatik. Das Eigentümliche von Schleiermachers "Glaubenslehre" liegt in dieser methodischen wie inhaltlichen christologischen Konzentration. Daß dieser christologische Ansatz vor allem an der geschichtlichen Wirklichkeit Jesu orientiert ist 4 , geht schon allein daraus hervor, daß die Wesensbestimmung des Christentums für Schleiermacher - enzyklopädisch gesehen - in den Bereich der wissenschaftlichen Geschichtskunde fällt. Mit der Anknüpfung an den geschichtlichen Jesus bringt Schleiermacher auf seine Weise ein Grundanliegen der Christusanschauung Luthers zur Geltung, nämlich den Ausgang der christlichen Frömmigkeit und Theologie von der vollen Menschheit Jesu. Schleiermacher war eine Verankerung der Christologie im historischen Bild der Person Jesu deshalb möglich, weil ihm trotz der historisch-kritischen Einsicht in die Gebrochenheit der synoptischen Tradition die Authentizität des vierten Evangeliums unverbrüchlich feststand. Seit diese These durch die exegetischen Untersuchungen Karl Gottheb Bretschneiders - noch zu Lebzeiten Schleiermachers - restlos erschüttert wurde 5 , ist eine inhaltliche Einlösung des methodischen Ansatzes der Chri3 4 5

Vgl. dazu H.-J. BIRKNER: Friedrich Schleiermacher, 111. Vgl. D. LANGE: Historischer Jesus oder mythischer Christus, 57-172. Vgl. H. GERDES: Das Christusbild Sören Kierkegaards, 33.

4

Vorrede

stologie bei der geschichtlichen Wirklichkeit Jesu unverhältnismäßig komplizierter geworden. Der weitere Verlauf der historisch-kritischen Durchdringung der Jesus-Überlieferung hat diese Schwierigkeit nicht vermindert, sondern nachgerade rasant erhöht. Die aus der Neologie der Aufklärung hervorgegangene religionsgeschichtliche Erforschung der Anfänge des Christentums erlebt zunächst zwei Höhepunkte, einen skeptisch-kritischen bei David Friedrich Strauß u n d einen konstruktiv-kritischen bei Ferdinand Christian Baur, dessen spekulative Voraussetzungen aber ihrerseits bald in das Kreuzfeuer der Kritik geraten. Die Literaranalyse der Evangelien wird perfektioniert; die altkirchliche Real- und Dogmengeschichtsschreibung erreicht einen ungeahnten Höhepunkt; Orientalistik und vergleichende Religionswissenschaft schließlich weiten den Blick in einem zuvor nie gekannten Ausmaß. Kurzu m , durch den Umfang und Differenziertheitsgrad der Wissenschaften, welche mit der Erforschung der Entstehung des Urchristentums zu t u n haben, ergibt sich der merkwürdige Sachverhalt, daß m a n von der geschichtlichen Wirklichkeit Jesu immer mehr und zugleich immer weniger weiß. Es war Albert Schweitzer, der seiner "Geschichte der Leben-Jesu-Forschung" die Rolle der historiographischen Flurbereinigung zugedacht hat mit der Abzweckung, auf dem Felde der Christologie einen geschichtswissenschaftlich kontrollierten Neuanfang zu ermöglichen. 6 Allein, wie h ä t t e ein solcher Neuanfang aussehen können auf der Basis der in der historischen Theologie und Religionsgeschichtsschreibung erzielten Forschungsergebnisse? Man braucht sich nur einmal Julius Wellhausens "Einleitung in die drei ersten Evangelien" oder Wilhelm Boussets "Kyrios Christos" vor Augen zu halten, u m einen lebendigen Eindruck davon zu bekommen, in welch aporetische Situation das Programm einer auf der geschichtlichen Wirklichkeit Jesu fußenden Christologie hineingeraten war. Es ist so gesehen erklärlich, daß m a n im Umkreis der frühen Dialektischen Theologie meinte, dem historischen Jesus unversehens den Laufpaß geben zu sollen. 7 Das war in der gegebenen Lage in der Tat das einfachste. Man wird diesen Vorgang aus heutiger Perspektive jedoch kaum anders denn als ein Ausweichen vor der Komplexität des christologischen Problems einstufen können. Er mußte sich zwangsläufig, betrachtet man 6

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Vgl. A. SCHWEITZER: Selbstdarstellung, 285f; vgl. dazu auch T. KOCH: Die sachgemäße Form einer gegenwärtigen Beziehung auf den geschichtlichen Jesus. Erwägungen im Anschluß an Albert Schweitzers Kritik des christologischen Denkens, 48. A. v. HARNACKS frühem Einspruch gegen diese Entwicklung (vgl. ChW 37 (1923), 8) ist nicht nur sachliche Berechtigung, sondern - aus heutiger Perspektive geurteilt - auch ein hohes Maß an prognostischer Sicherheit zu bescheinigen.

Zur Situation der Christologie

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die von den Hauptvertretern dieser theologischen Umbruchsbewegung alsbald vorgelegten christologischen Entwürfe, vorwiegend negativ auswirken - sieht m a n einmal von den Korrekturanstrengungen Friedrich Gogartens ab. Karl Barths Christologie entwickelt sich zu einer Kombination aus vorkritischer Bibelexegese und spekulativer Versöhnungslehre. Rudolf Bultmanns Christologie gerät in die Diastase von historischer Skepsis in Sachen "Jesus" und normativer Offenbarungstheologie in Sachen "Christus". An der geschichtlichen Wirklichkeit Jesu orientierte Christologien werden bei beiden Autoren zur bevorzugten Zielscheibe theologischer Polemik. Und so vollzieht sich allmählich ein Paradigmenwechsel in der Christologie. Während die spezifische Fassung der angeblich von Barth entdeckten christologischen Konzentration zunehmend den Bereich der Dogmatik sich zu erobern weiß, gelingt es Bultmann innerhalb der neutestamentlichen Wissenschaft, bezüglich der Frage nach dem historischen Jesus einen radikalen Skeptizismus und hinsichtlich des Verständnisses der paulinischen und johanneischen Theologie einen autoritativen Kerygmabegriff 8 zu etablieren. Andere Perspektiven und Lösungsvorschläge geraten demgegenüber in die Außenseiterrolle. Stimmt das so gezeichnete - grob vereinfachende - Bild der christologischen Neuorientierung seit dem ersten Weltkrieg, dann wird m a n den darin vollzogenen Bruch mit der Tradition sicherlich nicht nur aus Wandlungen innerhalb der Theologie allein erklären können. Allzu deutlich greifen realgeschichtliche und geistesgeschichtliche Veränderungen in jenen Prozeß ein. Einer dieser Vorgänge, der speziell auf die Christologie Bultmanns eingewirkt hat, den er selbst zugleich aber auch mitbeeinflußt hat, ist die Neuorientierung der Hermeneutik. Aus einer kritischen, grammatisch wie psychologisch verfahrenden Kunst der Textauslegung bei Schleiermacher sollte sie bei Wilhelm Dilthey zur erkenntnistheoretischen Basis der Geisteswissenschaften werden, bis sie schließlich bei Martin Heidegger fundamentalontologische Aufgaben übernimmt. In dieser Fassung wird sie von Bultmann rezipiert und zum Teil modifiziert. Das sachliche Recht dieser Umbildung kann hier nicht diskutiert werden. Nur auf einen Sachverhalt ist hinzuweisen, weil er die Entwicklung der Christologie seit Bultmann nachhaltig beeinflußt h a t . Mit der Hinwendung zur transzendentalphilosophischen Dimension des Verstehens ist der existentialontologischen Hermeneutik zugleich ein gewichtiges Aufgabengebiet der traditionellen Hermeneutik ganz aus dem Blick geraten, nämlich die Entfaltung der methodologischen Prinzipien der Geschichtswissenschaft, wie sie in der Grundlagenreflexion eines Leopold von 8

"Es ist also klar, daß diese [seil, die christliche] Theologie selbst jeweils der Kritik unterliegt .... Keiner Kritik aber unterliegt das Kerygma" (GuV I, 186).

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Vorrede

Ranke, J o h a n n Gustav Droysen oder Heinrich Rickert mit fortschreitendem Problembewußtsein zum Zuge gekommen war. Im Bereich der heutigen Geschichtswissenschaft hat m a n die Notwendigkeit einer Rückbesinnung auf jene geschichtsmethodologische Hermeneutik der klassischen Historik längst begriffen. 9 Vergleichbares ist in der Theologie nicht in Sicht; hier scheint im Gegenteil die Texthermeneutik mit zunehmender Einseitigkeit auch noch den letzten Rest methodologisch reflektierten Verstehens von Geschichte - als Geschichte - zu verspielen. Diese Verdrängung der historiographisch-methodologischen Dimension der Hermeneutik samt jenem forcierten Skeptizismus mußte Bultmanns Verständnis des Menschen Jesus als eines geschichtlichen Individuums zwangsläufig ins völlig Unanschauliche rücken. Das Jesus-Buch von 1926 insistiert auf der Alternative von rekonstruktiv-verobjektivierender Historie einerseits und geschichtlich-existentieller Begegnung andererseits. Der Kampf gegen den Positivismus wird dabei mit einem P a t h o s vorgetragen (vgl. a.a.O. 7-15), als h ä t t e ein Droysen oder Rickert für eine wesentlich differenziertere Kritik nicht bereits diskursfähige Argumente geliefert. In eins damit wird der Antipsychologismus zum exegetischen Prinzip erhoben. Das christologische Interesse an derjenigen Person, welche das Wort von der Buße und der Sündenvergebung verkündigt hat, dem "Träger des Wortes" (a.a.O. 147), wird ausdrücklich für "hermeneutisch" - u n d theologisch - illegitim erklärt: "das innere Verhältnis von Wort und Träger des Wortes ist für den Anspruch des Wortes gleichgültig" (GuV I, 100). Man muß einmal innehalten und sich fragen, was hier eigentlich geschehen ist. Es sind ja nicht nur theologiegeschichtlich tief einschneidende Veränderungen, wenn der Mensch Jesus aus der Christologie, und in eins damit aus der Dogmatik, planmäßig herausbefördert wird, sondern das Ganze hat ja auch praktische Konsequenzen. Zur Stärkung der theologischen Kompetenz in Predigt und Seelsorge, Katechese und Religionsunterricht wird jene hermeneutische Konzeption jedenfalls kaum beitragen. 1 0 9

Stellvertretend wären hier zu nennen etwa die Arbeiten von J. KOCKA, R. KOSELLECK, C h . M E I E R , W . J . M O M M S E N u n d J . R Ü S E N .

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Wie etwa soll ein Prediger seinen Hörern Jesu Vergebungszuspruch nahebringen, wenn er bei seinem neutestamentlichen Lehrer über das Verhältnis zu Jesus liest: "Ich habe ihm nichts zu Leide getan, und er hat mir nichts zu vergeben" (GuV I, 97)? Wie eine Passionsandacht halten, wenn er erfährt: "Wie es in Jesu Herzen ausgesehen hat, weiß ich nicht und will ich nicht wissen" (a.a.O. 101)? Wie soll ein Religionspädagoge seine Schüler über Wort und Geschichte Jesu informieren, wenn er zu den Aporien der neueren Forschung mitgeteilt bekommt: "Ich lasse es ruhig brennen; denn ich sehe, daß das, was da verbrennt, ... der Χριστό? κατά σάρκα selbst ist" (ebd.)? Wie die Ethik Jesu verständlich machen, wenn er von der Voraussetzung ausgeht: "Der historische Jesus ... fordert weder unmittelbar etwas von uns, noch richtet er uns wegen einer Tat, mit der wir uns gegen ihn

Zur Situation der Christologie

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Man hat sich kirchlicherseits in den 50er und 60er Jahren vielfach an Bultmanns Entmythologisierungsthese gestoßen. Im Grunde ist sie vergleichsweise harmlos. Sie bringt nur besonders grell auf ein Schlagwort, was seit dem 19. Jahrhundert ohnehin bekannt war und sich im Laufe der Zeit aus guten Gründen durchgesetzt hat. Das eigentliche Defizit der Bultmannschen Forschungsarbeit ist, daß sie meinte, einer abstrakten Jesusdarstellung das Wort reden zu müssen, welche zur individuellen oder kirchlichen Kultur der Jesusfrömmigkeit, die mit der Anschaulichkeit und ethisch-religiösen Tiefenschichtsdimension des Jesusbildes steht und fällt, so gut wie nichts beiträgt, im Gegenteil, sie eher verhindert. Angesichts solcher Zusammenhänge zwischen neutestamentlicher Forschungsarbeit und lebensweltlicher Jesusfrömmigkeit fragt es sich einmal mehr, ob die inhaltliche und methodische Forschungssituation bezüglich der Jesusüberlieferung tatsächlich so aporetisch war, ob die Uberstrapazierung der formgeschichtlichen Methode tatsächlich Sinn gemacht hat und ob die Verdrängung der historischen Hermeneutik tatsächlich zu verantworten war. - Oder ob der Motor hinter diesen angeblich wissenschaftlich eindeutigen und zwingenden Sichtweisen und vor allem hinter deren wirkungskräftiger Verbindung nicht doch in einer rein dogmatischen Entscheidung zugunsten eines OfFenbarungsverständnisses gelegen hat, das mangels anderweitiger Überzeugungskraft glaubte, nur so reüssieren zu können? Nimmt man die gerade skizzierten Hauptentwicklungen der neueren Christologie, insbesondere bezüglich des völligen AuseinanderklafFens von dogmatischem und historischem Jesusbild, zusammen, dann scheint eine Durchführung des christologischen Lehrstückes unter den Bedingungen des gegenwärtigen Problembewußtseins nur um den Preis eines radikalen Umbaus möglich zu sein. Von einem solchen Neuanfang der Christologie wären folgende Adäquatheitsbedingungen zu erfüllen: 1. daß es eine Christologie ist, die auf der Erkenntnis der geschichtlichen Wirklichkeit Jesu von Nazareth fußt - wohlgemerkt: nicht auf Kosten der methodischen und inhaltlichen Differenziertheit der historisch-kritischen Forschung, sondern umgekehrt durch ihre vorbehaltlose Inanspruchnahme; 2. daß es eine Christologie ist, deren Hauptaufgabe - gemäß dem Ansatz reformatorischer Theologie - in der gedanklichen Durchdringung der im Verhältnis zum Menschen Jesus aufgehenden Gottes- und Selbsterkenntnis besteht; vergangen haben" (a.a.O. 95)? Die Reihe solcher Beispiele ließe sich unschwer verlängern. Eines dürfte auf der Hand hegen: Hier ist die Hermeneutik offenbar zur Wissenschaft vom Ende des Verstehens geworden - wohlbemerkt: im Hinblick auf das Verstehen des Menschen Jesus.

Einleitung

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3. daß es eine Christologie ist, die das in der Begegnung mit Jesu Wort und Geschichte sich ereignende Offenbarungsgeschehen als reale Erschlossenheit der Wahrheit Gottes zu entfalten vermag - und zwar so, daß dabei die explikationslogischen Standards kritischer Religionsphilosophie und Erkenntnistheorie gewahrt bleiben. Zu allen drei Punkten sind in der Theologiegeschichte der Neuzeit wichtige Beiträge geliefert worden. Die Theologie Emanuel Hirschs besticht nicht zuletzt dadurch, die aufgeführten Momente sowohl problemgeschichtlich reflektiert wie gedanklich konstruktiv miteinander verbunden zu haben.

Einleitung: Leben und Werk Emanuel Hirschs Emanuel Hirsch 11 wurde am 14. Juni 1888 in einem brandenburgischen Pfarrhaus geboren. Er studierte von 1906 bis 1911 evangelische Theologie in Berlin und wurde nach Promotion und Habilitation 1921 Professor für historische (später: systematische) Theologie in Göttingen. 12 Dort starb er am 17. Juli 1972. Wie seine Berliner Lehrer Adolf von Harnack und vor allem Karl Holl betrieb auch Hirsch die Dogmengeschichte als theologische Basisdisziplin. Entsprechend weit gespannt waren seine Forschungsthemen: Urchristentum (Jesus und Paulus), Reformation (Luther und Oslander) und Neuzeit (Kant, Fichte, Hegel, Schleiermacher, Kierkegaard und Nietzsche) bilden den Hauptgegenstand seiner problemgeschichtlichen Untersuchungen. Hinzu kommen religionsphilosophische, dogmatische, ethische und praktisch-theologische Abhandlungen. Sein Opus magnum ist die fünfbändige "Geschichte der neuem evangelischen Theologie" (1949/54), das gedanklich komprimierteste Buch der "Leitfaden zur christlichen Lehre" (1938). So eindrucksvoll Hirschs wissenschaftliches Werk als solches ist, so problematisch erweist es sich vor seinem realgeschichtlichen Werdezusammenhang, insbesondere vor dessen augenfälligstem Datum, Hirschs Engagement für den NS-Staat. Analysiert man das nur schwer zu entwirrende Ineinander von abstrakten Richtigkeiten und gedanklichen Schwächen, klugen Beobachtungen und krassen Fehlleistungen der politischen Urteils11

Vgl. H. GERDES: Emanuel Hirsch; H.-J. BIRKNER: Art.: Hirsch, Emanuel (1888-

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Vgl. W. TRILLHAAS: Emanuel Hirsch in Göttingen; ders.: Der Einbruch der Dialektischen Theologie in Göttingen und Emanuel Hirsch.

1972).

Leben und Werk

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kraft, dann wird deutlich, daß Hirsch keineswegs zur großen Zahl der Sympathisanten und Mitläufer, sondern zu den wenigen ideologischen Protagonisten jenes Regimes gehörte. Versucht m a n diesen Sachverhalt heute biographisch zu "begreifen" , 1 3 dann wird m a n von den Ereignissen der Jahre 1933-45 zurückgehen müssen zum Ausgang des Ersten Weltkrieges und dem deutenden Umgang damit. Wenn es ü b e r h a u p t einen Schlüssel zur politischen Biographie Emanuel Hirschs gibt, dann ist er im Umkreis des Jahres 1918 zu suchen. Die aus der militärischen Niederlage Deutschlands resultierenden souveränitätspolitischen Restriktionen betrachtet Hirsch als prinzipielle Verhinderungsgründe einer langfristig auf friedliche Koexistenz abzweckenden europäischen Staatenentwicklung. Die in der verfassungsrechtlichen Neugründung z u m Ausdruck gelangende Vorherrschaft der - ihrer geistesgeschichtlichen Herkunft nach - "westlichen Ideen" erlebt er als intellektuelle Demütigung Deutschlands. Deshalb fordert Hirsch bereits im J a h r e 1920 die Ausbildung eines emphatischen deutschen Nationalitätsbewußtseins als des alleinigen Garanten politischer wie ideologischer Selbstachtung. Darüber hinaus verspricht sich Hirsch in gesellschaftspolitischer Hinsicht davon die Konsens- und Legitimationsbasis für den neuen, durch bloße Rechtsstaatlichkeit seiner Meinung nach nicht hinreichend fundierten Staat. In dieser Perspektive nimmt Hirsch das Jahr 1933 zur Kenntnis. Nach anfänglichem Zögern optiert er bald zugunsten der nationalsozialistischen "Revolution". Hitler ist ihm zunächst und vor allem derjenige, der "Deutschlands Ehre" wiederherstellt. Was diesem Leitgesichtspunkt widerspricht, wird als korrigierbarer Schönheitsfehler eingestuft oder verdrängt. Dieser Blickwinkel bestimmt dann auch nahezu uneingeschränkt Hirschs kirchenpolitische Stellungnahmen. F ü r den Intellektuellen Hirsch bedeutet jene Gesamteinschätzung von "Deutschlands Schicksal" (so der Titel der maßgeblichen Schrift von 1920), daß er die Durchsetzung seines eigenen theologischen Theorieprogramms in einer ihn selbst ungemein belastenden Weise bewußt von dem Scheitern oder Gelingen der Rückgewinnung der nationalen Souveränität Deutschlands abhängig macht. Um so mehr verwundert es, daß Hirschs großen wissenschaftlichen Arbeiten aus den späten 30er und frühen 40er Jahren nicht nur heute, sondern bereits damals eine unmittelbare Breitenwirkung versagt geblieben ist. Man wird ihn deshalb auch nicht vorbehaltlos als

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Den wichtigsten Beitrag dazu bildet der Göttinger Fakultätsvortrag von H.-W. SCHÜTTE: Christliche Rechenschaft und Gegenwartsdeutung; vgl. ders.: Mit der Gegenwart gleichzeitig sein.

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Einleitung

einen "Nazi-Intellektuellen" bezeichnen können; 14 tatsächlich war Hirsch schon ab Mitte der 30er Jahre ein Außenseiter und Einzelgänger. Aber so irritierend jene Zeitgebundenheiten des Hirschschen Denkens fraglos sind, so wenig vermögen sie, dessen gedankliches Niveau ernsthaft zu relativieren. 15 Was die sachliche Direktheit und problemgeschichtliche Reflektiertheit anbelangt, hat die Theologie Hirschs bis heute kaum an Faszinationskraft eingebüßt. 16 Vier Aspekte seien an vorrangiger Stelle genannt: Erstens, der humane Ort von Religion - in anthropologischer wie in erkenntnistheoretischer Hinsicht - ist für Hirsch die Gewissenserfahrung. In ihr entdeckt der Mensch seine Verantwortung vor Gott und gelangt damit zugleich zur vollkommenen Durchsichtigkeit seiner selbst. Diese Gewissensbestimmtheit von Religion schließt die grundsätzliche Nichtentlastbarkeit von Subjektivität hinsichtlich des Gottesverhältnisses ein. Weder die Gültigkeit von Lehrsymbolen noch die Autorität eines geistlichen Amtes noch die institutionelle Funktion der Kirche vermögen das individuelle Subjekt in seinem je eigenen Dasein vor Gott zu vertreten. Zweitens, das Wesen des christlichen Glaubens ist für Hirsch in exklusiver Weise orientiert am Gottesverhältnis des Menschen Jesus von Nazareth. Sein Wort und seine Geschichte machen in letzter Instanz kund, worin Gottes eigentliches Wesen besteht und worauf sein heiliger Wille zielt. Christlicher Glaube ist so verstanden nichts anderes als die 14 15

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So R. P. ERICKSEN: Theologen unter Hitler, 167-267. B. WOLF hat in dem theologiepolitisch einflußreich gewordenen Kommentar zur "Barmer Erklärung" von 1957/1970 2 versucht, einen Zusammenhang herzustellen zwischen Hirschs Rolle im Kirchenkampf und seiner Christologie: "Es hat nicht an Theologen, auch an lutherischen, von Rang gefehlt, die hinter den DC standen, wie z.B. E. Hirsch und E. Seeberg .... Fragt man nach ihrer 'Christologie', dann wird gerade bei ihnen das deutlich, wogegen 'Barmen I' spricht, nämlich: a) Christus als Idee; b) 'Christus und ..." bis hin zu 'Christus und Hitler'" (Barmen 2 , 95). Einen Beleg dafür aus Hirschs Darstellung der Christologie ist Wolf allerdings schuldig geblieben. Ein solcher dürfte sich auch kaum auffinden lassen. Er läßt sich selbst derjenigen Veröffentlichung nicht entnehmen, mit der Hirsch, was die geschichtstheologische Überhöhung des NS-Staates anbelangt, sich am weitesten hervorgetan hat, nämlich der 1934 erschienen Schrift "Die gegenwärtige geistige Lage". Hirsch bezeichnet darin "Jesus Christus als die uns sich frei schenkende Wirklichkeit des heiligen und verborgnen Gottes ..., die aus keiner noch so ursprünglichen und letzten Tiefe der Völker und der Menschen kommt und Herrenrecht hat, unser Wollen in sich hinein zu überwinden" (GGL 135; Hhg.v.Vf.). Ein einfühlsames Portrait ihrer Grundintention aus liberaler Sicht bietet U. NEUENSCHWANDER: Denker des Glaubens II, 9-36; Neuenschwander rühmt vor allem Hirschs "vertieften Neuprotestantismus" (22). Die Aktualität insbesondere der Homiletik Hirschs wird umfassend und subtil gewürdigt bei W. GRAB: Predigt als Mitteilung des Glaubens, 115-167.

Leben und Werk

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innere Erfahrung der Gottes Wahrheit erschließenden ewigen Gegenwart des Gekreuzigten. An diesem Maßstab müssen sich sämtliche Aussagen der kirchlichen Lehrtradition messen lassen und gegebenenfalls einer kritischen Reduktion unterzogen werden. Drittens, der Wirklichkeitsbezug des christlichen Glaubens ist für Hirsch durch die Dialektik von Gesetz und Evangelium gekennzeichnet. Durch sein unbedingtes Gebot n i m m t Gott das menschliche Zusammenleben in seine unmittelbare Hut. Damit ist dem Menschen die Intersubjektivitätsbeziehung als Sphäre der Verantwortung und zugleich als Einsatzpunkt der Selbstwerdung angewiesen. Menschliches Zusammenleben ist aber niemals reines, ursprüngliches Leben aus Gott, sondern als kreatürliches Dasein immer auch Leben auf Kosten von Leben. Die Wahrnehmung der ethisch-religiösen Bestimmung des Daseins und deren Verfehlung sind jedem Lebensakt gleichursprünglich. Menschliches Leben vollzieht sich in der unhintergehbaren Antinomie von Geschöpflichkeit und Sündigkeit. Eben diesen Sachverhalt zeigt die Gesetzesoffenbarung auf. Sie wird durch die Evangeliumsoffenbarung ebenso nach ihrer von Gott entzweienden Macht aufgehoben wie nach ihrer die humane Lebenswirklichkeit deutenden Kraft bestätigt. Christlicher Glaube ist demzufolge reiner Ewigkeitsglaube unter den faktischen Bedingungen eines letztlich aporetisch verfaßten geschichtlichen Daseins. Mit diesen inhaltlichen Momenten zielt Hirschs Theologie - viertens auf eine Synthese der Grundeinsichten Luthers mit den elementaren Errungenschaften des neuzeitlichen Wahrheitsbewußtseins. Aufklärung und Pietismus, Idealismus und Historismus knüpfen ebenso an die Reformation an, wie sie deren treibende Gedanken in kritischer Rückbeziehung selbständig weiterbilden. Hirsch hat diesen Prozeß der Modernisierung des Christentums auf den Begriff der "Umformungskrise" gebracht. Um dieses neuprotestantisch reformulierten, reformatorischen Christentumsverständnisses willen - weniger der zeitgeschichtlich bedingten kirchenpolitischen Gegensätze wegen - ist Hirsch in der Theologiegeschichte des 20. J a h r h u n d e r t s z u m eigentlichen Antipoden der Dialektischen Theologie geworden. Hirschs Theologie soll im folgenden von ihrem Herzstück, der Christologie, her ihre Erläuterung finden. Diese wird - der Werkgeschichte 1 7 entsprechend - zweimal zur Darstellung kommen, zunächst in Gestalt ihrer Frühfassung in "Jesus Christus der Herr" (1926) und schließlich in ihrer systematisch ausgereiften Form, wie sie im "Leitfaden zur christlichen Lehre" (1938) vorliegt. Die in der frühen Christologie nur implizierten, 17

Sie ist nahezu vollständig dokumentiert bei H.-W. SCHÜTTE: Bibliographie Emanuel Hirsch 1888-1972.

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Einleitung

in der Spätfassung jedoch explizit vorausgesetzten geschichtsmethodologischen, subjektivitätstheoretischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen werden dazwischen in jeweils eigenständigen Kapiteln erörtert. Die einzelnen Kapitel sind in sich zweigeteilt: Zunächst werden die problemgeschichtlichen Voraussetzungen erarbeitet, im Anschluß daran wird Hirschs eigene Position verhandelt. Es hat mit der Eigenart von Hirschs Denken zu tun, daß beide Teile grundsätzlich von gleichem Gewicht sind. Systematische Theologie geht für Hirsch nicht auf in dem begrifflichen Entwurf eines dogmatischen Lehrgebäudes im Kontext seiner kirchlichen Lehrtradition, sondern erfordert mindestens ebensosehr die Aufarbeitung der allgemeinen ideengeschichtlichen Voraussetzungen nach ihrem je aktuellen Problemstand. Hirschs problemgeschichtlich verfahrende Theologie kann daher nur vor dem Hintergrund eines genauen Bildes der relevanten Problemfelder deutlich werden. Die zu diesem Zweck gewählte Methode der kritischen Interpretation umfaßt sowohl die eingehende Analyse der Texte wie die rationale Rekonstruktion ihrer theoretischen Struktur. Hirschs Theologie soll damit einer wissenschaftlichen Diskussion zugänglich gemacht werden, in der sich Zustimmung wie Kritik auf eine dem gedanklichen Gehalt angemessene Weise artikulieren können.

I. Die frühe Christologie Emanuel Hirschs

A. Hirschs Lutherdeutung als Ausgangspunkt seiner Christ ologie

1. Emanuel Hirsch als Schüler Karl Holls Die Theologie Emanuel Hirschs hat in der Begegnung mit der Theologie Luthers ebenso ihren biographischen Ursprung wie ihre sachlich bestimmende Mitte. Hirschs Eindringen in die Gedankenwelt Luthers ist unauflöslich mit dem Namen Karl Holl und dessen bahnbrechender Forschungsarbeit verbunden. Will man Hirschs Luther-Deutung, wie sie sich nicht nur in vielen Einzelstudien zu dessen Theologie, sondern auch in allgemeineren geistesgeschichtlichen, dogmatischen und kirchenpolitischen Abhandlungen und nicht zuletzt in seiner Christologie niedergeschlagen hat, genauer verstehen, so wird man nicht umhinkönnen, sein Verhältnis zu Holl näher zu beleuchten. Hirsch begegnete Holl erstmalig im WS 1906/07 an der Berliner Universität, bei der er sich - nach dem Abitur im September 1906 am Berliner Humboldt-Gymnasium - für das Fach Theologie immatrikuliert h a t t e und deren Student er bis zur Absolvierung des ersten theologischen Examens im März 1911 vor dem Konsistorium der Provinz Brandenburg blieb. Ebenfalls im WS 1906/07 war auch Holl - bis dahin außerordentlicher Professor für historische Theologie an der Universität Tübingen nach Berlin gekommen, u m den neueingerichteten zweiten Lehrstuhl für das Fach Kirchengeschichte zu übernehmen, den Adolf Harnack im Zusammenhang mit der Übernahme der Leitung der königlichen Bibliothek im Mai 1906 zur Entlastung von seinen Lehrverpflichtungen beantragt hatte. 1 Hirsch widmete sich insbesondere den historischen Disziplinen und scheint die Bekanntschaft mit Holl noch im Jahre 1906 gemacht zu haben. 1

Zur Biographie Karl Holls vgl. A. JÜLICHER: Karl Holl; L. SIEGELE-WENSCHKEWITZ: Zu Karl Holls wissenschaftlichem Bildungsgang. "Bericht des Stadtvikars Lie. Dr. Karl Holl ..."; J. WALLMANN: Karl Holl und seine Schule; ders.: Art.: Holl, Karl (1866-1926); H. KARPP (Hrsg.): Karl Holl. Briefwechsel mit Adolf von Harnack; R. STUPPERICH (Hrsg.): Briefe Karl Holls an Adolf Schlatter (18971925); P. SCHATTENMANN (Hrsg.): Briefe von Karl Holl (1914-1921); K. ALAND (Hrsg.): Aus der Blütezeit der Kirchenhistorie in Berlin. Die Korrespondenz Adolf von Harnacks und Karl Holls mit Hans Lietzmann.

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Die frühe Christologie

An Holl faszinierte ihn vor allem dessen strenge Wissenschaftlichkeit. Einer späten autobiographischen Skizze zufolge war Holl "als historischer und dogmatischer Kritiker, als unerbittlich scharfsinniger dogmen- und theologiegeschichtlicher Analysator, wenigstens in seinen jüngeren Jahren, als ich [seil. E. Hirsch] ihn hörte, weit radikaler als der neben ihm stehende Harnack. Er schenkte dem ihn Verstehenden nichts, täuschte mit keinem Wort über einen Abgrund hinweg" ( F C h 3 (1951), Nr. 10, S. 3). F ü r Hirschs eigenen intellektuellen Werdegang bedeutete dies, daß das "Hineinwachsen in den historischen Kritizismus vor jeder Halbheit, jeder vermittelnden Scheinlösung bewahrt blieb" (ebd.). Neben dem ausgeprägten wissenschaftlichen Wahrheitsbewußtsein war es aber auch die Art der Frömmigkeit Holls, die Hirsch tief beeindruckte. "Er h a t t e ... einen Ernst und eine Leidenschaft des persönlichen Sichvertiefens in das Gottes Verhältnis, die einen aus f r o m m e m Hause Kommenden beinahe heimatlich anmuten mußten" (ebd.). Nimmt m a n beide Momente zusammen, so scheint Holls Wirkung auf Hirsch in einer tiefen Geistes- und Seelenverwandtschaft ihren Ursprung gehabt zu haben. Hirsch bekannte von sich, einem Lehrer begegnet zu sein, "der mit dem, was er h a t t e und was er nicht hatte, der Art, in der ich persönlich fragen und forschen mußte, seltsam gemäß war" (ebd.). In der späten Retrospektive bezeichnet Hirsch diese Begegnung mit Holl geradezu als "göttliche Führung" (ebd.). Welche tiefe Wirkung Holl auf Hirsch ausgeübt haben muß, wird auch aus einer brieflichen Äußerung von Frau Rose Hirsch, geb. Ecke, gegenüber Hans Lietzmann deutlich. Holl sei "so unerbittlich ernst in der religiösen Wahrheitsfrage" gewesen, "daß er keine Kompromisse kannte"; und sie fügt hinzu: "... ich weiß, welche F l a m m e er in meinem Mann angezündet hat" (GLuN 801). Inhaltlich entscheidend ist nun aber die Tatsache, daß genau in dem Zeitabschnitt, in dem Hirsch bei Holl studierte, dieser sich der Erforschung der Theologie Luthers zuwandte. Holls erste Spezialuntersuchung zu Luther, mit der er in die eigentliche Lutherforschung eintrat, erschien im J a h r e 1910 und galt dem Thema: "Die Rechtfertigungslehre in Luthers Vorlesung über den Römerbrief mit besonderer Rücksicht auf die Frage der Heilsgewißheit" (ZThK 20, 245-291). Zur Entstehung dieses Aufsatzes bemerkt Hirsch: "Ich habe als Mitglied des Berliner kirchenhistorischen Seminars dem Werden dieses Aufsatzes zuschauen dürfen" (ThLZ 47 (1921), 317). Denselben Themenbereich h a t t e Holl allerdings schon in einem im J a h r e 1905 vor der Versammlung der Freunde der Christlichen Welt gehaltenen Vortrag berührt, der 1906 unter dem Titel "Die Rechtfertigungslehre im Licht der Geschichte des Protestantismus" erschien. Und im J a h r e 1907 h a t t e sich Holl ein weiteres Mal in dieser Richtung geäußert,

Hirsch als Schüler Holls

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nämlich in der - kurz zuvor bereits im Monatsblatt der religionsgeschichtlichen Volksbücher veröffentlichten - Abhandlung "Was hat die Rechtfertigungslehre dem modernen Menschen zu sagen?". Bei beiden Aufsätzen handelt es sich noch nicht u m Lutherstudien im philologisch-historischen Sinne. Gleichwohl sind sie ihrem Inhalt nach bereits exklusiv an Luthers Fassung der Rechtfertigungslehre orientiert. An diese Veröffentlichungen schloß sich dann, nachdem W . Walther schon im Jahre 1906 den früheren Beitrag knapp rezensiert hatte, eine Diskussion zwischen H. Stephan und K. Holl über den Sinn der Rechtfertigungslehre an. 2 In seinem Nachruf auf Karl Holl von 1926 teilt Hirsch mit, welch tiefen Eindruck die 1907 veröffentlichte Abhandlung zu Beginn seines Studiums bei ihm hinterlassen habe. "Wer in den Jahren, da sie erschien, jung gewesen ist und sie in die Hände bekam, hat ihr für sein Leben zu danken gehabt" (Zeitwende 2 (1926), 93). Wenn Hirsch an gleicher Stelle von sich sagt: "... mir ist damals die Art, in der uns Holl die Rechtfertigungslehre Luthers aufschloß, der Weg zum Verständnis Luthers geworden" (ebd.), und wenn er dann in der späten autobiographischen Skizze urteilt, Holl habe ihn "zu einem ins Letzte eindringenden Verständnis des Rechtfertigungsglaubens Luthers" (FChr 3 (1951), Nr. 10, S. 3) hingeleitet, dann wird erkennbar, daß m a n bei Holls bestimmendem Eindruck auf Hirsch keineswegs nur an die literarische Wirkung jener Publikationen zu denken hat, sondern mindestens ebensosehr an den sich über mehrere Semester erstreckenden prägenden Einfluß des Lehrers in Vorlesungen und Seminarübungen. 3 Aus dem Gesagten ergibt sich eine Schlußfolgerung, die methodisch höchst bedeutsam ist. Wenn Hirsch sich im Jahre 1917 zum ersten Mal vor einem breiteren Publikum literarisch zu Luther äußert - und von diesem Zeitpunkt ab dann in produktiver Kontinuität - , so tut er dies als Schüler Holls, kann sich dabei aber nur auf eine sehr schmale Basis an wissenschaftlichen Veröffentlichungen seines Lehrers zu Luther berufen. 2 3

Vgl. ZThK 17 (1907), 454-457; ZThK 18 (1908), 67-74. H.-W. SCHÜTTE deutet die Begegnung Hirschs mit seinem Lehrer Holl als paradigmatisch, nicht nur weis den Zugang zu Luther betrifft, sondern auch im Hinblick auf die theologische Gesamtexistenz, insbesondere die Vermittlung von christlicher Frömmigkeit und humaner Geistigkeit. "Es ist kaum etwas bezeichnender für den Denk- und Lebensstil Emanuel Hirschs, daß sich ihm diese Problemstellung erst zu erschließen beginnt, als sie unter die Erfahrung einer sie deutenden Person rückt. Die Wahrnehmung der Gegenwart wie die Wahrnehmung der Geschichte bricht sich ihm in ihren Trägern und läßt es allein auf solche Weise zu einer 'existentiellen' Vergegenwärtigung kommen. ... In den Vorlesungen Holls über Themen der Theologie Luthers scheint sich ihm das Verständnis des Christlichen anzubieten, das dem Menschlichen deshalb gerecht zu werden vermochte, weil es dieses Menschliche zu seiner Vollendung kommen ließ" (Subjektivität und System, 39f).

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Die frühe Christologie

H i r s c h tritt als L u t h e r f o r s c h e r hervor, n o c h b e v o r Holls p r o g r a m m a t i s c h e L u t h e r a u f s ä t z e , g e s c h w e i g e d e n n sein großes L u t h e r b u c h erschienen sind. D i e e i g e n s t ä n d i g e n Z ü g e der L u t h e r d e u t u n g H i r s c h s m ü s s e n sich d e m n a c h v o r a l l e m i m V e r h ä l t n i s z u den zwischen 1906 u n d 1910 e r s c h i e n e n e n Abh a n d l u n g e n Holls n a c h w e i s e n lassen, d a v o n 1917 a n nicht m e h r z w i n g e n d m i t einer ausschließlich einseitigen W i r k u n g Holls auf H i r s c h g e r e c h n e t w e r d e n k a n n . Dies z u b e t o n e n , ist u m s o n o t w e n d i g e r , als m a n in der L u t h e r f o r s c h u n g e t w a i g e n Differenzen zwischen d e m L u t h e r b i l d Holls u n d Hirschs bislang k a u m Aufmerksamkeit geschenkt hat, und Hirsch selbst a u s seiner tiefen V e r e h r u n g f ü r Holl h e r a u s A b w e i c h u n g e n v o n Holl nirg e n d s direkt z u e r k e n n e n g e g e b e n h a t . D e r hier g e w ä h l t e m e t h o d i s c h e A n s a t z h a t d a r ü b e r h i n a u s d e n i n t e r e s s a n t e n N e b e n e f f e k t , d a ß sich zeigt, wie j e n e f r ü h e n A r b e i t e n Holls schon alle s y s t e m a t i s c h e n G r u n d a n n a h m e n seines s p ä t e r a u s g e a r b e i t e t e n V e r s t ä n d n i s s e s der R e c h t f e r t i g u n g s l e h r e vorwegnehmen.4

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Gegen J . WALLMANN: Karl Holl und seine Schule. Wallmann sieht den späten Holl entscheidend bestimmt durch den politischen Streit um den Ersten Weltkrieg: "Das Erleben des Krieges brachte den Bruch mit dem Liberalismus" (28); "Holls Lutherbuch ist tatsächlich ein Produkt des Kriegserlebens" (31). Zu dieser These ist folgendes zu bemerken: a) Ihre Durchführung ist offenkundig selbstwidersprüchlich. Im Zusammenhang der Würdigung des Aufsatzes über die Römerbriefvorlesung bemerkt Wallmann selbst: "gepackt worden von Luther ist Holl nicht erst im Krieg, sondern bereits in den Jahren 1909/10. ... Holls Hinwendung zu Luther einfach mit dem Kriegserleben gleichzusetzen, geht also nicht" (28). b) Für Wallmann "bringt der Weltkrieg nicht die organische Weiterentwicklung früherer Arbeiten"; man kann "von diesen Vorkriegsaufsätzen zum Lutherbuch von 1921 nicht eine gerade Linie ziehen" (28). Auch diese Peststellung steht in einem auffallenden Gegensatz zu Wallmanns Bemerkung betreffs der früheren Aufsätze von 1906 und 1907 über die Rechtfertigungslehre: "Holl hat hier bereits diejenige Position bezogen, von der her später auch sein Lutherbild bestimmt ist" (23). Eine inhaltliche Auseinandersetzung, welche Wallmann unterläßt, weil jene ihr Thema "ohne Zitierung irgendeiner Lutherstelle" (23) entfalten bzw. weil "Luther überhaupt nicht zitiert" (24) wird, hätte darüber hinaus zu dem Ergebnis geführt, daß beide Arbeiten die eigentümliche Deutung der Rechtfertigungslehre, das theologische Zentrum des späteren Lutherbuchs, bereits in systematischer Vollständigkeit enthalten, c) Es ist fragwürdig, Holls "Bruch mit dem Liberalismus" (25) ohne weiteres auf die Deutungsperspektive seines Lutherbuchs zu übertragen. Einerseits gehen Wallmanns Belege über einige Stellungnahmen bezüglich des Dissenses in der Kriegsfrage nicht hinaus, worauf sich das Programm des theologischen Liberalismus doch wohl kaum reduzieren läßt. Andererseits ist es Wallmann offensichtlich entgangen, daß bereits die Aufsätze von 1906 und 1907 ein beachtliches Potential an Kulturkritik enthalten, d) Seine Grundthese belegt Wallmann durch einen Verweis auf "die neuen Themen" (29) des Lutherbuchs. Tatsächlich nennt er aber nur ein einziges, nämlich den Gemeinschaftsgedanken. So unbestreitbar Holl damit in die zeitgenössische ideenpolitische Lage eingreifen wollte - hierin ist Wallmann zuzustimmen - , so wenig ist dieser Gemeinschaftsgedanke ein bloßes Produkt

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2. D a s V e r s t ä n d n i s v o n Luthers R e c h t f e r t i g u n g s l e h r e bei Holl

Es ist auffällig, daß Holls frühe Deutung der Rechtfertigungslehre Luthers zeitlich vor der ausführlichen wissenschaftlichen Beschäftigung mit dessen Gesamtwerk zu stehen kommt. Dieser Sachverhalt legt es nahe, zunächst nach Holls Interesse an der Rechtfertigungslehre zu fragen und von hier aus dann sein Verständnis derselben zu erschließen.5 Anlaß der Zuwendung zu Luthers Rechtfertigungslehre und heimliches Ziel ihrer Neuinterpretation ist der Versuch einer Diagnose und Uberbietung des ethisch-religiösen Bewußtseins der eigenen Gegenwart. Holl sieht seine Zeit, die Situation des "modernen Menschen" (1907, 6) bzw. des "moderne[n] Protestantismus" (a.a.O. 3) charakterisiert durch eine innere Krise des Individualismus. Nicht der Sachverhalt individueller Selbstwahrnehmung und Selbstartikulation ist dabei strittig. "Die Sätze, dass alles geistige Leben individuelles Leben und dass Persönlichkeit das höchste Glück der Erdenkinder ist, sind heute Axiome" (1906, 40). Vielmehr ist das Verhältnis des "modernen Individualismus" (ebd.) zur Religion, oder genauer gesagt: dessen theologische Legitimität das eigentliche Problem: "Berechtigung hat ... dieser Individualismus letztlich nur, wo er religiös begründet ist" (ebd.). Die Rückbesinnung auf die Rechtfertigungslehre

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der Kriegssituation. Bereits in dem 1911 erschienen Aufsatz über "Luther und das landesherrliche Kirchenregiment" wird Luthers Anschauung von der unsichtbaren Kirche als innerer Grund des religiösen Gemeinschaftsgedankens entfaltet (vgl. ZThK 21 (1911), Ergänzungsheft 1, 14.21.23). Die von Wallmann insgesamt vorgebrachten Argumente rechtfertigen es somit in gar keiner Weise, den wissenschaftlichen Rang von Holls Lutherbuch durch Stichworte wie "Kriegserleben" oder "Bruch mit dem Liberalismus" zu relativieren. Man wird schon in die Sachdiskussion selbst eintreten müssen, wenn man beabsichtigt, Holls Lutherdeutung zu hinterfragen. - Was die rein historische Genese anbelangt, so wird der Eindruck einer in Motivik und Systematik kontinuierlichen Lutherdeutung Holls auch von Hirsch in einem Schreiben an Hans Lietzmann bestätigt: "Holl's eigentlicher rechter Anfang mit Luther ist ... der Aufsatz über die Römervorlesung, welcher an seine (zunächst nur intuitiv erfühlt gewesene) Zusammenschau der Rechtfertigungslehre Luthers und ihrer Geschichte anknüpft" (GluN 558). Holl selber räumt in der ersten Auflage des Lutherbuches ein, seinen Aufsatz von 1906 noch vorwiegend aus einem "Gesamteindruck von Luthers Schriften" (Luther 1 , 103 Anm. 2) heraus konzipiert zu haben. Eine Einführung in Holls Deutung der reformatorischen Rechtfertigungslehre gibt W. BODENSTEIN: Die Theologie Karl Holls im Spiegel des antiken und reformatorischen Christentums, 120-183. Eine Weiterführung bietet D. KORSCH: Glaubensgewißheit und Selbstbewußtsein, 145-213. Korschs Rekonstruktion von Holls Verständnis der Rechtfertigungslehre zeichnet sich gegenüber der gesamten älteren Debatte dadurch aus, daß sie die erste Interpretation darstellt, die dem Reflexionsniveau und der systematischen Kraft Holls tatsächlich gerecht wird.

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soll die Legitimationskrise des Individuums in der modernen Gesellschaft überwinden helfen. Die Erfüllung dieser Funktion erscheint d a r u m als möglich, weil jene ihrer ureigensten Intention gemäß die Frage nach den Bedingungen des individuellen Gottesverhältnisses zum T h e m a hat und somit in Wahrheit auf nichts anderes zielt als auf "bewußte persönliche Religion" (a.a.O. 42). So mißt Holl der Rechtfertigungslehre die Aufgabe zu, dem allgemeinen, meist nur vage bestimmten individualistischen Lebensgefühl eine tragfähige Grundlage zu verleihen und in eins damit dessen inhaltlicher Ausgestaltung die Richtung vorzuschreiben. Einem wirklichen Verstehen der Rechtfertigungslehre stehen nun allerdings nicht geringe Schwierigkeiten entgegen. Zwei geistesgeschichtliche Epochen vor allem sind es, die für Holl die moderne Persönlichkeits Vorstellung entscheidend geprägt haben und an deren Auswirkungen auf die allgemeine Deutungskultur kein Versuch einer Reformulierung des protestantischen Hauptartikels vorbeigehen kann, nämlich Aufklärung und Historismus. Wenden wir uns zunächst Holls Beurteilung des letzteren zu. Die konsequente historische Denkweise, nicht als methodische Maxime des Fachhistorikers, sondern als Lebensgefühl und Weltanschauung, beschreibt Holl so: "das Charakteristische des Modernen liegt gerade darin, daß er nicht ebenso wie noch der Mensch des 18. und des beginnenden 19. J a h r h u n d e r t s über feste, geordnete Gedankengänge verfügt. Seine Virtuosität ist die Fähigkeit, in alles, was irgend gedacht und empfunden worden ist, sich hineinzuversetzen" (1907, 6). Der Umgang mit der Überlieferung trägt den Charakter der subjektiven Anempfindung. Es gehört zur vermeintlichen Individualitätskultur, sich in alles und jedes einfühlen zu können, "vom altbabylonischen Bußlied bis zum heiligen Franziskus und zu Novalis, in die Stimmung des trotzigen Glaubenshelden so gut wie in die kecke Skepsis, in die träumerische Mystik ebenso wie in den religiösen Imperialismus" (ebd.). Diese Dominanz der subjektiven Anempfindung ist gleichbedeutend damit, daß die spontane Nacherlebbarkeit zum Kriterium der Aneignung von Uberlieferung wird. Es geht allein darum, "überall herauszuziehen, was die eigene Individualität bereichert und hebt, ohne doch irgendwo sich fest zu binden" (ebd.). Die Beliebigkeit der Aneignung tritt an die Stelle der traditionalen Verbindlichkeit soziokultureller Deuteschemata. So führt die konsequente historische Denkweise letztlich auf eine Legitimationskrise der bürgerlichen Individualitätskultur als ganzer: "... wer kann in unseren Tagen noch sein Lebensideal ohne eigene Überlegung der kirchlichen und gesellschaftlichen Sitte entnehmen?" (a.a.O. 8). Die Krisensituation besteht nicht im Abhandengekommensein der von der Tradition aufbewahrten Inhalte, sondern im Verlust ihrer institutionellen Gel-

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tung. Von dieser Legitimationskrise der überlieferten Deutungskultur ist insbesondere das religiöse Bewußtsein betroffen. Auch und gerade für dieses ist die Maxime leitend, "nichts als religiös gültig anzuerkennen, als was in der uns gegenwärtigen Wirklichkeit angetroffen und aus dem eigenen unmittelbaren Empfinden heraus wieder erzeugt werden kann" (a.a.O. 7). Man könnte nun meinen, daß Holl mit der Rückbesinnung auf die reformatorische Rechtfertigungslehre die Absicht verbindet, der Orientierungskrise der eigenen Gegenwart durch den Verweis auf die traditionale Verbindlichkeit eines maßgebenden Deutungsmusters Herr zu werden. Dies ist jedoch keineswegs der Fall. Wenn der Grundsatz der individuellen Aneigbarkeit, "der allen heute Lebenden gemeinsam ist" (ebd.), die Vermittlung der überkommenen Rechtfertigungslehre auch erheblich erschweren wird, so enthält jene Denkweise dennoch zugleich eine der reformatorischen Einsicht wahlverwandte Komponente, die ihrem Verständnis umgekehrt auch zugute kommen kann: "... ewige Wahrheit muß sich dadurch als solche erweisen, daß sie von jeder Zeit neu erfaßt werden und damit immer wieder sich verjüngen kann. Diese Probe muß auch die Rechtfertigungslehre bestehen können, wenn sie wirklich echtes Metall enthält" (ebd.). Der historisierende Umgang mit der Tradition hat also nicht nur den negativen Effekt der Reduktion institutionell verbürgter Gültigkeit, sondern auch den positiven der Steigerung oder sogar Ermöglichung eines wirklichen Verstehens. "Nur das Selbsterlebte steht unerschütterlich fest" (ebd.). Damit ist für Holl wie von selbst der hermeneutische Ansatz seiner Lutherdeutung gegeben. Nur wenn hinter der Überlieferung ursprünglich Erlebtes sichtbar wird, ist nacherlebende Aneignung und damit Verstehen überhaupt möglich. Will man die reformatorische Rechtfertigungslehre wirklich mitvollziehen, dann muß man "zurückgreifen auf das originale Erlebnis Luthers selbst, aus dem erst seine Theorie erwuchs" (1906, 3). Es ist von daher gesehen nur folgerichtig, wenn sich Holl in seinen Lutherstudien ab 1910 konsequent zunächst dem jungen Luther zuwendet, u m von hier aus sein Lutherverständnis zu gewinnen. Dies resultiert nicht allein aus dem Umstand, daß der junge Luther bis dahin ein vernachlässigter Gegenstand der Forschung gewesen ist und daß diesbezüglich neues Quellenmaterial aufgetaucht war, wie etwa die 1908 von Johannes Ficker herausgegebene Römerbriefvorlesung. Es hat mindestens ebensosehr damit zu t u n , daß der im Historismus entwickelte und vor allem von Dilthey ausgeführte hermeneutische Grundsatz, Lehre als Ausdrucksphänomen von Erleben aufzufassen, genuin und konsequent nur an der Frühgeschichte eines Autors durchführbar ist. 6 Nirgends kann Holl den Übergang von

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Vgl. dazu das Vorwort zur ersten Auflage (1870) von DlLTHEYS "Leben Schleiermar chers"; ders.: Einleitung in die Geistes Wissenschaften. Versuch einer Grundlegung

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Erleben in Lehre so deutlich machen wie bei dem u m begrifflichen Ausdruck ringenden jungen Luther. Holls Lutherdeutung hat zur methodischen Prämisse die Rückübersetzbarkeit von überlieferter Lehre in zugrunde hegendes Leben u n d wiederum dessen Übersetzbarkeit in je gegenwärtiges Erleben. Holls Einsatz beim frühen Luther ist von der Gewißheit getragen, daß nur tatsächlich Erlebtes auch wirklich nacherlebt und so der eigenen Zeit nahe gebracht werden kann. Das konsequente Sich-zur-Geltung-Bringen des historischen Bewußtseins erweist sich demnach nicht als Erschwernis, sondern in Wahrheit als Ermöglichungsgrund der Aneigung der Rechtfertigungslehre, indem die ihr zugrunde liegende ursprüngliche Einsicht allererst so in den Vordergrund des Verstehens rückt. Die Auswirkungen der Aufklärung nun sind weniger hermeneutischer als vielmehr inhaltlicher Art. Was von Seiten des durch sie geprägten Denkens dem Nachvollzug des Rechtfertigungsglaubens entgegensteht, ist Holls Meinung zufolge vor allem deren moralischer Optimismus. Er artikuliert sich primär in der Uberzeugung, "aus eigenem Vermögen sich über sich selbst erheben und eine Persönlichkeit absoluten Werts in sich hervorbringen" (1907, 18) zu können. Damit ist zugleich der P u n k t b e r ü h r t , u m den es der Rechtfertigungslehre entscheidend geht, nämlich ihrerseits "scharf das unbedingt Wertvolle zu bezeichnen, auf das das Selbstgefühl des Menschen auch Gott gegenüber sich stützen kann" (a.a.O. 17). Das Menschenbild der Aufklärung 7 geht nach Holl aus von der Dominanz der höheren über die niederen Seelenvermögen, postuliert von daher das unendliche Streben des reinen Ich nach Uberwindung des Affektlebens und erwartet schließlich von der Menschheitsgeschichte im ganzen den unbegrenzten Fortschritt der Herrschaft der Vernunft über die Natur. Holl stellt demgegenüber lapidar fest: "Die psychologischen Voraussetzungen dieses freundlichen Optimismus sind uns ins Wanken geraten. Die Frage, für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte (1883); ders.: Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (1894); ders.: Die Entstehung der Hermeneutik (1900); ders.: Erste Studie zur Grundlegung der Geisteswissenschaften. Der psychische Strukturzusammenhang (1905). - Daß Holl schon früh Dil they zur Kenntnis genommen hat, ist seinem kritischen Urteil zu dessen inhaltlicher Bewertung der Rechtfertigungslehre zu entnehmen (vgl. 1906, 2; Bd. 3, 525f). Daß er unbeschadet dessen die von ihm formulierte hermeneutische Auffassung methodisch für richtig gehalten hat, belegt nicht nur sein gesamter Umgang mit Luther - aber auch mit Thomas Münzer (Bd. 1, 425) oder Calvin (Bd. 3, 262-267) etwa - , sondern ebensosehr die Nachzeichnung der Geschichte der neueren Hermeneutik (vgl. Bd. 1, 544-582), die den Akzent ganz auf "das innerliche Nacherleben" als das "für die Theologen ... wichtigste" (582 Anm. 2) legt. 7

Holl wurde mit der Philosophie der Aufklärung bereits in frühen Jahren, noch vor seinem Eintritt in die dogmengeschichtliche Forschung, vertraut, nämlich in Gestalt seiner philosophischen Dissertation über Thomas Hobbes.

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was das 'eigentliche' Ich des sittlich strebenden Menschen sei, ist für uns ein verwickeltes Problem geworden. Schon der einzelne Willensakt, j a der Begriff Wille selbst erscheint uns komplizierter als der Aufklärung" (a.a.O. 19). Es ist Holls feste Überzeugung, daß der moralische Optimismus der Aufklärung sich einer Selbsttäuschung verdankt, nämlich über die tatsächliche Motivationsstruktur menschlichen Handelns. "Bewußte und unbewußte, natürliche und erworbene, edle und gemeine Beweggründe wirken immer neben und miteinander ... Beide Seiten des Menschen sind an jeder Handlung beteiligt" (ebd.). Bewußtheit, Rationalität und Moralität als maßgebliche Faktoren des Handelns zu behaupten, ist leere Prätention, wenn nicht gar Ausdruck falschen Bewußtseins. "Den H a u p t p u n k t bestätigt jedem die eigene Selbstbeobachtung. Die natürlichen Triebe verlieren niemals ihre Macht über den Menschen" (a.a.O. 21). Es macht die Stärke dieser Aufklärungskritik aus - auch wenn apologetische Interessen unverkennbar mit im Spiel sind - , daß Holl sich durchaus mit der Tiefenpsychologie seiner Zeit in Ubereinstimmung wissen konnte. Deren teils mehr literarisch, teils mehr wissenschaftlich formulierte Einsichten in die Grauzonen der menschlichen Seele entlarven die Selbsteinschätzung des moralischen Gefühls und die ihm zugrunde hegende Anthropologie als pure Ideologie. Demgegenüber gilt es nach Holl die spezifischen Krisenlehren der christlichen Lehrtradition uneingeschränkt zur Geltung zu bringen. Gerade im Kontrast zum moralischen Optimismus der Aufklärung und umgekehrt im Einklang mit den Einsichten der zeitgenössischen Tiefenpsychologie tritt "die bleibende Wahrheit der Erbsündenlehre" (ZThK 18 (1908), 68) zutage. Dieses "dem Modernen verhaßteste Dogma ... hat den wirklichen Menschen zutreffender beschrieben als die gutherzigen Theorien der Aufklärung" (1907, 21). 8 Die Erbsündenlehre ist für Holl kein realitätsfernes Theologumenon, sondern eine zutreffende Beschreibung des inneren Milieus des Menschen. Indem die Rechtfertigungslehre ihren Ausgang von der Erbsündenlehre nimmt, partizipiert sie zugleich an deren tiefenpsychologischer Aktualität. Nimmt man beide Momente zusammen, die Notwendigkeit des erlebnismäßigen Nachvollzugs der in der Rechtfertigungslehre aufbewahrten Einsicht und die dabei vorausgesetzte Fähigkeit zu einem von moralischen Selbsttäuschungen freien Umgang mit sich selbst, dann wird erkennbar, worin die eigentlichen Verstehensschwierigkeiten des "modernen Men8

Holls These steht durchaus in Kontinuität zur Kantischen Ethik. Der in der Zweiten Kritik formulierte generelle Einwand gegen die Moral-sense-Theorie und die in der "Religion innerhalb ..." entfaltete Lehre vom radikalen Bösen nehmen innerhalb der Philosophie der Aufklärung eine pointierte Außenseiterrolle ein. Zu Holls später Auseinandersetzung mit Kant vgl. D. KORSCH, a.a.O. 156f.l70 Anm. 84.

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sehen" gegenüber dem Hauptartikel reformatorischer Theologie begründet Hegen: Es ist die ihm wesenseigene "scharf gespannte Selbstreflexion", welche den Rechtfertigungsglauben heute geradezu als eine "anachronistische Zumutung" (a.a.O. 4) erscheinen läßt. Ein wirkliches Verständnis der Rechtfertigungslehre ist nur unter der Bedingung möglich, daß der Mensch "sich über sich selbst klar zu werden strebt" (a.a.O. 7). Damit m u t e t sie ihm über den Grad an Bewußtheit, wie er in der alltäglichen lebensweltlich praktizierten Religiosität vorliegt, hinaus "noch einen weiteren Schritt in der Selbstbesinnung" (a.a.O. 8) an. Jene durchschnittliche Gestalt von Frömmigkeit ist nach Holl dadurch gekennzeichnet, daß sich der Mensch damit begnügt, "harmlos mit Gott dahin[zu]leben, im naiven Vertrauen, daß zwischen ihm und Gott alles leidlich im Reinen wäre" (a.a.O. 9f). Worin genau hegt der religiöse Mangel dieser "naiven Betrachtungsweise" (a.a.O. 9)? Holl sieht hier vor allem zwei religiöse Zentralfragen übergangen: Zum einen wird die Frage nach der allein vom Gottesgedanken her zu begründenden Möglichkeit des menschlichen Gottesverhältnisses vollständig ausgeklammert. "Gutmütig setzt man voraus, daß der Beziehung des Menschen auf Gott doch notwendig auch eine solche Gottes zum Menschen entsprechen müßte" (a.a.O. 12). Zum anderen wird die ethische Selbstbeurteilung längst nicht in derjenigen Radikalität durchgeführt, wie es im Horizont des Gottesgedankens erforderlich wäre. Man versteht sich als Geschöpf Gottes und baut darauf, daß m a n "bei all seiner Gebrechlichkeit und Sündhaftigkeit doch auch wirklich Gutes schafft" (a.a.O. 16). Holl ist sich dessen bewußt, daß er mit beiden Kritikpunkten nicht nur außerkirchliche Erscheinungsformen von Religion trifft, sondern auch und gerade die institutionalisierten Gestaltungen protestantischen Christentums. Blicken wir auf den Anfang unserer Ausführungen zurück, so bestätigt sich, daß Holls Infragestellung des zeitgenössischen Verständnisses von Individualismus keineswegs diesem pauschal und auch nicht den Versuchen seiner religiösen Begründung als solchen gilt. Vielmehr zielt sie auf das eigentümliche strukturelle Reflexionsdefizit des religiösen Bewußtseins, wie es von solchen Deutungsmodellen zumeist in Anschlag gebracht wird. Holls Erneuerung der Rechtfertigungslehre will theologische Krisenbewältigung in dem Sinne sein, daß sie die innere Legitimationskrise des religiös begründeten Individualitätsbewußtseins durch eine theologische Theorie individueller Selbstreflexion zu überwinden sucht. Luthers Rechtfertigungslehre verdankt ihre Aktualität so gesehen weder ihrem kirchlich institutionalisierten Ansehen noch ihrem traditionellen systematischen Stellenwert, sondern vielmehr dem Umstand, eine allen zeitgenössischen Religionstheorien überlegene Theorie ethisch-religiöser Subjektivität zu repräsentieren. Der Rechtfertigungsglaube ist die schlechter-

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dings exemplarische Gestalt religiösen Selbstbewußtseins - die Entdeckung genau dieses Zentralgedankens hat als der eigentliche Anfang der durch Holl begründeten Lutherrenaissance zu gelten. Daraus ergeben sich nun wichtige Konsequenzen für die Aneignung der Rechtfertigungslehre. Wenn diese wirklich verstanden werden soll, dann muß, bevor ihr eigentlicher Inhalt positiv zur Darstellung gelangen kann, zunächst sämtlichen unmittelbar auftretenden Gestaltungen alltäglicher naiver Religiosität die Notwendigkeit einer religiösen Selbstproblematisierung andemonstriert werden, um so allererst die Fragen zu provozieren, die es danach zu beantworten gilt. Die Selbstproblematisierung des religiösen Bewußtseins ist gewissermaßen der Anknüpfungspunkt der Rechtfertigungslehre. 9 Holl verwendet deshalb einen Gutteil seiner systematischen Überlegungen zur Rechtfertigungslehre auf den Nachweis religiöser Reflexionsdefizite in den durchschnittlichen Erscheinungsformen von Frömmigkeit. Diese äußern sich vor allem im Fehlen von inneren Konflikten oder im Auftreten von Scheinharmonien, und zwar sowohl im Hinblick auf die Identität der Selbsterfahrung als auch hinsichtlich der Bestimmtheit des Gottes Verhältnisses. Was den ersten Punkt betrifft, so ist Holl der Meinung, daß die Behauptung einer kontinuierlichen Stimmigkeit zwischen ethischer und religiöser Selbstauslegung eine leere Prätention ist, die der faktischen Selbsterfahrung widerspricht. Wenn das religiöse Bewußtsein nicht nur ästhetische Funktion hat, sondern alle Akte ethischer Reflexivität tatsächlich begleitet und umgreift, dann ist es zwangsläufig auch von den Sinnstörungen und Identitätskrisen betroffen, wie sie bei jeder in sich spannungsreichen Lebensführung zwangsläufig auftauchen. Die religiöse Sinnvertiefung des sich in Handlungsbezügen auslegenden und realisierenden Ich-Bewußtseins kann nur in den allerwenigsten Fällen damit rechnen, aus dessen Verwick9

In ähnlichem Sinn wird später von Holl selbst das humane Gewissen, der "natürliche Sinn für das Sittliche", welcher im Durchgang durch die ethisch-religiöse Krisis schließlich "die christliche Sittlichkeit... als die Erfüllung des in ihm angelegten bej a h t " , als "Anknüpfungspunkt" bezeichnet (Luther 1 , 209; Luther 2 , 246). Karl Holl gehört somit in die unmittelbare Vorgeschichte der Debatte zwischen E. BRUNNER (Die Frage nach dem "Anknüpfungspunkt" als Problem der Theologie; Natur und Gnade - Zum Gespräch mit Karl Barth) und K. BARTH (Nein! - Antwort an Emil Brunner) um den Stellenwert der sog. Natürlichen Theologie. Vgl. hierzu Ch. GESTRICH: Neuzeitliches Denken und die Spaltung der dialektischen Theologie, 32.162.186.342ff; H. LEIPOLD: Missionarische Theologie, 117ff. Daß jener Begriff auch bei Holl auftaucht, wird von beiden Autoren allerdings nicht erwähnt. - Daß das Gewissen, obwohl es für den Glauben den Anknüpfungspunkt im Humanen verkörpert, dennoch keine Letztinstanz darstellt, wird eine der Grundthesen von Hirschs Unterscheidung Gesetz/Evangelium bilden; vgl. unten K a p . V.B.3.

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lungen unbeschädigt herauszukommen. "Sie [seil, die Krisen des religiösen Lebens] müssen kommen in dem Augenblick, wo der Mensch sein Leben mit Bewußtsein zu verwalten und jede einzelne Erfahrung mit seiner ganzen Existenz in Beziehung zu setzen beginnt" (1907, 10). Religiöse Krisen werden nicht künstlich an das religiöse Bewußtsein von außen herangetragen, sondern entstehen aus dessen unmittelbarem Lebensbezug u n d sind infolgedessen auch nicht von außen künstlich eingrenzbar: "... jedes religiöse Leben führt ganz von selbst in Konflikte hinein und sie werden im Verlauf der Entwicklung nicht schwächer, sondern heftiger. Krisen sind auf diesem Gebiet keine Krankheitserscheinung, sondern das Normale" (ebd.). Oder anders formuliert: Krisen sind für das ethisch-religiöse Bewußtsein nicht die Ausnahme, sondern dessen Lebenswelt. Angesichts dieser Instabilität und Störanfälligkeit der Selbstauslegung bleiben dem religiösen Bewußtsein eigentlich nur zwei Möglichkeiten, in seiner vermeintlichen Harmonie zu verharren, nämlich entweder die unbewußte Verdrängung oder der explizite Reflexionsverzicht. Beide Wege führen aber nur dahin, daß das solchermaßen entfremdete religiöse Bewußtsein sich mit banalen bis belanglosen Sinnstiftungsformeln seine eigene Realitätsferne und religiöse Armut verschleiert; "... m a n verzichtet darauf, das Dunkel zu durchdringen und gewöhnt sich daran, mit Gott auf eine gewisse Distanz zu leben" (a.a.O. 11). Doch auch dann bleiben - sowohl im Falle von Verdrängung, als auch im Falle des Reflexionsverzichts - immer noch unbewältigte Problemreste übrig. "Eine derbe Konstitution mag viele widrige Erfahrungen von sich abschütteln und mit tapferem Mut aufs neue beginnen, schließlich erreicht jeder einmal den P u n k t , wo seine Geduld erschöpft ist" (ebd.). Umgekehrt bleiben jedoch alle Behauptungen von der Krisenhaftigkeit ethisch-religiöser Reflexivität ihrerseits so lange bloße Versicherung, als es nicht gelingt, die Entstehung ethisch-religiöser Aporien, die zur Krise des Selbst führen, aufzuweisen. An diesem Aufweis hängt für Holl sehr viel, da mit seiner Evidenz die Plausibilität des negativen Anknüpfungspunktes der Rechtfertigungslehre steht und fällt. Die Unausweichlichkeit der Krise des religiösen Bewußtseins hat nach Holl wesentlich mit der inneren Logik religiöser Sinnstiftungsvorgänge zu t u n , für welche die Differenz von Sinnerwartung und Sinnerleben konstitutiv ist. Die Prognostizierung gelingenden Lebens rechnet, wenn sie sich religiös expliziert, in aller Regel mit einer Konvergenz von erhofftem Lebenssinn und gedanklich antizipiertem Lebensfortgang. Die tatsächliche Lebenserfahrung jedoch läuft nur in den allerseltensten Fällen auf solch uneingeschränkte Kongruenzen hinaus. Wahrscheinlicher ist das Nebeneinander von erfüllten und enttäuschten Erwartungen. Letztere bedeuten für das Ganze des religiösen Sinnstiftungsvorgangs aber unweigerlich Dis-

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krepanzerfahrungen. "Die auf das natürliche Glücksstreben aufgebaute religiöse Rechnung will nun nicht mehr stimmen" (a.a.O. 10). Die erhoffte Gleichung von gelungenem Leben und Wohlergehen bei Gott wird konterkariert durch das Faktum dysfunktionalen Sinnerlebens. "So endigt jede Religiosität, die nur auf den natürlichen Eudämonismus gestellt ist" (a.a.O. 11). In dieser Lage bleibt dem religiösen Bewußtsein lediglich die Alternative, entweder seinen Vorstellungen von einem religiös legitimierten Glücksbedürfnis treu zu bleiben, und zwar im Widerspruch zu den Sinnkrisen der eigenen Lebenserfahrung, oder seine bisherige religiöse Lebensausdeutung auf einer höheren religiösen Reflexionsstufe einer Revision zu unterziehen. Im ersten Fall wird sich Religion allerdings kaum den begründeten Einwänden der Religionskritik entziehen können, pure Projektion nach dem Schema von Bedürfnis und Befriedigung zu sein. Eine Religiosität, welche sich nurmehr durch Flucht in die Sphäre des Scheins bzw. als realitätsferne Pseudosinnstiftung zu artikulieren vermag, "sinkt herab zum bloßen Spiel, zum anmutigen Träumen in einer selbst geschaffenen Welt; sie ist im besten Fall eine sich ausstreckende Sehnsucht" (a.a.O. 13). Wollte man hier weiterhin von einem "Gottesverhältnis" sprechen, "dann wäre es in Wirklichkeit der Mensch und nicht Gott, der das Verhältnis regierte" (a.a.O. 12). So führt Holls Klärung der Verstehensbedingungen der reformatorischen Rechtfertigungslehre an dieser Stelle auf eine innertheologische Fassung der Religionskritik, die allen Spielarten eudaimonistisch geprägter Frömmigkeit gilt. Demnach scheint dem frommen Bewußtsein allein der zweite Weg offenzustehen, nämlich der einer Steigerung bzw. Vertiefung seiner ethischreligiösen Reflexivität. Dies will zunächst nichts anderes besagen, als daß das fromme Bewußtsein die Bereitschaft in sich wach hält, die Aporien seiner ethisch-religiösen Sinnkonstruktion nicht zu verdrängen, sondern sich ihnen zu stellen und sie als solche eigens zu thematisieren. Der religiöse Eudaimonismus erscheint so gesehen - unabhängig von der Frage seiner ethischen Dignität - als ein Mangel an Selbstreflexion. Die neue Stufe ethisch-religiöser Reflexivität entspringt demgegenüber dem Zu-sichselbst-Kommen des Menschen hinsichtlich des strukturellen Antagonismus von Sinnerwartung und Sinnerleben. Erweist sich die naive Annahme eines in sich konfliktfreien Entsprechungsverhältnisses zwischen Lebenserfahrung und konstruktiver Sinndeutung für das ethisch-religiöse Bewußtsein selber als höchst störanfällig, so ist nun zu zeigen, inwiefern eine solche Krise auch zur Problematisierung des Gottesverhältnisses führt. Dieser Prozeß kommt dadurch in Gang, daß das Scheitern jenes Sinnstiftungsvorgangs zwangsläufig auf eine religiöse Zweideutigkeit der Lebenssituation führt; "... jedes Erlebnis kann

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religiös in diametral entgegengesetzter Richtung gedeutet werden" (a.a.O. 10). Die Sinnambivalenz religiös reflektierten Lebens betrifft zunächst nur die unmittelbare Bedeutung der einzelnen Lebenserfahrungen für sich; "ob ein Leiden von Gottes Zorn oder von seiner Gnade herkommt, ob es ein Verbot ist, auf einem beschrittenen Weg weiterzugehen oder ein Sporn zu noch größerer Kraftanspannung, ob ein Glücksfall ein Segen ist oder eine Versuchung, das sagt der rohe äußere Tatbestand niemals" (a.a.O. lOf). Von hier aus greift sie jedoch über auf den Gesamtzusammenhang der ethisch-religiösen Lebensführung und damit auf das Sein des Menschen vor Gott überhaupt. "Wie soll er das Einzelne deuten können, bevor er weiß, was er in seiner ganzen Existenz für Gott bedeutet" (a.a.O. 11). Indem die Krise religiöser Sinndeutung "einen Zwiespalt oder eine Unklarheit in diesem Verhältnis" (a.a.O. 10) zutage fördert, führt sie den Menschen zugleich auf eine neue Stufe religiöser Selbstreflexion, welch letztere sich in der Frage artikuliert: "Wie meinst du, daß Gott von dir halte?" (a.a.O. 9). Erst damit ist für Holl die Stufe naiv-durchschnittlicher Religiosität tatsächlich überwunden. Inwiefern enthält nun jene Frage nach dem Wert bei Gott eine Problematisierung des Gottesverhältnisses? Um diesen Zusammenhang verstehen zu können, ist es zunächst wichtig einzusehen, daß jene vertiefte religiöse Selbstreflexion bereits als solche eine ethische Selbstreflexion einschließt, daß beide zusammen also unmittelbar zu einer ethisch-religiösen Selbstinfragestellung des Menschen führen. In den Sinndiskrepanzen und Sinnambivalenzen der eigenen Lebensführung wird das ethisch-religiöse Bewußtsein der schlechthinnigen Überlegenheit Gottes inne, und zwar auf eine unentrinnbare Weise. "Die Durchschneidung seiner natürlichen Wünsche macht dem Menschen den andern Willen fühlbar, der über dem seinigen gebietet" (ZThK 18 (1908), 67f). Hier gelangt der Mensch tatsächlich zur Erfahrung der Existenz Gottes. Im "Druck, den Gott als der Gebieter auf ihn übt, ... erlebt er erst Gott als Wirklichkeit" (1907, 12). Diese Erfahrung der Wirklichkeit Gottes ist primär ethischer Art. Die auf sie gegründete Selbstproblematisierung des Menschen hinsichtlich des Gottesverhältnisses ist darum gleichfalls kein theoretisches, auch kein spekulativ-theologisches Unterfangen, sondern sie ereignet sich vielmehr im existentiellen Erleben der Beugung des menschlichen Eigenwillens unter die herbe Wirklichkeit der Souveränität Gottes. "Am Schmerz darüber soll er erwachen, u m sich auf sich selbst zu besinnen. Er soll hingestoßen werden auf die Frage, was er überhaupt in dieser Welt bedeute und wie sich seine Existenz zu der Gottes verhalte" (a.a.O. 12f). In dieser Krise kommt es zu einer "Totalvergleichung zwischen der eigenen Person und zwischen Gott" (1906, 10). Hier fühlt der Mensch seinen "völligen Unwert" (1907, 13). Weil die Feststellung dieser absoluten

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Wertdifferenz aber von ihm selbst getroffen und als gültig akzeptiert wird, darum trägt sie den Charakter eines "Selbstgericht[es]" (a.a.O. 11). Die Selbstproblematisierung des Menschen im Lichte des Gottes Verhältnisses erweist sich als "unbedingte Selbstverurteilung" ( Z T h K 20 (1910), 267). Anthropologischer Ort dieser Krisenerfahrung ist "das sittliche Selbstbewußtsein" (ZThK 18 (1908), 68) bzw. "das Gewissen" (1907, 11). Das Gewissen bildet sonach den Träger jener qualitativ neuen ethisch-religiösen Selbstreflexion. Die Gewissenserfahrung ist zunächst immer ein existentielles Krisenerlebnis. Die Erkenntnis der Gewissensbestimmtheit von Religion gehört für Holl zu den Grundeinsichten der Theologie Luthers. 1 0 In der für das Lutherbuch überarbeiteten Fassung seines Jubiläumsvortrags von 1917 wird Luthers Frömmigkeit darum als "Gewissensreligion" (Luther 1 , 30) bezeichnet. In der Festrede selbst hatte Holl gegen die mittelalterliche Verdienst-, Beicht- und Ablaßfrömmigkeit den Einwand erhoben, sie habe letztlich dazu geführt, "das Gewissen zu entlasten" (1917, 10). Jene bereits in den frühen Aufsätzen konstatierte Gewissensbestimmtheit reformatorischer Frömmigkeit besagt sonach nichts anderes als die grundsätzliche Nichtentlastbarkeit der Subjektivität im Gottes Verhältnis. Im Selbstgericht des Gewissens ist nach Holl zwangsläufig auch eine neue Sicht des Gottesverhältnisses enthalten. Der Mensch kann nicht darin fortfahren, Gott und sich selbst in der Weise einander zuzuordnen, "wie er selbst sich das Verhältnis zurecht gemacht hat" (1907, 8). Die Notwendigkeit einer solchen Selbstrelativierung des Menschen hinsichtlich der Fähigkeit zur Ausdeutung des Gottesverhältnisses wird einsehbar, wenn man sich klarmacht, woraus die Radikalität jenes Selbstgerichts resultiert. Selbst die strengste Fassung und Anwendung einer utilitaristischen Moral - für eine konsequent eudaimonistische Deutung des Ethos erübrigt sich das Problem - würde niemals die Einsicht in den völligen Unwert menschlicher Handlungsmaximen zum Ergebnis haben, weil schon die Frage nach einem, geschweige denn die Feststellung eines unbedingt Wertvollen bzw. unbedingt Wertlosen ganz außerhalb des Ansatzes liegt. Eine Utilitätsethik fragt immer nur nach dem jeweils komparativ Besseren bzw. komparativ Schlechteren. Solche graduellen Abstufungen führen niemals auf einen absoluten Wert oder Unwert. Das unbedingt Gute bzw. Verwerfliche steht kategorial auf einer anderen Ebene als das im Hinblick auf seinen Nutzen für etwas Beurteilte. Die ethische Totalvergleichung des Gewissens, worin der Mensch Gott einen absoluten Wert und sich selber einen absoluten Unwert zuspricht, setzt sonach voraus, daß der Umkreis der Nützlichkeitsmoral verlassen ist. Das besagt, daß eine Selbstbeurteilung 10

Vgl. oben Anm. 9.

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des Menschen vor Gott nur in der Weise möglich ist, daß der Mensch den relativen Wert seiner zweckfunktionalen Kompetenzen und Fähigkeiten und damit das Kriterium der relativen Wertigkeit überhaupt einklammert, und stattdessen "den strengen göttlichen Maßstab aufnimmt" (ZThK 20 (1910), 267) und ihn "vorbehaltslos auf sich selbst anwendet" (ebd.). Die Anerkennung des Wertmaßstabes Gottes und dessen Anwendung auf die eigene Existenz implizieren die Preisgabe der Letztverbindlichkeit jedweder komparativen Wertordnung als Rahmen ethischer Selbstqualifizierung. Im Willen Gottes den normativen Horizont seiner Selbstdeutung erblicken heißt, sich aus der Perspektive Gottes beurteilen. Im Selbstgericht des Gewissens vollzieht sich sonach eine virtuelle Standpunktversetzung im Sinne eines Übergangs von der menschlichen zur göttlichen Bewertungsperspektive. Dieser Perspektivenwechsel der Selbstbeurteilung ist für die Rechtfertigungslehre schlechterdings konstitutiv. Diese "spitzt das religiöse Verhältnis zu auf eine bewußte persönliche Krisis und heißt den Menschen sich selbst vom Standpunkt Gottes aus betrachten" (1907, 9). Und damit hat sich denn auch der Darstellungshorizont des Gottesverhältnisses umgekehrt. Luthers Rechtfertigungslehre gewinnt für Holl ihre einzigartige gedankliche Geschlossenheit genau von daher, daß in ihr die Deutung des Gottesverhältnisses nicht allein aus der Perspektive des Menschen, sondern ebensosehr aus der Perspektive Gottes durchgeführt ist. Bereits 1905 betrachtet Holl diese Doppelung der Perspektiven als den inhaltlich wie methodisch entscheidenden Punkt. "Luther betrachtet den Vorgang das einemal von oben her als Akt Gottes, das anderemal von unten her als Erlebnis des Menschen" (1906, 8). Holls 1910 dann im Detail ausgearbeitete und quellenmäßig belegte Rekonstruktion der Rechtfertigungslehre anhand der Römerbriefvorlesung von 1515/16 wiederholt fast wörtlich jenen systematischen Ansatz: "Luther hat den ganzen, von der Rechtfertigung bis zum Gericht sich erstreckenden Vorgang ebenso vollständig vom Standpunkt Gottes, wie von dem des Menschen aus durchgedacht und dargestellt" (ZThK 20 (1910), 248). Nach Auffassung Holls ist diese Unterscheidung zweier Perspektiven für eine konsistente Interpretation von Luthers Fassung der Rechtfertigungslehre schlechterdings unabdingbar. "Die Unstimmigkeiten, die man in Luthers Rechtfertigungslehre hat nachweisen wollen, rühren nur davon her, daß man die beiden Auffassungsformen nicht auseinandergehalten hat" (ebd.). Die Sensibilität für jenen Sachverhalt kann Holl dann in der später überarbeiteten Fassung seines Aufsatzes von 1906 förmlich zum Kriterium der Beurteilung des theologiegeschichtlichen Schicksals der Rechtfertigungslehre nach Luther erheben. Das hier zu beobachtende Mißverstehen des ursprünglichen Sinnes der Rechtfertigungslehre ist für ihn mit

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dem Abhandenkommen der Einsicht in deren Doppelperspektivität nahezu gleichläufig. "Melanchthon hat ... von vornherein etwas Wesentliches unterdrückt, sofern er von den beiden Betrachtungsweisen, die bei Luther nebeneinander hergehen, nur die eine, die auf das Erlebnis des Menschen sich beziehende, ü b e r n a h m ... Aber die Verkürzung zog ... schwere Schäden nach sich ... Indem Melanchthon den Gläubigen anwies, bei der Rechtfertigung nur an seinen Trost zu denken, schob er das 'Bedürfnis des Menschen', und das hieß: das Ich des Menschen, wieder in den Mittelpunkt der Religion, s t a t t , wie es sich gebührte und wie Luther es eingeprägt hatte, Gott" (Bd. 3, 535f). Die gedankliche Überlegenheit der Lutherschen Fassung der Rechtfertigungslehre besteht demgegenüber in deren Fähigkeit, "den Sinn der Rechtfertigung lückenlos vom Gottesbegriff aus zu verdeutlichen" (ZThK 20 (1910), 249). In der für das Lutherbuch überarbeiteten Fassung des Jubiläumsvortrags von 1917 hat Holl Luthers Denken - in terminologischem Anschluß an Chr. S c h r e m p f - als "theozentrisch" (Luther*, 31f) bezeichnet und die Bedeutung dieses Ausdrucks präzise dargelegt (vgl. a.a.O. 32 Anm. 1). Dem gerade Ausgeführten zufolge bleibt festzuhalten, daß der Theozentrismus Luthers im Sinne Holls den Akt der virtuellen Standpunktversetzung des religiösen Bewußtseins einschließt. Er ist äquivalent der allein aus der Perspektive Gottes sich ergebenden Konsistenz des Rechtfertigungsgedankens. D a r u m kann Holl von der Theologie Luthers zusammenfassend urteilen: "Der Nerv der ganzen Anschauung ist der Gottesbegriff" (1906, 10). Es ist wichtig, sich klarzumachen, daß mit dem systematisch zentralen Moment der Beschreibung des Rechtfertigungsvorganges von oben her der umfassendere Horizont ethisch-religiöser Reflexivität keineswegs durchbrochen wird. Auch die Einnahme der Perspektive Gottes zum Zwecke des Selbstgerichtes ist - strukturell betrachtet - von der Form der Selbstwahrnehmung bzw. Selbstbewertung. Genau diese reflexive Verfaßtheit der virtuellen Standpunktversetzung des ethisch-religiösen Subjekts ist es aber nun, welche dessen "reflektiertes religiöses Leben" (1907, 12) begründet. Denn mit jener Selbstbeurteilung von Gott her "beginnt erst die bewußte Religiosität und erst als bewußte - oder wenn m a n Heber will, reflektierte - wird die Religiosität ernsthaft" (a.a.O. 13). Allein die Selbstwahrnehm u n g aus der Perspektive Gottes schafft ein "bewusstes Verhältnis zu Gott" (1906, 10). Rechtfertigungsglaube als "bewusste, persönliche Religion" (a.a.O. 42) ist strukturell betrachtet eine "Umdrehung der naiven Betrachtungsweise" (1907, 9), sofern in ihm das religiöse Bewußtsein seine Unmittelbarkeit überschreitet, u m sich im Durchgang durch die Gottesanschauung und eine ihren Maßstäben gehorchende kritische Selbstreflexion allererst wirklich zu finden. Diese extern normierte Selbstwahrnehmung

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hebt das Ichgefühl nicht auf, sondern bedeutet umgekehrt die "Vertiefung des religiösen Individualismus" (1906, 10). Der Rechtfertigungsglaube ist für Holl die einzig legitime Gestalt religiösen Individualitätsbewußtseins. Luthers Rechtfertigungslehre wäre demnach als eine solche Theorie des Selbstbewußtseins zu deuten, derzufolge ethisch-religiöse Subjektivität sich dann und nur dann adäquat auslegt, wenn sie unter Absehung von sich selbst vermittelst der Bewußtheit der Gottesanschauung zu sich selbst k o m m t . Die Reflexivität des Rechtfertigungsglaubens ist die Durchsichtigkeit eines Selbstbewußtseins, in der das Subjekt nur in Gestalt eines radikalen Von-sich-Wegsehens wahrhaft bei sich selbst ist. Diese Durchsichtigkeit des Selbstbewußtseins baut sich gewissermaßen in zwei Stufen auf. Durch das Von-sich-Wegsehen gelangt das Selbstbewußtsein zunächst in die Phase des unmittelbaren Außer-sich-Seins. "Wem Gott das natürliche Selbstgefühl zerbrochen hat, der hat den Schwerpunkt seiner Persönlichkeit außerhalb seines empirischen Daseins" (1907, 27). Auf dieses bloße Sein eines exzentrischen Selbstverhältnisses folgt dann die Gewißheit des Bei-sich-Seins in jenem Außer-sich-Sein. Im Glauben erkennt der Mensch, daß er "in seinem religiösen Selbstgefühl nie an etwas anderem, als an der göttlichen Gnadentat seinen Halt findet" (1906, 41). Die Rechtfertigungslehre beschreibt die Genese eines Selbstbewußtseins, das sich nur über einen "eigentümlichen Umweg" (1907, 13) aufzubauen vermag. Der Rechtfertigungsglaube als die kritische Selbsterfassung des Menschen im Durchgang durch das Bewußtwerden des Gottesverhältnisses ist für Holl d a r u m die exemplarische Gestalt ethisch-religiöser Reflexivität und als solche oberster Maßstab von humaner Durchsichtigkeit überhaupt. "Vor Gott dasein könnte nur ein Ich, das in seiner Besonderheit für ihn Wert h a t " : in dieser Aussage findet Holl "das Rechtfertigungsproblem" (1906, 41) präzise zusammengefaßt. Der Satz zeigt, daß die Möglichkeit von Ichheit davon abhängt, ob das Ich als mögliches Relat einer Beziehung auf Gott in Frage kommt. Das bedeutet aber, daß der reformatorische Rechtfertigungsglaube noch nicht hinreichend expliziert ist, wenn er lediglich als exemplarische Gestalt von Selbstbewußtsein eingesehen ist. Rechtfertigung des Sünders - das heißt: "Gott setzt ein neues Verhältnis zwischen sich und dem Menschen, frei, aus unergründlicher Gnade" (ZThK 18 (1908), 69). Der Kern des Rechtfertigungsgeschehens besteht darin, daß sich in ihm die wahre Konstitution des Gottesverhältnisses vollzieht und - in eins damit, aber in Abhängigkeit davon - die des menschlichen Ich. D a r u m gilt es abschließend, die Struktur der ethisch-religiösen Subjektivität unter dem Aspekt ihrer Genese aus dem von Gott gesetzten Gottesverhältnis zu thematisieren. Die religiöse Grundeinsicht des reformatorischen Rechtfertigungsglaubens besteht darin, daß der das Gericht Gottes im Gewissen erleidende

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sündige Mensch sich aufgrund der sündenvergebenden Tat Gottes als zu einem neuen Leben in der Heiligung bestimmt weiß. Das F a k t u m der Sündenvergebung und die Bestimmtheit zur Heiligkeit bilden sonach den Inhalt der Heilsgewißheit des Rechtfertigungsglaubens. Allein vermöge dieses heilsgewissen Glaubens kann sich der Mensch ein Dasein vor Gott und somit ein Gottesverhältnis überhaupt zuschreiben. Wie ist nun das Bewußtsein der Heilsgewißheit näher zu beschreiben? Auch hier m u ß nach Meinung Holls wieder streng die Doppelperspektivität des Rechtfertigungsglaubens berücksichtigt werden. Gott heilt den Sünder und betrachtet ihn bereits unter dem Aspekt seiner vollständigen Genesung. Diese Vollendung in der Heiligung entzieht sich aber jeder menschlichen Selbsterfahrung. "Für die Betrachtung des Menschen bleibt dieser Erfolg als Tatsache ausser Rechnung ... Er sieht nur die Sünde auf seiner, nur die Gnade auf Gottes Seite" (1906, 9f). Die Heilsgewißheit des Rechtfertigungsglaubens beinhaltet demnach zwei Gegensatzpaare göttlichen Handelns, nämlich einerseits den Gegensatz von Gericht und Gnade und andererseits den Gegensatz von Rechtfertigung und Heiligung. Beide Gegensatzpaare für sich und untereinander bilden eine Einheit ausschließlich durch Rückbeziehung auf die Identität Gottes. Es ist "derselbe Gott, der den Menschen im Schuldgefühl zermalmt, [und] ihn doch aus freiem Erbarmen zu sich erhebt" (ZThK 18 (1908), 68). Und ebenso gibt es eine "innere Zusammengehörigkeit von Rechtfertigen und Gerechtmachen im Plane Gottes" (ZThK 20 (1910), 258): "Ein und derselbe Wille Gottes umspannt das Ganze seines Tuns am Menschen" (a.a.O. 257). Die Heilsgewißheit des Rechtfertigungsglaubens verdankt ihre Bewußtseinseinheit sonach nicht der Einheit einer inneren Erfahrung, sondern der des in ihm zur Gewißheit gelangenden materialen Gottesgedankens. Wenn der Rechtfertigungsglaube seine letzte Einheit im Gottesgedanken findet, dann darf dessen formale Struktur aber keineswegs verwechselt werden mit den traditionellen Bestimmungen theologischer Metaphysik. Die Einheit Gottes ist weder die Einfachheit eines höchsten Seienden noch die Identität eines zureichenden Grundes für das Sein des Seienden. F ü r den Rechtfertigungsglauben erscheint Gott vielmehr immer in einem "unversöhnten Kontrast", nämlich im "Kontrast des Richterzorns und der barmherzigen Vaterliebe" (1907, 25). Weil die in solchem Gegensatz aufeinander bezogenen Momente als Modi der Selbsterschließung Gottes formal von gleicher absoluter Gültigkeit, material aber wechselseitig irreduzibel sind, eben deshalb lassen sich die ihnen korrespondierenden begrifflichen Merkmale nicht zu einem einheitlichen, widerspruchsfreien Gottesbegriff zusammenschließen. Der dem Rechtfertigungsglauben zugrunde hegende Gottesgedanke enthält eine schlechterdings unaufhebbare "Paradoxie" (1906, 10). Der Paxadoxchaxakter der Gottesanschauung Luthers

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mag logisch betrachtet als eine Schwäche erscheinen, in religionstheoretischer Hinsicht jedoch bedeutet er eine unüberbietbare Stärke; denn "dieses logisch nicht zu Reimende ... ist der Kern des christlichen Gottesglaubens" (ZThK 18 (1908), 68). 11 Holl hat die Struktur der Paradoxie in Luthers Gottesanschauung auf den Begriff der "theoretischen Antinomie" (1906, 42) gebracht. Das besagt, daß die Einheit des Gottesgedankens der Rechtfertigungslehre die Form der Widerspruchseinheit aufweist. Daraus folgt, daß alle inhaltlichen Merkmale des Gottesbegriffs als antithetische Bestimmungen, d.h. als jeweils paarweise einander zugeordnete, wechselseitig sich fordernde konträre Begriffe aufgefaßt werden müssen. "Keine Logik vermag diese Antinomien aufzuheben" (ebd.). Den Gottesgedanken in Gestalt von Paradoxien bzw. unter der Form der Antinomie zur Geltung gebracht zu haben, begründet für Holl denn auch den religionsphilosophischen Rang der Theologie Luthers; denn "der Gegensatz ist für uns die einzige Form, mittelst derer wir uns die Tiefe der Gottesidee zum Bewußtsein zu bringen vermögen" (1907, 25). Wenn die Einheit der Heilsgewißheit sich nicht der Einheit einer inneren Erfahrung, sondern der Einheit des Gottesgedankens, und somit einer Widerspruchseinheit verdankt, dann zeitigt dies auch Konsequenzen hinsichtlich der Einheit der ethisch-religiösen Subjektivität, u m deren Selbstauslegung es im Rechtfertigungsglauben geht. "Antinomien ... liegen nicht bloss im Objektiven, in dem Verhältnis zwischen der alles schaffenden Macht Gottes und seinem sittlichen Ziel, zwischen der göttlichen Souveränetät und der menschlichen Freiheit, - eine Antinomie enthält auch der religiöse Akt selbst" (1906, 42). Die Glaubenssubjektivität ist von eben derjenigen Struktur, die dem in ihr zur Gewißheit gelangenden Gottesgedanken eignet. Sie vermag sich immer nur in den "absoluten Gegensätzen der schlechthinigen Sündhaftigkeit und der schlechthinigen Begnadigung" (1907, 14) zu erfassen. F ü r den Rechtfertigungsglauben ist es konstitutiv, daß die in ihm sich auslegende Subjektivität ihrer selbst nur unter der Form der Antinomie ansichtig zu werden vermag und daß die hierbei auftretenden antithetischen Bestimmungen a m Ort religiöser Erfahrung grundsätzlich nicht mehr vermittelbar sind. "... es gibt [auch] heute noch keine andere Lösung dieses Konflikts, als das Wagnis des Glaubens, dass der gleiche Gott, der den Menschen zerschmettert, ihn mit souveräner Gnade dazu erhebt, dass er durch ihn und vor ihm lebe" (1906, 41). Indem die Struktur der Antinomie vom Gottesgedanken auf die Verfaßtheit des religiösen Subjekts übergreift, bestimmt sie auch die innere 11

Vgl. auch 1907, 24f; ZThK 18 (1908), 68.

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Möglichkeit eines Gottesverhältnisses überhaupt. "Denn es ist theoretisch ein Widerspruch, dass der Mensch sich zugleich als mitinbegriffen unter der alles umfassenden Macht Gottes fühlen und sich doch als ein Ich Gott gegenüberstellen soll" (a.a.O. 42). Wo das religiöse Bewußtsein auf seinen es ermöglichenden Ursprung reflektiert, dessen Darstellung es ist, 1 2 wird es notwendig der antinomischen Struktur eben dieser Beziehung inne. Die Antinomie des Gottesverhältnisses des Rechtfertigungsglaubens erweist sich als ein Implikat der Antinomie des ihm zugrundeliegenden Gottes gedankens. Die beiden letzten Zitate haben zugleich anklingen lassen, worin die eigentliche Pointe der Hollschen These von der antinomischen Verfaßtheit der religiösen Subjektivität hegt. Wenn das religiöse Bewußtsein seines Grundes nur unter der Form der Antinomie und auch dieser Beziehung nur in antithetischen Bestimmungen inne zu werden vermag, dann bringt es damit zum Ausdruck, daß, wenn die von ihm intendierte Bezogenheit auf Gott tatsächlich Realität wird, es diese niemals als von ihm selbst produzierte oder produzierbare weiß, sondern immer als ein "von Gott frei gesetzte[s] Verhältnis" (1907, 24). Die Antinomie des Rechtfertigungsglaubens ist so gesehen nichts anderes als die vielleicht konsequenteste Entfaltung des dem religiösen Bewußtsein ureigenen Momentes, sich nicht als reines Sich-Setzen, sondern als gesetztes Sich-Setzen zu wissen. Man hat der Lutherdeutung Holls als ganzer "Ethizismus" vorgeworfen. 1 3 Holl selbst hätte diesen Einwand wohl kaum verstanden. Als Horst 12 13

Vgl. H.-W. SCHÜTTE: Religionskritik und Religionsbegründung, 107. So B . LOHSE: Martin Luther, 235. Dieser Vorwurf geht auf den frühen Gogarten zurück; vgl. O. WOLFF: Die Haupttypen der neueren Lutherdeutung, 361. H. BORNKAMM bemerkt hierzu treffend: Holl war "in doppelter Weise mit der vorausgehenden Form des theologischen Denkens verbunden. Einmal durch den Gebrauch auch in der Philosophie üblicher Begriffe wie des 'Sittlichen' und des 'Gewissens', welche die dialektische Theologie allgemein, also auch bei ihm, scharf als Elemente einer autonomen Ethik verwarf; sie übersah dabei, daß Holl sich gegen dieses Mißverständnis seiner Begriffe nachdrücklich gesichert hatte. Andererseits kam Holl aus der Generation, welche sich mit dem auf die exakten Naturwissenschaften gegründeten Atheismus abgemüht hatte. Daher erhielt seine Theologie, wie die manches anderen aus dieser Epoche, einen Drang zum Beweis; zwar nicht im rationalen Sinne, aber im höheren Sinne einer zwingenden, Uberzeugung weckenden Einsicht. ... Auch wenn an solchen Punkten die Frage entstehen mußte, ob Holls Verknüpfungen lutherischer Gedanken überall standhielten, so tat doch die methodisch sichernde, redlich Schritt auf Schritt überlegende Art seines Denkens der Theologie einen außerordentlichen Dienst. Neben allen neuen Erkenntnissen, die er brachte, half er zugleich gegenüber dem revolutionären Ansturm der dialektischen Theologie, die sich die Fragen der vorhergehenden Generation zunächst so gut wie gar nicht mehr stellte, die Kontinuität des theologischen Denkens zu erhalten; eine Funktion, deren Wichtigkeit allmählich immer deutlicher zutage getreten ist" (Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte 116f).

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Stephan 1907 in seiner Rezension der beiden frühen Studien zur Rechtfertigungslehre umgekehrt meinte, eine mangelnde Berücksichtigung des Ethischen bei Holl konstatieren zu müssen, äußerte Holl sein deutliches Unbehagen gegenüber solchen pauschalen Stellungnahmen. "Vage formalistische Kategorien, wie 'Ethisierung', 'kräftige, ethische Unterbauung' führen uns doch nicht weiter" (ZThK 18 (1908), 70). Gleichwohl wird m a n den Ethizismus-Einwand nicht völlig übergehen können. Nur muß er vom Charakter des Verdachtes einer interpretatorischen Verzeichnung der Theologie Luthers befreit und auf die Ebene einer systematischen Problemstellung überführt werden. So gesehen gibt es in der Tat einen "Ethizismus" der Hollschen Lutherdeutung, nämlich dergestalt, daß hier die Rechtfertigungslehre konsequent als eine Theorie der Konstitution ethisch-religiöser Subjektivität interpretiert wird. Wie hat Holl die im Gottesverhältnis begründete Genese des Ich konkret beschrieben? Im Rechtfertigungsakt setzt Gott den sündigen Menschen aus freier Gnade zu sich in Beziehung; "aber er tut das in der Absicht, den Menschen durch dieses neue Verhältnis umzuschaffen, zum wirklichen Gerechten zu machen" (ZThK 18 (1908), 69). Indem Gott gerecht spricht, "antizipiert er das Resultat, zu dem er selbst den Menschen führen wird" (1906, 9). Das bedeutet, daß "in Gottes Rechtfertigungsurteil der schliessliche Erfolg, das wirkliche Heiligwerden des Menschen, ein wesentlicher P u n k t ist" (ebd.). Das Rechtfertigungsurteil Gottes hat d a r u m als ein "analytisches]" (ebd.) Urteil zu gelten. 1 4 Diese Gerechterklärung des Sünders darf aber nur unter der Bedingung als ein analytisches Urteil bezeichnet werden, daß der Rechtfertigungsvorgang dabei aus der Perspektive Gottes, nicht aus der Perspektive menschlichen Erlebens betrachtet wird. Denn die innere Einheit von geschehener Rechtfertigung und anhebender Heiligung ist - wie bereits gezeigt - kein Gegenstand subjektiver Erfahrung, sondern Inhalt des mit sich selbst identischen göttlichen Willens. Unmittelbar mit der Geburt des neuen Menschen in der Rechtfertigung beginnt sogleich dessen stetiges Wachstum in der Heiligung. In diesem Prozeß bringt Gott den Gerechtfertigten "durch die Macht seiner Gnadenbezeugung zur Vollkommenheit" (ZThK 20 (1910), 256). Auch die Gewißheit der Perfektibilität des Gnadenstandes verdankt sich keinem diesbezüglichen Erlebnis, sondern ausschließlich dem Glauben an die Stetigkeit des souveränen Heilswillens Gottes. Dadurch, "daß Gott den ganzen Verlauf der Entwicklung beherrscht, ist auch verbürgt, daß das Ziel erreicht wird" (ebd.).

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Hiermit wendet sich Holl gegen A. RITSCHLS These von der synthetischen Form des Rechtfertigungsnrteils (vgl. RuV 3 III, § 16).

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Dieser Fortschritt in der Heiligung vollzieht sich nun nicht nach Art eines natürlichen Wachstumsvorgangs, sondern in Gestalt eines ethischen Prozesses. Gottes Rechtfertigungsurteil ist gerade "als Vorausnahme des Ziels ... eine Bekräftigung der unverbrüchlichen sittlichen Forderung Gottes" ( Z T h K 18 (1908), 69). Das bedeutet für die ethische Situation des im Heiligungsprozeß sich Befindenden: "Gott befiehlt dem Menschen, ihn und sein gnädiges Vorhaben ernst zu nehmen" (1906, 7; Hhg.i.O.); der Mensch umgekehrt "fühlt die Verpflichtung und hegt die berechtigte Erwartung, heilig zu werden" (a.a.O. 9; Hhg.v.Vf.). Die Glaubensgewißheit enthält darum ebensosehr eine deskriptive wie eine normative Komponente. Die deskriptive Komponente verweist auf die Gültigkeit und Faktizität der Rechtfertigungstat Gottes und damit des Beginns des Heiligungsprozesses. Die normative Komponente resultiert aus dem grundsätzlichen Antizipationscharakter des Vollendungszustandes in der Perspektive Gottes. Berücksichtigt man diese Verschränkung von normativer und deskriptiver Komponente in der Glaubensgewißheit, dann läßt sich der strukturelle Zusammenhang von Sündenvergebung und Heiligung folgendermaßen beschreiben: Die ethisch-religiöse Subjektivität weiß sich immer nur so durch die Rechtfertigungstat Gottes konstituiert, daß sie sich zugleich durch sie normiert und motiviert weiß. 15 Gottes gnadenhaftes Handeln ist ebenso Konstitutionsgrund von Heilsgewißheit, wie Verbindlichkeitsgrund von Heiligungsgehorsam. Der Glaube an die Gerechtigkeit Gottes ist Geschenk und Forderung in einem. Eben darum hat das Rechtfertigungsgeschehen als solches auch eine unabweisbare, positive ethische Valenz. Eine Vertiefung des Ethos ist für Holl bereits mit der negativen bzw. destruktiven Komponente des Rechtfertigungsglaubens gegeben: "Wer Gottes Verwerfungsurteil mit Bezug auf sich als gerecht bejaht hat, der hat sich damit auch eine neue Auffassung des Sittlichen angeeignet" ( Z T h K 20 (1910), 271). Und erst recht bedeutet das von Gott gestiftete neue Gottesverhältnis eine radikale Uberbietung aller sonstigen Werte: "die Willensgemeinschaft mit Gott, die in 15

Holls theologische Argumentationsfigur einer strukturellen Verschränkung von Normierung und Konstituierung des Menschen durch das Wort Gottes hat theologiegeschichtlich ein doppeltes Schicksal gehabt: Sie ist das Grundmuster der frühen Christologie Hirschs geworden (vgl. unten Abschnitt 2.e), und sie bildet zugleich den kategorialen Rahmen für K. BARTHS spätere Zuordnung von Erwählungsethik (KD 11,2) und Versöhnungschristologie (KD IV), welche im Begriff des ebensowohl normativen wie konstitutiven "Geschenks der Freiheit" ihren zusammenfassenden Ausdruck gefunden hat. Inwieweit zwischen K. Barth und der Holl-Schule tatsächlich wechselseitige Abhängigkeiten bestehen - seien sie positiver oder negativer Art - , bedürfte einer eingehenden Untersuchung. Den gemeinsamen Nenner jener drei Theoriemodelle jedoch bildet unstreitig ein konsequenter theologischer Kantianismus (im Sinne einer theologischen Wendung der "Analytik" der Zweiten Kritik).

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der Rechtfertigung erreicht ist, ist das Höchste, was dem Menschen zu Teil werden kann" (a.a.O. 289). Die Teilhabe an dieser Gemeinschaft bedeutet zugleich eine Steigerung der Inanspruchnahme des davon bestimmten Willens. "Wenn der Mensch in der Rechtfertigung zum Höchsten, zur persönlichen Gemeinschaft mit Gott erhoben worden ist, dann wird auch das Höchste von ihm gefordert" (a.a.O. 275). Weil der Rechtfertigungsglaube zur Erfüllung des so qualifizierten Gehorsams motiviert, d a r u m erweist er sich als eine "Quelle unerschöpflicher sittlicher Kraft" (1906, 10). Holl kann die ethische Komponente von Luthers Rechtfertigungslehre sogar soweit zuspitzen, daß er deren im engeren Sinne religiöse Seite, nämlich die Konstitution des neuen Gottesverhältnisses, geradezu zu ein e m funktionalen Moment jener herabstuft: "Die 'Rechtfertigung' ist das Mittel, durch das Gott seinen letzten Zweck, den Menschen zu heiligen, erreicht" (ZThK 20 (1910), 258). Den vielleicht überzeugendsten Beleg für Holls konsequent ethische Deutung der Rechtfertigungslehre dürfte sein Verständnis der frühen Prädestinationslehre Luthers darstellen. Die Rechtfertigungslehre spricht dem natürlichen Menschen einen völligen Unwert und Gott den absoluten Wert zu und m u t e t damit dem Menschen die absolute Selbstverurteilung zu, bevor ihm Gottes sich frei schenkende Barmherzigkeit zuteil wird. Damit steht aber der Rechtfertigungsglaube als ganzer in der Gefahr, eudaimonistisch mißbraucht zu werden. Das Seligkeitsverlangen bzw. das Bedürfnis nach göttlicher Anerkennung könnte sich in den Zusammenhang von Selbstgericht und Gnade selber einschleichen. Die Funktion der Prädestinationsanfechtung besteht demzufolge darin, genau solche Motivationen von vornherein auszuschalten. Wenn Luther dem "starken" Christen zumutet, mit der Möglichkeit zu rechnen, verworfen zu sein, dann soll damit der Rechtfertigungsglaube vor einem der Intention nach gegen ihn selbst gerichteten "Hintergedanken" bewahrt werden dergestalt, daß der Gläubige die Rechtfertigung "bloß wegen der dadurch verbürgten ewigen Seligkeit schätzte" (a.a.O. 289). Jedes menschliche Motiv, das nicht ausschließlich Beugung unter den Willen Gottes ist, gilt Luther "als unterwertiger, auszuscheidender Beweggrund. Es s t a m m t aus der Selbstsucht u n d muß mit ihr abgetan werden" (a.a.O. 290). Wer hingegen die Rechtfertigung "in ihrem wahren Sinn versteht, der hat in ihr etwas gewonnen, das von Glück und Unglück, auch vom ewigen Glück und Unglück vollkommen unberührt bleibt" (a.a.O. 289). Luthers frühe Prädestinationslehre hat darin ihre Pointe, daß sie in folgerichtiger Weiterführung des ethischen Gehaltes der Rechtfertigungslehre eine Funktionalisierung derselben im Interesse der Befriedigung menschlichen Glücksbedürfnisses verhindert. Deshalb tritt in ihr für Holl "das Innerste" (a.a.O. 290) von Luthers Frömmigkeit zutage.

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So wächst nach Auffassung Holls "aus dem Rechtfertigungsgedanken ein sittliches Ideal heraus, größer als es eine autonome Ethik je aufzustellen vermöchte" (1907, 26). Der Sache nach handelt es sich dabei u m das Ideal der Freiheit des Dienens. Bereits Holls frühe Deutung der Rechtfertigungslehre versteht sich ausdrücklich als Aufklärungskritik, nicht im Sinne eines restaurativen konfessionellen Luthertums, sondern im Sinne eines konzeptionellen Überbietungsanspruchs. Holl ist der festen Uberzeugung, daß Luther das Wesen des Ethischen zutreffender beschrieben habe als alle Autonomiemodelle der Neuzeit. Man mag dies alles "Ethizismus" nennen. Nur muß dann hinzugefügt werden, daß Holls Verständnis der Rechtfertigungslehre Luthers nicht eben in dem Sinne ethisch orientiert ist, daß eine zunächst moralfreie theologische Gewißheit im Anwendungsfall nachträglich moralisierend umgedeutet würde; vielmehr impliziert für ihn bereits das Rechtfertigungsgeschehen als solches, nämlich als Gottes freie Setzung einer Beziehung zum Menschen, dessen normative Konstitution als ethisch-religiöser Subjektivität. "Gott schafft im Menschen ein neues Lebens- und Selbstgefühl dadurch, daß er ihn vor sich leben heißt: er erweckt ein neues Ich, eine neue Personhaftigkeit" (1907, 24). Vermöge dieser Interpretationsperspektive konnte Holl schon zu Beginn seiner wissenschaftlichen Erforschung der Theologie Luthers die These aufstellen: Die "Rechtfertigungslehre Luthers bringt seinen ganzen religiösen Erwerb in konzentrierter Form zum Ausdruck" (1906, 10) - eine Einschätzung, die sich etwa von der seines Fachkollegen Harnack (vgl. LD III, 843ff) signifikant unterscheidet. So tritt uns schon in Holls frühen Arbeiten aus den Jahren 1905 bis 1910 Luther als der schlechterdings unüberbietbare christliche Theologe entgegen. Mit seiner Rechtfertigungslehre hat er die mittelalterliche Theologie und Frömmigkeit weit hinter sich gelassen. Durch sie erweist er sich zugleich als der die gesamte Neuzeit überstrahlende ethisch-religiöse Denker. 1 6 Sie allein kann d a r u m auch befähigen zur sachkritischen Zeitdia16

Prägnant charakterisiert K. TANNER Holls Verhältnis zu Luthers Reformation: "Das genuin Reformatorische war für ihn nichts Historisches, sondern ein überzeitlich gültiger Zusammenhang von Grundeinsichten in die Struktur der sittlichen Persönlichkeit, die zugleich den Grundgedanken einer spezifisch modernen Kultur überbietend vorwegnahm" (Die fromme Verstaatlichung des Gewissens, 214). Einseitig ist allerdings Tanners Zuspitzung dieses Sachverhaltes auf Holls Umgang mit der "aktuellen Krisensituation der Zeit" (ebd.), worunter Tanner ausschließlich den Ausgang des Ersten Weltkriegs und den Beginn des Weimarer Staates versteht. Holl war bereits 1905/06 innerliberaler Krisentheologe aus rechtfertigungstheologischer Grundeinsicht. Die späteren ideenpolitischen Auseinandersetzungen infolge Dissenses über realpolitische Erfahrungen brachten im Kern nur eine sozialphilosophische Zuspitzung von Luthers Kirchenbegriff hervor, der als die wahre Idee religöser Gemeinschaftsbildung Holl schon 1911 feststand.

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gnose hinsichtlich der Aporien der Frömmigkeitskultur der Gegenwart.17 Holls frühe gedankliche Rekonstruktion der Rechtfertigungslehre wollte nichts anderes sein als Krisentheologie in konstruktiver Absicht.

3. Hirschs Weiterführung der L u t h e r d e u t u n g Holls Nachdem wir uns Holls Verständnis von Luthers Rechtfertigungslehre vor Augen geführt haben, ist nun innerhalb des Rahmens der von uns gestellten Aufgabe dessen Wirkung auf die Lutherdeutung Hirschs zu verfolgen. Holls Auffassung der Rechtfertigungslehre hatte sich als ein Dreifaches herausgestellt: zunächst als eine systematische Interpretation des Herzstücks der Theologie Luthers, sodann als ein gedankliches Modell der Konstitution ethisch-religiöser Subjektivität und schließlich als eine Zeitdiagnose der Krise des religiösen Bewußtseins. Was den letzten Punkt anbelangt, so hat die von Holl übernommene Krisentheorie Hirsch in die Lage versetzt, den durch den Ersten Weltkrieg ausgelösten religiösen und kulturellen Umbruch zusammen mit den Zeitgenossen auf S e i t e n der Dialektischen Theologie gedanklich mitzuvollziehen und theologisch zu durchdringen, mit dem Unterschied allerdings, daß die Absage an die Bildungsreligion des Kulturprotestantismus für Hirsch keine Störung seiner theologischen Identität bedeuten mußte. Hirsch war durch Holls Krisentheologie mit der inneren Legitimationskrise der Religion und Individualitätskultur des "modernen Menschen" bereits vertraut und bereicherte diese Sicht zunächst nur um eine auf die Zeit nach dem ersten Weltkrieg gemünzte geschichtstheologische Zuspitzung.18 Auf Hirschs ausgereifte Theorie der Neuzeit als einer Epoche der Umformungskrise des Christentums werden wir in Kapitel V. A. zu sprechen kommen. Was die subjektivitätstheoretische Dimension der Holischen Lutherdeutung anbelangt, so wird allein von ihr her einleuchtend, warum der durch Holl mit Luthers Grundeinsicht vertraut gemachte, frisch examinierte Kandidat der Theologie Hirsch alsbald eine kategoriale Klärung

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Der wechselseitige Überbietungsanspruch wurde stärker, weil der Konflikt offener zutage getreten war. Die parteipolitischen Optionen - auf allen Seiten - taten das Ihre hinzu. Unter diesem Aspekt wird man den Gegensatz zwischen Troeltsch und Holl nicht so stark betonen dürfen, wie es in der Folgezeit mancherorts - auch und gerade beim frühen Hirsch (vgl. unten Kap.V.A) - geschehen ist. Immerhin konnte sich etwa noch G. WÜNSCH als gemeinsamen Schüler Troeltschs und Holls verstehen (vgl. Evangelische Wirtschaftsethik, S. V). Vgl. H. FISCHER: Systematische Theologie, 313f.

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seines neu erworbenen theologischen Wissens in der Philosophie Fichtes suchte, der darum sowohl die Dissertation als auch die Habilitation gewidmet sind. 1 9 Von Holls Lutherdeutung zur Subjektivitätstheorie Fichtes ist es in der Tat kein so weiter Weg wie es auf den ersten Blick vielleicht erscheinen mag. Hirschs Versuch, seinen eigenen, reformatorisch geprägten Theologiebegriff mit Mitteln der Philosophie Fichtes zu analysieren, wird Gegenstand von Kapitel III. B. sein. Damit kommen wir zum spezifisch dogmengeschichtlichen Aspekt. Hirsch bewegt sich zunächst ganz und gar in den Bahnen der Holischen Lutherdeutung. 2 0 Die 1918 veröffentlichte Arbeit über "Luthers Gottesanschauung" beginnt mit dem Satz: "Luthers Gottesbild ist nicht nur das lebendigste und bestimmteste sondern auch das durchdachteste und klarste, das die christliche Theologie überhaupt erzeugt hat" (LG 3). Die Zustimmung zu Holls theozentrischer Lutherdeutung (vgl. LG 6) schließt die Zustimmung zu der sie tragenden These von der Doppelperspektivität des Rechtfertigungsvorgangs ein (vgl. T h S t K 1918, 132 Anm.). Wenn Hirsch in seiner 1941 abgeschlossenen Studie über "Luthers Lehre vom Gewissen" zu dem Ergebnis kommt: "Ich wüßte nicht, was gegen Holls ... Charakteristik der Religion Luthers als Gewissensreligion einzuwenden wäre"(LSt I, 134 Anm. 2), dann wird das hohe Maß an programmatischer Kontinuität sichtbar, welches zwischen der Luther-Auffassung Holls und Hirschs bestanden hat. Doch wir haben zeitlich weit vorgegriffen. Die erste Schrift, mit der Hirsch in Sachen Luther an die breitere Öffentlichkeit getreten ist, 2 1 war das 1917 erschienene Luther-Brevier, ein Florilegium aus Luther-Texten, 2 2 verteilt auf die Sonn- und Feiertage des Kirchenjahres. Die Auswahl läßt eine intime Bekanntschaft mit Luther erkennen. Dem Ganzen ist eine knappe Einführung vorangestellt, die dem Leser Leitgesichtspunkte für den Gebrauch des Breviers an die Hand geben soll. Für uns ist sie in erster Linie als Dokument der Entstehung

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V g l . H . - W . SCHÜTTE: S u b j e k t i v i t ä t u n d S y s t e m , 40f.

Hirsch bezieht sich vor allem auf die beiden Arbeiten Holls von 1906 (vgl. LG 30 Anm. 2) und 1910 (LG 3f). Aber er fügt hinzu: "Meine gelegentlichen Verweise auf Holl erschöpfen nicht das Maß dessen, das ich empfing" (4). Darüber hinaus gilt die programmatische Zustimmung eher Theodosius Harnack als Albrecht Ritsehl (vgl. LG 3.33 Anm. 25. 35 Anm. 40 und 44). Diese Abgrenzung schließt die implizite Übernahme Ritschl'scher Elemente, die auch bei Holl Eingang gefunden haben, nicht aus, so vor allem die Thematisierung des Gottesverhältnisses in der Duplizität von ethischer und religiöser Reflexivität. Vgl. auch Bibliographie Nr. 437-442. Diese Form der Publikation von Luther-Texten für eine breitere Öffentlichkeit bedeutete nichts Außergewöhnliches; vgl. etwa - ebenfalls 1917 erschienen - Martin RADE: Luther in Worten aus seinen Werken.

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des Lutherverständnisses Hirschs von Interesse. Ohne daß der Name Holl fällt, wird dessen Lutherbild als Hintergrund in hohem Maße deutlich. Dies kommt bereits formal darin zum Ausdruck, daß für Hirsch "die einzelnen frommen Gedanken Luthers", auch wenn sie ganz verschiedenen Kontexten angehören und den unterschiedlichsten Anlässen zuzuordnen sind, einen "großen sachlichen Zusammenhang" darstellen. Luthers Theologie bildet für Hirsch ebenso wie für Holl ein systematisches Ganzes von außergewöhnlicher "innerer Einheit" (LB 3). Was nun die inhaltliche Seite betrifft, so hebt Hirsch zunächst den ethisch-religiösen Doppelaspekt dieses Denkens hervor: "Zwei Themen Luthers werden auch für den Zurückhaltenden etwas unmittelbar Anziehendes, vielleicht auch Uberzeugendes haben. Das sind Luthers Gedanken über das Gottvertrauen und über das sittliche Ideal" (ebd.). In Luthers Frömmigkeit liegt eine alle sonstigen Formen religiöser Erfahrung überragende Gestalt religiöser Gewißheit vor. Vermutlich nicht ohne Anspielung auf die äußeren Zeitumstände formuliert Hirsch: "Das allgemeine Zutrauen zur Schöpfergüte Gottes hält da nicht Stich, wo die Welt sich zerstörend gegen uns wendet. Wir müssen von Gott noch etwas Höheres, das innere Freude gibt, geschenkt behalten, sonst überwindet uns das schwere, das ernsthafte Leid" (LB 3f). Wenn angesichts der Erfahrung der Majestät und Güte Gottes der Mensch sich in "Klarheit" und "Ernst" (LB 4) als ein "Ich vor G o t t " (LB 5) vernimmt, dann hat sich ihm nicht nur eine neue Sicht seines Gottesverhältnisses aufgetan, sondern zugleich auch ein neues Verständnis seiner ethischen Situation. Die sittliche Forderung wird unvergleichlich "streng" (LB 4). Die "Herzensreinheit, die lauter, freiwillig und freudig das Gute t u t , und die geduldige und helfende Liebe, die auch an Leid und Schlechtigkeit sich gibt", werden zur letztgültigen Norm des Guten. Das "Gewissen" des mit dieser ethischen Forderung innerlich konfrontierten Menschen wird gesteigert zu einer Form ethisch-religiöser Reflexivität von unüberbietbarer Radikalität. "Was unserer üblichen Durchschnittsmoral gegenüber oft unwahrhaftig wäre, das Selbstgericht und die Selbstverurteilung, das versteht sich diesem Ideal gegenüber von selbst" (ebd.). Die durch die Stichworte "Selbstgericht" und "Selbstverurteilung" charakterisierte Gestalt ethisch-religiöser Reflexivität bildet für Hirsch nicht nur die sachliche Vorstufe, sondern darüber hinaus auch den bleibenden Kontext des Rechtfertigungsglaubens. "Den Charakter meines ganzen frommen Lebens bestimmt die Frage, wie ich der Verzeihung des Heiligen und Erhabenen, der das Höchste von mir fordert, gewiß sein ... kann". Umgekehrt "vertieft" der Glaube an Gottes verzeihende Barmherzigkeit das allgemeine menschliche Gottesverhältnis in eine ethisch-religiöse Dauerreflexion, indem er "den Widerspruch unsrer Art gegen Gottes Art und

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die freie Überwindung dieses Widerspruchs durch Gott uns gegenwärtig halten heißt" (ebd.). Der Rechtfertigungsglaube als ganzer beschreibt sonach nichts anderes als die Genese der ethisch-religiösen Subjektivität bzw. den Sachverhalt, wie Gott "unserm Ich bestimmende und befreiende Gegenwart" wird. "Unser Selbstgericht vor Gott und Gottes Vergebung sind nach Luther die Grunderfahrung, in der allein unsre Seele und Gott zu wirklich individuellpersönlicher Gemeinschaft zusammengeschmiedet und zusammengehalten werden" (ebd.). Die dem Rechtfertigungsglauben eigene ethisch-religiöse Reflexivität scheidet ihn zwangsläufig von der Frömmigkeit der Mystik. Die Konstitutionsfunktion des Rechtfertigungsgeschehens impliziert zugleich den Beginn eines neuen Lebens in der Heiligung. Der "Rechtfertigungsglaube zeigt, wie das Ich durch die Freude an Gott und seiner Gemeinschaft eine neue Gesinnung bekommt, wie uns das, was wir im persönlichen Verkehr mit Gott erleben, erzieht und umwandelt" (LB 5). Diese neue Gesinnung steht für Hirsch in schlechthinnigem Gegensatz zu jeder eudaimonistischen Zuordnung von Religion und Ethos. Deshalb kann sie auch nur wirklich werden in Form eines inneren sittlichen Kampfes. "Erst in der Ewigkeit werden wir fertig sein" (LB 6). Dieser Ewigkeitsglaube ist begrenzt auf den Gedanken der Vollendung der in der Rechtfertigung angehobenen Heiligung und infolgedessen "ganz frei von versteckter Selbstsucht" (ebd.). Sowohl der systematische Grundriß als auch die signifikanten Pointen dieser Charakteristik der Frömmigkeit und Theologie Luthers zeigen, in welch hohem Maß Hirsch dem Interpretationsansatz seines Lehrers verpflichtet ist. Wenn Hirsch zusammenfassend erklärt: "Luthers Rechtfertigungsglaube hat gegenüber jeder andern Frömmigkeit den Vorzug des größeren religiösen Ernstes" (LB 5), dann könnte man in dieser Bewertung geradezu die Antwort erblicken, auf jene 1907 von Holl gestellte Frage: "Was hat die Rechtfertigungslehre dem modernen Menschen zu sagen?". 2 3 Einen wichtigen Gesichtspunkt der "Einführung" in das "Luther-Brevier" haben wir noch nicht genannt. Er betrifft Luthers Christologie. Hirsch schreibt dazu: "Wie kann ich der Gesinnung des Gottes, in dessen wesenslose Ewigkeit ich nicht eindringen kann, gewiß werden? Woher weiß ich u m seine heilige Barmherzigkeit? Da führt uns Luther vor Christus hin. Christus ist diejenige Erscheinung in der Welt, in der Gott uns sein Herz und seine Gesinnung kund und sichtbar macht. In ihm steht vor un23

Hirsch beschließt denn auch sein Kurzportrait der Rechtfertigungslehre mit der Bemerkung: "Man soll es sich ernsthaft überlegen, ehe man diese Gedanken als unmodern beiseite legt" (LB 4f).

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serm Auge ein faßliches Bild des Gottes, vor dem wir uns richten und der uns vergibt. Nichts hat befreiendere und tröstendere Kraft, als sich dem unerbittlichen gütigen Ernst hingeben, der von dem Bilde des Gekreuzigten ausgeht. Hier schweigen alle vieldeutigen Worte, und die lebendige Wirklichkeit allein predigt, klar und unmißverständlich. Ihr stille halten u n d lauschen, das vollendet uns erst in der Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit der Selbsterkenntnis, das läßt uns vor allem erst den himmlischen Vater kennen und ihm von Herzen trauen lernen" (LB 5). Hirschs notwendigerweise knapp gehaltenen Ausführungen zur Christologie Luthers besagen ein Dreifaches: Zunächst, Christus ist die Offenbarung desjenigen Willens Gottes, der im Rechtfertigungshandeln tätig wird. Sodann, es ist vor allem die Menschheit Jesu mit dem Kreuz als Mittelpunkt, worauf sich die Gewißheit des Rechtfertigungsglaubens gründet. Und schließlich, Luthers Christo"logie" hat ihr Zentrum nicht in Lehraussagen, Glaubensartikeln oder Dogmen, sondern in dem anschaulichen, lebendigen Christusbild. Nimmt man alle drei von Hirsch genannten Merkmale zusammen, so besagen sie nichts Geringeres, als daß der Rechtfertigungsglaube bei Luther seine bestimmende Mitte im Christusglauben hat. Das Erstaunliche ist, daß bis 1917, dem Jahre also, in dem Hirschs Luther-Brevier erschienen ist, bei Holl dazu kaum Entsprechungen vorliegen. 2 4 Aber der Vergleich gibt noch weitere Aufschlüsse. In der Lutherforschung und Theologiegeschichtsschreibung herrscht weitgehend die Meinung, daß Hirsch die Lutherdeutung seines Lehrers in ungebrochener Kontinuität fortgesetzt habe. Dies trifft für den überwiegenden Teil der Themen auch fraglos zu. Nur muß man zugleich sehen, daß Hirsch die Grundthese Holls, Luthers Rechtfertigungslehre sei ausschließlich vom Gottesbegriff her zu verstehen, in dieser Einseitigkeit nicht geteilt hat. Von den ersten wissenschaftlichen Bemühungen an, die Hirsch dem Verständnis Luthers gewidmet hat, gilt sein besonderes Interesse dem Gehalt und der Funktion der Christologie. Ihr fundamentaler Stellenwert für den inneren Aufbau und Gesamtzusammenhang von Luthers Theologie hat sich Hirsch zunehmend bestätigt. Die nächste Station in der Reihe der einschlägigen Publikationen bildet das 1919 erschienene Osiander-Buch. Hirsch bemerkt in der Vorrede: "Ich glaube Luthers Rechtfertigungslehre dadurch besser verstehen gelernt zu haben" ( T h A O S. V). Hirschs Darstellung stellt eine genetische Rekonstruktion der Theologie Oslanders dar, unter ständiger Berücksichtigung Luthers. Ihren Höhepunkt findet sie in der Gegenüberstellung von Osian24

Zum christologischen Gehalt der frühen Aufsätze über Luthers Rechtfertigungslehre vgl. Holl 1906, 8f; Holl 1907, 25; Holl ZThK 20 (1910), 251.255.278.286f.

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ders und Melanchthons Fassung der Rechtfertigungslehre: Oslander hat in voller Ubereinstimmung mit Luther die Rechtfertigung als geistliche Einwohnung Christi und damit als tatsächliche Gerechtmachung zu denken gewagt, dabei allerdings die prinzipielle Stellung der Sündenvergebung gedanklich nicht durchzuführen vermocht. Melanchthon hat an der von Luther geltend gemachten Absolutheit der Sündenvergebung festgehalten, die Rechtfertigung aber auf die bloße Gerechterklärung reduziert und damit die innere Einheit von Rechtfertigung und Erneuerung preisgegeben. So ist bei beiden auf unterschiedliche Weise die religiöse und gedankliche Geschlossenheit der Rechtfertigungslehre Luthers verlorengegangen. Was Hirsch bei dieser dogmengeschichtlichen Untersuchung für sich selber gelernt hat, wird man nicht vorschnell in dem für Oslander - gegen Melanchthon - charakteristischen Gedanken der realen Gerechtmachung erblicken dürfen. Diese Pointe lutherscher wie osiandrischer Rechtfertigungslehre war Hirsch schon aus Holls Zuordnung von Rechtfertigung und Heiligung vertraut. Eher wäre der Sachverhalt zu nennen, daß Oslander diese Gerechtmachung - mit Luther - als Einwohnung Christi bestimmt und damit den christologischen Sinn von Luthers Rechtfertigungslehre unmißverständlich zum Ausdruck gebracht hat. Daß die Rolle der Christologie für Hirsch tatsächlich im Vordergrund des Interesses steht, belegt auch sein Urteil über Melanchthons Rechtfertigungslehre. "Er hat die alten Gedanken von der Ersatzleistung - die in Luthers Imputationslehre eingebettet lagen als dem großen Zuge des göttlichen Handelns an uns untergeordnet - als das ihm allein verständliche Stück dieser Lehre herausgenommen ... Die Abweichung dieser Lehre, der Luther formal j a oft nahe genug kommt, besteht darin, daß anstelle der ewigen Gerechtigkeit des persönlichen Christus, die dem Gesetz und der Sünde am Kreuze stille hielt, eine von Christus beschaffte Leistung getreten ist, und daß die wirksame Einheit Christi mit dem Gläubigen für das Rechtfertigungsurteil Gottes gleichgiltig ist" ( T h A O 229). Bei Melanchthon ein reformatorisch vertiefter Anselmismus, bei Luther dagegen das Bild des Gott gehorsamen Menschen am Kreuz - so charakterisiert Hirsch hier die christologische Differenz beider. Uber Luthers Christusanschauung im "Sermon von der Bereitung z u m Sterben", einem T r a k t a t , der für Oslanders Begriff der Liebe wichtig geworden ist, kann Hirsch schreiben: "Luther hat es tapfer gewagt, die Abgründe zu durchmessen, die im vierten Wort am Kreuz verborgen Hegen. Christus hat den zur Hölle verdammenden Zorn Gottes als über sich ergehend empfunden. Gott hat sich zu ihm gestellt, als ob er ein Sünder wäre. Wie nah Christus der Hölle stand, zeigt sich darin, daß sein Wort einer Lästerung äußerlich ähnlich sieht. Es war aber keine Lästerung, sondern nur der Schmerzensschrei einer gequälten, unschuldigen Natur.

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Christus sagt ja 'mein Gott' zu dem, der ihn ewig zu verdammen scheint, ist also mit Gott seinem gegenteiligen Empfinden zum Trotz eins" (ThAO 81). Und Luthers Auslegung derselben Textstelle (Ps 22,2 = Mt 27,46) in den Operationes in psalmos zählt Hirsch gar "zu dem Tiefsinnigsten ..., was überhaupt aus Luthers Feder kam" (ThAO 82, Anm. 9). 25 Damit deutet sich bereits an, wo für Hirsch der Schwerpunkt der Christologie Luthers liegt, nämlich in dessen abgründigem Bild des Gekreuzigten. Besondere Bedeutung kommt Hirschs frühem Aufsatz "Initium theologiae Lutheri" zu. Als Beitrag zur Kaftan-Festschrift 1918 geschrieben, konnte er erst 1920 erscheinen. Diese Abhandlung spielt bis heute in der Lutherforschung eine gewichtige Rolle, 26 und zwar was die Datierung des reformatorischen Durchbruchs beim frühen Luther anbelangt. Hirschs Studie zerfällt in sechs Abschnitte. Abschnitt 1 behandelt das Verhältnis von Luthers Anfechtungserfahrungen bezüglich der iustitia Dei zu vorreformatorischen Fassungen dieses Begriffs, insbesondere bei Gabriel Biel. Abschnitt 2 ist der Widerlegung des "Objektivationsschemas" gewidmet, welches Friedrich Loofs zur Erklärung des in der Vorrede zu den lateinischen Schriften von 1545 vorkommenden Ausdrucks "iustitia Dei passiva" vorgeschlagen hatte. Abschnitt 3 zeigt, daß die Überbietung der scholastischen Definition der Gerechtigkeit als Tugend durch den Begriff der Glaubensgerechtigkeit für sich allein noch keinen Durchbruch der reformatorischen Einsicht im Sinne der in der späten Vorrede genannten Textstelle Rom 1,17 bedeutet. Abschnitt 4 weist nach, daß Luther erstmalig in dem Scholion zu Ps 31(32),1 die Umrisse seines neuen, an Rom 1,17 orientierten Verständnisses von iustitia Dei vorgetragen hat. Abschnitt 5 beschreibt das Wesen der im Glauben zuteil werdenden Gerechtigkeit Gottes dahingehend, daß es eine Gerechtigkeit sei, die aus Gott kommt und darum vor Gott gilt. Abschnitt 6 hebt hervor, daß Luthers Entdeckung über Rom 1,17, deren gedankliche Artikulation in der ersten Psalmenvorlesung noch ganz eingebunden war in die - allerdings bereits gegen Ende derselben als inadäquat eingesehene - Lehre vom vierfachen Schriftsinn, erst 1525 auf den Begriff der iustitia Dei passiva gebracht worden ist und damit ihre abschließende Explikationsgestalt gefunden hat. Was besagen die Ausführungen von "Initium theologiae Lutheri" nun hinsichtlich der Rolle der Christologie beim frühen Luther? Hirsch verweist zunächst auf zwei Stellen aus Luthers Randbemerkungen zu Augustins De trinitate Dei und zu den Sentenzenbüchern des Petrus Lombardus, beide aus dem Jahre 1509. 25 26

Vgl. JChH 74. Vgl. das Vorwort von B. LOHSE in dem von ihm herausgegebenen Sammelband: Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther, S. XVf; vgl. auch A. GYLLENRROK: Rechtfertigung und Heiligung, S. V.

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Hirsch bezieht diese Äußerungen zurück auf die Anfechtungen, die Luthers monastische Existenz geprägt haben, und kommt zu folgendem Urteil: "Wer so schreibt, übt an sich, an seinem Glauben und seiner Gerechtigkeit die entschlossenste Selbst Verurteilung. Noch mehr, er muß diese Selbstverurteilung auch für die Voraussetzung dessen halten, daß man den Menschgewordenen ergreife. So hat Luther schon 1509 gewisse einfache Gedanken seiner Rechtfertigungslehre besessen. An der Sendung Christi durch Gott verstand er es als Gottes Willen, sich bleibend als Sünder vor dem allein Gerechten erkennen zu müssen und eben innerhalb dieses Bewußtseins die Menschheit Christi als Gottes lebengebendes Geschenk hinzunehmen" (LSt II, 22). Die eigentliche Entdeckung über Rom 1,17 liegt für Hirsch im Scholion zu Ps 31(32),1 vor. Die einschlägige Stelle bei Luther lautet: "Nullus hominum scivit, quod ira dei esset super omnes et quod omnes essent in peccatis coram eo, sed per Euangelium suum ipse de coelo revelavit et quomodo ab ista ira salvi fieremus, et per quam iustitiam liberaremur, scilicet per Christum" (WA 3, 174; Hhg.v.Vf.). Für Hirsch folgt daraus, daß "Luther, als er die iustitia Dei Rom 1,17 verstehen lernte von der iustitia, qua iustus dono dei vivit, dabei an Christus gedacht hat" (LSt II, 32). "Von der Gleichsetzung fides = iustitia dei aus bliebe das schlechthin unerklärlich" (ebd.). Allein an seinem Christusglauben ist Luther die reformatorische Einsicht aufgegangen. Hirsch faßt das Ergebnis der in der ersten Psalmen Vorlesung gemachten Entdeckung über Rom 1,17 deshalb folgendermaßen zusammen: "Luthers neue Erkenntnis bestand also darin, daß er den von Gott dem Sünder zum Trost geschenkten Christus, von dem er schon 1509/10 zu reden wußte, in der iustitia dei des Paulus, j a der Schrift überhaupt wiederfand. ... Man kann das, was Luther in jener Stunde erschaute, auch so ausdrücken: damals verstand er die in Christus uns gewährte Barmherzigkeit als den lebendigen Ausdruck von dem Wesen und Willen, dem Herzen und der Gesinnung des ewigen unsichtbaren Gottes selbst ... Er sah in ihr, zum ersten Male in seinem Leben, Christus so, daß er ihm ein Spiegel des ganzen Willens des ganzen Gottes war" (LSt II, 32f). Bereits in der Einleitung zum Luther-Brevier von 1917 war Hirsch zu der Uberzeugung gelangt, daß Luthers Rechtfertigungsglaube der Sache nach in seiner Christusanschauung verankert sei. Nun, im Beitrag zur Kaftan-Festschrift 1918/20, weist Hirsch philologisch nach, daß das dem Rechtfertigungsglauben zugrunde liegende neue Verständnis von iustitia Dei auch der Entstehung nach mit Luthers Christusfrömmigkeit zusammenhängt. Man hat in der neueren Lutherforschung zu Recht vermerkt, daß Hirsch die Auffassung Holls vom Zeitpunkt des Durchbruchs der reformatorischen Erkenntnis bei Luther modifiziert habe. Während Holl

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die ethische Seite der reformatorischen Einsicht zwischen 1509 und 1511 und die religiöse zwischen 1511 und 1513 entstanden sieht, fällt die von Hirsch geltend gemachte Entdeckung über Rom 1,17 etwa in die Zeit von Dezember 1513 bis Januar 1514. Aber mindestens ebenso wichtig wie der Datierungsunterschied ist die inhaltliche Differenz zwischen Holl und Hirsch. Für Holl stand fest: Luther "vermag den Sinn der Rechtfertigung lückenlos vom Gottesbegriff aus zu verdeutlichen" (Bd. 1, 114). Für Hirsch hingegen läßt sich "allein daraus, daß für Luther Christus die uns geschenkte Gerechtigkeit Gottes war, begreifen, wie er einfach sagen konnte: Gottes Gerechtigkeit, das sei seine Gnade und Barmherzigkeit" (LSt II, 32). Wenn man den Gegensatz schlagwortartig zusammenfassen wollte, so könnte man sagen: Holl hat Luthers Rechtfertigungsglauben theozentrisch, Hirsch dagegen christozentrisch gedeutet. 27 Holls Luther-Buch erschien erstmalig im Jahre 1921, bereits 1923 dann in 2. und 3. Auflage. Ebenfalls 1923 setzte eine leidenschaftlich geführte Diskussion um die dort vorgetragene Luther-Auffassung ein. 28 Hauptgegenstand der Auseinandersetzung war das Verhältnis von Gottesgedanke und Christologie. Hirsch selbst hat sich an der Debatte nicht beteiligt. Der "Initium"-Aufsatz zeigt aber, daß Hirsch in der Einschätzung des Stellenwertes der Christologie bei Luther seinem Lehrer nicht folgen konnte. Fünf Jahre bevor die öffentliche Diskussion dieses Thema entdeckte, hatte Hirsch schon eine unübersehbare Revision des Hollschen Ansatzes vollzogen. Holls Einarbeitung von exkursmäßigen Anmerkungen zur Christologie in der 2./3. Auflage 29 unter ausdrücklicher Berufung auf Hirschs "Initium"-Aufsatz 30 zeigt denn auch, daß Holl die abweichende Auffas27

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R. P R E N T E R spricht im Hinblick auf das Verständnis von Luthers Rechtfertigungslehre gar von einer "einseitig christozentrische[n] Auffassung von der iustitia dei bei Hirsch" (Der barmherzige Richter, 102 Anm. 272). Vgl. W. WALTHER: Neue Konstruktionen der Rechtfertigungslehre Luthers; F. K A T T E N B U S C H : Neuestes zur Lutherforschung; F. G O G A R T E N : Theologie und Wissenschaft; H.M. MÜLLER: Der christliche Glaube und das erste Gebot; T. BOHLIN: Gudstro och Kristustro hos Luther; K. THIEME: Zu Karls Holls Auffassung von Luthers Christologie; H. BORNKAMM: Christus und das 1. Gebot in der Anfechtung bei Luther. Vgl. Luther 2 / 3 , 38-40 Anm. 1 mit Luther 1 , 32; vgl. Luther 2 / 3 , 69-72 Anm. 4 mit Luther 1 , 57; vgl. Luther 2 / 3 , 124f Anm. 2 mit Luther 1 , 103f Anm. 2; vgl. Luther 2 / 3 , 192f mit Luther 1 , 162. An allen angegebenen Stellen legt keineswegs der Grundtext selbst jene christologischen Einschübe nahe. Holl ist offensichtlich bemüht, Übergangenes nachzutragen. Vgl. Holls Hinweis in der überarbeiteten Fassung des Religions-Aufsatzes: "Ich verweise nur auf den Psalmenkommentar WA III 433,2 ... und dazu die zutreffende Bemerkung von E. Hirsch, Initium ... . Der wirklich an Christus Glaubende hat Christus als Gegenwärtigen in sich" (Luther 2 / 3 , 70 Anm. 0); vgl. ebenso den gegenüber der Erstauflage erweiterten Einschub im großen Ethik-Aufsatz: "E.

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sung seines Schülers zur Kenntnis genommen und seine eigene Deutung zwar nicht korrigiert, wohl aber ergänzt hat. Auf Luthers Christusbild geht Hirsch im "Initium"-Aufsatz dessen anders gestecktem Argumentationsziel zufolge nicht näher ein. Immerhin hebt er hervor, daß Luther "allenthalben in der ersten Psalmenvorlesung Christus als den angefochtenen schildert und diese Anfechtung Christi als ein liebendes Mittragen unserer Schuld und Not durch den auf Erden wandelnden Christus versteht" (LSt II, 30f Anm. 5). 3 1 Gedankliche Grundlage dieses Christusbildes ist die "Theologia crucis" (LSt II, 24 Anm. 2). Damit ist die Verbindung hergestellt zu den oben angeführten Äußerungen des Osiander-Buches. Für Hirsch repräsentiert Luthers Bild des Gekreuzigten das Herzstück seiner Frömmigkeit. Von Luthers lebendiger Christusanschauung her erschließt sich seine Theologie am adäquatesten. Luthers Rechtfertigungsglaube ist als solcher Christusglaube. Diesen bereits 1918 entdeckten christologischen Sinn und Ursprung von Luthers Rechtfertigungslehre hat Hirsch später immer wieder nachhaltig unterstrichen. Für ihn stand fest, daß Luthers Frömmigkeit "im Glauben an Jesus ihr Tiefstes und Eigentlichstes hat" ( W C h 115), oder noch grundsätzlicher formuliert: "Die letzte bewegende Kraft der Reformation ist ein neues Aufbrechen und Durchbrechen der persönlichen Macht und Gewalt Jesu von Nazareth selbst über Herz und Gewissen" (WrCh 87). Hinsichtlich des Werdens von Luthers Christologie unterscheidet Hirsch im wesentlichen drei Entwicklungsstufen: In der ersten Psalmenvorlesung arbeitet sich Luther in die Welt der neutestamentlichen Frömmigkeit ein. In den nachfolgenden Vorlesungen über den Römer-, Galater- und

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Hirsch hat mit Recht ... auf die Bedeutung, die Christus bereits [seil. 1509] für ihn gewonnen hatte, hingewiesen. In der Tat hat Luther damals auch schon seinen späteren Grundsatz ausgesprochen, daß man an den in der Menschheit Christi sich offenbarenden Gott sich halten und aus solchem Glauben Leben und Heil schöpfen müsse.... Hier sah er also bereits einen Weg, um zu einer 'Gerechtigkeit', wie er sie verstand zu gelangen" (Luther 2 / 3 , 192f; Hhg.i.O.). Holl integriert Hirschs Hinweis auf den Stellenwert der Christologie bei Luther lediglich im Sinne eines Nachtrags; Hirschs Datierungsalternative, die mit jener inhaltlichen Umakzentuierung auf engste zusammenhängt, wird von Holl abgelehnt (vgl. a.a.O. 193f). In sachlicher Übereinstimmung mit Hirschs Betonung der christologischen Dimension des reformatorischen Durchbruchs hebt R. S C H W A R Z hervor: "Der Erkenntnisgewinn lag für Luther darin, daß er bei der biblischen Rede von der iustitia dei (oder Christi), ganz besonders beim täglichen Ps-Gebet, nicht mehr an eine richterliche Eigenschaft Gottes denken mußte, in deren Ausübung Christus am jüngsten Tage über ihn das letzte Urteil sprechen werde. Stattdessen konnte er in seinem Christus-Glauben daraufbauen, daß ihm in Christus die Gerechtigkeit zuteil wird, weil Gott ihn in der Glaubensverbundenheit mit Christus gerecht macht, wie Gott auch seine Weisheit und Wahrheit im menschgewordenen Christus so mitteilt, daß er ihn weise und wahr macht" (Luther, 31).

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Hebräerbrief erwirbt er sich das paulinische Christusbild. In den Predigten und Predigtentwürfen bis hin zur Kirchenpostille schließlich vertieft Luther seine Christusanschauung durch eine aus den Evangelien geschöpfte, ebenso lebendige wie religiös reflektierte Darstellung des Menschen Jesus (WrCh 87-90). Obwohl Luthers Christologie für Hirsch das Zentrum der reformatorischen Theologie bildet, hat er ihr - bei annähernd 80 Publikationen zu Luther (vgl. LSt I, 221-224) - dennoch keine eigene Monographie gewidmet. Das hat Gründe. Hirsch erklärt in der letzten Anmerkung des Wiederabdrucks seines Beitrags zur Kaftan-Festschrift in den "Lutherstudien": "Eine Weiterf ü h r u n g der Thesen dieses Aufsatzes bietet die von mir angeregte schöne Erstlingsschrift meines Schülers und späteren lieben Freundes Erich Vogelsang: Die Anfänge von Luthers Christologie, 1929" (LSt II, 35 Anm. 1). Vogelsang seinerseits hat seine Darstellung dann fortgesetzt in dem 1932 erschienenen Buch "Der angefochtene Christus bei Luther". Beide Arbeiten gehören in philologischer, historisch-genetischer und systematisch-inhaltlicher Hinsicht bis heute zu den grundlegenden Monographien über Luthers Christologie. Noch etwas deutlicher äußert sich Hirsch zu dem fraglichen P u n k t im Geleitwort zum 1. Band der "Lutherstudien". "Zu den Arbeitszielen, die ich mir in meinen jungen Jahren vorgesetzt hatte, gehörte auch eine historisch-genetische Darstellung der Theologie Luthers und von da her eine gleichartige Darstellung der reformatorischen Theologie ü b e r h a u p t in der Zeit bis zu Luthers und Melanchthons Tode ... Wenn ich dennoch nicht zu einer mehr umfassenden Gesamtdarstellung vorgestoßen bin, sondern andern Arbeitszielen den Vorrang eingeräumt habe, so ist dies wesentlich in der Erwartung begründet gewesen, daß für diese Aufgabe, weit eher als für die mir sonst vorschwebenden, andre Bearbeiter sich finden würden. Im J a h r e 1926 wurde mir in dem damaligen Studenten Erich Vogelsang ein hochbegabter Schüler geschenkt, dem ich eines meiner eignen Lieblingsthemen, das Werden von Luthers Christologie mit besonderem Aufmerken auf Luthers Bild von dem angefochtenen Menschen Jesus, anvertrauen durfte, und die beiden Bücher, die Vogelsang dann über diesen Gegenstand an den Tag gab, veranlaßten mich, unter Verzicht auf eine eigne Gesamtdarstellung, die auf Grund der Weimarer Ausgabe nunmehr mögliche historisch-genetische Erforschung von Luthers Theologie ganz in seine Hand zu legen" (LSt I, 7). 32 Zu einer solchen breitangelegten 32

Im Detail liegen zwischen Hirsch und Vogelsang durchaus unterschiedliche Einschätzungen vor. Dies betrifft vor allem die Frage, ob schon Ps 31(32) als "erstes Zeugnis von Luthers neuem Verständnis der iustitia dei" (LSt II, 35 Anm. 1) zu gelten habe. An dieser Sicht hält Hirsch gegen den Widerspruch Vogelsangs fest,

Weiterführung der Lutherdeutung

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Luther-Darstellung kam es nicht mehr, da Vogelsang 1944 im Krieg fiel. Und Hirsch selbst hat 1941 - vier Jahre vor der vollständigen Erblindung - mit der endgültigen Arbeit an der "Geschichte der neuern evangelischen Theologie" begonnen. So sind wir, was die Grundzüge von Hirschs Lutherauffassung, speziell aber auch die Christologie, betrifft, vor allem auf vier Publikationen angewiesen: den 1938 erschienenen "Leitfaden", das "Wesen des Christentums" aus dem Jahre 1939, die 1941 abgeschlossene, 33 aber erst 1954 veröffentlichte Studie über den Gewissensbegriff und das 1963 erschienene "Wesen des reformatorischen Christentums". Daß Hirschs Lutherdeutung keineswegs so einheitlich ist, wie es zunächst vielleicht den Anschein erwecken mag, werden wir unten in Kapitel V.A.3/B.3 im Zusammenhang der Interpretation des "Leitfadens" noch sehen. Im Hinblick auf Hirschs Verständnis von Luthers Christologie ist diesbezüglich - in Ubereinstimmung mit dem oben Ausgeführten - aber bereits hier eine grundsätzliche Einsicht vorwegzunehmen: Wie Ritsehl 34 und nach ihm Harnack 35 hat auch Hirsch Luthers Aneignung des altkirchlichen Dogmas zu den konservativen Zügen des Reformators gezählt. 36 Hier begegnet gerade nicht Luthers ureigenste Christusfrömmigkeit. Ja, Hirsch geht sogar noch einen Schritt weiter. Für ihn hat Luther "eine

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35 36

der erst in Ps 70(71) "den unmittelbaren 'ersten Niederschlag' des Erlebnisses" (ebd.) erblickt (vgl. E. VOGELSANG: Die Anfänge von Luthers Christologie, 4061). Das Hirsch-Zitat bei SCHWARZ (a.a.O. 31) trifft inhaltlich eher auf Vogelsangs als auf Hirschs D e u t u n g zu. Hirschs Studie ist Fragment geblieben (vgl. LSt I, 8); über den ursprünglichen Ges a m t p l a n orientiert die Vorbemerkung (a.a.O. 10). Die gründlichste Auseinandersetzung mit Hirschs Deutung von Luthers Gewissensbegriff bietet M.G. BAYLOR: Action and Person. "Bei Luther stoßen wir auf den bestimmten Versuch, die altkirchliche Christologie durch Nachweisung der communicatio idiomatum theoretisch sicher zu stellen. Allein seine religöse Schätzung Christi knüpft sich nicht an die genaue Vergegenwärtigung des Schema von der Einen Person in den zwei Naturen, obgleich er dasselbe im Allgemeinen fortfährt gelten zu lassen. Die religöse Schätzung Christi im Unterschied von der theoretischen Ausführung des christologischen D o g m a giebt Luther in seinen katechetischen und theilweise in homiletischen Schriften k u n d " ( R u V 3 III, 369f). Hermeneutische Voraussetzung dieser Beurteilung von Luthers Christologie ist die Unterscheidung von reformatorischem Ansatz u n d zeitbedingter Kirchen- und Lehrbildung, wie RITSCHL sie in seiner "Geschichte des Pietismus" zur Geltung gebracht hat (vgl. I, 80-98). An diese Unterscheid u n g k n ü p f t HARNACK programmatisch an und legt sie seiner Luther-Darstellung zugrunde (vgl. LD III, 685f A n m . 1). Vgl. LD III, 808-820. Zu Hirschs A n k n ü p f u n g an Ritsehl und Harnack vgl. C h R I, 127. "Dem reformatorischen Christusglauben sitzt die von den Reformatoren wiederholte altkirchliche Christologie wie ein schlecht angemessener Rock" (Lf §39. M. 2)·

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Die frühe Christologie

Anschauung von Jesus Christus besessen und als Lehrer und Prediger vertreten, welche tatsächlich das altkirchliche Dogma vom Gottmenschen gegen seine eigne Absicht zersprengt. Er war der erste christliche Theolog seit mehr als einem Jahrtausend, der damit Ernst gemacht h a t , daß Jesus ein wahrhaftiger individueller Mensch gewesen ist ... Jesus ist für ihn nicht ein Gottwesen mit einer menschlichen Natur, sondern richtige menschliche Person" ( W d T h 43). Ihren Höhepunkt findet Luthers Christologie für Hirsch deshalb im Jesusbild der Predigten, nicht in den lehrhaften Stellungnahmen zum christologischen Dogma. 3 7 Hirsch hat selbstverständlich wahrgenommen, daß sich bei Luther zahlreiche christologische Aussagen und Aussagezusammenhänge finden, die sich streng schulmäßigen Fragestellungen hinsichtlich der Bedeutung des altkirchlichen Dogmas verdanken. 3 8 Aber in solchen Erörterungen sieht er nicht das Eigentliche von Luthers Christusglauben zum Ausdruck gebracht. Dies findet sich viel eher beim meditierenden Prediger und Bibelexegeten. Die Aufgabe einer an Luthers Christusanschauung orientierten Christologie kann Hirschs Meinung nach deshalb nicht darin bestehen, Luthers Ausdeutung des Dogmas stark zu machen, sondern allein darin, nach Art der Christusvergegenwärtigung Luthers das Christusbild der Evangelien meditativ zu erschließen und reflektierend zu durchdringen. 3 9 Wie eine nach dem Vorbild Luthers als meditative Vergegenwärtigung und reflektierende Durchdringung der Evangelien konzipierte Christologie aussehen könnte, hat Hirsch 1927 am Beispiel einer Predigt aus dem Fastenteil der Kirchenpostille dargelegt (vgl. ARB 632-636), nämlich Luthers Auslegung der Geschichte vom kanaanäischen Weib, Mt. 15, 21-28 (vgl. WA 17.11, 200-204). Auch Holl h a t t e sich auf diesen Text bezogen, der von dem heimlichen J a Gottes hinter dem richtenden Nein handelt, und darin den dem Rechtfertigungshandeln zugrunde liegenden "Liebeswillen Gottes" (Bd. 1, 75) ausgedrückt gefunden; von Jesus Christus war dabei nicht die Rede. Hirsch verweist auf Holls Interpretation (vgl. ARB 633, 635), zieht aber ganz andere systematische Konsequenzen. Hirsch hebt 37

38 39

Ähnliches gilt auch für den Stellenwert christologischer Lehraussagen innerhalb der Predigten selbst: "Luthers Torgauer 'Predigt von Jesu Christo' hat vielfach als klassische Zusammenfassung seiner Christologie gegolten. In dem Sinne, daß wir in ihr eine ganz rein durch den Gegenstand bestimmte lehrhafte Darlegung vor uns hätten, ist das ... nicht richtig. Luther spricht in einer sehr individuellen Lage, und mit all der Einseitigkeit der Aneignung, die dieser Lage entspricht" (Randglossen zu Luthertexten: Die Torgauer Predigt von Jesu Christo, 828). Vgl. HStD 16. Vgl. den Hinweis auf Luthers Kirchenpostille ChR I, 49. Hirsch merkt an: "An dieser Stelle habe ich methodisch für das Verständnis der Reformation etwas von Wilhelm Herrmann gelernt, wiewohl ich nicht glaube, daß ihm die Bestimmung selber schon gelungen ist: er hat wenigstens richtig gefragt" (ChR I, 134).

Weiterführung der Lutherdeutung

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hervor, daß "hier bei Luther ein ganz eigentümlicher und neuer Versuch vorliegt, die Gottheit Jesu Christi für den Glauben nachzuweisen" (ARB 635). Jesus treibt das kanaanäische Weib in die äußerste Anfechtung, sie hält stand und entdeckt darin die verborgene Gnade. Jesus erweist sich damit als der am "Gewissen handelnde und daran das Merkmal des Göttlichen habende Herr" (ARB 636). In solchen Begegnungen mit dem Menschen Jesus, wie sie die Evangelien exemplarisch "abmalen", geht dem Glauben die Gottheit Jesu auf. Damit wird einsichtig, worin der systematische Ertrag von Hirschs christozentrischer Deutung der Rechtfertigungslehre gegenüber der theozentrischen Deutung Holls liegt: Bei Holl hängt die innere Plausibilität der Rechtfertigungslehre Luthers ganz an der virtuellen Standpunktversetzung in der Selbstbeurteilung des Gewissens; allein aus der Perspektive Gottes vernimmt sich der Mensch als unter der Antinomie von Gericht und Gnade stehend. Bei Hirsch kann jene virtuelle Standpunktversetzung in die Perspektive Gottes entfallen, weil bereits der Mensch Jesus in seinem Bußund Vergebungswort jene Antinomie des göttlichen Handelns vernehmlich macht; so gelangt in der Christusanschauung des Glaubens das Bild von Gottes wahrem Wesen und Willen zu innerer Evidenz. Eben d a r u m entfaltet Hirsch den Gehalt der Rechtfertigungslehre Luthers nicht unmittelbar auf der Ebene des Gottesbegriffs, wie Holl dies getan hat, sondern in Form einer Christologie: Die Christologie ist der Entdeckungszusammenhang des christlichen Gottesgedankens, dieser ist der innere Grund der Christologie.

Β. Die Christologie auf der Grundlage von Wort und Geschichte Jesu

1. D e r m e t h o d i s c h e A n s a t z v o n "Jesus C h r i s t u s der Herr"

Im Jahre 1926 - drei Jahre später kaum verändert in zweiter Auflage ist Emanuel Hirschs dogmatisches Opusculum "Jesus Christus der Herr" erschienen. 40 Es stellt neben den drei Paulusaufsätzen - "Eine Randglosse zu 1. Kor. 7" (veröffentlicht im Jahre 1926), "Zur paulinischen Christologie" (1930) und "Petrus und Paulus" (1930) - , den beiden Bultmannrezensionen - "Bultmanns Jesus" (1926) und "Antwort an Rudolf Bultmann" (1927) - sowie den beiden Predigtbänden - "Der Wille des Herrn" (1925) und "Das Evangelium" (1929) - die wichtigste Quelle für die frühe Christologie Hirschs dar. Bei der genannten Schrift handelt es sich um eine für den Druck angefertigte Überarbeitung von Vorlesungen, die Hirsch im Jahre 1925 in Stuttgart gehalten hatte. Im Vorwort nennt Hirsch einen doppelten Zweck, den er mit jenen Vorträgen zu erfüllen hatte: "Einerseits sollte ich ernste wissenschaftliche Arbeit tun und durch einen eigenen Versuch eingreifen in das Ringen unsrer Theologie um eine neue Christologie. Andererseits sollte ich auch der Not des Augenblicks dienen und persönlich fragenden Menschen durch alle Schwierigkeiten historischer und dogmatischer Kritik hindurch den Weg zur lebendigen und gewissen Erkenntnis Jesu Christi zeigen" (JChH 7). Die daraus resultierende Verschränkung von Wissenschaftlichkeit und Erbaulichkeit, die - wie Hirsch selbst schreibt (vgl. J C h H 7) - auch seinem eigenen Theologieverständnis entgegenkam, hat sich dann auch der Buchveröffentlichung jener Vorlesungen mitgeteilt. Sie ist als solche durchaus ambivalenter Art,verleiht sie doch den Ausführungen ebenso ein hohes Maß an religiöser Eindringlichkeit, dem sich der Leser nur schwer entziehen kann, wie sie umgekehrt die Einschätzung des wissenschaftlichen Wertes der einzelnen Äußerungen nicht selten erschwert, da terminologische Hervorhebungen fast gänzlich fehlen. 4 1 40 41

Zur Wirkung seines Buches vgl. Hirsch in GluN 686. In dem bereits herangezogenen Brief an H. LlETZMANN hat Hirsch den reifen, durchgearbeiteten Charakter seines Buches betont: "Paul Althaus hat zum Bei-

Der methodische Ansatz

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In den beiden Hauptabschnitten mit den Titeln "Die uns gegebene Wahrnehmung" ( J C h H 9-41) und "Die uns aufgegebene Erkenntnis" ( J C h H 41-92) geht es zum einen u m die historisch-kritische Sichtung des Wortes und der Geschichte Jesu von Nazareth sowie der Anfänge des werdenden Christentums und zum andern u m die gedankliche Durchdringung dieses Befundes im Hinblick auf seine Bedeutung für den christlichen Glauben. Speziell an die theologischen "Fachgenossen" ( J C h H 7) ist das erste Kapitel des zweiten Hauptabschnittes "Die Fragestellung" ( J C h H 41-53) gerichtet. Es stellt laut Hirsch "ein Wort über die Methode" dar, welches den angesichts der genannten wissenschaftlich-erbaulichen Zwitterstellung möglicherweise entstehenden Eindruck, seinerseits "als unklar zu gelten" ( J C h H 7), aus dem Wege räumen soll. Es empfiehlt sich deshalb, den Zugang zu Hirschs früher christologischer Schrift über dieses Methodenkapitel zu nehmen. Auf der Basis einleitender grundsätzlicher Ausführungen über das Verhältnis von Glaube und theologischem Erkennen werden nacheinander drei ganz unterschiedliche, für den Ansatz der Christologie aber in gleichem Maße höchst bedeutsame theologische Positionen kritisch erörtert: die Wiedererneuerung des altkirchlichen Dogmas (JChH 45-49), die sich auf Kierkegaards Paradoxchristologie berufende Richtung ( J C h H 49-53) und schließlich die durch Schleiermacher bestimmte Tradition ( J C h H 43-45). Abschließende Ausführungen (JChH 53f) erläutern dann die Gliederung des zweiten Hauptabschnittes.

a) Das altkirchliche Dogma und der protestantische Neuansatz Betrachtet m a n die kritischen Ausführungen zu den Ansatzmöglichkeiten der Christologie zunächst nach ihrer Funktion, so fällt auf, daß die Abgrenzung gegenüber den verschiedenen Versuchen einer Reformulierung des altkirchlichen Dogmas 4 2 Hirsch insbesondere zur Artikulation des spezifisch protestantischen Profils seines christologischen Entwurfs dient.

42

spiel mein Jesus Christus der Herr mir gegenüber unbedeutend genannt. Er hat aber nicht gemerkt, daß diese Einfachheit sehr schwere und verwickelte historische und spekulative Arbeit hinter sich hat und oft ganze Diskussionen in einer lösenden Formel überwunden sind.... In Jesus Christus der Herr hab ich erst die fünfte Fassung veröffentlicht, in der alles ausgetilgt war, was nur Handwerk war" (GluN 686; Hhg.i.O.). Rein methodisch unterscheidet Hirsch eine traditionalistische, eine spekulative, eine kritische und eine paradoxtheologische Reformulierung des Dogmas (vgl. JChH 45).

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Die frühe Christologie

Eben deshalb erfolgen auch gerade in diesem Zusammenhang exkursähnliche Bemerkungen zur Konfessionsgeprägtheit der Christologie (vgl. JChH 47). Grundlage der Absage an das Dogma ist für Hirsch zum einen das evangelische Verständnis der Kirche. "Weil die Kirche die Gemeinschaft aller derer, die da glauben, ist, darum steht sie unter dem Worte Gottes.... Alles Dogma der Kirche kann darum nur als menschliches Bekenntnis, nie als Gottes Wahrheit unsre Aufmerksamkeit fesseln" (JChH 46). Die andere theologische Voraussetzung ist die von Hirsch emphatisch vertretene reformatorische Grundüberzeugung von der prinzipiellen Worthaftigkeit der Offenbarung Gottes und worthaften Konstitution des Glaubens. "Gott ist für uns da allein in seinem glaubenweckenden Worte". Deren "rückhaltlose Durchführung" (ebd.) ist wie von jeder Behandlung irgendeines andern theologischen Lehrstücks so auch von der lehrmäßigen Entfaltung der Christologie zu verlangen. Nimmt man beide Gesichtspunkte zusammen, dann mußte sich für Hirsch geradezu zwangsläufig ein reduktionistisches Verhältnis zur altkirchlichen Lehrbildung ergeben. Theologiegeschichtlich betrachtet setzt Hirsch damit auf seine Weise die von Ritsehl 43 begründete und dann bei den großen Vertretern der Dogmengeschichtsschreibung vor dem Ersten Weltkrieg zum Tragen gekommene konsequente Historisierung der altkirchlichen Lehrentscheidungen44 fort. Worin ist nun Hirschs entschiedene Absage an das altkirchliche Dogma des näheren begründet, worauf zielt sein Plädoyer für einen grundsätzlichen Neubau der Christologie? Hirsch faßt seine Kritik in zwei bezüglich ihres prinzipiellen Gewichtes kaum zu übertreffende Aussagen zusammen: Erstens, "das Dogma hat Jesus die eigene menschliche Person genommen" (JChH 73). Und zweitens, "Das altkirchliche Dogma hat den biblischen Sinn des Sohnesnamens nahezu gänzlich verdunkelt" (JChH 74). Richtet sich die erste Feststellung insbesondere gegen das im Jahre 451 zu Chalcedon formulierte Bekenntnis zum Gottmenschen, so wendet sich die zweite gegen die bereits 381 zu Konstantinopel festgeschriebene Durchbildung der Präexistenzchristologie zur Trinitätslehre. Methodisch betrachtet ist Hirschs Kritik am altkirchlichen Dogma getragen von der mit den Reformatoren geteilten Uberzeugung von der Vor43 44

Zu A. Ritschis Behandlung der al'.kirchlichen Christologie vgl. jetzt M. OHST: Ritsehl als Dogmenhistoriker, 118f. Man denke an HARNACKS Historisierung des Lehrbegriffs überhaupt (LD I, 496796), SEEBERGS Historisierung des Nicaeno-Constantinopolitanums (Dogmengeschichte II, 1-145), HOLLS Historisierung der kappadozischen Trinitätslehre (Amphilochius von Ikonium, 116-235), LOOFS' Historisierung der Christologie (RE 3 IV, 16-56).

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rangstellung der Heiligen Schrift: "höher als die Meinung der Alten, auch wo unsre Kirche sie aufgenommen hat, muß uns das offenkundige Zeugnis der Evangelien stehen" (JChH 73). Welche Folgen hat diese grundsätzliche Maxime nun für die Bewertung jener beiden dogmatischen Lehrentscheidungen? Zunächst Hirschs Stellungnahme zum Chalcedonense. Hier sind zwei Gesichtspunkte, ein allgemeiner und ein besonderer, zu unterscheiden. Was die Beurteilung des Dogmas bezüglich der ihm zugrunde liegenden religionsgeschichtlichen Voraussetzungen betrifft, stellt Hirsch fest: "die alte Lehre vom Gottmenschen gehört mit einer ganz bestimmten Frömmigkeit zusammen, mit der der griechischen Kirche, auf deren Boden sie gestaltet worden ist.... Eine Durchdringung unsrer Natur mit dem unvergänglichen Leben der G o t t n a t u r war ihr das Herz der Gemeinschaft mit Gott[.] ... daß es unsre N a t u r ist, vor Gott verantwortliche Person zu sein, Gottes Natur ist, uns persönlich ins Gewissen treffendes Wort zu sein, das war im Entscheidungspunkte nicht zur Geltung gekommen.... Wir verneinen es ..., daß menschliches und göttliches Leben sich je vereinigen können außer in persönlicher Gemeinschaft" (JChH 47f). Speziell auf den Gehalt des christologischen Dogmas angewandt, besagt dies: "die alte Lehre vom Gottmenschen ... deutete Jesus Christus vom Mysterium der Inkarnation, von der geheimnisvollen Annahme einer an ihr selbst unpersönlichen Menschennatur durch den ewigen Sohn her.... wir verneinen es, daß Gott uns je dinglich gegenwärtig sein könne, und sehen in Jesus Christus ein uns ins Gewissen treffendes Wort" (JChH 48). 45 Aufgrund der kirchlich institutionalisierten Lehrverbindlichkeit dieses Dogmas von Jesus Christus als dem Gottmenschen sind wir - und darin besteht für Hirsch dessen schlechterdings negative Auswirkung auf den Christusglauben - "nicht daran gewöhnt, die wahre Menschheit des Herrn zu sehen" ( J C h H 73). Nach Hirschs Auffassung dessen, was reformatorischer Christusglaube ist und was dementsprechend Christologie zu sein hat, "müssen wir neu aus den Evangelien lernen, die ihn uns als einen wirklichen individuellen Menschen schildern" (ebd.). Das christologische P r o g r a m m einer Überwindung der zu Chalcedon getroffenen Lehrentscheidung kann Hirsch deshalb auch in dem Satz zusammenfassen: "Das Be45

Zu "dinglich gegenwärtig" vgl. etwa die für den Erlösungsbegriff des Athanasius konstitutive Vorstellung der substantiellen Vergottung des Menschen (GCOTIOICTV, θ«οπο[ησι$, θ ί ο π ο ι ε ΐ σ θ α ι ) . Zum platonischen Hintergrund des Vergottungstheorems der athanasianischen Erlösungslehre vgl. U. BARTH: Gott ähnlich werden. Anmerkungen zum Verhältnis von Philosophie und Religion bei Piaton. Die neuerdings von D. RITSCHL vorgetragene Kritik an Harnacks Deutung des Erlösungsgedankens bei Athanasius (Athanasius, 24-39) ist restlos widerlegt worden von R. LORENZ: Der zehnte Osterfestbrief des Athanasius von Alexandria, 78-86.

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kenntnis z u m Kyrios Christos ist leer, wenn wir bei ihm nicht in das bes t i m m t e Angesicht eines Menschen schauen" ( J C h H 9). So zeigt sich, daß Hirschs Einwände gegen das christologische Dogma es nicht bei der grundsätzlichen Berufung auf die reformatorische Schätzung der Schrift bewenden lassen, sondern darüber hinaus auch inhaltliche Einsichten der reformatorischen Theologie zur Geltung bringen wollen, insbesondere die prinzipielle Worthaftigkeit des göttlichen Handelns am Menschen im Gewissen, die worthafte Gegenwärtigkeit Christi nach seiner Menschheit und die menschlich-konkrete Anschaulichkeit des Bildes von Jesus. Das spezifisch neuprotestantische Profil dürfte darin zu erblicken sein, daß Hirsch diese aus Luther herrührenden Motive mit den wichtigsten Ergebnissen der von Harnack klassisch formulierten These von der Hellenisierung des Christentums abzustimmen sucht. 4 6 Es bleibt jedenfalls festzuhalten, daß Hirsch im wesentlichen deshalb Kritik an der zu Chalcedon kirchlich festgesetzten Lehre vom Gottmenschen ü b t , "weil sie dem Evangelium widerspricht, und nicht etwa wegen ihrer angeblichen wissenschaftlichen Unhaltbarkeit" ( J C h H 48). Etwas anders ist Hirschs Stellungnahme z u m Nicaeno-Constantinopol i t a n u m gelagert. Die bereits erwähnte altkirchliche Uminterpretation des biblischen Sinns des Sohnesnamens kritisiert Hirsch in Form einer Gegenüberstellung von neutestamentlichem Zeugnis und kirchlichem Bekenntnis. Den neutestamentlichen Befund faßt Hirsch so zusammen: "Sohn Gottes drückt ... im Evangelium die persönliche Verbundenheit Jesu mit dem Vater aus. Die willige betende Übergabe auf Jesu Seite, das tiefe Wohlgefallen auf des Vaters Seite geben dem Sohnesnamen seinen Inhalt" (JChH 74). Wie vor ihm Ritsehl 4 7 versteht auch Hirsch die bei den Synoptikern ausgesagte Nähe des Sohnes zum Vater nicht als ontologischmetaphysische, sondern als ethische Einheit, nämlich als Gemeinsamkeit der Willensrichtung. Dieselbe Auffassung liegt nach Hirsch auch in den späteren Hauptstationen des Neuen Testaments vor: Sohn Gottes ist für Paulus "Jesus als der von dem gebietenden göttlichen Willen Umfaßte, als der auf die Erde E n t s a n d t e und am Kreuze Sterbende .... Das vierte Evangelium hat dann ... den im Sohnesnamen gesetzten inwendigen Lebensstand Jesu zu verdeutlichen gesucht" (JCH 74).

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Auch H A R N A C K ließ es nicht bei der dogmengeschichtlichen Rekonstruktion bewenden, sondern zog daraus dogmatische Folgen; vgl. vor allem Kap. 1,5 der Wesensschrift: "Das Evangelium und der Gottessohn, oder die Frage der Christologie" (Das Wesen des Christentums, 79-92). Hirschs Nähe zur Harnackschen Hellenisierungsthese wird besonders deutlich aus seinen späteren Äußerungen zur altkirchlichen Lehrbildung; vgl. Lf §§ 35f; ChR I, 112-119; ZWG 273-279. Vgl. A . R I T S C H L : Theologie und Metaphysik, 2 9 . 3 1 .

Der methodische Ansatz

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Angesichts dieses Tatbestandes muß die Ausbildung der altkirchlichen Trinitätslehre als ein Vorgang der Entstellung und Verdunkelung des biblischen Sinnes des Sohnesnamens angesehen werden. 48 Hirschs Kritik gilt dem historisch konsequenten, aus heutiger Sicht aber theologisch fragwürdigen Prozeß der Ausformung der Präexistenzchristologie zur Trinitätsspekulation. Der im Neuen Testament anhebende Gedanke eines Vorausdaseins Jesu Christi oder des Logos darf nicht verwechselt werden mit dem spekulativen Modell eines innertrinitarischen Wesens, dessen Relationen zu den anderen Hypostasen oder Personen vorwiegend ontologisch und kosmologisch durchbestimmt sind - mögen die letzten Motive dazu auch durchaus soteriologischer Art gewesen sein. Im Neuen Testament charakterisiert die Bezeichnung "Sohn" eine durch den Gehorsam des Menschen Jesus geprägte Willensgemeinschaft mit Gott: Dieses Datum darf keine theologische oder metaphysische Hintergrundkonstruktion an den Rand drängen oder gar zum Verschwinden bringen wollen. Hirschs Urteil lautet deshalb: "Die im Dogma vollzogene Umdeutung aller dieser Aussagen [seil, über das Sohnesverhältnis des Menschen Jesus zu seinem himmlischen Vater] auf die göttliche zweite Person der Dreieinigkeit schädigt unsre Erkenntnis des Herrn. So werden wir hier zu dem Ernst und der Einfalt des biblischen Wortes zurückzukehren haben" (ebd.). Auch mit dieser Kritik an der Lehrentscheidung von Nicäa kann sich Hirsch mit den grundlegenden Erkenntnissen der Dogmengeschichtsschreibung seiner Zeit in Ubereinstimmung wissen. Zugleich bringt er damit ein altes Motiv wieder zur Geltung, auf das bereits Schleiermacher 49 in seinen 48

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Hegels Versuch, den ganzen Prozeß der christlichen Lehrbildung von der Entstehung des Versohnungsmythos bis zur Ausformulierung des Trinitätsdogmas und der Zwei-Naturen-Christologie als Resultat der Selbstexplikation des Geistes der Gemeinde aufzufassen, hat Hirsch in seiner späten Religionsphilosophie einer ätzenden Kritik unterzogen (vgl. HchR 310-323). SCHLEIERMACHERS Plädoyer für einer vororigenistische, sabellianische Gestalt der Trinitätslehre (vgl. die 1822 erschienene Schrift: Uber den Gegensatz zwischen der Sabellianischen und der Athanasianischen Vorstellung von der Trinität) resultiert nicht zuletzt daraus, daß er die Übertragung des Sohnesnamens auf die zur Vereinigung mit dem Menschen Jesus bestimmte innere Sonderung der ewigen Gottheit als im Widerspruch zur "Logologie des Johannes" ( C G 2 § 170.2 II, 460) erachtete. Was Schleiermacher unter sabellianischer Trinitätslehre verstand, konnte T h . ZAHN in seiner 1867 erschienen Schrift "Marcellus von Ancyra" weitgehend als Lehre Marcells identifizieren (Zur Weiterführung und Korrektur der Zahnschen Darstellung vgl. die Spezialuntersuchungen von LOOFS, GERICKE, SCHEIDWEILER, TETZ sowie die zusammenfassende Würdigung bei GRILLMEIER). In programmatischer Hinsicht aufschlußreich ist, daß HARNACK dem ersten Band seiner Dogmengeschichte ein Fragment Marcells vorangestellt hat (vgl. L D I, 2): Marceil ist hinter die gemeinsame origenistische Basis des Arianismus und der Orthodoxie zurückgegangen, um den "Irrweg der gültigen Theologie in ihrer Verflechtung mit der Philosophie" ( L D II, 242 Anm. 1) zu unterlaufen. - So führt eine problem-

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Die frühe Christologie

Überlegungen zur Neugestaltung der Trinitätslehre aufmerksam geworden war.

b) Die Ρaradoxchristologie und die Korrelation W o r t / G l a u b e Wenden wir uns nun der zweiten, sich auf Kierkegaard beziehenden Position zu. Hirsch setzt sich in diesem Zusammenhang auffallend kritisch mit Kierkegaard auseinander. Die hier vorgetragenen Gesichtspunkte haben dann in den späteren "Kierkegaard-Studien" eine wesentlich detailliertere Behandlung erfahren - mit dem Ergebnis, daß einige Einwände modifiziert, andere hingegen völlig preisgegeben wurden. Inwieweit jene f r ü h e Auseinandersetzung mit Kierkegaard Hirschs christologischen Ansatz materialiter betrifft, wird unten zu klären sein. Wichtiger ist an dieser Stelle, daß Hirsch mit seinen Anmerkungen zu Kierkegaard in erster Linie Stellung nehmen wollte zu "einem unsre Zeit bewegenden Gegensatze" (JChH 49), nämlich zur Kierkegaard-Rezeption der frühen "Dialektischen Theologie", genauer gesagt: zur Auseinandersetzung zwischen Barth und Gogarten auf der einen, Tillich auf der andern Seite. 5 0 Hirsch bemerkt dazu: "Manche sehen es heute als ein Zeichen theologischen Ernstes an, den das Wort umfassenden Glauben zu verstehen als eine unbegründbare, der Rechtfertigung sich entziehende Unterwerfung unter die Autorität Gottes. Das Wort Gottes, das ihm Gegenstand und Inhalt ist, wird als das Paradox schlechthin empfunden, das von keiner Seite uns zieht oder sich uns erschließt, vielmehr uns abstößt" (ebd.). Hirsch weist demgegenüber darauf hin, daß die Interpretation des Verhältnisses von Glaube und Wort Gottes im Sinne eines unvermittelten Geworfenseins auf das schlechthinnige Paradox der Intention der reformatorischen Rechtfertigungslehre eindeutig zuwiderläuft. Von ihr her ist deshalb auch seine Kritik motiviert. In strenger Orientierung an der Konstitutionsfunktion des Wortes Gottes hebt Hirsch hervor, daß der Glaube "im Worte gegründet, vom Worte erzeugt, aus dem Worte sinnerfüllt" (JChH 50) ist. Im Horizont dieses schlechthinnigen Konstituiertseins durch das Wort m u ß auch die Inhaltsund Gegenstandsbezogenheit des Glaubens gedacht werden. "Der Glaube entzündet sich an dem sich in unser Herz hineinschenkenden Inhalte; er entspringt aus dem, das er umfaßt" (ebd.). Mit der Korrelation von Wort

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geschichtliche Linie von Schleiermachers Revision der Trinitätslehre zu Harnacks Hellenisierungsthese. Zum Streit um die Bedeutung des Paradox-Begriffs im Jahre 1923/24 vgl. die Beiträge von Barth, Gogarten und Tillich bei J. MOLTMANN (Hrsg.): Anfänge der dialektischen Theologie I, 165-197.

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und Glaube ist nicht nur das eigene passive Konstituiertsein anerkannt, sondern zugleich auch das Wort als dessen konstituierender Ursprung eingesehen. Die Wechselbestimmtheit zwischen der Konstitutionsfunktion des Wortes und der Inhaltsbezogenheit des Glaubens läßt sich demnach beschreiben als die Erschlossenheit des erzeugenden Grundes für das von ihm Erzeugte. Hinsichtlich der Erkenntnisfähigkeit des Rechtfertigungsglaubens gelangt Hirsch deshalb zu folgendem Urteil: "Der göttliche Inhalt kann ihm ..., so wunderbar er ist, nie als das schlechthin und nur Paradoxe erscheinen". Denn andernfalls wäre der Glaube, "da er j a nichts hätte daran zu werden und sich zu entzünden, unser höchsteigenes Erzeugnis, und noch dazu ein rein willkürliches" (ebd.). Für Hirsch ist daher die Forderung nach Unterwerfung unter eine schlechthin paradoxe Autorität nichts anderes als "der Anfang der Werkgerechtigkeit" ( J C h H 51). Dieses Defizit des Paradoxglaubens gegenüber der reformatorischen Korrelation von Wort und Glaube sieht Hirsch bereits in Kierkegaards "Unwissenschaftlicher Nachschrift" angelegt, systematisch zum Zuge gelangt aber dann vor allem bei dessen theologischen Schülern nach dem Ersten Weltkrieg. Bei Kierkegaard selbst wird Hirschs Meinung zufolge der Paradoxbegriff in gewisser Weise theologisch korrigiert und neutralisiert durch die Art seiner Verwendung in der Christologie, insbesondere durch die Merkmale des darin gezeichneten Christusbildes. 5 1 Genau dies entfällt jedoch bei den Zeitgenossen: "Erst den deutschen Nachrednern Kierkegaards blieb es vorbehalten, folgerichtig zu sein und das unbedingte Paradox des Glaubens zu retten, indem sie dem Bilde des Gekreuzigten jede gewissenerschütternde und glaubenweckende Hoheit absprachen" ( J C h H 52). Aus diesem kritischen Umgang Hirschs mit Kierkegaard und einem Teil seiner Wirkungsgeschichte ergibt sich für die Ausarbeitung des eigenen christologischen Entwurfes, daß es darauf ankommt, die in der Tat vorhandenen und substantiell unverzichtbaren Paradoxien des reformatorischen Christusglaubens gedanklich so zu strukturieren, daß sie weder um ihren Stellenwert gebracht werden noch in den theologisch fragwürdigen Begriff des schlechthinnigen Paradoxes einmünden. Es wird der Begriff der Antinomie sein, dessen sich Hirsch zur Bewältigung dieser Problematik bedient. Uberblicken wir Hirschs Kritik an den christologischen Lehrentscheidungen des altkirchlichen Dogmas einerseits und an den theologischen Entwürfen in der Nachfolge Kierkegaards andererseits, so dominiert als programmatischer Leitgesichtspunkt die Intention, reformatorische Theologie in möglichst authentischer Weise zur Geltung zu bringen. Dieser 51

Vgl. dazu jetzt H. FISCHER: Die Christologie des Paradoxes.

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Eindruck verstärkt sich, wenn wir uns Hirschs kritischer Behandlung der durch Schleiermacher bestimmten dogmatischen Denkform zuwenden. c) Die Tradition Schleiermachers und die Erfahrungstheologie Hirschs Kritik an der von Schleiermacher begründeten christologischen Lehrtradition ist bestimmt durch die Frage nach der Struktur theologischer Reflexion überhaupt. Für "nicht brauchbar" hält Hirsch "ein Verfahren, welches an Schleiermacher sich anschließend im frommen Bewußtsein des Christen den eigentlichen Gegenstand theologischen Erkennens sieht" (JChH 43). Dieses Modell theologischer Reflexion sieht Hirsch durch folgendes Dilemma gekennzeichnet: "Entweder, es verführt auch den Glauben dazu, den geraden Blick auf Gott und sein Handeln aufzugeben ... Dann haben wir die mit sich selbst beschäftigte Frömmigkeit des Menschen ... Oder aber, der Glaube bleibt recht und richtet sich auf Gott ... Dann tritt die Bewegung des theologischen Erkennens aus der Einheit mit der Bewegung des Glaubens heraus und verkrümmt sich ganz auf ihre eigene Rechnung in die Vorgänge in unserm Innern und das in ihnen mit Gesetzte" (JChH 43). Im ersten Fall wird die Bewußtseinsstruktur des Glaubens nach Analogie des auf ihn gerichteten theologischen Reflexionsaktes aufgefaßt und damit auf ein kognitives Selbstverhältnis reduziert, dem nurmehr indirekt eine Beziehung auf bewußtseinsexterne Sachverhalte zukommt. "Ein unmittelbar religiöses Erkennen Gottes gibt es nicht, vielmehr nur eine nachträgliche und im Grunde entbehrliche Ausdeutung unsrer frommen Gefühlszustände auf Gott" (ICh 104). Die Folge davon ist der Verlust der unmittelbaren Wahrheitsbezogenheit des Glaubens: "an die Stelle des wesenhaften Verhältnisses zur Wahrheit ... tritt eins in der Nachträglichkeit der Reflexion" (ebd.). Im zweiten Fall ergibt sich ein Auseinanderfallen der intentional strukturierten Glaubensakte einerseits und der reflexiv strukturierten theologischen Denkakte andererseits, was sowohl die Suspendierung des Gültigkeitsaspektes des theologischen Denkens wie die intellektuelle Immunisierung des Glaubens zur Folge hat. "Das theologische Denken kommt ja auf jeden Fall hinterher, wenn alles Entscheidende schon passiert ist. Der Glaube ist schon da, wo es anfängt.... Dafür, daß es mit den Gewißheiten des Glaubens seine Richtigkeit hat, trägt die Verantwortung der Glaube. Umgekehrt, die Entscheidung des Glaubens kommt unter Dach und Fach, ehe das Denken dazwischen fahren und peinliche Fragen stellen kann" (JChH 44). Das Ergebnis ist die Ausklammerung der Wahrheitswertigkeit theologischer Aussagen: "die Scheidung zwischen der Bewegung des

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Glaubens und der des theologischen Erkennens läßt die Wahrheitsfrage in der Theologie nicht zu ihrem Rechte kommen" (ebd.). Hier wie dort steht also die Wahrheitsfähigkeit auf dem Spiel, im ersten Fall die des Glaubens, im zweiten die der Dogmatik. Hirsch faßt seine Kritik an jenem Modell theologischer Reflexion deshalb folgendermaßen zusammen: "Man wird aller von Schleiermacher mit bestimmten Theologie den Vorwurf nicht ersparen können, daß sie der Wahrheitsfrage klar ins Auge zu sehen nicht gewagt habe" (JChH 44). Schleiermachers Theologie selbst bescheinigt Hirsch einen "fast nihilistischen Agnostizismus" (ICh 110).

Nun wird m a n kaum bestreiten können, daß die Ausschaltung des Wahrheitsbegriffs sowohl bezüglich der Ebene der dogmatischen Reflexion als auch im Hinblick auf das Wesen der Frömmigkeit zu den markanten Eigenschaften der Theologie Schleiermachers gehört. 5 2 Schleiermacher sah sich aus mehreren Gründen - auf die einzugehen den vorliegenden Zusammenhang überfrachten würde - außerstande, der individuellen oder kirchlichen Geltung der christlichen Lehre den formalen Status wahrer Aussagen zuteil werden zu lassen, zumindest im Sinne eines gedanklich streng gefaßten Begriffs von Wahrheit. Hirschs Kritik an Schleiermachers Vergleichgültigung des theologischen Aspektes des Wahrheitsbegriffs oder gar dessen Verdrängung aus dem Bereich der Dogmatik überhaupt trifft insofern eine bei Schleiermacher tatsächlich bestehende Sachlage, deren Problematik man - in Übereinstimmung mit Hirsch - kaum anders denn als gravierend wird einstufen können. Aber trotz dieses berechtigten Einwandes gegen Schleiermachers Verabschiedung des Wahrheitsbegriffs aus der Dogmatik ist Hirschs Kritik an dem Schleiermacherschen Typus theologischer Theoriebildung nicht so eindeutig, wie es auf den ersten Blick den Anschein haben mag, jedenfalls dann nicht, wenn m a n sie in derjenigen Grundsätzlichkeit und Allgemeinheit n i m m t , in der sie Hirsch verstanden wissen will. F ü r ihn "macht es nichts aus, ob m a n Schleiermacher im einzelnen verbessert und an die Stelle des frommen Bewußtseins etwa die Erfahrung der Wiedergeburt oder das Leben des Glaubens setzt" (JChH 43). Seine Vorbehalte gegen solche Modelle dogmatischer Reflexion, die im frommen Bewußtsein den eigentlichen Gegenstand theologischen Erkennens erblicken, richten sich über Schleiermacher hinaus gegen prinzipiell jede Form von "Erfahrungstheologie" (ebd.). Diese Kritik wird nun aber dadurch merkwürdig konterkariert, daß Hirsch selbst sich bei der Durchführung seiner Christologie in auffälliger 52

Vgl. dazu jetzt U. BARTH: Gott - Die Wahrheit? Problemgeschichtliche und systematische Anmerkungen zum Verhältnis Hirsch/Schleiermacher.

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Weise der Kategorie der Erfahrung bedient. Zunächst referiert er rein historisch die "Erfahrung, in der Gott den ersten Glauben an Jesus als den Herrn und Christus geschaffen hat" ( J C h H 41). Sodann analysiert er die Struktur christlicher "Erfahrung von G o t t " ( J C h H 55). Ferner beschreibt er, in welchen besonderen "Erfahrungen der Glaube seine Beugung unter Jesus als den Christus, als das Wort Gottes, gerechtfertigt weiß" ( J C h H 54). Und schließlich hebt er hervor, daß "unsre eigene Stellung zu Jesus sich daran entscheidet, ob uns die gleiche Erfahrung gegeben werde" ( J C h H 41). Hirsch wendet sich also einerseits gegen jede Form erfahrungstheologischer Theoriebildung im Sinne Schleiermachers und betreibt andererseits selbst in geradezu programmatischer Weise nichts anderes als Erfahrungstheologie. Hirschs Auseinandersetzung mit Schleiermacher samt allen ihm maßgeblich verpflichteten Gestalten dogmatischer Theologie wird m a n infolgedessen nicht als eine generelle Absage an jedwede Form von Erfahrungstheologie auffassen dürfen, sondern eher als Streit u m deren sachlich legitime Gestalt. So gesehen m u ß Hirschs Absage an Schleiermacher als Plädoyer für ein alternatives Modell von Erfahrungstheologie verstanden werden. Zwei Kriterien für eine solche Neufassung von Erfahrungstheologie sind Hirschs Kritik an Schleiermacher zu entnehmen. Nur wenn beide erfüllt sind, ist der Rekurs der Dogmatik auf religiöse Erfahrung theologisch legitim. Das erste Kriterium betrifft die Intentionalitätsstruktur des Glaubens. Der Glaube ist nur dann "recht" ( J C h H 43), wenn er "gerade[r] Glaube" ( J C h H 44) ist; er "richtet sich auf Gott" nur dann, wenn er einen "geraden Blick auf Gott" (JChH 43) aufweist. Der Glaube ist immer in intentione recta, niemals in intentione obliqua auf Gott bezogen. Religiöse Erfahrung als Erfahrung des Glaubens kann nur so Eingang finden in die theologische Theoriebildung, daß die intentio recta des Glaubens gewahrt bleibt. Damit ist nicht ausgeschlossen, daß die in der Frömmigkeitserfahrung enthaltene Selbsterfahrung religiöser Subjektivität von der theologischen Reflexion mit umfaßt würde, wohl aber dies, daß der Glaube aufgrund solchen Begleitetseins von Selbstverhältnismomenten seine Inhalte allein mit obliquem Blick wahrzunehmen in der Lage sei. Das zweite Kriterium betrifft die Konformität zwischen der Bewußtseinsstruktur des Glaubens und der des theologischen Denkens. Die "Bewegung des theologischen Erkennens" muß in "Einheit mit der Bewegung des Glaubens" ( J C h H 43) erfolgen. Unbeschadet aller in das theologische Denken eingehenden Reflexionstätigkeit bemißt sich die Sachgemäßheit theologischen Erkennens an derjenigen Art von Inhaltsbezogenheit, die für die intentio recta des Glaubens konstitutiv ist. Die religiöse Erfahrung gelebten Glaubens kann nur so in das theologische Bewußtsein Eingang finden, daß trotz der reflexiven Einholung dieser Erfahrung durch

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die denkende Besinnung die dem Glauben eigene direkte Bezugnahme auf bewußtseinsexterne Sachverhalte gewahrt bleibt. Das in dem erstgenannten Kriterium enthaltene Problem kann mithin folgendermaßen formuliert werden: Läßt sich der Begriff des Glaubens so explizieren, daß die Subjektivität religiöser Erfahrung und die unmittelbare Inhaltsbezogenheit des Glaubens einander nicht ausschließen? Und das in dem zweitgenannten Kriterium enthaltene Problem kann dahingehend zusammengefaßt werden: Wie muß die Struktur theologischen Erkennens gedacht werden, wenn die Selbstbezüglichkeit der Reflexionsakte dieses Erkennens und die Gegenständlichkeit der erkannten Glaubensinhalte einander nicht ausschließen sollen? Nimmt m a n die in beiden Kriterien enthaltene Problematik zusammen, so erweist sich Hirschs Auseinandersetzung mit dem durch Schleiermacher geprägten Modell theologischer Reflexion als Anzeige derjenigen Grundfragen, die sich einem jeden theologischen Programm stellen, das den Anspruch erhebt, von Gott unter den Bedingungen religiöser Erfahrung zu reden. Es ist Hirschs feste Überzeugung, daß die von Luther hervorgebrachte Gestalt reformatorischer Theologie im Unterschied zu der durch Schleiermacher bestimmten Tradition eine wirklich befriedigende Antwort auf das gerade exponierte Problem gefunden habe. Ausgangspunkt reformatorischer Theologie ist nach Hirsch die Gewißheit, "daß Gott mit uns handle durch sein Wort" (ICh 105). In der Mitteilung des Wortes vollzieht sich Gottes Selbstoffenbarung, nämlich "das Aufschließen von Gottes persönlichem Leben für unser persönliches Leben" (ebd.). Darin liegt zunächst: "Das Wort ist Träger des Gedankens. Wenn es das Herz heiß aufwallen läßt oder zu stürmischer Bewegung hinreißt, so ist es der in ihm beschlossene klare Inhalt, der diese Wirkungen vermittelt". Der Gehalt des Wortes hat "jene Unerschöpflichkeit und Unvollendbarkeit an sich, die unserm Erkennen Gottes die Art der Wahrnehmung und die unendliche Bewegtheit gibt" (ebd.). Die dem Wort Gottes auf Seiten des Menschen korrespondierende kognitive Grundtätigkeit ist demnach die der Wahrnehmung, die darin enthaltene epistemische Einstellung die der direkten Inhaltsbezogenheit. Aber das Vernehmen des Wortes geht keineswegs auf in solchen Akten gegenstandsunmittelbarer Rezeptivität. Als wesentliches Moment tritt vielmehr das "Innewerden des Sinns" (ICh 105) der worthaften Selbsterschließung Gottes hinzu. Worin ist dieses über die pure Wahrnehmung hinausgehende Moment des Innewerdens nun begründet? Hirschs Antwort setzt wiederum ein bei der Worthaftigkeit des Handelns Gottes: "Zu dem göttlichen Handeln, auf das der gerade Glaube geht, gehört ... auch, daß Gott den Glauben in uns schafft" ( J C h H 44). Daß das Wort Gottes vom Glauben angeeignet wird, ist sonach ein Implikat des Glaubens

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an dieses Wort selbst. Für die Korrelation Wort/Glaube folgt daraus: "Nur dann", wenn Gottes Offenbarsein in seinem Wort nicht bloß wahrgenommen, sondern auch verstanden wird, "ist er uns wirklich offenbar geworden" (JChH 42; Hhg.v.Vf.)· Daß Gott nach seinem Offenbarsein verstanden wird, heißt nun aber nichts anderes, als daß "wir Gottes Willen und Handeln an uns in eignen Gedanken erfassen und auszusprechen vermögen" (ebd.). Daß der Glaube an das Wort Gottes das Innewerden seines Sinnes impliziert, besagt somit, daß der Glaube - seiner kognitiven Struktur nach betrachtet sich nicht in einem Wahrnehmungsakt erschöpft, sondern darüber hinaus auch einen Reflexionsakt einschließt. Damit hat zugleich auch die theologische Reflexion ihre innere Begründung empfangen. Weil Gott in seiner Selbstmitteilung "lebendige Gemeinschaft begehrt, in der sein Wort unser eigener innerer Besitz wird, darum gibts über die Wahrnehmung hinaus noch theologisches Erkennen" (JChH 42). Die gerade skizzierte Verschränkung von Wahrnehmen und Innewerden, Glauben und Verstehen, hat Hirsch als eine der wesentlichen Errungenschaften des Lutherschen Begriffs der fides apprehensiva erachtet. "Gegenüber dem Worte, in dem Gott an uns handelt, gibt es nur eine mögliche Haltung: den empfangenden, aneignenden Glauben" ( J C h H 41 ). 5 3 Die Struktur der Aneignung schließt nun aber notwendig das Selbstverhältnis der aneignenden Instanz ein. Wenn der Glaube sich mithin nur so auf das Wort zu beziehen vermag, daß er als aneignender zugleich das Selbstverhältnis der aneignenden Instanz umgreift, dann kann er als ganzer weder ein reines von sich Wegsehen noch ein reines in sich Zurückgehen sein. Er zeichnet sich vielmehr dadurch aus, daß er "die ganze Hinwendung auf Gott und die Klarheit über sich selbst zu verbinden strebt" ( J C h H 42). Sofern der Glaube durch sein korrelatives Verhältnis zum Wort Gottes konstituiert wird, ist er reine Bezogenheit auf das Wort. Sofern der Glaube an das Wort Gottes die Aneignung dieses Wortes einschließt, enthält er ein artikuliertes Selbstverhältnis der aneignenden Instanz. Bewußtseinstheoretisch formuliert besagt dies: im Begriff der fides apprehensiva sind die intentio recta des Gottesbewußtseins und die intentio obliqua des Selbstbewußtseins so aufeinander bezogen, daß weder die Intentionalität des Gottesbewußtseins die Reflexivität des Selbstbewußtseins, noch die Reflexivität des Selbstbewußtseins die Intentionalität des Gottesbewußtseins aufhebt. 53

Hirsch hat den ursprünglich von Luther rezipierten Begriff der Aneignung später im Sinne der Wahrheitstheorie Kierkegaards erweitert (vgl. K S t II, 172-177) und schließlich im Rahmen seiner Neuzeittheorie für die Zuordnung von christlichem und humanem Bewußtsein fruchtbar gemacht (vgl. dazu unten K a p . IV Einleitung und K a p . V Einleitung).

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Der Begriff der fides apprehensiva kann über diese bloße Kompatibilität von Intentionalität und Reflexivität hinaus außerdem deutlich machen, inwiefern die Reflexivität des Selbstbewußtseins ein Implikat der Intentionalität des Gottesbewußtseins darstellt. Weil es zur Intentionalität des Glaubens gehört, auf einen solchen Gegenstand gerichtet zu sein, der seinem Wesen nach darauf zielt, in der Innerlichkeit angeeignet zu werden, eben d a r u m weist die aneignende Instanz, der Glaube, notwendig das Strukturmoment der Selbstbezüglichkeit auf. Umgekehrt formuliert: das Selbstverhältnis des Glaubens ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß dessen Bezogenheit auf das Wort den Charakter der Aneignung erfüllt. 5 4 Die Aneignung des Wortes ist somit ein solches Wissen von sich in seinem Sein vor Gott, das selber noch einmal als von Gott kommend gewußt wird. Die h u m a n e Vorform dieser Verschränkung von Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis ist das Gewissen. Damit ist der erste programmatische Aspekt eines über die Aporien Schleiermachers hinausgehenden Modells von Erfahrungstheologie skizziert. Erfahrungstheologie ist für Hirsch nur dann theologisch legitim, wenn sie diejenige Art von religiöser Erfahrung auf den Begriff bringt, für deren formale Struktur die reformatorische Gewissenserfahrung einsteht. 5 5 Was folgt aus dieser Bestimmung des Glaubens für die Struktur der theologischen Reflexion? Wir haben gesehen, daß der Aneignungscharakter des Glaubens die ursächliche Bedingung für die Reflexivität des Glaubens darstellt. Der Glaube bedarf sonach nicht erst der nachgängigen Thematisierung durch das theologische Denken, u m sich selbst reflexiv einzuholen, er ist vielmehr bereits an ihm selber durch Reflexivität gekennzeichnet. Die theologische Reflexion mit ihren Akten gedanklicher Besinnung hebt den Glauben darum auch nicht auf eine prinzipiell neue Reflexionsstufe, die diesem fremd wäre, sie knüpft vielmehr an diejenigen Akte der Besinnung an, die der Glaube als solcher immer schon mitbringt. "Das wissenschaftlich-theologische Denken ... erfindet nicht eine neue Denkbewegung; es reinigt und vollendet nur die in jedem, der da glaubt, schon gesetzte" (JChH 42). Die Theologie wiederholt auf eine planmäßig und kunstmäßig betriebene, d.h. methodische Weise, was die Selbstbesinnung des Glaubens auf ihre Art begonnen hat. 5 6 Aneignender 54 55

56

Das dem Glauben innewohnende Moment der Selbstbezüglichkeit hat Hirsch im Anschluß an Pichte als "Innerlichkeit" expliziert (vgl. dazu unten Kap. III.B.l). Daß zwischen Glaube und Gewissen eine ebenso notwendige wie spannungsreiche Beziehung besteht, ist Hirsch erst aufgegangen, als er sich über Luthers Dialektik von Gesetz und Evangelium klar wurde (vgl. dazu unten Kap. V.A.3/B.3.a). Diese Zuordnung von Glaubensinnerlichkeit und theologischer Reflexion liegt auch der Christologie des "Leitfadens" zugrunde (vgl. dazu unten Kap. V.B.4).

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Glaube und theologisches Erkennen stehen somit in einem inneren Zusammenhang: "Das diesem Glauben innewohnende Erkennen ist das einzige theologische Erkennen, das es gibt; und umgekehrt, Glaube ist nie ohne ein ihm innewohnendes Erkennen" (JChH 41f). Ein ähnliches Verhältnis liegt auch bezüglich des anderen kognitiven Momentes des Glaubens vor. Wir h a t t e n gesehen, daß die dem Glauben eigentümliche Hinwendung zu Gott den Charakter des Wahrnehmens h a t . Dieses rezeptive Bezogensein auf das Wort trifft nun auch für das theologische Erkennen zu. Alles theologische Erkennen gründet seinem letzten Ursprung nach in der worthaften Selbsterschließung Gottes. Dieses "absolut Qualitative der Offenbarung ... kann höchstens beschrieben werden" (SchS 109). Für die methodische Struktur theologischer Aussagezusammenhänge folgt daraus, daß "die Beobachtung der Grundakt im theologischen Erkennen ist" (SchS 128 Anm. 5). 67 Aus beiden gerade ausgeführten P u n k t e n wird deutlich, daß Theologie und Glaube für Hirsch strikt analog verfaßt sind. Aneignender Glaube und theologisches Erkennen stellen gleichermaßen Formen der Verschränkung von Wahrnehmung und Reflexion dar. Genau dies hat Hirsch dazu veranlaßt, der Schleiermacherschen Zweistufigkeit von subjektivitätstheoretisch-funktionaler Rekonstruktion und lebensweltlich-faktizitärer Unmittelbarkeit 5 8 samt dem zwischen beiden bestehenden prinzipiellen Reflexivitätsgefälle eine Absage zu erteilen. Aneignender Glaube und theologisches Erkennen verhalten sich weder wie Unmittelbarkeit zu Reflexion noch wie Faktizität zu Konstruktion. Hirschs Antwort auf die eingangs gestellte Frage, ob eine Konformität zwischen Theologie und Glaube bezüglich der kognitiven Struktur beider gedacht werden könne, fällt somit positiv aus. "Die Bewegung des theologischen Erkennens, die wir zu vollziehen haben, ist ...mit der des persönlich aneignenden Glaubens einerlei" ( J C h H 42). Aneignender Glaube und theologisches Erkennen kongruieren sowohl in der wahrnehmenden Bezugnahme auf das absolut Qualitative der Offenbarung als auch im reflexiven Durchdringen des Wahrgenommenen. Wie der Glaube, so vollzieht sich auch "das theologische Erkennen in der unlöslichen Einheit von empfänglichem Aussichherausgehen und sich besinnendem Insicheinkehren" (ebd.). Die Christologie zerfällt also methodisch betrachtet in zwei Schritte. Der erste legt die "uns gegebene Wahrnehmung" ( J C h H 9-41) dar, der 57

Hirsch weiß sich hierin einig mit der theologischen Methodenlehre A. Schlatters (vgl. SchS 128 Anm. 5); vgl. A. SCHLATTER: Das christliche Dogma, 95-99.106-

58

Zu Schleiermachers funktionaler Methode der Dogmatik vgl. U. BARTH: Christen-

111.115-117.

t u m u n d S e l b s t b e w u ß t s e i n 105-118.

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zweite entfaltet die "uns aufgegebene Erkenntnis" (JChH 54-92). Christologische Erkenntnis baut sich auf in der Zweistämmigkeit von Wahrnehmung und Reflexion. Die Wahrnehmung liefert das Material für die gedankliche Reflexion, die Reflexion durchdringt das in der Wahrnehmung gegebene historische Bild. Man könnte im Hinblick auf Hirschs christologische Methode sonach von einer Zweiquellentheorie christologischer Erkenntnis sprechen. 59 Welche hermeneutischen und wissenschaftstheoretischen Probleme mit der Fundierung der Christologie in der historischen Wahrnehmung verbunden sind, wird T h e m a von Kap. II sein.

2. J e s u W o r t u n d seine A n e i g n u n g durch das G e w i s s e n

Gemäß dem soeben entfalteten methodischen Ansatz Hirschs, alle christologische Reflexion in rezeptiver Wahrnehmung gründen zu lassen, kann die Verkündigung Jesu nur so zum Gegenstand der Christologie werden, daß zunächst ihr genauer historischer Gehalt ermittelt wird. Hirsch tut dies im ersten Abschnitt des ersten Teils seines Buches (JChH 11-26). Wir verfahren in unserer Darstellung dieses Abschnitts so, daß wir von spezifisch exegetischen Fragen ebenso absehen wie von allgemeinen geschichtsmethodologischen Überlegungen. Erstere werden deshalb ausgeklammert, weil sie den Rahmen einer systematisch-problemgeschichtlichen Interpretation überschreiten, letztere hingegen sollen eigens Gegenstand des nachfolgenden Kapitels sein. Hirschs historische Rekonstruktion der Verkündigung Jesu ist durch folgende religionsgeschichtliche Maxime bestimmt: "Jesu Wort trägt wie alles, was in der Geschichte wirksam geworden ist, die Spur des Bodens, darauf es gewachsen ist" (JChH 11). Inhaltlich besagt dies, daß die Predigt Jesu nur vor dem historischen Hintergrund des Frühjudentums verstanden werden kann. "Rabbinische Gelehrsamkeit hat er freilich nicht. Aber die Frömmigkeit und Sittlichkeit der Laien, die sich zu den pharisäischen Rabbinen hielten, hat ihn von Kind an umfangen und sein Bewußtsein entscheidend gestaltet" (ebd.). Für Hirsch ist Jesus in religiöser Hinsicht maßgeblich durch den Pharisäismus geprägt worden. "Vieles von dem, was uns heute an Jesu Verkündigung groß erscheint, ist insofern Erbgut, - so das Kennen Gottes als des majestätischen Schöpfers und heilig 59

Sie weist eine gewisse Strukturanalogie zu Kants bewußtseinstheoretischer Zweiquellentheorie auf, an der auch Hirschs Erkenntnistheorie orientiert ist (vgl. dazu unten Kap. IV.A.3/B.1).

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strengen Willens, so der Individualismus, der dem einzelnen ein persönliches Verhältnis zu Gotte als Pflicht auferlegt, so die Einheit von Religion und Sittlichkeit, welche die Gerechtigkeit zum tiefsten frommen Anliegen macht. All das ist dem christlichen Glauben unveräußerlich; aber es ist das, was er mit dem Pharisäismus gemeinsam hat" ( J C h H 12). Nur auf der Basis dieser grundlegenden Übereinstimmungen mit dem Pharisäismus kann die Besonderheit des Wortes Jesu bestimmt werden. Sie zeigt sich vor allem in der eigentümlichen Fassung zweier Grundbegriffe, deren innere Zusammengehörigkeit Jesus der Predigt Johannes des Täufers entnehmen konnte. Es handelt sich zum einen u m den Begriff der Buße, zum anderen u m den des nahenden Gottesreiches. So ist die Besonderheit der Verkündigung Jesu gegenüber der pharisäischen Lehre und Frömmigkeit in Form einer Charakteristik des spezifischen Büß- und Reich-Gottes-Verständnisses Jesu zur Darstellung zu bringen.

a) Die Bußforderung und die Reich-Gottes-Verkündigung Jesu Jesu Bußwort steht ebensowohl in Kontinuität mit dem Alten Testament, wie es darüber hinausweist. "An sich ist Norm der Buße für ihn natürlich wie für jeden Israeliten der in Gesetz und Propheten offenbare Gotteswille. Aber er wagt es, diesen Gotteswillen zu deuten in einer geschlossenen Aussage, die ihn erst wirklich zu einem Ganzen macht" ( J C h H 14). Diese letzte Norm allen bußfertigen Verhaltens ist für Jesus das Doppelgebot der Liebe. In ihm ist der Wille Gottes als Forderung an den Menschen nach seiner Einheit und Unbedingtheit zugleich auf den Begriff gebracht. Das Gebot der Nächstenliebe fordert verzeihende G ü t e und selbstloses Dienen im Leben miteinander. Das Gebot der Gottesliebe verlangt vorbehaltlose Hingabe an den Willen Gottes und innere Freiheit von allem, was einem solchen Leben aus Gott widerstreiten könnte. Das Entscheidende jedoch ist, daß Nächstenhebe und Gotteshebe bezüglich der in beiden enthaltenen Abkehr von Ichbezogenheit und natürlichem Selbsterhaltungsstreben ganz und gar innerlich zusammengehören. Von diesem ebenso einfachen wie umfassenden Verständnis des Doppelgebotes her deutet Jesus dann auch Gesetz und Propheten, die sich in solcher Perspektive als von hoher Geschlossenheit und Klarheit herausstellen. "Kein Mensch hat vorher das in ihnen gelesen; auch wo m a n von Gottes- und Nächstenliebe sprach, verstand man sie nicht so, und nicht als das Ganze" ( J C h H 15). Diese ganzheitliche Deutung des Gotteswillens bringt Jesu Bußverständnis nach Hirsch in einen zweifachen Gegensatz zum Pharisäismus.

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Hier ist zunächst zu denken an das völlig veränderte Verhältnis zwischen der durch den göttlichen Willen auferlegten Norm und der Befähigung sie zu befolgen: "Jesus hat Gottes höchste Forderung und Gottes höchste Gabe mit dem gleichen Worte sagen können: Kinder sein oder heißen des Vaters im Himmel" ( J C h H 16). Durch das ebenso gebotene wie geschenkte Kindschaftsverhältnis zu Gott wird die Unbedingtheit der Buße keineswegs relativiert, denn "die Unmittelbarkeit dieses Verhältnisses zerstört nicht den Gehorsam und den Dienst, wohl aber das Knechtsverhältnis des Menschen zu Gott" (ebd.). Damit erhält Jesu Bußpredigt unmittelbar eine polemische Spitze. Denn mit der Forderung eines Kindschaftsverhältnisses zu Gott als der wahren Gestalt des Gehorsams gegenüber dem göttlichen Willen "macht Jesus offenbar, daß die pharisäische Rechtsethik eine Willensgetrenntheit zwischen Gott und Mensch voraussetzt, wie sie dem Leben in der Kindesgemeinschaft mit dem Vater widerspricht" (ebd.). Wenn die Gotteskindschaft als höchste Forderung zugleich höchste Gabe ist, dann kann es darüber hinaus, daß "Gottes Leben ganz zum persönlichen Leben geworden ist" (JChH 17), kein höheres Gut mehr geben. D a r u m erfüllt sich in der Gotteskindschaft die "Einigung des vollkommenen Gehorsams mit vollkommener Freude" (JChH 16). Nach Jesu Auffassung zielt der Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes auf keinen höheren Wert als auf das Geschenk dieses Gehorsams selber. Jesus tilgt deshalb alle irdischen Vorstellungen von einer Belohnung des Gehorsams aus seinem Verständnis von Buße. "Er kennt keinen Lohn, der dem natürlichen Menschen, welcher Gott und das G u t e nicht von ganzem reinem Herzen Hebt, irgendwie begehrenswert erscheinen könnte; und er kennt keinen Dienst, der nicht unverdientes Geschenk wäre. Ganz und fröhlich unter Gottes Herrschaft stehen, das ist ihm Dienst und Lohn in einem" (ebd.). Nimmt m a n beide Aspekte von Jesu Verständnis der Buße als geforderter und geschenkter Gotteskindschaft zusammen, die Ablehnung jedes auf Heteronomiebewußtsein gegründeten Knechtsgehorsams und die Reinigung der Gehorsamsmotivation von allen irdisch geprägten Lohnerwartungen, dann ergibt sich ein scharfer Gegensatz zwischen der Bußpredigt Jesu u n d den Normvorstellungen und Gehorsamsidealen seiner Umwelt. "Jesus zerbricht den Gedanken der Leistung und des Verdienstes, die der pharisäischen Ethik zugrunde liegen, auf denen sie die ganze Würdigkeit des Menschen vor Gott, die ganze Stufenleiter der Gerechtigkeit, die ganze Hoffnung des Gerechten im Gericht aufgebaut hatte" ( J C h H 15). Mit diesem Angriff auf die heteronome Moral und die aus ihr folgenden ethisch-religiösen Leistungs- und Lohnvorstellungen trifft Jesus nach Hirsch kein Randphänomen, sondern ein wesentliches Moment der pharisäischen Frömmigkeit.

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Es k o m m t noch ein weiteres hinzu. Vergleicht m a n Jesu Verständnis der Buße mit der pharisäischen Gestalt des G o t t Dienens, d a n n ergibt sich ein auffallender K o n t r a s t . "Der Pharisäer dient G o t t , i n d e m er mit einem G e h o r s a m und in gleicher E h r f u r c h t alle G e b o t e Gottes u m f a ß t , ob sie wichtig oder unwichtig, ethisch oder kultisch, sinnvoll oder sinnlos sind" ( J C h H 17; Hhg.i.O.). Ganz anders Jesus: I n d e m das Gesetz u n d die P r o p h e t e n s a m t der Vielfalt ihrer kultischen oder ethischen Vorschrift e n auf das eine Doppelgebot der Gottes- u n d Nächstenliebe als deren S u b s t a n z zurückgeführt werden, "mißt Jesus d a r a n alle gegebenen Ordn u n g e n u n d Gebote. So gliedern sie sich ihm. Er b e j a h t sie, soweit sie der Liebe dienen, u n d verneint sie, soweit sie der Liebe nicht dienen" (ebd.). Sodann, der Pharisäer "dient G o t t , ohne ein inneres Verhältnis zu den Forderungen des Dienstes zu haben, - ohne eins h a b e n zu wollen" (ebd.). Umgekehrt Jesus: Er sucht hinter den Forderungen i m m e r den darin sich manifestierenden göttlichen Willen selber u n d kennt deshalb keine andere F o r m der B e j a h u n g ihrer Verbindlichkeit als "den G e h o r s a m u n t e r den einen wesentlichen Gotteswillen" (ebd.). Und schließlich wäre es f ü r den Pharisäer schlechterdings "gegen die M a j e s t ä t des gebietenden Herrn, in den lebendigen Geist des Fordernden selbst einzudringen, auch ohne das k a n n ihm der Gehorsam ungebrochen sein" (ebd.). Nicht so f ü r Jesus: Er "wagt gerade das, was d e m Pharisäer Frevel ist.... E r schaltet mit der Offenbarung des Gotteswillens in der Bibel, wie ein Sohn mit des Vaters E i g e n t u m : es ist alles sein, er wirft es nicht weg, aber er b r a u c h t es in königlicher Freiheit". In einer seine Zuhörer s t a u n e n m a c h e n d e n "Selbstgewißheit" t r i t t Jesus als "Künder des göttlichen Willens" auf, in dem "ganze Beugung u n d ganze Freiheit geeint" ( J C h H 17f) sind. Die gleichmäßige, äußerliche u n d b u c h s t a b e n g e b u n d e n e Gesetzesobservanz auf der einen Seite, der kritisch abwägende, a m lebendigen Gotteswillen orientierte u n d von innerer Freiheit getragene U m g a n g mit d e m Gesetz auf der anderen Seite - dieser dreifache K o n t r a s t b e d e u t e t n a c h Hirsch eine einschneidende Veränderung im Verhältnis z u m Gesetz. Jeder formalistische Gesetzesgehorsam ist von Jesus nachdrücklich verneint. F ü r den in der Buße zu erbringenden G e h o r s a m gegenüber d e m göttlichen Willen b e d e u t e t dies: "Buße wie G e h o r s a m b e k o m m e n ihre Wurzel in einer den ganzen Menschen von innen auf ein Ziel hin bewegenden E n t scheidung" ( J C h H 14). Der Ganzheit des göttlichen Willens entspricht die Ganzheit des geforderten Bußgehorsams. "In einer persönlichen Entscheid u n g , die Herzensumwandlung und Reue in sich schließt, m u ß der Mensch die neuen G e d a n k e n über G o t t und seinen Willen sich zu eigen m a c h e n " ( J C h H 18). Der Entscheidungscharakter der Buße ist somit nichts anderes als ein Implikat des der Ganzheit des göttlichen Willens korrespondierenden ganzheitlichen Gehorsams auf Seiten des Menschen.

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Der Bußgehorsam schließt unbeschadet seines ausschließlichen Verpflichtetseins auf die göttliche Forderung auch eine unmittelbare Stellungn a h m e zu Jesus selbst ein, und zwar deshalb, weil er sich durch Jesu auf das Wesentliche gerichtete und in Vollmacht verkündigte Aktualisierung des Gotteswillens hervorgerufen und angestachelt weiß. Jesu Deutung der Weisungen des Alten Bundes ist Anlaß und Movens einer Bußentscheidung, die auch eine Entscheidung über die Verbindlichkeit und den Stellenwert jener alten Satzungen selbst ist. In Jesu Bußruf "tritt eine neue Fassung von Gottes Willen gegen die alte, der Kampf wird unversöhnlich, weil er u m das Heilige selber geht" ( J C h H 15). Der von Jesus geforderte Bußgehorsam drängt ebenso ungesucht wie unweigerlich zur Stellungnahme bezüglich derjenigen Alternative, die Paulus später in sachlicher Entsprechung zu Jesu Kritik an der pharisäischen Frömmigkeit als den Konflikt von Gesetz und Evangelium beschrieben hat. "Jesus ist sich dieses Entscheidungshaften in seinem Rufe scharf bewußt gewesen. Er hat, als sein Bußruf ihn mit den Pharisäern zusammenstoßen ließ, klar gesehen, daß Israel ihn verwerfen werde. Was hat er daraus geschlossen? Daß Israel dem Gerichte Gottes verfällt ... Die Schärfe der strengsten unter den alten Propheten ist damit übersteigert" ( J C h H 18). So wird dem, der Jesu Bußruf vernimmt, das Tun oder Nichtt u n der Buße zur Entscheidung für oder gegen Jesus und in eins damit zum Heil oder Gericht Gottes. Daraus ergibt sich für Hirsch eine wichtige abschließende Folgerung für das Verhältnis zwischen Jesus und Paulus bezüglich der Frage der Gültigkeit alttestamentlicher Erwählungsaussagen. "Paulus, der schrieb, daß ganz Israel selig werde, hat Jesu Zorn ... eher abgeschwächt. Das besondre Band zwischen Gott und Israel ist bei Jesus, anders als bei Paulus, ganz zerrissen. Dieser Endausblick ist für das Verständnis Jesu wichtiger als die Tatsache, daß Jesus sich in seinem eigenen Wirken durch die Sendung seines Vaters an Israel gebunden wußte. Das gilt eben für ihn, nicht für seinen Vater selbst" ( J C h H 18f). Mit der Kritik an der pharisäischen Verdienstfrömmigkeit und ihrem formalistischen Gesetzesgehorsam treibt Jesu Bußruf hinein in die Entscheidung zwischen einem alten, in Gesetz und Propheten repräsentierten Heiligen und einem neuen Heiligen, dem von ihm artikulierten unmittelbaren Gotteswillen, dem in vorbehaltlosem und freiem Gehorsam zu entsprechen ein Geschenk des gebietenden Gottes selbst ist. Neben der Forderung der Buße ist für Hirsch der Reich-Gottes-Gedanke das zweite große Thema, auf das sich die Verkündigung Jesu konzentriert. Jesus konnte hier in besonderer Weise an Vorstellungen und Überzeugungen anknüpfen, die ansatzweise in einigen jüngeren Partien des Alten Testamentes, detaillierter dann in der apokalyptischen Literatur

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des Frühjudentums entfaltet worden waren. Sie dürften auch die Predigt des Täufers mitbestimmt haben. Aber trotz der offenkundigen Berührungspunkte ist der Abstand der Verkündigung Jesu zu jener Tradition für Hirsch mindestens ebenso deutlich. "Hier, wo er der Hoffnung der Frommen seiner Zeit a m nächsten scheint, ist sein Wort in Wahrheit am härtesten von dem Schicksal einer aus Gott kommenden neuen Botschaft umdrängt, mißverstanden zu werden" ( J C h H 20). Jesus eignet sich die traditionelle Reich-Gottes-Vorstellung so an, daß er mit deren Gehalt vollkommen frei umgeht. "Was an Jesu Gestaltung des Begriffs zuerst auffällt, ist der Ernst, den er in die Aussage legt, daß hier die reine Ewigkeit hereinbricht" (ebd.). Die gesamte überkommene Reichserwartung wird von ihm unter den einen Gesichtspunkt der "Ewigkeitshoffnung" ( J C h H 20f) gerückt. Inhaltlich ist sie nur insofern für ihn wichtig, als das in ihr erwartete Heilsgut vollständig als "freies königliches Geschenk Gottes" ( J C h H 21) erhofft wird. "Von Gott das ewige Leben bereitet bekommen und ihn sehen ohne Hülle, reine Gnade und reine Ewigkeit, und darum Freude, das ist die Verheißung des Gottesreichs, das durch Gericht und Weltvernichtung hindurch kommen wird" (ebd.). Damit ist das Trennende scharf bezeichnet. Bei Jesus ist die ReichGottes-Vorstellung so gut wie frei von all den irdischen Wunschvorstellungen, wie sie für die Reich-Gottes-Erwartung der Apokalyptik charakteristisch sind, mögen sie die politische Zukunft des ganzen Volkes oder das jenseitige Schicksal des frommen Individuums betreffen. "Die qualvollen Widersprüche, die das wirre Ineinander von nationaler Hoffnung und Ewigkeitserwartung etwa in Henochs Bilderreden erzeugt, bestehen bei ihm nicht. Auch über all das, was in den biblischen Verheißungen nach der menschlich-selbstsüchtigen Hoffnung zu weisen schien, ist er hinweggegangen" ( J C h H 20). Aus dem reinen Ewigkeitscharakter und der vollständigen Gnadenhaftigkeit des Gottesreiches folgt für Hirsch, daß die Reich-Gottes-Predigt Jesu trotz der sonstigen religionsgeschichtlichen Entsprechungen nicht aus der Tradition der alttestamentlich-jüdischen Apokalyptik erklärt werden kann. Jesus hat das ihm Wesentliche nur deshalb aus ihr heraushören können, "weil er an dem, was in seinem eignen Herzen als Leben aufsprang, einen neuen reichen Inhalt für den Reichsgedanken schon besaß" ( J C h H 21). An der für Jesus charakteristischen Fassung der Reich-Gottes-Vorstellung unterscheidet Hirsch zwei Schwerpunkte. Der erste läßt sich dahingehend zusammenfassen, daß das Reich Gottes für Jesus das Ereignis ungebrochener Gemeinschaft mit Gott darstellt. Das Reich Gottes bedeutet diejenige Nähe zwischen Mensch und Gott, in der "die ganze Einigung un-

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sers Willens mit dem göttlichen" (JChH 22) geschieht. Es kommt zu einer solchen Beziehung, "in der Gottes Leben unser Leben wird" (ebd.). Das Sein im Reiche Gottes ist darum "vollkommener Gehorsam und vollkommene Freude" (JChH 21f). Jesus selbst faßt dieses neue Gottesverhältnis, nämlich die Willenskongruenz zwischen Gott und Mensch, die Teilhabe am göttlichen Leben sowie die Koinzidenz von Gehorsam und Freude, zusammen in dem Gedanken der " Vollendung in der Gotteskindschaft" (JChH 21; Hhg.i.O.). Den zweiten Schwerpunkt der Reich-Gottes-Predigt Jesu bildet die Botschaft von der Sündenvergebung. "Es ist die offenbarste Tatsache in seinem ganzen Wirken, daß er gerade zu den Verlorenen sich gesandt wußte, und daß er diesen Verlorenen in schrankenlosem Vergeben die Gemeinschaft des Vaters geöffnet hat.... All das aber tut er eben als der Botschafter des Reichs; in der Gottesgemeinschaft seiner Vergebung empfangen die Sünder nichts andres als eben das Reich. So kommt das Reich Gottes selbst als die Vergebung zu den Menschen" (JChH 22). Damit ist aber nicht nur gesagt, daß die Sündenvergebung der Weg oder die Gestalt des Kommens des Gottesreichs ist, sondern darüber hinaus dies, daß das Reich Gottes in Jesu Zuspruch der Sündenvergebung bereits zur erfahrbaren Gegenwart wird. So "ist es in dem persönlichen Leben Jesu schon da, dringt es von ihm her als verzeihende und befreiende Macht an gegen die Herzen, hat es auch in denen, die das persönliche Leben Jesu ergreift und in sich hinein überwindet, seine Statt" (JChH 23). Aber es wäre ein MißVerständnis zu meinen, die Herrschaft Gottes, deren Nähe Jesus verkündigt hat, ginge ganz in jener Gegenwärtigkeit des Vergebungszuspruchs auf. Für Jesus selbst ist das Dasein der Herrschaft Gottes ebensosehr "das noch nicht enthüllte ewige Reich" wie zugleich "gegenwärtiger Besitz" (JChH 23). Und für das Bewußtsein derjenigen, welchen die Sündenvergebung gilt, trifft dasselbe zu. "Jetzt ist das Reich Gottes noch verborgen; nur die, denen es gegeben ist, spüren und wissen im Herzen seine Gegenwart" (JChH 24). Die Paradoxie, daß "die Ewigkeit, die sich erst noch offenbaren soll, schon da ist" (JChH 23) ist nach Hirsch von Jesu Reich-Gottes-Predigt unabtrennbar. Der auf sie gegründete Vergebungsglaube steht demnach ganz in der "Einheit von Haben und Erwarten" bzw. in der "Spannung zwischen dem Empfangen des wahren Lebens schon hier auf Erden ins Herz hinein und dem Ausschauen nach der Ewigkeit" (JChH 24). Angesichts dieser Spannungseinheit von Gottes Gegenwart und Gottes Ewigkeit in Jesu Zuspruch der Sündenvergebung "scheitert jeder Versuch, von den beiden Seiten des Wunders des Gottesreichs die eine zu streichen, um einen Jesus zu bekommen, der plan und verständlich ist" (ebd.). Vergebungsglaube im Sinne Jesu ist gleichursprünglich sowohl un-

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mittelbare Gemeinschaft mit Gott als auch reiner Ewigkeitsglaube. Die mannigfachen Vereinseitigungen, insbesondere die Verdiesseitigungen, wie sie in der Geschichte des Reich-Gottes-Gedankens in den unterschiedlichsten Fassungen aufgetreten sind, hat Hirsch deshalb bezeichnen können als "das fortgesetzte Leiden des Herrn unter den Händen seiner Feinde" (ebd.). Wenn wir zunächst die Bußforderung und daran anschließend die ReichGottes-Predigt in der Vollmacht der Sündenvergebung als die beiden Schwerpunkte der Verkündigung Jesu dargestellt haben, dann könnte aus dieser koordinierenden Behandlung möglicherweise der Eindruck entstehen, daß es sich u m sachlich gleichrangige Themen handle. Dies ist aber keineswegs der Fall. Der zweite Komplex hat nach Hirschs Einschätzung eine eindeutige Priorität vor dem ersten. Die "Vollmacht, Sünden zu vergeben, ist das Herz seiner Verkündigung; ohne sie hat sein Wort den sinngebenden Mittelpunkt verloren" (JChH 22). Dieser Hinweis ist deshalb von besonderem Gewicht, weil damit eine Stelle bezeichnet ist, an der Hirsch in Nuancierung, Akzentuierung und Folgerung von demjenigen Jesusbild, das Rudolf Bultmann in seinem gleichfalls 1926 erschienenen Jesusbuch entworfen hat, charakteristisch abweicht. Hirschs Rezension dieser Schrift ist im Gesamttenor zwar durch ein auffallendes Wohlwollen bestimmt: "Bultmann tut das Höchste, was ein Theolog t u n kann: er macht seinen Lesern ihr eigenes Gottesverhältnis zur Entscheidungsfrage" (BJ 311). Die inhaltliche Kritik 6 0 die Hirsch gleichwohl anzubringen hat, konzentriert sich ganz auf einen P u n k t . Bultmann sieht das Neue an Jesus gegenüber dem J u d e n t u m in einer radikaleren Auffassung von Sünde und Gnade. Darin stimmt ihm Hirsch durchaus zu. Bultmann erläutert jenen Sachverhalt folgendermaßen: "Erst da, wo die Forderung des Gehorsams radikal verstanden ist, kann auch der Gedanke der Gnade, der Vergebung radikal verstanden werden, und die Verkündigung der Vergebung erscheint dann in ihrer Einheit mit dem Bußruf.... Indem der Mensch die Vergebung annimmt, verurteilt er sich selbst am tiefsten, beugt er sich wahrhaft unter Gottes Gericht. Und wie seine Charakterisierung als Sünder bedeutet, daß er in der Entscheidung versagt hat und ein anderer, ein Gerichteter geworden ist, der die Freiheit verloren hat, so bedeutet der Gedanke der Vergebung, daß er wiederum ein neuer werden soll durch Gottes Gnade" (Jesus 137). Allerdings "hält ... die Gnade die Forderung des Gehorsams aufrecht ... Wer also durch die Vergebung neu wird, wird neu zum Gehorsam" (Jesus 143). Bultmanns weitere Ausführungen über Sünde

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Zur methodischen Kritik an Bultmanns formgeschichtlicher Quellenanalyse vgl. unten Kap. II.B.2.

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und Gnade sind dann möglichen Mißverständnissen hinsichtlich des Begriffs der Sündenvergebung gewidmet. Uber die innere Einheit zwischen Jesu Bußruf und Vergebungszuspruch und die ihr korrespondierende innere Einheit der Glaubensentscheidung äußert sich Bultmann nicht. Genau an dieser Stelle aber setzt die Rezension mit ihrer Kritik ein. Hirschs Auffassung nach "wird man nicht sagen können, daß seine [seil. Bultmanns] Darstellung im Entscheidenden schon ans Ziel gelangt sei.... Denn zu einem ganz klaren Ausdruck kommt in seiner Wiedergabe der Botschaft Jesu die Allgewalt des göttlichen Erbarmens nicht. Bultmann hat Jesu Botschaft vom Kommen des Reichs und Jesu Botschaft vom barmherzigen Vater, der durch ihn gerade die Sünder ruft, den Sündern ganz vergibt, nicht ineinander zu schauen vermocht. Er hat so den Schein nicht vermieden, als ob Jesu Wort uns nacheinander vor zwei Entscheidungen stellt, die, durch die wir Sünder werden, und die, durch die wir die Vergebung ergreifen. Er hat nicht klar zu machen vermocht, daß der eine und gleiche Wille Gottes Gehorsam fordert und Vergebung bietet, daß wir an Jesu Wort zu Sündern nicht werden, sondern an ihm als solche uns finden und nun in der einen Entscheidung, die Buße und Vergebungsglaube zugleich ist, umgewandt werden hinein in sein Reich. Gewiß könnte ich zugeben, daß psychologisch diese eine Entscheidung eine ganze lange Geschichte werden kann; aber wir reden hier j a nicht vom psychologischen Prozesse der Verwirklichung, sondern von dem grundsätzlichen Entweder - Oder. Und nun ist die Undeutlichkeit, die Bultmanns Darstellung hier anhaftet, nicht ohne Belang. Denn mit ihr verhüllt es sich, wie denn menschliche Entscheidung und göttliches Wirken zueinander sich verhalten. Bultmann stellt gelegentlich den Menschen und Gottes Anspruch so gegeneinander, daß es scheint, als sage uns Gott ein Wort und überließe nun kühl uns, wie wir bei uns damit fertig werden. Damit ist das Drängende, Stürmende der Botschaft Jesu nicht getroffen. Es ist verkannt, daß das an uns ergehende Wort Gottes der mächtigste Motor der Entscheidung selber ist. D.h. das Geheimnis der Gnade ist nicht zu seinem Rechte gekommen" (BJ 311). Nun weiß natürlich Hirsch so gut wie Bultmann, der den Begriff selber auch verwendet, daß sich der Ausdruck "Gnade" bei Jesus selbst noch nicht findet (vgl. J C h H 17). Es geht indes nicht u m terminologische Fragen, sondern u m Sachprobleme. Hirschs Einwand gegen Bultmanns Unterbestimmung des Themas "Sündenvergebung" in dessen Interpretation der Verkündigung Jesu wiegt deshalb so schwer, weil mit der Frage des Stellenwertes dieses Themas seiner Auffassung nach auch die innere Einheit der Verkündigung Jesu als ganzer auf dem Spiel steht. Hirschs Deutung des Wortes Jesu gilt es d a r u m abschließend unter dem Aspekt des Verhältnisses von Bußruf und Vergebungszuspruch zu würdigen. Hirsch

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ordnet von vornherein Jesu Bußpredigt und dessen Reich-Gottes-Predigt streng einander zu. "Der Bußruf Jesu ist ein Ruf ins Reich hinein. Was er als Forderung nennt, das ist in der Verheißung des Gottesreichs als Gabe angeboten" (JChH 22). Die Notwendigkeit einer Verschränkung der beiden Schwerpunkte der Verkündigung Jesu resultiert für Hirsch also sowohl aus Jesu Fassung des Bußbegriffs als auch aus dessen Verständnis von Sündenvergebung. Beide konvergieren in der ihnen zugrunde hegenden Gottesanschauung: "das ist doch das Herz seiner Verkündigung, das unergründlich tiefe und unerhört neue Gottesbild ...[:] Der Gott, der von den Gerechten Buße fordert und, beugen sie sich nicht, sie unbarmherzig richtet, und der zugleich den Zöllnern und Huren sein Reich öffnet.... Der unergründliche Richter und der barmherzige Vater. Der strenge fordert, und der alles verzeiht" (JChH 24f). Die innere Einheit von Bußforderung und Vergebungszuspruch ergibt sich für Jesus unmittelbar aus seinem Verständnis von Gottes Person und Wesen. Gott ist für Jesus "der eine, mit sich selbst einige Wille ... Der Vollkommenheit fordert, weil er ganze Gemeinschaft gewährt und uns als seine Kinder ihm ähnlich haben will: seine Strenge ist Gnade. Der verzeiht und schenkt, damit er uns rufe in seinen Dienst: seine Barmherzigkeit ist Befehl" (JChH 25). Die innere Einheit von Jesu Wort hat ihren alleinigen Ursprung in Jesu Gottesbild. Seine Bußforderung und sein Zuspruch der Sündenvergebung sind für Hirsch darum noch nicht zureichend verstanden, wenn man sie - wie Bultmann - jeweils für sich als Radikalisierungsgestalten ethischer Norm- und religiöser Gnadenvorstellungen beschreibt, sondern erst dann, wenn man die innere Einheit von Forderung und Vergebung als Ausdruck des in sich einigen Gottesbildes Jesu begreift. Diese Anschauung der inneren Einheit von Gottes Gnade und Befehl, Strenge und Barmherzigkeit trägt die gesamte Verkündigung Jesu. Hirsch kann deshalb seine historische Rekonstruktion mit einem religions- und theologiegeschichtlichen Gesamturteil beschließen: "Dies Gottesbild Jesu steht über allen gedanklichen Schöpfungen der Kirche. Die Geschichte des christlichen Denkens ist die Geschichte des Kampfes dieses Gottesbildes Jesu mit den andern, in jüdischer Theologie und Gesetzeslehre oder heidnischer Philosophie und Frömmigkeit hergebrachten. An dem Verhältnis zu diesem Gottesgedanken bestimmt sich, in welchem Maße eine Erscheinung christlich ist" (JChH 25). Hirsch wußte sich - ebenso wie seine Weggefährten auf Seiten der "Dialektischen Theologie" - einer Theologengeneration zugehörig, die der Bruch mit der Bildungsreligion des Kulturprotestantismus und die Rückbesinnung auf die reformatorische Theologie nachhaltig geprägt haben

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(vgl. GGL 102ff). Dieser Sachverhalt spiegelt sich bei Hirsch unmittelbar im Verständnis der Predigt Jesu wider. Die Deutung seiner Person ist von dem Tugendlehrer der Aufklärung ebensoweit entfernt, wie von der Selbstdarstellung des verklärten Erlösers bei Schleiermacher oder dem Reich-Gottes-Stifter bei Ritschi. Gibt es Vorbilder dafür? Hirsch selber nennt drei Namen: Karl Holl 61 , Paul Wernle 62 und Adolf Schlatter 63 . Zu allen drei Autoren weist Hirschs Rekonstruktion inhaltliche Entsprechungen auf. Für die formelle Einteilung in Bußruf und Vergebungswort findet sich bei ihnen jedoch keine Entsprechung. 64 So hegt es nahe, das Vorbild von Hirschs Einteilungsprinzip in der Theologie Martin Luthers zu suchen, von der Hirschs theologische Existenz am nachhaltigsten geprägt worden ist. Speziell ist hier an die für Luthers Theologie grundlegende Unterscheidung von Gesetz und Evangelium zu denken. Es mag auf den ersten Blick vielleicht gekünstelt erscheinen, Luthers Begriffspaar Gesetz/Evangelium in Hirschs Einteilung des Evangeliums in Büß- und Vergebungswort wiedererkennen zu wollen. Bei näherem Hinsehen erweist sich diese Zuordnung indes als durchaus sachgemäß. In der 1941 abgeschlossenen Studie über Luthers Gewissensbegriff hebt Hirsch hervor, daß Luther schon recht früh zur "letzten vollen Klarheit über Gesetz und Evangelium" (LSt 1, 160 Anm. 2) gelangt sei. Dies zeige sich in den Predigten der Adventszeit des Jahres 1516, also nach der Römerbriefvorlesung, zu Beginn der ersten Galatervorlesung. Liest man diese Predigten unter besagtem Aspekt, ergibt sich folgender Befund: Luther sondert zunächst das Evangelium vom Gesetz, spaltet nun aber nicht etwa noch einmal das Gesetz, bzw. den Gebrauch des Gesetzes auf - im Sinne der späteren Einteilung von usus politicus und usus sanctus sondern unterscheidet am Evangelium selbst eine zweifache Funktion. So heißt es in der Predigt zum zweiten Advent über Mt. 11,5: "Euangelium habet duplex officium, primurn est interpretari legem veterem 61 62 63 64

Vgl. JChH 7.25 Vgl. ARB 645 Anm. 1 Vgl. JChH 7.60.80 HOLL skizziert in seiner 1924 erschienenen Abhandlung über "Urchristentum und Religionsgeschichte" die Predigt Jesu unter den beiden Leitgesichtspunkten: "Gottesbegriff" und "Ethik". - WERNLE unterteilt sein 1916 erschienenes Jesus-Buch in folgende Themen: 1. Volkstum und Eigenart, 2. Der Gottesglaube, 3. Der Mensch und die Forderung Gottes, 4. Die Botschaft vom kommenden Gottesreich, 5. Jesus der Christus. - SCHLATTER gliedert den ersten Band seiner 1909 erschienenen Theologie des Neuen Testaments mit dem Untertitel "Das Wort Jesu" folgendermaßen: 1. Jesu Ruf zur Busse, 2. Der Jünger Jesu, 3. Jesus als Israelit, 4. Die Wunder Jesu, 5. Der Glaube, 6. Die Frömmigkeit Jesu, 7. Das königliche Ziel Jesu, 8. Der Sohn Gottes, 9. Die Aufnahme des Kreuzes in Jesu Ziel, 10. Die Weissagung Jesu über seine Wiederkunft, 11. Das Ende Jesu, 12. Die Ostergeschichte.

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... et sic de literali in spiritualem intelligentiam transferre ... Haec autem intelligentia legis spiritualiter ... facit legem impossibilem impletu ac per hoc hominem de suis viribus desperatum et humiliatum ... Hie, hie iam venit officium Euangelii secundum, et proprium et verum, quod nuntiat desperatae conscientiae auxilium et remedium ... Igitur hoc est Euangelium, nunciatio pacis, remissionis peccatorum, gratiae et salutis in Christo" (WA I, 105; Hhg.v.Vf.). Der spätere zweite Brauch des Gesetzes mit seiner Funktion, durch die Herbeiführung eines geistlichen Verständnisses des Gesetzes den Menschen der Sündhaftigkeit zu überführen und ihn damit in die vollständige Verzweiflung über sich zu treiben, ist inhaltlich bereits vollständig entfaltet, mit der formellen Abweichung jedoch, daß die Bewirkung des geistlichen Verständnisses des Gesetzes dem Evangelium selbst, nach seinem uneigentlichen Amt, zufällt. Dieses erste Amt des Evangeliums, also die geistliche Auslegung des Gesetzes, definiert Luther ausdrücklich als "annunciatio poenitentiae" (WA I, 106). In der Predigt am Thomastag des gleichen Jahres (Ps 18 (19), 2) führt Luther diesen Gedanken fort: "superbi ... securi iam vivunt tanquam lege impleta nec ullius peccati sibi conscii, multae autem iustitiae. His ita praesumentibus venit legis interpres, scilicet Euangelium, et dicit: 'Poenitentiam agite, appropinquat enim regnum coelorum'. In hoc quod dicit omnibus 'poenitentiam agite' utique omnes peccatores arguit et sie tristia et ingrata nunciat, quod est Cacangelium, i.e. malum nuntium et officium alienum. Quod autem dicit 'appropinquat regnum coelorum', h.e. bonum nuntium et iueunda ac laeta praedicatio, est officium proprium, scilicet Euangelii" (WA I, 113). Die Möglichkeit dieser Aufspaltung der Bedeutung des Evangeliums in zwei Funktionen begründet Luther so: "sicut opus Dei est duplex, scilicet proprium et alienum, Ita et Euangelii officium est duplex" (WA I, 113). Luther hat also das in der dann klassisch gewordenen Fassung der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium enthaltene Verhältnis zwischen dem zweiten, geistlichen Brauch des Gesetzes und dem Evangelium ursprünglich - salva veritate - als zwiefaches Amt des Evangeliums beschrieben: der im Evangelium enthaltenen Bußpredigt als dem ersten, fremden Amt desselben korrespondiert die Sündenvergebung als dessen zweites, eigentliches Amt, wobei beide Ämter des Evangeliums in der Einheit des Werkes Gottes zusammenhängen, das sie in beiderlei Weise verkündigen. 65 65

Noch in den Antinomer-Disputationen hat LUTHER überraschenderweise jene Frühform der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium im Sinne eines duplex officium evangelii vortragen können; vgl. WA 39/1, 393: "Et alibi ait Christus: Poenitentiam agite et credite Evangelio. Cum iubet, poenitentiam agere, indicat esse peccatores et legis transgressores .... Proprium Christi officium est, annunciare gratiam et remissionem peccatorum"; WA 39/1, 452: "Christus ... ipse per-

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Es d ü r f t e für den vorliegenden Zusammenhang hinreichend deutlich geworden sein, daß Hirschs Darstellung der Verkündigung Jesu in der Zwiegestalt von Bußruf und Gnaden- bzw. Vergebungswort ganz in den Bahnen der Theologie Luthers verläuft, und zwar nicht nur im Sinne grundlegender inhaltlicher Entsprechungen, sondern darüber hinaus sogar in lehrmäßigformeller Hinsicht. Luthers Frühform der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium bietet Hirsch die Möglichkeit, den gesamten theologischen Gehalt dieses für die Theologie fundamentalen Begriffspaares in zwangloser Weise auf die Verkündigung Jesu zu beziehen. Hirschs "Leitfaden" von 1938 wird dann Luthers endgültiges Verständnis von Gesetz und Evangelium zugrunde legen (vgl. Kapitel V.B). Hirschs Einteilung der Verkündigung Jesu in Büß- und Vergebungswort ist ein schönes Beispiel dafür, daß eine Verbindung von historischkritischer Erforschung der Evangelien und Anknüpfung an die Grundeinsichten reformatorischer Theologie nicht nur möglich, sondern auch für das Verständnis beider fruchtbar ist.

b) Die Innerlichkeit christlicher Gotteserfahrung Wenden wir uns nun demjenigen Teil der christologischen Ausführungen Hirschs zu, dessen Aufgabe es ist, das historische Bild der Verkündigung Jesu nach seiner gegenwärtigen Bedeutung reflektierend zu durchdringen. Er trägt die Uberschrift "Die Gottheit Jesu Christi in ihrem Handeln an uns" ( J C h H 54-72) und zerfällt in zwei Abschnitte, deren erster sich mit grundsätzlicheren Fragen befaßt (JChH 54-61), während im zweiten die gedankliche Einordnung der Verkündigung Jesu unter Zugrundelegung der zuvor erarbeiteten Prinzipien erfolgt ( J C h H 61-70). Jener mehr prinzipielle Abschnitt ist noch einmal deutlich in drei Teile untergliedert: Der erste betrifft die Struktur religiöser Erfahrung ( J C h H 54-56), der zweite die Erfahrung des Herrseins Jesu Christi ( J C h H 56-58) und der dritte die in der Erfahrung seines Herrseins vorausgesetzte Gegenwärtigkeit Jesu Christi ( J C h H 58-61).

fecte et spiritualiter interpretatur legem"; WA 39/1, 461: "Christus spiritualiter legem interpretatur". In der Jesaja-Vorlesung von 1527-30 findet sich in Anwendung auf den Heiligen Geist ebendieselbe Unterscheidung; vgl. WA 31/2, 3: "At hic est scripturae modus primum terrere, revelare peccata, cognicionem sui inducere, humiliare corda, quibus ad desperacionem adactis tum sequitur alterum illius officium, nempe ereccio et consolacio conscienciarum, promissiones. Ita docet spiritus sanctus". (Den letzten Hinweis verdanke ich Herrn Prof. Dr. Reinhard Schwarz, München).

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Wenn von einem gegenwärtigen Verstehen der Verkündigung Jesu die Rede sein soll, dann erscheint es als unumgänglich, vorab umrißhaft darüber Auskunft zu geben, in welcher Weise hierbei das Faktum religiöser Erfahrung als Bedingung der Möglichkeit der Aneignung jener Verkündigung vorausgesetzt wird. Nur wenn man zumindest über einen Vorbegriff der Struktur derjenigen Erfahrung verfügt, in deren Perspektive das Wort Jesu vernommen wird, kann man das, was es hierbei zu verstehen gilt, überhaupt sinnvoll diskutieren. Hirsch geht dieses Problem in der Weise an, daß er zunächst die Frage zu beantworten sucht, was wir eigentlich meinen, "wenn wir von jemand die Gottheit aussagen" (JChH 55). Hirsch grenzt die Vielfalt möglicher Antworten von vornherein dadurch ein, daß er sich auf den Gottesgedanken der "biblischen Religion" (JChH 55) und vor allem der "neutestamentlichen Religion" (JChH 55) beschränkt. Was zunächst nach dem Gesamtverständnis der biblischen Überlieferung Gottes Gottheit ausmacht, ist sein Herrsein. Dieses Herrsein Gottes wird nach zwei Fundamentalhinsichten ausgesagt, von denen keine auf die andere zurückgeführt werden kann, die demnach als zwei gleichursprüngliche Bedeutungshorizonte des biblischen Gottesbegriffs zu gelten haben. Gott ist einerseits "Herr über die ganze Welt", andererseits "Herr über unser Gewissen" (JChH 54). Diese Unterscheidung läßt sich unschwer alttestamentlich wie neutestamentlich festmachen. Im Falle des Bewußtseins Gottes als des Herrn über die Welt wird der Gottesgedanke unmittelbar auf die Sphäre des Wirklichkeitsverständnisses bezogen. Gott wird hier als "der allmächtige Schöpfer und Regierer" (ebd.) erfahren. Im Falle des Bewußtseins Gottes als des Herrn über das Gewissen wird der Gottesgedanke unmittelbar auf die Sphäre der ethischen Einsicht und Selbstbeurteilung bezogen. "Er gibt die Erkenntnis des Guten und des Bösen, er richtet und fordert, er verzeiht und ruft. Und unser Herz ist nicht in unsrer Gewalt, wenn er seine Stimme hören läßt" (ebd.). Mit dieser Zwiefältigkeit des Bewußtseins Gottes als des Herrn tritt nun zugleich auch ein Spannungsmoment in den Bereich religiöser Erfahrung. Für die Erfahrung von Gottes Herrsein über die Welt gilt: "Gottes Allmachtswirken ist uns nur zum Teil und nur sehr mittelbar bekannt: von ihm erfahren wir nur das Gewirkte, nicht den wirkenden Willen selbst. Aus dem, was sich uns so zeigt, können wir Grund und Ziel dieses Willens nicht erkennen" (JChH 55). Für die Erfahrung von Gottes Herrsein über das Gewissen hingegen gilt: "Gottes Wirken an unserm Herzen ... verschafft uns eine unmittelbare Erfahrung vom wirkenden Willen selbst. Wir spüren die Einheit und Ewigkeit des lebendigen Gottes selbst Damit aber ist uns ein Blick gewährt in den Grund, aus dem sein am Herzen handelnder Wille entspringt, und auf das Ziel, darauf er zufährt" (ebd.).

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Jene innere S p a n n u n g der religiösen E r f a h r u n g bestellt sonach in strukturellen P o l a r i t ä t e n des Erschlossenseins Gottes, die als Abgeleitetheit u n d Ursprünglichkeit, Mittelbarkeit u n d Unmittelbarkeit, P a r t i k u l a r i t ä t u n d Ganzheit sowie Dunkelheit u n d Klarheit näher charakterisiert werden können. G o t t "macht sich selbst uns kund, wenn er an u n s e r m Gewissen handelt. ... D.h. es e n t s t e h t uns ein Bild von Gottes Herzen. Aus diesem Bilde allein vermögen wir auch von den wunderlichen E r f a h r u n g e n des göttlichen Weltregiments einiges zu enträtseln" ( J C h H 55; Hhg.v.Vf.). Weil Gottes Wille n u r in seinem Handeln a m Gewissen mit Ursprünglichkeit u n d Unm i t t e l b a r k e i t , in Ganzheit u n d Klarheit erkannt wird, deshalb k a n n m a n auch n u r im Hinblick auf die E r f a h r u n g Gottes als des Herrn des Gewissens von einer Selbstoffenbarung Gottes im strengen Sinne des Wortes reden. Wegen dieser spezifischen F o r m der Erschlossenheit G o t t e s f ü r das Gewissen k a n n keine äußere religiöse E r f a h r u n g jemals an die Stelle der religiösen Gewissenserfahrung treten; vielmehr verleiht allererst diese jener ihren b e s t i m m t e n Sinn. Aus der strukturellen Differenz des Erschlossenseins G o t t e s ergibt sich f ü r Hirsch ein rein innerreligiöses K r i t e r i u m f ü r die Wertigkeit religiöser E r f a h r u n g : "je ernster es einer Religion u m G o t t selbst u n d seinen Willen zu t u n ist, desto gründlicher wird sie sich in seine Herrschaft ü b e r das Herz versenken, desto entschlossener seine Herrschaft über die Welt von jener aus zu verstehen suchen" ( J C h H 56). Es ist wichtig, sich klar zu m a c h e n , daß dieses K r i t e r i u m nicht auf einer strikten Alternative von äußerer oder innerer religiöser E r f a h r u n g b e r u h t , sondern allein auf deren alternativer P r i o r i t ä t , die das Zugleich beider Erfahrungen ebenso einschließt wie ihre jeweils alternative hermeneutische Leitfunktion. D a m i t kehren wir zurück zur D e u t u n g des Gehaltes der Verkündigung Jesu. Hirsch sieht durch jenes K r i t e r i u m die Möglichkeit gegeben, die ihr zugrundeliegende B e s t i m m t h e i t des Gottesverhältnisses von der des P h a r i s ä i s m u s eindeutig abzugrenzen. Als f ü r die pharisäische Gesetzesfrömmigkeit signifikant - wovon "tiefer gehende Erkenntnisse bei einzelnen P r o p h e t e n u n d Psalmisten" (ebd.) ausdrücklich unterschieden werden - erachtet Hirsch die "Gleichung zwischen M a c h t , Ehre, Wohlergehen im Irdischen einerseits, göttlichem Wohlgefallen anderseits" ( J C h H 56). Im Horizont jener alternativen P r i o r i t ä t von äußerer oder innerer religiöser E r f a h r u n g b e t r a c h t e t , heißt das: Diese "Gleichung ermöglicht es, von der W e l t e r f a h r u n g aus auf Gottes Willen über mich zu schließen, läßt also von der W e l t e r f a h r u n g u n m i t t e l b a r das Gewissen gelenkt werden. D a m i t ist die Herrschaft über die Welt als Merkmal des Göttlichen letztlich doch entscheidend geworden. Die Herrschaft über das Herz ordnet sich ... ihr u n t e r " (ebd.).

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Als Grunddatum jedes christlich bestimmten Gottesverhältnisses hingegen hat nach Hirsch zu gelten, daß "am Kreuze Christi die Gleichung zwischen Gott und Glück, Gott und Erfolg, zerbrochen worden ist" (JChH 57). 66 Die paulinische und die reformatorische Konzeption einer theologia crucis sind für Hirsch nichts anderes als eindrucksvolle Explikationsgestalten genau dieses Sachverhaltes. 67 In der Logik jenes Kriteriums ausgedrückt, besagt dies: Jesu "Kreuz hat der Christenheit ... eine neue Art gegeben, Gottes Weltregiment auf die Gewissenserfahrung zu beziehen ... Seitdem sollte es einem Jünger Jesu Christi unmöglich sein, an einer äußeren Erfahrung als solcher ein Urteil Gottes über sich zu erleben. Das einzige Merkmal, daran wir Gott so erkennen und fassen können, daß wir uns entscheiden und beugen, bleibt für uns die Herrschaft über das Gewissen" (JChH 56). Ausschlaggebend für Hirschs Unterscheidung von pharisäischer und christlicher Frömmigkeit ist also nicht das quantitative oder qualitative Abwägen der in diesen Religionen vorliegenden Fassungen von äußerer und innerer religiöser Erfahrung, sondern allein die Frage, in welche der beiden Arten religiöser Erfahrung in beiden Religionen jeweils die "entscheidende Gottesoffenbarung" gesetzt wird bzw. welches "Merkmal des Göttlichen letztlich ... entscheidend" ist (JChH 56). Das Resultat der so vorgenommenen Abgrenzung besteht darin, daß es in der christlichen Religion die innere Erfahrung Gottes im Gewissen ist, welche "letztlich" und "entscheidend" das Bild von Gottes Wesen und Willen bestimmt. Christliche Religion ist für Hirsch deshalb im eminenten Sinne Gewissensreligion. 68 Die so exponierte Innerlichkeit des christlichen Gottesverhältnisses bedeutet nicht die Suspendierung der äußeren religiösen Erfahrung, wie sie dem Menschen aus seinem In-der-Welt-Sein bzw. aus dem darin praktizierten Umgang mit der Wirklichkeit von Natur und Geschichte erwächst. Letztere ist vielmehr für jede Gestalt religiöser Lebensdeutung und Lebensführung unverzichtbar. Die Innerlichkeit christlicher Gotteserfahrung besagt lediglich, daß alle äußere - im weitesten Sinne als Schöpfungsglaube auftretende - religiöse Erfahrung in der Gewissenserfahrung und dem darin offenbarten Gottesbild ihren letzten religiösen Maßstab findet.

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Zu Hirschs Deutung der Passion Jesu vgl. unten Abschnitt 3.c. LUTHERS These: "Crux sola est nostra Theologia"(WA 5, 176), mit der er die theologia crucis der Operationes in psalmos zusammenfaßt, darf geradezu als das geheime Motto von Hirschs Christologie gelten (vgl. JChH 58 sowie die obigen Ausführungen in Kap. I.A.3). Hirschs skizzzenhafte Strukturbeschreibung der biblischen Religion (JChH 54-58) stellt eine phänomenologische Bewährung von Holls systematischer Grundthese dar.

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Für die Argumentationsstruktur der Christologie erweist sich dieses Kriterium als grundlegend. Die Priorität der Erfahrung des Herrseins Gottes über das Gewissen vor der äußeren religiösen Erfahrung ist - wie wir gesehen haben - an der Person Jesu abgelesen, nämlich an dessen "Art, wie er den Christus und das Kreuz zusammendachte" ( J C h H 56). Das bedeutet, daß die Struktur derjenigen religiösen Erfahrung, welche als Voraussetzung der möglichen Aneignung der Verkündigung Jesu in Ansatz gebracht wird, mit dem weitgehend erst durch Jesus selbst geschaffenen Typus religiöser Erfahrung identisch ist. Vereinfacht ausgedrückt: Wir können Jesu Wort nur verstehen, wenn wir uns auf diejenige Art der religiösen Erfahrung einlassen, die ihm eigen war. Damit tritt offenkundig eine zirkuläre Struktur in den religiösen Umgang mit seinem Wort ein. Sie wird uns unten noch näher zu beschäftigen haben.

c) Jesu Gegenwart in seiner Herrschaft über das Gewissen Die Herkunft der spezifischen Innerlichkeit christlicher Gotteserfahrung von der in Jesu Gottesverhältnis repräsentierten Struktur religiöser Erfahrung macht es für Hirsch nun möglich und erforderlich, auch das religiöse Verhältnis zu Jesus selber nach eben demselben Modell einer maßgeblich inneren Erfahrung zu deuten. Historisch-biblisch nahegelegt ist die Übertragung einer solchen Beziehung zu Gott auf das Verhältnis zu Jesus durch den "Sinn und die Bedeutung der neutestamentlichen Formel ..., daß Jesus Christus der Herr sei" (JChH 56f). Die Bezeichnung Jesu als des Herrn erfolgte möglicherweise schon zu Jesu Lebzeiten durch seine Jünger. Deutlich ausgeprägt ist sie dann in der urchristlichen Gemeinde. 6 9 Ihren pointierten Sinn hat ihr schließlich Paulus verliehen. Es reicht für den vorliegenden Kontext aus, wenn wir uns auf die Wiedergabe von Hirschs zusammenfassender Charakteristik des Gehaltes der Formel bei Paulus beschränken. "Sie ist im Munde des Paulus ... ein überschwengliches Bekenntnis dazu, daß Jesus Christus uns an Gottes Statt sei. ... Dementsprechend umfaßt der Herrenname Jesu bei Paulus auch die Herrschaft über die ganze Welt ... Aber die Wahrheit seiner Anwendung auf Jesus in diesem umfassenden Sinne wird sich erst erweisen, wenn der Tag hereinbricht, da er die Welt richtet. Lebendigen Inhalt für die Gegenwart des Christen hat der Herrenname Jesu allein deshalb, weil die Stellung Jesu im frommen Leben des Christen das zur erfahrbaren Wahrheit macht, was die Bezeichnung sagt. Jesus hat die Herrschaft über Herz und Sinn seiner Gläubigen" (JChH 57). Die Ausdeutung des 69

Vgl. dazu unten Abschnitt 4.a

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religiösen Verhältnisses zu Jesus als einer wesentlich innerlich bestimmten Erfahrung folgt für Hirsch also unmittelbar aus jener Grundformel der paulinischen Christologie. In dieser Übertragung der Gewissensbeziehung zu Gott auf das Verhältnis zu Jesus sind nun zwei sachliche Fragen enthalten. Erstens, was hat es zu bedeuten, daß Jesus als der Herr des Gewissens erfahren wird? Und zweitens, was besagt es, daß der Glaube aufgrund der Erfahrung Jesu als des Herrn nun Jesus selbst die gottheitliche Stellung, das Stehen an Gottes Statt, einräumt? Wenden wir uns zunächst der ersten Frage zu. Ihre Beantwortung unterliegt einer besonderen Schwierigkeit. Bis jetzt war uns der Mensch Jesu ausschließlich im Medium der historischen Rekonstruktion begegnet. Das historische Bild der Verkündigung Jesu gab den Entdeckungszusammenhang seiner Person ab. An Jesus als den Herrn glauben besagt indes, daß sich Geist, Herz und Sinn unter seiner Herrschaft wissen. Damit stellt sich aber das Problem der für den Glauben konstitutiven Gegenwärtigkeit des Herrn. "Macht über das Herz haben, das heißt doch dem Herzen gegenwärtig sein" (JChH 58). Auch in dem anderen Moment der Erfahrung seiner lebendigen Herrschaft, dem Bekenntnis der vollen Gottheit dieses Herrn, ist die Gegenwärtigkeit Jesu für den Glauben vorausgesetzt: "Diese Gegenwärtigkeit des Herrn aus Gnaden ist das Geheimnis, von dem all das, was er als das Wort in uns tut, umfangen ist und in dem unser Bekenntnis zu seiner Gottheit seinen Ursprung hat" (JChH 60f). Die eigentliche Schwierigkeit, die für Hirsch im Begriff der Gegenwärtigkeit enthalten ist, besteht darin, daß sie als Ermöglichungsgrund der religiösen Bedeutsamkeit eines zunächst rein geschichtlich gegebenen Menschen gedacht werden muß, und zwar ohne Zuhilfenahme supranaturalistischer Kategorien. Das Problem lautet also: "Wenn ... Jesus uns allein in seinem Wort und seiner Geschichte gegeben ist, wie kann er denn dann gegenwärtig sein?" (JChH 58). Diese Frage stellt gewissermaßen das Dauerproblem der Christologie Hirschs dar. Später ist sie von Hirsch durch eine an Kierkegaard angelehnte Gleichzeitigkeitslehre beantwortet worden. Wir werden auf diese hermeneutische Konzeption noch eigens eingehen. 70 Auffallend ist, daß Hirsch in seinem frühen christologischen Entwurf Kierkegaards Gleichzeitigkeitsbegriff ausdrücklich verworfen hat. Hirsch rühmt diesem Gleichzeitigkeitsbegriff der Christologie Kierkegaards wohl nach, die Frömmigkeit auf die existentielle Begegnung mit dem Christus in statu exinanitionis konzentriert (vgl. JChH 51f) und damit das Nein zu jeder geschichtsphilosophischen Explikation der Gottheit Christi verbunden zu haben (vgl. JChH 59). Sein Einwand richtet sich indes gegen ei70

Vgl. dazu unten Kap. II.B.5.

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nen Punkt, der zwar nicht im Zentrum des Kierkegaardschen Gleichzeitigkeitsgedankens steht, aber vielleicht gerade deshalb auffallend unerörtert bleibt. Hirschs Frage zielt nicht auf die tragenden Voraussetzungen dieses hermeneutischen Grundbegriffs, sondern auf die Bedingungen seiner Realisierung im tatsächlichen VerstehensVollzug. "Wie ... erzeugt sich diese Gleichzeitigkeit, in der Jesus uns gegenwärtig ist als der Herr? Es scheint nahe zu hegen, in ihr ein Erzeugnis unsrer Phantasie zu sehen.... Das ist ein Irrweg.... Die Gleichzeitigkeit zwischen Jesus und uns wird überhaupt nicht von uns erzeugt durch unsre Kunst und Arbeit.... Es ist ein Mißverständnis, das auch Kierkegaard nicht überall vermieden hat, als ob wir mit Jesus gleichzeitig werden müßten. Nein, er will es mit uns werden. Wir bleiben an Ort und Stunde gebunden, und er kommt mit seinem Worte und seinem Leben zu uns" (JChH 59 f). Hirsch will darum nicht wie Kierkegaard von einer Gleichzeitigkeit, sondern eher von einer "Gegenwärtigkeit" (JChH 60) Jesu sprechen. Aber wie kann diese Gegenwärtigkeit des geschichtlichen Menschen Jesus von Nazareth für den Glauben jenseits der Alternative von supranaturalistisch gewirkter Vermittlung einerseits und phantasiemäßiger Vergegenwärtigung andererseits gedacht werden? Hirsch hebt - im Anschluß an Luther 71 - hervor, daß das aktuelle Bedeutsamwerden Jesu, seines Wortes und seiner Geschichte, für den Glauben sich nirgend anders als in der "entscheidenden Beziehung auf Herz und Gewissen" ereignen könne: "die wahre Gegenwärtigkeit des Herrn ... hat ihren Grund allein in der Tiefe des Gewissens, das in sein Wort hineingebeugt wird" (JChH 60). Wie ist dieses in der Gewissenserfahrung begründete, seine Inhalte in die Form der Gegenwärtigkeit überführende Verstehen möglich? Was befähigt das Gewissen zu dieser hermeneutischen Kraft? Zur Beantwortung dieser Frage ist es unumgänglich, Hirschs frühen Gewissensbegriff kurz zu erläutern. In ihm vereinigen sich im wesentlichen zwei Traditionen: einerseits Luthers Gewissensbegriff in der Deutung Karl Holls, andererseits der Gewissensbegriff der praktischen Philosophie Kants und Fichtes. Der Gewissensbegriff bildet für Hirsch von Anfang an eine der zentralen Kategorien seines Denkens. 72 Eine gewisse Entlastung erfährt er 71 72

Hirsch bezieht sich auf Luthers Ubiquitätslehre (vgl. JChH 60); vgl. dazu auch HStD 34-39 J.H. SCHJ0RRINGS Untersuchung über das Verhältnis zwischen E. Geismar und E. Hirsch bietet eine Fülle zeitgeschichtlicher, biographischer und werkgeschichtlicher Informationen, gibt aber, obwohl sie den Titel trägt: "Theologische Gewissensethik und politische Wirklichkeit", so gut wie keinen Aufschluß hinsichtlich des Gewissensbegriffs bei Hirsch. Zu diesem vgl. E. HERMS: Die Umformungskrise

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erst in der mittleren Schaffensperiode, als er in den allgemeineren Begriff des humanen Wahrheitsbewußtseins aufgehoben wird. 73 Hirsch geht von folgender anthropologischer bzw. subjektivitätstheoretischer Grundannahme aus. Konstitutionsgrund der "uns als Menschen eigentümlichen Lebendigkeit" ist "die uns von Ursprung an wesentliche Beziehung auf Gott" (JChH 78). Diese "Beziehung auf Gott" ist eine "Gewissensbeziehung" (DSch 57). Das bedeutet: "Wirklich menschliches Leben gibt es nur in der Gemeinschaft mit Gott" (JChH 78). Die in der Gewissensbeziehung zu Gott sich ereignende Gemeinschaft mit Gott bildet für Hirsch den "Kern des ... individuellen Lebens" (DSch 57), und zwar deshalb, weil das Sich-vor-Gott- Wissen, wie es für das Gottesverhältnis des Gewissens konstitutiv ist, ein Um-sich-selber-Wissen des Sich-vor-GottWissenden impliziert. Deshalb kann Hirsch die dem Menschen aufgrund des Gottesverhältnisses eigentümliche Lebendigkeit auch auf den Begriff des "persönlichen Lebens" bringen: "wir haben persönliches Leben, soweit unsre Bestimmung zur Gemeinschaft mit Gott in uns wirklich wird" (JChH 79). Die Gewissensbeziehung auf Gott ist nun keine Relation, die sich mit den kognitiven Mitteln der Erkenntnis der natürlichen oder geschichtlichen Welt erfassen ließe, sondern sie fällt ausschließlich in den Bereich menschlicher Selbsterkenntnis. 74 Insofern ist das Gottesverhältnis des Gewissens nicht ein von außen zugängliches, gleichsam extern beschreibbares Konstitutionsmoment der conditio humana, sondern eine "Grundtatsache unsers innern Lebens" (JChH 61). Gleichwohl setzt es uns zu unserer Außenwelt, oder genauer gesagt: zu unserer Mitwelt - und über dieses Verhältnis zur Mitwelt dann auch zur dinglichen Umwelt - in Beziehung, indem es uns als handelnde Wesen für unser Handeln verantwortlich macht. In der Beziehung auf Gott, wie sie der spezifischen Selbsterkenntnis des Gewissens eignet, die Eigentümlichkeit menschlichen Lebens zu erkennen, impliziert für Hirsch deshalb die Einsicht, daß es "unsre Natur ist, vor Gott verantwortliche Person zu sein" (JChH 47 f). In dieser Hinsicht ist die Gewissensbeziehung auf Gott die "innerste Wurzel unsers Daseins als sittlicher Persönlichkeit" (DSch 55). In ethischer Hinsicht realisiert sich das Gewissen, indem die durch das Gottesverhältnis des Gewissens konstituierte Verantwortlichkeit eine durch alle Werthorizonte und Handlungsmaßstäbe menschlichen Zusam-

73 74

der Neuzeit in der Sicht Emanuel Hirschs, 104-110. Vgl. Lf § 49 und dazu unten Kap. IV.B.4. Von daher gesehen ist es sowohl inhaltlich als auch methodisch irreführend, im Hinblick auf Hirschs Konzeption von einer "Ontologie des Gewissens" (E. H e r m s , a.a.O. 134) zu reden; vgl. dazu auch U. B a r t h : Gott - Die Wahrheit?, 131f Anm. 131.

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menlebens hindurchgreifende letzte Entscheidungshaftigkeit des Lebens aufdeckt. "Wahrhaft wirkliches Leben" ist für Hirsch deshalb "Entscheidungsleben" ( J C h H 92). Seine humane Mitwelt und dingliche Umwelt in der Perspektive der Gewissensverantwortung wahrzunehmen, bedeutet zugleich eine "Verankerung alles Wirklichen in der Entscheidung des Gewissens" (ebd.). 7 5 Die Entscheidungshaftigkeit allen Umgangs mit der Wirklichkeit resultiert für Hirsch nicht schon aus der situativen Geprägtheit jedes HandlungsVollzugs und der damit zusammenhängenden Existentialität der zu leistenden Selektionsprozesse, also nicht aus rein handlungstheoretischen Merkmalen menschlicher Tätigkeit, sondern erst aus deren ethisch-religiöser Tiefendimension bzw. daraus, daß das menschliche Handeln getragen ist von der "Gewißheit, einen Schöpfer und Herrn zu haben" ( J C h H 61). Die in dieser Gewißheit enthaltene Verantwortlichkeit geht nicht im Akzeptieren und Befolgen irgendwelcher Wertvorstellungen auf, sondern stellt eine "unentrinnbare Beziehung auf Gott" (ebd.) dar. "Wo das Gewissen nicht auf den unergründlich lebendigen Gott bezogen ist, sondern auf eine bloße sogenannte Norm, da wäre das Ganze ... ein schlechthin unmögliches Unterfangen" (JChH 92). Welche Konsequenzen der Gewissensbegriff für die Grundlegung einer Ethik enthält, wird in der frühen Christologie nur ansatzweise reflektiert, braucht infolgedessen hier nicht eingehend erörtert zu werden. Hinsichtlich Hirschs früher Theorie des Gewissens selbst bleibt zunächst jedoch festzuhalten: Der Gewissensbegriff bezeichnet das Zugleich zweier Dimensionen humaner Reflexivität. Die religiöse Dimension besteht im Sich-Reflektieren als Relat des Gottesverhältnisses, die ethische Dimension besteht im Sich-Reflektieren als Relat einer praktischen Intersubjektivitätsbeziehung. Die dem Gewissen eigentümliche Unruhe resultiert aus der wechselseitigen Irreduzibilität der beiden Reflexivitätsdimensionen. Die dem Gewissen eigentümliche Reflexivitätsleistung besteht in der Verschränkung der beiden Reflexionshinsichten. Indem die ethische Reflexivität die religiöse bestimmt, verleiht sie dem religiösen Bewußtsein einen konkreten Wirklichkeitsbezug; indem die religiöse Reflexivität umgekehrt die ethische bestimmt, deckt sie die religiöse Wertigkeit der ethischen Einsicht auf. Der Gewissensbegriff als ganzer bezeichnet somit das spannungs75

Im Begriff des Entscheidungslebens konvergieren für Hirsch Geschichtsphilosophie und religiöse Uberzeugung. "Persönlich leben heißt, durch das Verhältnis zu Gott zu einer Entscheidung aufgefordert sein.... Von dieser unsrer innern Geschichte her müssen wir nun das Geheimnis der großen Geschichte verstehen In ihr handeln, heißt allezeit sich entscheiden" (ICh 11). G. SCHNEIDER-FLUME hat Hirschs ethisch-religiöse Geschichtsauffassung eingezeichnet in den Dezisionismus der 20er Jahre (Die politische Theologie Emanuel Hirschs 1918-1933, 13-53); vgl. dazu auch Ch. Graf v. KROCKOW: Die Entscheidung.

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reiche Wechselbestimmungsverhältnis von ethischer und religiöser Reflexivität. Im Phänomen des Gewissens findet die ethisch-religiöse Reflexivität des Menschen ihren zusammenfassenden Ausdruck. Damit sind die allgemeinen ethisch-anthropologischen Voraussetzungen b e n a n n t , die der Erfahrung Jesu als des gegenwärtigen Herrn zugrunde hegen. Die Möglichkeit des Gegenwärtigwerdens Jesu, der zunächst nur im Medium der historischen Rekonstruktion seines Wortes begegnet, ist für Hirsch nun allein unter der Bedingung gegeben, daß sein Wort in die Tiefe des Entscheidungslebens hineinzuführen vermag, aus der es entsprungen ist und dessen Erweckung es gilt. Wirklich gegenwärtig ist Jesus den ihn Vernehmenden dort, wo er selber "Antwort und Entscheidung ist der einen Frage, in der alles menschliche Leben sich gründet, der Frage des Gewissens nach Gott und seinem Willen. Da wo wir vor dieser Frage stehend zuinnerst bei uns selbst sind, da sind wir nicht allein, da trifft er uns und wird uns das ganz eigens zu uns persönlich gesprochene Wort" ( J C h H 61). Sonach gilt also beides: Alle Gegenwärtigkeit Jesu gründet zuletzt in der "auf jedes Herz, das zwischen Gut und Bös sich entscheidet, eindringenden Herrschaft Jesu" (ebd.). Und umgekehrt: "Nur dann kommt ihm der Herrenname mit Recht zu, wenn er die Macht hat, als ein Gegenwärtiger an unserm Gewissen zu handeln" (JChH 60). Worin dieses Bikonditionalverhältnis zwischen der Herrschaft Jesu und seiner Gegenwärtigkeit begründet ist, werden wir noch zu erörtern haben. Zunächst ist nach dem Gehalt der Erfahrung des Herrseins Jesu zu fragen, wie sie sich aus dessen Gegenwärtigwerden vermöge seines Wortes ergibt. Hirsch knüpft an zwei grundlegende Momente der ethischen Dimension des Gewissens an. Das erste besteht in dem der ethischen Reflexivität eigentümlichen Bewußtsein, zum Dienst am Mitmenschen bestimmt zu sein u n d allererst in der Erfüllung dieser Pflicht persönliche Identität und soziale Anerkennung erlangen zu können: "wir bedürfen alle innerlich eines Dienstes, in dem unser Leben seine Rechtfertigung h ä t t e ... Wo wir nun auch diesen Dienst nehmen ..., immer erkennen wir es an, daß unser Leben nur als solch ein Dienst seiner Bestimmung genügt" ( J C h H 62). Das zweite Moment ist das der ethischen Subjektivität eigentümliche Phänomen der Selbstbeurteilung bzw. der Stellungnahme zum ethischen Wert des eigenen Wollens und Handelns: "wir sind beständig in Zwiesprache mit uns selbst begriffen. Wir klagen uns an, wir entschuldigen und rechtfertigen und loben uns, und das mit einer Unermüdlichkeit, die Erstaunen weckt" (ebd.). Beide Merkmale in Hirschs Beschreibung der ethischen Reflexivität sind offenkundig Luthers Ethik entnommen. 7 6 In anthropologischer Hinsicht beschreiben sie den Grundsach verhalt, daß "es uns versagt [ist], 76

Vgl. dazu K. HOLL: Der Neubau der Sittlichkeit, in: Ges. Aufs. Bd. 1, 155-287.

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uns in dem uns gegebenen Dasein rund und glatt und beziehungslos zu vollenden" (ebd.). Vermöge der dem Gewissen eigenen Verschränkung von ethischer und religiöser Reflexivität empfangen nun beide Tatsachen des praktischen Selbstbewußtseins eine religiöse Bedeutung. Die ethische Reflexivität wird zur ethisch-religiösen vertieft. Das Phänomen des Bewußtseins der Bestimmung z u m Dienst am Mitmenschen wird jetzt verstanden "als Ausdruck der Wahrheit, daß wir einen Herrn haben, der uns zur Arbeit r u f t " (ebd.). Und das Phänomen der ethischen Selbstbeurteilung gilt nun "als Ausdruck der Wahrheit, daß wir einen Herrn haben, vor dessen Gericht wir bestehen müssen" (ebd.). Nach beiden Seiten ist die Aufdeckung eines religiösen Tiefenschichtsinns des praktischen Selbstbewußtseins von anthropologischer Allgemeinheit. "Nicht von allen Menschen werden diese beiden Daten mit der gleichen Leidenschaft erfahren ... Ein Mensch aber, in dessen inwendigem Leben keine Spur dieser beiden Fragen wahrnehmbar gewesen wäre, ist noch nicht gefunden worden" (ebd.). Damit ist der ethisch-anthropologische Rahmen der Aneignung des Wortes Jesu näher spezifiziert. Hirsch würde es nun für eine "unerlaubte Verkürzung des Wortes Jesu" halten, wenn m a n Jesus ausschließlich als den "Herrn der Gnade" verstehen wollte. Dadurch wäre die Möglichkeit einer "inneren Begründung des Herrennamens" (JChH 61) von vornherein verspielt. Hirsch setzt darum nicht mit Jesu Vergebungszuspruch ein, sondern mit dessen Bußpredigt, indem er nach der "Gegenwärtigkeit seines Bußrufs" (ebd.) fragt. Die Gegenwärtigkeit des Bußwortes Jesu liegt für Hirsch darin begründet, daß es unmittelbar an die ethisch-religiöse Reflexivität des Menschen anzuknüpfen imstande ist. "Das ist nun die Gewalt des Bußrufs Jesu, daß er diese tiefsten Fragen unsers Herzens zu neuer Leidenschaft aufzuwecken und zu beantworten vermag" (JChH 62). Die Bußpredigt Jesu bezieht sich auf beide Perspektiven ethisch-religiöser Reflexivität. Hinsichtlich des sich von Gott zum Dienst am Mitmenschen gerufen Wissens ist sein Bußruf Forderung; "Er stellt den Dienst vor uns hin, dem wir verpflichtet sind: ein Leben zu führen rein und lauter in Gottes- und Nächstenliebe" ( J C h H 62 f). Und hinsichtlich des Wissens u m die Verantwortlichkeit ethischer Selbstbeurteilung vor Gott wird sein Bußwort z u m Gericht: "Jesus läßt es uns an dem Leben, das er in sich selber t r ä g t , spüren, daß wir der Forderung nicht genügen" (JChH 63). Aber die entscheidende Gewalt dieses Bußrufes über die ethisch-religiöse Subjektivität wird erst sichtbar, wenn er im Lichte des Kreuzestodes Jesu verstanden wird. Der Tod Jesu ist gleichsam Kommentar seines Büß Wortes nach beiden Seiten ethisch-religiöser Reflexivität. "Wir sehen ihn seinen Todesweg gehen in einer gehorsamen Liebe ... In ihr lernen wir erst das Leben wahrhaft kennen, zu dem uns sein Wort beruft und das

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allein Leben ist, das Leben in selbstvergessenem Dienste, der nichts sich vorbehält, der ganz Opfer wird" (JChH 65). So verstanden wird das Bild von Jesu Gang in den Tod zur unüberbietbaren Telosdefinition der im Gewissen nurmehr erahnten ethischen Bestimmung des Menschen. Nach der anderen Seite f ü h r t die Betrachtung der Leidensgeschichte Jesu zu der Einsicht, daß "der Wille, ihn zu töten, aus eben der Herzensart geboren ist, die sein Bußruf als wider Gott bloßgestellt hat, und die auch in uns lebendig ist, so gewiß wir in einem natürlichen Widerstreite mit seiner Forderung sind. Das vollendet das Gericht" (ebd.). Das Bild des Leidens Jesu als letzter Werthorizont ethisch-religiöser Reflexivität verleiht der darin vollzogenen Selbstbeurteilung auf eine unentrinnliche Weise die Form der Selbstverurteilung, so daß "jede m ü h s a m errungene Beschwichtigung vergeht und der Mensch nur die Wahl hat, sich zu beugen oder sich in Verzweiflung, so gut es geht, zu verstocken" ( J C h H 62). Jesus selbst erweist sich als "die lebendige Norm alles Guten" ( J C h H 65). An ihr scheitert jede Selbstzuschreibung ethisch positiver Qualität. "Wir, wir haben dies Herz und diesen Willen nicht. Daran sehen wir daß wir tot sind" (ebd.). Aus dieser Radikalität des Bußrufs Jesu und seines dafür einstehenden Lebens zieht Hirsch eine wichtige Konsequenz hinsichtlich der Fundamentalität und Reichweite der darin enthaltenen ethischen Forderung: "In seinem Bußrufe wird Jesus denen, an die sein Wort kommt, zur Entscheidung für Zeit und Ewigkeit ... Wie wenig haben von dem allen die Gelehrten vernommen, die ihn zu einem bloßen Lehrer neuer sittlicher Erkenntnis, zu einer Art Vorläufer von Kant gemacht haben" ( J C h H 19). Jesus war nicht der Lehrer irgendeiner Moral, sondern der Künder des unbedingten göttlichen Willens. Hirsch folgert daraus: "Eine philosophische Ethik, die nicht umgeschrieben werden müßte, wenn Jesu Bußruf Wahrheit haben soll, ist mir nicht bekannt" (JChH 64). Der grundsätzliche Fehler solcher vernunftbegründeten Morallehren hegt in dem "Wahn, als wüßten wir in unserm Gewissen schon, was er als Gottes Willen vor uns hinstellt, brauchten ihn d a r u m nicht erst zu hören, noch weniger u m seinetwillen umzulernen" (ebd.). So bedeutet für Hirsch Jesu Bußruf nichts Geringeres als die Destruktion jedwedes humanen Ethos. Jesu Bußruf ist das schlechterdings unüberbietbare Dijudikationsprinzip ethischer Bestimmung und Selbstbeurteilung. Aber die Erfahrung des Herrseins Jesu erschöpft sich nicht in jenem Gewissenserlebnis des schlechthinnigen Gefordert- und Gerichtetseins. Neben den Ruf zur Umkehr hat Jesus die Predigt vom nahen Gottesreich gestellt und dessen Gegenwart als Vollmacht der Sündenvergebung für sich in Anspruch genommen. So stellt er gleichsam mit d e m "Bußwort ... die

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Frage ..., darauf die Vergebung die Antwort ist" ( J C h H 67). 7 7 Nicht wir sind die Fragenden und er der Antwortende, sondern er ist Fragender und Antwortender zugleich. Buße und Vergebung verhalten sich also nicht wie allgemein menschliche Erlösungsbedürftigkeit und Heilsvorbereitung einerseits zu offenbarter Heilserfüllung und Erlösungswirklichkeit andererseits. Denn nicht erst Jesu Vergebungswort, sondern bereits sein Bußruf sprengt - wie wir gesehen haben - alle Formen ethisch-religiöser Einsicht innerhalb der Grenzen des Humanen. Für die ethisch-religiöse Bestimmung des Menschen im Horizont der Bußpredigt Jesu gilt: "die verzeihende, grundlos sich ausschenkende Liebe selber wird nun zum höchsten Maßstabe des von uns geforderten Guten" ( J C h H 67). Und damit ist unmittelbar auch der ethisch-religiösen Selbstbeurteilung ein letzter Maßstab gegeben. "Wer seinen Bußruf verstanden hat, der weiß, daß es für ihn keine andre Hoffnung gibt als die frei und umsonst vergebende Gnade" (ebd.). Die eigentliche Grenze des Bußwortes, weshalb man von einer bloßen Frage und von der Sündenvergebung als einer Antwort darauf sprechen kann, liegt darin, daß es das neue Gottesverhältnis zwar nach seinem geforderten Gehalt und seiner faktischen Defizienz einsehbar macht, aber für sich allein nicht zu konstituieren vermag. "Der Bußruf ist an sich wohl ein Ruf in das Reich hinein. ... Aber er bringt das Herz nicht bis in Gott hinein" ( J C h H 66). Und damit ist auch die Grenze der Erfahrung des Herrseins Jesu, sofern sie sich nur auf sein Bußwort gründet, scharf bezeichnet. "In der Gegenwärtigkeit des Bußrufs erweist sich Jesus wohl als der Herr. Aber mit ihr allein bewegt er uns noch nicht, daß wir ihm den Herrennamen auch frei und freudig geben" (ebd.). Insofern ist jede Gewissenserfahrung, die Jesus nur als den kennt, der zur Umkehr ruft, trotz aller Reinheit und Ernsthaftigkeit noch nicht vollständig. Vielmehr "wird seine Herrschaft über uns erst da ganz, wo er uns gegenwärtig wird auch in seiner Botschaft vom Reiche" (ebd.). Die darin zugesprochene Sündenvergebung setzt den Bußruf nun keineswegs außer Kraft, sie relativiert ihn auch nicht. Denn "die verzeihende, grundlos sich ausschenkende Liebe ... widerruft die Forderung nicht, sie eint sich mit ihr" ( J C h H 67). Die Botschaft von der Nähe des Reiches n i m m t nicht nur die im Bußruf enthaltene ethisch-religiöse Bestimmung in sich auf, sondern auch die darin angemutete Gerichtserfahrung. Indem sich das Vergebungswort mit dem Bußwort eint, einigt es das Bußwort selber. Jesu Reich-Gottes-Predigt ist "Vergebung, die uns immer wieder von neuem in den Dienst stellt" (ebd.). Die Einheit der duplizitären Momente 77

Zu diesem Frage/Antwort-Modell vgl. bereits K. HOLL 1907, 8f. Es findet sich später dann auch bei K. Barth und P. Tillich; vgl. dazu jetzt W . PANNENBERG: Systematische Theologie I, 130.

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der Buße und die Einheit der Buße als ganzer mit der Sündenvergebung liegt nirgend anders als in Jesu Wort selbst. "Es ist derselbe Mann, der das eine verkündigt und das andre, der jedes so verkündigt, daß es dem andern zu Siegel und Bestätigung wird" (ebd.). Im Hinblick auf die Verkündigung Jesu als ganze ergibt sich sonach: Mit seiner Bußpredigt und der darin enthaltenen Deutung des göttlichen Willens erweist sich Jesus als die unüberbietbare lebendige Norm des Guten. Ihrer Forderung kann man sich nur so beugen, daß man das Eingeständnis ihrer Nichterfüllung als Gericht über die eigene Person zu akzeptieren bereit ist. Mit der Vollmacht seines Vergebungswortes hingegen heilt Jesus die solchermaßen in Verzweiflung geratenen Gewissen und zieht sie hinein in den Frieden des Reiches Gottes. Wenn Hirsch betont, daß die Einheit von Buße und Sündenvergebung nirgend anders ihren Ursprung habe als in der Einheit und Zwiefältigkeit des Wortes Jesu selber, dann bedeutet dies nichts Geringeres, als daß die Einheit von Evangelium und zweitem Brauch des Gesetzes letztlich christologisch begründet ist. 78 Für die Gegenwärtigkeit Jesu als des Herrn über das Gewissen folgt aus jenem Zusammenhang von Einheit und Duplizität seiner Verkündigung: Der Glaube an Jesus Christus als den gegenwärtigen Herrn ist äquivalent der Erfahrung, daß Jesus "der lebendige Herr des Gerichts und der Vergebung [ist], der frei und unbegreiflich handelt an den Gewissen" (JChH 40). Jesu wahrhaft königliche Gewalt besteht darin, "die Gewissen zu regieren mit Bußruf und Vergebungswort" (JChH 26). Die Art der Herrschaft Jesu ist dem Ort ihres Wirksamwerdens nach erschöpfend charakterisiert, wenn man sie als "Vollmacht über die Gewissen" (JChH 28) beschreibt. Deshalb ist seine Verkündigung alles andere als Unterricht oder Lehre, sondern vielmehr "eine die Gewissen bewegende Handlung" (JChH 21). Die ethisch-religiöse Subjektivität ist somit der alleinige Ort, aus dessen Perspektive und mit Bezug worauf das Bekenntnis zu Jesus Christus als dem Herrn ein tatsächlich christliches Bekenntnis ist. Worin besteht die das Gewissen bewegende Handlung des Vergebungswortes? Indem Jesus die Gotteskindschaft, die er in seinem Bußruf als Forderung aufstellt, in seinem Zuspruch der Sündenvergebung als gegenwärtig verheißt, "gibt [er] das freie fröhliche Herz, das sie erfüllt" (JChH 67; Hhg.v.Vf.). So vermag er mit seinem Vergebungswort "uns schon jetzt hineinzustellen in die Wirklichkeit des Lebens mit dem Vater im Himmel" (JChH 66; Hhg.v.Vf.). Was Jesus mit seinem Vergebungswort bewirkt, das betrifft aber nicht nur das neue Sein des in der Gegenwart des Gottesreiches Stehenden, sondern auch dessen Verhältnis zu Jesus selber, der 78

Vgl. dazu die oben in Abschnitt 2.a entfaltete Lehre vom duplex officium Evangelii beim frühen Luther, sowie die unten in Kap. V.B.3.a referierte These E. Vogelsangs zur Verschränkung von opus alienum und opus proprium in Luthers Christologie.

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tesreiches Stehenden, sondern auch dessen Verhältnis zu Jesus selber, der ihm die Teilhabe an diesem Reich vermittelt hat. Mit seinem Zuspruch der Sündenvergebung vermag es Jesus, "uns zum Trauen zu bewegen, unser ganzes Leben in das Trauen auf sein Wort hineinzulegen" ( J C h H 67; Hhg.v.Vf.) Damit "bewegt er uns ..., daß wir ihm den Herrennamen ... frei und freudig geben" ( J C h H 66; Hhg.v.Vf.). Wem Jesus die Sündenvergebung zuspricht, dem bleibt er nicht äußerlich, vielmehr " e r s c h a f f t er ihm das neue Herz, in welchem er auch wohnen kann" (JChH 67; Hhg.v.Vf.). Faßt m a n beide Aspekte des Vergebungswortes Jesu zusammen, die Vermittlung der Teilhabe am neuen Leben im Reich Gottes und die Vermittlung eines neuen Verhältnisses zu Jesus selber, dann bedeutet die das Gewissen bewegende Handlung des Vergebungszuspruchs nichts anderes, als daß Jesus "zum Beweger und Gestalter unsers ganzen inwendigen Menschen wird, so daß wir nichts Eigenes mehr haben wider ihn" ( J C h H 68; Hhg.v.Vf.). Kategorial abstrakter formuliert besagt dies: Im Glauben an die unmittelbare Gegenwart des Reiches Gottes in Jesu Zuspruch der Sündenvergebung und in der darin enthaltenen Erfahrung Jesu als des Herrn vollzieht sich die Konstitution der ethisch-religiösen Subjektivität. Von einer Konstitutionsfunktion des Vergebungswortes und nicht etwa nur von seiner Bestimmungsfunktion muß m a n deshalb sprechen, weil sie als das Korrelat eben derjenigen Destruktionsfunktion auftritt, als die sich Jesu Bußruf herausgestellt hatte. Die bewegende Kraft des Vergebungswortes verleiht nicht einem vorgegebenen Gottesverhältnis eine andere Form, sondern es bringt allererst dasjenige Gottesverhältnis samt seiner ethischen Dimension hervor, welches dem Sein im Reiche Gottes gemäß ist. Wie die das Bußwort Hörenden in der Buße die vollständige Destruktion ihrer ethisch-religiösen Subjektivität erleiden, so erfahren die das Vergebungswort Hörenden im Vergebungsglauben die tatsächliche Konstitution ihrer selbst als neuer ethisch-religiöser Subjekte. Worin aber unterscheiden sich die durch die Sündenvergebung konstituierten ethisch-religiösen Subjekte von derjenigen Verfaßtheit, die durch die Buße destruiert worden ist?

d) Die Evidenz der Gottheit Jesu für das Gewissen Hirschs Einbeziehung der neutestamentlichen Formel "Jesus Christus der Herr" in die systematische Durchführung der Christologie h a t t e zwei Fragen aufgeworfen: Erstens, worin besteht der Gehalt der Erfahrung Jesu als des Herrn? Zweitens, warum räumt der Glaube aufgrund dieser Erfahrung Jesus selber die gottheitliche Stellung ein? Die erste Frage ist beantwortet, wenden wir uns nun der Beantwortung der zweiten zu.

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Wir h a t t e n gesehen, daß Jesus in seinem Bußwort als die lebendige Norm des Guten begegnet und als solche den ihn Vernehmenden z u m unentrinnlichen Gericht über ihr Gewissen wird. Es h a t t e sich weiter gezeigt, daß die, die Jesu Vergebungszuspruch empfangen, ihn als den Beweger und Gestalter ihres gesamten inneren Lebens erfahren und dadurch in eine verborgene Teilhabe an der Ewigkeit des Gottesreichs versetzt werden. "So heißt unter Jesu Herrschaft stehen, Gott innerlich geoffenbart bekommen haben. Alle Höhen und alle Tiefen der Gemeinschaft mit Gott sind uns aufgeschlossen, wo Jesus in seinem Worte uns gegenwärtig und unsers Gewissens mächtig ist.... Wir werden nie eine andre Gemeinschaft mit Gott empfangen als die, die in der Vergebung uns erschlossen ist. Das kommende Gottesreich ist nur Offenbarung und Vollendung des im Worte Jesu schon heimlich gegenwärtigen" ( J C h H 69). Es gibt für die unter dem Worte Jesu Stehenden keine andere Form der Gemeinschaft mit Gott als die durch Buße und Vergebungsglaube geschenkte Teilhabe am Gottesreich. Weil Gott selber offenbar wird, wo Jesus mit seinem Büß- und Vergebungswort in gegenwärtiger Vollmacht die Gewissen regiert, deshalb ist Jesus für den, dem sein Wort zur letzten Entscheidung über Geist, Herz, Mut und Sinn wird, mehr als ein Mensch. "Wer ihn in diesem Sinne als den Herrn erfährt, der gibt ihm die Gottheit, der schaut in seinem Angesichte Gottes Angesicht in all seiner Herrlichkeit" ( J C h H 57). Die Formulierung "der gibt ihm die Gottheit" mag auf den ersten Blick Anstoß erregen, ist von Hirsch aber ganz bewußt gewählt, u m jedwedes Mißverständnis bezüglich des Gültigkeitscharakters des Bekenntnisses zur Gottheit Jesu Christi auszuschließen. Letzteres vollzieht sich immer nur auf der Basis der Erfahrung seines Herrseins über das Gewissen. Damit ist nicht gemeint, daß die göttliche W ü r d e Jesu darin aufginge, vom Bewußtsein des sich unter seiner Herrschaft Wissenden produziert zu sein. Daß Hirsch dies nicht im Sinn hat, macht schon allein die Überschrift des zweiten Hauptteils der christologischen Durchführung deutlich: "Das Handeln Gottes als Grund der Gottheit Jesu Christi" (JChH 72). Jene Formulierung soll lediglich festhalten, daß das Bekenntnis zur Gottheit Jesu, weil es auf der Basis der Erfahrung seines Herrseins über das Gewissen erfolgt, ein "Nein wider jeden Versuch, hier etwas beweisen zu wollen" ( J C h H 57), in sich beschließt. Diese Ablehnung eines Beweises der Gottheit Jesu darf nicht im Sinne etwa derjenigen These mißverstanden werden, wonach im Hinblick auf Offenbarungswahrheiten im Unterschied zu Vernunftwahrheiten diskursive Beweise nicht geführt werden könnten. Hirsch will vielmehr hervorheben, daß jeder Versuch eines Beweises seiner Gottheit an der Zirkulärst ät zwischen dem Bekenntnis zur Gottheit Jesu einerseits u n d der Erfahrung seines Herrseins andererseits notwendig

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scheitern müsse, sofern "die Begründung ... die Wahrheit der Erkenntnis, die sie begründen soll, schon voraussetze" ( J C h H 57). Aber auch das Geltendmachen der zirkulären Struktur eines jeden solchen Beweisversuches trifft noch nicht genau das, was Hirsch eigentlich im Auge hat. Worauf es letztlich ankommt ist dies, daß eine Beweisführung zugunsten der objektiven Wahrheit der gottheitlichen W ü r d e Jesu als des Herrn des Gewissens völlig an der Intention dieser Gewissenserfahrung vorbeiginge, ja sogar mit ihr unverträglich sei. Das Bekenntnis zur Gottheit Jesu auf der Basis der inneren Erfahrung seiner Herrschaft zeichnet sich wesentlich aus durch die Gewißheitsart der Evidenz. Die hier vorliegende Gewißheitsart korrespondiert ganz dem spezifischen Inhalt, der zur Gewißheit gelangt. "Das Leben, das er hat und wirkt, kann seine innere Wahrheit nur durch sich selber erweisen" (JChH 58). Wie ist dieser Zusammenhang zwischen dem Inhalt der Gewißheit und dem formalen Status der Gewißheitsart zu verstehen? Hirsch sieht das fragliche Verhältnis folgendermaßen: "Der Machterweis Jesu als des Herrn über unser Herz und Gewissen ist j a nur unter einer Voraussetzung eine zureichende Begründung seiner Gottheit. Nämlich unter der Voraussetzung, daß wir eine Bewährung dieses inwendigen Machterweises in einem Machterweis auch über die äußere Wirklichkeit nicht verlangen" ( J C h H 57). Der spezifische Evidenzcharakter des Bekenntnisses der Gottheit Jesu auf der Basis der Erfahrung seines Herrseins über das Gewissen hat also darin seinen Grund, daß jene Gewissenserfahrung selber den Gewißheitsstatus der Evidenz aufweist. Und der Evidenzcharakter dieser Gewissenserfahrung wiederum hat offenbar zu tun mit der für das Christentum konstitutiven Priorität der inneren religiösen Erfahrung vor der äußeren. In allen Formen außerchristlicher monotheistischer Religion - als deren höchste Stufe für Hirsch die pharisäische Frömmigkeit gilt - wird die an Gottes Allmachtswirken orientierte äußere religiöse Erfahrung der Erfahrung Gottes im Gewissen vorgeordnet. Die religiöse Gleichsetzung von geglücktem Leben und Wohlgefallen bei Gott bzw. von mißlungenem Leben und Verworfensein durch Gott als Resultat dieser Vorordnung bestimmt maßgeblich das religiöse Leben. Es gibt nach Hirsch keine äußerchristliche monotheistische Religion, welche diese eudaimonistische Logik religiöser Sinnstiftung durchbrochen hätte. Ein solcher Durchbruch würde voraussetzen, daß das so verfaßte religiöse Bewußtsein in der Lage wäre, sich nach seiner eigenen Strukturbestimmtheit zu durchschauen. Dies wiederum würde einen von dieser Grundverfaßtheit freien, außerhalb seiner selbst hegenden Standpunkt erforderlich machen, von dem her jenes sich als das begreifen könnte, was es seinem Herkommen nach ist. Nur ein tatsächliches neues Selbstverständnis wäre dazu befähigt, die vermeintliche Letztgültigkeit des P r i m a t s der

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äußeren religiösen Erfahrung außer Kraft zu setzen. Das Durchbrechen jener eudaimonistischen Logik religiöser Sinnstiftung hätte demnach den Charakter eines Befreiungserlebnisses. Nun liegt aber in der Verkündigung Jesu eine Vorordnung der inneren religiösen Erfahrung vor der äußeren und damit eine Aufhebung der Gleichung von äußerem Lebensschicksal und Leben vor Gott für die, welche Jesus als den Herrn des Gewissens erfahren, tatsächlich vor. Daraus folgt für den Sinngehalt des Erlebnisses der Uberwindung der Priorität äußerer religiöser Erfahrung, daß die "wirkliche Befreiung von ihr nur als Tat des Christus an uns verstanden werden kann" (JChH 57). Wie für Jesus, so hat auch für die von ihm Befreiten das Gottesverhältnis nicht im Glauben an das Allmachtswirken Gottes in der Welt, sondern in den inneren Erfahrungen des Gewissens sein letztes Kriterium. Und dieses Kriterium gilt auch für jenes Befreiungserlebnis selbst. Die Erkenntnis Jesu als des Befreiers von der eudaimonistischen Logik äußerer religiöser Sinnstiftung ist von eben derselben Gewißheitsart wie die Erfahrung dieser Befreiung. Der Evidenzcharakter der Gewißheit Jesu als des Herrn des Gewissens hat also darin seinen letzten Grund, daß es sich bei dieser Gewißheit um das Evidenzerlebnis einer Befreiungserfahrung handelt. Für die Evidenz der Erfahrung des Herrseins Jesu folgt daraus ein Dreifaches. Erstens, Jesus befreit den Menschen, indem er dessen Gewissensvorfindlichkeit innerlich bezwingt. Die Befreiung des Menschen durch Jesus ist immer das Resultat einer spannungsreichen Auseinandersetzung mit den seinem Wort widerstreitenden Determinanten des Gewissens. "Er gewinnt seine Herrschaft über das Herz eines jeden von uns nur so, daß er mit ihm um den Glauben kämpft und ihn dabei überwindet in seine Art, seinen Geist hinein. Nur so will er als der Herr erfahren sein" (JChH 58). Resultat dieses inneren Konfliktes 79 ist die Herrschaft Jesu über das Gewissen und darin zugleich die Befreiung des Gewissens zu sich selbst. Die Befreiung von der Logik eudaimonistischer Religiosität ist nicht die abstrakte Belehrung über einen bestimmten Freiheitsgedanken, dessen theoretische Gültigkeit der Glaube mit Evidenz zu bejahen hätte. In der Erfahrung des Herrseins Jesu geht es vielmehr um die "wirkliche Befreiung" (JChH 57) des Gewissens. Nicht Aussagen über Befreiungsvorgänge oder -erlebnisse, sondern Erfahrungen des Befreitwerdens selber gelangen im Glauben an Jesus als den Herrn zur Gewißheit. Ebensowenig besteht das im Glauben an Jesus entspringende Freiheitsbewußtsein in der bloßen Selbstzuschreibung des Gedankens der Freiheit, sondern im Bewußtsein eines faktischen Befreitseins. Da das Subjekt des 79

Hirsch nimmt damit W. auf.

HERRMANNS

Begriff des "sittlichen Kampfes" (Ethik, 74)

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Befreitwerdens und die epistemische Instanz der Gewißheit dieses Befreitwerdens miteinander identisch sind, kann m a n hier von einem Selbstbewußtsein faktischer Freiheit sprechen. Die Evidenz der Erfahrung des Herrseins Jesu kann also nach diesem Gesichtspunkt zusammengefaßt werden als die Sichdurchsichtigkeit der Faktizität der Freiheit des Gewissens von aller eudaimonistisch bestimmten Religiosität. Wenn die Evidenz der Erfahrung des Herrseins Jesu gerade als das Gewißwerden einer inneren Befreiung des Menschen bezeichnet wurde, so darf dies, zweitens, nicht dahingehend mißverstanden werden, als ob jene Evidenz in der Selbstbezüglichkeit eines Gewißheitserlebnisses aufginge und damit ihr letztes Fundament in sich selbst hätte. Die Evidenz religiöser Gewissenserfahrung ist weder ein rein subjektinternes mentales Ereignis unabhängig von dem transsubjektiven Gehalt jener Erfahrung, noch ist sie ein bloßes subjektives Epiphänomen dieses trans subjektiven Gehaltes, lediglich dessen unwesentlicher Niederschlag in dem ihn rezipierenden Bewußtsein. Für die Evidenz der Erfahrung des Herrseins Jesu und des Bekenntnisses seiner Gottheit ist es vielmehr wesentlich, ebensosehr transsubjektive Realität zu besitzen, wie von der Reflexivität des Gewissens unabtrennbar zu sein. Die Evidenz der Erfahrung des Herrseins Jesu kommt infolgedessen allein dadurch zustande, daß das "Leben, das er hat u n d wirkt", beginnt, am Orte des von ihm ergriffenen Gewissens "seine innere Wahrheit ... durch sich selber [zu] erweisen" ( J C h H 58). Die Evidenz der Gottheit Jesu für das Gewissen, d.h. das Bekenntnis seiner gottheitlichen Stellung für den Glauben, entspringt dem "Offenwerden des inneren Auges"(ebd.) für die wahre Bedeutung des Menschen Jesus. Der Evidenzcharakter beider Gewissenserfahrungen verdankt sich sonach der Bezogenheit des Evidenzerlebnisses auf ein von ihm Verschiedenes. Die Evidenz der Erfahrung des Herrseins Jesu und seiner Gottheit ist dadurch gekennzeichnet, daß die Transsubjektivität des Selbsterweises der in jener Erfahrung sich manifestierenden Wahrheit einerseits und die Selbstreflexivität der Gewißheitserfahrung des zu sich selber befreiten Gewissens andererseits sich wechselseitig nicht ausschließen, sondern geradezu fordern. Der Grund dafür liegt allein darin, daß dort, wo Jesus in seiner Vollmacht und Hoheit erfahren wird, er ebensowohl als der von außen begegnende Herr des Gewissens wie als der innerlich sich übereignende Ursprung je eigener Freiheit erkannt wird. Transsubjektivität und Reflexivität dieser Gewißheit sind gleichursprüngliche Implikate des Empfangs des Geschenks der Freiheit. Aber das entscheidende Merkmal der Evidenz der Erfahrung Jesu als des Herrn ist ein Drittes. Die beiden genannten Momente der Evidenz, die Sichdurchsichtigkeit der Faktizität der Freiheit des Gewissens und das Zugleich von Transsubjektivität und Reflexivität solcher Gewißheit, ha-

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ben darin ihre notwendige und hinreichende Bedingung, daß das Gewissen durch jene Erfahrung auf die Ebene eines "neuen Lebens mit ganz neuen Gedanken" ( J C h H 58) versetzt wird. Die Aneignung des Büß- und Vergebungswortes Jesu läßt das Gewissen nicht auf der Ebene und in der Kontinuität seiner bisherigen religiösen Erfahrungen verbleiben, sondern ü b e r f ü h r t es in die Sphäre der Teilhabe an dem "Leben, das er hat und wirkt" (ebd.). Diese Standpunktversetzung des Gewissens ist der eigentliche Grund für die Selbstevidenz der Gottheit Jesu in der Erfahrung seiner Herrschaft über das Gewissen. "Könnte m a n in Gedanken, die abgesehen von Jesus Christus in uns mächtig sind, den Maßstab finden, daran er seine Gottheit uns bewährt, dann käme ja mit ihm gerade kein neues Leben zu uns" ( J C h H 57f). Die Aneignung des Büß- und Vergebungswortes Jesu durch das Gewissen impliziert dessen Standpunktversetzung, vermöge deren es an dem neuen Leben des Reiches Gottes Anteil gewinnt. Die Evidenz des Christusglaubens ist demzufolge nicht das Gewißheitserlebnis einer kontinuierlich sich durchhaltenden epistemischen Instanz. Sondern das Gewissen, welches die Herrschaft Jesu über sich als seine Befreiung erlebt und darin zugleich der Gottheit Jesu ansichtig wird, wird im Durchgang durch diese Evidenzerfahrung selber auf eine andere Ebene gehoben. Diese Standpunktversetzung kann freilich nur limitativ beschrieben werden, weil sie den Bereich empirisch zugänglicher Gewissensphänomene per definitionem sprengt.

e) Der ethisch-kategoriale Rahmen der Aneignung der Predigt Jesu

Abschließend dürfte es angebracht sein, den ersten Hauptteil der frühen Christologie Hirschs, die gedankliche Explikation der Bedeutung der Verkündigung Jesu für die Gewissenserfahrung, wenigstens umrißhaft in eine ideengeschichtliche Perspektive zu rücken. Wir h a t t e n oben gesehen, daß Hirschs Entfaltung der Verkündigung Jesu in der Duplizität von Büß- und Vergebungswort weitgehend der frühen Fassung von Luthers Unterscheidung von Gesetz und Evangelium entspricht. Es hegt nahe, auch Hirschs Beschreibung der Gewissenserfahrung im Lichte des Büß- und Vergebungswortes Jesu nach ihren strukturellen Momenten problemgeschichtlich einzuordnen. Es ist offenkundig die praktische Philosophie Kants gewesen, die Hirsch den kategorialen Rahmen geboten hat, die Bedeutung der Predigt Jesu für das Gewissen in prinzipieller Hinsicht zu bestimmen. Ein Vergleich mit den H a u p t m o m e n t e n der kantischen Ethik vermag dies zu verdeutlichen. Nimmt m a n die "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten", die Analytik

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der "Kritik der praktischen Vernunft" und die Einleitung in die "Metaphysik der Sitten" zusammen, so ergeben sich folgende Punkte: 1. Als Testinstanz gegebener Maximen ist das durch die praktische Vernunft hervorgebrachte Sittengesetz das letztgültige Dijudikationsprinzip80 bzw. die oberste Norm des Willens. 2. Im Gefühl der Achtung für das Sittengesetz erlangt dieses am Ort des sinnlichen Begehrungsvermögens seine subjektive Verbindlichkeit81 3. Die subjektive Verbindlichkeit des Sittengesetzes für das Gefühl der Achtung desselben bedeutet die Niederschlagung aller aus dem sinnlichen Begehrungsvermögen entsprungenen Neigungen bzw. die vollständige Destruktion der vermeintlich positiven ethischen Qualität derselben. 4. Indem das Gefühl der Achtung für das Sittengesetz dieses als die allein verbindliche Norm aller Willensmaximen anerkennt, empfängt letzteres zugleich die Bedeutung eines den Willen nicht nur normierenden, sondern darüber hinaus auch bewegenden Prinzips82 5. Nur sofern das Sittengesetz ein solches Exekutionsprinzip des Willens darstellt, vermag es als diejenige Instanz zu fungieren, die allein ein ausschließlich vernunftmotiviertes Handeln hervorbringt - und nur letzteres ist wahrhaft praktisches Handeln, im Unterschied zu bloß technischpraktischem Handeln. 6. Das Verhältnis zwischen dem Sittengesetz als Dijudikationsprinzip einerseits und als Exekutionsprinzip andererseits kann dahingehend zusammengefaßt werden, daß das Sittengesetz nur in der Weise rein praktisches Handeln konstituiert, daß es gegebene Maximen normiert; diese normiert es aber zu keinem anderen Zweck als dazu, jenes zu konstituieren. 7. In der Normierung des Willens und in der Konstitution des rein praktischen Handelns - beides durch das Sittengesetz - erfährt das jenem Willen und dieser Praxis zugrunde liegende Subjekt im Selbstbewußtsein 83 der praktischen Vernunft eine Standpunktversetzung 8. Sofern das im Selbstbewußtsein der praktischen Vernunft enthaltene Bewußtsein der Standpunkt Versetzung zurückgebunden ist an das sinnliche Selbstbewußtsein, unter dessen Form das Sittengesetz als intentionales Objekt des Gefühls der Achtung zu Bewußtsein kommt, erfährt sich das Subjekt des durch das Sittengesetz normierten Willens und der durch das Sittengesetz konstituierten Praxis - nach seinem vollständigen praktischen 80 81 82 83

Vgl. G. PATZIG: "Principium diiudicationis" und "Principium executionis". Vgl. D. HENRICH: Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft. Vgl. D. HENRICH: Das Problem der Grundlegung der Ethik bei Kant und im spekulativen Idealismus. Vgl. KANT: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, 450-458.

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Selbstbewußtsein betrachtet - als Bürger zweier seienden und einer erscheinenden.

Weiter,ι84, einer an sich

Alle genannten acht P u n k t e lassen sich unschwer auf Hirschs christologische Explikation der Bedeutung der Verkündigung Jesu für die Erfahrung des mit ihm in Zwiesprache befindlichen Gewissens abbilden: 1. Jesu Reich-Gottes-Predigt als Bußruf ist die Verkündigung des in sich ganzen Gotteswillens und damit die Lebendige Norm alles Guten bzw. das letztgültige Dijudikationsprinzip der ethisch-religiösen Subjektivität. 2. Jesus wird allererst da als der Herr erfahren, wo sein Bußruf subjektive Verbindlichkeit für das Gewissen gewinnt. 3. Die Verbindlichkeit des Bußrufes Jesu bedeutet für die Selbstbeurteilung im Gewissen das Gericht und damit die vollständige Destruktion der vermeintlich positiven ethischen Qualität des handelnden Subjektes. 4. Mit dem Vergebungswort als dem anderen Aspekt seiner Reich-Gottes-Predigt wird Jesus zum Beweger und Gestalter des gesamten inneren Menschen. 5. Mit dem Zuspruch der Sündenvergebung an das bußfertige Gewissen bringt Jesu Vergebungswort - und zwar es allein — die Teilhabe a m Reiche Gottes hervor. 6. Das Sein unter der Herrschaft Gottes besagt, daß das Gewissen ebensosehr Gottes Gericht als Gnade wie dessen Barmherzigkeit als Befehl erfährt; der normative und der konstitutive Aspekt der Reich-GottesPredigt Jesu fordern sich wechselseitig. 7. Die im Glauben an Jesus als den Herrn mit Evidenz erfahrene Befreiung des Gewissens bedeutet eine Standpunktversetzung des Gewissens in einen dessen empirischer Bestimmtheit entzogenen Bereich. 8. Das Reich Gottes, welches in der befreienden Erfahrung der Herrschaft Jesu als neues Leben zuteil wird, ist immer nur als ein verborgenes gegenwärtig. Für die Gegenwart dieses Reiches gibt es keinerlei empirische Entsprechungen. Der seiner Subjektsbezogenheit nach unter den Bedingungen der Lebenswirklichkeit stehende Glaube ist als Glaube an das Reich Gottes reiner Ewigkeitsglaube. In der Aneignung von Jesu Bußwort vollzieht sich die Destruktion des auf allgemein menschliches Ethos und allgemein menschliche Religiosität gegründeten Gottesverhältnisses. In der Aneignung des VergebungsWortes vollzieht sich der Aufbau eines neuen Selbst- und Gottesverhältnisses. Im Glauben an Jesus als den Herrn des Gewissens vollzieht sich somit die Konstitution der wahren Gestalt ethisch-religiöser Selbstauslegung. 84

Zum systematischen Ort der Zwei-Welten-Theorie in der "Grundlegung" vgl. D. HENRICH: Die Deduktion des Sittengesetzes.

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Hirschs frühe Christologie ist - was die Bedeutung des Wortes Jesu für den Glauben betrifft - eine Theorie der Konstitution ethisch-religiöser Subjektivität. 8 5

3. J e s u G e s c h i c h t e als O f f e n b a r u n g s g e s c h i c h t e Indem das Gewissen Jesus als den an ihm handelnden gegenwärtigen Herrn erfährt, entspringt ihm das Bekenntnis der Gottheit Jesu. Diesen Zusammenhang haben wir im Vorigen entfaltet. Damit ist die Aufgabe des christologischen Denkens aber noch nicht erledigt, da in der gedanklichen Explikation des gerade genannten christologischen Grundsachverhaltes die Bedeutung Jesu für den Glauben an einem ganz entscheidenden Punkt noch nicht zur Sprache gekommen ist. Seinem elementaren Selbstverständnis nach kann sich der christliche Glaube nur so auf Jesus beziehen, daß dessen Herr- und Gottsein - ungeachtet der Genesis dieser Bestimmungen am Orte der Glaubenserfahrung - ihren zureichenden Grund nicht in dieser Erfahrung, sondern im Sein Jesu Christi selbst haben. "Allein in seinem Verhältnis zum Vater kann er der Herr und Christus sein" (JChH 74). Die Bedeutung Jesu Christi für den Glauben ist also theologisch noch nicht zureichend durchdacht, wenn sie nur nach dem Gehalt der Erfahrung seiner Würde zur Darstellung gelangt ist. Vielmehr ist zu zeigen, wie die Möglichkeit jener Erfahrung und die Möglichkeit seines gottheitlichen Herrseins im Gottesverhältnis Jesu selber begründet sind. "Das Verhältnis des liebenden Vaters zum gehorsamen Sohne ist vom theologischen Erkennen deshalb umfaßt, weil es der Grund der Gottheit Jesu Christi ist" (JChH 72). Das hier vorliegende Problem läßt sich kategorial am adäquatesten mit der traditionellen Unterscheidung von ratio essendi und ratio cognoscendi bestimmen. Das Gottesverhältnis Jesu bildet die ratio essendi sowohl des im Glauben erfahrenen Herrseins als auch der darin erkannten Gottheit Jesu Christi. Umgekehrt ist die Erfahrung des Herrseins einschließlich des daraus entspringenden Bekenntnisses der Gottheit Jesu Christi die ratio cognoscendi des Gottesverhältnisses Jesu. Legt man diese Unterscheidung zugrunde, dann wäre ein daran orientiertes christologisches Denken als Ganzes durch zwei grundsätzlich ver-

85

Von deren handlungstheoretischen Implikationen soll Kap. II.B.5 handeln. Ihren selbstbewußtseinstheoretischen Prämissen ist Kap. III.Β gewidmet. Die abschließende Strukturbeschreibung wird im Rahmen der Darstellung der Christologie des "Leitfadens" in Kap. V.B erfolgen.

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schiedene Möglichkeiten der Reflexionshinsicht gekennzeichnet. Alle christologischen Einzelaussagen müßten sich demzufolge mindestens einer der beiden, durch die Differenz der Reflexionshinsicht prinzipiell voneinander unterschiedenen Reflexionsreihen zuordnen lassen. In der Tat rechnet Hirsch mit einer solchen fundamentalen Differenz der Reflexionshinsicht u n d deshalb mit zwei christologischen Reflexionsreihen: Die erste "zeichnet Jesu Christi Gottheit in ihrem Handeln an uns", indem sie "genetisch" darlegt, "in welchen ihm eigenen Erfahrungen der Glaube seine Beugung unter Jesus als den Christus, als das Wort Gottes, gerechtfertigt weiß" ( J C h H 54). Die zweite indes "ordnet Gottes Handeln mit seinem Christus in Gottes ganzes Handeln mit der Menschheit ein", indem sie "in einer zusammenhangenden Erkenntnis" klarmacht, wie Gott den Menschen Jesus "durch eine zu Gehorsam bewegende Liebesgemeinschaft zum Gefäß seines eigenen Herzens gemacht hat" (ebd.). Beide Reflexionsreihen beschreiben jeweils die fundamentalen Teilaspekte der Christologie. Als Ganzes repräsentieren sie das spezifische Explikationspotential des christologischen Denkens gegenüber der ihm zugrunde liegenden historischen Wahrnehmung. Damit ist der Unterscheidungsgesichtspunkt der beiden inhaltlichen Lehrstücke des zweiten Hauptabschnittes von "Jesus Christus der Herr" genannt und nach seiner grundsätzlichen Bedeutung eingesehen. Zugleich dürfte an der inhaltlichen Bestimmung beider Reflexionsreihen deutlich geworden sein, daß deren erste schon im Vorigen dargestellt worden ist. Daher wird es im folgenden u m die Erläuterung der zweiten Reflexionsreihe gehen. a) Zur Präexistenzchristologie Hirsch überschreibt den der zweiten Reflexionsreihe gewidmeten Teil seiner frühen Christologie: "Das Handeln Gottes als Grund der Gottheit Jesu Christi" (JChH 72). Diese Überschrift erweist sich auf den ersten Blick als irreführend oder zumindest als unglücklich formuliert, sofern sie dazu veranlassen könnte, Ausführungen zur Grundlegung der Christologie im Sinne des Trinitäts- oder Inkarnationsdogmas der kirchlichen Lehrtradition zu erwarten. Damit hat Hirsch aber - wie wir bereits oben gesehen h a t t e n - nichts im Sinn. An keiner Stelle sonst kommt Hirschs Bemühen u m eine "neue evangelische Christologie" ( J C h H 49), u m eine "Gestalt u n g der Christologie im evangelischen Sinne" ( J C h H 58) bzw. u m einen "neuen dem Evangelium gemäßen Weg, den christlichen Glauben an die Gottheit Jesu Christi in Begriff und Gedanke zu fassen" ( J C h H 49), so sehr z u m Tragen wie hier. Die a m Trinitäts- und Inkarnationsdogma orientierten, nur durch das Maß der Uminterpretation voneinander verschiedenen

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Lehrsysteme stellen für Hirsch keine dem Evangelium gemäßen Explikationsgestalten des Christusglaubens dar. Liest m a n jene Überschrift aber unter diesem Aspekt, dann wird man der Formulierung Hirschs - neben dem Bedürfnis nach Symmetrie bezüglich der Uberschrift des voranstehenden Kapitels - geradezu eine kritisch-polemische Spitze gegen solche christologischen Programme unterstellen dürfen, die das "Handeln Gottes als Grund der Gottheit Jesu Christi" am Leitfaden des altkirchlichen Dogmas zur Geltung bringen wollen. Hirsch hat gegen die im Trinitätsdogma festgeschriebene Präexistenzchristologie den Einwand erhoben, daß sie mit der Benennung der zweiten Person der Trinität als des göttlichen Sohnes den biblischen Sinn des Sohnesnamens gänzlich entstellt habe. Damit steht Hirsch - wie wir des näheren gesehen h a t t e n - weitgehend auf dem Boden von Schleiermachers Kritik der athanasianischen Trinitätslehre und von Harnacks berühmter Hellenisierungsthese. Ein wichtiger Kritikpunkt in Harnacks Gesamtsicht der Entstehung der altkirchlichen Lehrbildung betraf die Ausformung des Christusglaubens durch die Logostheologie im Zeitalter der Apologeten. Harnack sah darin die Entstellung der religiösen Bedeutung Jesu durch spekulative Fragen, vorwiegend kosmologischer Art. Wilhelm Bousset hat in seiner großen Darstellung des Werdens des Christuskultes "Kyrios Christos" die zentrale Stellung der apologetischen Logostheologie durchaus unterstrichen, Harnacks Einschätzung des kosmologischen Motivs jedoch nicht geteilt. In diesem Zusammenhang macht Bousset eine allgemeinere Bemerkung, die sowohl methodisch als auch sachlich für Hirschs Grundlegung der Christologie von Interesse ist. 8 6 "Man darf auch diesen Vorgang nicht so ansehen, als habe sich nun mit einem Male, durch die Herübernahme der Logosformel, gleichsam der Sündenfall des altkirchlichen Denkens in die Spekulation und die Metaphysik vollzogen, und als sei so zum ersten Mal der Weg betreten, der von der Erfassung Gottes in seiner geschichtlichen Offenbarung mehr und mehr in den Irrgarten der Spekulation und des metaphysisch orientierten Dogmas hineinführen sollte. Spekulation und Mythos haben das Christentum von Anfang an begleitet; ein spekulativer Mythos, der von der Person des irdischen Jesu von Nazareth so gut wie ganz abführte, ist bereits die Phantasie vom himmlischen Menschensohn oder Menschen gewesen; spekulativ-metaphysisch ist auch der Begriff des Gottessohnes bei Paulus und bei Johannes, ganz und gar ein spekulativer Mythos ist die Konzeption des Paulus von dem pneumatischen Wesen, das aus Himmelshöhen in diese Welt hinabstieg, uns aus dieser Welt durch Tod und Auferstehung 86

Hirsch hat verschiedentlich zu Bousset Stellung bezogen, kritisch ablehnend (vgl. ZpCh 605 mit 626 Anm. 3; 629 Anm. 25) wie zustimmend überbietend (vgl. FE I, 2 1 2 ) .

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zu erlösen. Von allen diesen Gedankenbildungen unterscheidet sich der Logosgedanke dadurch, daß er etwas weniger mythisch, etwas rein gedankenmäßiger und philosophischer war .... Einen Bruch in der Entwicklung stellt er nicht dar. - Will man durchaus die Stelle aufweisen, wo die Entwicklung des Evangeliums Jesu den Bruch bekommen hat, so liegt dieser ganz in den Anfängen bei der Entstehung des Christuskultus". 8 7 Will man die Umbildung des Christusglaubens zur trinitarisch-spekulativen Präexistenzchristologie theologisch unterlaufen, dann wird man dem von Bousset Ausgeführten zufolge bereits die Anfänge der präexistenztheologischen Überhöhung Jesu in die Kritik mit einbeziehen müssen. Genau diesen Weg ist Hirsch gegangen. Somit stellt sich die Frage nach seiner Deutung der bereits im Neuen Testament vorliegenden Ansätze zur Präexistenzchristologie. Wir beschränken uns hier auf Hirschs diesbezügliche Sicht der paulinischen Theologie. 88 Paulus ist der Schöpfer nicht des Präexistenzgedankens im allgemeinen, wohl aber der Präexistenzchristologie. Das treibende Motiv zur Ausbildung dieses Momentes der paulinischen Christologie entspringt nach Hirsch dem gleichfalls erstmalig bei Paulus zu beobachtenden Programm einer christlichen Geschichtsphilosophie: "Der, der Träger und Bringer des Pneuma in der Fleisch seienden Menschheit ist, der kann nicht Adamskind sein wie wir alle, er muß himmlischen Ursprungs sein" (ZpCh 617). Was die Einschätzung der Reichweite und gedanklichen Durchbildung dieses präexistenzchristologischen Motivs betrifft, so ist für Hirsch entscheidend, daß "über der Präexistenz bei Paulus ein undurchdringliches Dunkel liegt. Er hat keinen Namen für den Vorausdaseienden, keine Erkenntnis über sein Vorausdasein.... Es hat hier für Paulus ... keine Nötigung bestanden, das Denken in das Undurchdringliche zu erstrecken. Das Vorausdasein als solches ist ... ein Geheimnis, ohne dessen Bejahung er sich Jesus nicht als Spender des Gottesgeistes in diese Welt des Fleisches und des Todes vorstellen konnte, und das er stille - man darf wohl sagen: scheu - angebetet hat Alle Spekulationen ... wollen mehr über Paulus wissen, als er uns zu wissen gibt" (ZpCh 620f). Die so bezeichnete Grenze trifft nach Hirsch eindeutig für all die Aussagen bei Paulus zu, die man sonst als Näherbestimmungen des Vorausdaseins Christi heranzuziehen pflegt - mit einer Ausnahme, nämlich K o l l , 15fF. Aufgrund der dogmengeschichtlichen Wirkung dieser Textstelle - sie galt in der Entwicklung der altkirchlichen Trinitätslehre bekanntlich als locus classicus - und wegen der offenkundigen Schwierigkeit ihres Sinnes, sei Hirschs Interpretation derselben ausführlich wiedergegeben. "So viel 87 88

W. BOUSSET: Kyrios Christos 319; Hhg.v.Vf. Zu Hirschs Deutung der johanneischen Logoschristologie vgl. VE 101-105; Lf § 29.A.; ChR I, 94.

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ist zunächst klar, daß der 'Sohn der göttlichen Liebe' (Kol. 1,14) hier nicht aktiv, sondern passiv, Gottes Rat und Willen und Werk erleidend, der ist, durch den und zu dem alles geschaffen ist .... Weiter ist klar, daß unter der Geschaffenheit aller Dinge auf ihn zu gemeint ist, die ganze Welt sei von Gott dazu bestimmt, Jesus Christus als den Kyrios zu bekennen und zu ehren. Muß aber so das 'auf ihn zu geschaffen sein' als der Rat der göttlichen Prädestination aufgefaßt werden, dann bleibt auch für das 'durch ihn geschaffen werden' keine andre Deutung übrig als die prädestinatianische: der Vater ist bei der Erschaffung aller Dinge durch den Blick auf ihn bestimmt, den er als Überwinder der Sünde und des Todes in die Welt senden wird". Für Hirsch ist besagte paulinische Aussage deshalb "ein überschwenglicher Ausdruck für die in der Entgegensetzung von Adam und Christus gegebene Stellung Jesu Christi in der Weltgeschichte. Das einzige Neue an ihr ist, daß deutlich gesagt ist: die Präexistenz hat vor dem Dasein der Welt begonnen, der Präexistente ist also die erstgeschaffene Kreatur" (ZpCh 621). Für eine Erkenntnis des Vorausdaseienden als eines solchen und für dessen Identifizierung mit dem "Sohn Gottes" im Sinne der übrigen Aussagen der paulinischen Christologie gibt also Kol 1, 15ff nichts her. Die spekulative Einschmelzung des Sohnesnamens in die Präexistenzchristologie ist für Hirsch streng genommen erst mit dem Hebräerbrief und dem vierten Evangelium vollzogen. Aber auch bezüglich ihrer müssen noch Einschränkungen gemacht werden, die dann so für die Folgezeit nicht mehr gelten: "Noch liegt bei beiden der Schwerpunkt des Sohnesnamens nicht im Vorausdasein, sondern wie bei Paulus in dem geschichtlichen und erhöhten Herrn; die Schwerpunktsverschiebung ist erst ein Werk späterer Zeit" (ZpCh 622). Auch die biblischen, speziell die paulinischen Ansätze zur Präexistenzchristologie können für Hirsch sonach nicht die Notwendigkeit begründen, die Christologie auf die Ebene einer trinitarisch-spekulativen Ausdeutung des Verhältnisses zwischen Jesus Christus dem Sohn und Gott dem Vater zu heben. 89 Wo hat die reflektierende Deutung des Handelns Gottes als des Grundes der Gottheit Jesu Christi aber dann einzusetzen? Es bleibt keine andere Möglichkeit, als das Gottesverhältnis des Menschen Jesus selber, d.h. vor aller Erfahrung des Glaubens an ihn, zu explizieren. Wie ist dies zu verstehen? Es wäre verfehlt zu meinen, die so gestellte Auf89

Dieses Urteil hat sich in der Folgezeit eher noch verschärft. Aus der Perspektive des "Leitfadens" ist "die Präexistenzchristologie höchstens noch dichterischer Ausdruck für einen geheimnisvollen Tatbestand, keinesfalls Gefäß eigner Wahrheitserkenntnis" (Lf § 25 M.2.). Boussets religionsgeschichtliche Feststellung ist damit als systematische These integriert. Zur paulinischen Präexistenzchristologie vgl. Lf § 25.B; ChR I, 82f.

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gäbe liefe darauf hinaus, das Ansichsetn dieses Glaubens "gegenständes" im Unterschied zu dessen Für-Bezug zu untersuchen. Eine solche Fragestellung wäre deswegen verfehlt, weil es j a gerade zum Wesen jenes Glaubens "gegenständes" gehört, daß der Für-Bezug Moment seiner AnsichBestimmtheit ist. Es kann sich bei der in Frage stehenden Aufgabe also nur u m eine bestimmte Art der Hinsicht auf diesen ebenso an sich wie für uns seienden "Gegenstand" handeln. Das zu klärende Problem muß deshalb folgende Fassung annehmen: Wie kann das Gottesverhältnis Jesu so bestimmt werden, daß dabei abgesehen wird von dessen Funktion, ratio essendi einer auf ihn bezogenen Glaubenserfahrung zu sein? Es liegt auf der Hand, daß eine solche Bestimmung impliziert, daß zugleich abgesehen wird von der Glaubenserfahrung als der ratio cognoscendi jenes Gottesverhältnisses Jesu. Wenn aber diese ratio cognoscendi prinzipiell als Erkenntnisweg ausscheidet, ist dann nicht jeder weiteren Erkennbarkeit des Gottes Verhältnisses Jesu der Weg abgeschnitten? Das wäre in der Tat der Fall, wenn die Glaubenserfahrung den einzigen Weg der Erkennbarkeit des Gottesverhältnisses Jesu darstellte. Dies trifft aber keineswegs zu. Wie Jesus durch sein worthaftes Handeln am Gewissen sich selbst und seine Beziehung zu Gott diesem zu erkennen gibt, ebensosehr macht seine Geschichte kund, wie er selber sein Gottesverhältnis verstanden hat. Das Gottesverhältnis Jesu kann also durchaus erkannt werden, auch wenn m a n absieht von seiner Funktion als ratio essendi der Glaubenserfahrung bzw. umgekehrt von deren Funktion als ratio cognoscendi des ersteren. Die Geschichte Jesu mit Gott darf dabei sehr wohl im Reflex seiner Predigt betrachtet werden, aber sie muß so erfaßt werden, daß dabei sämtliche Faktoren der Bedeutsamkeit Jesu, die aus gläubiger Aneignung dieser Verkündigung resultieren und gewissermaßen durch Rückübertragung ihm zugewachsen sind, planmäßig eingeklammert werden. Die historische Frage nach dem Gottesverhältnis Jesu entspringt sonach einem unmittelbaren Interesse des Glaubens selber, nämlich daraus, den zureichenden Grund der Bestimmtheit seiner Glaubensinhalte nicht in der eigenen Erfahrung, sondern allein im Sein Jesu Christi zu haben. Hat es die Christologie mit dem Handeln Gottes als dem Grund der Gottheit Jesu Christi zu tun, so wird sie demnach ihren Einsatzpunkt bei der historischen Beschreibung der Geschichte des Menschen Jesus zu nehmen haben, und zwar so, daß dabei das Gottesverhältnis dieser Person zur Darstellung kommt.

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b) Das Messiasbewußtsein Jesu Das Messiasbewußtsein Jesu ist für Hirsch die schlechterdings entscheidende Voraussetzung des religionsgeschichtlichen Verständnisses der Geschichte Jesu: "daß er sich als den Christus verstand" ist das "Grunddat u m in Jesu Geschichte ..., an das alles andre sich k n ü p f t " ( J C h H 27). In welchem Sinne darf m a n von einem messianischen Selbstbewußtsein Jesu reden und inwiefern vermag dies die Basis einer religionsgeschichtlichen Deutung der Geschichte Jesu abzugeben? Die Aneignung des Messiasgedankens durch Jesus hält Hirsch aufgrund zweier Sachverhalte für historisch wahrscheinlich: Geht m a n davon aus, daß die Reich-Gottes-Predigt Jesu einen der beiden Schwerpunkte seiner Verkündigung bildete, so impliziert dies zumindest eine Stellungnahme zur traditionellen Messiasvorstellung. "Kein frommer J u d e zu Jesu Zeit konnte sich das kommende Gottesreich denken ohne den Gesalbten Gottes als Bringer und Herrscher" ( J C h H 27). Es gab eine religionsgeschichtlich vorgegebene sachliche Klammer zwischen den Begriffen "Reich Gottes" und "Messias" die es von vornherein erwarten läßt, daß Jesus als der Verkündiger des Reiches Gottes auch die darin implizierte Messiasproblematik wahrgenommen hat. Hinzu kommt ein weiteres: "Die Aneignung des Christusgedankens war für Jesus ... notwendig: die ganze königliche Vollmacht, mit der er sein Wort sagte, die ganze Gewißheit, daß in seiner Sämannsarbeit das Reich Gottes schon heimlich gegenwärtig sei, stehen und fallen mit der Aneignung. ... auch die Vollmacht über die Gewissen, ... die ihre Höhe in der Sündenvergebung hat, hat er als Ausübung der Gewalt des Christus verstanden" ( J C h H 27f). Uber jene allgemeine innere Zusammengehörigkeit von Reich-Gottes-Gedanken und Messiasbegriff hinaus sind speziell Jesu Verständnis des Kommens des Reiches Gottes, sein Wissen u m dessen trotz aller Zukünftigkeit bereits angebrochene, verborgene Gegenwart sowie seine darin gegründete Selbstgewißheit und Vollmacht der Sündenvergebung für Hirsch Indiz dafür, mit einer für Jesus geradezu zwangsläufigen Ü b e r n a h m e des Messiasgedankens zu rechnen. Jesu explizites Messianitätsbewußtsein wird für Hirsch jedoch ausschließlich in dessen Aneignung der Menschensohnvorstellung historisch greifbar. "Soweit wir es sehen können, hat er selbst nur in einer einzigen Selbstbezeichnung seine messianische W ü r d e angedeutet: der Menschensohn, oder gar wie es vielleicht ... in seinem Munde geklungen hat: der Mensch" ( J C h H 28). Die königliche Gewalt des Messias ist damit zurückgenommen auf das "vollkommene Verborgensein der kommenden Herrlichkeit in Unscheinbarkeit", auf die "Gewalt wehrloser Liebe" und auf die "vollkommene Abhängigkeit von Gott" (JChH 29).

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Diese religionsgeschichtliche Behutsamkeit, was das explizite Messianitätsbewußtsein Jesu anbelangt, hat Hirsch niemals beiseite geschoben, eher noch vertieft. Ein Blick auf Hirschs spätere Auffassung mag als Beleg dienen. "Es muß ... als sichere Tatsache der Geschichte Jesu gelten, daß Jesus nirgends in seinem Leben sich als der von Gott zum Messias Bestimmte proklamiert hat und auch nirgends von andern als solcher proklamiert worden ist, daß weder beim Einzug in Jerusalem noch beim Verhör vorm Hohen Rat noch bei der Verurteilung durch Pilatus die Messiasfrage irgendeine Rolle gespielt hat. Auch die Dornenkrone und der Titulus über dem Kreuz gehören der Legende der zweiten christlichen Generation an ... Aber", so fährt Hirsch fort, "mit diesen verneinenden Feststellungen ist die Messiasfrage nicht entschieden" (FE I, 211). Die Äußerung ist weniger ein Selbsteinwand als vielmehr eine Kritik an falschen Schlußfolgerungen, die Julius Wellhausen und Wilhelm Bousset aus jenem negativen Befund gezogen haben. "Sie haben das eigentliche Geheimnis von Jesu Sendungsbewußtsein nicht gesehen. Gerade, was sie nicht Wort haben wollten, daß nämlich Jesus sich sein Schicksal durch Schaffen des Bildes vom leidenden Menschensohn als dem wahren Christus zurecht gelegt habe, ist älteste und von der Gemeindetheologie ganz unabhängige Kunde Wer hier skeptisch sein will, dem muß Gestalt und Geschichte Jesu völlig ins unerkennbare Mythische sich verflüchtigen" (FE I, 212). Um Hirschs Verständnis des Messianitätsbewußtseins Jesu zu würdigen, ist es unabdingbar, zumindest auf die Position Wellhausens einzugehen. 90 Das 24. Kapitel der "Israelitischen und Jüdischen Geschichte" - überschrieben: "Das Evangelium" - beginnt mit folgenden Worten: "Es war während der Regierung des Kaisers Tiberius, als Kaiaphas Hoherpriester, Pilatus Landpfleger in Judäa und Antipas Vierfürst von Galiläa war. Da ging ein Sämann aus, zu säen seinen Samen; sein Same war das Wort, sein Acker die Zeit" (a.a.O. 358). Im Sämannsgleichnis (Mk 4, 3ff) findet Wellhausen Jesu Berufsauffassung am treffendsten auf den Begriff gebracht. Jesus war Lehrer. Was Jesus allerdings lehrte, wird man nicht vorschnell auf ein dogmatisches Programm festzurren dürfen. Er sprach vielmehr "in ungezwungenem Wechsel über dies und über das, je nach Gelegenheit und Bedürfnis aus seinem Schatze hervorholend, was ihm der Geist eingab und was die Leute brauchen konnten" (a.a.O. 360). Jesu religiöse Art, sein kindschaftliches Verhältnis zu Gott, war der Grund seiner Lehre über den Weg Gottes mit dem Menschen. Sein Wort war jedermann unmittelbar begreiflich. Die, die ihn innerlich verstanden, folgten ihm nach, ohne wei90

Vgl. zum folgenden auch E. BAMMEL: Hirsch und Wellhausen.

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tere Gründe. Jesus "war ... kein Woller, kein Umstürzer und Gründer. Er vergleicht sich einem Menschen, der Samen aufs Land wirft, und schläft und steht auf Nacht und Tag, und der Same geht auf und wächst, ohne daß er es weiß" (a.a.O. 366). F ü r Wellhausen war Jesus exemplarischer Repräsentant einer eschatologisch minimal geprägten, ganz und gar unrevolutionären ethischen Religiosität. Was bedeutet dies hinsichtlich des Verhältnisses Jesu zu den beiden Grundbegriffen "Reich Gottes" und "Messias"? Wellhausens Antwort: "Jesus hat sie sich angeeignet, aber über das jüdische Niveau hinausgeschoben. ... Das Reich, das er im Auge hatte, war nicht das, worauf die J u d e n warteten" (a.a.O. 365). Von beiden Voraussetzungen her, dem Selbstverständnis Jesu als eines Lehrers und der umbildenden Aneignung der Gottesreichs- und Messias-Vorstellung, ergibt sich denn auch Wellhausens Urteil über Jesu Verhältnis zur Messias-Rolle: "Er ist nicht gleich anfangs als Messias aufgetreten. Er ist erst zuletzt, seit der Reise nach Jerusalem, vom Volk und von den Jüngern dafür gehalten, und von den Römern deswegen hingerichtet. Er scheint sich in Jerusalem auch selber dazu bekannt zu haben.... Er würde für uns nicht verlieren, wenn er sich auch nicht dafür h ä t t e halten lassen ... Aber unbegreiflich ist es nicht, wenn er den Namen des jüdischen Ideals sich gefallen ließ und doch den Inhalt völlig veränderte ... In dieser Weise pflegt sich der religiöse Fortschritt zu vollziehen" (a.a.O. 365). Paulus machte dann die Umbildung des Messiasgedankens, den er wie vor ihm die Jünger und die Urgemeinde auf Jesus bezog, perfekt: "Der jüdische Messias war in der Tat durch die Kreuzigung vollkommen vernichtet, und ein anderer Messias an die Stelle getreten" (a.a.O. 369). Das 1894 gezeichnete Bild verschiebt sich in der 1905 vorgelegten "Einleitung in die drei ersten Evangelien" nicht unwesentlich. 9 1 Nach der Einzelkommentierung der drei Synoptiker und der damit erfolgten Klärung der text- und literarkritischen Fragen ist Wellhausens historisches Urteil über die Geschichte Jesu erheblich vorsichtiger geworden. Davon sind auch die beiden gerade herausgestellten Themen, die Umbildung des Messiasgedankens und das Selbstverständnis Jesu, betroffen. Wellhausens historisches Urteil ist ganz an Markus als dem ältesten evangelischen Schriftsteller orientiert, dem nicht nur bezüglich des Erzählungsstoffes, sondern auch im Hinblick auf das Redenmaterial (d.h. auch gegenüber der Logienquelle) Priorität zukommt. Bei Markus muß unterschieden werden zwischen Tradition und Redaktion. Das "eigentliche 91

Vgl. auch: Israelitische und Jüdische Geschichte, 358 Anm. 1. Einen Überblick über Wellhausens Evangelienforschung gibt N.A. DAHL: Wellhausen on the New Testament.

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Evangelium von Jesus Christus" (a.a.O. 79) entfaltet er in dem Textblock zwischen Petrusbekenntnis und Passion, also Mk 8,31-10,52, dem sogenannten "Markusnest" (a.a.O. 82). Es hat seine inhaltliche Mitte in dem "scharfen Gegensatz des jüdischen und des christlichen Messias" (a.a.O. 90). Dieser Antithese hegt eine tiefgreifende Veränderung der Messiasvorstellung zugrunde. Für Markus ist Jesus "nicht der Christus, wie P e t r u s nach jüdischer Weise sich vorstellt, der in Jerusalem triumphiren wird; er nennt sich überhaupt nicht den Christus, sondern vielmehr den Menschensohn. Darunter versteht er einen verklärten und himmlischen Messias, im Gegensatz zu dem irdischen der Juden. Er hält es zwar nicht für nötig zu erklären, was er mit der plötzlich und mysteriös auftretenden Selbstbezeichnung sagen will: m a n merkt es aber daraus, daß er sie nur da und immer da s t a t t des einfachen Ich gebraucht, wo Leiden Sterben u n d Auferstehn die Prädikate sind, Prädikate, welche dem herkömmlichen jüdischen Messiasbegriff ins Gesicht schlagen" (a.a.O. 79f). "Als irdischer Messias wird Jesus verworfen, und eben das ist der Weg seiner Erhöhung zum wahren himmlischen Messias" (a.a.O. 90). In dieser für die Christologie des Markusevangeliums zentralen Umdeutung des Messiasgedankens von einem irdischen im Sinne des Frühjudentums zu einem himmlischen im Sinne des Christentums vollzieht sich für Wellhausen "ein ungeheurer Sprung von dem eigentlichen Messias zu einem anderen, der mit ihm nur den Namen gemein h a t t e und in der Tat keiner war" (a.a.O. 91). Aber, und dies ist für die Bedeutung der von Wellhausen aufgezeigten Antithese zwischen frühjüdischem und christlichem Messiasbegriff nicht weniger wichtig: die dem Gegensatz zugrunde liegende Umbildung "läßt sich nicht a priori, sondern nur post f a c t u m begreifen. Durch die Kreuzigung wurde der alte Messias abgetan, und durch die Auferstehung lebte ein neuer auf.... Die Begebenheiten haben die radikale Korrektur des Begriffs herbeigeführt. Die historische Wirkung des Todes Jesu wurde dann in seine Absicht zurückverlegt" (a.a.O. 91). Daraus folgt für Wellhausen, daß die im "Markusnest" ausgesprochene "Korrekt u r des Petrusbekenntnisses erst durch die Ereignisse erfolgte" (a.a.O. 92). Dies mindert aber keineswegs die religionsgeschichtliche Bedeutung der in jenem Textabschnitt ausgesprochenen Umbildung des Messiasbegriffs: "Der Messias am Galgen, eine paradoxe Contradictio in adiecto, wurde das Schibboleth eines enthusiastischen Glaubens und die Grundlage des christlichen Evangeliums" (a.a.O. 91). Was läßt sich nun daraus für das Verhältnis des historischen Jesus zur Messiasrolle folgern? Wellhausen unterscheidet zwei Perspektiven. "Obgleich Jesus erst in folge der Kreuzigung und Auferstehung z u m christlichen Messias verklärt wurde, so kann er doch schon bei Lebzeiten von Petrus und Anderen für den jüdischen Messias gehalten sein. Und das

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ist unleugbar geschehen. Wäre der Gekreuzigte nicht eben als Messias gekreuzigt, so würde das Emporschnellen der niedergedrückten Feder und die Entstehung des Glaubens 'und er ist dennoch der Messias' vollends rätselhaft.... Wie er selber sich dazu gestellt hat, läßt sich schwer erkennen. Jedenfalls proklamirt er sich nicht offen .... Bei dem Verhör vor dem Synedrium und vor Pilatus fällt sein Stillschweigen auf; wenn er sich schließlich in der Tat als Messias bekennt, so tut er es doch nicht frei und unumwunden, und Zweifel daran, daß es überhaupt geschehen sei, lassen sich nicht unterdrücken.... Indessen mit der Widerlegung der Meinung, daß der Christus nach der Schrift der Sohn Davids sein müsse, scheint er doch einen Einwand gegen die Möglichkeit zu widerlegen, daß er selber es sei. Und nach allen Anzeichen hat er nichts dawider gehabt, daß Andere in ihm denjenigen erblickten, der die Hoffnung Israels erfüllen werde. Die Absicht, das Reich Davids aufzurichten, wie sie erwarteten, h a t t e er freilich n i c h t . . . . Er wollte eine religiöse Wiedergeburt seines Volkes anbahnen ... . Es ist zwar eine Akkomodation. Dabei bleibt jedoch der Messias innerhalb der jüdischen Grenzen und wird nicht gradezu in sein Gegenteil verwandelt; die Übernahme des jüdischen Ideals bedeutet nicht eine völlige Absage an das J u d e n t u m , wie sie in dem Begriff des Messias am Galgen, des von den Juden verworfenen Messias, liegt" (a.a.O. 92f). F ü r den historischen Jesus gelangt Wellhausen somit zu dem Ergebnis, daß er selbst kaum ein eindeutiges Messiasbewußtsein besessen hat, und wenn, dann eher im überkommenen, an ihn herangetragenen Sinne. Der Übergang von der irdischen zur himmlischen Messiasvorstellung erfolgte jedenfalls erst nach seinem Tod. Wellhausen hat diese nicht mehr auflösbare historische Ungewißheit bezüglich des Messiasbewußtseins Jesu im Hinblick auf die Beantwortbarkeit der Frage nach Jesu Selbstverständnis überhaupt aber keineswegs als desaströs erachtet. Wellhausen bemerkt hierzu lapidar: "Man hat über 'das Selbstbewußtsein Jesu' bis zum Überdruß viel geredet und geschrieben, dabei aber durchweg das direkteste, echteste und wichtigste Zeugnis, welches in der Säemannsparabel hegt, nicht gebührend gewürdigt" (a.a.O. 94). Wellhausen kommt in der "Einleitung" von 1905 sonach auf eben diejenige Sicht des geschichtlichen Jesus zurück, von der er in der "Israelitischen und Jüdischen Geschichte" seinen Ausgangspunkt genommen hatte. Es zeugt von dem hohen Maß an historisch-kritischem Wahrheitsbewußtsein dieses großen Orientalisten, daß er selbst jene in der ersten Auflage der "Einleitung" auf die Säemannsparabel bezüglich des Selbstbewußtseins Jesu gemünzte Wendung "das direkteste, echteste und wichtigste Zeugnis" in der zweiten Auflage von 1911 (vgl. a.a.O. 84) noch einmal ge-

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tilgt hat, obwohl sich an der sachlichen Bedeutung jenes Gleichnisses im Hinblick auf Jesu Berufsverständnis für ihn nicht das mindeste geändert hatte. Wellhausens These vom Gegensatz zwischen irdischem und himmlischem bzw. frühjüdischem und christlichem Messias ist ein zwiefaches Schicksal zuteil geworden. Bultmann 9 2 hat sie rundweg bestritten, Hirsch hat sie zum Angelpunkt seiner Deutung der Geschichte Jesu gemacht. Auch Hirsch mißt dem von Wellhausen als "Markusnest" betitelten Textabschnitt Mk 8, 31-10, 52 große Bedeutung zu. Im Vordergrund der Betrachtung steht - in Ubereinstimmung mit Wellhausen - "das unerhörte Bild des von den Juden verstoßenen und von Gott in Leiden und Tod gegebnen Menschensohns" ( F E I, 211). Ebenfalls einig ist sich Hirsch mit Wellhausen, daß das nach vorne eindeutig abgegrenzte Bekenntnis zur Messianität Jesu durch Petrus (Mk 8, 27-30) 93 von der nachfolgenden Stellungnahme (Mk 8, 31-33), in der Jesus das Bild des leidenden Menschensohnes entfaltet und dessen Ablehnung durch Petrus als satanisch zurückweist, nicht getrennt werden darf, da "die echten literarischen Einzelbeobachtungen keinerlei gewaltsamen Eingriff rechtfertigen" ( F E I, 89). Eine Differenz zwischen Wellhausen und Hirsch besteht lediglich darin, daß Hirsch die Korrektur des Messiasbildes Jesus selbst zuschreibt, während Wellhausen - wie oben gezeigt - sie für eine post f a c t u m vorgenommene hält. Beide veranschlagen also das sachliche Gewicht des Gegensatzes zwischen der frühjüdischen Messiashoffnung und der christlichen Vorstellung vom leidenden Menschensohn gleich hoch. Der Unterschied betrifft allein die Frage seiner geschichtlichen Verortung: Wellhausen hält ihn für ein nachösterliches Theologumenon, Hirsch für eine genuine Einsicht Jesu. Was die Authentizität der scharfen Replik Jesu auf Petri Festhalten a m herkömmlichen Messiasbild anbelangt, an der Hirschs von Wellhausen differierende historische Verortung zu einem guten Teil hängt, konnte Hirsch auf diesbezügliche Erwägungen Karl Holls 94 verweisen. 92 93

94

Vgl. Theologie des Neuen Testaments 6 , 29f. Hirsch versteht das Messiasbekenntnis des Petrus als Identifizierung Jesu mit dem "zum Christus Bestimmten" (FE I, 211), deutet die Verwendung des Hoheitstitels an dieser Stelle also im Sinne des Harnackschen Begriffs des "Messias designatus" (vgl. LD I, 73f). Vgl. Holls Auseinandersetzung mit Bultmann, der die Authentizität jener Stelle bestreitet: "Wenn irgend etwas den Stempel des geschichtlich Echten an sich trägt, so diese jäh ausbrechende Leidenschaft gegen den eben noch so hoch geehrten Jünger. Und wer von der Urgemeinde hätte es sich herausnehmen dürfen, den gefeierten Κηφα,ς einen Satan zu schelten? ... Mir scheint, wer diese Erzählung frei gedichtet hätte, der müßte fast ein Mann gleichen Ranges mit Jesus gewesen sein" (Ges. Aufs. Bd II, 16f).

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c) Jesu Leiden und Sterben Der alles entscheidende Abschnitt der Geschichte Jesu, den es im Lichte seines Messianitätsbewußtseins zu deuten gilt, ist sein Leiden und Sterben. An der Erschließung der inneren Stimmigkeit dieser Lebensphase hat sich die Rekonstruktion der eigentümlichen Bestimmtheit seines Selbstverständnisses zu bewähren. Derjenige religionsgeschichtliche Sachverhalt, von dem nach Hirsch jede Deutung der Passion Jesu ihren Ausgang zu nehmen hat, ist der gerade skizzierte Gegensatz zwischen dem Messiasbild Jesu und dem der frühjüdischen Messiaserwartung. In diesem Gegensatz hat auch die religiöse Verweigerung der Zeitgenossen gegenüber Jesus ihren letzten Ursprung. Jesu Verharren in seinem Messianitätsbewußtsein trotz jener Verweigerung mußte schließlich seinen förmlichen Ausschluß aus der Kultgemeinde zur Folge haben. "Israel verwarf Jesus u m seines Bußrufs und seines Vergebungswortes willen. Es konnte in dem die Sünder rufenden barmherzigen Vater den Hochgelobten und Heiligen, in dem Gottesreiche der Gleichnisse die Hoffnung der Verheißung, in dem unscheinbaren Menschensohne seinen Gesalbten nicht wiedererkennen.... Daß er dennoch an seinem Worte festhielt, es gar wagte, auf Israels Verhalten als auf eine Verstockung mit der Gerichtsankündigung zu antworten, das mußte seine Verfluchung, seine Ausstoßung aus Israel und seine Überantwortung in der Heiden Hände bewirken" (JChH 31). Diese Verweigerung gegenüber seinem Vollmachtsanspruch h a t t e Rückwirkungen auf Jesu Messianitätsbewußtsein. Jesus kann nur so seiner Sendung nachkommen, daß er zugleich deren Scheitern gewahren muß. Die Diskrepanz zwischen göttlichem Sendungsauftrag und tatsächlichem Mißerfolg wird von Jesus als Anfechtung in seinem Sohnesbewußtsein erlitten. "Die Gewißheit, der heimliche Anfang des Gottesreichs zu sein, das Gott vom Himmel her offenbaren und vollenden werde, war erschüttert, wenn dieser Anfang dem Verderben überliefert wurde.... Das große furchtbare Umsonst, das ihm widerfuhr, schien sein Sohnesbewußtsein zu verneinen. ... Gottes Werk und Sache kann aber nicht mißlingen ... War dann nicht also erwiesen, daß sein ganzes Leben mit dem Vater, all sein Beten und Gehorchen und Dienen, all seine Erkenntnis Gottes als der den Sünder annehmenden Barmherzigkeit, Trug und Selbsttäuschung war? Diese Anfechtung ist sein Leiden gewesen. Es hat nicht erst in Jerusalem begonnen" ( J C h H 31f). Auf unerklärliche Weise überwindet Jesus diese Anfechtung seines Messiasbewußtseins und wird weder an seiner Sohnschaft noch an seiner Sendung irre. "Mit einer Schlichtheit und Wehrlosigkeit, der m a n

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nichts anmerkt von dem Kampfe dieser Anfechtung, bleibt er der Sohn, der den Menschen das Wort des Vaters sagt, und ergreift im Gehorsam eben das ihn zernichten wollende Kreuz als die Erfüllung seiner königlichen Sendung" (JChH 32). Der eigentliche Gewinn der Anfechtung und ihrer Überwindung besteht für Jesus darin, daß er sich durch diese Erfahrung über die Konsequenzen seiner Sendung bis ins Letzte hinein klar wird. Dies prägt die Bestimmtheit seines Wortes und das Verständnis der eigenen Geschichte. Einerseits treten Bußpredigt und Reichgottesverkündigung nach ihrer ursprünglichen Intention immer deutlicher zutage. "Die Unerbittlichkeit, mit der er ... den Führern des Volks eine klare Entscheidung für oder gegen ihn aufzwingt und so den ihn verstoßenden und zerstörenden Willen bloßstellt, vollendet seinen Bußruf zur schneidenden Schärfe des Gerichts. Die Unbeirrbarkeit ..., mit der er ... dienend sich in den Tod gibt, ... vollendet seine Botschaft vom Reiche zu einem überschwenglichen Zeugnis von Gottes nie verlöschender Güte und Barmherzigkeit" (JChH 3f). Andererseits wird sein Leidensweg für ihn zur tätigen, gehorsamen Erfüllung seiner messianischen Sendung. Von letzterem her erschließt sich auch der Sinn der Passion. Jesus "hat seinen Untergang nicht bloß erlitten, er hat ihn zu einem sichtbaren Zeichen gestaltet.... Daß er getötet wurde, das war ihm ohne seinen Willen durch den Gott gegeben, der ihn unter diesen Menschen das Wort verkündigen hieß. Daß er aber in Jerusalem, am höchsten Fest Israels und infolge eines feierlichen Beschlusses des Hohen Rates getötet worden ist, das ist das Werk seines aneignenden Gehorsams" (JChH 33). Im Lichte dieses Gehorsams wird die Geschichte seines Leidens zu einem vor Gott verantworteten Handeln, zu einer "in sich ganzen Tat" (ebd.). Jesu Bejahung seines Leidens zeigt aber auch, daß "er das Schicksal des Mißerfolgs und Untergangs nicht als etwas Widergöttliches ... empfunden hat, sondern als den Willen des Vaters selbst, den er sich ganz zu eigen machen durfte, nein mußte, wollte er anders den Sohnesgehorsam bis ins Letzte durchführen" (ebd.). Die tathafte Übernahme seines Leidens gehörte für Jesus unmittelbar zur frei bejahten Erfüllung seines Sohnesgehorsams. Indem Jesus im frei bejahten und tathaft gestalteten Weg seines Leidens die tiefste Bewährung seines Sohnesgehorsams erblickt, hat sich ihm zugleich die abschließende Klärung des Messiasgedankens vollzogen. Nur durch eine vollständige Umbildung dieser Vorstellung konnte er sich und den anderen die Verträglichkeit und innere Zusammengehörigkeit von Messianität und Todesweg gedanklich zurechtlegen. "Wollte er die Geschichte, die Gott ihm ... gab, ... in Wahrheit sich aneignen ..., so mußte er den Christus und das Kreuz ... zusammendenken" (JChH 32f). Indem er das ihm auferlegte Leiden als von Gott zugedacht und dessen innere Annahme

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als Erfüllung seines Gehorsams deutet, "läßt er uns wahrnehmen, daß ihm der Christus und das Kreuz wirklich zur Einheit geworden sind" ( J C h H 33). Die in Jesu tätigem Sohnesgehorsam innerlich geborene, im Horizont frühjüdischer Reich-Gottes- und Messiaserwartung völlig "unfaßliche Tatsache eines leidenden Christus" (JChH 34) ist somit nichts anderes als "die einfache Bewährung seiner Fassung des Menschensohns, die einfache Vollendung seines Bildes vom Christus" (JChH 33). Sie ist zugleich das organisierende Zentrum, von dem her die Passion Jesu begriffen werden muß: "Das Christusbild, darin er sich ... erkannte, ist der Grund seiner Geschichte, d.i. seines Leidens und Sterbens geworden" ( J C h H 31). Indem das von Jesus selbst geprägte Christusbild zum inneren Grund seiner Passion geworden ist, erweist sich Jesu messianisches Selbstbewußtsein in der Tat als "das G r u n d d a t u m in Jesu Geschichte" (JChH 27). Es wäre nun müßig, an jeder Stelle der Darstellung im einzelnen nachzurechnen, inwieweit Hirsch mit seiner Deutung über den Bereich des von ihm selbst als quellenmäßig verbürgt Erachteten hinausgeht. Daß er es t u t , weiß er selbst. Daß er damit dennoch im Rahmen einer streng religionsgeschichtlichen Deutung verbleibt, ist sein Anspruch. Von den allgemeinen hermeneutischen Grundlagen dieses Vorgehens soll im nachfolgenden Kapitel die Rede sein. Im vorliegenden Zusammenhang kann es allein u m eine Klärung des in Hirschs Darstellung zur Anwendung kommenden konkreten Interpretationsverfahrens gehen. Zunächst fällt auf, daß Hirsch den Zusammenhang der Geschichte Jesu keineswegs der überlieferten Reihenfolge "biographischer" Einzelvorkommnisse entnimmt, sondern ihn vielmehr aus dem rekonstruierten Selbstverständnis Jesu gewinnt. Dieses wird für ihn zum Maßstab der erstrebten inneren Folgerichtigkeit der Darstellung. Weiterhin ist hervorzuheben, daß das so als Prinzip der narrativen Synthesis fungierende Selbstverständnis Jesu nicht aus biographisch verbürgten Ereignissen der Selbstbekundung Jesu als solchen geschöpft ist, sondern aus den als wesentlich erachteten Bestandteilen seiner Predigt herausgefiltert wurde. Die Rekonstruktion des Sinnzusammenhanges der Geschichte Jesu aus dessen Selbstverständnis ist somit nichts anderes als eine Deutung seiner Geschichte in der Perspektive seines Wortes. Wie ist diese Art der Deutung hermeneutisch einzuschätzen? Das von Hirsch angewandte Interpretationsverfahren wird vielleicht plastischer, wenn m a n es vor dem Hintergrund derjenigen hermeneutischen Leitgesichtspunkte betrachtet, die Albert Schweitzer in der "Geschichte der Leben-Jesu-Forschung" zur Anwendung gebracht hat. Hinsichtlich seiner Deutung der Verkündigung Jesu weiß sich Schweitzer vor allem Johannes Weiß verpflichtet, dessen Darstellung des eschatologischen Charakters der

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Predigt Jesu er gerade wegen der Einseitigkeit der Hervorhebung dieses Momentes epochale Bedeutung beimaß (vgl. a.a.O. 251f). Schweitzer selber macht sich diese Einschätzung zu eigen, da er sie als Befreiung vom dogmatisch-historischen Jesus-Bild der Ritsehl-Schule empfindet. Zugleich verspricht er sich davon als Neutestamentler einen Ausweg aus denjenigen Aporien, in die er die Erforschung des Markusevangeliums durch William Wredes Arbeit gebracht sieht (vgl. a.a.O. 388). Schweitzer geht nun aber über Weiß' Einschätzung des Stellenwerts der Eschatologie noch ein gutes Stück hinaus, indem er nicht nur die Predigt Jesu, sondern auch seine Geschichte im Lichte jener eschatologischen Grundüberzeugung sich abspielen sieht. In eben diesem interpretatorischen Überschritt sieht Schweitzer das Besondere der von ihm vertretenen "konsequenten" (a.a.O. 402) Eschatologie. Auf Schweitzers Deutung der - seiner Meinung nach - strikt eschatologisch bestimmten Biographie Jesu braucht hier nicht näher eingegangen zu werden. Von besonderem Gewicht ist für uns jedoch das von Schweitzer ben a n n t e Ausgangsproblem, das ihn zur Entwicklung seines Modells der konsequenten Eschatologie geführt hat. Die Kritik an Johannes Weiß betrifft weniger inhaltliche Probleme, als vielmehr hermeneutische Fragen. Schweitzer sagt von der Weiß'schen Position: "Man ließ Jesum in einigen Hauptstücken seiner Lehre eschatologisch denken und reden, stellte aber im übrigen sein Leben ebenso uneschatologisch dar, wie die modernhistorische Theologie es t a t " (a.a.O. 402). Und nun folgt der entscheidende Einwand: "Die Lehre des Nazareners und die Geschichte seines Wirkens waren in verschiedenen Tonarten gesetzt" (ebd.). Was Schweitzer also an jener Position bemängelt ist dies, daß sie die von ihr rekonstruierte eschatologische Lehre Jesu überhaupt nicht auf die Möglichkeit einer wie auch immer gearteten - Kongruenz mit der Geschichte Jesu hin befragt, sondern die Lehre gleichsam spröde zur Geschichte ihres Trägers in Beziehung setzt. Man mag Schweitzers konsequente Eschatologie exegetisch bewerten wie m a n will: In hermeneutischer Hinsicht wird man das von ihm vorgebrachte methodische Postulat der interpretatorischen Verschränkung der Lehre mit der Geschichte des Trägers der Lehre als einleuchtend zu beurteilen haben. Jede zusammenhängende Deutung des Wortes Jesu, welche dieses von seiner Geschichte separiert oder es zu ihr in das Verhältnis der Indifferenz stellt, wird schon aus rein hermeneutischen Gründen als fragwürdig erscheinen müssen. Hirsch hat die Uberzeugung vom angeblich durch und durch eschatologischen Charakter der Verkündigung Jesu nicht geteilt. Er ist hierin Wellhausen gefolgt, der in Frontstellung zur religionsgeschichtlichen Schule immer darauf hingewiesen hat, daß die literarisch älteste Redenquelle in-

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nerhalb des Synoptikerbestandes, das Markusevangelium, 9 5 der Eschatologie ein auffallend geringes Gewicht beimesse, das allerdings mit dem Fortgang der Tradition zunehme. Wellhausen hat daraus geschlossen, daß sowohl in der Gemeindetheologie als auch bei den Redaktoren ein wesentlich ausgeprägteres Interesse an der Eschatologie vorhanden gewesen sein müsse als bei Jesus selbst. 9 6 Diese Einschätzung einer relativ geringen Bedeutung der Eschatologie innerhalb der Predigt Jesu und einer auffallenden Zurückhaltung hinsichtlich der Ausgestaltung von Zukunftsvorstellungen - gemessen an frühjüdischen Parallelen - ist für Hirsch immer verbindlich geblieben. Gleichwohl hat er sich die dem P r o g r a m m der konsequenten Eschatologie innewohnende hermeneutische Einsicht mit ihrem methodischen Postulat der interpretatorischen Verschränkung von Lehre und Leben voll und ganz zu eigen gemacht. Hirschs hermeneutische Grundthese lautet demgemäß: "Nur in ihrer inneren Einheit gesehen machen Jesu Wort und Jesu Geschichte ihn wirklich offenbar Muß darum die Darstellung auch notgedrungen Wort und Geschichte nacheinander behandeln, so darf sie das doch nur tun, wenn sie der Sache nach u m so inniger eins ins andre bindet, eins im andern schaut" ( J C h H 9f). Wie das Verständnis seines Wortes ohne seine Geschichte leer bliebe, so erwiese sich umgekehrt die Betrachtung seiner Geschichte ohne sein Wort als blind. Die darum postulierte Ineinanderschau von Lehre und Leben, Wort und Geschichte stellt geradezu Hirschs hermeneutische Grundoperation dar. 9 7 Von ihr soll hier nur insoweit die Rede sein, als Hirschs Deutung der Geschichte Jesu davon unmittelbar tangiert wird. Und dies ist im Hinblick auf das Verständnis der Passion Jesu in hohem Maße der Fall: "Sein Wort allein macht kund, welchen Willen er in sein Tun und Leiden gelegt hat. Man kann sein Kreuz nur aus seinem Worte verstehen ... Ohne sein Wort ist's nicht kenntlich als das Kreuz des Christus, wäre ein Unterschied von andern Gekreuzigten bloß in dichtender Willkür vorhanden" ( J C h H 9). Jesu Wort erweist sich somit als derjenige Kommentar, der seine Geschichte allererst zum Sprechen bringt. Diese hermeneutische Maxime wäre jedoch methodisch unfruchtbar, wenn sie sich nur im allgemeinen b e h a u p t e n ließe, ohne zugleich im Hinblick auf die Besonderheit seiner 95

Vgl. WELLHAUSEN: Einleitung 78.

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Jesus hat für Wellhausen "nichts von einem ekstatischen Schwärmer an sich, nicht einmal von einem Propheten. Jedenfalls kann die eschatologische Hoffnung ihre Intensität, welche darauf beruht, daß sie sich an die Person Jesu heftete, erst durch die ältesten Christen bekommen haben" (a.a.O. 96). Sie ist gewissermaßen die Transposition von Schleiermachers christologischer Grundregel der Verschränkung von Christi Tätigkeit und Würde in die Sphäre der historiographischen Hermeneutik.

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Leidensgeschichte das Verstehen weiterzubringen. Daß sie gerade hier ihre Bewährungsprobe besteht, ist für Hirsch eines der stärksten Argumente für sie. Hirsch expliziert sie d a r u m an Jesu Verhältnis zu seinem Kreuzestod. "Darf man, m u ß m a n ... nicht sagen, daß er eben in diesem seinem Tode auf unbegreifliche Weise eines geworden ist mit seinem Worte? Das Tiefste in seinem Worte, das, worin alles andre mit umfaßt ist, ist das Bild des Gottes, der strenger Richter und barmherziger Vater in einem ist. Auf seinem Kreuzeswege tut Jesus nun so, wie sein Wort es vom Vater sagt. Er macht das Gericht offenbar über die Sünde, - einfach indem er sich ihr stellt.... Er macht die Barmherzigkeit Gottes offenbar ..., - einfach dadurch, daß er in Anfechtung und Todesnot hoffende, schenkende Liebe ist" ( J C h H 35). Kriterium der in jener hermeneutischen Verschränkung erzielten inneren Stimmigkeit von Wort und Geschichte Jesu ist also das Maß der Verstehbarkeit seines Kreuzes. "In der Geschichte, in die es ihn hineinführte, ist seine Einheit mit seinem Worte, d.h. die Tiefe seiner königlichen Gewalt, und der Widerstreit seiner Gestaltung des Christus mit der jüdischen, d.h. die Tiefe seiner wehrlosen Demut und seiner gehorsamen Hingabe, erst ganz offenbar geworden" ( J C h H 31). Hirsch sieht Jesu Selbstbewußtsein geprägt durch das Bild des leidenden Menschensohns. Dieses Messiasbewußtsein wird ausschließlich aus der Predigt Jesu gewonnen und von hier aus dann zur Interpretationsbasis seiner Geschichte gemacht. Hirschs Deutung der Geschichte Jesu hat mit der naiven Voraussetzung einer intakten Chronologie und eines authentisch dokumentierten unmittelbaren Selbstzeugnisses Jesu nichts gemein. Sie ist vielmehr das Resultat einer hochgradig reflektierten hermeneutischen Grundkonzeption. d) Die hermeneutische Amphibolie der Person Jesu Die religionsgeschichtlich nachzeichenbare Seite der Geschichte Jesu mit Gott hat gezeigt, wie Jesus auf seinem Gang in den Kreuzestod selber immer mehr z u m Bild desjenigen Gottes wurde, dessen Wille und Wesen er in seiner Predigt vergegenwärtigt hatte. So ist Jesu Leidensweg im Kontext seines Wortes zur "Offenbarungsgeschichte" ( J C h H 33) geworden. Damit ist zugleich deutlich geworden, worin das Herrsein Jesu über Glaube und Gewissen seine ratio essendi hat: nicht in einer eigenherrlichen Selbstermächtigung Jesu zu einer gottähnlichen messianischen Stellung, sondern in der schlechthinnigen Vertiefung seines Sohnesgehorsams zur selbstlosen Erfüllung seiner Sendung im Tod am Kreuz. Damit rückt aber Jesu Kreuzestod in eine merkwürdig zweideutige Perspektive. Sie zu umschreiben führt unmittelbar hinein in die eigentliche

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Schwierigkeit der reflektierenden Durchdringung der Geschichte Jesu mit Gott. Betrachten wir zunächst die Bedeutung des Kreuzes. "Wir haben das Kreuz Christi verstanden als vollendeten Erweis seiner Gottheit an unserm Herzen, wir fanden Gottes Gericht und Gottes Barmherzigkeit im Gekreuzigten zu uns reden. Unmittelbarer können wir ihn nicht mit Gott eines und uns gegenübersetzen. Um aber diese Aussage verständlich zu machen, haben wir uns in das Herz des Gekreuzigten versenkt und gesehen, wie seine Liebe ganz Gebet und Gehorsam gegen seinen Vater ist. Damit sind wir denn aber hinübergeglitten zu einer entgegengesetzten Betrachtung. Statt seinen Willen einfach als den zu uns kommenden göttlichen Willen zu nehmen, achten wir auf Jesu Geschichte mit Gott und sehen ihn in einem Gebetskampfe die Anfechtung überwinden und des Vaters Willen sich unterwerfen. Eben in dieser zweiten Betrachtung aber scheint die ganze Tiefe des Kreuzesgeheimnisses erst zu liegen" (JChH 75). Auf das Inhaltliche brauchen wir hier nicht mehr näher einzugehen. In formeller Hinsicht, nämlich was die grundlegenden Verstehensperspektiven betrifft, vollzieht sich die Deutung des Kreuzes Christi offensichtlich in einer "zwiefachen Betrachtung" (ebd.). Nach ihr wird Jesus einmal als auf der Seite Gottes stehend, d.h. als ein Gegenüber des Menschen angesehen, das andere Mal als Gegenüber Gottes, d.h. als auf der Seite der Menschen stehend angeschaut. Erst im wechselseitigen sich Durchdringen dieser beiden Ansichten realisiert sich das volle Verständnis des Kreuzes. Man kann somit hinsichtlich der Verstehensmöglichkeit der Person Jesu und seiner Geschichte von einer hermeneutischen Amphibolie sprechen. Dieser Sachverhalt gilt aber nicht nur für die Bedeutung des Kreuzes, sondern für Jesu Stellung überhaupt. "Die Herrschaft Jesu über uns ist Gottes Gabe. Gott hat sie ihm gegeben als dem gehorsamen Sohne, der ganz des Vaters Willen t u t " (JChH 72). Wieder liegt jene Amphibolie vor. Sie äußert sich darin, daß wir Jesus "einmal als den Herren, d.i. als den, der uns an Gottes Statt steht, bekennen und ihn dann doch als den gehorsamen Sohn verstehen, der mit uns Gott gegenübersteht" ( J C h H 75). Methodisch entscheidend ist zunächst, daß diese hermeneutische Amphibolie der Person Jesu offenkundig in einem engen Zusammenhang steht mit der oben verhandelten Duplizität der christologischen Reflexionshinsicht und der daraus resultierenden Einteilung der Christologie in zwei Reflexionsreihen. Auf die hermeneutische Amphibolie der Person Jesu bezogen, bedeutet jene Unterscheidung zweier Reflexionsbewegungen: "Die erste Bewegung geht auf Jesus Christus als auf den, der mit Gottes Willen völlig geeint ist und uns an Gottes Statt gegenübertritt ... Die andre Bewegung dringt in die geheimnisvolle Geschichte ein, die auf dem Grunde dieser Einheit verborgen liegt, und stellt Jesus Christus daher Gott gegenüber" (JChH 54). Wenn ein solcher Zusammenhang besteht, dann

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ist damit aber zugleich gesagt, daß die christologische Reflexion nicht bei der Beschreibung jenes amphibolischen Sachverhaltes stehen bleiben kann, sondern daß sie das hinter ihm stehende kategoriale Problem als solches thematisieren muß. Die Amphibolie der Person Jesu besteht streng genommen daxin, daß sich seine Bedeutung nur in einer "rätselhafte[n] Spannung und Verbindung von Einheit mit Gott und Gegenüber zu Gott, von Herr sein und Sohn sein" (JChH 76) erschließt. Sofern die dem Glauben eigene Erfahrung Jesu als des Herrn ihrerseits aber in der Wahrnehmung des Sohnesgehorsams Jesu auf seinem Weg zum Kreuz gründet, ist jene Amphibolie der Person Jesu genau "die Gestalt, in der eine auf Wahrnehmung sich aufbauende Erkenntnis die Grundschwierigkeit der christologischen Frage schaut" (ebd.). Handelt es sich bei dieser Amphibolie nun um einen "Widerspruch" (JChH 75), der die Christologie als ein theoretisches Gebilde sprengt, oder läßt sie sich in einer Weise entfalten, die sowohl den Bedingungen diskursiver Konsistenz als auch dem hinter jener Amphibolie stehenden Sachproblem gerecht wird? Wegen dieser Verschränkung von Sachproblematik und kategorialem Status stellt diese Frage denn auch "die Hauptprobe jedes christologischen, vielleicht gar jedes theologischen Denkens" (ebd.) dar. Systematisch betrachtet geht es bei der Amphibolie der Person Jesu um genau diejenigen Probleme, die - mutatis mutandis - von der traditionellen Christologie innerhalb der Zwei-Naturen-Lehre verhandelt wurden. Hirsch geht die Lösung des in Frage stehenden Problems an unter Zugrundelegung eines Begriffs, der seinem gedanklichen Gehalt nach der Lutherdeutung Karl Holls98 entnommen ist. Es handelt sich um den Begriff der Antinomie, der im späteren Denken Hirschs unter wahrheitstheoretischen Voraussetzungen zum theoretischen Begriff par excellence geworden i s t . " Hirschs Grundthese lautet: "Wo immer ein Mensch zu dem lebendigen Gott betet, wo immer ein Mensch etwas von Gott erkennt und aussagt, da ist die gleiche Antinomie, daß Gottes Leben eingegangen ist in das der Kreatur". Demzufolge ist die Antinomie die "notwendige Form aller gegebenen und empfangenen Gottesoffenbarung und aller persönlichen Gottesgemeinschaft" (JChH 52f). Es ist wichtig zu sehen, daß der Antinomiebegriff im frühen Denken Hirschs sich nicht - wie man vielleicht vermuten könnte - erkenntnistheoretischen Fragestellungen verdankt, etwa hinsichtlich der Denkbarkeit eines Begriffs des Absoluten, sondern daß er der theologischen Beschreibung einer Aporie innerhalb der Struktur des Gottesverhältnisses dient, wie es allen Formen persönlicher Religion 98 99

Vgl. oben Abschnitt A. 2. Vgl. unten Kap. IV.B.3-5.

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zugrunde liegt. "Alle persönliche Religion, die ernstlich den lebendigen Gott denkt, beschließt eine Antinomie in sich, denn sie setzt Beziehung und Gemeinschaft zwischen Schöpfer und Geschöpf" ( J C h H 78). Die solchermaßen für jede Form von persönlichem Gottesverhältnis n a m h a f t gemachte Aporie resultiert näher betrachtet aus einem Antagonismus, der unmittelbar mit der inhaltlichen Bestimmtheit der beiden zueinander in Beziehung tretenden Relate zusammenhängt. Für deren Verhältnis gilt nämlich: "Gott und Kreatur sind schlechthin Gegensätze. Es bleibt ein durch keine Kunst des Gedankens bezwinglicher Widerspruch, sie in eins zu setzen" (JChH 52). Die Alleinwirksamkeit des Schöpfers, die schlechthin alles bedingt und alles schlechthin bedingt, auf der einen Seite, und der das Geschöpf kennzeichnende vollständige Mangel an selbständigem Sein, der mit dessen schlechthinnigem Gewirktsein durch den Schöpfer gesetzt ist, auf der anderen Seite: beide Eigenschaften machen eine Relation zwischen Schöpfer und Geschöpf undenkbar. Der Schöpfer nimmt als alleinbedingender durch sein Alleinbedingen dem schlechthin bedingten Geschöpfeben dasjenige In- und Von-sich-Sein, welches erforderlich wäre, u m ihm gegenüberstehen bzw. als selbständiges Relat der zwischen beiden als bestehend vorausgesetzten Beziehung fungieren zu können. Diese Aporie des Gottesverhältnisses läßt sich auf folgende Formel bringen: "Das Geschöpf ist nichts gegen den Schöpfer und soll doch nun sogar eine Person gegen ihn sein" ( J C h H 78). Die Einführung des Weltbegriffs als einer Vermittlungsinstanz bezüglich dieser Aporie würde für den hier zu erörternden Problemzusammenhang nichts austragen. Denn zur Debatte steht nicht die Denkbarkeit des In-Gott-Gegründetseins der Welt als ganzer samt der für jeden einzelnen Teil der Welt sich daraus ergebenden Kreatürlichkeit, sondern es geht u m die gedankliche Möglichkeit eines ebenso individuierten wie unmittelbaren Kreaturverhältnisses zwischen Geschöpf und Schöpfer. Letzteres Problem ist deshalb unausweichlich, weil subjekthaft verfaßte Kreatur sich notwendigerweise als unmittelbar und individuell auf Gott bezogene muß wissen können, sofern ihr Kreaturverhältnis zu Gott der Bedingung der Gewissensbestimmtheit genügen soll. Im Gottesverhältnis des Gewissens weiß sich die zu Gott in Beziehung stehende Instanz ebenso als in sich einige wie als in direktem Verhältnis auf ihr Gegenüber bezogene. Insofern stellt die aus dem qualitativen Gegensatz von Schöpfer und Geschöpf resultierende Undenkbarkeit eines durch Geschöpflichkeit bestimmten, unmittelbaren, individuierten Gottesverhältnisses eine spezifische, und zwar unhintergehbare Aporie jeder Gestalt von personaler Religion dar. Aber trotz dieser jede Möglichkeit von Beziehung ausschließenden Inkommensurabilität der Relate wird das in Frage stehende individuelle Got-

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tesverhältnis von dieser ihm eigenen Aporie dennoch nicht beseitigt. Denn der qualitative Gegensatz von Schöpfer und Geschöpf, der seiner Qualität nach die Aporie erzeugt, bringt als Gegensatz formal zugleich auch Beziehung hervor und setzt strukturell Beziehung genau da, wo er materiell dieselbe aufhebt. Beides, das Aufheben und das Setzen von Beziehung vollbringt er in ein und demselben Moment, wenn auch in verschiedener Hinsicht. Nach dieser zweiten Seite betrachtet, hegt die Bedeutung der Antinomie für die Möglichkeit eines personalen Gottesverhältnisses somit darin, daß vermittelst ihrer - unbeschadet der ihr innewohnenden Negativität - "Gott uns, seine Kreaturen, von sich etwas ahnen und ein Verhältnis zu ihm haben läßt" ( J C h H 52), so daß also "diese Antinomie es nicht aufhebt, sondern gerade bewährt, daß Gott sich uns vernehmlich macht" ( J C h H 53). Und mit einem Seitenblick auf die Kierkegaard-Rezeption seiner theologischen Zeitgenossen 100 kann Hirsch sagen: "Wer die Antinomie wahrhaft versteht, der weiß, daß wir da wo sie sich vollendet nicht das leere unsinnige Paradox, sondern das ins Wort gefaßte geist- und sinnerfüllte Leben Gottes haben" (ebd.). Denn nach ihrem Beziehung setzenden Aspekt kommt der Antinomie tatsächlich eine Erschließungsfunktion im Hinblick auf Gott zu. "Wo immer sie in Wahrheit ist, da ist Gottes sich uns erschließende Gnade" (ebd.). Die Antinomie des Gottesverhältnisses, welche zwischen den beiden Relaten Gott und Mensch Beziehung ebensowohl setzt wie aufhebt, hat sonach die logische Form der Widerspruchseinheit. Sie ist die Spannungseinheit wechselseitig sich ebenso fordernder wie ausschließender Momente: Die Einheit der Antinomie kann nur so gedacht werden, daß die Setzung der Relation zugleich deren Aufhebung und die Aufhebung der Relation zugleich deren Setzung impliziert. Diese logische Beschaffenheit der Antinomie hat nun unmittelbare Konsequenzen für die Gestalt des Vollzugs des Gottesverhältnisses und den ihm korrespondierenden Gottesgedanken. Infolge seiner kategorialen Verfaßtheit als einer Spannungseinheit von Beziehung und Nichtbeziehung kann das Gottesverhältnis niemals in einem einzelnen religiösen Akt Realität werden, sondern "läßt sich nur in einer Doppelbewegung verwirklichen" ( J C h H 78). Formal betrachtet findet das wechselseitige SichFordern der beiden Momente seinen Niederschlag in der Duplizität der Frömmigkeitsbewegung; material betrachtet aber darin, daß diese Doppelbewegung prinzipiell konträre religiöse Inhalte vereinigt. Dies bedeutet für den Vollzug des Gottesverhältnisses, daß es sich grundsätzlich nur als in sich spannungsreiches, antagonistisch geprägtes religiöses Erleben zu reali100 Vgl. oben Abschnitt B.l.b.

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sieren vermag. Für das Kreaturverhältnis ergibt sich somit folgende Doppelbewegung: "Das persönliche Gegenüber des Geschöpfes zum Schöpfer muß hergestellt werden, aber so, daß die damit scheinbar verneinte völlige Bedingtheit durch den Schöpfer mit der Tat und in der Wahrheit u m so herrlicher Wirklichkeit werde" ( J C h H 78). F ü r die begriffliche Durchführung des Gottesgedankens hat jene konträr-duplizitäre Verfaßtheit des Gottesverhältnisses zur Folge, daß der intentionale Gegenstand des Gottesbewußtseins bzw. die Intension des Gottesbegriffs "nur durch zwei Gedanken, die ihre Gesichter widereinander kehren und dennoch einander fordern, beschrieben werden kann" ( J C h H 78). Dem Gehalt nach besagt dies: Gott kann nur als Schöpfer gekannt werden, wenn er zugleich auch als Geist erfahren wird. Während im Wissen von Gott als Schöpfer der Hiatus zwischen den Relaten des Gottesverhältnisses zum Ausdruck kommt, erscheint im Bewußtsein von Gott als Geist deren Beziehung. Weil es sich aber u m eine Spannungseinheit beider handelt, ist im Schöpfer, und zwar bereits als Schöpfer immer auch schon der Geist, und im Geist als Geist immer auch schon der Schöpfer mitgesetzt. "Weil Gott der Schöpfer ist, hat die Hinwendung meines Willens zum betenden Umgange mit ihm Grund und Ziel in einem Getriebenwerden durch Gottes Geist" (JChH 78). Die Spannungseinheit des antinomischen Gottesverhältnisses differenziert und einigt zugleich die innere Bewegtheit der Frömmigkeit: "Indem wir Gott gegenüber treten im Gebete, gewinnt Gott Gestalt in unserm Leben. Und je klarer und entschlossener das Gegenüber, desto durchdringender die Einheit. Nicht daß wir aufhören, gegen Gott eine Person zu sein, sondern daß wir ihm trauend, ihm gehorchend eine Person vor ihm immer mehr werden, das läßt Gottes Leben immer mehr zu unserm Leben werden" ( J C h H 77). Mit dieser Beschreibung der formalen Verfaßtheit des Gottesverhältnisses ist die prinzipielle Voraussetzung zur Lösung des christologischen Hauptproblems, nämlich der Amphibolie der Person Jesu, gegeben. Diese Amphibolie bestand in der für die Person Jesu signifikanten Spannung und Verbindung von Einheit mit Gott und Gegenüber zu Gott. Sie läßt sich vor dem Hintergrund der allgemeinen Struktur des antinomischen Gottesverhältnisses durchaus "begreifen", und zwar so, daß weder die Inkonsistenz des Gedankens noch die Preisgabe der religiösen Paradoxien der Person Jesu zum Schicksal der Christologie wird. Hirschs Klärung der christologischen Amphibolie erfolgt in zwei Schritten: zum einen durch Subsumtion jener Amphibolie der Person Jesu unter die Struktur des antinomischen Gottes Verhältnisses überhaupt, zum andern durch die Angabe der individuierenden Bestimmungen des Gottesverhältnisses Jesu als eines besonderen Falles derselben.

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Die Beantwortung der ersten Frage weist einen komplizierten Argumentationsgang auf. Zunächst wird nicht Jesu Verhältnis zu Gott, sondern das Verhältnis des Glaubens zu Jesus selbst unter die allgemeine Struktur des antinomischen Gottesverhältnisses subsumiert. Dies ist deswegen möglich, weil der Glaube in der Erfahrung Jesu als des Herrn - was die Form des Gottesverhältnisses betrifft - Jesus eben die Stellung zuerkennt, die Gott gebührt. Somit erweist sich auch das Verhältnis des Glaubens zu Jesus als durch die Antinomie von Einheit und Gegenüber b e s t i m m t . Die "Einheit unsers Lebens mit Jesu Christi Leben" kann sich nur so vollziehen, daß "Jesus Christus uns gegenübertritt und unser Gewissen, unser Herz unter sein Regiment nimmt Die Einheit des Lebens, das Christuswerden, gebiert sich ganz allein im Gegenüber des Hörens, Glaubens und Gehorchens In Christus sein, das heißt unter der Herrschaft Christi sein" ( J C h H 76f). Die Erfahrung der Gegenwärtigkeit Gottes im Glauben an Jesus als den Herrn besteht dementsprechend darin, daß beide, die Spannungseinheit des Verhältnisses des Glaubens zu Jesus und die Spannungseinheit des Gottesverhältnisses überhaupt, zur Konvergenz gelangen. "Dem Glaubensgehorsam des Beters steht Gott, als in Jesus Christus offenbar, gegenwärtig vor Augen. Eben diese Gegenwart bestimmt ... auf dem Grunde dieses Gegenüber, von innen her, ihn durchheiligend, sein Leben und Handeln" (JChH 79). Damit ist der Ansatzpunkt zu einer Lösung der christologischen Grundschwierigkeit unmittelbar gegeben. "Unsre von unserm in sich selbst hinein gekrümmten Willen immer wieder geschändete und gefährdete eigene Gottessohnschaft, die wir aus der Herrschaft Jesu über uns empfangen, läßt uns doch ahnen, daß vollkommener Gehorsam, vollkommene betende Hingabe ein vollkommenes Gestaltgewinnen Gottes im Menschen bedeuten würde" ( J C h H 79f; Hhg.v.Vf.). Die erste der beiden christologischen Fragen wäre demnach folgendermaßen zu beantworten: Die Erfahrung der Gegenwärtigkeit Gottes im Glauben an Jesus als den Herrn des Gewissens läßt den darin enthaltenen Glaubensgehorsam als den "ersten Anfang gnädiger Verwirklichung" (JChH 79) eines aus Gott bestimmten Lebens und damit zugleich eine gewisse "Gleichläufigkeit zwischen Jesus Christus und uns" ( J C h H 77) erkennen. Diese Parallele befähigt nun den Glauben, den Grenzgedanken eines vollständig durch die Gegenwart Gottes bestimmten Lebens zu bilden. Und zwar ist ein solcher Gedanke dem Glauben nicht nur möglich, sondern auch notwendig, sofern er als gebrochener Gehorsam u m seiner eigenen Zielbestimmung willen der regulativen Idee eines vollständigen Gehorsams bedarf. Wenn aber der Glaube die Möglichkeit eines ganz und gar in Gott ruhenden und vor Gott verantworteten Lebens, in dem also "das vor Gott und das in Gott ununterscheidbar

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ineinander fallen" ( J C h H 79; Hhg.v.Vf.) als Grenzbegriff und Telosdefinition seines eigenen Gottesverhältnisses denken kann und muß, dann ist das wirkliche Vorkommen eines solchen vollendeten Gottesverhältnisses nicht mehr grundsätzlich unmöglich. Indem der Glaube Jesus als den verwirklichten Grenzfall des Gottesverhältnisses begreift, auf das hin er als Glaube zu leben bestimmt ist, subsumiert er zugleich das Gottesverhältnis Jesu unter die formale Struktur, die sein eigenes Gottes Verhältnis kennzeichnet, nämlich unter die Struktur der Antinomie, derzufolge jede Beziehung auf Gott sich in einer Spannungseinheit von Einheit mit Gott und Gegenüber zu Gott vollzieht. Damit hat sich ihm die Möglichkeit eröffnet, gedanklich nachzuvollziehen, inwiefern Jesus, der als der Herr des Gewissens als in Einheit mit Gott erfahren wird, nach seinem Sohnesgehorsam zugleich als Gott gegenüberstehend gewußt werden kann. Was das christologische Denken gedanklich hierzu beitragen konnte, bestand in nichts anderem als in der Bereitstellung und Ausschöpfung der Kategorie "Antinomie". Vermittelst des Begriffs der Antinomie hat die Amphibolie der religiösen Stellung der Person Jesu ihre kategoriale Klärung gefunden. Das Gottesverhältnis Jesu erweist sich für den Glauben als durch eben dieselbe grundsätzliche Spannungseinheit bestimmt, die seine eigene Verfaßtheit kennzeichnet. "So erschließt sich uns das Ineinander von [i.O.: vom] Gegenüber zu Gott und Einheit mit Gott, das wir in Jesus wahrnehmen" (JChH 80). Aber in dem Bewußtsein einer prinzipiellen Strukturisomorphie zwischen dem Gottesverhältnis Jesu und dem ihn als Herrn anerkennenden Glauben sind noch nicht diejenigen spezifischen Merkmale enthalten, u m die der Glaube hinsichtlich der fundamentalen Differenz des Gottesverhältnisses Jesu ihm selbst gegenüber ebenfalls weiß. Und so gilt es denn, diese Individuationsbedingungen des Gottesverhältnisses Jesu n a m h a f t zu machen, bzw. "die Geschichte des Sohnes mit dem Vater in ihrer geheimnisvollen Besonderheit zu erfassen" (JChH 82). Damit wären wir zum zweiten der beiden oben genannten Probleme gelangt. Die aus der Perspektive des Glaubens die Eigentümlichkeit Jesu ausmachenden individuierenden Faktoren seines Gottesverhältnisses betreffen nicht dessen numerische Verschiedenheit von demjenigen anderer Menschen, sondern das, was es als Grenzfall eines personalen Gottesverhältnisses ü b e r h a u p t spezifiziert. Für den Glauben an Jesus "hat ... die Geschichte seines Gottesverhältnisses nicht bloß eine individuelle Besonderheit, wie die eines jeden von uns. Sie hat in sich einen Zug, der sie gegen die von uns andern insgesamt deutlich abgrenzt" (JChH 82). Die hier in Frage stehenden Individuationsbedingungen sind also solche, die die qualitative Verschiedenheit seines Gottesverhältnisses konstituieren, wie sie "die ganz andre Art seiner Geschichte mit Gott" (ebd.) zu erkennen gibt.

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Wenn der Glaube sowohl Jesus als auch sich selbst durch ein grundsätzlich antinomisches Gottesverhältnis qualifiziert weiß, dann ist darin zugleich das Bewußtsein von einer qualitativen Besonderheit des Gottesverhältnisses Jesu auf der Basis jener Strukturidentität enthalten. Aber diese qualitative Besonderheit des Gottesverhältnisses Jesu ist nur unter der Voraussetzung bestimmbar, daß zugleich benannt werden kann, worin seine "Gemeinsamkeit mit uns" ( J C h H 84) besteht. Hirsch erblickt die fundamentale Gemeinsamkeit zwischen Jesus und dem durch ihn vermittelten allgemeinen Gottesverhältnis im Charakter und in der Art des religiösen Glaubens als einem "Gott in Ehren haben" ( J C h H 84). Darin ist dreierlei enthalten: An Gott glauben besagt zunächst: "das Leben ganz als ein Empfangen göttlicher Gnade leben". Auch und gerade für Jesus trifft zu, daß "seine Geschichte mit Gott ganz und gar unter der Gnade gestanden hat" (ebd.). Glaube ist ferner seinem Wesen nach "Glaubensgehorsam" (JChH 79). Auch und gerade Jesu Sohnesgehorsam zeigt, daß er "in einem Verhältnis des Gegenüber zu Gott gestanden hat und die Einheit mit dem Vater gefunden hat durch Hingabe seines Willens in diesem Gegenüber" (JChH 73). Und an Gott glauben heißt schließlich: "allein aus dem Worte, das Gott z u m Herzen spricht, leben und darin alles andre überwinden" ( J C h H 84). Auch und gerade Jesu inneres Leben zeigt ihn als einen solchen, der "ganz und gar aus Gottes Geiste geboren ist" ( J C h H 85). Das erste Merkmal des Glaubensbegriffs betrifft sonach die im Glauben erfahrene Gnadenhaftigkeit des inneren Lebensstandes, das zweite die im Glauben sich vollziehende Willensübereignung an Gott und das dritte die Ganzheits- und Letztbestimmtheit des Lebens im Glauben. Nach allen drei Merkmalen ist dieser Glaubensbegriff auf Jesu Gottesverhältnis anwendbar. Vor dem Hintergrund dieser qualitativen Identität kann nun das qualitativ Besondere des Gottesverhältnisses Jesu bestimmt werden, das, "was seine Geschichte von der unsern trennt und im Geheimnis seines persönlichen Lebens seinen Grund hat" (JChH 84; Hhg.i.O.). Hinsichtlich der Gnadenhaftigkeit des inneren Lebensstandes zunächst gilt: "Die Gnade wird für uns Verzeihung und Ruf in ein neues Leben" ( J C h H 84), wofür es umgekehrt "bei Jesus eine Entsprechung nicht gibt" ( J C h H 83). Hinsichtlich der Willensübereignung sodann gilt: "Wir sind Gottes Kinder allein als die Umkehrenden" ( J C h H 84), Jesus jedoch begegnet uns in den Evangelien als der, "der mit Gottes Willen von je eines gewesen ist ... Er hat seine Sohnschaft mit ihrer Gewißheit und ihrem Gehorsam nicht als das, was einmal in ihm angefangen hätte, er hat sie als das, was allezeit in ihm war" ( J C h H 85). Und hinsichtlich der Ganzheits- und Letztbestimmtheit des Lebens durch den Glauben schließlich gilt: "Nur im Kampf mit unsers

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Fleisches Willen ist der neue Wille, der G l a u b e u n d G e h o r s a m ist, in uns da" ( J C h H 84), Jesus hingegen "zeigt sich uns als der schlechthin Reine, ... sodaß er a n d e r n in dem, was er ist, eine Offenbarung von Gottes heiligem Willen wird" ( J C h H 84f). Jesu Geschichte mit G o t t vollzog sich in der "ursprünglichen Geistgetragenheit" seines inneren Lebens, sein G e h o r s a m e n t s p r a n g der "Ganzheit der Sohnschaft" ( J C h H 85), sein Leben aus G o t t h a t t e den C h a r a k t e r der "Gegenwart Gottes" ( J C h H 80). Auf der G r u n d l a g e der vermittelst des Antinomiebegriffs erfolgten Klär u n g der hermeneutischen Amphibolie der Person Jesu wird n u n auch die Geschichte seines Gottesverhältnisses in ihrem inneren Z u s a m m e n h a n g greifbar. Hirschs D e u t u n g derselben ist ein Meisterstück sowohl religionspsycholologisch gesättigten als auch theologisch reflektierten Nachverstehens. Sie verdient es, hier im Z u s a m m e n h a n g wiedergegeben zu werden: " A m Anfang stehn Taufe u n d Versuchung. Gottes G n a d e schenkt ihm die Klarheit über seine Sohnschaft und den Ruf zur Verkündigung des Reiches Gottes. E r eignet sich die G a b e an u n d findet im K a m p f e mit d e m Versucher die Klarheit über den ihm b e s t i m m t e n Weg des Gehorsams. Er t r i t t mit einem in sich entschlossenen Willen vor die andern; sein Verständnis des Gottesreichs und die Anschauung v o m Menschensohne sind ihm sicherer Besitz u n d formen sein Reden u n d Handeln. So h a t G o t t i h m das Herz entriegelt. Seine Erkenntnis findet Begriff u n d W o r t , sein G e h o r s a m darf sich entscheiden, seine Liebe kann die Tat hingebenden Dienstes ergreifen. Mit seiner öffentlichen W i r k s a m k e i t zugleich ist d a n n das da, was die ganze breite Mitte seiner Geschichte füllt: G o t t schenkt ihm den Mißerfolg seiner Sendung. Er a n t w o r t e t mit d e m J a des Gehorsams d a r a u f , schließt den Christus u n d das Kreuz z u s a m m e n u n d geht z u m Sterben n a c h Jerusalem. Das ist nicht das Ereignis eines Tages ... Es h a n d e l t sich u m etwas, was alle Tage neu war bis an seinen Tod. Es b e d e u t e t auch keine W e n d u n g in der durch den Anfang gesetzten Sohnesgemeinschaft mit G o t t . Er h a t das J a zu d e m seltsamen Wege, den G o t t seinem Christus bereitete, in dem J a zur Sendung als schon gegeben gefunden. Und dennoch wird diese E r f a h r u n g das sein Wort u n d seine Geschichte ganz Durchgestaltende. Wir können w a h r n e h m e n , wie in der A n f e c h t u n g die Tiefe seiner Gewißheit offenbart wird, wie im Leiden sein G e h o r s a m als opfernde Liebe herausbricht, wie in der Dunkelheit seines Wegs die Erkenntnis von Gottes schrecklichem Gericht u n d G o t t e s wunderbarer Verheißung sich vertieft u n d vollendet. Sein Weg m a c h t ihn u n d sein Wort immer durchsichtiger, immer gewaltiger.... Bis d a n n a m Ende der S c h a n d t o d Wirklichkeit wird u n d er den Kelch aus des Vaters H a n d n i m m t . G o t t drückt das Siegel auf sein Leben, u n d er hält still. Nun ist er

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ganz, bis ins Letzte, in Gottes Willen eingekehrt. Nun wird er in Wahrheit zum Ebenbilde des Vaters gemacht, den er verkündigt hat" (JChH 87f; Hhg.i.O.). Die religiöse Bedeutung dieser "Geschichte" besteht darin, "Jesu Sohnschaft als im persönlichen Leben eines wahrhaftigen Menschen sich wahrhaftig erfüllen [zu] sehen" (JChH 81). Mit der anschauend meditierenden Betrachtung dieses Lebensweges tritt zugleich "Gott, als in Jesus Christus offenbar, gegenwärtig vor Augen" (JChH 79). In diesem und nur in diesem Sinne hat Hirsch die Geschichte Jesu von Nazareth als "Offenbarungsgeschichte" (JChH 33) verstanden wissen wollen. 101 An diese Einsicht wird dann auch die Entfaltung der christologischen Hoheitstitel im "Leitfaden" anknüpfen (vgl. Kap. V.B.3). Sie alle beziehen sich auf Jesu "Gang zum Kreuze", auf Christus "den Gekreuzigten". Daß sie erst der Ostererfahrung entsprungen sind, steht dazu nicht im Widerspruch, sondern ist umgekehrt der Beleg für diese Zuordnung.

4. Die Ostererfahrung als Innewerden der ewigen Gegenwart des Gekreuzigten Im Zusammenhang unserer Entfaltung des Hirschschen Verständnisses der Predigt Jesu und ihrer Bedeutung für den christlichen Glauben hatten wir dargelegt, wie für Hirsch aus der Aneignung des Büß- und Vergebungswortes Jesu die Erfahrung von ihm als dem Herrn des Gewissens hervorgeht. Im folgenden wird es unsere Aufgabe sein, die inneren Voraussetzungen der neutestamentlichen Ubereignung des Herrennamens an Jesus nach ihrem religionsgeschichtlichen Ursprung und theologischen Gehalt zu durchdringen. Erst mit der Klärung dieser Frage wird der innere Zusammenhang der frühen Christologie Hirschs deutlich werden. a) Die Entstehung des Osterglaubens Paulus war für Hirsch der erste, welcher den Gehalt der Formel "Jesus Christus der Herr" sachlich durchdacht und damit seine ureigenste Glaubenserfahrung auf einen komprimierten theologischen Begriff gebracht hat. 101 Dieses Offenbarungsverständnis hat Hirsch in seiner späten Religionsphilosophie als "hyperbolisch oder personalistisch" (HchR 84) charakterisiert und damit zugleich abgegrenzt wissen wollen von einer spekulativen Zuordnung von Offenbarung und Geschichte (vgl. a.a.O. 77-91).

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Aber vor ihm war es bereits die jerusalemische Urgemeinde - "die j a von Anfang an zweisprachig war" (ZpCh 607) 102 - welche dem Auferstandenen den Kyrios-Titel verliehen hatte. "Warum die Ostererfahrung sich gerade in diesem Namen niedergeschlagen hat, ist als ein geschichtliches U r f a k t u m kaum mehr näher zu zergliedern" (ebd.). Immerhin gibt es Anhaltspunkte. Wenn auch die meisten Verwendungen des Kyrios-Titels in der synoptischen Uberlieferung der Gemeindetheologie entstammen, so finden sich dennoch einige wenige Stellen, die vermutlich älteren D a t u m s sind. Hirsch denkt hierbei an die Anrede des Hauptmanns von K a p e r n a u m (Lk 7,6), an den Spruch, der dem Gleichnis vom fruchttragenden B a u m folgt (Lk 6,46), und an die Anspielung auf den Herrennamen (Mk 12, 35-37), die sich aus dem Verweis auf Ps 110,1 anläßlich der pharisäischen Bezeichnung des Messias als Davidssohnes ergibt. Die letzte Stelle ist für Hirsch "der wirkliche Ansatzpunkt zum Kyriosnamen in der Geschichte Jesu" (ZpCh 627, Anm. 5). Mit Ausnahme der genannten Stellen sind alle anderen, an denen der Herrenname ebenfalls auftaucht, als Rückübertragung in das Leben Jesu zu verstehen, und zwar auf der Basis der "vorausgesetzten Selbigkeit des Geschichtlichen und Erhöhten" (ZpCh 607). Der Gehalt des Kyrios-Titels, wie ihn die Jerusalemer Urgemeinde verwendet hat, verweist sonach auf das historische D a t u m des "die Gemeinde gründenden Osterglaubens" ( J C h H 37). Damit ist der weitere Gang der Untersuchung vorgezeichnet. "Unmittelbar in der Ostererfahrung ist der Glaube an Christus und die Gabe des Geistes aufgesprungen. Unmittelbar in der Ostererfahrung hat doch wohl auch der Herrenname, den die erste Gemeinde Jesus Christus gab, sich geboren. Diesem Wege hat die Theologie nachzugehen" ( J C h H 36). Eine der Besonderheiten der Christologie Hirschs besteht genau darin, daß für sie der Ansatz bei der geschichtlichen Wirklichkeit Jesu und der Ansatz bei der urchristlichen Ostererfahrung keine gegeneinander ausspielbaren

102 Dasselbe Urteil vertritt neuerdings M. HENGEL in seiner Geschichte der Hellenisierung des Judentums im 3. und 2. vorchristlichen Jahrhundert: "Die Differenzierung zwischen 'palästinischem' und 'hellenistischem' Judentum, die zu den grundlegenden heuristischen Prinzipien der neutestamentlichen Wissenschaft gehört, wird durch diesen Tatbestand erschwert und erweist sich im ganzen als nicht mehr ausreichend. Man wird damit zu rechnen haben, daß einzelne Gruppen auch im jüdischen Paästina zweisprachig aufgewachsen sind und so genau an der Grenzscheide zweier Kulturen standen." Und Hengel fügt hinzu: "es ist durchaus zu fragen, ob die Zweisprachigkeit nicht bis in den unmittelbaren Jüngerkreis Jesu selbst hineinging. Immerhin trugen zwei der Zwölf, Andreas und Philippos, griechische Namen (Mk. 3,18), und der Bruder des Andreas, Simon Kephas-Petrus, unternahm später weite Missionsreisen unter der nur Griechisch sprechen jüdischen Diaspora des Westens" (Judentum und Hellenismus, 194).

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Alternativen darstellen, sondern umgekehrt sich gerade wechselseitig fordern. Aber mit diesem methodischen Hinweis ist nur ganz allgemein die Richtung bezeichnet. Es hängt hier alles davon ab, in welcher Weise sich die Theologie auf die Ostererfahrung der ersten Gemeinde bezieht, ob es ihr tatsächlich gelingt, den Sinn jener Erfahrung überzeugend zu erhellen. Genau in dieser Hinsicht sieht sich Hirsch jedoch zur Kritik an einer weit verbreiteten Auffassung der Osterereignisse veranlaßt. "Nun hört m a n j a freilich evangelische Schriftsteller und Prediger häufig so reden, als ob die Auferstehung der offenbare Antritt der Weltherrschaft sei ... Solche Rede ist lediglich ein Zeugnis dafür, daß es mit dem rechten Verständnis des Osterwunders in unsrer Kirche nicht überall gut bestellt ist" ( J C h H 58). Die Aufgabe dieses letzten Abschnitts wird somit vornehmlich darin bestehen, Hirschs Versuch, "in das Geheimnis der Ostererfahrung einzudrängen" ( J C h H 36), im einzelnen zu verfolgen. Hirsch gibt eine bis heute gültige Einschätzung wieder, wenn er die historische Rekonstruktion der Osterereignisse und die Erzielung eines diesbezüglichen Forschungskonsenses als eine "wohl nie völlig lösbare Aufgabe" (ebd.) bezeichnet. Gleichwohl hält er diese Schwierigkeit letztlich nicht für entscheidend, weil der wesentliche Gehalt der Ostererfahrung dem Befund der Quellen zufolge - ohnehin "nicht in dem äußeren Hergange als solchen" (ebd.) gelegen zu haben scheint. Angesichts der überlieferungsbedingten Probleme hat eine Deutung der Ostererfahrung nicht bei den Osterereignissen selbst einzusetzen, sondern beim "Glauben der ersten Gemeinde" (ebd.). Hirsch sieht ihn durch drei Merkmale gekennzeichnet. Das erste betrifft die Erfahrung der lebendigen Gegenwart Jesu als des Anbruchs der kommenden Gottesherrschaft. "Jesus lebt und ist das Leben seiner Gemeinde. In ihm ist die Ewigkeit für sie Gegenwart, ist das Gottesreich, das am Ende aller Dinge offenbar werden wird, ihr schon gegeben" (JChH 36f). Von hier aus empfängt zweitens dann auch der Herrenname seine Bedeutung. Indem die erste Gemeinde ihn Jesus übereignet, bekennt sie diesen als den "zu Gott erhöhten, in seiner Endgemeinde gegenwärtigen, sie durch den Geist regierenden, im Geist ihre Anbetung habenden himmlischen Herrn, der in Kürze seine Herrschaft über alle Welt im Kommen z u m Gerichte offenbaren wird" (ZpCh 607). Sowohl im Hinblick auf die Übereignung des Herrennamens an Jesus als auch bezüglich der ihr zugrunde liegenden Überzeugung vom Beginn der Endherrschaft gilt drittens, daß es sich dabei u m eine Glaubensgewißheit im ganz spezifischen Sinne handelt: "allein der Glaube weiß es, daß Jesus lebt; allein ihm wird er Geist und Leben. Das Reich Gottes ist in seiner Gemeinde offenbar, noch nicht vor der Welt" (JChH 37).

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Der zuletzt genannte P u n k t ist Hirsch angesichts der vielfältigen theologischen Kontroversen u m den Sinn des Ostergeschehens besonders wichtig. "Weil Ostern eine Glaubenserfahrung gewesen ist, ist es kein allgemein wahrnehmbarer Vorgang gewesen" (ebd.). "In der gewöhnlichen Welt" war "nichts gegeben als der im Leiden vollendete Menschensohn ... und die von ihm zeugende Gemeinde ... Der wahre Christusglaube, der zu Ostern geboren wurde, ging eben auf diesen Gottesknecht, sah gerade in ihm den Herrn der Gemeinde" (ebd.). Die Ostererfahrung der ersten Gemeinde war eine heimliche Erfahrung des Glaubens. Diese spezifische Innerlichkeit ist für Hirsch das schlechterdings verbindliche Kriterium jedes wahrhaft christlichen, d.h. der Ostererfahrung der ersten Gemeinde gemäßen, Osterglaubens. Im Sinne Hirschs müßten sich auch Begriffe wie "Osterereignis", "eschatologisches Ereignis" oder "Christusgeschehen" grundsätzlich messen lassen an jenem Innerlichkeitscharakter des Osterglaubens der ersten Gemeinde. "Verstünden wir ... Ostern als ein offensichtliches Einsetzen Jesu in die Macht und die Herrlichkeit, meinten wir etwa, hier sei in nackter von jeder inneren Erfahrung gelöster Tatsächlichkeit ein Bekenntnis Gottes zum Gekreuzigten gegeben, - dann ... wären [wir] vom Osterglauben der ersten Christen geschieden" ( J C h H 37). Die These von der Innerlichkeit des Osterglaubens ist für Hirsch nicht das Resultat eines theologisch-philosophischen Sündenfalls der Neuzeit, sondern gehört zum Kern der Ostererfahrung der ersten Gemeinde. Wo diese Glaubensinnerlichkeit verkannt wird, mißversteht sich der Osterglaube selbst. Zugleich wäre damit der Grund und Gegenstand des Glaubens u m seine eigentümliche Bestimmtheit gebracht. "Ein Christus, der in der Welt der Tatsachen, vor allen Menschen, recht bekommen hätte, wäre nicht mehr der durch Leiden und Anfechtung vollendete Gottesknecht, sondern der Messias der Juden" (JChH 37). Mit dem Erkennen oder Verkennen der Innerlichkeit des Osterglaubens ist für Hirsch immer auch über das Messiasbild, über den Gegensatz von himmlischem und irdischem Messias - im Sinne Wellhausens - entschieden. Die Frage nun, wie der Osterglaube der ersten Gemeinde entstanden ist, kann für Hirsch auf eine methodisch überzeugende Weise nur so beantwortet werden, daß m a n sich von den offenkundig sekundären Darstellungen der Osterereignisse in den erhaltenen Fassungen der Evangelien vollständig löst und stattdessen versucht, "die Geschichte der ersten Zeugen" ( J C h H 38) historisch zu rekonstruieren. Quellenmäßiger Orientierungspunkt dieser Rekonstruktion ist Paulus, 1 Kor 15, 5-7: "Das lassen die Berichte noch deutlich erkennen, daß Simon Petrus der erste gewesen ist, dem Gott es gab den Herren zu sehen und zu glauben" (ebd.). Im Mittelpunkt von Hirschs historischer Rekonstruktion des Ablaufs der

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Osterereignisse steht d a r u m die Person des Jesus-Jüngers Kephas. Die von Paulus überlieferte erste aller Erscheinungen Jesu, nämlich die an Kephas, bildet den einzig möglichen Ausgangspunkt eines religionsgeschichtlichen Verständnisses der Entstehung des urchristlichen Osterglaubens. Die historische Erhellung dieses Vorgangs scheint zunächst daran zu scheitern, daß es abgesehen von jener Paulus-Stelle kein eindeutiges und verläßliches Quellenmaterial darüber gibt. "Wahrscheinlich ist's besser, daß wir auf jeden Versuch, das erste Auferstehungsgesicht zu bestimmen, verzichten und uns bescheiden bei der Erkenntnis, daß uns die Berichte nicht auf jede Frage Antwort geben" ( J C h H 38). Hirsch enthält sich in der frühen christologischen Untersuchung von 1926 d a r u m einer historischen Rekonstruktion sowohl der Quellen als auch des tatsächlichen Hergangs der Erscheinung an Petrus. Er beschränkt sich stattdessen auf eine Analyse des qualitativen Gehaltes jenes Erscheinungserlebnisses. "Auch ohne ein äußeres Zeugnis m u ß m a n ja jenen inneren Zusammenhang empfinden" ( J C h H 38). Wie kann man aber den qualitativen Gehalt eines Erscheinungserlebnisses erkennen, von dessen Vorgang m a n kaum etwas weiß? Hirsch hilft sich aus der Verlegenheit, indem er das fragliche Ereignis der Erscheinung des Erhöhten an Petrus durch eine Feststellung des terminus a quo u n d des terminus ad quem eingrenzt und den so interpolierten Vorgang nach seinem inneren Gehalt bestimmt. Als Textgrundlage dient ihm vor allem die Geschichte von der Verleugnung des Petrus, Mk 14, 66-72. Einer nur in der lukanischen Parallele enthaltenen Notiz, nämlich Lk 22, 61 a, kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Wir geben die Deutung Hirschs am besten im Zusammenhang wieder: P e t r u s bestreitet, den zu kennen, dessen Aufforderung zur Buße und Verheißung der Gottesherrschaft er einst gefolgt war. Er trennt sich von ihm, weil das Gesetz dessen Tun als Gotteslästerung verworfen hat. "Dennoch trifft ihn der Blick Jesu so, daß er hinausgeht u n d bitterlich weint. In diesem verzweifelten Schuldbewußtsein Hegt der Anfang seiner Bekehrung. Jesu Bußruf fängt wahrhaft an, ihn zu treffen; und der Zwiespalt zwischen Altem und Neuem zerreißt sein Herz in zwei Stücke. Eben indem er sich feierlich entscheidet und für immer an das von Jesus verurteilte Leben des Alten bindet, erfährt er dessen Unrecht als persönliche Schuld. Jesu göttliches Recht geht ihm, der Verstoßung aus Israel und dem Tode am Kreuz zum Trotze, auf, - so auf, daß es ihn richtet. Das ist der tiefe Einsatzpunkt seiner Ostererfahrung. Ihr seliger Schlußpunkt aber ist, daß er als erster Zeuge des am Kreuze verlassenen Christus d a steht und durch sein Zeugnis die Gemeinde der ersten Gläubigen gesammelt wird. Er ist ganz hinübergewandelt in das Neue, und das Neue ist ihm Leben, nicht mehr Gericht. Jesus ist sein Herr, dem er dient mit der Gewißheit, dazu angenommen und gerufen zu sein. Die Wandlung scheint unfaßlich. Was

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ist d a geschehen? Mitten inne liegt das Auferstehungsgesicht. Das m u ß sie zu wege gebracht h a b e n " ( J C h H 39; Hhg.v.Vf.). Bevor wir der Frage nachgehen, welche B e d e u t u n g d e m Damaskuserlebnis des P a u l u s hinsichtlich der R e k o n s t r u k t i o n der Ostererfahrung z u k o m m t (vgl. J C h H 40), gilt es j e n e " W a n d l u n g " des P e t r u s näher zu verstehen. Worin b e s t e h t der Gehalt dieses Vorgangs, hinter d e m sich die Erschein u n g des gekreuzigten u n d erhöhten Herrn verbirgt? Hirsch erblickt ihn im Erlebnis der Gegenwart dieses Herrn u n t e r der E r f a h r u n g des Ubergangs von Verleugnung u n d Schuldbewußtsein in Vergebungsgewißheit u n d Ber u f u n g z u m Zeugenamt. "In der w u n d e r b a r e n Geschichte des P e t r u s von der Schuld des tiefsten Falles zur G n a d e des ersten Zeugnisses liegt das eigentliche Geheimnis der Ostergeschichte" ( J C h H 38). Was ist von dieser D e u t u n g Hirschs zu h a l t e n ? M a n darf sie wohl uneingeschränkt als ein Musterbeispiel geschichtlichen Nachverstehens bezeichnen, sowohl was die psychologische E i n f ü h l u n g s k u n s t , als auch was die religionsgeschichtliche Reflektiertheit anbelangt. Bezüglich der Ausweitung der Verleugnungsszene zur großen Bußszene erinnert sie - wenn dieser Seitenblick einmal erlaubt sein m a g - an die Abfolge von Rezitativ, Arie u n d Choral a m Schluß des ersten Teils von Bachs Johannespassion. Aber mit dieser Parallele ist zugleich auch schon gesagt, worin der E i n w a n d gegen Hirschs Darstellung hegt: Was auf der E b e n e der musikalischen D r a m a t i k geboten ist, ziemt sich nicht u n b e d i n g t auch auf d e m Felde des Geschichtsverstehens, jedenfalls solange nicht, als dieses sich nicht von vornherein d e m Verdacht aussetzen will, die Grenzen des überlieferungsmäßig Kontrollierbaren zu überschreiten. Und zur Hochstilisierung der Verleugnungsszene z u m religionsgeschichtlichen Wesensvergleich auf religionspsychologischer Basis bieten die Quellen n u n wirklich keinen A n h a l t s p u n k t . U n t e r dieser Voraussetzung verläßt d a n n aber auch die t e r m i n u s a q u o / t e r m i n u s ad quem - Interpolation den Bereich des Überprüfbaren. Bei n ä h e r e m Hinsehen zeigt sich nun allerdings, daß Hirsch u m die m e t h o d i s c h e n Schwächen seiner D e u t u n g d u r c h a u s gewußt h a t , u n d daß er auch ein ungefähres Bild davon besessen h a t , an welcher Stelle gegebenenfalls quellenkritisch weiterzuarbeiten wäre. Hirsch schreibt: " M a n c h e meinen, in der Geschichte vom Wandeln auf d e m See ( M a t t h . 14, 28-31) sei eine dunkle E r i n n e r u n g d a r a n erhalten. Möglich ist auch angesichts Joh. 21, daß die Geschichte v o m w u n d e r b a r e n Fischzug (Luk. 5, 1-11) das Auferstehungsgesicht des P e t r u s in sich birgt". F ü r ihn selbst sind dies jedoch "unsichere V e r m u t u n g e n " ( J C h H 38). Allein, was sich hier noch als Liste von vagen Forschungshypothesen a u s n i m m t , stellt faktisch das quellenkritische P r o g r a m m des Auferstehungsbuches von 1940 dar.

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Im Jahre 1926 konnte Hirsch es sich noch erlauben, die Quellenfrage bezüglich der Ostererscheinung an Petrus auf sich beruhen zu lassen, und stattdessen den Abkürzungsweg über das Interpolationsverfahren einzuschlagen. Im Jahre 1940 hingegen hatte sich die formgeschichtliche Methode weitgehend durchgesetzt, und Hirsch sah sich nun genötigt, sein Jesusbild - und in eins damit seine gesamte Christologie - quellenkritisch gleichsam wasserdicht zu machen. Das von Barth und Bultmann verhängte Verdikt über den theologischen Rekurs auf den historischen Jesus trat zur rein quellenkritischen Problematik des Osterglaubens noch erschwerend hinzu. Und so beginnt Hirsch Ende der 20er Jahre Evangelienkritik zu treiben - äußerlich veranlaßt durch die Übernahme der homiletischen Übungen am Theologischen Seminar, welche detaillierte Textexegesen erforderlich machten. Diese Arbeit weitet sich dann aus zu dem Plan einer an den methodischen Grundsätzen Ferdinand Christian Baurs orientierten "Geschichte des Christusglaubens der ersten zwei Jahrhunderte" (SvE VI), worin dessen Sicht des Gangs der Ereignisse durch die Einbeziehung der nachfolgenden Forschungsergebnisse - vor allem auf quellenkritischem Gebiet - auf den neuesten Stand gebracht werden sollte. Weil die johanneische Frage für die Beurteilung der Vorgänge innerhalb jenes Zeitabschnitts ein Schlüsselproblem darstellt, gilt ihr die erste Aufmerksamkeit. Im Jahre 1936 erscheinen die der Textkritik, Literarkritik und Entstehungsgeschichte gewidmeten "Studien zum vierten Evangelium" sowie eine sich auf das theologisch-inhaltliche Verständnis konzentrierende Begleitschrift mit dem Titel "Das vierte Evangelium". 103 Und im Jahre 1941 kann Hirsch 103 R. B U L T M A N N S Rezension beider Schriften (Hirsch's Auslegung des JohannesEvangeliums) zeichnet sich äußerlich dadurch aus, daß die eigentlich fachliche Kritik ins Kleingedruckte verwiesen wird (a.a.O. 122-132), so daß das Hauptaugenmerk auf die theologische Aburteilung fällt (a.a.O. 132-142). Leitkriterium dabei ist Bultmanns eigener Begriff des "Eschatologischen" (a.a.O. 125.130.136.137.139.141.142). Auch Hirsch umgekehrt hat zu Bultmanns Johannesexegese Stellung genommen, insbesondere zum Verhältnis von Stilanalyse und Literaturkritk (vgl. SLvE 138-143). Was Bultmanns Verwendung des Ausdrucks "Eschatologie" anbelangt hat sich Hirsch nur pauschal geäußert: "Die dialektische Theologie hat ... das Wort aufgegriffen und in verschwommener Ausweitung ... zum theologischen Schlagwort gemacht. Ich brauche Eschatologie streng im Sinne von 'Lehre von den letzten Dingen'; jeder andere Sprachgebrauch ist Geschwätz" (ChR I, 89). Überblickt man das Verhältnis Bultmann/Hirsch auf dem Feld der neutestamentlichen Arbeit im Zeitraum der 20er bis 40er Jahre, dann zeigt sich auf beiden Seiten ein stark ausgeprägtes Bewußtsein von wissenschaftlicher Konkurrenz. Eine vorwiegend positive Bezugnahme auf Hirschs Erforschung des 4. Evangeliums findet sich hingegen bei E. K Ä S E M A N N : Jesu letzter Wille nach Johannes 17. Zu Hirschs Auslegung bemerkt Käsemann, daß sie, "unter den Umständen ihres Erscheinens begreiflich, vielfach zu Unrecht vernachlässigt wor-

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das Parallelwerk zu den Synoptikern vorlegen, die zweibändige "Frühgeschichte des Evangeliums". In den frühen 40er Jahren gibt Hirsch dieses Großprojekt wieder auf, u m sich der Realisierung eines anderen zuzuwenden - der fünfbändigen "Geschichte der neuern evangelischen Theologie" . 104 Sie sollte einerseits die in der zweiten Hälfte der 30er Jahre herangereifte geschichtsphilosophische These von der "Umformungskrise des Christentums in der Neuzeit" 1 0 5 im Detail bewähren, andererseits den in programmatischer Hinsicht ausdrücklich als individuelle Rechenschaftsgabe konzipierten "Leitfaden der christlichen Lehre" von 1938 problemgeschichtlich absichern und ihm insoweit Allgemeinheit verschaffen. Vor diesem Hintergrund ist das 1940 erschienene Buch "Die Auferstehungsgeschichten und der christliche Glaube" zu sehen. In exegetischer Hinsicht ist es ein Nebenprodukt der Vorarbeiten zur "Frühgeschichte des Evangeliums" - unter Einbeziehung des Ertrages der bereits erschienenen "Studien zum vierten Evangelium". In systematischer Hinsicht steht es auf der gedanklichen Basis der zwei Jahre zuvor erschienenen Dogmatik. Nebenbei ist zu erwähnen, daß das Auferstehungsbuch von 1940 indirekt den Ausgangspunkt der späteren Entmythologisierungsdebatte bildete. 1 0 6 Bultmann hat diese Schrift Hirschs rezensiert und darin Hirschs Betonung des nichtmythologischen Charakters der christlichen Ostererfahrung ausdrücklich zugestimmt. 1 0 7 Im Jahre 1941 hat Bultmann dann seine eigene Entmythologisierungsthese vorgetragen. 1 0 8

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den ist. Sie gehört zu den großen Johannes-Interpretationen unserer Zeit, weil sie am reinsten den Typ der idealistischen Exegese darstellt" (a.a.O. 26 Anm. 9). Vgl. LSt I, 7f Vgl. dazu unten Kap. V.A. Dies wird auch bestätigt durch eine Mitteilung von E. FUCHS bezüglich der Entstehung von Bultmanns Entmythologisierungsprogramm: "Der Anstoß zur gegenwärtigen exegetischen Diskussion kam jedoch von außen" (Zum hermeneutischen Problem in der Theologie, 212). Mit diesem "von außen" - offensichtlich aus einer Marburger Perspektive betrachtet - ist der Göttinger Kirchenhistoriker und Systematiker Hirsch gemeint, nämlich dessen Auferstehungsbuch von 1940 (vgl. ebd.). BULTMANN schreibt: "H. hat gewiß auch darin recht, daß wir uns von der Auferstehung und Erhöhung Jesu kein anschauliches Bild machen können, und daß das, was das NT etwa in dieser Richtung sagt, Mythologie ist. Ebenso darin, daß der Zusammenbruch der Mythologie das Gute hat, alle Unreinheit des Ewigkeitsglaubens zu vertilgen" (Besprechung von: E. Hirsch: Die Auferstehungsgeschichten und der christliche Glaube, Sp. 245). Vgl. R. BULTMANN: Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung.

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Obwohl es den Zeitraum der frühen Christologie überschreitet, wollen wir - weil die Richtung der späteren Lösung schon in der Frühschrift von 1926 angedeutet ist - Hirschs 1940 ausformuliertes quellenkritisches und religionsgeschichtliches Bild der Erscheinung an Petrus bereits an dieser Stelle in Form eines ausführlicheren Exkurses behandeln. Die literarkritischen Einzelbeobachtungen zum Quellenwert der verschiedenen Berichte brauchen hier nicht erörtert zu werden. 109 Es kommt uns lediglich auf die Rekonstruktion des Hergangs und seines sachlichen Gehalts an. Beginnen wir mit den in den Evangelien berichteten Ostererscheinungen. Hirsch unterscheidet zwischen einem Typus von Erscheinungen, die in Jerusalem stattgefunden haben sollen, und einem solchen von Erscheinungen in Galiläa. Sein historisches Urteil darüber lautet: "der jerusalemische Typus der Osterlegende ist eine sekundäre Bildung. Der galiläische Typus hat ihm gegenüber alle Vermutung auf höheres Alter für sich" (AchGl 15). Von besonderer Relevanz ist dieser literarkritische Befund für den Stellenwert der Uberlieferung vom leeren Grab. "Alle Geschichten von Erscheinungen Jesu in Jerusalem oder gar am Grabe haben sich als freie Erzeugnisse der Legende der zweiten christlichen Generation erwiesen. Das Leerfinden des Grabes durch Petrus und Johannes gehört erst der kirchlichen Bearbeitung des vierten Evangeliums, also wahrscheinlich dem zweiten Jahrhundert an" (AchGl 27). Hinsichtlich des sachlichen Gehaltes der ersten Ostererscheinungen zieht Hirsch daraus folgenden Schluß: "Alle Vorstellungen, die man aus den Auferstehungsgeschichten der Evangelien über das urchristliche Verständnis der Erscheinungen gewinnt, sind falsch; die einzige an die Sache heranführende Analogie ist das Damaskuserlebnis des Paulus" (AchGl 33f). Soweit hat sich der Ansatz von 1926 durchgehalten. Wir wenden uns nun Hirschs Analyse der paulinischen Überlieferung zu. Die erste Beobachtung gilt dem Charakter des Erscheinungserlebnisses des Paulus. Hier ist zunächst festzuhalten, daß dieser selbst sein Damaskuserlebnis als eine Art Schauen im Geist beurteilt hat. Der religionswissenschaftlichen Klassifizierung nach kann es sich für Hirsch deshalb nur um eine Vision bzw. ein "Gesicht" gehandelt haben. "Die Erscheinung eines bei Gott in der himmlischen Herrlichkeit Seienden geschieht nach allen Analogien, die die biblische Religion, überhaupt aber höhere 109 Vgl. diesbezüglich die literarkritischen Ausführungen zu den einzelnen Perikopen in FE I und FE II. Zu berücksichtigen ist auch H.v. CAMPENHAUSEN: Der Ablauf der Osterereignisse und das leere Grab. Campenhausen bemerkt zu Beginn seiner Studie: Hirschs Auferstehungsbuch "erschien unter unglücklichen theologischen Auspizien und wurde vorzüglich von hier aus beachtet. Die folgende Untersuchung kommt seinen historischen Ergebnissen nah, hofft sie aber breiter und vorsichtiger begründen zu können" (a.a.O. 7 Anm. 2).

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Religion bietet, im Gesicht, d.h. in einem enthusiastischen Zustande, dem sonst verborgene Wirklichkeit sich enthüllt" (AchGl 8). Unter Zugrundelegung des Visionscharakters des paulinischen Damaskuserlebnisses ergibt sich nun bezüglich der neutestamentlichen Gesamtüberlieferung die Diskrepanz, daß für Paulus Erscheinungen des Auferstandenen offensichtlich "Erscheinungen eines schon zu Gott in die himmlische Herrlichkeit Entrückten gewesen sind .... Die offizielle kirchliche Osterlegende hingegen hat eine viel mehr irdische Vorstellung vom Sehen des Herrn, demgemäß, daß ihr der auferstandne Herr eine noch nicht in die himmlische Herrlichkeit entrückte Gestalt ist" (AchGl 8). Das bedeutet, daß die historische Rekonstruktion der Erscheinung an P e t r u s von zwei Arten des Erscheinens des Auferstandenen auszugehen hat. Damit können wir zu dem anderen P u n k t des paulinischen Zeugnisses vom erhöhten Herrn übergehen. Er betrifft die Paradosis in 1. Kor. 15, 57. Mit ihr gibt Paulus die gewissermaßen offizielle Darstellung derjenigen Erscheinungen wieder, welche die Urgemeinde als verbindlich anerkannte und bei welcher es im Hinblick auf den weiteren Gang der Dinge sein Bewenden haben sollte. Deshalb kann Paulus sein eigenes Schauen des Erhöhten (V. 8) nur als das letzte Glied jener Zeugenkette verstehen. Das bedeutet aber: "Paulus ordnet seine Damaskuserscheinung als den übrigen Erscheinungen gleich und ebenbürtig ein" (AchGl 7f). Darin hegt zweierlei: Alle in dieser Reihe genannten Erscheinungserlebnisse sind von der Art des &φθη κάμ,οί (V 8), also Schauungen im Geist. D a r u m ist auch das ώφθη Κηφςί (V 5) als ein Schauen im Geist einzustufen. Auf der Grundlage dieses aus Paulus gewonnenen Zwischenergebnisses wendet sich Hirsch nun noch einmal zurück zur synoptischen Uberlieferung, u m sie auf Spuren jener Erscheinung an Petrus hin zu analysieren. Das Motiv dieser Anstrengungen hegt auf der Hand: Hirsch empfindet es als ein irritierendes Faktum, daß einerseits der älteste u n d beste Bericht über die Erscheinungen des Erhöhten Petrus als den ersten Zeugen anführt, andererseits jedoch diese Erscheinung an Petrus - sieht m a n von ihrer Erwähnung in Lk 24, 34 ab - "in keinem unsrer vier Evangelien als solche erzählt" (AchGl 3) ist. Das theologische Gewicht dieses religions- und überlieferungsgeschichtlichen Problems hegt darin, daß mit seiner Einschätzung zugleich mitentschieden wird über den ursprünglichen Gehalt des christlichen Osterglaubens. Hirschs synoptische Forschung hat letztlich ein christologisches Motiv. Den gesuchten Bericht über die erste Erscheinung an Petrus vermutet Hirsch in der ursprünglichen Fassung des Markusschlusses, welche einmal anstelle des heutigen Textes Mk 16, 9ff gestanden haben mag. Gestützt wird diese Annahme u.a. durch die - von Hirsch immer noch als einleuchtend erachtete - ältere Hypothese, daß das Markusevangelium auf P e t r u s

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selbst zurückgehe. Hirsch äußert auch einen Verdacht über den Grund des Fehlens des ursprünglichen Endes dieses Evangeliums: "eine kirchliche Schere hat es weggeschnitten" (AchGl 3). Welche Motive mögen hinter diesem Vorgang gestanden haben? Die erste Vermutung wäre die, daß sich dahinter die Konkurrenz von galiläischen und jerusalemischen Erscheinungstraditionen verbergen könnte: "die Erscheinung Jesu, die ursprünglich als die erste und wichtigste galt, die an Petrus, mußte von einem Vertreter des rein jerusalemischen Typus unterdrückt werden, weil sie diesem Typus widersprach" (AchGl 16). Aber dieser Konflikt kann für sich allein nicht als Ursache jenes Schnitts in Frage kommen, da ja andere Repräsentanten des galiläischen Typs durchaus erhalten sind. "Das Rätsel löst sich nur, wenn m a n ann i m m t , die Geschichte von der Erscheinung an Petrus habe eine ganz andre Anschauung von der Art der Auferstehungserscheinungen vermittelt, als sie den Christen nach 70 n.Chr. gemäß war" (AchGl 18). Worin mag die Anstößigkeit gelegen haben, welche die im ursprünglichen Markusschluß erzählte Erscheinung an Petrus zum Verschwinden gebracht hat? Hirschs Antwort: "Sie müßte ... abgesehen davon, daß sie galiläisch war, noch deutlich als Schauen und Hören im Geiste, kurz als Gesicht, gekennzeichnet gewesen sein" (AchGl 18). Es liegt auf der Hand, welche Indizien Hirsch zu dieser Annahme bewegen: Unter Voraussetzung des oben aus 1 Kor 15 erhobenen Tatbestandes ergibt sich der begründete Verdacht, daß die Erscheinung an P e t r u s deshalb aus der Überlieferung getilgt wurde, weil sie ein geistiges Schauen des Erhöhten gewesen ist. Sie widersprach damit der Gesamttendenz zur Verleiblichung und Verdinglichung der Ostererfahrung. Diese Erklärung das weiß Hirsch selber - ist freilich bloße Hypothese. Aber er hält sie vor dem Hintergrund der Anfänge der synoptischen Uberlieferung im Ganzen für die wahrscheinlichste. Die von Paulus bezeugte Geisthaftigkeit seines Erscheinungserlebnisses, die Gleichartigkeit aller Erscheinungen an die der Reihe nach aufgeführten Zeugen, die Geisthaftigkeit infolgedessen auch der Erscheinung an Petrus und schließlich der Gegensatz zwischen diesem Erscheinungstypus und der überwiegenden Zahl der synoptischen Erscheinungen sind jedenfalls Daten, an denen keine Rekonstruktion der Osterereignisse vorbeikommt. Aber auch wenn m a n davon ausgeht, daß der ursprüngliche Schluß des Markusevangeliums einer Redaktion zum Oper fiel, hält es Hirsch für möglich, daß die Erscheinung an Petrus "uns in maskierter Gestalt, nämlich ihres Charakters als erste Auferstehungserscheinung beraubt, noch wo anders in den Evangelien erhalten ist" (AchGl 3). "Es findet sich in den Evangelien mehr als ein Beispiel dafür, daß ein Wort Jesu, das ein urchristlicher Prophet im Geiste vom erhöhten Herrn empfing gemäß sei-

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nem eignen und der Gemeinde Glauben, zu einem Wort des geschichtlichen Jesus umgeprägt worden ist ... Von solchen Voraussetzungen ist es nicht weit dahin, daß die Geschichte von einer Christuserscheinung als Geschichte einer Begegnung mit Jesus zu seinen Lebzeiten mißverstanden oder umgedeutet wird" (AchGl 21). Als solche Perikopen, die ursprünglich einmal die erste Erscheinung des Erhöhten an Petrus zum Inhalt gehabt haben könnten, dann aber an anderer Stelle und in leicht veränderter Gestalt überliefert wurden, beurteilt Hirsch - aufgrund literarkritischer Erwägungen - die beiden in Joh 21 und Lk 5, 3-11 vorliegenden Fassungen der Legende vom wunderbaren Fischzug (vgl. AchGl 7.17.21ff). u 0 Mt 14, 28-31 hält er für die Urform dieser Legendenvarianten (vgl. AchGl 23f). Darüber hinaus erblickt er auch in Mk 6, 47-52 noch Spuren eines Auferstehungsgesichtes des Petrus (vgl. AchGl 25f). Hirsch faßt zunächst den Inhalt der beiden Sekundärfassungen der Legende vom wunderbaren Fischzug so zusammen: "Joh. 21 erzählt im Zusammenhang mit der Erscheinung die gnädige Wiedereinsetzung des Petrus in seine Stellung als erster der Jünger. Luk. 5 erzählt ein verzweifeltes Schuldbekenntnis des Petrus, zu dem in der Luk. 5 vorausgesetzten Lage jeder Anlaß fehlt, und die gnädige Bestellung des sich so Bekennenden zum Apostel" (AchGl 22f) Was besagen beide Perikopen aber als verstümmelte Berichte über eine Erscheinung an Petrus? Hirsch äußert hierzu: "Bei jedem Versuch, sich den letzten Sinngehalt des Erlebnisses zu vergegenwärtigen, das dem Verleugner Petrus die Christuserscheinung sein mußte, kommt man auf eben diesen Inhalt: Begnadigung aus tiefer Schuld und Einsetzung zum Zeugen und Apostel des lebendigen Herrn" (AchGl 23). Auch die in Mt 14, 28-31 vorliegende Urform der Legende vom wunderbaren Fischzug hat für Hirsch keinen anderen Inhalt als das "Erlebnis der aus Schuld errettenden Gnade" (AchGl 24). Somit können wir als Ergebnis dieses Exkurses festhalten: Das quellenkritisch wahrscheinliche Ereignis der Ostererfahrung des P e t r u s hatte, religionswissenschaftlich-psychologisch gesehen, die Form eines enthusiastischen Erscheinungserlebnisses. Der religiöse Gehalt dieses Visionserlebnisses m u ß in dem Erleiden des Ubergangs von Schuld in Gnade bestanden haben. 1 1 1 110 Vgl. G. KLEIN: Die Berufung des Petrus; R. PESCH: Der reiche Fischfang, 24f. Beide Autoren beziehen sich - soweit sie sich mit Hirsch auseinandersetzen - nur auf literarkritische Einzelaussagen in FE II, nicht auf den religionsgeschichtlichen Rekonstruktionsverusch in AchGl. 111 Bereits 1940 hat P. ALTHAUS dagegen Einspruch erhoben, den Gehalt der christlichen Ostererfahrung von der Petrusvision her zu rekonstruieren (vgl. seine Hirsch-

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Damit hat sich in der 1940 vorgelegten Darstellung mit ihren komplizierten literarkritischen und religionsgeschichtlichen Analysen u n d Hypothesen dasselbe Bild der Entstehung des Osterglaubens ergeben, welches bereits in dem christologischen Entwurf von 1926 - wenn auch gewissermaßen über einen Abkürzungsweg - erzielt worden wax. Hirsch konnte seinen einstigen Ansatz durch die exegetischen und historischen Ergebnisse seiner "Frühgeschichte des Evangeliums" durchaus bestätigt finden. Wir können uns hier eine Diskussion der weiteren Ausführungen Hirschs, etwa über die Entstehung und Verbreitung des Osterglaubens der Gemeinde durch eine von Petrus ausgehende Kettenreaktion von Visionserlebnissen, ersparen. Eine methodische Anmerkung ist allerdings angebracht: Hirschs Darlegungen, insbesondere zu den Spuren der ersten Erscheinung an Petrus, haben einen auffallend hypothetisch-konstruierenden Charakter. 1 1 2 Hirsch weiß das selbst und beschließt das einschlägige Kapitel d a r u m mit folgenden Worten: "Die Gedankenführung dieses Abschnitts hat stark mit Annahmen arbeiten müssen. Nicht jede Einzelheit mag den Leser überzeugt haben. Einen andern Weg, sich ein annäherndes Bild von dem Auferstehungsgesicht des Petrus zu verschaffen, gibt es aber nicht. Die spätere Legendenbildung ist zu reich und kraus und die Zertrümmerung aller ursprünglichen Berichte durch die kirchlichen Bearbeiter und Herausgeber unsrer Evangelien ist zu gründlich, als daß wir hier auf das Hilfsmittel der begründeten Annahme verzichten dürften" (AchGl 26).

Rezension: Die Wahrheit des kirchlichen Osterglaubens). Althaus hat auch in späteren Jahren an seiner skeptischen Haltung gegenüber der Christologie Hirschs festgehalten; vgl. dazu das Dogmatik-Lehrbuch: Die christliche Wahrheit, Bd. 1, 121f.142-145.209; Bd. 2, 206f.215f.234-236.273f sowie den Beitrag "Christologisches. Fragen an Emanuel Hirsch" in der Hirsch gewidmeten Festschrift: Wahrheit und Glaube. Man wird F. BÖBEL in dieser Hinsicht zustimmen können, wenn er urteilt: Althaus biete "die eingehendste und eindringendste Auseinandersetzung mit Hirschs Theologie" (Menschliche und christliche Wahrheit, Anmerkungsteil S. 33). 112 So konzentriert sich die Kritik von H. GRASS (Ostergeschehen und Osterberichte) vornehmlich auf das hypothetische Element in Hirschs Deutung: a) die Beseitigungshypothese hinsichtlich des Markusschlusses (a.a.O. 18f), b) die Visionshypothese hinsichtlich der Erscheinung an Petrus (a.a.O. 189), c) die Bekehrungshypothese hinsichtlich des paulinischen Damaskuserlebnisses (a.a.O. 207.211f), d) die Kettenreaktionsthese bezüglich der Oster-Pfingst-Erfahrung (a.a.O. 240f). Der darin enthaltene theologische Einwand lebt von einem Antipsychologismus (a.a.O. 80.233.239; vgl. auch 101.238), der seinerseits reformatorisch (!) begründet wird (a.a.O. 239). Forschungsgeschichtlich wird Hirsch in die Nähe gerückt zu J. FlNEGAN: Die Überlieferung der Leidens- und Auferstehungsgeschichte Jesu. Die Hirsch-Kritik von P. Althaus beurteilt Graß als Erneuerung der Überlegungen Th. Haerings und M. Kaehlers (a.a.O. 271).

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Bevor wir uns wieder der frühen Christologie zuwenden, mag es sinnvoll sein, Hirschs Ansatz und seine Deutung des Hergangs der Osterereignisse auch in forschungsgeschichtlicher Hinsicht wenigstens knapp zu würdigen. Dabei zeigt sich, daß Hirschs Rekonstruktion der Ostererfahrung anhand der Person des Petrus keineswegs aus dem Rahmen der älteren neutestamentlichen Wissenschaft fällt. Zwei Beispiele, eines aus der historischen Theologie und eines aus der religionsgeschichtlichen Schule, mögen dies in der gebotenen Ausführlichkeit - veranschaulichen. Carl Weizsäcker, Nachfolger Ferdinand Christian Baurs in Tübingen und akademischer Lehrer Karl Holls, schreibt in seiner Geschichte des Urchristentums zur Person des Petrus und zu dessen Stellung in der Urgemeinde: "Die Thatsache, dass Petrus die erste Erscheinung des Auferstandenen hatte, ist der geschichtlich festeste Punkt in diesem ganzen dunklen Gebiete. Sie ist aber auch eine eminent historische Thatsache, denn an ihr hängt der ganze neue Anfang, durch sie wird insbesondere die geschichtliche Stellung des Petrus erklärt. Petrus ist ohne Frage der erste Mann in der Urgemeinde.... Die Bedeutung des Petrus war sicher schon vom Meister selbst erkannt, er war von diesem schon über alle andern ausgezeichnet worden.... Was ihm aber jetzt, in den ersten Zeiten, und damit allerdings für die weitere Folge, dieses unbestrittene Uebergewicht gegeben hat, das liegt eben im Anfange selbst, in dem, was er für diesen Anfang war, oder dass er selbst der Anfang war. Derjenige, welcher den Herrn zuerst sah, welcher den zündenden Glauben daran verbreitete, dessen eigenes Erleben zum Erleben der Genossen wird, ist das Haupt und musste das Haupt sein. Das ganze Gewicht seiner Person hegt in dieser That; ohne sie gab es keine Gemeinde; sie kann nicht hoch genug angeschlagen werden". 113 Hier haben wir bereits wichtige Momente von Hirschs Verständnis der Entstehung des Osterglaubens: Erstens, die Rekonstruktion des geschichtlichen Hergangs hat von der Erscheinung an Petrus ihren Ausgang zu nehmen. Und zweitens, die Visionserlebnisse der weiteren Zeugen erklären sich durch eine von Petrus ausgehende Kettenreaktion. Johannes Weiß 114 macht in seinem Kommentar zum 1. Korintherbrief des Paulus zu Kap. 15, 5 folgende Anmerkung: "Daß ώφθη bei ihm nicht 113 C . WEIZSÄCKER: Das apostolische Zeitalter der christlichen Kirche, 12f. 114 M a n d a r f hier die F r a g e auf sich beruhen lassen, inwieweit die Zugehörigkeit von J . Weiß zur religionsgeschichtlichen Schule durch das Fehlen der Distanznahme gegenüber Ritsehl in F r a g e gestellt wird (so die These von F . W . GRAF: Der Systematiker der "Kleinen Göttinger F a k u l t ä t " . E r n s t Troeltschs Promotionsthesen und ihr Göttinger K o n t e x t , 2 5 9 - 2 6 5 ) . Wechselseitige Bewertungen aus der Rivalitätsperspektive der einzelnen Teilnehmer des Göttinger Kreises können jedenfalls k a u m das theologiegeschichtliche Urteil über die Fernwirkung Ritschis auf die Religionsgeschichtliche Schule ersetzen.

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eine subjektive 'Vision' im modern-psychologischen Sinne bedeutet, sondern ein wirkliches Sehen des Verklärten, ist selbstverständlich, wenn auch dies Sehen immer nur έν πν€·ύμ,ατ ι stattfinden kann, wie bei allen himmlischen Schauungen. Also dies ist die große Fundamental-Überlieferung, daß Christus dem Kephas erschienen ist". 1 1 5 Auch hier finden wir wie bei Weizsäcker die Betonung des grundlegenden Charakters der Erscheinung an Petrus. Die Art des Visionserlebnisses hat Weiß allerdings in seiner p o s t h u m erschienenen Geschichte des Urchristentums wesentlich genauer beschrieben. 1 1 6 Drei P u n k t e sind hervorzuheben: Erstens, bei der Erscheinung an Petrus handelt es sich u m ein himmlisches Schauen im Geist. Damit repräsentiert das Ostererlebnis des Petrus einen älteren Erscheinungstypus, der später durch einen anderen, für die kirchliche Sicht der Osterereignisse schließlich verbindlich gewordenen Typus abgelöst worden ist. "Es liegt hier [seil, beim älteren Erscheinungstypus des himmlischen Schauens im Geist] eine eigentümliche, uns ungewohnte Auffassung vom Tode Jesu zu Grunde, die in den alten Quellen zwar bezeugt, aber stark in den Hintergrund gedrängt ist, nämlich daß Jesus im Augenblicke seines Todes unmittelbar zu Gott eingegangen ist Und in dieser Herrlichkeit hat er sich dann den Seinen gezeigt. W ä r e diese Anschauung zur alleinigen Herrschaft gekommen, so h ä t t e es einer Lehre von der Auferstehung sozusagen nicht bedurft". 1 1 7 Zweitens, Weiß vertrat in der oben zitierten Kommentarstelle zu 1 Kor 15,5 noch den naheliegenden Einwand gegen die Visionshypothese, daß der Visionsbegriff mit seiner Reduktion der Erscheinungen auf rein subjektive Erlebnisse dem intentionalen Gehalt der in den Quellen überlieferten Erscheinungserlebnisse selber nicht gerecht werde. In seiner späteren Geschichte des Urchristentums jedoch macht sich Weiß den Visionsbegriff ausdrücklich zu eigen, definiert ihn im Sinne der empirischen Bewußtseinspsychologie 118 und entkräftet damit zugleich jenen Einwand mit einleuchtenden Gründen. "Wissenschaftlich versteht m a n darunter den Vorgang, daß im Gesichtsfeld ein Bild auftaucht, dem kein äußerer Gegenstand entspricht. Der Sehnerv ist also nicht durch von außen kommende Lichtoder Äther-Wellen in Schwingungen versetzt, sondern er ist erregt worden durch einen inneren physiologischen Vorgang; aber der dadurch geweckte Sinneseindruck wird von dem Visionär genau so empfunden wie ein 'objektiver'; er glaubt den Gegenstand wirklich vor sich zu sehen". 1 1 9 115 A.a.O. 349f. 116 Vgl. J. WEISS: Das Urchristentum, 17ff.

117 A.a.O. 19f. 118 Vgl. dazu H. HÖFFDING: Psychologie in Umrissen auf Grundlage der Erfahrung, 179ff und W . W Ü N D T : Grundzüge der physiologischen Psychologie III, 643fF. 119 A.a.O. 20.

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Drittens, Weiß hält den auf das geisthaft-himmlische Schauen angewandten Visionsbegriff nicht etwa für eine hermeneutische Notlösung moderner Erklärer, sondern im Gegenteil für eine im Vergleich zum traditionellen Begriff des äußeren Wunders - was den religiösen Gehalt solcher Erlebnisse anbelangt - weitaus angemessenere Kategorie. "Wenn die Jünger durch ein von außen an sie herangetretenes Wunder überzeugt worden sind, so ist ihre Umstimmung oder - im Falle des Paulus - die Bekehrung ein gewaltsamer, unorganischer, d.h. innerlich unvorbereiteter Vorgang Aber ihr Glaube hätte dann auch - für unser Empfinden keinen allzu großen sittlichen oder religiösen Wert.... Erst dann hätte ihre Uberzeugung die Merkmale einer kühnen Zuversicht und damit wirklichen Persönlichkeitswert, wenn die Erscheinungen des Erhöhten nur die letzte Bestätigung und Belohnung eines schon vorher der Niedergeschlagenheit abgewonnenen, gegen den Zweifel immer wieder neu errungenen, gegen allen Augenschein kraftvoll festgehaltenen Glaubens war.... Weil sie auch nach dem Tode Jesu nicht von ihm lassen konnten und weil sie trotz seiner Niederlage immer noch im Innersten überzeugt waren, daß er von Gott zur Herrschaft berufen sei, hat das Oster-Erlebnis einen für alle Zukunft bestimmenden Eindruck auf sie machen können. Wer so denkt, kann auch den letzten Schritt mit uns tun und sagen: die Erscheinungen sind nicht von außen an sie herangetreten, sondern sie sind nur die Endpunkte eines inneren Ringens, in dem der Glaube über den Zweifel siegte Insofern sind sie nicht, wie es ihnen damals schien, der Grund sondern eine Wirkung ihres Glaubens. Unsere Betrachtung bedeutet also keine Entwertung sondern recht eigentlich eine Beseelung der Oster-Erlebnisse. Statt eines durch ein Wunder erzwungenen Glaubens haben wir es zu tun mit einer tiefinnerlichen Überzeugung, die durch ein überwältigendes Enderlebnis vollends zur Gewißheit und zur Tat geworden ist." 1 2 0 Die von Weiß gebrauchten sprachlichen Wendungen einschließlich der in ihnen ausgedrückten Wertvorstellungen lassen deutlich die Zeit ihrer Abfassung erkennen. Drei Gesichtspunkte sind jedoch der Sache nach hervorhebenswert: Erstens, die Visionshypothese beinhaltet nicht nur eine abstrakte, sondern die konkrete Identität des Erhöhten mit dem geschichtlichen Jesus. Zweitens, das Visionäre des Ostererlebnisses ist nur das Begleitphänomen eines wesentlicheren, religiösen Vorgangs in dem erlebenden Subjekt. Drittens, jener Einwand gegen die Visionshypothese in Verbindung mit der Berufung auf ein äußeres Wunder ist nicht nur als ein unhistorisches, apologetisches Argument einzustufen, sondern darüber hinaus - was weit schwerer wiegt - als der Versuch der Entsubjektivierung der urchristlichen Ostererfahrung und damit des christlichen Glau120 A.a.O. 21f.

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bens überhaupt. Die Visionshypothese hat nach Weiß nicht zuletzt darum als theologisch legitim zu gelten, weil sie die Glaubenssubjektivität der Ostererfahrung adäquater zum Ausdruck zu bringen vermag als ihre auf den ersten Blick korrektere orthodoxe Alternative. Damit läßt sich die Bedeutung des forschungsgeschichtlichen Hintergrundes für Hirschs Rekonstruktion der Entstehung des Osterglaubens abschließend charakterisieren. Neben dem mit Carl Weizsäcker geteilten grundsätzlichen Ansatz bei der Person des Kephas finden sich nahezu alle von Johannes Weiß genannten Punkte in Hirschs Deutung wieder: 1. Die qualitative Unterscheidung zweier Arten von Ostererscheinung; 2. das höhere Alter des himmlischen Schauens im Geist, wie es bei Paulus und Petrus vorliegt; 3. die Anwendung der Kategorie der Vision bzw. des Gesichtes auf diesen Erscheinungstypus; 4. die in der Visionshypothese implizierte konkrete Identität des Geschichtlichen und Erhöhten; 5. das religiös Unwesentliche des Visionserlebnisses als solchem; 6. der Subjektivitätscharakter des ältesten Osterglaubens.121 121 In diesem Zusammenhang sind auch Wolfhart P A N N E N B E R G S Einwände gegen die Visionshypothese zu erwähnen, die er in seinen 1964 erschienenen "Grundzügen der Christologie" vor allem in der kritischen Auseinandersetzung mit dem Auferstehungsbuch Hirschs vorgetragen hat. Abgesehen davon, daß Pannenberg in diesem Zusammenhang - anders als sonst - auf Johannes Weiß nicht eingeht, fällt auf, daß seine Argumentation die von Hirsch und der älteren Forschung geltend gemachten exegetischen Fakten zwar größtenteils berücksichtigt, die daraus erwachsenden komplizierten religions- und überlieferungsgeschichtlichen Probleme aber kaum traktiert, sondern eher herunterspielt (a.a.O. 93-103). Bezüglich des hermeneutischen Rahmens der Beurteilung des Ostergeschehens bestreitet Pannenberg die Zuständigkeit sowohl der Psychologie als auch der Naturwissenschaft, ersteres mit dem Hinweis auf mangelnde Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Visionserlebnisses im "psychiatrischen" (a.a.O. 95) Sinne, letzteres mit dem Hinweis auf Lücken im allgemeinen Gesetzeszusammenhang ebenso wie in der Determiniertheit des Einzelgeschehens. Stattdessen wird die Geschichtswissenschaft als allein zuständig erklärt. Umso mehr verwundert, daß Pannenberg 1. die Notwendigkeit eines historischen Ansatzes bei dem ältesten Zeugen, nämlich Petrus, sowohl methodisch als auch inhaltlich vollständig übergeht. Auch die bezüglich der Ostererscheinung an Petrus bestehende überlieferungsgeschichtliche Diskrepanz zwischen dem Synoptikerbefund und 1 Kor 15, 5 wird als solche von ihm nicht problematisiert. 2. Pannenberg räumt ein, daß Ostererscheinungen nur als an Gläubige ergangene bezeugt sind, behauptet aber zugleich, daß die Ostererscheinungen nicht aus dem Glauben der Jünger, sondern der Osterglaube der Jünger aus den Ostererscheinungen hervorgegangen sei. Beides zusammen bildet zwar keinen Widerspruch. Wie unter Voraussetzung des ersteren aber das letztere noch als historische Aussage aufgefaßt werden kann, wird in keiner Weise ersichtlich. 3. Pannenberg unterscheidet wohl zwischen ekstatischen Schauungen und Erscheinungen des Auferstandenen und dann noch einmal innerhalb dieser, erörtet die damit verbundenen religionsund überlieferungsgeschichtlichen Probleme indes nur beiläufig. 4. Pannenberg

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Bezieht man Hirschs Deutung der Osterereignisse zurück auf die ältere Debatte, dann stellt sie sich kaum mehr als gewaltsames hypothetisches Konstrukt dar, sondern als pointiertes, präzises Referat von als maßgeblich erachteten Forschungsergebnissen. So bescheinigte denn auch Rudolf Bultmann in seiner Rezension von Hirschs Auferstehungsbuch der darin vertretenen historischen Sicht: "In der Analyse der Ostergeschichten stimmt der Verf. mit weithin vertretenen kritischen Meinungen überein" (ThLZ 65 (1940), 242). Liest man Hirschs Auferstehungsbuch im Lichte seiner "Frühgeschichte des Evangeliums", dann besteht sein Profil vor allem darin, daß zum einen die genannten älteren Darstellungen durch ein wesentlich schärfer gezeichnetes literarkritisches Bild ergänzt und fundiert werden, und daß zum anderen die theologische Gesamteinordnung eine vollkommen verschiedene ist. Beides braucht hier nicht ausgeführt zu werden, da es den in diesem Kapitel behandelten Zeitraum der Theologie Hirschs überschreitet. 122

b) Der "Christus κατά σάρκα" und die paulinische Christologie Nach dem Exkurs zu Hirschs 1940 vorgelegter historischer Rekonstruktion der Ostererscheinung an Petrus kehren wir zurück zur Interpretation des urchristlichen Osterglaubens im Jesus-Buch. Sie hat ihr Fundament kritisiert die bezüglich der Vielzahl von Visionserlebnissen aufgestellte Kettenreaktionsthese, übersieht jedoch, daß diese voll und ganz auf der von ihm selbst nicht gewürdigten historischen Stellung des Petrus basiert. Zusammenfassend wäre also festzuhalten, daß Pannenbergs Kritik der Visionshypothese wenig Uberzeugungskraft besitzt, nicht nur, weil sie den visionären Charakter der ältesten Osterescheinungen nicht einleuchtend widerlegen kann, und auch nicht deshalb, weil sie zur Stützung des eigenen Programms die hermeneutisch wohl zutreffende These der Abhängigkeit alles historischen Brkennens von dem "schon mitgebrachten Wirklichkeitsverständnis" (a.a.O. 95) theologisch ausreizen muß, sondern darum, weil sie einigen wesentlichen, durch den Quellenbefund aufgegebenen religionsgeschichtlichen und überlieferungsgeschichtlichen Problemen sichtlich aus dem Wege geht. Es ist davon abgesehen aber auch in dogmatischer Hinsicht problematisch dies wurde bereits anhand der von Johannes Weiß vorgetragenen Kritik exegetischer Wunder-Apologetik andeutungsweise erkennbar - , die urchristlichen Ostererscheinungen als rein an sich bestimmte Tatsachen auszugeben. Theologisch gesehen besteht keinerlei Anlaß, den reinen Glaubenscharakter der urchristlichen Ostererfahrung durch eine - noch dazu historisch fragwürdige - Verobjektivierung vermeintlich zu überbieten, wodurch er in letzter Konsequenz umgekehrt eher aufgehoben würde. 122 Zum quellenkritischen Gesamthintergrund vgl. unten Kap. II.B.2; zum dogmatischen Rahmen vgl. unten Kap. V.B.

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in der These, daß "Petri Ostern und Pauli Damaskus im Kerne die gleiche Erfahrung" ( J C h H 40) repräsentieren. Was dazu im Hinblick auf Petrus zu sagen ist, haben wir dargelegt. Wenden wir uns also Hirschs PaulusDeutung zu, soweit das Verständnis des Osterglaubens davon direkt betroffen ist. Hirschs These scheint zwei exegetische oder religionsgeschichtliche Sachverhalte gegen sich zu haben, zum einen die in der Theologiegeschichte unseres Jahrhunderts arg strapazierte Selbstaussage des Paulus in 2 Kor 5, 16b und zum andern die paulinische Christologie als ganze, deren Beziehung auf den geschichtlichen Jesus bekanntlich strittig ist. Beginnen wir mit dem erstgenannten Problem. In dem berühmten, in der "Christlichen Welt" abgedruckten öffentlichen Briefwechsel zwischen Adolf von Harnack und Karl B a r t h aus dem J a h r e 1923 wies Harnack auf die bei Barth seiner Meinung nach unterschätzte Funktion der wissenschaftlichen Theologie hin, speziell auch im Hinblick auf die Christologie. Die dahingehend formulierte Frage 14 lautete: "Wenn die Person Jesu Christi im Mittelpunkt des Evangeliums steht, wie läßt sich die Grundlage für eine zuverlässige und gemeinschaftliche Erkenntnis dieser Person anders gewinnen als durch kritischgeschichtliches Studium, damit man nicht einen e r t r ä u m t e n Christus für den wirklichen eintausche? Wer anders aber vermag dieses Studium zu leisten als die wissenschaftliche Theologie?" ( C h W 37 (1923), 8). Barth antwortet mit der generellen Bestreitung jedweder positiven Zuständigkeit der Geschichtswissenschaft für Glaube und Theologie: "Die Zuverlässigkeit und Gemeinschaftlichkeit der Erkenntnis der Person Jesu Christi als Mittelpunkt des Evangeliums kann keine andere sein als die des von Gott erweckten Glaubens. Kritisch-geschichtliches Studium bedeutet das verdiente u n d notwendige Ende der 'Grundlagen' dieser Erkenntnis, die keine sind, weil sie nicht von Gott selbst gelegt sind. Wer es etwa noch nicht weiß (und wir wissen es alle immer noch nicht), daß wir Christus nach dem Fleische nicht mehr kennen, der mag es sich von der kritischen Bibelwissenschaft sagen lassen: je radikaler er erschrickt, u m so besser für ihn und die Sache. Und das mag dann etwa der Dienst sein, den 'geschichtliches Wissen' bei der eigentlichen Aufgabe der Theologie leisten kann" ( C h W 37 (1923), 91; Hhg.v.Vf.). Rudolf Bultmann kommt in seinem Aufsatz über "Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung" aus dem Jahre 1924 u.a. auf den Harnack-Barth-Briefwechsel zu sprechen, auch auf Frage und Antwort 14. Er stimmt Barths Position zu und bezieht sie ausdrücklich auf "die Jesusbilder der liberalen Theologie". Das Barth-Zitat schließt dessen Berufung auf 2 Kor 5, 16b ein. Bultmann seinerseits begründet jene Absage an die Zuständigkeit der Geschichtswissenschaft für Glaube und Theologie

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mit deren hypothetischem Charakter. "Die Geschichtswissenschaft kann überhaupt nicht zu irgendeinem Ergebnis führen, das für den Glauben als Fundament dienen könnte, denn alle ihre Ergebnisse haben nur relative Geltung". Infolgedessen kann auch das historisch gewonnene Jesusbild keine Relevanz für den Glauben haben. Historische Kritik "hat radikal zur Freiheit und Wahrhaftigkeit zu erziehen, nicht nur, indem sie von einem gewissen Geschichtsbild der Tradition frei macht, sondern indem sie von einem jeden für wissenschaftliche Erkenntnis möglichen Geschichtsbild, frei macht und zum Bewußtsein bringt, daß die Welt, die der Glaube erfassen will, mit der Hilfe der wissenschaftlichen Erkenntnis überhaupt nicht erfaßbar w i r d " . 1 2 3 Die so geforderte Enthistorisierung des theologischen Bewußtseins einschließlich des darin enthaltenen Jesusbildes erscheint B u l t m a n n als eine legitime Konsequenz des von B a r t h und ihm vertretenen Programms. Im J a h r e 1927 nun rezensiert Bultmann Hirschs Schrift "Jesus Christus der Herr", die im J a h r zuvor - also gleichzeitig mit seinem eigenen JesusB u c h - erschienen war. 1 2 4 Knapp die Hälfte der Rezension dient B u l t m a n n zu einer Auseinandersetzung mit seinem Lehrer Wilhelm Herrmann, in dessen Kontinuität ihm Hirsch zu stehen scheint. Der andere Teil geht auf Hirschs B u c h selbst ein und diskutiert einige Sachverhalte überwiegend grundsätzlicherer Art. B u l t m a n n ist Hirsch stellenweise erstaunlich nahe, dem Gesamttenor nach wirkt die Auseinandersetzung jedoch eher gereizt und stark auf Abgrenzung bedacht. Exegetische Fragen werden so gut wie gar nicht angeschnitten. F ü r unseren Zusammenhang ist wichtig, daß B u l t m a n n sich in seiner Kritik wiederholt auf 2 Kor 5, 16b beruft, und zwar als Hauptinstanz gegen ein auf geschichtlicher Wahrnehmung gegründetes JesusVerständnis: "das Bild, das Hirsch zeichnet, ist die Rekonstruktion des Historikers ... mit den Mitteln psychologischer Analyse . . . . Das Resultat ist der Χ ρ ι σ τ ό ς κατά σ ά ρ κ α " . 1 2 5 Das der Kritik zugrunde liegende Enthistorisierungspostulat ist sichtlich bereichert um den - vermeintlich theologisch gebotenen - Antipsychologismus. Mit beiden verbindet sich das dogmatische Verdikt: " E s ist der Χριστός κατά σάρκα, den Hirsch malt, weil er gar nicht in der Zugangsart des Glaubens gesehen i s t " . 1 2 6 Hirschs Christologie wird wohlbemerkt nicht als exegetisch oder historisch, sondern als "theologisch" falsch abgelehnt. Seinen Gegensatz zu Hirsch und der ge-

123 GuV I, 3f; Hhg.v.Vf.

124 R. BULTMANN: Zur Frage der Christologie, jetzt in: GuV I, 85-113.

125 A.a.O. 93f. 126 A.a.O. 95.

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samten liberalen Tradition faßt Bultmann zusammen in die peremtorische Feststellung: "der Χριστό$ κατά σάρκα geht uns nichts an". 127 Es darf festgehalten werden, daß die Berufung auf 2 Kor 5, 16b in der frühen Dialektischen Theologie - bei Barth gegen Harnack, bei Bultmann gegen Hirsch - offenkundig die Rolle eines theologischen Schlüsselarguments angenommen hat, und zwar im Sinne der Bestreitung der dogmatischen Legitimität einer auf historische Wahrnehmung gegründeten Christologie. 128 Verlassen wir nun die Zusammenhänge und Hintergründe der Berufung auf 2 Kor 5, 16b und wenden wir uns dem inhaltlichen Verständnis dieser Bibelstelle bei Barth, Bultmann und Hirsch zu. Das im Vordergrund stehende exegetische Problem dieses paulinischen Selbstzeugnisses ist die Frage der grammatischen Beziehung der präpositionalen Wendung κατά σάρκα. Barth, um mit ihm zu beginnen, schwankt. In der zweiten Auflage des "Römerbriefs" von 1922 findet sich die Wendung "Jesus von Nazareth, der 'Christus nach dem Fleische'" 129 ebenso wie die andere "Die Christus nach dem Fleische nicht sehen...". 130 Im Briefwechsel mit Harnack ein Jahr später ist offenkundig das zweite Verständnis vorausgesetzt: "... daß wir Christus nach dem Fleische nicht mehr kennen ..." (ChW 37 (1923), 91). Sachlich weiterführt dann die Vorlesung über "Die Auferstehung der 127 A.a.O. 101. 128 Vergleicht man den weiteren Fortgang beider Theologen hinsichtlich des von ihnen aufgestellten Postulats der Enthistorisierung der Christologie, dann ist Barth in gewissem Sinn der konsequentere gewesen. Sachlich durchaus konsistent hat er das von ihm konzipierte - allerdings gänzlich unhistorische - Schriftverständnis zum durchgängigen Prinzip der Schriftauslegung erhoben und damit in der Regel recht eigenwillige Auslegungsergebnisse erzielt. Bultmann hingegen wollte kritische Exegese und existentiale Kerygmatheologie miteinander verbinden. Im Falle der paulinischen und johanneischen Theologie förderte dieser Ansatz zum Teil eindrucksvolle Interpretationsleistungen zutage, im Hinblick auf die Erforschung des historischen Jesus hingegen scheiterte er an selbst gesetzten dogmatischen Grenzen. So entstand aus beidem zusammen jene - unheilvolle - Allianz zwischen autoritativer Offenbarungstheologie und historischem Skeptizismus, die, unterstützt durch die wissenschaftlichen Ergebnisse der Formgeschichte, schließlich zur vollständigen Verabschiedung der geschichtlichen Erkenntnis Jesu und damit des historischen Jesus selbst aus der Christologie führen mußte. Es ist wichtig zu sehen, daß das bestimmende Moment dieser Tendenz weniger die in der neutestamentlichen Wissenschaft entstandene Lage war - mit ihr konnte man sachlich und methodisch auch ganz anders umgehen - als vielmehr eine emphatisch theologische Option, die sich der Aporien der historischen Jesus-Forschung zur Durchsetzung des eigenen Theologieprogramms konsequent bediente. 129 K . BARTH: R ö m e r b r i e f , 78.

130 A.a.O. 157.

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Toten" aus dem Jahre 1924: "Was wir den historischen Jesus nennen" bemerkt Barth - , das ist "ein Jesus an sich, der nicht der Kyrios Jesus ist, sondern eine objektiv zu ermittelnde irdische Erscheinung unter anderen, ... abgesehen von der in Jesus der Gemeinde und zunächst den Aposteln gegebenen Offenbarung ..., den man κατά σάρκα erkennt ..., der κατά. σάρκα Erkannte". 131 Das dogmatische Verdikt über den historischen Jesus ist beibehalten, ebenso die Berufung dafür auf 2 Kor 5, 16b, aber die Zweideutigkeit der grammatischen Beziehung von κατά σάρκα ist aufgegeben, und zwar zugunsten des ausschließlich adverbialen Verständnisses, aus dem sachlich dann gleichwohl das attributive Verständnis herausgesponnen wird: Das historische Erkennen Jesu führt lediglich auf einen historisch Erkannten, den historischen Jesus. Bultmann hat nicht nur Barths Antwort auf Harnacks Frage 14 gekannt, sondern er hat auch Barths Auslegung des 1. Korintherbriefes rezensiert. 132 Um so mehr verwundert es, daß er in der Rezension von Hirschs "Jesus Christus der Herr", ein Jahr später, weiterhin das polemische Etikett Χριστός κατά σάρκα verwendet. Bultmann bleibt - anders als Barth - bei dem in der religionsgeschichtlichen Schule 133 geläufigen attributiven Verständnis. Die Funktion des Pauluswortes als einer theologischen Kampfformel hat ihn offenbar blind gemacht für dessen exegetischen Gehalt. 134 131 K. BARTH: Die Auferstehung der Toten, 34. 132 V g l . R . BULTMANN: G U V I, 3 8 - 6 4 .

133 So bei J . Weiß, W . Heitmüller, W. Bousset, aber auch bei H. Lietzmann; vgl. hierzu und zum weiteren Fortgang der Forschungsgeschichte D. LANGE, a.a.O. 317f Anm. 37. 134 Zwei J a h r e später in dem 1929 erschienenen Aufsatz über "Die Bedeutung des geschichtlichen Jesus für die Theologie des Paulus" geht Bultmann auf die exegetische Schwierigkeit von 2 Kor 5, 16b erneut ein. Hier heißt es vom paulinischen Verständnis Jesu: "Jede 'Würdigung' der 'Persönlichkeit' Jesu fehlt und muß fehlen, da sie nur ein -γινώσκίΛν κατά σάρκα wäre, in dem Doppelsinn, daß solches "γινώσκίΐν den Christus nur als einen Christus κατά σάρκα, d.h. als ein vorfindliches Weltphänomen sehen würde, und daß es eben deshalb ein - γ ι ν ώ σ κ ο ν κ α τ ά σάρκα, ein fleischliches Verstehen, ein bloßes Rechnen mit Weltlich-Vorfindlichen wäre" (GuV I, 206f; Hhg.v.Vf.). Sieht man einmal von der problemgeschichtlichen und systematischen Fragwürdigkeit der hermeneutischen Generalthese ab, daß jedes Verstehen von gegenwärtigem oder vergangenem menschlichem Leben ohne die gläubige Bezugnahme auf ein dahinter stehendes eschatologisches Ereignis ein Rechnen mit vorfindlichen Weltphänomenen sei - Hirschs ganz anders orientierte historiographische Hermeneutik ist in Kap. II.Β zu erörtern - , so wird man fragen müssen, ob Bultmann den paulinischen Sinn des ·γινώσκ€ςν κατά σάρκα hier tatsächlich in den Blick bekommen hat. Merkwürdig unbelehrbar wirkt jedenfalls jenes "eben deshalb": die logische Folgerung müßte bei einem ursprünglich adverbialen Sinn gerade umgekehrt lauten. Außerdem erweist sich die Festschreibung eines "Doppelsinns" nicht als der Klärung dienlich, jedenfalls solange nicht, als

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Hirsch muß die in Bultmanns Rezension enthaltene Verwendung von 2 Kor 5, 16b gegen ihn natürlich zurückweisen. Er macht geltend, daß eine Auslegung dieser Stelle in dem Sinne, als rede Paulus hier von seinem Verhältnis zum historischen Jesus, "wenn man ihr wie Bultmann entscheidende Bedeutung beilegt, das ganze Paulusbild, ja darüber hinaus das ganze Bild der urchristlichen Religion ins Unkenntliche verzerrt" (ARB 645f). Argumente dafür brauchte Hirsch in seiner Antikritik nicht vorzubringen. Er konnte auf seine bereits 1925 erschienene "Randglosse zu 1. Kor. 7" verweisen. Hirschs Verständnis des Sinnes jener präpositionalen Wendung und ihres syntaktischen Bezugs ist denkbar einfach. 135 Wegen des Gewichts, welches dieser Stelle in der dogmatischen Polemik auf Seiten Barths und Bultmanns beigemessen wurde, geben wir die exegetischen Schritte Hirschs pedantisch wieder. Gegen den Versuch, das von Paulus negierte "Kennen nach dem Fleisch" mit der generellen Absage an menschliches Wissen um geschichtliche Wirklichkeit zu identifizieren, sprechen für Hirsch folgende Argumente: Erstens, die Wortstellung in Vers 16 b lautet: έ-γνώκαμ,εν κατά σάρκα Χριστόν. Sie verrät offenkundig "die Absicht, die nähere Verknüpfung des κατά σάρκα mit Χριστόν auszuschließen ...: eine fleischliche Weise des Erkennens ist ausgesagt" (Rg 59 Anm. 1). Die präpositionale Wendung ist schon rein von der Wortstellung her eindeutig adverbial gemeint. Es besteht darum keine Analogie zu Rom 9,3. Die von den Auslegern geprägte attributive Wendung Χριστός κατά σάρκα läßt sich nicht auf Paulus zurückführen. Zweitens, die Deutung des ν·ϋν von Vers 16 b auf den Sachverhalt der Bekehrung, genauer gesagt: auf die Gegenwart als Zeit nach der Bekehrung, erschließt den Sinn des έ-γνώκαμ,εν κατά σάρκα. "Wie hat Paulus ... die davon betroffene Textstelle zugleich derart theologisch-programmatisch überfrachtet wird, wie es in Bultmanns Verwertung von 2 Kor 5, 16b der Fall ist. Erst in der 1953 erschienenen "Theologie des Neuen Testaments" korrigiert Bultmann zögerlich seine bisherige Auffassung zugunsten eines nunmehr adverbialen Verständnisses. Auf die von ihm selber gestellte Frage: "bestimmt ... das κατά σάρκα die Objekte ... oder die Verben?" lautet seine Antwort: "Das letztere dürfte wahrscheinlicher sein, aber die Entscheidung bedeutet nichts für den Sinn im Zusammenhang des Ganzen; denn ein κατά, σάρκα gekannter Christus ist eben ein Χριστός κατά σάρκα" (a.a.O. 234). Man wird den Eindruck nicht los, als habe Bultmann im Laufe der Jahre seinen früheren Irrtum eingesehen, sich aber gesträubt, den Schritt zu einer eindeutigen Aussage wirklich zu vollziehen - vermutlich aus der Einsicht heraus, daß damit unweigerlich sein biblisches Schlüsselargument für die theologische Illegitimität des dogmatischen Rückgriffs auf den historischen Jesus als exegetisch haltlos offenbar geworden wäre. 135 Die Schlüssigkeit dieser Auslegung hat auch D. LANGE (a.a.O. 317f Anm. 37) betont.

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vor der Bekehrung Christus gekannt? In Fleisches Sinn ... 'Nach dem Fleische' heißt also: so wie mein Fleisch mich lehrte" (Rg 59). Drittens, die Deutung des κατά. σάρκα im Sinn eines dem Bekehrtsein entgegengesetzten Zustandes ist dem Gesamtduktus der paulinischen Theologie gemäß: "die nächsten Analogien sind das Wandeln und das Leben nach dem Fleisch" (Rg 59 Anm. 1). Viertens, der Zusammenhang von Vers 16 b mit Vers 17 will den in der Bekehrung durchschrittenen Gegensatz in Beziehung setzen zu dem parallelen Gegensatz von alter und neuer Kreatur: "die alte Kreatur, der Christus- und Christenverfolger, ist tot; die neue ... lebt" (Rg 59). Fünftens, die Verknüpfung von Vers 20 mit den Versen 16-19 zeigt den inneren Zusammenhang von Bekehrung und Berufung zum Dienst der Verkündigung. Die Bekehrung, durch die Paulus eine neue Kreatur wird, welche Christus nicht mehr auf fleischliche Weise kennt, macht ihn zum "Botschafter" (Rg 59) des Wortes von der Versöhnung. Sechstens, allein dieses paulinische Verständnis seiner Bekehrung als einer Berufung zum Dienst am Wort läßt die Bedeutung von Vers 16 a erkennen. Denn nun ist "die Aussage, keinen Menschen mehr nach dem Fleisch zu kennen, das Selbstbekenntnis des Apostels, der an die Menschen durch nichts andres mehr sich gewiesen und geknüpft weiß als durch sein Botschafteramt" (Rg 59). Siebtens, die zwischen den beiden Halbversen von Vers 16 zu beobachtenden sprachlich-begrifflichen Parallelen verdanken ihren inhaltlichen Entsprechungscharakter der inneren Einheit von Bekehrung und Berufung. "Er kennt die Menschen nicht mehr nach dem Fleisch, weil er Christus nicht mehr nach dem Fleisch kennt - d.h. er ist den Menschen nur noch der Bote der Liebe Gottes in Christus" (Rg 59f). Dieses Zusammenhangs wegen erblickt Hirsch in 2 Kor 5, 16.17 eines der wichtigsten religiösen Selbstzeugnisse des großen Heidenapostels. "Nie hat Paulus von seiner Bekehrung schöner gesprochen als in diesen beiden von der Forschung mißhandelten Versen" (Rg 59). Achtens, jener sprachliche und sachliche Parallelismus zwischen Vers 16a und 16b schließt es aus, das Abgetansein des Kennens nach dem Fleisch durch die Bekehrung im Hinblick auf Christus (Vers 16 b) gleichzusetzen mit dem Ende jeden menschlich-irdischen Wissens von der geschichtlichen Wirklichkeit dieser Person. Denn andernfalls ergäbe sich eine ganz absurde Konsequenz. Hirsch bemerkt dazu: Nun überlege m a n doch ernsthaft, welchen Sinn ... wohl die Aussage haben soll, daß Paulus nun auch sonst niemand nach dem Fleisch mehr kennt. Wird sie genau entsprechend verstanden, so wie es die enge Verknüpftheit fordert, so ergäbe sich die Behauptung, daß ihm, Paulus, niemand mehr noch auf irdisch-

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menschliche Weise bekannt sei; und das könnte selbst eine ekstatische Nonne nicht ohne Übertreibung sagen" (Rg 58f). Neuntens, mem wird eher umgekehrt folgern können: Wie das durch die Bekehrung gestiftete neue Verhältnis zu anderen Menschen, in dem das Erkennen κατά σάρκα abgetan ist, ein menschlich-geschichtliches Wissen von ihnen keineswegs aus-, sondern umgekehrt einschließt, ebenso schließt auch das durch die Bekehrung gestiftete neue Verhältnis zu Christus, worin dieser nicht mehr κατά σάρκα erkannt wird, ein menschlich-geschichtliches Wissen von seiner irdischen Wirklichkeit nicht aus, sondern vielmehr ein. So gesehen, ist die Textstelle 2 Kor 5, 16b nicht der Beleg für die theologische Illegitimität des theologischen Interesses an der geschichtlichen Wirklichkeit Jesu, sondern im Gegenteil ein "Zeugnis für die Einheit des Geschichtlichen und des Erhöhten bei Paulus" (Rg 60). Hirschs Auslegung von 2 Kor 5, 16b ist ein Musterbeispiel historischkritischer Detailexegese, das krasse Gegenteil zum polemischen Umgang mit dieser Textstelle bei Barth und Bultmann. Auf das Selbstzeugnis des Paulus wird man sich jedenfalls kaum berufen können, wenn man meint, dem historischen Jesus in der Christologie den Laufpaß geben zu sollen. Damit sind wir zu dem zweiten Problem gelangt, nämlich zur generellen Beziehung der paulinischen Christologie auf den geschichtlichen Jesus. Hirschs Darlegungen zu diesem weit gespannten Thema können freilich nur ausschnitthaft behandelt werden.136 Wir konzentrieren uns zweckmäßigerweise auf den auch hier wieder zutage tretenden Gegensatz zur Sicht Bultmanns. Im Mittelpunkt der Überlegungen steht das paulinische Verständnis der Gottessohnschaft Jesu. "Sohn und Kreuz, Sohn und Gehorsam, das ist für Paulus nicht zu trennen" (ZpCh 614). Das besagt nach Hirsch nicht nur, daß "der Name Sohn Gottes, entgegen manchem Vorurteil, für Paulus stets die deutliche Erinnerung gerade an den geschichtlichen Jesus an sich trägt. Es bedeutet auch, daß die Sohnschaft Jesu für ihn konkret ausgedrückt ist in Jesu Gehorsam gegenüber seinem Vater, Paulus also beim Sohnesnamen Jesu die eigentümliche innere Umbildung des Messiasgedankens durch Jesus als selbstverständlich voraussetzt" (ZpCh 614f). Bereits Harnack hatte auf die eigentümliche Abweichung der paulinischen Präexistenzchristologie gegenüber der ihr sonst in mancherlei Hin136 Außer den bereits oben genannten Arbeiten sind folgende Texte für Hirschs PaulusDeutung heranzuziehen: Die drei Berichte der Apostelgeschichte über die Bekehrung des Paulus (1929); Zwei Fragen zu Galater 6 (1930); Paulus (1940); Grönbechs Paulusbuch (1941). Eine komprimierte Zusammenfassung findet sich in Lf §§ 23-25 (vgl. ChR I, 73-83). Zu Hirschs Paulus-Deutung vgl. G. LÜDEMANN, a.a.O. 25-29.

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sieht verwandten Messiasdogmatik des Henochbuchs hingewiesen. 1 3 7 Deren Besonderheit im Vergleich zu Paulus besteht im vollständigen Fehlen des Gedankens der Menschwerdung und Erniedrigung des vom Himmel erscheinenden Messias. Insofern kann im Hinblick auf die Präexistenzchristologie des Paulus nicht von einer einfachen Übernahme der apokalyptischen Messiasdogmatik gesprochen werden. An diese Beobachtung Harnacks knüpft Hirsch an. Die paulinische Präexistenzchristologie ist die "Lehre von der Erniedrigung des aus dem Himmel Kommenden z u m Menschen und zum den Kreuzestod sterbenden Menschen. Damit hat er das Gedankenschema, an das er sich anlehnt, so umgedacht, daß auch seine Predigt von dem Mensch werdenden himmlischen Wesen eine Predigt von Jesus von Nazareth wird" (ZpCh 618). Der Rückbezug des paulinischen Verständnisses von Gottessohnschaft auf den geschichtlichen Jesus findet seinen komprimierten Ausdruck im Gedanken des Gehorsams bis zum Tod am Kreuz. Dies besagt zugleich, daß Paulus im Begriff des Gottessohnes Geschichtlichkeit und Erhöhung zusammengedacht hat. Dadurch erhält auch der paulinische Gebrauch des Herrennamens einen Rückbezug auf den geschichtlichen Jesus. 1 3 8 Oben wurde bereits dargelegt, in welchem Sinne der neutestamentliche Hoheitstitel "Kyrios" in der Ostererfahrung der jerusalemischen Urgemeinde entstanden ist. Die theologische Leistung des Paulus hinsichtlich der christologischen Verwendung des Herrennamens besteht für Hirsch nun darin, die Reibung zwischen dem Aussagegehalt des auf Jesus bezogenen Herrennamens einerseits und seiner überkommenen Zuordnung zum Gottesbegriff andererseits erkannt, das Verhältnis gedanklich durchbestimmt und den Kyriostitel damit erst zu einem echten christologischen Begriff gemacht zu haben. Dieser konstruktive Vorgang hat es Paulus aber keineswegs unmöglich gemacht, das Ursprünglichste und Eigenste seiner Christusfrömmigkeit in jenem Begriff ausgedrückt zu finden. 137 Vgl. LD I, 800. 138 Den christologischen Gehalt von Phil 2, 1-11 faßt Hirsch in seiner späteren kommentierten Ausgabe von Paulus-Texten folgendermaßen zusammen: "Was Paulus von Jesus wesentlich aussagt, ist dies Dreifache: einmal, seine innere Hoheit sei in einem seltsamen Widerspruch zu seinem wehrlosen Hingegebensein unter alle Mächte, die unser unter Gesetz, Sünde und Tod gebundnes Leben beherrschen; sodann, was Jesus in diesem widerspruchsvollen Leben getragen und bestimmt habe, sei anbetender Gehorsam unter Gott und hingebende Liebe zu den andern; endlich, eben durch seine Todeshingabe habe seine Hoheit und Majestät sich frei offenbart, so wie es ihm in seinem Gehorsam und seiner Liebe bestimmt war: er wurde andern Menschen der sie in ihrem Gewissen, ihrem Gottesverhältnis bestimmende Herr und gab ihnen so Anteil an seinem Leben in und aus Gott. Diese drei Aussagen treffen das, was der Mensch Jesus gewesen ist und was er dem Glauben bedeutet, haargenau" (Paulus 233f).

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F ü r Paulus ist der gekreuzigte Sohn personal identisch mit dem erhöhten Herrn. Mit dieser Herren Stellung des Gekreuzigten für den Glauben erhält zugleich der Herrenname eine Rückbeziehung auf das Kreuz Jesu. Wenn Paulus einerseits in der Vorstellung des bis z u m Tod am Kreuz gehorsamen Sohnes "das Allereigenste an Jesus, das den Juden ein Ärgernis war, ausgedrückt" (ZpCh 614) finden konnte, u n d wenn er diesen Gottessohn identifiziert mit dem, dessen Hoheit in einem von Gott gewirkten u n d bis an das Ende aller Dinge währenden Herrsein besteht, dann ist es schlechterdings absurd, dem paulinischen Glauben an den Kyrios Christos die Beziehung auf die geschichtliche Wirklichkeit Jesu abzusprechen. Die spezifische Fassung des paulinischen Gedankens der Gottessohnschaft, welche Kreuz und Gehorsam einschließt, ist nach Hirsch gewissermaßen der Mittelbegriff für den geschichtlichen Gehalt des paulinischen Herrennamens. Hirsch hat den Rückbezug des paulinischen Herrennamens auf den geschichtlichen Jesus anhand der Anknüpfung an Jesu Verbot der Ehescheidung in 1 Kor 7, lOf konkret erläutert, mit folgendem Ergebnis: "die ganze Gedankenführung Pauli steht und fällt mit der Voraussetzung, daß der auf Erden wandelnde Jesus und der Erhöhte einer und derselbe sind, u n d daß die Autorität, die dem Erhöhten zukommt, auch dem auf Erden Wandelnden eigen ist" (Rg 57). B u l t m a n n h a t t e in dem 1929 erschienenen Aufsatz über "Die Bedeutung des geschichtlichen Jesus für die Theologie des Paulus" das Kreuz Jesu als eine "nackte Tatsache" 1 3 9 bezeichnet, über deren pure Faktizität hinaus Paulus keinerlei Interesse an dem Schicksal des Gekreuzigten besessen habe. Hirsch bemerkt dazu: "Man hört manchmal von der paulinischen Kreuzespredigt so reden, als ob sie die Lösung von dem geschichtlichen Jesus bedeute. Nur eine Tatsache an Jesus interessiert den Paulus ernstlich, daß er gestorben ist, - ist das nicht eine Entfernung von der Geschichte hinein ins Theologumenon?" (ZpCh 623). Hirsch hat Bultmanns Reduktion des paulinischen Jesusbildes auf die Annahme einer abstrakten Identität zwischen dem Gekreuzigten und dem Erhöhten als historisch und gedanklich schwer nachvollziehbar und für das Verständnis der paulinischen Christologie insgesamt wenig förderlich erachtet. Er ist davon überzeugt, daß Paulus ein höchst anschauliches und "ungeheuer heroisches" (ZpCh 626) Bild des Gekreuzigten und aus Israel Verstoßenen besessen habe. Er fügt dieser Charakteristik aber sofort hinzu: "Ich bin mir bewußt, damit ein von Bultmann ... anathematisiertes Wort anzuwenden" (ZpCh 630 Anm. 37).

139 GuV I, 207.

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c) Der Gehalt der Ostererfahrung Abschließend gilt es, Hirschs Grundthese zu entfalten, wonach "Petri Ostern und Pauli Damaskus im Kerne die gleiche Erfahrung" ( J C h H 40) sind. Hirschs Rekonstruktion der Ostererscheinung an P e t r u s h a t t e ergeben, daß diese der Form nach ein Schauen im Geist war und dem Gehalt nach das Erlebnis der Begnadigung aus Schuld und der Berufung zum Zeugen. Was besagt dies hinsichtlich des Verhältnisses zwischen dem Erhöhten und dem Geschichtlichen? Nach Hirsch läßt sich die Ostererfahrung des Petrus nicht trennen von dem, was Petrus auch schon zuvor an Jesus als wesentlich aufgegangen war. "Das Wort, das Jesu eigenes persönliches Leben war, hat ihn ergriffen und umgewandt" ( J C h H 39). Die Ostererfahrung des Petrus darf d a r u m nicht als die Negation der Kontinuität des Geschichtlichen und Erhöhten verstanden werden. Sie bestand "nicht darin, daß nun ein andres Leben, als das was im Herrn auf seinem Erdenwege war, ein andres Leben als das des verachteten Menschensohnes und leidenden Gottesknechtes, von ihm wahrgenommen wurde" ( J C h H 40). Jenes Schauen im Geist fiel für Hirsch religionswissenschaftlich betrachtet unter den Begriff der Vision. Ist damit aber nicht ein kategorialer Widerspruch zwischen der Form und dem Inhalt jener Erfahrung behauptet? Hirsch hält diese Schlußfolgerung nicht für zwingend. Seiner Meinung nach wird der eigentümliche Gehalt der Ostererscheinung an Petrus "nicht berührt von der Art, in der man sich den Ursprung des Gesichts erklärt". Denn alle diesbezüglichen Erklärungen betreffen immer nur "die Gestalt, die diese Erfahrung bei ihm hatte, aber nicht... sie selbst" (JChH 40). Auch wenn das Schauen im Geist als Visionserlebnis klassifiziert werden kann und damit psychologisch erklärbar wird, braucht es die hinter ihm stehende religiöse Erfahrung noch lange nicht zu sein. Im Hinblick auf diese hält Hirsch - unbeschadet der religionspsychologischen Bewertung des Visionserlebnisses - allein die Kategorie des inneren Wunders für angemessen. 1 4 0 "Denn es bleibt ein unbegreifliches Mysterium, wenn eine in Schuld verzweifelnde Seele die Gewißheit der göttlichen Barmherzigkeit und die Berufung zum Dienste geschenkt erhält" ( J C h H 39). Das Mehr der Ostererfahrung gegenüber dem bloßen inneren Wunder der Umwandlung von Schuld in Vergebung besteht lediglich im Hinzutreten des Erlebnisses der Gegenwart Jesu: "Durch die Erfahrung von Sünde und Gnade ist der Herr persönlich zu ihm gekommen" (ebd.). Sieht m a n von den psychologischen Näherbestimmungen des Visionserlebnisses als Unwesentlichem ab 1 4 1 , kann die Ostererscheinung an Petrus verstanden 140 Vgl. dazu unten Kap. III.B.2.d. 141 Zur historiographisch-hermeneutischen Unterscheidung von Wesentlichem und Un-

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werden als diejenige religiöse Erfahrung, bei der die innere Umwandlung von Schuldbewußtsein in Vergebungsgewißheit als das Gewahren der Gegenwart Jesu erlebt wird. Und damit ist zugleich die Definition dessen gegeben, was nach Hirsch der Ausdruck "Ostererfahrung" bedeutet. Damit kommen wir zum qualitativen Gehalt des paulinischen Damaskuserlebnisses. "Nicht bloß um des mitwirkenden Gesichtes willen, sondern um des in ihm verborgenen Wunders der Umwendung durch Vergebung und Berufung zum Dienste willen, hat Paulus ... sich selbst am Ende der Reihe der Osterzeugen mitgenannt" (JChH 40). Es handelt sich bei Paulus ebenso wie bei Petrus um das Erlebnis der Gegenwart des Erhöhten unter der Erfahrung des gnadenhaft gewirkten Ubergangs von Schuld in Vergebung, der seinerseits die Beauftragung zum Zeugenamt einschließt. Auf der Basis dieser qualitativen Identität der Ostererfahrung des Petrus und des Damaskuserlebnisses des Paulus, sowohl was die formale Beschaffenheit des Visionserlebnisses anbelangt, als auch was dessen religiösen Gehalt betrifft, kann Hirsch den paulinischen Rechtfertigungsglauben zwanglos aus der Ostererfahrung hervorgehen lassen. "Jesus in seinem Worte und seiner Geschichte als den Christus ergreifen, das heißt die Rechtfertigung erfahren" (JChH 40). Damit ist nicht eine historische Abhängigkeit des Paulus von Petrus behauptet, sondern lediglich das sachliche Verhältnis festgestellt zwischen der Paulus mit Petrus gemeinsamen Ostererfahrung einerseits und dem paulinischen Rechtfertigungsgedanken andererseits, dergestalt, daß beide sich nach Art eines Explikationsstufenverhältnisses zueinander verhalten. "Paulus spricht nur in klaren Worten aus, was schon in Petri Ostergeschichte Wirklichkeit geworden ist" (ebd.). Was im Oster- und Damaskuserlebnis unter der Form eines geistigen Schauens innerlich erfahren wurde, das hebt der Rechtfertigungsgedanke - unter Absehung von allen visionären Komponenten - auf die Ebene des reflektierten Begriffs. Eben darum ist Paulus für Hirsch der erste christologische Denker, und zwar "Denker" im strengen Sinn des Wortes. Denn das von Hirsch konstatierte Explikationsstufenverhältnis besagt, daß der Gehalt einer religiösen Erfahrung allererst auf der Ebene ihrer Bewußtheit nach seiner vollen Bedeutung erkannt ist. Zur expliziten Thematisierung eines vorthematisch bloß implizit Gewußten bedarf es aber des spontanen Aktes der Reflexion, welcher das vorreflexiv Erlebte nach seinen immanenten Beziehungen und äußeren Verweisungszusammenhängen durchdringt und klärt. Das vorreflexive Erleben bzw. "die ungeklärte Vorstufe der Reflexion, die die Schwierigkeit verborgen in sich trägt, hat niemals lösende Macht für die vor der offenbaren Schwierigkeit stehende Reflexion" (ZpCh 609). Der Glaube an den erhöhten Herrn bei Petrus und Paulus und der wesentlichem vgl. unten Kap. II.B.4.

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von Paulus explizierte Rechtfertigungsglaube verhalten sich sonach wie Unmittelbarkeit und Reflexion. Das von Hirsch zur Geltung gebrachte Explikationsstufenmodell 1 4 2 scheint - speziell auf den vorliegenden Fall angewandt - in der Tat einleuchtender zu sein als etwa die Unterscheidung von Leben und Lehre. Denn im Hinblick auf den paulinischen Rechtfertigungsgedanken wird m a n wohl von reflektierter religiöser Erfahrung sprechen können, aber noch nicht von "Lehre" in einem dogmengeschichtlich strengen Sinne des Wortes. 1 4 3 Eine besondere systematische Pointe von Hirschs Rekonstruktion der E n t s t e h u n g des Osterglaubens hegt schließlich darin, daß er dem zwischen Ostererfahrung und Rechtfertigungsglauben bestehenden Explikationsstufenverhältnis das Strukturmodell des Aufbaus von Christologie überhaupt zu entnehmen vermag. "In dieser Deutung des Ostergeheimnisses" - so faßt Hirsch seine Ausführungen über "Das erste Zeugnis" zusammen "hat die Erkenntnis Jesu Christi ihren Mittelpunkt. Sie allein verbürgt es, daß alle Bewegung des Glaubens und d a r u m auch des Gedankens unter der Wahrnehmung des geschichtlichen Herren bleibt. Alles t r ä u m e n d e Erkennen, das sich von der evangelischen Geschichte löst, ist verneint" ( J C h H 41). Das Verhältnis von Ostererfahrung und Rechtfertigungsglauben steht sonach nicht nur für den geschichtlichen Ursprung des christlichen Denkens, sondern repräsentiert darüber hinaus auf paradigmatische Weise die für die Christologie konstitutive Struktur des "Ubergang[s] von der Wahrnehmung des geschichtlichen Herrn zum Glauben und Erkennen seiner" ( J C h H 36). Hirschs Überlegungen zum methodischen Ansatz der Christologie (vgl. oben Abschnitt B . l ) gipfelten in der These von der Zweistämmigkeit der christologischen Erkenntnis: Alle christologischen Aussagen resultieren aus der Vereinigung von geschichtlicher Wahrnehmung und begrifflicher Reflexion. Jetzt sehen wir, daß diese christologische Zweiquellentheorie in der Entstehung des paulinischen Rechtfertigungsglaubens aus der urchristlichen Ostererfahrung ihr eigentliches Vorbild hat. Christologische 142 Es wurde in die neutestamentliche Wissenschaft eingeführt durch F.Ch. Baur. Hirsch gibt in seiner späteren Theologiegeschichte dazu folgende Erläuterung: Im Falle von "Jesu Verkündigung" handelt es sich um "unmittelbare Aussagen eines sittlich-religiösen Bewußtseins, welche gleichsam die Prinzipien zu einem Lehrbegriff oder Religionssystem enthalten, ohne selber ein solches zu sein. Eben weil dem so ist, gibt es innerhalb der christlichen Geschichte eine freie theologische Bewegung, in der die Prinzipien reflexionsmäßig erfaßt werden" (GneTh V, 544). 143 Dies ist der dogmengeschichtlich unbestreitbare Kern von Harnacks Hellenisierungsthese. A. GRILLMEIER in seiner Harnack-Kritik verwischt das Problem, wenn er die Frage der Entstehung christlicher βό-γματα - im Sinne der altkirchlichen Apologeten - gleichsetzt mit der Frage der Genesis einer "reflexen Theologie". Letztere beginnt in der Tat spätestens mit Paulus.

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Erkenntnis ist f ü r Hirsch nichts anderes als das R e s u l t a t begrifflicher Reflexion auf den Gehalt der Ostererfahrung. Die abschließende Klärung des Verhältnisses von Glaube u n d christologischer Reflexion wird Kap. V.B.4 vorbehalten sein. Worin besteht n u n die Eigentümlichkeit der Ostererfahrung gegenüber d e m Rechtfertigungsglauben, der sich als deren gedankliche Fassung herausgestellt h a t t e ? U m welches Moment bereichert der Osterglaube die Rechtfertigungsgewißheit? Auf der inhaltlichen E b e n e kann jenes Besondere, jenes Mehr nicht liegen. Es betrifft nach Hirsch allein die Art der B e z u g n a h m e auf Jesus. Der Osterglaube wird der Person Jesu auf keine andere Weise gewahr, als daß er "das Kreuz in ewiger Gegenwart vor sich" ( J C h H 37) h a t . Die Ostererfahrung besteht f ü r Hirsch in d e m "Offenwerden des inneren Auges für die göttliche Hoheit gerade des Gekreuzigten" ( J C h H 58). Der Osterglaube ist das innere Gewahren der ewigen Gegenwart des Gekreuzigten. Durch die Ostererfahrung wird der Rechtfertigungsglaube sonach u m das Moment der Christusmystik vertieft. Hirsch war der Mystik als religiös-spekulativem P h ä n o m e n im allgemeinen nicht sonderlich zugetan. Sie läuft f ü r ihn immer Gefahr, sich a m herben Realismus und an der ethischen Reflektiertheit christlicher Frömmigkeit vorbeizutäuschen. Dennoch wird m a n nicht u m h i n k ö n n e n , jenes "Offenwerden des inneren Auges", jenes Gewahren "in ewiger Gegenwart" als mystische K o m p o n e n t e n der Christologie Hirschs aufzufassen. D a m i t wäre deren Nähe zur reformatorischen Theologie aber nur noch einmal mehr zutage getreten. F ü r Luthers Christusglaube h a b e n Mystik u n d Gewissenserfahrung bekanntlich keine sich ausschließenden Gegensätze gebildet 1 4 4 , ebensowenig wie die Gewißheit der Einwohnung Christi u n d der Anfechtungsglaube der theologia crucis. In diesem Sinne wird m a n im Hinblick auf Hirschs D e u t u n g der Ostererfahrung von einer durch Luther hindurchgegangenen Christusmystik sprechen können. Hirschs Christusmystik ist ausschließlich durch das Bild des Gekreuzigten b e s t i m m t . Das Gewahren des Gekreuzigten ist ganz d u r c h das Wort vermittelt. Der Gehalt dieses Innewerdens geht vollständig auf in der heimlichen E r f a h r u n g Jesu als des verborgenen Herrn. Diese Erfahrung h a t ihren Ort allein im Gewissen. A m Sachgemäßesten wird m a n im Hinblick auf Hirschs D e u t u n g des Osterglaubens d a r u m von einer Christusmystik des Gewissens zu sprechen haben. Daß Hirsch sich dessen bewußt war, daß hier schwierige Explikationsprobleme anstehen, zeigt der weitere Fortgang seines Denkens. Die Chri144 Die Christusmystik gehört nach H o l l "mit zum Allerfrühesten, was bei Luther aus Paulus lebendig geworden ist, lebendiger als dies von der mittelalterlichen Mystik gilt" (Bd. 1, 70 Anm. 0). Vgl. dazu jetzt auch die instruktive Zusammenfassung von Luthers Verhältnis zur Mystik bei R . Schwarz: Martin Luther ( 1 4 8 3 - 1 5 4 6 ) .

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stologie des "Leitfadens" wird jene Christusmystik des Gewissens entfalten als die "gnadenhafte Gleichzeitigkeit mit Jesus dem Gekreuzigten" (vgl. Kap. V.B.2.e). Den darin enthaltenen Rückbezug auf die Wahrnehmung von Wort und Geschichte Jesu thematisiert die hermeneutische Gleichzeitigkeitslehre (vgl. Kap. II.B.5).

d) Zeit und Ewigkeit

Handelt es sich bei der Geschichte des gekreuzigten Jesus, wie sie dem Osterglauben in ewiger Gegenwart vor Augen tritt, tatsächlich u m Offenbarungsgeschichte, dann ist sie mehr gewesen als nur das Ereignis zwischen dem himmlischen Vater und dem gehorsamen Menschensohn. Gottes Handeln an Jesus sagt zugleich etwas aus über "das Verhältnis Gottes zu der Welt des vergänglichen Lebens" bzw. darüber, "was die Geschichte für Gott sei" ( J C h H 90). Dieses Verhältnis von Zeit und Ewigkeit in Gottes Handeln an Jesus gedanklich zu durchdringen, bildet für Hirsch deshalb "die letzte Aufgabe des christologischen Denkens" (ebd.). Hirsch unterscheidet vier Grundmodelle, die als Lösungsvorschläge bezüglich jener Aufgabe bislang vorgelegt worden sind: das der spekulativen Mystik, das des aufgeklärten Denkens, das der spekulativen Philosophie und das der kirchlichen Versöhnungslehre. Alle vier haben Hirschs Meinung zufolge keine befriedigende Auskunft zu geben vermocht: Die Mystik scheitert an dem methodischen Widerspruch, daß sie einerseits das zeitliche Leben als ein Nichts in Gott untergehen läßt, andererseits jedoch die Realität Gottes vom Vollzug des mystischen Erlebnisses abhängig macht. Die aufgeklärte Annahme eines schlechthinnigen Gegensatzes von Zeit und Ewigkeit bedeutet die Verneinung der endlichen Wirklichkeit für den transzendenten Gott. Die spekulative Auffassung der Weltgeschichte als eines Momentes Gottes bzw. des Zu-sich-Kommens Gottes unter den Bedingungen des Anderen seiner selbst schließt die Denkbarkeit einer Vollendetheit Gottes in sich selbst - abgesehen von der Welt - aus. Der Satisfaktionsgedanke der kirchlichen Versöhnungslehre mit seiner Intention, dem Kreuzestod Jesu eine Bedeutung für Gott selbst zu geben, kommt dem zu denkenden Problem am nächsten, weist aber den Mangel auf, das Verhältnis zwischen der Alleinwirksamkeit Gottes als des Schöpfers und der Selbsthingabe Gottes im Kreuzestod Jesu nicht in der gebotenen Grundsätzlichkeit geklärt zu haben (vgl. J C h H 90f).

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Eine überzeugende Lösung ist für Hirsch nur zu gewinnen, wenn m a n von dem Gedanken ausgeht, daß "alles in Jesu Christi Geschichte göttliches Wirken und göttliche Gnade" ( J C h H 91) ist. Das bedeutet - lehrtechnisch gesprochen - nichts Geringeres, als daß Schöpfungslehre u n d Christologie zusammengedacht werden müssen. Das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit kann nur auf der Basis einer christologisch vertieften Schöpfungslehre bestimmt werden. Vermittlungsinstanz dieser Verschränkung von Christologie und Schöpfungslehre ist der Erwählungsgedanke. Eine wichtige Konsequenz jener Zuordnung ist die christologische Fassung der Anthropologie. 1 4 5 Die Geschichte Jesu Christi ist das " Urbild alles Handelns Gottes an seinen Erwählten" (JChH 89; Hhg.v.Vf.). Alleiniger Bestimmungsgrund des Erwählungsgedankens ist die für das Verhältnis von Gott und Mensch schlechterdings paradigmatische Beziehung des gnädigen Vaters zu sein e m gehorsamen Sohn. Inhalt des Erwählungsbegriffs ist d a r u m der ewige Wille Gottes zum Bund mit den Menschen, wie er in der Geschichte Jesu Christi Ereignis wird. "Indem Gott in Jesus und durch Jesus sein eigenes Herz in die Menschheit hineingibt, vollendet er die in unsrer Erschaffung zu ihm hin angehobene Verwirklichung seines ewigen Willens, sowohl sich u n d sein Leben in die Menschheit wie die Menschheit in sich u n d sein Leben hineinzubinden" ( J C h H 91; Hhg.v.Vf.). Der in der Erwählung vollzogene Bund mit den Menschen, wie er in der Geschichte Jesu Christi sichtbar wird, erweist sich sonach als das wahre Telos der Schöpfung. Die Gnadenhaftigkeit der Schöpfung wird in der Geschichte Jesu Christi insofern manifest, als diese Offenbarung des der Schöpfung zugrunde hegenden Bundeswillens Gottes ist. Darin hegt zweierlei: Erstens, indem die Geschichte Gottes mit Jesus Christus auf Gottes ewigen Bund mit seiner Schöpfung verweist, hört Gottes Gnadenhandeln auf, ein an die Kontingenz von Wort und Geschichte Jesu gebundenes, kontingentes Geschehen zu sein: "wir Menschen sind ihm eine ernsthafte Wirklichkeit ... - aber allein, weil er es unwiderruflich, mit all der Notwendigkeit, die er in sein Tun hineinlegt, so will". Gottes faktische Gnade birgt die Notwendigkeit seines unbedingten Bundeswillens in sich. "Indem er das aber t u t als der Schöpfer, in rei145 Die nachfolgenden Gedanken von Hirschs früher Christologie aus dem Jahre 1926 weisen eine starke Ähnlichkeit zur späteren Entwicklung K . B A R T H S in der "Kirchlichen Dogmatik" (vor allem ab KD 11,2) auf. Für den bei beiden Autoren begegnenden Ansatz, Schöpfungslehre, Anthroplogie und Christologie von der Erwählungslehre her miteinander zu verklammern, wird man Schleiermacher als heimliches Vorbild nennen müssen, dem bekanntlich das Verdienst zukommt, den Erwählungsgedanken überhaupt in der neueren Dogmatik wieder hoffähig gemacht zu haben.

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ner Selbstherrlichkeit des Entschlusses, gibt er dem Ausdruck, daß er für sich selbst und sein Leben die Menschheit nicht braucht und nur kraft seiner sich ausschenkenden Liebe sich und uns also zusammenknüpft" (JChH 91; Hhg.v.Vf.). Weil Gottes Gnadenhandeln in der Ewigkeit seines Bundesentschlusses gründet, deshalb macht das faktische Geschehen von Gnade Gott nicht von der Schöpfung abhängig, sondern ist umgekehrt eine Bestätigung seiner Souveränität. Die Verknüpfung von Zeit und Ewigkeit in der Geschichte Jesu Christi ist zugleich gnadenhafte Zuwendung Gottes an seine Schöpfung und Erweis seiner Allein Wirksamkeit. Zweitens, jener christologisch konzipierte Begriff des göttlichen Gnadenbundes hat eine unmittelbar anthropologische Bedeutung. Gott "will ewiglich ungetrennt von uns, wir sollen ewiglich mit ihm zusammen sein" (JChH 91; Hhg.v.Vf.). Gottes frei gewährter Bund mit dem Menschen impliziert des Menschen Verpflichtung auf den Bund mit Gott. Die theologische Anthropologie hat es grundsätzlich mit einem normativen Begriff des Menschen zu tun. Der göttlichen Notwendigkeit des Bundesentschlusses korrespondiert die Unbedingtheit des dem Menschen gnadenhaft auferlegten Gebotes zur Gemeinschaft mit Gott. Der Geschenkcharakter dieses Gebotes bzw. der Forderungscharakter solcher Gnade hat zur Folge, daß die Gegenwart Gottes unter den Menschen nur auf dem Wege des Glaubensgehorsams wirklich wird, weil sie "in ihr zu leben bestimmt sind" (JChH 79). Dieser erwählungstheologisch verankerte teleologische Begriff des Menschen ist auch der letzte Konstitutionsgrund humaner Subjektivität. "Der allgemeine Begriff der Geschöpflichkeit, der Kreatürlichkeit, der auf den Stein ebenso gut paßt wie auf das Herz, trifft wohl auch uns, ist aber keine vollständige Beschreibung der uns als Menschen eigentümlichen Lebendigkeit. ... wir haben persönliches Leben, soweit unsre Bestimmung zur Gemeinschaft mit Gott in uns wirklich wird" (JChH 78f). Indem Jesus von Nazareth in seiner Geschichte mit Gott die ewige Bestimmung des Menschen erfüllt, wird die Christologie zum kategorialen Rahmen der Anthropologie. In der Offenbarungsgeschichte Jesu Christi wird paradigmatisch sichtbar: Allein die "göttliche Gegenwart, in der das vor Gott und das in Gott ununterscheidbar ineinander fallen, macht den Menschen zum Menschen" (JChH 79). So bewährt denn die christologische Grundlegung der Anthropologie jene christologische Wendung der Schöpfungslehre, die im Erwählungsgedanken enthalten ist. "Gottessohnschaft in Glaube und Geist, das allein ist die Erfüllung des Gedankens, den der Schöpfer bei der Erschaffung des Menschen gedacht hat" (ebd.). Zugleich bildet diese christologisch konzipierte Anthropologie ihrerseits die Grundlage für das Wirklichkeitsverständnis insgesamt sub specie aeternitatis. "Sind wir ihm ... Wirk-

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lichkeit, dann auch die Welt, die er für uns, daß sie unserm Leben den Inhalt gebe, gemacht hat. Ist dem nun aber so, dann kann man nicht mehr sagen, daß Zeit und Ewigkeit noch geschieden sind. Überall da, wo Gottes lebendiges Herz Gegenwart werden will, d.i. vollendet in Christus als dem Herren und in denen, die ihm als dem Herren im Gerichte stehn und fallen werden, ist die Ewigkeit in das zeitliche Leben hineingegangen und hat ihm wahrhafte Wirklichkeit verliehen" (JChH 91; Hhg.v.Vf.). "Gottes ewiges Leben ... als Christusleben ... ist die einzige Sinnhaftigkeit der Geschichte .... Alle Geschichte ist insofern in ihrem tiefsten Grunde Heilsgeschichte" (ICh 19). Hirschs Schrift "Jesus Christus der Herr" aus dem Jahre 1926 gipfelt in einem christologisch begründeten Wirklichkeitsverständnis. 146 Hirsch hätte diese abschließenden Passagen der frühen Christologie in seinem systematischen Hauptwerk, dem "Leitfaden zur christlichen Lehre" von 1938, so kaum mehr schreiben können. Die konsequente Anwendung der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium mußte zu einem grundsätzlich dialektisch gefaßten Wirklichkeitsverständnis 147 führen (vgl. Kap. V.A.3). Auch eine unmittelbare Verklammerung von Christologie und Anthropologie, Erwählungs- und Schöpfungslehre war Hirsch von jener Unterscheidung her nicht mehr möglich. 148 Hirschs Jesus-Bild hat sich durchgehalten, aber die Kategorien christologischer Reflexion sind andere geworden (vgl. Kap. V.B.2).

146 Noch in der ethischen Geschichtsdeutung "Schöpfung und Sünde" von 1931 ist Hirschs Wirklichkeitsverständnis christologisch begründet, nämlich wie in der gerade zitierten "Grundlegung" von 1925 (ICh 1-35) auf den Begriff des "Christuslebens" (vgl. SchS 76-89). 147 Die abstrakte Antithese, "das Christusleben und sein Widerspiel" (ICh 20), wird abgelöst durch die dialektische Beziehung von Gesetz und Evangelium. Dieser formale Ubergang von der Antithetik zur Dialektik spiegelt sich im konkreten Wirklichkeitsverständnis unmittelbar wider. Es ist ein folgenreicher Mangel der Studie von E. HERMS, diesen Umschlag in Hirschs Wirklichkeitsverständnis vollständig übersehen zu haben. Seine Feststellung, die "Lehre vom metaphysischen Kern der Geschichte als Gewissen" habe "Hirsch seit 1926 lediglich sprachlich variiert, aber sachlich unverändert vertreten" (a.a.O. 107), ist richtig, aber in einem essentiellen Sinne unterbestimmt. Ohne die Dialektik von Gesetz und Evangelium bleibt Hirschs gesamte politische Ethik nach 1934 schlechterdings unverständlich. 148 Es herrscht ein sonderbarer Einklang in der Umkehrung: Fast zum gleichen Zeitpunkt, als Hirsch seinen frühen Entwurf revidiert, beginnt K. Barth ein strukturell ähnliches Konzept auszuarbeiten: Während Hirsch mit Bezug auf die gegebene politische Wirklichkeit sein Zugleich von Affirmation und Distanz nur mit Hilfe der Dialektik von Gesetz und Evangelium theologisch zu legitimieren vermag, läßt Barth seiner kirchenpolitisch-theologischen Absage an dieses Zuordnungsmodell in Form der Erwählungsethik eine theologische Letztbegründung zuteil werden.

II. Die geschichtsmethodologischen G r u n d l a g e n der Christologie

Einleitung: Das dogmatische Interesse am historischen Jesus In der Vorrede haben wir bereits darauf hingewiesen, daß es das Verdienst der Theologie Schleiermachers ist, den Primat der Christologie vor allen anderen Lehrstücken der Dogmatik nicht nur inhaltlich, sondern auch architektonisch zur Geltung gebracht zu haben. Schleiermacher gelang dies in zwei Schritten: Erstens, indem er in den Prolegomena seiner "Glaubenslehre" der Bestimmung des Wesens des Christentums diejenige formale Stellung einräumte, die in der altprotestantischen Dogmatik die Lehre von der Heiligen Schrift innegehabt hatte, und zweitens, indem er jene Wesensbestimmung zu einer förmlichen Christologie erhob. Diese christologische Konzentration der Dogmatik hat sich Hirsch in beiden Punkten vorbehaltlos zu eigen gemacht. In den Prolegomena seines "Leitfadens zur christlichen Lehre" urteilt Hirsch: "Es ist der Fehler der altevangelischen Lehre von der Schrift, daß sie der Bibel die Stellung gibt, die allein dem Menschen Jesus gebührt" (Lf § 16.B.). Und ebenfalls in den Prolegomena hat Hirsch folgendes "Grundgesetz" (Lf § 9) seiner Theologie aufgestellt: "Die mit dem Glauben empfangene Erkenntnis der christlichen Wahrheit ist die im Verhältnis des Glaubens zum Menschen Jesus aufgeschlossene Gottes- und Selbsterkenntnis" (Lf §9.Α.). Was allerdings die Ausarbeitung dieses dogmatischen Programms anbelangt, so geht Hirsch andere Wege. Seine Kritik an Schleiermacher hat er dahingehend zusammengefaßt, daß hier eine "Entfernung des Denkens von Wahrheit und Wirklichkeit" (JChH 45) vorliege. Inwiefern bei Schleiermacher von einem Ausfall der theologischen Dimension des Wahrheitsbegriffs gesprochen werden kann, haben wir im vorigen Kapitel (I.B.l.c) angedeutet. Worin besteht aber der beanstandete Wirklichkeitsverlust dieser Theologie? Hirsch hat ihn unmittelbar auf die Durchführung der Christologie selbst beziehen können. "Seit Schleiermacher geht der gespensterhafte Christus, der nichts ist als ein reiner Begriff, um in unsrer evangelischen Theologie" (ICh 106 Anm. 1). "Schleiermacher hat allein aus dem Erlösungsbewußtsein des Christen heraus Christus als den dazu gehörigen Erlöser konstruiert" (JChH 44f). Hirsch hat diese spekulative Entfernung von der historischen Gestalt Jesu nicht nur als ein inhaltliches Problem betrachtet, sondern vor allem auch als ein methodisches. Bereits Schleiermachers Wissensbegriff verhindert nach Hirschs Meinung ein realitätsgerechtes Jesusbild: "Was ihm an der geschichtlichen Wirklichkeit

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Geschichtsmethodologische Grundlagen

wissenschaftlich zugänglich ist, ist das abstrakte Netz dialektischer Beziehungen" (ICh 104). Hirsch hat d a r u m - von den spezifisch reformatorischen Gesichtspunkten dieses Ansatzes haben wir im ersten Kapitel gehandelt - die methodische Forderung erhoben, den Aufbau der Christologie grundsätzlich in zwei Schritten vorzunehmen, zunächst in "reiner Beobachtung" ( J C h H 46) und dann in der gedanklichen Klärung jenes Wahrnehmungsinhaltes. Nur so scheint ihm garantiert zu sein, daß die Christologie es mit einem "Jesus Christus, wie er wirklich gewesen ist" ( J C h H 37), zu t u n habe. Indem Hirsch diese Doppelung von historischer Tatsachenerforschung und begrifflicher Reflexion zum methodischen Prinzip seiner frühen Christologie hat werden lassen, wendet er sich gegen die bereits bei Schleiermacher erkennbare "Neigung der Theologie des 19. Jahrhunderts, zu postulieren. In Tatsachenfragen, in Denkfragen, überall da wo Not am Mann war, hat sie allein auf Grund der Glaubenserfahrung, die sie sich z u m einzigen Gegenstande gewählt h a t t e und aus der sie nun alles herausholen mußte, die Sache als entschieden betrachtet" ( J C h H 44). Eine solche Einstellung ist in der Christologie nach Meinung Hirschs aber aus zwei Gründen nicht nachvollziehbar. Zum einen widerspricht sie dem Grundsinn der christlichen Religion, für die der Bezug auf den wirklichen Menschen Jesus schlechterdings konstitutiv ist 1 , und zum anderen wird sie der geistesgeschichtlichen Situation der Neuzeit mit ihrer auf dem Projektionsvorwurf aufruhenden Religionskritik nicht gerecht. Beide Momente verschränken sich in der theologischen Fassung des Historismusproblems. Die historische Forschung des 19. und frühen 20. J a h r h u n d e r t s hat die meisten der ins christliche Dogma und Bekenntnis übergegangenen Jesus-Vorstellungen als Mythen oder Legenden entlarvt. Das Christentum kann in dieser Lage, will es nicht den Mythenglauben zu seiner - in blindem Gehorsam geschuldeten - Voraussetzung erklären, nur dann in seinem Anspruch auf Wahrheit lebendig bleiben, wenn es sich den methodologischen Bedingungen historischer Forschung stellt und ein der Kritik standhaltendes Wissen von der historischen Wirklichkeit Jesu ausarbeitet. Angesichts der methodischen Standards historischer Forschung läßt sich der Rückbezug auf den geschichtlichen Jesus nicht mehr auf die geschichtlichen Implikationen des Glaubenswissens der Dogmatik reduzieren. Ein solcher Rückbezug - den die christliche Religion nur unter Ver1

Bultmanns theologisches Verdikt, hinter das Kerygma nach dem Gottesverhältnis des Menschen Jesus von Nazareth zurückzutragen hat Hirsch interpretiert als eine Variante des Hegeischen Ansatzes beim Geist der Gemeinde (vgl. HchR 314). Hirsch betont dagegen: "Für mich ist der Glaube der ersten Gemeinde nur ein Weg hin zu dem erst das Letzte und Entscheidende uns eröffnenden Wege Jesu zu Gott" (HchR 47).

Das dogmatische Interesse

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lust ihrer eigenen Identität preisgeben könnte - muß vielmehr methodisch ausgearbeitet werden als explizite historische Frage nach dem Menschen Jesus, "wie er wirklich gewesen ist" (ChR I, 32). Diese in Anlehnung an eine Wendung Rankes formulierte Leitfrage artikuliert nun keineswegs nur ein historisches, sondern auch ein in höchstem Maße dogmatisches Interesse. Denn die dogmatische Durchführung der Christologie selber ist von der historischen Wahrheitsfrage betroffen. "Das Wort Christus und die Bilder von Jesu Geschichte decken alles Beliebige: das Scheußlichste und Niedrigste und das Fremdeste und Entartetste in der Geschichte unserer Religion haben Christusfrömmigkeit sein wollen" (ChR I, 32). 2 Angesichts einer geistesgeschichtlichen Situation, die die Übertragung des Projektionsvorwurfs der Religionskritik auch auf die Christologie nur allzu nahe legt, ist ein Wissenwollen mit Bezug auf "Jesus Christus, wie er wirklich gewesen ist" (JChH 37), alles andere als ein vergleichsweise naiver Versuch, den Glauben an die christliche Wahrheit durch geschichtliche Tatsachenerkenntnis absichern oder gar ersetzen zu wollen. 3 Es geht vielmehr um das durch die neuzeitliche Lage der christlichen Religion abgeforderte Bemühen, "die mit und in den inneren Vorgängen gefundene Erkenntnis von Gott und göttlichen Dingen gegen den Verdacht zu schützen, es handle sich bei ihr lediglich um Abspiegelungen subjektiver Erfahrung in einer Scheinwirklichkeit" (JChH 44). Nur eine "auf reiner Beobach2

3

Auch für W. PANNENBERG "findet christologische Forschung in der geschichtlichen Wirklichkeit Jesu das Kriterium zur Beurteilung der christologischen Überlieferung und auch der verschiedenen soteriologischen Interessen, welche die christologischen Darstellungen bestimmt haben" (Grundzüge der Christologie, 43). Insofern gibt es eine Kontinuität zwischen Hirschs und Pannenbergs christologischem Ausgang vom historischen Jesus. Die Differenz entsteht erst an der Stelle, wo Pannenberg den Bedeutungsgehalt jener geschichtlichen Wirklichkeit, um dieser ihre Kriterienfunktion zu sichern, zu einem "Eigen"-Sinn (vgl. ebd.) hypostasiert, welch letzteres - unabhängig von der Frage seiner inhaltlichen Füllung - erkenntnistheoretisch kaum einleuchten dürfte. Der Rekurs auf das der historischen Forschung als gegeben sich Erweisende impliziert nicht die Verdinglichung oder Entsubjektivierung von historischem Sinn. Die Frage nach dem Sein von Sinn bleibt bei Pannenberg hermeneutisch merkwürdig unerörtert. Weis die Problematik der inhaltlichen Durchführung bei Pannenberg anbelangt, so dürfte sich auch hier Hirschs Kritik an M. Kahler als einschlägig erweisen (vgl. ChR II, 12). Lessings Anwendung des Gegensatzes von zufalligen Geschichtswahrheiten und notwendigen Vernunftwahrheiten auf die christologische Frage hat Hirsch als eine unzureichende Problemexposition eingestuft; denn a) das "Gottesverhältnis des Glaubens ist keine Vernunftwahrheit", und b) "Jesus ist kein Historisches als Objekt" (ChR I, 32). Es kommt vielmehr darauf an, die Subjektivität und Geschichtlichkeit des Offenbarseins Gottes zusammenzudenken. Subjektivitätstheoretische Rekonstruktion und hermeneutisch reflektierte Historisierung bilden für Hirsch darum die beiden methodischen Instrumente des Neubaus der Christologie.

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tung" (JChH 46), auf "Unbefangenheit der Beobachtung, die den Selbstbetrug erschwert" (JChH 10), aufruhende Erkenntnis der geschichtlichen Wirklichkeit Jesu vermag dem tief ins Innere des Christentums eingewanderten Verdacht entgegenzutreten, daß wir es im Jesusglauben lediglich mit "Traumgespinsten unsers eignen Herzens" zu tun hätten, daß es also lediglich unser frommes Bewußtsein sei, mit dem wir "die Wunschbilder begierlichen Wollens in die Wirklichkeit hineinschauen" (JChH 10). Das dogmatische Interesse am historischen Jesus lebt also zutiefst von der durch das historische Bewußtsein geschärften, religionskritisch radikalisierten und durch keinen Biblizismus mehr abzuwehrenden Zweifelsfrage, wonach die Bezeichnung "Christus" ebensogut der "Name eines Götzen" sein könnte, "der in die evangelische Geschichte hinterrücks hineinkriecht" (ChR I, 32). Angesichts dieser Situation war Hirsch der festen Uberzeugung, "daß die historisch-kritische Jesusforschung nicht der Tod, sondern der Jungbrunnen des christlichen Glaubens ist" (ChR I, 32). Allerdings, so sehr für Hirsch die Erkenntnis des historischen Jesus von einem eminent dogmatischen Interesse geleitet war, so sehr hat er methodisch am duplizitären Aufbau seiner Christologie festgehalten, wonach Geschichts- und Glaubenserkenntnis zwar unabdingbar aufeinander verweisen, aber doch nicht ineinander überführbar sind. 4 Er blieb dabei, daß "weder die geschichtliche Erkenntnis der christlichen Religion aus eigner Macht den Glauben an die christliche Wahrheit erzeugen kann, noch der Glaube an die christliche Wahrheit aus eigner Macht eine auf geschichtlicher Wahrnehmung und Beobachtung gegründete Erkenntnis der christlichen Religion ersetzen kann" (ChR I, 143). Wie Hirsch am Leitfaden dieser christologischen Grundmaxime die Einsichten der klassischen Historik einer Erforschung des historischen Jesus dienlich gemacht hat, und wie deren methodologisch-hermeneutische Erkenntnisprinzipien selber zu verstehen sind 5 , soll im folgenden gezeigt werden.

4

5

M. Kählers und W. Herrmanns auf den ersten Blick einleuchtende Unterscheidung von historischem J e s u s und biblischem Christus (vgl. C h R I, 32) sieht Hirsch bereits in der Daub-Rezeption des frühen Kierkegaard auf den Punkt gebracht und dann in den "Philosophischen Brocken" einer vorläufigen Lösung zugeführt, nämlich in F o r m des Gleichzeitigkeitsgedankens (vgl. K S t 539-551). Für Hirsch findet jene Unterscheidung ihre endgültige Lösung allerdings erst in einer zweifa,chen Durchführung des Gleichzeitigkeitsbegriffs selber (vgl. dazu unten Abschnitt B . 5 sowie K a p . V . B . 2 . e ) . D a s in der gegenwärtigen geisteswissenschaftlichen G r u n d l a g e n d e b a t t e höchst einflußreich gewordene B u c h von H.-G. GADAMER "Wahrheit und Methode" vermittelt hinsichtlich der Hermeneutik der klassischen Historik nur ein unzulängliches Bild (vgl. a.a.O. 185-205).

Α. Der Begriff der Geschichtserkenntnis in der klassischen Historik 1. D i e E n t d e c k u n g e i n e s spezifisch historischen W a h r h e i t s b e w u ß t s e i n s bei L e o p o l d v o n R a n k e

Friedrich Meinecke hat Rankes Geschichtsschreibung als den Gipfel des "Historismus im guten Sinne" 6 bezeichnet. Ernst Troeltsch erblickte in Ranke "das größte Genie des spezifisch historischen Denkens". 7 Ranke selber wußte u m den Stellenwert seiner wissenschaftlichen Leistung. Die Vorrede zur "Englischen Geschichte" schließt mit den Worten: "Ein historisches Werk kann zum Zweck haben, entweder eine neue Auffassung des schon Bekannten aufzustellen, oder noch unbekannte Informationen über die Thatsachen mitzutheilen. Ich versuche beides zu vereinigen" (SW 14, XIV). Worin besteht Rankes epochemachendes Verdienst? In einem neueren Handbuch über "Deutsche Historiker" werden insbesondere zwei Sachverhalte genannt: einerseits Rankes Etablierung einer auf methodischer Quellenkritik basierenden Geschichtswissenschaft: "Was Ranke ... in formal-methodischer Hinsicht der Geschichtswissenschaft vermittelt hat, ist grundlegend für jede ernsthafte historische Forschung.... Durch ihn sind die methodischen Grundsätze der philologischen Quellenkritik, die auf die Herstellung zuverlässiger Texte, die Prüfung ihrer Echtheit, die Unterscheidung des Selbständigen und Abgeleiteten abzielte, zu allgemeiner Geltung gebracht worden. Sie gehören seither zum Rüstzeug eines jeden Historikers". 8 Andererseits ist es die in seinen großen Darstellungen musterhaft zur Anwendung gebrachte Verschränkung des Individualitäts- und Allgemeinheitsmomentes von Geschichte und Geschichtsschreibung: "sein Sinn für das Einmalige und Unvergleichbare einer historischen Situation, die sich nicht vollständig in das Gleichförmige und Typische historischer Prozesse zwängen läßt, seine universalhistorische Orientierung an der Totalität des geschichtlichen Ablaufs sind unverzichtbare Momente der historischen Erkenntnis" , 9 6

F. MEINECKE: Die Entstehung des Historismus, 624.

7

E . TROELTSCH: G . S c h . I I I , 2 7 1 .

8 9

H. BERDING: Leopold von Ranke, 12. A.a.O. 21.

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Geschichtsmethodologische Grundlagen

Was den ersten P u n k t anbelangt, so kann es hier nicht die Aufgabe sein, Rankes quellenkritisches Verfahren im einzelnen zu erläutern. Es soll vielmehr gezeigt werden, inwiefern sich der hohe Stellenwert der Quellenkritik bei Ranke zwingend aus dessen Geschichtsverständnis ergibt. Im Oktober des Jahres 1824 verfaßte Ranke die Vorrede seiner ersten großen Geschichtsdarstellung, nämlich der "Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494-1514". Hierzu übergibt er der wissenschaftlichen Öffentlichkeit noch im gleichen Monat eine Art Begleitschrift mit dem Titel: "Zur Kritik neuerer Geschichtschreiber". Darin geht es ihm, neben einem Überblick über die jüngere Historie und ihre wissenschaftliche Brauchbarkeit, zunächst darum, "die Art und Weise zu rechtfertigen, auf welche in meinem Versuche romanischer und germanischer Geschichten die Quellen benutzt worden sind" (SW 33/34, 2. Halbbd., III). Die weitere Absicht ist die, "zur Sammlung eines unverfälschten Stoffes für die neuere Geschichte, zu einem gründlichen Urtheil über Natur und Werth der über dieselbe vorhandenen urkundlichere Schriften, soviel ich vermag, beizutragen" (ebd.). Der hier zutage tretende Zusammenhang von Geschichtsauffassung und streng methodischer Quellenkritik ergibt sich bereits aus der Vorrede z u m erstgenannten Werk. Dort heißt es zunächst lapidar: "Die Absicht eines Historikers hängt von seiner Ansicht ab" (SW 33/34, V). Vor dem Hintergrund dieser These, die geradezu die Umkehrung des Programms der pragmatischen Geschichtsschreibung darstellt, fallen dann die b e r ü h m t e n Worte, die sich bald als die klassische Zusammenfassung des von Ranke vertretenen neuen Verständnisses von Geschichte und Geschichtsschreibung eingeprägt haben. "Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger J a h r e zu belehren, beigemessen: so hoher Ämter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will blos zeigen, wie es eigentlich gewesen" (a.a.O. VII). 1 0 Aus dieser Bestimmung der Historie ergibt sich für Ranke nun aber eine wichtige methodische Folgerung: "Strenge Darstellung der Thatsache, wie bedingt und unschön sie auch sei, ist ohne Zweifel das oberste Gesetz". In eben dieser Verpflichtung auf die Welt der Tatsachen ist auch die Aufgabe der Quellenkritik verankert: "Die Grundlage vorliegender Schrift, der Ursprung ihres Stoffes sind Memoiren, Tagebücher, Briefe, Gesandtschaftsberichte und ursprüngliche Erzählungen der Augenzeugen; andere Schriften nur alsdann, wo sie entweder aus jenen unmittelbar abgeleitet, oder durch irgend eine originale Kenntniß ihnen gleich geworden schienen" (ebd.). 10

Zu dieser berühmten Formel vgl. W.P. FUCHS: Was heißt das: "bloß zeigen, wie es eigentlich gewesen"?; Th. HEUSS: Leopold von Ranke; K. REPGEN: Uber Rankes Diktum von 1824: "bloß sagen, wie es eigentlich gewesen"; M.-J. ZEMLIN: "Zeigen, wie es eigentlich gewesen".

Historisches Wahrheitsbewußtsein: Ranke

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Diese kritische Sichtung der Quellen hat Ranke dann durchgängig als die unabdingbare Voraussetzung jeder echten Geschichtsschreibung erachtet. So bekennt er später in der Vorrede zur "Französischen Geschichte": "Es war mir genug, wenn ich jenseits der gegenseitigen Anklagen der Zeitgenossen und der oft beschränkten Auffassung Späterer, durch ursprüngliche und zuverlässige Kunde zur Anschauung des Objectiven der großen Thatsachen gelangt zu sein glauben durfte" (SW 8, VIII). Und in der Einleitung zu den Analecten der "Englischen Geschichte" weist er dem mühevollen Unternehmen der Sammlung und Sichtung von Quellen den Zweck zu, "über die hergebrachten Traditionen hinauszukommen, des dem Leben unmittelbar Angehörigen oder ihm Entstammenden Meister zu werden, das Vergangene wie ein Gegenwärtiges gleichsam mit eigenen Augen zu sehen" (SW 21, 113). Die Quellenkritik hat für Ranke also letztlich die Funktion, den Geschichtsschreiber bezüglich des wirklich Gewesenen in die Situation der Autopsie zu versetzen. Geschichtswissenschaft muß vermittelst methodischer Aussonderung des authentisch informierenden Überlieferungsmaterials den Geschichtsschreiber in die Lage versetzen, die Tatsachen der Vergangenheit in quasi unmittelbarer Anschauung in den Blick zu bekommen. Die radikale Quellenkritik erweist sich als ein notwendiges Implikat des allgemeinen Verständnisses von Geschichte im Sinne des "Wie es eigentlich gewesen". Ranke hat für diese Art quellenkritisch kontrollierter Geschichtsschreibung niemals Originalität beansprucht, sondern immer dankbar darauf hingewiesen, an diesem Punkt entscheidend von Niebuhrs "Römischer Geschichte" gelernt zu haben. Gleichwohl gebührt Ranke das unbestrittene Verdienst, diese Auffassung von Historie durch die Tat eines überragenden Gesamtwerks zum Muster der Geschichtsschreibung erhoben zu haben. 1 1 Das zweite Charakteristikum der Rankeschen Historie, die Verschränkung von Individualitäts- und Allgemeinheitsaspekt, resultiert vor allem aus der Verknüpfung von geschichtsphilosophischer und darstellungstechnischer Bewußtheit. Im Jahre 1833 erschien im zweiten Band der "Historisch-Politischen Zeitschrift" Rankes Aufsatz über "Die großen Mächte". Von Ranke selbst als Fragment bezeichnet, wurde er doch schon bald wegen seiner Programmatik berühmt. Mit seinem skizzenhaften Portrait der Pentarchie England, Frankreich, Osterreich, Rußland und Preußen bot er ein Muster für Geschichtsschreibung in welthistorischer Perspektive. Diese 11

Zum allgemeinen Verständnis Rankes vgl. H. HELBLING: Leopold von Ranke und der historische Stil; S. BACKS: Dialektisches Denken in Rankes Geschichtsschreibung bis 1854; M.-J. ZEMLIN: Geschichte zwischen Theorie und Theoria. Desweiteren G.G. IGGERS: The German Conception of History, 63-89; Η. BERDING: Leopold von Ranke; L. KRIEGER: Elements of Early Historicism; Α. NABRINGS: Historismus als Paralyse der Geschichte, 173-182.

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hat nach Ranke die Aufgabe, "die Ergebnisse einer langen historischen Periode ... im Zusammenhange zu vergegenwärtigen" (SW 24,4). Die Lösung dieser Aufgabe 12 schließt für Ranke die Verbindung zweier Fundamentalgesichtspunkte ein. Auf der einen Seite ist die Darstellung jeweils der "besondern Entwickelung an und für sich" erfordert. Ziel ist die "Anschauung des einzelnen Momentes in seiner Wahrheit". Auf der anderen Seite obliegt es dem Historiker aber ebensosehr, "das Ganze zu überschauen" (ebd.). In dieser Hinsicht geht es darum, "Gesammtanschauungen" (a.a.O. 3) zu vermitteln. Geschichtsschreibung zielt immer auf die Vereinigung des Individualaspektes und des Universalaspektes von Ereigniszusammenhängen. In Entsprechung dazu kann Ranke im "Politischen Gespräch" von 1836 die Intention der Historie folgendermaßen charakterisieren: einerseits gilt ihr Interesse den "universalen Betrachtungen" , andererseits will sie "auf das vor uns liegende Concrete eingehen" (SW 49/50, 330); sie erschöpft sich niemals in einer der beiden Betrachtungsweisen, sondern wird immer "beide verknüpfen" (ebd.). Und nach einem Fragment der 30er Jahre soll den "wahren Historiker" (WN IV, 88) die "Teilnahme und Freude an dem Einzelnen an und für sich" ebenso auszeichnen wie die Fähigkeit, "sich von der Erforschung und Betrachtung des Einzelnen ... zu einer allgemeinen Ansicht ... zu erheben" (ebd.). Doch kehren wir noch einmal zurück zur Abhandlung über "Die großen Mächte". Die Vereinigung von Individual- und Universalaspekt entspringt nach Ranke nicht bloß einem darstellungstechnischen Interesse, sondern hat im vorgegebenen Gegenstand der Geschichtsschreibung selber ihren Rückhalt. Und zwar handelt es sich um eine grundlegende Eigenschaft von Geschichte, gewissermaßen um eine metaphysische Beschaffenheit derselben: "das Besondere trägt ein Allgemeines in sich" (SW 24, 4). Diese für geschichtliche Sachverhalte konstitutive - kategoriale Verschränktheit von Allgemeinem und Besonderem, welche die Vereinigung von Individualund Universalaspekt auf der Ebene der Geschichtsschreibung erforderlich macht, verbleibt für Ranke aber nicht in ontologischer Abstraktheit, sondern gelangt in konkreten historischen Erscheinungen zur anschaulichen Gegebenheit, nämlich in den welthistorischen Staaten und Völkern. Diese Potenzen haben sozusagen einen metaphysischen Kern, der in ihrer Geschichte zum Ausdruck kommt. "Nicht ein solch zufälliges Durcheinanderstürmen, Übereinanderherfallen, Nacheinanderfolgen der Staaten und Völker bietet die Weltgeschichte dar, wie es beim ersten Blicke wohl aussieht.... Es sind Kräfte und zwar geistige, Leben hervorbringende, schöpferische Kräfte, selber Leben, es sind moralische Energien, die wir in ihrer Entwickelung erblicken" (a.a.O. 39). Dieser metaphysische Kern der 12

Vgl. H.W. KOCH: Was ist das Amt des Historikers?

Historisches Wahrheitsbewußtsein: Ranke

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Geschichte äußert sich aber weniger im Für-sich-Bestehen der einzelnen Völker und Staaten als vielmehr in deren lebendiger Bezogenheit aufeinander: "in ihrer Wechselwirkung und Aufeinanderfolge, in ihrem Leben, ihrem Vergehen, oder ihrer Wiederbelebung, die dann immer größere Fülle, höhere Bedeutung, weitern Umfang in sich schließt, hegt das Geheimniß der Weltgeschichte" (a.a.O. 40). 13 Erst in der wechselseitigen Beziehung aufeinander gelangen Völker und Staaten zur vollen Ausprägung ihrer Individualität. Hinsichtlich der Verschränktheit von Individualitäts- und Universalitätsmoment besteht durchaus eine Analogie zur elementaren sittlichen Vergesellschaftung von Individuen, "wo sich mannigfaltige Eigentümlichkeiten, in sich selber rein ausgebildet, in einem höhern Gemeinsamen begegnen, ja wo sie dies, indem sie einander lebendig berühren und ergänzen, in dem Momente hervorbringen" (ed. Andreas, 37). 14 Wir müssen im Rahmen unserer Ausführungen davon absehen aufzuzeigen, inwieweit sich bei Ranke hier sowohl romantisches Individualitätsverständnis als auch Hegeische Geschichtsphilosophie 15 miteinander verbunden haben. Es bleibt nur festzuhalten, daß die welthistorischen Staaten und Völker, in deren Wechselwirkungsverhältnis sich ethische Potenzen als epochale Tendenzen realisieren, eben diejenigen individuelluniversellen Entitäten darstellen, in denen die metaphysische Verschränktheit von Allgemeinem und Besonderem konkret erscheint. Sie bilden infolgedessen den eigentlichen Gegenstand der Geschichtsschreibung. Besonders klar hat Ranke diesen Gedanken in der Vorrede zur "Englischen Geschichte" entwickelt. Im Hinblick auf das England des 17. Jahrhunderts faßt er zusammen: "Man erkennt, wie die großen einander entgegengesetzten Intentionen aus den früheren Zeiten beinahe unvermeidlich hervorgingen, wie sie in Kampf geriethen, worin die Stärke von beiden Theilen lag, was den Wechsel der Erfolge und die Entscheidungen im Allgemeinen bedingte; zugleich aber nimmt man wahr, wie viel doch wieder auf die Sinnesweise und Energie der Individuen ankam, ihrem Verhalten zu sich selbst, zu den großen Interessen, die sie vertraten, zu den Gegnern, die sie bekämpften.... Aus diesem Zusammenstoß des Allgemeinen und des Besonderen entspringen die großen Katastrophen" (SW 14, IXf). 13

14

15

Vgl. WN IV, 88: "Es ist auf der Erde kein Volk, das ohne Berührung mit anderen geblieben wäre. Dieses Verhältnis, welches von der ihm eigentümlichen Natur abhängt, ist es, in welches es zur Weltgeschichte tritt, und welches in der allgemeinen Historie hervorgehoben werden muß". Dieses Zitat entstammt dem Schluß der Erstausgabe der "Großen Mächte" in der "Historisch-Politischen Zeitschrift" (1833), welcher in der Ausgabe der sämtlichen Werke (SW 24) entfallen ist. Auf den Hegelianismus Rankes hat vor allem E. TROELTSCH hingewiesen (vgl. a.a.O. 271-277).

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Mit Bezug auf diese historische Charakteristik legt Ranke dann auf der nächst höheren Stufe der Abstraktion dax, daß eine "weltbeherrschende historische Region" ihre epochale Bedeutung immer auf zweierlei Weise zu erkennen gebe: "sowohl da, wo sie mit den allgemeinen Begebenheiten unmittelbar zusammengreift, als wo sie sich, auf abgesondertem Boden, nach ihrem eigenen inneren Triebe entwickelt" (a.a.O. IX). Und indem er diese Verschränkung auf die metaphysische Beschaffenheit der Geschichte zurückführt, gelangt er schließlich zu dem allgemeinen Grundsatz: "alles ist allgemeines und individuelles geistiges Leben" (ebd.). Daraus ergibt sich nun eine wichtige Konsequenz für die Erkennbarkeit des Individuellen: "In seinem vollen Lichte wird das Einzelne niemals erscheinen, als wenn es in seinem allgemeinen Verhältniß aufgefaßt wird" (SW 53/54, 270f). Deshalb hebt Ranke, und zwar gerade unter der Bedingung, daß es in der Geschichtsschreibung immer um die Erkenntnis des Individuellen geht, nachdrücklich hervor: "es ist notwendig, daß der Historiker sein Auge für das Allgemeine offen habe" (WN IV, 88). Die Notwendigkeit der historischen Quellenkritik und die Verschränkung des Individual- und Universalaspektes von Geschichtsschreibung zusammenfassend, weist Ranke der Historie die Aufgabe zu, "nach originaler Durchforschung des Stoffes das Ereigniß in seiner politisch-religiösen Gesamtheit und zugleich seinen universal-historischen Beziehungen zu ergreifen" (SW 14, XI). Wie aber hängen nun jene beiden Merkmale miteinander zusammen? Friedrich Meinecke, einer der gründlichsten und behutsamsten RankeDeuter 16 , sieht die letzten Voraussetzungen dieses Geschichtsdenkens in zwei "großen Generalworte[n]"17 auf den Begriff gebracht: das eine beinhaltet den gerade ausgeführten Gedanken des Ineinsseins des Allgemeinen und Individuellen, das andere die These vom Eigenwert einer jeden Epoche vermöge ihrer Gegründetheit in Gott. Sollte sich bei einer genaueren Analyse der Grundlagen der Rankeschen Geschichtsschreibung die systematisch tragende Rolle insbesondere auch des zweiten Motivs bestätigen, dann dürfte es sich als unangemessen erweisen, in Rankes Geschichtstheologie lediglich eine "große Epochenbedingtheit des Rankeschen Geschichtsdenkens" 18 zu erblicken. Darum gilt es nun, Rankes Ge16

17 18

Vgl. F . MEINECKE: Gedächtnisrede auf L. v. Ranke, in: Die Entstehung des Historismus, 614-631; ders.: Ausgewählter Briefwechsel, 179.202f.259.276f.279f.282. 321.341.360.373f.377f.402.415.420f.423ff.455f.458.473.483f.514.552.604ff.623; ders.: Zur Theorie und Philosophie der Geschichte, 117-139.254-263; ders.: Zur Geschichte der Geschichtsschreibung, 41-82.93-121; ders.: Autobiographische Schriften, passim. Die Entstehung des Historismus, 625. H. BERDING: Leopold von Ranke, 16.

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schichtstheologie in die weiteren Voraussetzungen seiner Geschichtsschreibung miteinzubeziehen. Als Ausgangspunkt der Überlegungen darf die soeben erwähnte, in den Berchtesgadener Vorträgen vom Herbst 1854 "Uber die Epochen der neueren Geschichte" geäußerte These gelten: "jede Epoche ist unmittelbar zu Gott" ( W N II, 59f). Schon die 1824 geschriebene Vorrede zu den Geschichten der romanischen und germanischen Völker bezeichnet als "Hauptsache" der Darstellung "das Leben des Einzelnen, der Geschlechter, der Völker, zuweilen die Hand Gottes über ihnen" (SW 33/34, VIII). Und bereits der junge Ranke schreibt Ende März 1820 an seinen Bruder Heinrich: "In aller Geschichte wohnt, lebet, ist Gott zu erkennen. Jede T h a t zeuget von ihm, jeder Augenblick prediget seinen Namen, am meisten aber, dünkt mich, der Zusammenhang der großen Geschichte. Er steht da, wie eine heilige Hieroglyphe" (SW 53/54, 89f). Es kann hier nicht die Aufgabe sein, die Genese der geschichtstheologischen Motive Rankes zu verfolgen oder deren ideengeschichtliche Wurzeln näher zu analysieren, allein ihr wesentlicher gedanklicher Gehalt ist für uns von Interesse. Zwei abgrenzende Vorbemerkungen scheinen jedoch angebracht: Unbeschadet des besonders engen Verhältnisses Rankes zur Theologie Luthers darf m a n sich unter seiner Geschichtstheologie kein konfessionell einseitiges Gedankengebäude vorstellen. Allzuvieles ist aus verschiedensten Quellen in sie eingegangen: Neben Luther auch der Neuplatonismus, Goethe und vor allem der mittlere Fichte, um nur die allerwichtigsten zu nennen. 1 9 Rankes Geschichtstheologie ist Ausdruck eines neuprotestantischen Christentumsverständnisses, das sich mit dem romantisch-idealistischen Grundkonsens der Gebildeten seiner Zeit in tiefer Übereinstimmung weiß. Besonders aufschlußreich hierfür ist vielleicht das Verhältnis zu Schleiermacher. Als Ranke in den 20er Jahren an die Berliner Universität berufen wird, lernt er dort auch den berühmten Theologen kennen. Übereinstimmung im politisch Grundsätzlichen (vgl. SW 53/54, 50.275) und darüber hinaus eine enge herzliche Freundschaft (vgl. a.a.O. 226) verbindet beide alsbald. Im Februar 1834 stirbt Schleiermacher. Ranke ehrt ihn im Kolleg über neuere Geschichte mit einem von großem Respekt vor Person und wissenschaftlichem Werk zeugenden Nachruf. Er kommt u.a. auch auf Schleiermachers theologisches Hauptwerk, die Glaubenslehre, zu sprechen mit Worten, die auch über ihn selbst Auskunft geben: "Ein unvergängliches Denkmal ist seine Dogmatik, wo er das über allem Streit

19

Über die geistesgeschichtlichen Voraussetzungen dieses religiös-metaphysischen Geschichtsverständnisses informiert lehrreich C. HINRICHS: Ranke und die Geschichtstheologie der Goethezeit, 99-254.

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liegende, die gemeinsame hohe Wahrheit des Christenthums uns so herrlich entwickelt" (a.a.O. 265 Anm. 1). Die Geschichtstheologie Rankes, in der sich eine lutherische Grundhaltung mit vermittlungstheologischer Weite verbindet, sollte aber auch nicht vorschnell mit den traditionellen Gestalten vorneuzeitlicher Geschichtstheologie in Verbindung gebracht werden. Ranke selber denkt weder an eine transzendent begründete Periodisierung im Sinne der augustinischen Heilsgeschichte, noch an eine immanente Universalteleologie aristotelischthomistischer Herkunft. Vielleicht ist es besser, den Ausdruck "Geschichtstheologie" ganz zu vermeiden, und stattdessen eher von einer religiösphilosophisch begründeten metaphysischen Geschichtsauffassung zu sprechen. Worin bestand diese nun des näheren? Die aus lutherischer Frömmigkeit und fichtescher Philosophie gebildete Grundsynthese läßt sich ihrem allgemeinsten Gehalt nach folgendermaßen zusammenfassen: Gott ist das in sich geschlossene einige Leben des Geistes, welches in der Geschichte zur Erscheinung gelangt. Daraus ergeben sich für Ranke eine Reihe wichtiger Bestimmungen von Geschichtsschreibung. Letztere darf sich nicht darauf beschränken, "einzig das Vergehende der Erscheinung zu erfassen", es geht ihr vielmehr ebensosehr um dessen "geistige Grundlage" (WN IV, 89). Der "in der Welt erscheinende Geist" (ebd.) ist sonach der wahre Gegenstand der Geschichtsschreibung. Rankes Konzept von Historie wendet sich darum sowohl gegen die Auffassung derer, welche "die ganze Historie lediglich als ein ungeheures Aggregat von Tatsachen ansehen" (a.a.O. 87), als auch gegen das Verfahren derjenigen, bei denen "Einzelnes an Einzelnes gehängt und nur durch eine allgemeine Moral zusammengehalten wird" (ebd.). Rankes metaphysisch begründete Historiographie schließt somit eine programmatische Absage in zwiefacher Richtung ein: zum einen gegen das bloße Anhäufen elementaren Faktenwissens, wie es insbesondere im Positivismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts so mächtig hervorgetreten ist, und zum anderen gegen jede Art moralisierender Geschichtsschreibung, wie Ranke sie insbesondere von der Popularphilosophie der Aufklärung gefordert sah. Aber bei jener allgemeinen Ansicht von der Geschichte als Erscheinung des göttlichen Geistes läßt Ranke es nicht bewenden. Er konkretisiert sie, indem er sie unmittelbar auf die Ebene der Völkergeschichte anwendet. Alle Staaten sind ihrer Idee nach, nämlich als individuell-allgemeine, untereinander in Wechselwirkung stehende welthistorische Tendenzen, "göttlichen Ursprungs" (ed. Rothacker, 25). Sofern sie ihr kontingentes Dasein einer urprünglichen Hervorbringung des Menschengeistes verdanken, sind sie zugleich "Produkte eines schöpferischen Genius" (a.a.O. 7).

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Der göttliche Geist wird demnach gewußt als im staatsgründenden Genius ebenso erscheinend wie insbesondere im Epoche setzenden Wechselspiel der Staaten. Der Wechselverlauf der Völker macht auf eigentliche Weise den metaphysischen Kern der Geschichte offenbar. Deshalb bildet für Ranke die Geschichte der großen Mächte - unter Einschluß aller wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und religiösen Vorgänge, aber eben unter der Dominanz der wechselseitigen äußeren Verhältnisse - den primären Inhalt der Geschichtsdarstellung. Man hat an Rankes Geschichtsschreibung häufig den P r i m a t der Außenpolitik bemängelt und dieser Vorwurf ist dann geradewegs z u m Schlagwort herabgesunken. Ranke selbst hat sich schon frühzeitig zu dieser Sicht bekannt (vgl. SW 49/50, 327.332). Es dürfte deutlich geworden sein, daß der Vorrang der Staatenbeziehungen vor allen anderen möglichen Themen der Geschichtsschreibung aufs engste, zwar nicht mit seiner religiösphilosophischen Grundansicht im allgemeinen, wohl aber mit deren spezifischer Konkretion zusammenhängt. Viel entscheidender ist aber, daß von der Grundintention der metaphysischen Geschichtsauffassung her rückblickend auch die beiden bereits erläuterten Merkmale der Rankeschen Geschichtsschreibung, die methodische Quellenkritik und die Verschränkung von Allgemeinem und Besonderem, eine andere Färbung erhalten. Der Universalitätsaspekt der Geschichtsschreibung bedeutet jetzt "Mitgefühl, Mitwissenschaft des Alls" (SW 53/54, 569). Und bezüglich des Individuellen, das der Historiker einzuordnen hat, gilt: "Über allem schwebt die göttliche Ordnung der Dinge .... In dieser göttlichen Ordnung ... haben die bedeutenden Individuen ihre Stelle: so muß sie der Historiker auffassen" (ed. Fuchs, 518f). J a selbst die langwierigsten und trockensten Verrichtungen des quellenkritischen Handwerks erscheinen in einem neuen Licht: "Die Mühe, die m a n dabei anwendet, wird durch den Gewinn, den sie bringt, reichlich vergütet: über den beschädigten und schwer zu entziffernden Originalen weben die Geister der Epoche" (SW 14, XII). Wenn wir uns nun den weiteren Merkmalen des Rankeschen Verständnisses von Geschichtsschreibung zuwenden, ist es sinnvoll, bei der Erläuterung ihres Ausgangsprogramms einzusetzen. In der Vorrede zu den Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1824 präzisiert Ranke die Bedeutung der Formel "Wie es eigentlich gewesen" dahingehend, daß es der Geschichtsschreibung darauf ankomme, die vergangenen Begebenheiten "in ihrer menschlichen Faßlichkeit" (SW 33/34, VIII) darzustellen. Die Menschheit, "wie sie ist, erklärlich oder unerklärlich" (ebd.), dies sei ihr Thema. Demgemäß kann dann die Geschichtswissenschaft förmlich definiert werden als die "Erforschung der Thatsachen" (SW 53/54, 197). Und dies heißt, daß es ihr u m nichts anderes als u m die "An-

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schauung des Objectiven der großen Thatsachen" (SW 8, VIII) geht. Geschichtsschreibung ist für Ranke demzufolge immer objektive Geschichtsschreibung. Und so wird in der bereits mehrfach erwähnten Vorrede von 1824 die "strenge Darstellung der Thatsache" als das "oberste Gesetz" (SW 33/34, VII) der Geschichtsschreibung eingeführt. Aber, so kann gefragt werden: Ist solche Objektivität überhaupt zu erreichen oder handelt es sich nur um eine regulative Idee der Geschichtsschreibung, um eine Maxime des Historikers? 20 Wir wollen die Beantwortung dieser Frage vorläufig noch zurückstellen und zuvor die Grundintention dieses Objektivitätsmerkmals zu verstehen suchen. "Objektivität" bedeutet für Ranke zunächst die Verpflichtung auf diejenige "Genauigkeit und Unterscheidung ..., welche die Sache fordert" (SW 49/50, 5). Und darin hegt zweierlei: Erstens die Fähigkeit, "einzugehen auf das Ereigniß, seine Bedingungen und Forderungen, das Mißverhältniß zwischen der Absicht und den Erfolgen, das oft so schneidend ist, zu beobachten, die Natur des Gegenstandes mit bestem Fleiße zu erforschen" (ebd.). Zweitens kommt es darauf an, "dem Factum ... das bezeichnende Wort zuzugesellen" (a.a.O. 6). Die Exaktheit und Differenziertheit der Geschichtsschreibung betrifft also ebenso den durch kritischen Quellengebrauch vermittelten Wahrnehmungsvorgang als auch die Ebene der sprachlichen Darstellung. Die entscheidende Funktion des intendierten Objektivitätscharakters der Geschichtsschreibung besteht aber darin, "die Facten, wie sie sind, ... zu erkennen, zu durchdringen und darzustellen. Die wahre Lehre liegt in der Erkenntniß der Thatsachen" (SW 53/54, 258). Die historische Methode ist für Ranke dadurch gekennzeichnet, daß sie "nur das Echte und Wahre sucht" (ed. Fuchs, 519). Geschichtsschreibung will - gerade als methodisch betriebene - wahre Erkenntnis sein. Die Legitimationsgrundlage für den Objektivitätsanspruch der Historie ist deren Verpflichtung auf Wahrheit. "Die Wahrheit ... will gefunden sein, angeschaut, an und für sich, in ihrem eigenen Kreise" (SW 49/50, 317). Das in Quellenforschung und Tatsachendarstellung sich realisierende historische Bewußtsein zielt seiner letzten Intention nach auf die "Vergegenwärtigung der vollen Wahrheit" (SW 21, 114). Was sich also in Rankes emphatisch vorgebrachtem Objektivitätsanspruch artikuliert, ist nichts anderes als der Niederschlag der Selbstentdeckung des historischen Bewußtseins als einer Gestalt von Wahrheitsbewußtsein. Mit dem Objektivitätscharakter der Geschichtsschreibung steht und fällt für Ranke die Möglichkeit eines spezifisch historischen Wahrheitsbewußtseins. 20

Zur Objektiviät der Geschichtsschreibung vgl. R. VlERHAUS: Rankes Begriff der historischen Objektivität; R. ÜBELHACK: Das Problem der Objektivität in der Geschichtswissenschaft, 23-33.

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Daß der Wahrheitsbegriff - und durch ihn vermittelt ebenso das historische Wahrheitsbewußtsein - für Ranke auch eine religiöse Dimension hat, klingt bereits in der Formel von der Vergegenwärtigung der "vollen" Wahrheit an. Wesentlich deutlicher wird sie in einem Predigtentwurf des jungen Ranke zum Ausdruck gebracht. "Wahrheit ist uns nicht jene Treue in Tat und Rede allein, welche wir vorzüglich so zu nennen pflegen: sie ist uns der innerste Grund und Halt des Lebens.... sie ist die innere Selbständigkeit, auf der das unvergängliche Wesen des Menschen beruht . . . . Ist doch die Wahrheit göttlich und Gott die Wahrheit" (WN III, 246). Man wird den Zusammenhang zwischen dem emphatisch zur Geltung gebrachten historischen Wahrheitsbewußtsein und der religiösen Uberzeugung von der unbedingten Wahrheit Gottes nicht überstrapazieren dürfen. Man wird ihn aber notieren müssen, und zwar deshalb, weil er sowohl zurückverweist auf Rankes religiös-metaphysische Grundlegung, als auch vorverweist auf das, was unter dem Stichwort des "priesterlichen Amtes" des Historikers noch zu erörtern sein wird. Rankes Geschichtsschreibung verdankt ihr leidenschaftliches Objektivitätsideal letztlich einem religiös motivierten historischen Wahrheitsbewußtsein. Mit diesem, sei es normativ, sei es deskriptiv zu verstehenden Wahrheits- und Objektivitätscharakter echter Geschichtsschreibung hängt nun die Forderung nach deren Unparteilichkeit eng zusammen. Klassisch formuliert findet sie sich in einem Brief an Otto Ranke vom 25. Mai 1873 "Der Historiker ... muß nur eben den Gegenstand selbst und nichts weiter mit aller Unparteilichkeit im Auge haben" (ed. Fuchs, 518). Und bezüglich der eigenen Rolle als Geschichtsschreiber bemerkt Ranke in einem bekannten Diktum aus dem zweiten Band der "Englischen Geschichte": "Ich wünschte mein Selbst gleichsam auszulöschen, und nur die Dinge reden, die mächtigen Kräfte erscheinen zu lassen" ( S W 15, 103). Diese Worte sind nicht selten zum Gegenstand geschichtsmethodologischer Anfrage und Kritik geworden. Was hatte Ranke mit dieser Forderung nach einer unparteiischen Geschichtsschreibung im Auge? Sie enthält zunächst eine Absage an jede rechtlich-moralische Bewertung der darzustellenden Ereignisse: "Unser Sinn kann nicht sein, uns in iuridisch-staatsrechtliche Controversen einzulassen; demgemäß, was später den Platz behauptet hat, oder im Augenblicke vorwaltet, oder gar nach eigenen Sympathien Lob und Tadel zu vertheilen" ( S W 14, X ) . Zum andern tritt Ranke der vielgeübten Praxis entgegen, die Geschichtsschreibung in die Perspektive der j e eigenen politischen Überzeugung zu rücken. "Viele wollen, statt ihre politische Meinung auf Historie, das ist Erforschung der Thatsachen zu gründen, vielmehr die Geschichte durch die Meinung beherrschen" ( S W 5 3 / 5 4 , 197). Jede politisch verpflichtete Geschichtsschreibung ist für ihn

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"Despotismus der einseitigen Theorie", "ein Unternehmen, welches alle Freiheit der Wissenschaft vernichten würde, wenn es gelänge" (ebd.). Insbesondere diese zweite Unparteilichkeitsmaxime ist viel diskutiert worden. Ranke selbst weiß natürlich, daß Geschichtsschreibung und Politik eng miteinander verzahnt sind. So ist es j a seinem eigenen Geschichtsverständnis zufolge überwiegend "das Gebiet der politischen Begebenheiten, auf dem sich die darstellende Historie bewegt" (SW 21, 113). Und umgekehrt fordert er: "die echte Politik muß eine historische Grundlage haben" (SW 49/50, 325); Staatskunst muß "auf Beobachtung der mächtigen und in sich selbst zu namhafter Entwickelung gediehenen Staaten beruhen" (ebd.). Darüber hinaus kann er auch in lebenspraktischer Hinsicht der Geschichtswissenschaft die Aufgabe zuweisen, "die wichtigen Fragen, welche das Publicum beschäftigen, durch ihre historischen Momente so weit zu führen, daß m a n sehe, worauf es ankommt" (a.a.O. 7). Diese politische Dimension der Geschichtsschreibung stimmt wohl überein mit deren Gegenwartsbezug, geht es dem Verfasser der "Großen Mächte" doch auch darum, "den Weltmoment, in dem wir uns befinden, ... zur Anschauung zu bringen" (SW 24, 4) und zwar mit dem Zweck, "das Charakteristische unserer Tage" (a.a.O. 38) zu erhellen. Gleichwohl weiß er sich dabei der Aufgabe verpflichtet, "vom freien Standpuncte aus das Ganze zu überschauen" (a.a.O. 4). Wie ist unter diesen Bedingungen unparteiliche Geschichtsschreibung möglich? Man muß Ranke zugestehen, daß er bei der Hilfestellung der Historie zugunsten der Staatskunst keine kurzfristigen, einseitigen Einflüsterungen u n d überhaupt keine praktische Mitgestaltung der inneren und äußeren Verhältnisse des Gemeinwesens im Auge hat. Geschichtserkenntnis, lediglich als eine Gestalt des Wissens genommen, ist wie jede echte Theorie im Sinne Rankes "Anschauung" (SW 49/50, 246). "Ihrer Natur nach ist sie nicht auf das Praktische angewiesen" (ebd.). Auch von Rankes Geschichtsbegriff her ergibt sich keine handlungsunmittelbare und somit Parteilichkeit direkt provozierende Orientierungsfunktion der Geschichtsschreibung. Bei einer auf Historie basierenden Politik denkt Ranke vielmehr an eine Staatskunst, "die sich auf die großen Anschauungen des realen Lebens der Gegenwart und der Vergangenheit in aller seiner Fülle gründete" (a.a.O. 244). Bei dieser Konzeption wird m a n also die politische Beeinträchtigung der Unparteilichkeit der Geschichtsschreibung nicht allzu hoch zu veranschlagen haben. Aber das ändert nichts daran, daß die Intention der Selbstauslöschung des Erkenntnissubjektes zugunsten einer Selbstdarstellung der historischen Phänomene und einer diese gleichsam in Reinheit abbildenden, unparteiischen Geschichtsschreibung sich nicht nur faktisch als unerfüllbar, sondern auch prinzipiell als undenkbar erweist. Ranke selbst hat deshalb

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seiner methodischen Maxime "Alles hängt zusammen: kritisches Studium der ächten Quellen; unparteiische Auffassung; objektive Darstellung; das Ziel ist die Vergegenwärtigung der vollen Wahrheit" unmittelbar anschließend hinzugefügt: "Ich stelle da ein Ideal auf, von dem man mir sagen wird, es sei nicht zu realisieren. So verhält es sich nun einmal: die Idee ist unermeßlich, die Leistung ihrer Natur nach beschränkt. Glücklich, wenn m a n den richtigen Weg einschlug und zu einem Resultat gelangte, das vor der weiteren Forschung und der Kritik bestehen kann" (SW 21, 114). Ranke hat demnach die von ihm zunächst uneingeschränkt aufgestellte Forderung der Unparteilichkeit der Geschichtsschreibung nicht in diesem starken Sinne verstanden wissen wollen. Aber es gibt bei Ranke auch noch einen anderen Aspekt historiographischer Unparteilichkeit, der der abgeschwächten Unparteilichkeitsmaxime einen guten Sinn verleiht. Sehen wir uns zunächst den Kontext des Selbstauslöschungsmotivs in der "Englischen Geschichte" näher an: "Ich wünschte mein Selbst gleichsam auszulöschen, und nur die Dinge reden, die mächtigen Kräfte erscheinen zu lassen, die im Laufe der Jahrhunderte mit und durch einander entsprungen und erstarkt, nunmehr gegen einander aufstanden und in einen Kampf geriethen" (SW 15, 103). Die Geschichtsschreibung zeichnet nach, wie "die elementaren Kräfte ... sich in plötzlichem Kampfe gegen einander erheben, und in dem Wogen getümmelvoller Verwirrung neue Bildungen hervortreiben, von welchen die folgenden Zeitalter ihr Gepräge empfangen.... nur auf die Erkenntniß der großen Motive und ihrer Erfolge kann es uns ankommen" (SW 14, IXf). Die Objektivität der Geschichtsschreibung hängt offensichtlich zusammen mit der Abgeschlossenheit derjenigen Vorgänge, die sie darstellt. Ähnlich äußert sich Ranke in einer Rede anläßlich seines 90. Geburtstages am 21.12.1885. Er bekräftigt noch einmal, seine Weltgeschichte in einem "unparteiischen Rückblick auf die früheren J a h r h u n d e r t e " 2 1 geschrieben zu haben. Interessant ist, was seiner Meinung nach jene Unparteilichkeit ermöglicht hat. "Ich, meines geringen Orts, würde nicht daran gedacht haben, eine Weltgeschichte zu verfassen, wenn nicht für mich im allgemeinen das Problem der beiden großen Weltgewalten nach langen Kämpfen und Abwandlungen wäre entschieden gewesen" und zwar im Sinne einer "Niederlage der revolutionären Kräfte" und einer "Fortbildung der historischen Kräfte" , 22 Mein darf es in diesem Zusammenhang auf sich beruhen lassen, ob die inhaltliche Aussage historisch zutreffend ist. Ebenso kann m a n davon absehen, daß die in ihr sich ausdrückende historische Einschätzung unverkennbar eine Affinität enthält zu Rankes 21 22

Zitiert nach: F. MEINECKE: Zur Geschichte der Geschichtsschreibung, 95. Ebd.

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politischer Option einer Vermittlung zwischen Revolution und Restauration zugunsten eines kontrollierbaren Fortschritts (vgl. SW 53/54, 50). Hier kommt es darauf an, daß für die Möglichkeit einer unparteilichen Geschichtsschreibung zwar nicht der Abschluß der historischen Vorgänge selbst, wohl aber die Entscheidung über das hinter ihnen liegende Kräfteverhältnis vorausgesetzt wird. Noch deutlicher erklärt sich Ranke in der "Preußischen Geschichte". Auch sie setzt sich das Ziel, "Ereignisse, ... unbekümmert u m die Neigungen oder Abneigungen des Tages, zu so viel möglich objectiver Anschauung zu vergegenwärtigen" (SW 25, IX). Aber hier wird das Objektivitätsideal nicht allein mit dem Beendetsein von äußeren Vorgängen oder dahinterliegenden Bewegungen in Verbindung gebracht, sondern es wird darüber hinaus auf den zeitlichen Abstand zu dem Abschluß solcher Prozesse verwiesen, handelt es sich doch u m Ereignisse, "die nun schon ein J a h r h u n d e r t hinter uns liegen" (ebd.). Die Möglichkeit einer objektiven Geschichtsschreibung hängt für Ranke also wesentlich zusammen sowohl mit der Abgeschlossenheit eines Prozesses als auch mit der Ferne des Prozeßendes zur eigenen Gegenwart. Das Problem zeigt sich bereits bei der Einschätzung des Quellenwertes von Dokumenten der Vergangenheit: "Die gleichzeitigen Schriften, in ihrer lebhaften Färbung, tragen das Gepräge des Augenblicks, in dem sie entstanden sind; Gesichtspunkte der Partei oder der Einzelnen beherrschen sie großentheils" (SW 8, VII). Aber noch viel deutlicher tritt es zutage beim Versuch einer Selbstdistanzierung des Geschichtsschreibers von der eigenen Gegenwart: "die laufende Strömung sucht doch die Vergangenheit zu beherrschen und legt sie eben nur in ihrem Sinne aus" (ed. Fuchs, 518). So gelangt Ranke zu einem Verständnis von Geschichtswissenschaft, das auch für die Frage der Auswahl der von ihr zu behandelnden Themen von unmittelbarer Relevanz ist. Ranke ist der Uberzeugung, daß "die archivalische Forschung der in einige Ferne gerückten Zeiten vor der Auffassung des gegenwärtig Vorliegenden ... einen Vortheil hat. Sie läßt die wahren Verhältnisse umfassender und deutlicher erkennen, als es da möglich ist, wo diese mit den momentanen Leidenschaften und Interessen in die nächste Beziehung geräth" (SW 21, 113f). Nur wenn die Geschichtsschreibung sich hinreichend entfernten Ereignissen zuwendet, ist eine "allgemeine Geschichte von objectivem Werth" (a.a.O. 114) möglich. Unparteilichkeit ist also für Ranke durchaus möglich, wenn auch nicht in dem starken Sinn, wonach das epistemische Subjekt der Geschichtsschreibung sich und seine Vormeinungen gleichsam vollständig einzuklammern hätte. Wie vielmehr die Philosophie nach Hegel die Wahrheit nur findet, sofern sie - darin dem späten Ausflug der Eule der Minerva gleich ihr Grau in Grau erst malt, wenn ein Leben alt geworden ist, so erzielt auch

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die Geschichtsschreibung im Sinne Rankes nur dann Objektivität, wenn sie sich solcher Ereigniszusammenhänge annimmt, die ihrem geschichtsdynamischen Gehalt nach abgeschlossen sind und die Gegenwart des Geschichtsschreibers nicht mehr unmittelbar tangieren. Nur von einem so verstandenen Unparteilichkeitsbegriff her ist letztlich Rankes großes Zutrauen in die Wahrheitsfähigkeit des historischen Bewußtseins zu begreifen. "Die Muse der Geschichte hat den weitesten geistigen Horizont und den vollen M u t h ihrer Meinung; aber sie ist in der Bildung derselben durch und durch gewissenhaft, und m a n möchte sagen, eifersüchtig auf ihren Dienst. Interessen der Gegenwart in die historische Arbeit hineintragen, hat gewöhnlich die Folge, deren freie Vollziehung zu beeinträchtigen" (SW 14, X). In der bereits mehrfach zitierten Vorrede seiner ersten publizierten Geschichtsdarstellung hat Ranke bemerkt, das vorliegende Werk böte "nur Geschichten, nicht die Geschichte" (SW 33/34, VI). Hinsichtlich der von ihm befolgten Darstellungsprinzipien nennt er neben der Tatsachentreue als zweites die "Entwickelung der Einheit und des Fortgangs der Begebenheiten" (a.a.O. VII). Damit ist eines der wichtigsten Momente der Historie angesprochen: Geschichtsschreibung stellt den Zusammenhang von Ereignissen immer so dar, daß sie diese in Verlaufsformen erfaßt; sie ist immer die Darstellung einer Genesis bzw. des Nacheinanders der Stufen eines Entwicklungszusammenhangs. Das gilt für die einzelnen Staaten ebenso, wie für ihr WechselwirkungsVerhältnis. Alle durch Staatlichkeit konstituierten Völkergemeinschaften sind "in unaufhaltsamer Entwickelung begriffen, mitten in den Verwirrungen der Welt durch innern Trieb nach dem Ideal fortschreitend, eine jede auf ihre Weise" (SW 49/50, 339). Jeder einzelne Staat ist "ein lebendiges Dasein, das seiner Natur nach in unaufhörlicher Entwickelung, unaufhaltsamem Fortschritt begriffen ist" (a.a.O. 337). Ebenso handelt es sich in der weltgeschichtlichen Betrachtung der Verhältnisse der großen Mächte untereinander u m "moralische Energien, die wir" - in erster Linie - "in ihrer Entwickelung erblicken" (SW 24, 39). Im gemeinsamen Leben der Staaten und Völker realisiert sich die "freie, dem Ideal zugewandte Entwicklung aller Kräfte" (Weltgesch. VIII, 4), wenn auch - aufgrund des Wechselwirkungsverhältnisses - "keineswegs in friedlicher und ungestörter Entwicklung, sondern in steten Conflicten und Kämpfen" (ebd.). Aufgrund der fundamentalen Bedeutung des Entwicklungsbegriffs für das Verstehen von Geschichte kann Ranke die Aufgabe der Geschichtsschreibung darin erblicken, "die Regel des Werdens zu finden" (SW 49/50, 327). Zugleich verweist das genetische Wirklichkeitsverständnis des Historikers letztlich wieder auf das religiös-metaphysische Geschichtsverständ-

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nis, da "die göttliche Ordnung der Dinge ... identisch ist mit der Aufeinanderfolge der Zeiten" (ed. Fuchs, 518f). Aus der Bestimmung des Entwicklungsganges der Staaten und Völker als des eigentlichen Gegenstandes der Geschichtsschreibung ergibt sich für Ranke ganz von selbst der Ausschluß der Frühgeschichte der Menschheit aus der welthistorischen Geschichtsbetrachtung. "In die Zeiten der Urwelt können wir nicht hinabsteigen.... Was wollte es uns auch helfen, zu Epochen zurückzukehren, wo andere Vorstellungen von Erde und Himmel, andere Religionen die Welt beherrschten, wo dann andere Bedürfnisse, Fehler und Tugenden auf Einrichtungen führten, welche ihnen entsprachen. Wir finden die Welt von bürgerlichen Verfassungen eingenommen" (SW 49/50, 326f). Jene Zeit, die der historischen Erinnerung keine Anhaltspunkte für die Existenz staatlicher Verhältnisse überliefert hat, braucht den Historiker deshalb nur am Rande zu interessieren. "Nicht die entfernten Ursprünge so sehr, als das Gewordene, was wir vor Augen haben, fesselt unsere Aufmerksamkeit" (a.a.O. 328). Rankes religiös-metaphysisches Geschichtsverständnis, das die herbe Welt der Tatsachen auf den ersten Blick mit einer kaum nachvollziehbaren Sinnhaftigkeit zu verklären scheint, führt infolge dieser Eingrenzung zu der nachgerade nüchternen Einsicht in die Endlichkeit und Begrenztheit dessen, was wir sensu strictiori Geschichte nennen: "Unsere Geschichte umfaßt eine kurze Spanne Zeit, und auch diese wie unvollständig und zweifelhaft" (a.a.O. 326). Wenn wir den Entwicklungscharakter der Geschichte hervorgehoben haben, wie er insbesondere im Wechselspiel der Staaten vorliegt, dann muß vor einem möglichen Mißverständnis gewarnt werden: Obwohl Ranke häufiger von einem sich darin vollziehenden Fortschritt sprechen kann, will er nicht einer Fortschrittsgläubigkeit das Wort reden. Bereits im Politischen Gespräch von 1836 gilt als Thema der Geschichte die Betrachtung der Staaten, wie "sie hervortauchen, immer stärker werden, zur Herrschaft gelangen, wieder verschwinden" (a.a.O. 315). Und Ranke merkt ausdrücklich an, daß jeder Staat "seine Stadien hat und zugrunde gehen kann, wie alles was lebt" (a.a.O. 329). Der Fortschritt in der Geschichte schließt durchaus die Endlichkeit von Entwicklungsvorgängen ein. 23 Die Kritik des uneingeschränkten Fortschrittsgedankens wird dann im ersten der 1854 gehaltenen Berchtesgadener Vorträge eigens zum Thema erhoben, und zwar in Abgrenzung gegen die - untereinander noch ein23

Auch solche Überzeugungen Rankes, wie die von der Kürze der Universalgeschichte vor dem Hintergrund der Weltzeit oder die von der Endlichkeit einer jeden Staatenentwicklung, muß man vor Augen haben, bevor man ihm vorschnell "an extreme optimism" bzw. "radical optimism" (G.G. IGGERS: The German Conception of History, 72.80) bescheinigt.

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mal ganz verschiedenen - Entwicklungsbegriffe der Aufklärung einerseits und Hegels andererseits. Grundlage der Kritik ist für Ranke seine bereits oben zur Sprache gekommene religiös-metaphysische Uberzeugung von der Gottunmittelbarkeit einer jeden Epoche: "ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem Eigenen selbst" (WN II, 60). Und aus der Eigenwertigkeit jeder Epoche an und für sich folgt dann zweitens die prinzipielle Gleichwertigkeit der Epochen im Verhältnis untereinander: "vor Gott erscheinen alle Generationen der Menschheit als gleich berechtigt, und so muß auch der Historiker die Sache ansehen" (a.a.O. 63). Dieser doppelte Sachverhalt schließt es für Ranke aus, die Funktion einer Epoche darauf zu reduzieren, bloßes Durchgangsstadium einer Entwicklung höherer Ordnung zu sein. "Eine solche gleichsam mediatisierte Generation würde an und für sich eine Bedeutung nicht haben" (a.a.O. 59). Von hier aus m u ß sich Ranke zwangsläufig gegen solche Fortschrittskonzeptionen wenden, die meinen, "Fortschritt bestehe darin, daß in jeder Epoche das Leben der Menschheit sich höher potenziert, daß also jede Generation die vorhergehende vollkommen übertreffe, mithin die letzte die bevorzugte, die vorhergehenden aber nur die Träger der nachfolgenden wären" (ebd.). Und Ranke muß sich zugleich dagegen verwahren, den Gesichtspunkt der Vervollkommnung der Völker zur universalen Menschheit zum Darstellungsprinzip der Geschichtsschreibung zu erheben. Rankes Urteil ist an diesem P u n k t von besonderer Behutsamkeit. Er r ä u m t durchaus ein: "Vom Standpunkt der göttlichen Idee kann ich mir die Sache nicht anders denken, als daß die Menschheit eine unendliche Mannigfaltigkeit von Entwickelungen in sich birgt, welche nach und nach z u m Vorschein kommen, und zwar nach Gesetzen, die uns unbekannt sind, geheimnisvoller und größer, als m a n denkt" (a.a.O. 67). Aber dieser Perspektive steht eine andere, in sich selbst noch einmal differenzierte gegenüber: "Als Mensch scheint es mir wahrscheinlich, daß die Idee der Menschheit, die nur historisch in den großen Nationen repräsentiert ist, allmählich die ganze Menschheit umfassen sollte, und dies wäre dann der innere moralische Fortschritt. Die Historie opponiert sich dieser Anschauung nicht, weist sie aber nicht nach. Insbesondere müssen wir uns hüten, diese Anschauungen zum Prinzip der Geschichte zu machen" (a.a.O. 74f). Ihre letzte Begründung erfährt die Kritik des radikalen Fortschrittsgedankens nicht allein von der auf den Eigenwert von Epochen gemünzten Gottunmittelbarkeitsthese, sondern auch von gewissen anthropologischen G r u n d a n n a h m e n her. "Die Einsichtigen aller Zeiten wußten, was gut und groß, was erlaubt und Rechtens, was Fortschritt und Verfall ist. In großen Zügen ist es in die menschliche Brust geschrieben: ein einfaches Nachdenken genügt, u m es aufzufassen" (SW 49/50, 4). Wie sehr dieses Rech-

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nen mit bestimmten anthropologischen Konstanten in Rankes Frömmigkeit verwurzelt ist, wird insbesondere aus dem erst jetzt vollständig und verläßlich erschlossenen Nachlaßmaterial deutlich: "Von Christus können wir sagen, er ist die Identität unsrer Seele. ... er ist jenes Göttliche, in dem wir leben.... Er ist unsere göttliche Allgemeinheit" ( W N I, 119). "Das Gewissen ist das Einwohnen dieses Geistes in uns" (a.a.O. 118). "In dieser Theorie von dem Gewissen ist das Subjektivste zugleich das Allgemeinste" (a.a.O. 120). Wir können Rankes Überlegungen zur Fundamentierung der Anthropologie durch einen von Luther übernommenen Gewissensbegriff an dieser Stelle nicht näher verfolgen. Hier geht es nur d a r u m zu zeigen, daß es von der religiös begründeten Annahme anthropologischer Konstanten her für Ranke keinen Widerspruch bedeutet, wenn er einerseits hinsichtlich der Eigenwertigkeit und Gleichwertigkeit von Epochen dem Historiker die Aufgabe zumißt, "den Sinn jeder Epoche an und für sich selbst zu verstehen und verstehen zu lehren" (ed. Fuchs, 518), andererseits aber zugleich die Aufgabe, unabhängig von den Meinungen des Tages "die unwandelbaren, ewigen Principien ins Auge zu fassen" (SW 49/50, 4). Die religiöse Uberzeugung vom individuellen Wert einer jeden Epoche und die religiöse Überzeugung von der Konstanz des Humanen schließen sich nicht nur nicht aus, sondern fordern einander, weil einerseits die Kräfte, die in einer Epoche zum Austrag kommen, und damit auch die Epochen selber, nur verstehbar sind auf der Basis einer identischen conditio h u m a n a auf Seiten des Erkennenden und des Erkannten, und weil andererseits jene anthropologischen Konstanten niemals unmittelbar in der Geschichte auftreten, sondern immer nur in individuellen Brechungen, deren weitestreichende die Epoche ist. In einer u m 1840 entstandenen fragmentarischen Reflexion legt sich Ranke die Frage vor: "Ob eine völlig wahre Geschichte möglich ist?" (SW 53/54, 569). Als Voraussetzung dafür benennt er die wesentlichen Bestandteile der historischen Forschung: "1. Exakte Kenntniß der einzelnen Momente; 2. ihrer persönlichen Motive; 3. ihres Zusammenwirkens, des ganzen Getriebes der Persönlichkeiten und wechselseitigen Einwirkungen; 4. des universalen Zusammenhanges" (ebd.). Da das Besondere erst in dynamischen Wechselwirkungsverhältnissen mit anderem Besonderen seine spezifische Bestimmtheit entfaltet und da dieser durch Wechselwirkungsverhältnisse gekennzeichnete Verweisungszusammenhang des Besonderen prinzipiell unendlich ist, kann das Einzelne, und zwar gerade als solches, nur im Hinblick auf seinen universalen Kontext verstanden werden. Deshalb kann Ranke von der historischen Forschung sagen: "Das letzte Resultat ist Mitgefühl, Mit Wissenschaft des Alls" (ebd.). W a r u m nun aber Gefühl bzw. Mitgefühl? Wir h a t t e n oben gesehen, daß das Substantielle der Geschichte, worauf also der Historiker in letz-

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ter Instanz sein Augenmerk richtet, die schöpferischen Produktionen des Menschengeistes sind. Sie werden von Ranke auch als das Real-Geistige bezeichnet. Weil dieses Real-Geistige Resultat eines schöpferischen Produktionsvorganges ist, der sich "ewig neu und unerschöpflich" (SW 49/50, 244) vollzieht, kann sein geschichtliches Auftreten nicht genetisch verrechnet werden. "Das Real-Geistige, welches in ungeahnter Originalität dir plötzlich vor den Augen steht, läßt sich von keinem höheren Princip ableiten" (a.a.O. 325). Daraus ergeben sich für Ranke vier Fundamentalbestimmungen. Die erste ist kategorialer Art: "Das Formelle ist das Allgemeine, das Reale ist das Besondere, Lebendige" (a.a.O. 323). Aus dieser Zuordnung von Allgemeinheit und Form, Besonderheit und Realität wird eine grundsätzliche Begrenztheit der Erkenntniskraft des reinen Gedankens, des Begriffs, der Theorie gefolgert: "Ohne Sprung, ohne neuen Anfang kann man aus dem Allgemeinen gar nicht in das Besondere gelangen. ... aus der allgemeinen Theorie giebt es keinen Weg zur Anschauung des Besonderen" (a.a.O. 325). Darin ist wiederum ein Prinzip der wissenschaftstheoretischen Einteilung aller Wissensdisziplinen enthalten: "Menschliche Dinge kennen zu lernen, gibt es eben zwei Wege: den der Erkenntnis des Einzelnen und den der Abstraktion; der eine ist der Weg der Philosophie, der andere der der Geschichte. Einen anderen Weg gibt es nicht" (WN IV, 87). Aus den genannten drei Punkten zusammen resultiert schließlich die Definition der Geschichtsschreibung: Sie ist nicht abstrahierende Wissenschaft vom zeitlos, formal Identischen, sondern "Anschauung und Würdigung des Ursprünglichen und in dem Geiste Verschiedenen" (SW 49/50, 325). Weil Geschichtsschreibung die Anschauung und Würdigung des unableitbar Individuellen aber immer nur so zur Darstellung bringen kann, daß sie es in das Verhältnis der Wechselwirkung und Aufeinanderfolge hineinstellt, darum vermag sie sich nur als Rekonstruktion von Werdezusammenhängen zu realisieren, und nicht etwa als rein gedankliche Näherbestimmung des Individuellen: "die Regel des Werdens zu finden," betont Ranke, "halte ich für wichtiger und ist mir wenigstens interessanter als alle von ihrem Gegenstande getrennte Reflexion" (a.a.O. 327). Es muß dem Historiker neben dem unableitbar Individuellen immer auch um die "innere Notwendigkeit der Aufeinanderfolge" (WN II, 62) gehen. Hat sich Ranke damit aber nicht in einen Widerspruch verstrickt, wenn er die Historie einerseits der Erkenntnis des Allgemeinen entgegensetzt und sie andererseits zugleich auf das Finden einer Regel bzw. auf ein Wissen von Notwendigkeit verpflichtet?

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Meinecke hat mit Recht hervorgehoben, daß es bei Ranke "zwei ganz verschiedene Anwendungen" 24 des Begriffs "allgemein" gibt. Das Allgemeine ist einmal das "Formell-Allgemeine eines abstrahierenden Verfahrens" 2 5 und zum anderen das Konkret-Allgemeine, oder - wie sich Meinecke ausdrückt - "der Gang der Dinge im Großen" 26 bzw. "die höchste aller jeweils sichtbaren geschichtlichen Individualitäten, die alle übrigen umfassende" 27 . Wie gelangt aber der Historiker zur Erkenntnis dieser konkret-allgemeinen Zusammenhänge? "Zu definiren, unter Abstractionen zu bringen sind sie nicht; aber", so fährt Ranke fort, "anschauen, wahrnehmen kann man sie" (SW 24, 39). Und ähnlich lautet es an anderer Stelle: "Diese Tendenzen können ... nur beschrieben, nicht aber in letzter Instanz in einem Begriff summiert werden" (WN II, 66). Der Historiker findet das Allgemeine in der Geschichte nicht so, daß er zunächst Begriffsverhältnisse definiert und dann die der historischen Wahrnehmung gegebenen Erscheinungen darunter subsumiert, sondern indem er die Wechselwirkungsverhältnisse der Staaten und Völker nach ihren epochalen Gliederungen beschreibt, in welchen Beziehungen und Verdichtungen diese allererst zur vollständigen Ausbildung ihrer Individualität gelangen. Mit dem Individuellen wird also zugleich das Allgemeine, seine welthistorische Dimension, gefunden. Der Historiker "wird es sich nicht vorher ausdenken wie der Philosoph; sondern während der Betrachtung des Einzelnen wird sich ihm der Gang zeigen, den die Entwickelung der Welt im allgemeinen genommen" (WN IV, 88). Genau in diesem Sinne einer anschaulichen Verschränkung von Individuellem und Allgemeinem wird die Erkenntnis welthistorischer Tendenzen von Ranke als "Mitgefühl ihres Daseins" (SW 24, 39) bezeichnet. Dies ist auch der genuine Bedeutungshorizont der oben erwähnten Formel "Mitgefühl, Mitwissenschaft des Alls". Es würde den Rahmen der Untersuchung bei weitem übersteigen, das recht voraussetzungsreiche Verhältnis von Historie und Philosophie bei Ranke näher zu diskutieren. Seine Schwierigkeit besteht nicht zuletzt darin, daß Ranke neben der Entgegensetzung von philosophischer Abstraktion und historischer Anschauung auch einen Philosophiebegriff kennt, demzufolge das Wesen der Philosophie, nämlich als "echte[r] Theorie", selber in der "Anschauung" (SW 49/50, 246) besteht. In diesem Sinne, behauptet Ranke, "werden wahre Historie und wahre Philosophie mit einander nie in Widerstreit sein" (a.a.O. 245). 24 25 26 27

F. MEINECKE: Die Entstehung des Historismus, 622. Ebd. Ebd. A.a.O. 623

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Der Allgemeinheitscharakter der Gegenstände historischer Erkenntnis kann demnach folgendermaßen zusammengefaßt werden: Zu einer "allgemeinen Ansicht der Begebenheiten" (WN IV, 88) gelangt der Historiker nicht, indem er ihnen irgendein Begriffsnetz überstülpt, sondern allein durch die in und mit der narrativen Darstellung von Werdezusammenhängen sich ergebende Anschauung des Allgemeinen. Um Anschauung handelt es sich, weil das dargestellte Allgemeine ein Komplex individueller, zur Ganzheit verbundener Ereignisse ist; in und mit der Darstellung ergibt sie sich, weil das Konkret-Allgemeine nicht schon Resultat der Wahrnehmung ist, sondern darüber hinaus spezifisch historiographische Operationen voraussetzt: narrative Einzelsynthesen einschließlich deren wiederum narrativer Verknüpfung. Die anschauliche Darstellung des Allgemeinen vollzieht sich als eine Kette narrativer Synthesen, nicht ohne Begriffe, aber auch nicht rein aus Begriffen. Von hier aus wendet sich Ranke - worin ihm u.a. auch Ernst Troeltsch gefolgt ist - dezidiert gegen jede Form einer spekulativen Geschichtsphilosophie, sei es in der Fassung eines apriorischen Zeitalterschemas - wie es ihm in Fichtes "Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters" begegnete (vgl. WN IV, 87) sei es in der Gestalt einer dialektischen Rekonstruktion des Geschichtsverlaufs, wie es Hegels Philosophie der Geschichte bot (vgl. WN II, 63). Ranke benennt im wesentlichen vier Gründe gegen solche Typen des Geschichtsdenkens. Sie führen erstens zu einer aus programmatischen Gründen unvermeidlichen Selektion des Tatsachenmaterials, nach Maßgabe der Veranschaulichungs- und Bestätigungsleistung für die eigene Theorie (vgl. WN IV, 86f). Zweitens weichen die verschiedenen spekulativen Geschichtsdeutungen für sich genommen erheblich voneinander ab und erweisen sich somit selber wechselseitig als strittig (ebd.). Drittens verkennen sie allesamt den realgeistigen Charakter des geschichtlichen Lebens. Es "würde bloß die Idee ein selbständiges Leben haben. Alle Menschen aber wären bloß Schatten oder Schemen, welche sich mit der Idee erfüllten" (WN II, 64). Der vielleicht entscheidende Einwand besteht aber viertens darin, daß jene Gestalten spekulativen Geschichtsdenkens sich samt und sonders als Resultat eines methodischen Fehlers herausstellen: Epochen lassen sich für Ranke grundsätzlich nicht durch für sie vermeintlich signifikante Leitideen klassifizieren. "Nicht auf die Begriffe ..., welche einigen geherrscht zu haben scheinen, sondern auf die Völker selbst, welche in der Historie tätig hervorgetreten sind, ist unser Augenmerk zu richten" (WN IV, 89). Das dynamische Interaktionsverhältnis der Staaten ist der eigentliche Gegenstand der Geschichtsschreibung: "Das Geschäft der Historie ist die Wahrnehmung dieses Lebens, welches sich nicht durch Einen Gedanken, Ein Wort bezeichnen läßt; der in der Welt erscheinende Geist ist nicht so begriffsgemäßer Natur: alle Grenzen seines Daseins füllt er aus

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mit seiner Gegenwart" (ebd.). D.h. alle Versuche, Geschichte a priori zu rekonstruieren, erweisen sich als Verkennung der methodischen Grenzen historiographischer Abstraktion. Berücksichtigt m a n Rankes Option zugunsten des konkreten individuellen Allgemeinen gegen das Formell-Allgemeine, dann erweist sich seine Kritik an der geschichtsphilosophischen Abstraktion als das Programm, die Geschichtswissenschaft selber, "auf ihrem eigenen Wege" ( W N IV, 88), die Erhebung zum Allgemeinen vollziehen zu lassen, anstelle aller spekulativen Pseudokonstruktionen einer "unreifen Philosophie" (a.a.O. 86). Eine Besonderheit der Rankeschen Geschichtsauffassung ist noch zu erwähnen. Es handelt sich u m das vielleicht eigentümlichste Moment dieses ebenso facettenreichen wie fruchtbaren Theorieprogramms. In dem oben bereits zitierten Brief an seinen Bruder Heinrich von Ende März 1820 h a t t e der junge Ranke den religiösen Charakter der Geschichte mit einer "heiligen Hieroglyphe" verglichen. In demselben Brief fährt er aber nun fort: "Wohlan! Wie es auch gehe und gelinge, nur daran, daß wir an unserm Theil diese heil'ge Hieroglyphe enthüllen! Auch so dienen wir Gott, auch so sind wir Priester, auch so Lehrer" (SW 53/54, 90). Das bedeutet: Rankes religiös-metaphysisches Geschichtsverständnis besagt nicht nur, daß die Geschichte nach ihrem epochal gegliederten Staatengeflecht eine Erscheinung des göttlichen Lebens sei, sondern darüber hinaus will er zum Ausdruck bringen, daß der Beruf des Historikers selber ein frommes Tun darstelle, j a sogar, daß er einem priesterlichen Amt gleichkomme. Hier kulminieren gleichsam alle wesentlichen Momente der Rankeschen Auffassung von Geschichte und Geschichtswissenschaft. In einem Brief an seinen Bruder O t t o vom 25. Mai 1873 finden wir die Uberzeugung vom priesterlichen Dienst der Geschichtsschreibung in einer Reihe mit diesen Momenten aufgeführt und in Verbindung gebracht. Deshalb darf diese Briefstelle als eine klassische Zusammenfassung von Rankes Grundsätzen der Geschichtsschreibung gelten: "Die historische Wissenschaft und Darstellung ist ein A m t , das sich nur mit dem priesterlichen vergleichen läßt, so weltlich auch die Gegenstände sein mögen, mit denen sie sich eben beschäftigt. Denn die laufende Strömung sucht doch die Vergangenheit zu beherrschen, und legt sie eben nur in ihrem Sinne aus. Der Historiker ist dazu da, den Sinn jeder Epoche an und für sich selbst zu verstehen und verstehen zu lehren. Er muß nur eben den Gegenstand selbst und nichts weiter mit aller Unparteilichkeit im Auge haben. Über allem schwebt die göttliche Ordnung der Dinge, welche zwar nicht geradezu nachzuweisen, aber doch zu ahnen ist. In dieser göttlichen Ordnung, welche identisch ist mit der Aufeinanderfolge der Zeiten, haben die bedeutenden Individuen ihre Stelle: so muß sie der Historiker auffassen. Die historische Methode,

Historisches Wahrheitsbewußtsein: Ranke

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die nur das Echte und Wahre sucht, tritt dadurch in unmittelbaren Bezug zu den höchsten Fragen des menschlichen Geschlechts" (ed. Fuchs, 518f). Halten wir als Ergebnis sonach fest: 1. Die religiös wie philosophisch begründete Überzeugung von einem metaphysischen Kern der Geschichte findet ihren Ausdruck ebenso in der Bestimmung des eigentlichen Trägers der Geschichte wie in der Art der Darstellung ihrer einzelnen Entwicklungszusammenhänge. 2. Die metaphysische Verschränkung des Individualitäts- und Universalitätsaspektes der Geschichte impliziert in inhaltlicher Hinsicht den grundsätzlichen Eigenwert aller Geschichtsepochen, welcher ihre Herabnivellierung zu bloßen Durchgangsstadien der Weltgeschichte im Sinn eines naiven oder philosophischen Fortschrittsglaubens strikt ausschließt. 3. Die metaphysische Verschränkung des Individualitäts- und Universalitätsaspektes der Geschichte bedeutet methodisch die Voraussetzung geschichtlicher Ganzheiten, welch letztere aber nicht durch abstrakte Allgemeinbegriffe, sondern allein durch die Geschlossenheit in sich stimmig erzählter Geschichte zur Darstellung gebracht werden können. 4. Der priesterliche Charakter des Amtes des Geschichtsschreibers wurzelt in der Verpflichtung aller Geschichtsdarstellung auf historische Wahrheit und damit auf Wahrheit überhaupt oder unbedingte Wahrheit, wodurch jedwede Form programmatischer Parteilichkeit - sei sie politisch zweckhafter oder moralisch erbaulicher Art - vom Ansatz her verneint. 5. Die wissenschaftliche Quellenkritik, welche der geschichtlichen Autopsie bezüglich des tatsächlichen Hergangs vergangener Ereignisse dient, ist keineswegs ein der Historie äußerliches Geschäft, sondern die Grundvoraussetzung der methodischen Einlösung des Objektivitätsanspruchs von Geschichtswissenschaft. Im Sinne dieser fünf Grundsätze stellt Rankes Geschichtsdenken die wohl entscheidende Station der Entstehung eines spezifisch historischen Wahrheitsbewußtseins dar. 2 8 In ihrer originalen und konsistenten Verbindung, die Ranke selbst zu einem immensen historiographischen Oeuvre gleichsam deren Anwendung und Bewährung - befähigt hat, dürfte denn auch das für Generationen Musterhafte seiner Auffassung von Geschichte und Geschichtsschreibung gelegen haben.

28

Gadamers Ranke-Darstellung handelt mehr über andere Autoren - Herder, Hegel, Piaton, Aristoteles, Droysen, Dilthey und Burckhardt - a b über Ranke selbst. Dessen Verstehensbegriff das Wesensmerkmal der "Unbestimmtheit ästhetischpantheistischer Kommunion" (a.a.O. 199) anzuhaften, bedeutet eine plakative Verkürzung. Von Rankes Entdeckung eines spezifisch historischen Wahrheitsbewußtseins erfahrt man in "Wahrheit und Methode" nichts.

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2. Die hermeneutische Vertiefung des historischen Bewußtseins bei Johann Gustav Droysen

Neben Ranke war es insbesondere Johann Gustav Droysen, der das methodische Selbstbewußtsein der Historiographie des 19. Jahrhunderts maßgeblich geprägt hat. Während uns Rankes Ansichten allerdings nur verstreut zugänglich sind, liegt Droysens Geschichtsdenken in komprimierter, geschlossener Form vor. Seine "Historik", zwischen 1857 und 1883 insgesamt 17 mal im Kolleg vorgetragen, zu Lebzeiten und posthum in mehreren Fassungen veröffentlicht, zählt nach wie vor zu den klassischen Dokumenten geschichtswissenschaftlicher Grundlagenreflexion. Droysen hatte sich in seiner "Historik" die Aufgabe gestellt, "die Methodik des historischen Forschens und die Systematik des Erforschbaren" 29 in prinzipieller Hinsicht zu traktieren. Sie wollte nicht Geschichtsphilosophie sein, sondern Organon der Geschichtswissenschaft, "gleichsam die Wissenschaftslehre der Geschichte nach dem Fichteschen Ausdruck" (44). Es kann im vorliegenden Zusammenhang nicht darum gehen, die gedankliche Leistung Droysens und ihre richtungsweisende Kraft bis hinein in die Debatten der Gegenwart auch nur im entferntesten adäquat zu würdigen. 30 Es dürfte indes sinnvoll sein, zumindest die wichtigsten Korrekturen zu notieren, die Droysen im Hinblick auf Rankes Verständnis der Geschichtsschreibung vorgenommen hat. Ranke war für Droysen "der größte Historiker unseres Jahrhunderts" (247). Dieses Urteil bezieht sich auf die Genauigkeit des Forschens, auf die hohe Kunst des Erzählens und auf das immense Maß seines breit ausgefächerten historischen Wissens. In methodischer Hinsicht ist insbesondere dreierlei noch hervorzuheben: Eine für Droysen unumstrittene Leistung Rankes ist dessen Beitrag zur Vervollkommnung der Geschichtsschreibung als wissenschaftlicher Disziplin, die durch die sogenannte Kritische Schule gleichsam zur Selbstverständlichkeit geworden ist (vgl. 51). 29

30

J. G. DROYSEN: Historik, 399. Die folgenden in den Text gesetzten Zitatnachweise beziehen sich in diesem Abschnitt immer auf die von Peter Leyh veranstaltete Textausgabe von 1977. Besonders nachhaltig hat J. RÜSEN Droysens Geschichtsmethodologie zur Geltung gebracht, so vor allem in: Begriffene Geschichte; ders.: Johann Gustav Droysen; ders.: Bemerkungen zu Droysens Typologie der Geschichtsschreibung. Außerdem: K.-H. SPIELER: Untersuchungen zu J. G. Droysens "Historik"; I. KOHLSTRUNK: Logik und Historie in Droysens Geschichtstheorie; J. STREISAND: Gibt es in der Geschichte "reine Tatsachen" (Droysen)?; Th. BURGER: Droysen's Defence of Historiography; R. ÜBELHACK: Das Problem der Objektivität in der Geschichtswissenschaft, 44-53; M.J. MACLEAN: Johann Gustav Droysen and the Development of Historical Hermeneutics.

Hermeneutische Vertiefung: Droysen

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Mustergültig ist für ihn ferner der in Rankes Geschichtsdarstellungen erzielte Ausgleich zwischen der Objektivität der Tatsachenbeschreibung und der Subjektivität der Darlegungsperspektive (vgl. 237 ). Und schließlich r ü h m t Droysen an Rankes Werk, daß es aufgrund der umfassenden kritischen Quellenverarbeitung teilweise selber den Rang einer Quelle für sich in Anspruch nehmen darf (vgl. 154 ). Die beiden zuletzt genannten P u n k t e sah Droysen exemplarisch in Rankes "Deutscher Geschichte im Zeitalter der Reformation" verwirklicht. Neben dieser positiven Würdigung finden sich bei Droysen nun aber auch gravierende Einwände gegen Ranke, die wegen ihres hohen Stellenwertes in hermeneutischer Hinsicht ausführlich dargestellt werden sollen. Der wichtigste Einwand betrifft Funktion und Voraussetzungen der methodischen Quellenkritik. Droysen stimmt Ranke durchaus darin zu, "das Wesen der Geschichte in der Methode" (417) zu erblicken, hält es aber für unzureichend, diese Methode im wesentlichen auf die Quellenkritik zu begrenzen. "Es ist in unserer wie in jeder Wissenschaft, daß von der richtigen Würdigung der Erkenntnisquelle alles abhängt; ... Es ist das große Verdienst der deutschen Wissenschaft des letzten Jahrhunderts, diesen Gesichtspunkt erfaßt zu haben .... Aber die Kritische Schule faßte... den Begriff der Erkenntnisquelle außerordentlich eng; sie war unermüdlich in der sog. Quellenkritik, d.h. in der Nachforschung, welche Nachrichten in dem einen Autor aus einem anderen stammen, welche original auf Autopsie gegründet seien; sie glaubte auf diesem Wege bis zu den reinen Tatsachen gelangen zu k ö n n e n . . . . Man wird leicht einsehen, daß das noch weit entfernt ist, Geschichte zu sein" (11). Die Beschränkung der historischen Methode auf Quellenkritik zum Zwecke der "Herstellung der 'reinen Tatsache' " (417) hält Droysen für eine "Einseitigkeit", weil sie "den anderen großen Faktor ... gänzlich aus den Augen läßt" (11). Dieses zweite Grundmoment der Geschichtserkenntnis ist für Droysen "die Interpretation" (ebd.). Historiographie, auch und gerade die quellenkritisch verbürgte, ist immer ein Deuten von Geschichte. Dieser Deutungscharakter ist ihr deshalb eigentümlich, weil er bereits ihrer Grundoperation, dem Verstehen - im Unterschied zum Erklären (vgl. 431) - , zukommt. Daher kann Droysen für seine "Historik" folgenden obersten Grundsatz aufstellen: "das Wesen der geschichtlichen Methode ist forschend zu verstehen, ist die Interpretation" (22). F ü r Droysen ist das methodische Ideal einer quellenkritischen Herstellung von auf Autopsie gegründeten reinen Tatsachen so gesehen Ausdruck einer hermeneutischen Naivität, weil es den Faktor der Interpretation einschließt, ohne ihn methodisch in Rechnung zu stellen. Was sind nun die Gründe dafür, daß die Kritische Schule bei aller Virtuosität in der Quellenkritik im Grunde hermeneutisch unreflektiert

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geblieben ist? Sie betreffen nach Droysen sowohl die subjektive als auch die objektive Seite des Verstehens, d.h. ebensosehr die Frage, was das Verstehen als Akt des Verstehenden bedeutet, wie die Frage, was es eigentlich zu verstehen gilt. Zunächst zum subjektiven Aspekt des Verstehens. Droysens Einwand gegen die Kritische Schule bezieht sich auf das Zeitverhältnis des historischen Bewußtseins zu seinem Gegenstand. Letzteres ist seiner erkenntnistheoretischen Struktur nach Resultat empirischer Forschung (vgl. 421f). Empirie besagt, daß die Materialien in sinnlicher Wahrnehmung gegenwärtig sind. Daß Geschichtswissenschaft auf sinnlicher Wahrnehm u n g aufruht, scheidet sie von der Spekulation. Daß die Materialien in Gegenwärtigkeit gegeben sind, impliziert, daß sich Geschichtswissenschaft strenggenommen niemals unmittelbar auf die Vergangenheit bezieht. Diese wird ihr vielmehr nur über die Vermittlung des an ihr noch Unvergangenen greifbar. Daraus folgt, daß das Bild der Vergangenheit immer das Resultat eines Forschens ist, welches die Gegenwart auf ihr Gewordensein hin befragt und daraus ein Bild des Gewesenen erstellt. Der empirische und der forschende Charakter der Geschichtswissenschaft hängen also auf Engste miteinander zusammen. Durch die Überlieferung überkommene, in Gegenwärtigkeit gegebene Zeugnisse und Denkmäler werden als Quellen der Vergangenheit gedeutet. Die Vergangenheit wird aus gegenwärtig Gegebenem rekonstruiert. "Das Gegebene für die historische Erfahrung und Forschung ist nicht die Vergangenheit - sie ist eben vergangen sondern das von den Vergangenheiten in dem Jetzt und Hier noch Unvergangene" (397). Demnach impliziert das historische Erkennen ein ganz bestimmtes Verhältnis zur je eigenen Gegenwart, aus dem heraus sich allererst durch den Verstehensakt ein Verhältnis zur Vergangenheit als solcher aufbaut. Wie muß das Verhältnis zur Gegenwart beschaffen sein, damit aus ihm ein Verstehen der Vergangenheit hervorgeht? Was heißt es, die Gegenwart auf ihr Gewordensein hin zu befragen? Droysen beantwortet diese Frage mit Hilfe eines selbstbewußtseinstheoretisch konzipierten Begriffs der Erinnerung. Historisches Bewußtsein entspringt derjenigen Lebenssituation des Menschen, in der er als ein der Erinnerung fähiges Wesen erinnernd tätig wird. "Er umleuchtet seine Gegenwart mit einer Welt von Erinnerungen, nicht beliebigen, willkürlichen, sondern solchen, die die Entfaltung, die Ausdeutung dessen sind, was er u m sich her und in sich als Ergebnis der Vergangenheit h a t " (10). Entscheidend an diesem leb ens weit liehen Phänomen des Sich-Erinnerns ist der strukturelle Sachverhalt, daß das Bewußtsein in dieser Situation seine Inhalte nicht absolut neu erzeugt, sondern auf sie als gehabte zurückkommt. Es m u ß sich allerdings in einem besonderen Akt eigens auf sie zurückbezie-

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hen, weil ihm diese Inhalte, obzwar gegeben, keineswegs in ausdrücklicher Bewußtheit vor Augen stehen. Im Vorgang der Erinnerung vollzieht der Sich-Erinnernde somit den Uberschritt vom bloßen Haben der Bewußtseinsinhalte zu einem Wissen von diesem Haben und damit zum Wissen von den Inhalten selber. Er "hat diese Momente zunächst unmittelbar, ohne Reflexion, ohne Bewußtsein, er hat sie, als habe er sie nicht, erst indem er sie betrachtet und zum Bewußtsein bringt, erkennt er, was er an ihnen hat, nämlich das Verständnis seiner selbst und seiner zunächst unmittelbaren Bedingtheit und Bestimmtheit" (10). Der Vorgang des SichErinnerns ist für Droysen demnach wesentlich gekennzeichnet durch den Ubergang des Bewußtseins aus einem Zustand der Unmittelbarkeit in den Vollzug der Reflexion. Damit erweist sich der für das historische Verstehen konstitutive Akt der Erinnerung lediglich als von derjenigen Verfaßtheit, die für das Ich ü b e r h a u p t signifikant ist, nämlich von der Struktur des Ubergehens von Unmittelbarkeit in Reflexion. "Unser Wissen, richtiger, der Inhalt unseres Ich ist zunächst Empfangenes, Überkommenes, unser, als wäre es nicht unser. Wir sind damit noch unfrei in diesem unserem Wissen; es hat uns mehr, als daß wir es h ä t t e n . Erst mit der Reflexion, in der wir es als vermitteltes erkennen, trennen wir es von uns selbst" (106f). Im Übergang von Unmittelbarkeit in Reflexion geschieht also zweierlei. Zum einen vollzieht sich darin die Entgegensetzung von subjektiver und objektiver Seite des Bewußtseins. Die Bewußtseinsinhalte erscheinen dem Bewußtsein selber als das Objektive bzw. als das Andere seiner eigenen freien subjektiven Bewußtseinstätigkeit. Dies gilt auch vom Akt der Erinnerung, genauer gesagt: vom Bewußtseinsinhalt des Sich-Erinnerns: "diese Erinnerung trennen wir von uns selbst, geben ihr in unserem geistigen Sein die Stellung, objektiv dem subjektiven Sein gegenüber zu sein. Erst damit beginnen wir, frei in uns selbst zu sein und mit dem, was unmittelbar unser Inhalt war, schalten zu können" (107). Zum anderen bedeutet das für Ichheit konstitutive Übergehen von Unmittelbarkeit in Reflexion - sofern sich allererst darin das Wissen u m den Unterschied einer subjektiven Seite des Bewußtseins gegenüber einer objektiven aufbaut - , daß jeder als objektiv gewußte Inhalt des Bewußtseins durch die Tätigkeit des Bewußtseins vermittelt ist. Auch dieses Merkmal trifft auf den Akt des Sich-Erinnerns zu. Droysen kann deshalb den Begriff der Erinnerung geradezu definieren als "die erkannte Tatsache der Vermittlung" (ebd.). Das Ich in seiner Unmittelbarkeit ist eine Unendlichkeit von Bezügen, die es selbst nicht hervorgebracht hat, aber gleichwohl in sich trägt. Das bedeutet: Das Ich enthält in sich faktisch das Ergebnis einer Mannigfaltigkeit von Werdeprozessen, begreift sich aber nicht als ein solches. Immerhin

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bietet die faktische Aufbewahrung der Anfänge im Resultat die Möglichkeit, sich selbst nach seiner eigenen Genese zu erhellen. Wird nun das Verinnerlichte ins Bewußtsein gehoben, dann erkennt das Ich seine eigene Bedingtheit, und darin hegt zugleich das Bewußtsein des Gewordenseins seiner Inhalte. Das Ich begreift sich als Resultat eines Vermittlungsvorgangs. Es unterscheidet sich als fertiges Resultat vom Prozeß seiner Entstehung. Diese Vergegenständlichung der eigenen Entstehungsgeschichte ist Vergangenheitsbewußtsein oder Erinnerung. Historisches Bewußtsein und historische Forschung weisen notwendig ein Reflexionsverhältnis auf, u n d zwar deshalb, weil der für beide konstitutive Akt der Erinnerung ein Selbst-Reflexionsverhältnis impliziert. Es ist offenkundig, daß Droysen mit dieser bewußtseinstheoretischen Erhellung der Struktur der Erinnerung auf diejenige Bestimmung des Verhältnisses von Unmittelbarkeit und Reflexion zurückgreift, wie sie in der Subjektivitätstheorie Fichtes erstmalig entfaltet worden ist, als deren Kenner sich Droysen im übrigen auch an anderer Stelle zeigt. Ebenso liegt es auf der Hand, daß auch Motive der Philosophie Hegels, insbesondere dessen Begriff der Vermittlung, in Droysens Problembeschreibung Eingang gefunden haben. Wir brauchen diese ideengeschichtlichen Bezüge hier nicht weiter zu verfolgen. Wichtiger in unserem Zusammenhang ist vielmehr, was sich aus dem Gesagten für Droysens Verständnis von Geschichtswissenschaft ergibt. Als Rekonstruktion von Vergangenem aus gegenwärtig Gegebenem hat Geschichtserkennen grundsätzlich den Charakter des historischen Forschens. "Der Ausgangspunkt des Forschens ist die historische Frage" (426). Indem die historische Frage ihrerseits dem Akt der Erinnerung entspringt, hat sie teil an deren Struktur. Dem Unabhängigkeits-, Entgegensetzungs- und Vermittlungscharakter des Reflexionsmomentes der Erinnerung zufolge ist das historische Fragen "nicht das naive Aufnehmen und Hinnehmen von Eindrücken, ... nicht die Neugier des ohne Grund u n d Zweck sich Umtreibenden". Es hebt vielmehr bereits an "mit einer gewissen Reife der inneren Entwicklung, mit dem Gefühl des Freiwerdens und Bewußtwerdens" (107). Insofern die Reflexion der Erinnerung darin gründet, daß das Bewußtsein sich auf immer schon gegebene, wenn auch nicht verobjektivierte Bewußtseinsinhalte bezieht, erwächst sowohl die allgemeine Richtung als auch die bestimmte Intention des historischen Fragens "nicht durch Grübeln und Nachdenken" (ebd.), denn der Gegenstand einer historischen Frage ist ja, obzwar durch Reflexion ins Bewußtsein gehoben, kein im absoluten Sinne Erzeugtes. Nach dieser Seite ist die historische Frage somit "ein Ergebnis des ganzen geistigen Inhalts, den wir unbewußt in uns gesammelt und zu unserer geistigen Welt subjektiv geformt haben" (ebd.).

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Nimmt m a n beide Momente der Erinnerung zusammen, wie sie im Ubergehen des Bewußtseins von Unmittelbarkeit in Reflexion miteinander vereinigt sind, so bedeutet dies, daß das historische Fragen "aus der Totalität unseres Ich hervorspringt, scheinbar unvermittelt, plötzlich, wie von selbst, in der Tat aber aus der ganzen auf diesen P u n k t hin gereiften Fülle unseres geistigen Daseins" (107f). Wegen des prinzipiellen Subjektivitätscharakters sowohl des unmittelbaren Habens aller vorreflexiv gegebenen Bewußtseinsinhalte als auch des Erzeugens ihrer durch Reflexion vermittelten Gegenständlichkeit trägt das aus der Erinnerung hervorgehende historische Fragen notwendigerweise ein subjektives Gepräge: "wir empfinden es sofort als unser Eigenstes. Es ist unsere Auffassung von dieser Gestaltung, unser Bild von diesen Personen, unser Verständnis dieser Tatsachen" (108; Hhg.i.O.). Geschichtserkennen ist das subjektive Entdecken der eigenen Geschichtlichkeit. Von hier aus sah sich Droysen genötigt, bei grundsätzlicher Wahrung des Objektivitätsideals für die Geschichtsschreibung, dessen allzu naivem Verständnis entgegenzutreten. "Die rechte Objektivität, die sie haben kann und muß, ist die, daß die Darlegung der Tatsächlichkeiten, und nur sie, den Gang der Dinge und des Gedankens ergibt;... Diese Objektivität, richtiger: diese Sachlichkeit, ist nicht etwa darin begründet, daß sich der Erzähler gleichgültig gegen die Sache verhält, noch weniger darin, daß er das, was die Sachen objektiv enthalten, sich von selbst aussprechen läßt: im Gegenteil, die Sachen selbst sprechen nicht, sondern wir lassen sie sprechen, und in der objektivsten, d.h. sachlichsten Weise der Darstellung kann sich die stärkste subjektive Färbung nur u m so sicherer darstellen .... Und eben d a r u m ist es gerade in der erzählenden Darstellung, die unter dem objektiven Schein immer subjektiv ist, so wichtig, daß der Darstellende klar und bestimmt seinen Standpunkt, seinen Gedanken bekennt" (236f). Die in der Historiographie allein mögliche Objektivität besteht demnach in der Wahrung strenger Sachlichkeit bei gleichzeitiger Verdeutlichung des subjektiv Perspektivischen. Diese Pflicht zur Artikulation der individuellen Komponenten einer historischen Darstellung erwächst aus der Unhintergehbarkeit der Subjektivität alles historischen Fragens und Forschens, die sich als in sich zwiefach gezeigt hatte, nämlich als Subjektivität der inhaltsgesättigten Erinnerungsbasis und als Subjektivität der durch Reflexion vermittelten Erinnerungsobjektivation. Von hier aus wird auch die Schärfe von Droysens Kritik an der einseitigen Favorisierung der Quellenkritik in der Kritischen Schule verständlich. Allem aus Erinnerung und historischem Fragen hervorgehenden methodischen Geschichtserkennen Hegt ein durch Reflexion vermitteltes Verhältnis zur Vergangenheit zugrunde. Historisches Forschen ist nur eine Gestalt der Selbstexplikation des Geistes unter anderen: "Das historische Forschen

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setzt die Reflexion voraus, daß auch der Inhalt unseres Ich ein vielfach vermittelter, ein geschichtliches Resultat ist" (106). Die Kritische Schule dagegen hat verkannt, daß der Bezug auf vergangene Tatsachen kein unmittelbares Verhältnis darstellt, sondern ein Reflexionsverhältnis zur Vergangenheit einschließt, und daß nicht das Herstellen vermeintlich reiner Tatsachen durch selbstvergessene Autopsie, sondern das seiner Subjektivität und Vermittlungsleistung bewußte Verstehen als das grundlegende Merkmal der historischen Methode zu gelten hat. Stellt man in Rechnung, daß die allem historischen Forschen zugrunde Hegende Strukturbestimmtheit der Erinnerung nur einen besonderen Fall der transzendentalen Verfaßtheit des Ich überhaupt darstellt, so wird m a n Droysens gegen die Kritische Schule zur Geltung gebrachten Verstehensbegriff, der die hermeneutische Struktur des historischen Bewußtseins auf einen zusammenfassenden Ausdruck bringt, als transzendentalen Begriff des Verstehens bezeichnen können. Droysens Historik kommt somit das Verdienst zu, den historiographisch-methodischen Erwerb der Kritischen Schule vermittelst eines reflexionstheoretischen Verstehensbegriffs auf ein transzendentales Gerüst gestellt zu haben. 3 1 Das Verstehen hat allerdings auch noch eine objektive Seite: Worin genau besteht nun der Gegenstand, den es zu verstehen gilt? Auch bezüglich der Beantwortung dieser Frage weiß sich Droysen grundlegend von der Kritischen Schule geschieden. Für sie war Geschichte erkannt, wenn die Tatsachen der Vergangenheit zu objektiver Vergegenwärtigung gelangt waren. Deshalb richtete sich ihr gesamtes Bemühen auf die quellenkritische Herstellung der objektiven Tatsachen. Droysens Kritik setzt ein bei diesem Begriff der Tatsache. "Der ganze Begriff der eigentlichen, der objektiven Tatsache, die wir suchen sollen, ist ein völlig unklarer und willkürlicher" (114). Die sogenannte Tatsache ist nämlich keineswegs das, wofür sie gehalten wird. Sie ist kein konkret Gegebenes, sondern in Wahrheit das Produkt einer abstrahierenden Synthesis. "Die Tatsache, die wir eine Schlacht, einen Kongreß oder Konzil, einen großen Friedensschluß nennen, ist gar keine Tatsache, sondern eine Abstraktion, in der die menschliche Betrachtung eine Fülle von Tatsachen ... nach einem gewissen gemeinsamen Motiv in ihrem Zusammenhang, in ihrer Wirkung usw. zusammenfaßt" (ebd.); "die meisten Geschehnisse ergeben sich durch die Konkurrenz unzähliger Willensakte, entweder solcher, die in Gleichartigkeit, in gleichem gemeinsamen Zuge vor sich gehen, oder solcher, in denen einzelne, viele, ganze Parteien, ganze Völker gegeneinander ringen" (ebd.). Die 31

Gadamers pauschales Urteil über die klassische Historik: "Die Vorgängigkeit des geschichtlichen Lebensbezugs, den die Überlieferung für die Gegenwart darstellt, wurde auch jetzt noch nicht in die methodische Reflexion aufgenommen" (Wahrheit und Methode, 185), ist mit Bezug auf Droysen schlechterdings unhaltbar.

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abstrahierende Synthesis besteht demnach im wesentlichen in der Zusammenfassung gleichartiger und in der Entgegensetzung konträrer Elemente. Diese selbst aber haben den ontologischen Status von Willensakten. Droysen vertritt die These, daß Willensakte "ebenso den Inhalt des geschichtlichen Lebens ausmachen wie das Material geben, aus dem wir es zu erforschen haben" (ebd.). Die Sphäre der Willensakte bildet das Feld bzw. die Basis aller auf die Rekonstruktion historischer Tatsachen gerichteten abstrahierenden Synthesen. Die "Willensakte, die sich je in ihrer Gegenwart einen Ausdruck, eine Betätigung geben" (ebd.), stellen "die eigentlich primären historischen Tatsachen" (115) dar, mit welchen es der Historiker zu tun hat. Sie und nur sie repräsentieren "den wesentlichen und objektiven Inhalt der Geschichte" (114). Damit formuliert Droysen auf pointierte Weise seinen Einspruch gegen ein positivistisches Mißverständnis des Begriffs der historischen Tatsache bzw. der geschichtswissenschaftlichen Aufgabe der Tatsachengewinnung. "Die Aufgabe der Kritik könnte, wenn sie wirklich die eigentlichen Tatsachen suchen wollte, nur die sein, zu den Willensakten in ihrem unmittelbaren Ausdruck hinabzusteigen" (ebd.). Nicht nur nach der subjektiven Seite des Verstehens, sondern auch in objektiver Hinsicht erweist sich sonach das Ideal der Herstellung reiner Tatsachen, wie es in der Kritischen Schule als Leitziel historischer Forschung propagiert worden war, als hermeneutisch unreflektiert. Droysen hat die Thematik des Rekurses der historischen Kritik und Interpretation auf die Sphäre der Willensakte als das eigentliche Datum historischer Rekonstruktion im zweiten Hauptteil seiner Historik, der Systematik des historisch Erforschbaren, wieder aufgegriffen und den Gedanken der Willensaktivität zu einer Theorie der sittlichen Welt entfaltet. Das individuelle Handeln in den Bezügen der sittlichen Welt selber hat seinen letzten Grund in der ethisch-religiösen Gottesbeziehung des Gewissens. 3 2 32

Droysens Theorie des Willensaktes ist verankert in einem ethisch-religiösen Begriff des Gewissens: "In das Allerheiligste der Person dringt außer Gottes Auge nur das der gegenseitigen Liebe, nicht das der Wissenschaft, nicht das des Richters, mag es der juristische oder der historische sein. In diesem Allerheiligsten aber ist das Geheimnis des menschlichen Wollens, die eigentlichen Bestimmungsgründe seines Handelns, diejenigen Momente, die ihn vor sich und vor Gott rechtfertigen oder verdammen, diejenigen, die allein über seinen sittlichen Wert, d.h. über seinen Wert entscheiden.... Denn nur das Gewissen ist jedem absolut gewiß, es ist für ihn seine Wahrheit, der Mittelpunkt seiner Welt.... Die Persönlichkeit als solche hat nicht ihren Wertmesser in der Geschichte, in dem, was sie dort leistet, tut oder leidet; ihr ist ein eigenster Kreis bewahrt, in dem sie, wie arm oder reich an Geist, wie bedeutend oder unbedeutend an Wirkung und Erfolgen, mit sich und ihrem Gott allein verkehrt" (Historik, 192). Zu Droysens Gottesbegriff vgl. a.a.O. 35.192.325.328.332.371.373.398.433. Im Gewissensbegriff ist dann auch Droysens Begriff der sittlichen Welt verankert: "In dem Gewissen hat er [seil, der Mensch]

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Droysens Schritt über Ranke hinaus läßt sich somit folgendermaßen zusammenfassen: Historie ist nicht das unmittelbare Konstatieren von vergangenen Tatsachen, sondern setzt ein reflektiertes und konstruktives Verhältnis zum Geschehenen voraus. Historie ist nicht in einem abbildhaften Sinne objektiv, sondern impliziert subjektives Verstehen. Beides zusammengenommen relativiert die Funktion der Quellenkritik: diese ist bloße Vorstufe der Interpretation. Die exzeptionelle Stellung der Staatengeschichte fällt weg, und zwar aus zwei Gründen: erstens, weil der Staat nur ein Moment der sittlichen Welt unter anderen ist, und zweitens, weil geschichtlich Ursprüngliches nicht exklusiv dem politischen Genius eignet, sondern dem menschlichen Handeln und Wollen generell. Die religiöse Dimension der Geschichte zeigt sich nicht in der Gottunmittelbarkeit welthistorischer Mächte, sondern in der Gottesbeziehung des Gewissens ethisch reflektierten Handelns. Die Historie hat ihr theoretisches Fundament somit nicht in einer Metaphysik des Staates und des welthistorisch originären Individuums, sondern in einer ethischen Theorie der Lebenswelt. Droysens Historik ist ihrer hermeneutischen Begründungsstruktur nach eine Theorie der intersubjektiven Kommunikation von Subjektivität (vgl. 423). Alle Formen des Hervorbringens der sittlichen Welt und alle Formen des Agierens in sittlichen Bezügen lassen sich nur unter der Voraussetzung als Handlungsmuster interpretieren, daß sich in ihnen ein produktives bzw. existierendes Ich darstellt. Historische Vorgänge können insofern als Äußerungen innerer Vorgänge aufgefaßt werden. Diese Ausdrucksphänomene können von anderen ichhaft verfaßten Wesen wahrgenommen werden und bei den Rezipienten die gleichen inneren Vorgänge hervorrufen. Dieser intersubjektive Darstellungs- und Erregungsvorgang setzt voraus, daß beide Kommunikationspartner von gleicher Strukturverfaßtheit sind. Die Deutung von in der sittlichen Welt vorkommenden Ausdrucksphänomenen ichhaft verfaßter Wesen durch ein ebenso strukturiertes Bewußtsein bezeichnet Droysen als Verstehen. Dieses Verstehen greift aber aus inneren Gründen notwendig über die Deutung von Einzelphänomenen hinaus. Indem ein historisches Phänomen als Äußerung eines Ich gedeutet wird, ist mit dem Rückschluß auf das Innere immer zugleich die Annahme der Ganzheit dessen verbunden, was sich da als partiell äußert. Das Verstehen eines einzelnen Ausdrucksphänomens eines Ich impliziert die Präsupposition von dessen Totalität, die freilich für den Fremdverstehenden unzugänglich bleibt. Als Leitgedie höchste Gewißheit seiner selbst, den Vollgenuß seiner Freiheit, aber auch den steten Mahner an seine Verantwortlichkeit.... Sein ganzes Sein bewegt sich in sittlichen Bezügen, und die Welt, die er sich zu schaffen hat, ist eine sittliche Welt; in diese Kategorie erhebt er, was er berührt, die bloß natürliche Welt wird unter seiner Hand in solchem Sinn verwandelt" (a.a.O. 24).

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sichtspunkte werden daher die Kategorien der sittlichen Welt erfordert (vgl. 424.44H). Aus jener logischen Beziehung von Einzelheit und Totalität resultieren für Droysen zwei einander entgegengesetzte Formen historischen Fremdverstehens (vgl. 423): zum einen wird geschlossen von den Einzeläußerungen auf die Totalität (Induktion oder synthetische Interpretation), zum anderen wird geschlossen von der Totalität auf das Einzelne (Deduktion oder analytische Interpretation). In beiderlei Hinsicht bildet die Strukturisomorphie ethischer Subjektivität den tragenden Grund deutender Identifikation von Ichheit. Alles Verstehen von Geschichte ist für Droysen letztlich ein Fremdverstehen von Subjektivität. "Unser historisches Verstehen ist ganz dasselbe, wie wir den mit uns Sprechenden verstehen" . 3 3 In der Kontinuität von Ranke und Droysen ist auch Wilhelm Dilthey zu sehen. In seiner historischen Anschauungsweise maßgeblich von Ranke geprägt (vgl. Ges. Sehr. V, 9) hat er Droysens Unterscheidung von Erklären und Verstehen aufgegriffen und darüber hinausführend (vgl. VII, 114) zum Aufbauprinzip einer Theorie der Geisteswissenschaften erhoben. Indem er den human invarianten "psychischen Strukturzusammenhang" nicht nur zum allgemeinen Prinzip der Geisteswissenschaften, sondern insbesondere auch zur Voraussetzung des einfühlenden Nachverstehens von Geschichte machte, hat sich ihm zugleich eine Synthese von Droysens Historik und Schleiermachers Hermeneutik ergeben. Die hinsichtlich der Grundlegung der Hermeneutik wichtigste Abweichung gegenüber Droysen dürfte darin zu sehen sein, daß Droysens pointierter Ansatz beim Begriff der ethischen Subjektivität in Richtung auf die Betonung des Irrationalen, die Kategorie des Gefühls verschoben wird. Letzteres bot in logischer Hinsicht wiederum den neukantianischen Theoretikern Anlaß zur Kritik.

33

J . G. DROYSEN: Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, hrsg. von R. Hübner, 25.

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Geschichtsmethodologische G r u n d l a g e n

3. D i e logische K l ä r u n g des w i s s e n s c h a f t s t h e o r e t i s c h e n Orts der Historie bei W i l h e l m W i n d e l b a n d und Heinrich Rickert

Einen wichtigen Schritt in der erkenntnistheoretischen A u f k l ä r u n g der eigentümlichen Stellung der Geschichtswissenschaft stellen die A r b e i t e n der südwestdeutschen R i c h t u n g des Neukantianismus dar. B a h n b r e c h e n d wirkte Wilhelm W i n d e l b a n d s 3 4 Straßburger R e k t o r a t s r e d e aus d e m J a h r e 1894 über "Geschichte u n d Naturwissenschaft", zunächst selbständig veröffentlicht, von 1907 an als Teil des weitverbreiteten A u f s a t z b a n d e s "Präludien" (3. Aufl.)· 3 5 W i n d e l b a n d weiß sich grundsätzlich den Intentionen des Kritizismus verpflichtet. So will er auch in der R e k t o r a t s r e d e lediglich ein Beispiel davon geben, wie "ein jeder Versuch, das scheinbar klar u n d einfach Bek a n n t e zu vollem Verständnis zu bringen, uns schnell u n d unentfliehbar an die äußersten, von dunklen Geheimnissen u m l a g e r t e n Grenzen unseres Erkenntnisvermögens d r ä n g t " (357). Im Vordergrund steht f ü r W i n d e l b a n d das P r o b l e m der Abgrenzung von Natur- u n d Geschichtswissenschaft. Wir versuchen, in aller Kürze die wichtigsten Gedanken hervorzuheben. W i n d e l b a n d s Abgrenzung beider Disziplinfelder h a t die logische F o r m der "Einteilung" (363), indem sowohl der Naturwissenschaft als auch der Geschichtswissenschaft "der C h a r a k t e r der Erfahrungswissenschaft" (367) eignet. Eine f u n d a m e n t a l e Unterscheidung ergibt sich aus folgendem Gesichtspunkt: "Die Erfahrungswissenschaften suchen in der E r k e n n t n i s des Wirklichen entweder das Allgemeine in der F o r m des Naturgesetzes oder das Einzelne in der geschichtlich b e s t i m m t e n Gestalt; sie b e t r a c h t e n zu einem Teil die immer sich gleichbleibende Form, z u m anderen Teil den einmaligen, in sich b e s t i m m t e n Inhalt des wirklichen Geschehens. Die einen sind Gesetzeswissenschaften, die anderen Ereigniswissenschaften; jene lehren was immer ist, diese, was einmal war. Das wissenschaftliche Denken ist - wenn m a n neue K u n s t a u s d r ü c k e bilden darf - in d e m einen Falle nomothetisch, in d e m anderen idiographisch" (364; Hhg.i.O.). Das Entscheidende an dieser Art der Abgrenzung zweier f u n d a m e n t a l verschiedener A r t e n von Erfahrungserkenntnis sieht W i n d e l b a n d darin, daß der so definierte Gegensatz "nur die B e h a n d l u n g , nicht den Inhalt des Wissens selbst klassifiziert" (ebd.). Die Unterscheidung von nomothetischen u n d idiographischen Erfahrungswissenschaften ist sonach rein m e t h o d i s c h konzipiert u n d betrifft lediglich die F o r m der Erkenntnisge34

Vgl. G.G. IGGERS: The German Conception of History, 124-152; Η. SCHNÄDELBACH: Philosophie in Deutschland 1831-1933, 219-225.

35

Die folgenden in den Text gesetzten Zitatnachweise beziehen sich auf diese Auflage der Schrift Windelbands.

Logische Klärung: Windelband/Rickert

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winnung. Rein für sich genommen impliziert sie noch keine Unterscheidung zweier Gegenstandsbereiche möglichen Wissens. Windelband betont ausdrücklich: "Es bleibt möglich und zeigt sich in der Tat, daß dieselben Gegenstände zum Objekt einer nomothetischen und daneben auch einer idiographischen Untersuchung gemacht werden können" (ebd.). Dieser pointiert methodische Gesichtspunkte der Einteilung ist dann auch leitend für Windelbands Bestimmung des Verhältnisses von Naturwissenschaft und Historie. Nicht unterschiedliche Objektklassen grenzen die beiden Erfahrungsdisziplinen voneinander ab; "der Unterschied zwischen Naturforschung und Geschichte beginnt erst da, wo es sich u m die erkenntnismäßige Verwertung der Tatsachen handelt ...: die eine sucht Gesetze, die andere Gestalten" (368). Hinsichtlich ihres strikt methodischen Gesichtspunktes bildet Windelbands wissenschaftstheoretisches Modell eine echte Alternative zu Diltheys am Gegensatz zweier Gegenstandshemisphären orientierten Dichotomie von Natur- und Geisteswissenschaften, die sich, obgleich eben dadurch wesentlich voraussetzungsreicher, dennoch hat durchsetzen können. Im Ergebnis allerdings gelangt Windelband bezüglich des Verhältnisses von Naturwissenschaft und Historie zu Einsichten, die sich mit denen Diltheys weitgehend decken. "Für den Naturforscher hat das einzelne gegebene Objekt seiner Beobachtung niemals als solches wissenschaftlichen Wert; es dient ihm nur soweit, als er sich für berechtigt halten darf, es als Typus, als Spezialfall eines Gattungsbegriffs zu betrachten und diesen daraus zu entwickeln; er reflektiert darin nur auf diejenigen Merkmale, welche zur Einsicht in eine gesetzmäßige Allgemeinheit geeignet sind. Für den Historiker besteht die Aufgabe, irgendein Gebilde der Vergangenheit in seiner ganzen individuellen Ausprägung zu ideeller Gegenwärtigkeit neu zu beleben. Er hat an Demjenigen was wirklich war, eine ähnliche Aufgabe zu erfüllen, wie der Künstler an Demjenigen was in seiner Phantasie ist.... Hieraus folgt, daß in dem naturwissenschaftlichen Denken die Neigung zur Abstraktion vorwiegt, in dem historischen dagegen diejenige zur Anschaulichkeit" (368f). Aber nicht nur die Zuordnung des Typischen, Allgemeinen, Gesetzmäßigen, Abstrakten zur Naturwissenschaft und umgekehrt des Besonderen, Individuellen, Lebendigen, Anschaulichen zur Geschichtserkenntnis verbindet Windelband mit Dilthey, sondern auch das Wissen u m eine prinzipielle Grenze des gesetzmäßig-abstrahierenden Erkennens gegenüber der Geschichte. "Die Gesamtheit des in der Zeit Gegebenen erscheint in unableitbarer Selbständigkeit neben der allgemeinen Gesetzmäßigkeit, nach der es sich doch vollzieht" (378f); "so hilft uns alle Subsumtion unter jene Gesetze nicht, u m das einzelne in der Zeit Gegebene bis in seine letzten Gründe hinein zu zergliedern. D a r u m bleibt für uns in allem historisch

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Geschichtsmethodologische Grundlagen

und individuell Erfahrenen ein Rest von Unbegreiflichkeit - etwas Unaussagbares, Undefinierbares.... und dies Unfaßbare erscheint vor unserem Bewußtsein als das Gefühl der Ursachlosigkeit unseres Wesens, d.h. der individuellen Freiheit" (378). Diese in allen Formen gesetzmäßig ausformulierten Erfahrungswissens zutage tretende Nichterfaßbarkeit des Individuellen als eines solchen ist es denn auch, welche der Beschreibung geschehenen individuellen Lebens durch die Historie ihren festen Ort im Bereich der Wissenschaften sichert und den eigentümlichen Wert dieser Wissensform begründet. "Der notorisch äußerst unvollkommene Grad, bis zu welchem bisher die Gesetze des Seelenlebens haben formuliert werden können, hat den Historikern niemals im Wege gestanden; sie haben durch natürliche Menschenkenntnis, durch Takt und geniale Intuition gerade genug gewußt, um ihre Helden und deren Handlungen zu verstehen" (376). Windelbands Hervorhebung der spezifischen Funktion des idiographischen Verfahrens für die Historie im Gegensatz zum nomothetischen korrespondiert sonach weitgehend der Funktion der Diltheyschen Unterscheidung von Verstehen und Erklären. Obzwar nun Windelbands Unterscheidung zunächst "eine rein methodologische, auf sichere logische Begriffe zu gründende Einteilung" (363; Hhg.v.Vf.) sein sollte, steht sie gleichwohl in einer inneren Beziehung zum materialen Unterschied der Objektbereiche, auf die sie Anwendung findet. Diese Beziehung resultiert, was die Sphäre des idiographischen Wissens anbelangt, aus der spezifischen Affinität alles Individuellen zur Sphäre der Werte. Weil - so lautet die These von Windelbands Wertphilosophie, dem Ansatz nach erstmals vorgetragen in der 1870 erschienenen Habilitationsschrift - "sich alles Interesse und Beurteilen, alle Wertbestimmung des Menschen auf das Einzelne und das Einmalige bezieht", weil "alle lebendige Wertbeurteilung des Menschen an der Einzigkeit des Objekts hängt" (374), darum schließt die Beschreibung von Individuellem, sei es die Erfassung historischer Individuen, sei es die Deskription ganzer historischer Gebilde, den Rekurs auf Werte und Wertzusammenhänge ein. Durch den Wertgedanken erhält somit die idiographische Erkenntnisform gegenüber der nomothetischen - über den rein erkenntnistheoretisch konzipierten Gegensatz hinaus - ein inhaltlich bestimmtes Unterscheidungsmerkmal. Heinrich Rickert ist sowohl hinsichtlich der Bedeutung des Wertbegriffs als auch bezüglich der logisch-methodologischen Sonderstellung der Geschichtserkenntnis seinem Lehrer Windelband gefolgt. 3 6 Dabei hat er ins36

Vgl. R. UBELHACK: Das Problem der Objektivität in der Geschichtswissenschaft, 64-70; G.G. IGGERS: The German Conception of History, 152-159. In Gadamers "Wahrheit und Methode" werden Windelband und Rickert nur noch en passant erwähnt (a.a.O. 208 1 .327.478); der Überbietungsanspruch ist offensichtlich in den

Logische Klärung: Windelband/Rickert

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besondere versucht, den Zusammenhang der beiden Problemdimensionen zu erhellen. Rickerts gesamtes philosophisches Lebenswerk ist in vielleicht noch stärkerem Maße, als es bei Windelband der Fall ist, der "Einsicht in den prinzipiellen Unterschied des geschichtlichen vom naturwissenschaftlichen Denken" 3 7 verpflichtet. Das gerade angeführte Zitat stammt aus dem Vorwort der ersten Auflage desjenigen Werkes Rickerts, das nicht nur im Bereich der Schulphilosophie, sondern weit über deren Fachgrenzen hinaus große Aufmerksamkeit auf sich lenken konnte. Rickerts "Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung" erschien erstmals 1896 und 1902 in zwei Halbbänden und wurde später in umgearbeiteter und erweiterter Fassung mehrfach neu aufgelegt. Für unseren Zusammenhang ist außerdem die zunächst als Zwischenbericht für das größere Werk konzipierte, dann als Einführungsschrift zu ihm verstandene, 1898 verfertigte Arbeit über "Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft" heranzuzuziehen. Auch sie wurde später mehrfach in überarbeiteter Form neu aufgelegt. Was zunächst die Funktion des Wertbegriffs für die Unterscheidung der idiographischen Wissensform von der nomothetischen anbelangt, so erblickt Rickert in ihm geradezu das Einteilungsprinzip der empirischen Wissenschaften überhaupt, demzufolge "die einen Disziplinen es mit der wert- und sinnfreien Natur zu tun haben, die sie unter allgemeine Begriffe bringen, die andern dagegen die sinnvolle und wertbezogene Kultur darstellen und sich deshalb mit dem generalisierenden Verfahren der Naturwissenschaften nicht begnügen. Sie brauchen eine individualisierende Betrachtung". 3 8 Die idiographischen Disziplinen faßt Rickert unter dem Begriff der Kulturwissenschaften zusammen, der nach Umfang und Inhalt in etwa mit Diltheys Begriff der Geisteswissenschaften übereinkommt. Da nun der Wertbegriff selber keineswegs ein in sich einförmiges Prinzip darstellt, sondern sich vielmehr in ein ganzes System distinkter Werte aufschlüsseln läßt, deren Zusammenhang genau angegeben werden kann, kommt ihm nicht nur eine Abgrenzungsfunktion bezüglich des Gesamtbereichs der Kulturwissenschaften zu, sondern darüber hinaus auch die Rolle eines systematischen Prinzips zur Gliederung der einzelnen Kulturwissenschaften untereinander: "die Einheit und Objektivität der Kulturwissenschaften ist bedingt von der Einheit und Objektivität unseres Kulturbegriffes und diese wiederum von der Einheit und Objektivität der Werte, die wir werten". 3 9 Die von Rickert ausgearbeitete Grundlegung der Kulturwissenschaften auf der Basis des Wertbegriffs hat im Gesamtspektrum wissenschaftstheo-

37 38 39

Verabschiedungsgestus umgeschlagen. H. RICKERT: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung 2 , S. III. H. RICKERT: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft 6 / 7 , S. XI. A.a.O. 137.

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retischer Selbstreflexion vor dem ersten Weltkrieg große Beachtung erfahren. Max Weber und Ernst Troeltsch etwa haben Rickert - zunächst überwiegend zustimmend rezipiert. Wir brauchen auf die Reichweite des Wertgedankens für die Grundlegung der Kulturwissenschaften hier nicht näher einzugehen. In unserem Zusammenhang stehen Rickerts Überlegungen zur logisch-methodologischen Struktur der Geschichtserkenntnis im Vordergrund. Die Ausgangssituation seiner spezifisch geschichtsmethodologischen Fragestellung erblickt Rickert - in Übereinstimmung mit dem Gesamtansatz des Neukantianismus - in der durch das Erlöschen des Deutschen Idealismus und das Aufkommen des Positivismus geschaffenen Lage. " U m die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ist die historische Kontinuität in der Geschichte unseres Geisteslebens unterbrochen worden, und grade die für ein Verständnis des geschichtlichen Lebens wichtigen Elemente der deutschen Philosophie sind in weiteren Kreisen noch immer wenig bekannt". 4 0 Diltheys Programm einer erkenntnistheoretischen Grundlegung der Geisteswissenschaften auf der Basis eines neuen Modells philosophischer Psychologie hält Rickert jedoch, obwohl der eigenen Grundintention verwandt, für prinzipiell verfehlt. "Die Bedeutung der Psychologie für einige der sog. 'Geisteswissenschaften' wird, wie ich glaube, nicht nur von den Psychologen, sondern auch von der Logik noch sehr überschätzt ... . J a , die Anwendung der in der Psychologie heute üblichen Methode muß in den Geschichtswissenschaften geradezu notwendig auf Irrwege leiten". 4 1 In der Neuauflage der "Grenzen der naturwissenschaftlichen BegrifFsbildung" von 1913 ist "die von Anfang an schon vorhandene 'antipsychologistische' Tendenz noch mehr verstärkt worden". 4 2 Das eigene Programm aber bleibt in beiden Fassungen dasselbe: Es geht um das "Wesen der geschichtlichen BegrifFsbildung" (S. III) bzw. um die "innere logische Struktur aller geschichtlichen BegrifFsbildung" (S. V). Der im Unterschied zu Dilthey pointiert logische Problemhorizont wird am deutlichsten in Kap. III. 2 "Der logische BegrifF des Historischen" (214-234). Rickert versucht dort, Windelbands methodologische Unterscheidung von nomothetischem und idiographischem Wissen logisch zu präzisieren und zu begründen, indem er zunächst den Mangel naturwissenschaftlicher Gegenstandserfassung bezüglich des untersuchten Sachverhaltes aufzeigt, um danach den logischen BegrifF des Historischen zu exponieren. Zum ersten Gedankenschritt konstatiert Rickert: " E s gibt eine 40 41 42

A.a.O. 9. A.a.O. 13. H. RICKERT: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen BegrifFsbildung 2 , S. VIII. Die folgenden in den Text gesetzten Zitatnachweise beziehen sich auf diese Schrift Rickerts.

Logische Klärung: Windelband/Rickert

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Fülle von Dingen und Vorgängen, die uns nicht nur mit Rücksicht darauf interessieren, in welchem Verhältnis sie zu einem allgemeinen Gesetz oder zu einem System von allgemeinen Begriffen stehen, sondern die uns gerade durch ihre Besonderheit, Einmaligkeit und Individualität von Bedeutung sind. Uberall aber, wo dieses Interesse an der Wirklichkeit vorhanden ist, können wir mit der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung nichts anfangen" (215). Dieses Defizit hängt zunächst offenbar mit der Art und Weise zusammen, in der das Besondere als Besonderes wirklich bzw. dem Erkennen nach seiner Wirklichkeit gegeben wird. "Das Einmalige und Individuelle ... ist immer nur an einem bestimmten Ort und an einer bestimmten Zeit" (216). Diese erkenntnistheoretische Verfaßtheit des Besonderen, durch seine Raum/Zeit-Koordinaten-Bestimmtheit zugleich als Individuelles bestimmt zu sein, kann die naturwissenschaftliche Erkenntnis weder entdecken noch erschließen. "Es liegt im Begriff des Naturgesetzes, daß es nichts darüber sagt, was einmal hier oder dort, jetzt oder dann in nie wieder vorkommender Einzigartigkeit und Individualität wirklich geschieht" (198), da das Naturgesetz "für Objekte gilt, die an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten sind" (216). Jene Entdeckungs- und Erschließungsunfähigkeit der naturwissenschaftlichen Erkenntnis gegenüber dem raum-zeitlich bestimmten Individuellen als solchem liegt also keineswegs darin begründet, daß die so spezifizierten Entitäten in den Bereich der Natur - und nicht in den der Geschichte - fallen, sondern ausschließlich darin, daß die naturwissenschaftliche Erkenntnis den logischen Status eines Gesetzes bzw. Gesetzeszusammenhangs hat. Das Einzelereignis ist ihr nur als Fall eines gesetzmäßigen Allgemeinen gegeben, nicht als Individuelles nach seiner unverwechselbaren Besonderheit. "Soweit die Dinge nur Exemplare allgemeiner Begriffe sind, kommt es auf den bestimmten Ort, an dem sie sich befinden und auf die bestimmte Zeit, zu der sie existieren, nicht an" (216). Diese kategoriale Grenze des nomologisch strukturierten Erkennens prägt die nomologische Erkenntnissphäre im ganzen. Rickerts erster Gedankenschritt schließt mit dem Ergebnis, daß "eine Wissenschaft von dem, das sich an keinen bestimmten Ort und an keine bestimmte Zeit knüpft sondern allgemein, also überall und für immer gilt ..., nichts darüber sagen kann, was an bestimmten Stellen des Raumes und der Zeit existiert, was es nur einmal hier oder dort, jetzt oder dann gibt" (215f). Der zweite Gedankenschritt hat nun nur noch zu explizieren, was es heißt, einen raum-zeitlichen Sachverhalt als individuellen zu erfassen. Dabei kann die Raumkoordinatenbestimmtheit vernachlässigt werden. Wo finden wir also das auf der Zeitachse als individuell bestimmte Ereignis? "Nehmen wir das Wort 'Gegenwart' im strengen Sinne, so kommen die

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Geschichtsmethodologische Grundlagen

Objekte als gegenwärtige für die wissenschaftliche Erforschung ihrer Individualität und Einmaligkeit nicht in Betracht. Sie liegen immer schon in der Vergangenheit, und zwar nimmt ihr Sein dort eine bestimmte Zeitstrecke ein" (216). Damit ist die spezifische Art der Erkenntnis des Besonderen in ihrer prinzipiellen Struktur vorgezeichnet. "Die Fragen, die sich auf die einmalige und individuelle Wirklichkeit beziehen, müssen ... immer die Form annehmen: was war früher in der Welt, und wie ist das Seiende einmal geworden? Kurz, die Wissenschaft vom Einmaligen und Individuellen ist notwendig die Wissenschaft von dem in der Vergangenheit abgelaufenen Geschehen" (216f). Dieser Art Wissenschaft gibt Rickert den Namen "Geschichtswissenschaft", deren Begriff er damit quasi definitorisch einführt. "Alles, was uns von der Wirklichkeit selbst erzählt, und was aus den angegebenen Gründen von dem einmaligen individuellen Geschehen an bestimmten Stellen des Raumes und der Zeit berichtet, nennen wir Geschichte, und wenn es daher eine Wissenschaft von dem einmaligen und individuellen Geschehen geben soll, wird sie Geschichtswissenschaft heißen müssen" (217). Der von Rickert eingeschlagene erkenntnistheoretische Weg zur Definition des Begriffs der Geschichtswissenschaft erweist sich für den Begriff der Geschichte als außerordentlich folgenreich: "Das Individuelle und Einmalige ist allein wirklich geschehen" (217). Damit ist für Rickert der Nachweis der Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung prinzipiell erbracht. Er liegt im grundsätzlichen Aufweis eines logischen Begriffs des Historischen. "Die Geschichte betrachtet die Wirklichkeit unter einem völlig andern Gesichtspunkt und bedient sich daher notwendig auch einer völlig andern Methode der Darstellung und Begriffsbildung" (217). Das individuelle Geschehen als solches bleibt der naturwissenschaftlichen Erkenntnis notwendig verschlossen, weil zwischen der Struktur ihrer Erkenntnis und der Struktur der zu erkennenden Dinge eine logische Schranke besteht, nämlich die Individualität und Einmaligkeit von Ereignissen. Diese logische Schranke charakterisiert das Verhältnis der naturwissenschaftlichen Erkenntnisform zum historisch Wißbaren insgesamt. "Das, was der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung die Grenze setzt, über die sie niemals hinwegzukommen vermag, ist nichts anderes als die einmalige empirische Wirklichkeit selbst, so wie wir sie in ihrer Anschaulichkeit und Individualität unmittelbar erleben" (197). Ahnlich wie bei Windelband werden Natur- und Geschichtswissenschaft primär nicht inhaltlich durch eine Dichotomie konträrer Objekthemisphären, sondern logisch-methodologisch nach ihrem alternativen kognitiven Objektzugang unterschieden. Beiden Wissenschaftsbereichen liegt ein und dieselbe empirische Wirklichkeit zugrunde. "Sie wird N a t u r , wenn wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Allgemeine, sie wird Geschichte,

Logische Klärung: Windelband/Rickert

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wenn wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Besondere und Individuelle" (224). Rickerts Theorieprogramm des Erweises der Selbständigkeit der Geschichtswissenschaft auf der Basis eines logischen Begriffs vom Historischen im Verein mit weit ausgreifenden wertphilosophischen Systemüberlegungen weist eine offenkundig antipsychologische Grundtendenz auf. In der Einschätzung dessen, was die Psychologie hinsichtlich der Abgrenzung von den immer selbstbewußter auftretenden Naturwissenschaften leisten könne, vermochte Rickert Diltheys Universalhermeneutik auf psychologischer Grundlage nicht zuzustimmen. Daß er ihm zwar nicht in der gedanklichen Durchführung, wohl aber im Ergebnis und vor allem in den Grundmotiven durchaus nahe stand, ist einer Äußerung im Vorwort zur ersten Auflage der "Grenzen" zu entnehmen. Von seinen auf den nachfolgenden Seiten unternommenen erkenntnistheoretischen Anstrengungen konnte Rickert sagen: "Die logische Theorie steht hier im Dienste der Bekämpfung des Naturalismus und der Begründung einer an der Geschichte orientierten idealistischen Philosophie" (S. III). Insofern erweisen sich Rickert wie Dilthey als der fachwissenschaftlichen Geschichtsschreibung verpflichtete Grundlagentheoretiker mit einem "Heimweh nach dem Idealismus" . 4 3

43

ICh 37; dieses Hirsch-Zitat ist im Original auf Friedrich Nietzsche bezogen.

Β. Hirschs Anwendung der klassischen Historik auf die Erforschung des historischen Jesus 1. Hirschs B e z u g n a h m e auf die klassische Historik

a) Die Anknüpfung an das Geschichtsverständnis Rankes Der Schwerpunkt des wissenschaftlichen Lebenswerks Emanuel Hirschs Hegt auf dem Felde der Geistes- oder Problemgeschichte. 44 In den verschiedensten Bereichen hat er nicht allein die Forschung weitergeführt, sondern wichtige Impulse zu neuen Fragestellungen gegeben. Hinsichtlich des dabei zur Anwendung gelangten methodischen Rüstzeugs wußte er sich vor allem Ferdinand Christian Baur verpflichtet, dessen Grundsätze ihm durch Karl Holl überkommen waren (vgl. ZpCh 606; KSt II, 356). Was jedoch Hirschs Erforschung des historischen Jesus anbelangt, so wird man hinsichtlich der methodischen Grundlagen der hier einschlägigen Arbeiten wesentlich weiter ausholen müssen. Neben Diltheys prinzipiellen Erörterungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften war es vor allem die Hermeneutik der klassischen Historik des 19. Jahrhunderts, die Hirschs Verständnis von Geschichtsschreibung bestimmte. 4 5 Von deren Rezeption bei Hirsch soll im folgenden die Rede sein, bevor wir uns den hermeneutischen Spezialproblemen der Erforschung der Jesus-Überlieferung zuwenden. Zunächst war es vor allem Ranke, der Hirschs Verständnis von Geschichtsschreibung maßgebend prägte. Wir setzen ein mit einem doxographischen Uberblick: Der für die moderne Historie konstitutive kritische Umgang mit den Quellen gehört nach Hirsch zu den "großen Errungenschaften der Rankeschen Schule" (GneTh V, 424). Rankes Verknüpfung von Tatsachenermittlung und begrifflicher Reflexion auf das Allgemeine hält er für durchaus vorbildlich (vgl. DSch 7). Auch stimmt er Rankes These von der Gott44

V g l . d a z u H.-J. BIRKNER, T R E X V , 391f.

45

Vgl. dazu Hirschs Besprechungen von Rickerts "Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung", in: ThLZ 47 (1922), Sp. 479f, von Rankes "Das politische Gespräch und andere Schriftchen zur Wissenschaftslehre" und Droysens "Grundriß der Historik", in: ThLZ 50 (1925), Sp. 423.

Hirsch, und die klassische Historik

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unmittelbarkeit, Eigenwertigkeit und Gleichrangigkeit aller Geschichtsepochen ausdrücklich zu (vgl. DSch 41). Zur Ablehnung des Fortschrittsgedankens heißt es lapidar: "Ranke wird Recht behalten" (DSch 44). Hirschs Ubereinstimmung mit diesen Grundsätzen resultiert nicht zuletzt daraus, daß "Rankes Geschichtsanschauung aus dem Idealismus ihre beste Kraft gesogen h a t " (ICh 56). Und weil es auch seiner eigenen Geschichtsschreibung letztlich u m die "wahrhaftige und ehrfürchtige Schau des wirklich Gewesenen" (N 32) geht, sieht sich Hirsch schließlich als Historiker, der "wie Ranke Geschichtserkenntnis zugleich als ein frommes Tun versteht" (N 35). Im folgenden wird es um Hirschs systematische Aneignung dieser Rankeschen Theoreme gehen. Obgleich Hirsch mit seinem 1920 erstmals erschienenen Buch "Deutschlands Schicksal" eine erklärtermaßen ideenpolitische Absicht verfolgte, soll hier nicht diese Zwecksetzung und ihr realgeschichtlicher Kontext betrachtet werden 4 6 , sondern lediglich die Bestimmung der "metaphysischen und religiösen Voraussetzungen des Geschichtsbegriffs" (DSch 23), soweit sie für die hermeneutische Fundierung der Christologie relevant sind. Der "Grundlegung" (DSch 9) von Hirschs früher Geschichtssphilosophie sind insbesondere die Einleitung und die ersten vier Kapitel gewidmet; sie sind überschrieben "Menschheitsgeschichte und Gottesgedanke", "Idee und Leben", "Entwicklung und Freiheit" sowie "Die Gemeinschaft der Gewissen". Vor diesem Hintergrund kommen dann die im engeren Sinne ideenpolitischen und zeitdiagnostischen Ausführungen (Kap. 5-10) als Fragen der "Anwendung" (DSch 64) zu stehen. Hirschs metaphysisch-theologische Grundlegung des Geschichtsverständnisses geht aus von dem ebenso historiographischen wie geschichtsphilosophischen Grundsachverhalt der Unableitbarkeit von historisch schlechthin Neuem. "Man kann die Bedingungen auffinden, unter denen es wuchs, die Anlässe feststellen, die es aufweckten ... . Aber heißt das erklären? ... Einen Anfang kann man eben nicht erklären, sonst wäre es kein Anfang mehr" (DSch 14f). Die Entstehung von Neuem bedarf eines nicht genetischen Erklärungsgrundes: "Jedes Neue in der Menschheitsgeschichte ist eine Bezeugung ... des lebendigen schöpferi46

Dieser Aspekt von Hirschs Geschichtsphilosophie steht im Vordergrund der Untersuchungen von G. SCHNEIDER-FLUME: Die politische Theologie Emanuel Hirschs 1918-1933, 13-53; J H. SCHJ0RRING: Theologische Gewissensethik und politische Wirklichkeit, 71-76; K. TANNER: Die fromme Verstaatlichung des Gewissens, 220-228. Was die letztgenannte Publikation anbelangt, so ist als Merkwürdigkeit hervorzuheben, daß der Autor sein Urteil über den ideologischen Streit u m Weimar in der "Theologie der zwanziger Jahre" (so im Untertitel des Buchs) mit Bezug auf Hirsch zu einem guten Teil belegt durch Zitate aus der 1934 (!) erschienenen Schrift "Die gegenwärtige geistige Lage" (vgl. Tanner a.a.O. 68.71. 73.76.78.82.87.206.209.210.221.222.223.227.250.252.256.259.261).

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Geschichtsmethodologische Grundlagen

sehen Menschengeistes" (DSch 15). In diesem lebendigen schöpferischen Menschengeist erblickt Hirsch das Konstitutionsprinzip der Geschichte, "ihren metaphysischen Kern" (ebd.). Die Unableitbarkeit von geschichtlich Neuem wird von Hirsch - in sachlichem Anschluß an Herder 4 7 , Fichte 4 8 und Schleiermacher 4 9 - unter den Begriff der Offenbarung subsumiert; Geschichte vollzieht sich in der Sequenz von "fort und fort geschehenden Offenbarungen" (ebd.). Diesen geschichtsphilosophischen Offenbarungsbegriff hat Hirsch in allen weiteren Stadien seines Denkens beibehalten, auch dort, wo er ihn als einseitig entdeckte und durch einen wahrheitstheoretischen Offenbarungsbegriff ergänzte (vgl. Lf §51.M.l). Aber Geschichte ist nicht nur das fortwährende Entstehen von Neuem, sondern zugleich eine Ereignis- oder Handlungssequenz, die als solche immer eine Ordnung aufweist. Der Erfassung dieses Sachverhaltes dient die historiographische und geschichtsphilosophische Kategorie der Entwicklung. Der Entwicklungsbegriff fungiert als "methodisches Prinzip, einzelne Geschichtsereignisse zu größeren Zusammenhängen zu verknüpfen" (DSch 38). Dieses Prinzip ist für das Wesen der Historie so grundlegend, daß es geradezu in die Definition ihres Gegenstandsbereiches eingeht: "Geschichtlich im weitesten Sinne wäre eine Erscheinung hiernach, wenn sie irgend einem individuellen Entwicklungsprozesse als Glied angehörte" (DSch 38). Der Entwicklungsbegriff ist nun insbesondere deswegen für das Verstehen von Geschichte unentbehrlich, weil er die unverwechselbare Besonderheit des Werdezusammenhanges geschichtlichen Lebens im Unterschied von Veränderungsvorgängen nach Art des Naturzusammenhanges zur Geltung bringt. Insofern ist er dann auch für den Unterschied von historischem und naturwissenschaftlichem Erkennen schlechterdings basal. Wohl werden die einzelnen Phasen einer Entwicklung "durch einen streng notwendigen Zusammenhang des Werdens zusammengehalten" (DSch 37). Bezüglich des Bestehens einer Gesetzmäßigkeit überhaupt liegt also durchaus eine Analogie zum Naturzusammenhang vor. Die Besonderheit des Entwicklungszusammenhangs besteht jedoch darin, daß seine Teile nicht nach Art des Naturmechanismus miteinander verknüpft sind. "Entwicklung ist sich nach eignen inneren Wesensgesetzen entfaltendes individuelles Leben. Dessen einzelne Teile sind dabei gedacht als bedingt durch das in ihnen sich ausdrückende individuelle Ganze .... Sie ist ein zielstrebiger Prozeß, und jedes einzelne Moment dieses Prozesses steht in einem bestimmten Wesensverhältnis zum notwendig seiner Vollendung zueilenden Ganzen" (DSch 37f). 47 48 49

Vgl. dazu GneTh IV, 223.227. Vgl. ChG 20-23; vgl. auch GneTh IV, 371.378.381. Vgl. dazu GneTh IV, 533.

Hirsch und die klassische Historik

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Neben der individuellen Bestimmtheit, der organischen Verfaßtheit und der teleologischen Ausgerichtetheit ist es gerade auch die Möglichkeit des Entstehens von Neuem, welche den Entwicklungsvorgang im Unterschied zur Naturprozessualität kennzeichnet. Für den Naturzusammenhang gilt: "Etwas wesenhaft Neues kann innerhalb dieser Kette stetiger Veränderungen nicht auftreten. Die Wirkung ist eine Umformung der Ursache und insofern durch die Erklärung schlechthin in die Ursache auflösbar" (DSch 37). Anders hingegen Hegen die Dinge im Falle des Entwicklungszusammenhangs: "Die neue Entwicklungsstufe ... ist mehr als die bloße Umformung der ihr vorhergehenden. Sie hat etwas über jene Überschießendes in sich. Der Übergang von jener zu ihr setzt eine Schöpfung, eine Zeugung voraus, die dem Zusammenhang des sich entwickelnden Lebens eingeordnet ist und doch etwas ganz Neues ins Dasein treten läßt.... Keine Entwicklungsstufe ist eine logisch ausrechenbare Fortsetzung ihrer Vorgängerin" (DSch 37f). Der Entwicklungsbegriff stellt also eine Fundamentalkategorie des geschichtlichen Erkennens gerade "im Gegensatz zum eigentlich naturwissenschaftlichen" (DSch 38) dar. Damit bewährt sich am Entwicklungsbegriff, was Hirsch dazu veranlaßt hatte, im lebendigen schöpferischen Menschengeist den metaphysischen Kern der Geschichte zu erblicken, nämlich der Sachverhalt der Unableitbarkeit von schlechthin Neuem. "Der Begriff der Entwicklung wird der Eigenart des schöpferischen Geistes ... trefflich gerecht" (ebd.). Auch bezüglich des für das Verstehen von Handlungszusammenhängen schlechterdings konstitutiven Entwicklungsgedankens erweist sich eine metaphysische Verankerung des Geschichtsbegriffs als sinnvoll. Hirschs Entwicklungsbegriff dient aber nicht nur der Abgrenzung vom Naturzusammenhang, sondern er enthält auch eine kritische Komponente bezüglich des Bereichs der Geschichtserkenntnis selbst, und zwar sofern er das evolutionistische Geschichtsverständnis, wie es im 19. J a h r h u n d e r t weit verbreitet war, grundsätzlich in Frage stellt. Letzteres ist dadurch gekennzeichnet, daß die Frage nach dem Sinn der Geschichte durch die Konstruktion eines Gesamtzusammenhanges der Aufwärtsentwicklung der Menschheit beantwortet wird. So ist die Menschheitsgeschichte "ein einziger großer Entwicklungsgang, dem alle Sonderentwicklungen als Teilmomente eingegliedert sind, ein gewaltiges Werden der Menschheit aus dunklen und geringen Anfängen zur gegenwärtigen Kulturhöhe und darüber hinaus einem erhabenen Ziele zu, das m a n nur ahnungsweis nennen kann" (DSch 39). Hirsch hat die evolutionistische Geschichtsansicht exemplarisch am Fall der Völkerpsychologie W. Wundts 5 0 kritisiert, da er in ihr deren ausge50

Vgl. DSch 39.42-44.

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Geschichtsmethodologische Grundlagen

reifteste Gestalt erblickte. Seine Einwände zielen auf die Überschreitung des Bereichs der eigentlichen Geschichte zum Zwecke der Konstruktion des Geschichtsganzen, die Abhängigkeit des Zielgedankens der geschichtlichen Entwicklung vom Kulturideal der je eigenen Zeit und die in der Herabwürdigung der einzelnen Epochen zu bloßen Durchgangsstationen enthaltene Mißachtung vergangenen individuell bestimmten Lebens. Außerd e m beruht jede evolutionistische Geschichtskonstruktion auf einer Vermengung von Fortschrittsgedanken und Entwicklungsbegriff. "Fortschritt kann nichts heißen als fortschreitende Rationalisierung und Kultivierung .... Entwicklung dagegen setzt ein an Spannungen reiches und durch Gegensätze und Krisen hindurchgehendes Werden" (DSch 38). Das tragende Argument der Kritik am Fortschrittsgedanken ist für Hirsch der Sachverhalt der Endlichkeit allen individuellen Lebens. Jedes vereinzelte Vorkommen von Leben ist "ein Begrenztes, seine Möglichkeiten werden mithin einmal ausgelebt und seine Entwicklung damit an ihr inneres Ende gekommen sein" (DSch 44). Und dies gilt in ähnlicher Form auch für die Menschheit als Gattung: "alle Fülle von Lebensmannigfaltigkeit des großen Ganzen kann nicht darüber täuschen, daß auch die Menschheit einmal ihre Lebensmöglichkeiten ausgegeben haben muß" (DSch 49). Hirschs Folgerung aus dieser Kritik am Evolutionismus besteht in der Einsicht, daß "die Geschichte nicht der Ort absoluten Lebens ist" (DSch 48). Damit ist der Gesichtspunkt erreicht, der Hirsch dazu veranlaßt hat, sein metaphysisches Geschichtsverständnis religiös bzw. theologisch zu untermauern. "Alle geschichtliche Wirklichkeit hat allein dadurch Gehalt und Leben, daß in sie hinein geheimnisvoll ein Ubergeschichtliches geschlungen ist" (DSch 16). Das substantielle Prinzip der Geschichte ist die "Beziehung unsers Willens und Lebens auf ein Letztes, Unbedingtes" (DSch 41). Der oberste Grundsatz der Geschichtsauffassung Hirschs lautet darum: "Menschheitsgeschichte und Gottesgedanke gehören notwendig zusammen" (DSch 14). Alle Geschichtserkenntnis ruht auf einer geheimen religiösen Voraussetzung: "die Menschheitsgeschichte kann, im ganzen wie im einzelnen, nur von dem verstanden werden, der ihren metaphysischen Kern und ihre religiöse Beziehung sieht" (ebd.). Hirsch hat sein Verständnis von Geschichte und Geschichtserkenntnis auf den Begriff einer "theistischen Geschichtsansicht" (DSch 35) gebracht. Er wollte es damit abgegrenzt wissen nicht nur von der skeptischen Geschichtsauffassung eines Nietzsche 51 oder Spengler 5 2 , sondern auch von der spekulativen Geschichtsphilosophie Hegels 53 . 51 52 53

Vgl. DSch 10-16. Vgl. DSch 11-14. Vgl. DSch 21-24.

Hirsch und die klassische Historik

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Fragt man, welcher Tradition Hirschs Geschichtsdenken am nächsten steht, dann kommt in der Tat vor allem die Geschichtstheologie Rankes in Frage. Wesentliche Momente des Rankeschen Geschichtsverständnisses bestimmen über weite Strecken Hirschs frühe Entfaltung seiner theistischen Geschichtsansicht: die Bejahung des Entwicklungsgedankens, die Kritik am Fortschrittsgedanken, die Begrenztheit des eigentlichen Bereiches der Geschichte, die Überzeugung vom Eigenwert einer jeden Epoche sowie die Ablehnung allgemeiner Ideen als Zielbestimmung der Geschichte, die Unmittelbarkeit alles geschichtlichen Lebens zu Gott, der religiös-metaphysische Ansatz des Geschichtsverständnisses und schließlich die Uberzeugung vom religiösen Charakter des Geschichtserkennens. So wird m a n festhalten können, daß es die Geschichtstheologie Rankes war, welche für Hirschs theistische Geschichtsauffassung die Grundorientierung abgegeben hat.

b) Die Rezeption der Geschichtshermeneutik Droysens Hirschs Orientierung am methodischen Ideal der Historiographie des 19. J a h r h u n d e r t s erschöpft sich nun keineswegs in den gerade aufgewiesenen Anknüpfungen an die Geschichtsauffassung Rankes. Hirsch weist darauf hin - und zwar sachlich zustimmend - , "daß unsre klassischen deutschen Historiker ... das geschichtliche Leben der Menschheit gern als die 'sittliche Welt' bezeichnet haben" (ICh 20). Wir hatten oben gesehen, daß der Begriff der sittlichen Welt zu den tragenden Prinzipien der "Historik" Droysens gehört, und daß er in engem Zusammenhang steht mit Droysens Korrektur der religiös-metaphysischen Grundlagen der Rankeschen Geschichtsschreibung. So liegt es nahe zu fragen, wie Hirsch sich zur "Historik" Droysens verhalten hat, ob er insbesondere dessen Kritik an Ranke geteilt hat. Hirsch hebt die Verwandtschaft zwischen der idealistischen Geschichtsphilosophie und der eigentümliche Verschränkung von Universal- und Individualaspekt in der Geschichtsschreibung Rankes hervor. "Einen Satz wie diesen 'Auch die Staaten sind Produkte eines schöpferischen Genius' h ä t t e Ranke ohne den Vorgang Fichtes und Hegels nicht schreiben können" (ICh 56). Das dieser Konzeption zugrundeliegende theistische Geschichtsverständnis findet - wie wir gesehen haben - Hirschs prinzipielle Zustimmung, nicht aber die darin zum Tragen kommenden Rankeschen Vorstellungen vom Genius als geistiger Urproduktivität und von der Gottunmittelbarkeit von Geschichtsepochen als solchen. Was zunächst Rankes von Fichte überkommenen Geniusbegriff betrifft, so bestreitet Hirsch die Möglichkeit eines subjekthaften schöpfe-

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Geschichtsmethodologische Grundlagen

rischen Prinzips der Geschichte von reiner überindividueller Geistigkeit. "Die Geschichte ist an jedem Punkte durchsetzt mit persönlichen Entscheidungen" (ICh 22). Weil Geschichtlichkeit in der lebendigen Verantwortlichkeit und wagenden Tathaftigkeit des individuellen Willens ihren ethischen Ursprung hat, darum kann allein "die unergründbare Freiheit der lebendigen Personen als Trägerin des geschichtlichen Schaffens" betrachtet werden. Dies hat auch eine Abwandlung des Geniusbegriffs zur Folge: "nicht eine geistige Kraft, sondern das große, den Menschen wie ohne sein Wollen verzehrende angespannte persönliche Entscheidungswollen auf ein Bestimmtes hin macht den Genius aus" (ICh 23). Ganz ähnlich ist auch Hirschs Kritik an Rankes Verständnis der Gottunmittelbarkeit von Geschichtsepochen gelagert. Hirsch bestreitet nicht, daß der Eigenwert einer Epoche letztlich nie aus deren Bestimmtheit durch den Geschichtszusammenhang, sondern allein aus ihrer Bezogenheit auf das Ewige, Göttliche begründet werden kann. Anders als Ranke sieht er darin jedoch kein unmittelbares Verhältnis: "Diese 'Unmittelbarkeit der Geschichte unter göttlicher Leitung' ... ist bedingt durch ihre Verwurzelung in der Unmittelbarkeit der vor Gott zu verantwortenden persönlichen Entscheidung" (ebd.). Ein unmittelbares Verhältnis zu Gott eignet allein dem individuellen Entscheidungsleben sich vor Gott verantwortlich wissender Subjekte, nicht jedoch Epocheneinheiten, nach denen die Völkergeschichte sich gliedert. Beide Kritikpunkte an Ranke zusammengefaßt besagen, daß für Hirsch "die in der lebendigen Person gehaltene Freiheit" (ebd.) sowohl den Ursprung aller geschichtlichen Bewegung als auch den Ort der Gottunmittelbarkeit aller Geschichte verkörpert. Mit Bezug auf diese Verankerung des Geschichtsverständnisses im Gedanken der individuellen, Gott verantwortlichen Freiheit konnte Hirsch von sich sagen, er könne seine Auffassung "auch in dem Satze Droysens ausdrücken, daß der Lebenspuls der geschichtlichen Bewegung die Freiheit sei" (ebd.) Der von Droysen für die Historiographie fruchtbar gemachte Begriff der sittlichen Welt besagt in diesem Zusammenhang für Hirsch darum nichts anderes, als daß "man die ganze Welt menschlicher Schöpfungen irgendwie im Entscheidungsleben des Willens verankert weiß" (ICh 20). Man wird also zunächst festhalten können, daß Hirsch sich die einschlägige Kritik Droysens an Ranke voll und ganz zu eigen gemacht hat: Nicht die welthistorischen Staaten in der Gottunmittelbarkeit ihrer in sich gleichwertigen Epochenverfaßtheit, sondern das Gott verantwortliche Gewissen des individuellen Handlungssubjektes ist der letzte Träger aller geschichtlichen Bewegung. Eine Option zugunsten Droysens gegen Ranke mußte Hirsch gerade an dieser Stelle besonders leicht fallen, weil Droysens Freiheitsverständnis selber in einem Gewissensbegriff fundiert war,

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der mit Hirschs Luther-Rezeption nahezu reibungslos in Verbindung zu bringen war. Die Rezeption jenes Einwandes war für Hirsch auch deshalb unproblematisch, weil sie keine Absage, sondern nur eine Modifikation des theistischen Geschichtsverständnisses, welches Hirsch mit Ranke verband, bedeutete. Hirsch hat deshalb auch ohne weiteres Droysens Bekenntnis z u m religiösen Moment in allem Verstehen von Geschichte - samt dem darin enthaltenen Verweis auf die überschwengliche Totalität der geschichtlichen Welt - aufnehmen können (vgl. ICh 28). Aber Hirschs Droysen-Rezeption beschränkt sich keineswegs auf den genannten P u n k t . Wir hatten oben gesehen, daß Droysen den der historischen Schule zugrundeliegenden Begriff der historischen Tatsache und im Zusammenhang damit das von ihr praktizierte Verfahren der Quellenkritik als hermeneutisch unzureichend aufgedeckt hat. In beiderlei Hinsicht konnte Droysen zeigen, daß das Verhältnis zur Geschichte nicht einem unmittelbaren Wahrnehmungsvorgang gleichkommt, sondern neben rezeptiven auch spontane, selbstbezügliche Bewußtseinsfunktionen einschließt. Ganz im Umkreis dieser Überlegungen Droysens bewegen sich auch Hirschs Gedanken zur kognitiven Struktur von Geschichtlichkeit. Bewußtsein ist für Hirsch wesentlich gekennzeichnet durch "Reflexion". Das besagt: Bewußtsein "kann sich zuschauen bei seinem eigenen Tun". Diese für alle Gestalten der "Lebendigkeit des Menschengeists"(DSch 25) signifikante Reflexionsstruktur ist nun insbesondere für die Erfahrung der Geschichtlichkeit des Geistes, d.h. für dessen Verhältnis zur eigenen Genesis von Bedeutung. Die Funktion der Reflexion, ganz allgemein betrachtet, ist eine zwiefache: "Ein Erlebnis, ein Eindruck, auf die sie sich energisch richtet, werden damit zu einer bestimmten Gestalt verfestigt". Damit wird zugleich eben jenes Erlebnis oder jener Eindruck "als besondere Gestalt aus dem Strom unsers inneren Lebens hervorgehoben" (DSch 25). Auf die kognitive Struktur der Geschichtlichkeit des Geistes angewandt, besagt dies: "Reflektieren heißt festhalten, an sich ziehen, heißt sich eine Vergangenheit schaffen, von der man weiß und die die Macht hat, einen zu bestimmen" (ebd.). Nur auf der Basis dieser Selektions- und Fixierungsfunktion der Reflexion ist Erinnerung an Vergangenes möglich: "wir erinnern uns derjenigen Lebensmomente, die unter der Reflexion in geschlossene Bilder sich verwandelt haben" (ebd.). Vermöge des Aktes des Hervorhebens eines besonderen Datums aus der Mannigfaltigkeit des Bewußtseinsstroms tritt das reflektierende Bewußtsein in der Reflexion zugleich in einen Zustand, in dem es sich von sich selber unterscheidet. So "entspringt aus der Reflexion ... erst die besonnene Freiheit von sich selbst" (DSch 25). Auf die kognitive Struktur der Geschichtlichkeit des Geistes angewandt, besagt dies: "Reflektieren heißt abstoßen, herauslösen, heißt ein Stück Leben in eine Vergangenheit um-

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schaffen, der wir betrachtend gegenübertreten" (ebd.). Nur auf der Basis dieser Selbstentzweiungsfunktion der Reflexion ist ein kritisches Verhältnis des Bewußtseins zu seiner eigenen Tätigkeit möglich. Die konstitutive Punktion der Reflexion für die Geschichtlichkeit des Geistes besteht also in zweierlei: formal ist das Verhältnis zur Geschichte ein selbstbezüglich verfaßtes, material ein "als Erinnerung und Kritik gestaltetes" (DSch 26). Die Selbstbezüglichkeit des sich als Geschichtlichkeit realisierenden menschlichen Geistes drückt sich in dessen "Reflexionsverhältnis zur Vergangenheit" aus. "Alle Geschichte, die des Einzelnen wie die des Ganzen, ruht auf dieser Eigentümlichkeit unsers Geistes". F ü r das praktische Selbstbewußtsein geschichtlichen Existierens bedeutet dies: "Eine Geschichte haben heißt eine Vergangenheit haben, zu der m a n zweideutig steht, die m a n teils nachahmend wiederholt ... teils kritisch umbildet" (DSch 26). Hirsch hat für das von ihm dargelegte und als methodisch wie inhaltlich grundlegend erachtete Verständnis von Geschichtlichkeit als Reflexionsverhältnis zur Vergangenheit weder Originalität beansprucht, noch hat er umgekehrt dessen problemgeschichtliche Herkunft näher bezeichnet. Es dürfte allerdings kaum Widerspruch hervorrufen, darin eine Übernahme Droysenscher Gedanken zu erblicken, und zwar genau der Argumente, die Droysen insbesondere gegen die Kritische Schule geltend gemacht hatte. Auch hier war für Hirsch die Aneignung nicht schwer, h a t t e doch Droysen selber seine Konzeption eines Reflexionsverhältnisses zur Vergangenheit bereits mit Mitteln der Fichteschen Philosophie entwickelt, so daß sie sich in Hirschs Fichte-Rezeption zwanglos einfügen konnte. Dies führt auf einen weiteren P u n k t der Ubereinstimmung Hirschs mit Droysens "Historik". Droysen h a t t e der Kritischen Schule vorgeworfen, daß sie infolge ihres Ubersehens der Reflexionsstruktur des historischen Bewußtseins zugleich den konstruktiven Charakter alles Verstehens von Geschichte verkannt habe. Droysen brachte dies auf die Formel, daß Geschichtserkennen sich nicht in der puren Darstellung der Quellen erschöpfe, sondern zu einem wesentlichen Bestandteil "Interpretation" sei. In genauer Entsprechung dazu schreibt Hirsch: "Wenn eine geschichtlich bedingte Uberlieferung mit Bezug auf die eigne Gegenwart verstanden werden soll, so bedarf es dazu der Interpretation" ( C h R I, 26). Hirsch selbst gibt eine förmliche Definition dessen, was er unter der historiographischen Interpretation von Denkmälern der Vergangenheit - speziell von Texten - versteht. "Interpretation ist die wissenschaftlich entwickelte Kunst, an einem geschichtlich geprägten Ausdruck in Begriff und Wort durchzudringen zu dem gemeinten Sinn, dem ursprünglichen geistigen Akt" (ebd.). Gerade Hirschs Ausrichtung der Interpretation auf den originären geistigen Akt, der einer historiographischen Quelle zugrunde liegt, zeigt, wie

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eng Hirsch Droysens Auffassung vom interpretatorischen Charakter historischen Verstehens verpflichtet ist. Am methodischen Verfahren geschichtswissenschaftlicher Interpretation unterscheidet Hirsch des näheren zwei Seiten: "a) sie gebraucht die geschichtliche Erkenntnis als Werkzeug zur Erschließung des Sinns, und zwar geschichtliche Erkenntnis, die das Werden des zu Interpretierenden nach seinen inneren Bedingungen der Entstehung erforscht, b) sie sucht sich mit Hilfe der geschichtlichen Beobachtung einzufühlen, die Seele und den Geist des, der das interpretierte Objekt erzeugt hat, in sich nachzubilden" ( C h R I, 26). Bei dieser Beschreibung der beiden Momente historiographischer Interpretation - der Einbeziehung übergreifender Geschichtserkenntnisse in das Verstehen der immanenten Genesis eines quellenmäßig bezeugten Sachverhalts und der Vertiefung der historischen Wahrnehmung von Ausdrucksphänomenen vergangenen Lebens durch das eigene virtuelle Nacherleben - hat Hirsch offenkundig nicht nur den speziellen Vorgang der Quelleninterpretation, sondern die Interpretation von Ereignissen der Vergangenheit im hermeneutisch umfassenden Sinn vor Augen, wie sie schon Droysen und die nachfolgende geschichtsmethodologische Debatte thematisiert hatte. Eine Folgerung aus Droysens Hinweis auf den interpretatorischen Charakter historischen Verstehens verdient besonders hervorgehoben zu werden. Droysen hatte den Historiker ermahnt, bei aller Wertschätzung des Objektivitätsideals den aus der konstruktiven Komponente geschichtswissenschaftlicher Interpretation resultierenden subjektiven Charakter aller Historiographie nicht zu verdrängen und damit den Objektivitätsanspruch der Geschichtsschreibung nicht überzustrapazieren. Es bedeutet für Droysen keinen Widerspruch, wenn auch und gerade der den Quellen und deren methodisch korrekter Auswertung. verpflichtete Historiker der Subjektivität seines Verhältnisses zur Vergangenheit und damit aller Akte der Interpretation eingedenk bleibt. Diesen Gesichtspunkt hat sich Hirsch ebenfalls zu eigen gemacht: "Die Erkenntnis einzelner geschichtlicher Tatsachen geschieht nach klaren Grundsätzen und Kunstmitteln der Forschung, die erlernt und eingeübt werden können. Sie ist durch Standpunkt und Parteinahme, wenn es mit rechten Dingen zugeht, nicht bedingt und hat ihre Grenzen allein an dem vorhandenen Stoffe. Aber nur das, was greifbar in Raum und Zeit vor uns steht, das einzelne bestimmte Ereignis, kann so erkannt werden, ... Was eine Tatsache ... im Ganzen des Geschehens bedeutet, das läßt sich ... nicht mehr rein sachlich feststellen, es erschließt sich nur, soweit der Wille und Entscheidung und Geist des vergangenen Geschehens uns in unserm eignen Willen und Entscheidung und Geist lebendig gegenwärtig werden" ( W d T h 76; Hhg.i.O.).

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Damit tritt Hirsch in einen bewußten Gegensatz zu dem historiographischen Positivismus der zweiten Hälfte des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts. "Nicht die wahrhaft großen deutschen Geschichtsschreiber, wohl aber ihre Nachfahren im positivistischen Zeitalter haben die historische Objektivität dahin mißverstanden, daß sie wenigstens in der Geschichtsschreibung das Allbeherrschende und Endgültige sei, wenn m a n auch leider im wirklichen Leben über sie hinausgehen müsse, und daß sie der Geschichtsschreibung den Charakter strenger Wissenschaft verbürge" ( W d T h 79). Hirschs Auffassung zufolge verbinden sich in der Geschichtsschreibung intersubjektiv überprüfbare und rein subjektive Elemente: "Streng wissenschaftlich in der Geschichtsschreibung ist allein die Feststellung der greifbaren Einzeltatsachen in dem durch die Unterlagen ermöglichten Umfange. Das Erfassen des geschichtlichen Lebens nach Wille und Entscheidung und Geist geschieht in wissenschaftlich nicht streng zu bindender Vergegenwärtigung" ( W d T h 79f). Das einseitig propagierte Wissenschaftlichkeits- und Objektivitätsideal erweist sich als hermeneutisch kurzschlüssig. "Nur wer sich einem vergangenen Geschehen gegenüber entscheidet, ihm gegenüber eine klare Stellung einnimmt, wird ihm wirklich gerecht" ( W d T h 80). Geschichtsschreibung hebt an bei der Tatsachenermittlung. Aber darin erschöpft sie sich nicht, eben deshalb, weil "allein die Entschiedenheit einer letzten Stellungnahme die Erkenntnis und die Darstellung der Geschichte vollendet" (ebd.). Damit will Hirsch nicht einer nachträglichen Parteinahme - sei es moralisierender oder politisierender Art - das Wort reden, sondern dem Sachverhalt Rechnung tragen, daß vergangenes entscheidungshaftes Leben nur in eigener gegenwärtiger Entscheidungshaftigkeit verstanden werden kann, wobei solches Verstehen immer an die Rekonstruktion der Fakten angebunden bleiben muß. Deshalb fordert Hirsch, daß "solche letzte Entschiedenheit mit wissenschaftlicher Strenge in der Tatsachenermittlung und schauender, verstehender Hingabe ans Ganze des gegensatzreichen geschichtlichen Lebens verschwistert sein muß" ( W d T h 81). Mit der Anerkennung eines in der Entscheidungshaftigkeit des Verstehenden wurzelnden subjektiven Momentes des Geschichtserkennens ist der Ausgangspunkt aller historischen Arbeit beim Umgang mit den Quellen in keiner Weise in Frage gestellt: "wer der Erkenntnis des menschlichgeschichtlichen Lebens den Einsatz in der geistigen Haltung der Objektivität nehmen will, der zerstört das hingegebene Geöffnetsein zur verstehenden geschichtlichen Schau überhaupt" ( W d T h 79). Hirsch weiß auch, daß das Schema "Beginn bei den Quellen - Abschluß im subjektiven Verstehen" nur ein unzureichendes Modell ist. Eigentlich ist Geschichtserkennen immer beides zugleich, da es sich nur in einem lebendigen Gespräch

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mit der Vergangenheit vollzieht. "Und dies geschieht zugleich so, daß die Vergangenheit Fragen an uns richtet, und so, daß wir Fragen an die Vergangenheit richten" ( W d T h 76). Die Subjektivität des Geschichtserkennens liegt so gesehen in der Perspektivengebundenheit eines jeden solchen Gesprächs mit der Vergangenheit, welche sich in alternativen Möglichkeiten sowohl des Betroffenseins durch die Vergangenheit als auch des korrespondierenden Interesses an ihr äußert. "Wie wir solche Fragen hören und solche Fragen stellen, das verrät etwas über uns selbst, über den Gesichtswinkel unsers Geschichtsalters und unsers Geschichtsraumes sowie über den von uns selbst nach unsrer Stellung in unserm Geschichtsalter und in unserm Geschichtsraum" ( W d T h 76). Hirschs Stellungnahme zum Objektivitätsideal der Historie läßt sich dahingehend zusammenfassen, daß die Objektivität des Einzeltatsachenwissens, die Rezeptivität der Wahrnehmung sowie die Bereitschaft, sich durch die Vergangenheit fragen zu lassen, einerseits und die Subjektivität der den Sinnzusammenhang stiftenden Interpretation, die Entscheidungshaftigkeit der Stellungnahme sowie die Perspektivität des Interesses an der Vergangenheit andererseits sich keineswegs ausschließen, sondern vielmehr je auf ihre Weise dazu beitragen, vergangenes menschliches Handeln zu vergegenwärtigen. Wohl verstandene historische Objektivität ist mit der Subjektivität historischen Verstehens sehr wohl verträglich. Damit hat Hirsch einen der zentralen Einwände Droysens gegen die Kritische Schule auf seine Weise zur Geltung gebracht.

c) Die wissenschaftstheoretische Einordnung der Historie im Anschluß an Windelband und Rickert Uber die bereits genannten Motive hinaus wußte sich Hirsch der methodologischen Selbstreflexion der Geschichtsschreibung überhaupt verpflichtet, wie Droysen sie in seiner "Historik" exemplarisch durchgeführt hatte. Auch die spezifisch wissenschaftstheoretische Weiterführung dieses Problembereiches durch Dilthey, aber vor allem durch Windelband und Rickert spiegelt sich bei Hirsch deutlich wider. §48.A. des "Leitfadens" liest sich geradezu wie eine präzise Zusammenfassung des erreichten Diskussionsstandes. Hirschs eigene Einteilung der empirischen Wissenschaften folgt der grundlegenderen Unterscheidung dreier Formen des Wahrheitsbewußtseins bzw. dreier Erschlossenheitsmodi von Wahrheit, nämlich "Sachwahrheit" (Lf §48.Α.), "Sinnwahrheit mit sachlichen Bezügen" (ebd.) und "Gewissenswahrheit" (Lf §49.Α.). Die erste betrifft das Feld der Naturerkenntnis, die zweite den Bereich der Erkenntnis der menschlich-geschichtlichen

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Geschichtsmethodologische Grundlagen

Wirklichkeit und die dritte den Horizont der Selbsterkenntnis. Von letzterer können wir hier absehen. 5 4 Die Bestimmung der Naturerkenntnis ist orientiert an dem methodischen Begriff von Natur als eines "der Beobachtung und Messung von uns unterwerfbare[n]" (Lf §47.A.) Objektbereiches. Die "experimentelle Bewährtheit" sowie die "mathematisch ausdrückbare Bestimmtheit" (Lf §48.A.) stellen deshalb die beiden signifikanten Eigenschaften von Naturerkenntnis dar. Hirsch hat in seinen Begriff der Sachwahrheit genau diejenigen Merkmale aufgenommen, die für die neuzeitliche Naturwissenschaft in der Tat charakteristisch sind, nämlich zum einen die mathematische Darstellbarkeit von Erfahrung in Form der Fixierung von Meßergebnissen und Gesetzmäßigkeiten, zum anderen die künstliche Erzeugbarkeit von Erfahrung durch das Experiment zum Zwecke der Maximierung der Exaktheit bereits erzielter Meßergebnisse oder der Auffindung neuer Gesetzmäßigkeiten. Natur "wird von uns erkannt, indem wir sie auf Grund planvoller Beobachtung und Messung mit Hilfe von Schematen ... als einen Inbegriff geordneter Zusammenhänge zu überschauen und erklären versuchen" (Lf §47.Α.). Naturerkenntnis ist somit diejenige Art von Erkenntnis, derzufolge Wirklichkeit durch die spezifische kognitive Operation des Erklärens erschlossen wird. Ganz anders liegen die Dinge im Falle der Erkenntnis der menschlich-geschichtlichen Wirklichkeit. Diese "hat weder die mathematisch ausdrückbare Bestimmtheit noch die experimentelle Bewährtheit, die der Naturerkenntnis eigen sind. Sie erschließt sich allein dem Verstehen von innen her, aus eigner menschlich-geschichtlicher Lebendigkeit heraus; die der Feststellung und Beobachtung zugänglichen tatsächlichen Elemente und Zusammenhänge enthüllen erst in solchem Verstehen ihren Sinn" (Lf §48.Α.). Die spezifische kognitive Operation der Geschichtserkenntnis ist das Verstehen. Weil geschichtliche Wirklichkeit nur vermittelst innerer Beteiligung des epistemischen Subjekts am Sinn der ihm zur Erkenntnis aufgegebenen Geschehnisse als geschichtliche zugänglich wird, ist das Verstehen von Geschichte über die Kenntnisnahme der Fakten hinaus immer auch ein Miterleben und Nacherleben der in diesen Fakten repräsentierten Erlebnisinhalte vergangenen menschlichen Lebens. Die Geschichtswissenschaft ist die "Kunst des nacherlebenden Verstehens" (N 34), Geschichtsschreibung ist "anschauende Vergegenwärtigung des Vergangenen nach den Gesetzen verstehenden Miterlebens" (N 33). 55 54 55

Vgl. dazu unten Kap. IV.B.4. Hirsch hat mit Droysen den Ermöglichungsgrund historischen Verstehens und Nacherlebens in der Strukturisomorphie der ethischen Subjektivität erblickt, nicht wie Dilthey in der des vorreflexiven Gefühls. Er konnte sich darum auch Diltheys Begriff der Einfühlung nur unter diesem Vorbehalt zu eigen machen.

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Betrachtet man das Verhältnis von Natur- und Geschichtserkenntnis, so ist unschwer zu erkennen, daß es sich hier um die ursprünglich bereits von Droysen namhaft gemachte und dann von Dilthey nach Voraussetzungen und Reichweite detailliert entfaltete Unterscheidung von Erklären und Verstehen handelt. 5 6 Hirsch vermag sie so in seine wissenschaftstheoretische Ortsbestimmung des Geschichtserkennens zu integrieren, daß sie mit der wahrheitstheoretischen Grundlegung des Gesamtaufrisses mühelos zur Konvergenz gelangt und zugleich als deren methodologische Näherbestimmung fungiert. Damit ist Hirschs wissenschaftstheoretische Einordnung der Geschichtsschreibung aber noch keineswegs ans Ende gelangt. Bereits in den frühen geschichtsphilosophischen Überlegungen von 1920 weist Hirsch darauf hin, daß "die Historie, wie seit Rickert jedermann weiß, es wesentlich mit dem Individuellen" (DSch 30) zu tun hat. Er erläutert diese These folgendermaßen: "Jede geschichtliche Erscheinung ist eine Verknüpfung der allerverschiedenartigsten Elemente, eine Verknotung so nur in ihr und nirgend woanders zusammenstoßender Bedingungen. Diese ihre Besonderheit kann zweierlei enthalten. Entweder sie stellt eine zufällige, bedeutungslose Variation eines so ähnlich schon oft durchgespielten Themas dar. Dann reden wir von einem typischen Ereignis, einer typischen Persönlichkeit ... . Oder aber, gerade in ihrer Besonderheit liegt die eigentliche Bedeutung der Erscheinung. Dann reden wir von einer geschichtlichen Individualität. ... Nur was irgendwie in den Zusammenhang eines höheren individuellen Lebensprozesses eingegangen ist, ist wahrhaft geschichtlich. Das Typische geht den Geschichtsforscher nur dort etwas an, wo es als abhebende Begrenzung oder ... Umgebung für das Verständnis eines Individuellen mittelbar wichtig ist" (DSch 29f). Geschichtsschreibung will "Abbild eines einmaligen wirklichen Lebenszusammenhangs" sein, und nicht etwa ein "mögliches Schema typischer Vorgänge" (DSch 43). Die dem Geschichtserkennen eigentümliche Richtung auf das Individuelle ist nun keineswegs auf die Ermittlung von individuellen Ereignissen begrenzt, sondern betrifft auch deren Verknüpfung zu genetischen Reihen, wie sie in allem geschichtlichen Werden vorliegen. Auch der Geschichtszusammenhang "hat seine ihn bedingende Mitte nicht in dem Typischen und Wiederkehrenden, sondern in dem Einmaligen und Individuellen"; er wird darum "nicht in Gesetzesformeln erfaßt wie der Naturzusammenhang" (ChR I, 183). Wenn Hirsch das in der Geschichtsschreibung vorliegende, auf die Bestimmung des Einzelnen und Einmaligen ausgerichtete Erkennen nachdrücklich von der naturwissenschaftlichen Frage nach dem Typischen, All56

Vgl. dazu jetzt G.H. v. WRIGHT: Erklären und Verstehen.

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Geschichtsmethodologische Grundlagen

gemeinen, Gesetzmäßigen unterscheidet, dann hat dies weniger in einer Neigung zur romantisch-idealistischen Individualitätsmetaphysik seinen Ursprung als vielmehr in der Zustimmung zu denjenigen erkenntnistheoretisch-methodologischen Überlegungen, die Rickert - auf Windelband aufbauend - zu dem pointiert logischen Begriff des Historischen als des individuell Gewesenen geführt hatten.

2. D i e historische Quellenkritik im U n t e r s c h i e d zur Formgeschichte In seiner Rezension von Bultmanns Jesus-Buch verzichtet Hirsch ausdrücklich darauf, mit Bultmann grundsätzlich über dessen methodologische Voraussetzungen zu streiten, und begnügt sich stattdessen mit der Diagnose eines "kritischen Radikalismus" bzw. eines "historischen Skeptizismus" (BJ 309). Mit seinem späteren Beitrag zur Synoptikerforschung, der "Frühgeschichte des Evangeliums", hat Hirsch dann den methodischen und inhaltlichen Gegenentwurf zu Bultmanns "Geschichte der Synoptischen Tradition" vorgelegt und damit den Anspruch verbunden, den bei Bultmann konstatierten historischen Skeptizismus zu überwinden. Während die frühe Bultmann-Kritik noch einen Autor traf, der "auch innerhalb der neutestamentlichen Wissenschaft ziemlich einsam steht" (ebd.), 5 7 sieht sich Hirsch 1941/42 einer bereits etablierten, breiten neutestamentlichen Forschungsrichtung gegenüber, für die die formgeschichtliche Fragestellung den methodischen Leitgesichtspunkt der Synoptikerexegese abgibt. Hirsch erblickt in der Formgeschichte geradezu das "zwangsläufige Ergebnis einer falschen Fragestellung" ( F V F E 109). Sofern sie meint, auf dem Wege der Beobachtung von literarischen Gattungen einen historischen Überlieferungsprozeß rekonstruieren zu können - der dann über den historischen Jesus allerdings kaum mehr ein Urteil erlaubt hält Hirsch die Formgeschichte samt dem daraus resultierenden historischen Skeptizismus für ein Mißverständnis hinsichtlich Funktion und Methode historischer Quellenkritik. Wir müssen deshalb zunächst nach Hirschs Verständnis der Aufgabe historischer Quellenkritik fragen, sodann nach dem daraus resultierenden Verständnis synoptischer Literarkritik, u m schließlich auf die Überprüfung der Triftigkeit der gegen die Formgeschichte erhobenen Einwände zurückzukommen. 57

Zum Herauslösungsprozeß Bultmanns aus der religionsgeschichtlichen Schule vgl. die Darstellung von W. S T E G E M A N N : Der Denkweg Rudolf Bultmanns, 22ff.

Quellenkritik und Formgeschichte

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a) Die Funktion der Quellenkritik Die Notwendigkeit der historischen Kritik ist für Hirsch begründet in der spezifischen Art des Wissens von vergangenen Ereignissen. "Wir haben von solchen Tatsachen Kenntnis durch Berichte, die entweder Augenzeugenberichte sind oder auf solche zurückgehn und die durch eine K e t t e der Uberlieferung hindurch Bestandteil unsrer gegenwärtigen Erfahrung werden" (GneTh III, 33). Wir wissen von der Geschichte nur, indem wir Denkmäler der Vergangenheit als Quellen der Erschließung vergangener Ereignisse befragen. Geschichtserkenntnis ist kein Wahrnehmungswissen im strengen Sinne des Wortes, auch wenn sie sich in den Kontext erinnerter Wahrnehmung, d.h. Erfahrung, bruchlos einfügt. Das historische Urteil ist immer vermittelte Erkenntnis, sofern es "allein auf einen an Hand der Erfahrung kritisch geprüften, also mittelbaren Glauben an Zeugnisse und Berichte andrer sich stützt und daher niemals die unmittelbar überzeugende Gewalt gegenwärtiger Erfahrung mit sich f ü h r t " (GneTh III, 34). Geschichtserkenntnis ist deshalb zwangsläufig von der Kontingenz der Beschaffenheit der Überlieferung abhängig. Dies setzt dem Maß ihrer Exaktheit von vornherein enge Grenzen. "Von einem sichern geschichtlichen Wissen kann m a n überhaupt nur reden, wo alle triftigen Gründe des Urteils in eine und die gleiche Richtung weisen" (ebd.). Die Sicherheit historischer Erkenntnis setzt somit das Verfahren einer sorgfältigen Uberprüfung und Beurteilung aller für die Erkenntnis eines vergangenen Ereignisses zur Verfügung stehenden Überlieferungsbestände voraus. Das geschichtliche Erkennen ist "seiner Art und Natur nach kritisch" (GneTh V, 31). Wissenschaftliche Geschichtserkenntnis hebt demnach mit methodischer Quellenkritik an. Die kritische Bewertung des Überlieferungswertes historischer Denkmäler bewegt sich, sei es explizit oder implizit, auf dem Boden der allgemeinen Erfahrung: der Aussagegehalt der Überlieferung wird geprüft und beurteilt "auf Grund unsrer Kenntnis und Erfahrung vom gewöhnlichen Lauf natürlich-menschlicher Dinge" (GneTh III, 33). Nicht erst die inhaltliche Nachzeichnung vergangener Ereignisse, sondern bereits die Quellenkritik erfolgt nach dem Grundsatz der Analogie. 5 8 Es ist Hirschs Meinung zufolge das Verdienst der dogmengeschichtlichen Arbeiten Ferdinand Christian Baurs zur Geschichte des Urchristentums, die methodische Quellenkritik in der neutestamentlichen Wissenschaft eingebürgert zu haben. "Sie führen das von der deutschen Geschichtswissenschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgebildete Verfahren der Quellenkritik in die Bibelwissenschaft ein, indem sie 58

Die Entdeckung des historiographischen Analogieprinzips schreibt Hirsch insbesondere David Hume zu (vgl. GneTh III, 32-34).

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Geschichtsmethodologische Grundlagen

die neutestamentlichen Schriften schlicht und selbstverständlich als selbst der Geschichte angehörende geschichtliche Urkunden behandeln" (GneTh V, 524). Mit dieser Würdigung der historisch-kritischen Leistung Baurs auf dem Felde der neutestamentlichen Wissenschaft ist aber zugleich gesagt, daß die methodische Quellenkritik selber eine Errungenschaft älteren Datums ist. Hirsch bewegt sich im Konsens der allgemein üblichen Auffassung, wenn er von der "kritischen Quellenauslegung und -benutzung" als der "großen Errungenschaft der Rankeschen Schule" (GneTh V, 424) spricht. Wenn m a n Hirschs literarkritischen Arbeiten zu den Synoptikern und z u m vierten Evangelium gerecht werden will, hat m a n zunächst einmal davon auszugehen, daß sie an dem von Ranke etablierten Verfahren der Quellenkritik orientiert sind und nur vor deren allgemeinerem Hintergrund, nämlich der spezifisch historischen Hermeneutik, verstanden werden können. Quellenkritik ist für Hirsch wie für Ranke nichts anderes als "Quellenanalyse und Nachrichtenbeurteilung" (GneTh V, 524). Die Beantwortung der Frage nach dem Uberlieferungswert von Quellen schließt also die Erledigung zweier Aufgaben in sich ein: "Sowohl die Überlieferungskette als auch das Verhältnis des ältesten erreichbaren, selbst des Augenzeugen-Berichts zum geschichtlichen Hergang selber m u ß von uns geprüft und beurteilt werden" (GneTh III, 33). 59 Was nun die Notwendigkeit der Uberprüfung der Überlieferungskette anbelangt, besteht zwischen Hirsch und der Formgeschichte kein Dissens. Anders liegen die Dinge im Fall der Einschätzung des zweiten Moments der Quellenkritik. Ein Verbot der historischen Rückfrage hinter das Kerygma, wie es Bultmann wiederholt ausgesprochen hat, ist für Hirsch nicht nur theologisch höchst fragwürdig, sondern es kommt auch der Preisgabe der zweiten elementaren Funktion der Quellenkritik gleich. Denn diese besteht in der Beurteilung des Überlieferungswertes der Quellen hinsichtlich der von ihnen mitgeteilten Ereignisse. Nach diesem zweiten Moment betrachtet, ist es für das Verfahren der Quellenkritik nach Hirsch schlechterdings konstitutiv, daß m a n "Unterschiede macht, sowohl zwischen den Berichten und dem wirklichen Hergang selber, als auch unter den Berichten nach dem Grade ihrer Treue" ( J C h H 10). Der quellenkritische Umgang mit der Jesus-Überlieferung impliziert die Aufgabe, hinter das Kerygma zurückzufragen, d.h. "dem neutestamentlichen Zeugnis gegenüber die Frage nach dem Verhältnis von Bericht und Hergang aufzuwerfen und wissenschaftlich-methodisch zu beantworten" (Lf § 10.B.). 59

Die Suche nach Augenzeugen-Berichten bezüglich eines Ereignisses gehört zu den selbstverständlichen Fragestellungen methodischer Quellenkritik und bedarf - unbeschadet des Ergebnisses - keiner ausdrücklichen Rechtfertigung; gegen E. HAENCHEN: Ein Augenzeugenbericht vom Leben Jesu?, 107.

Quellenkritik und Formgeschichte

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Wendet man das quellenkritische Schema Bericht/Hergang 6 0 auf die eigentliche Aufgabe der Historie an, die Hirsch ganz im Sinne Rankes versteht, dann bedeutet das Nachzeichnen eines Ereignisses, wie es eigentlich gewesen, nichts anderes als die quellenkritische "Rekonstruktion des geschichtlichen Hergangs" (SvE 188). Die eigentliche Schwierigkeit dieses Rekonstruktionsverfahrens besteht darin, daß der eigentliche Hergang immer nur in Vermittlungen gegeben ist. Die dem Historiker zunächst zugängliche "geschichtliche Realität ist nicht die in einem Zeugnis behauptete Geschichte, sondern die dies Zeugnis produzierende Geschichte" (ChR I, 33). Jede Rekonstruktion eines Herganges hat darum einzusetzen bei der geschichtlichen Realität des Berichtes bzw. des Berichtenden und dessen Art der Bezugnahme auf den in Frage stehenden Hergang. Als "ersten Grundsatz geschichtlicher Forschung" stellt Hirsch deshalb folgendes Postulat auf: "Bei der Deutung geschichtlicher Zeugnisse muß unweigerlich von dem ausgegangen werden, was dem Berichtenden selber als Inhalt und Zweck seines Berichtes gilt, und nur indem dies sein Verhältnis zu seinem Stoffe aus den ihn bestimmenden Erfahrungen und Antrieben begriffen wird, öffnet sich der Weg zu den Hergängen, die seinem Berichte zugrunde liegen" (GneTh V, 31). Das bedeutet: Quellenkritik ist bezüglich des Verhältnisses eines Berichtes zu dem von ihm dargestellten Hergang wesentlich Tendenzkritik, d.h. "von der geschichtlichen Tendenz der Quelle ausgehende Kritik" (GneTh V, 524). Dieses von Hirsch ganz allgemein charakterisierte Verfahren historischer Quellenkritik kommt nun auch in der quellenkritischen Analyse der Jesus-Uberlieferung zur Anwendung. Was zunächst die Unterscheidung von Bericht und Hergang betrifft, so gilt für alle urchristlichen Zeugnisse, daß sie "keine reine klare Abspiegelung von Jesus, seinem Wort und seiner Geschichte sind". Letztere "erscheinen in den Evangelien nur in vielfältig gebrochnen Lichtern und Bildern" ( F E II, 372). Jesus selber wird "gleichsam nur in den gebrochenen Strahlen sichtbar, welche von den ihn widerspiegelnden Seelen der ersten Gläubigen aufgefangen worden sind" (WrCh 95). Die Uberlieferung von ihm bietet nichts mehr als einen "Spiegelreflex" (WrCh 155) seines Wortes und seiner Geschichte. "Die ältesten Berichte selbst und die Gesichtspunkte, nach denen sie beurteilt und verstanden werden müssen, sind das letzte, unmittelbar greifbare Ergebnis" ( F E II, 374). Damit sind der geschichtlichen Rekonstruktion unüberschreitbare Grenzen gesetzt. "Den Sprung zum unmittelbaren Sichtbarmachen der Wirklichkeit, die in diesen ersten und ursprünglichen Berichten sich spiegelt, kann sie nicht tun" (ebd.).

60

Vgl. J. WELLHAUSEN: Einleitung in die drei ersten Evangelien 2 , 84.

230

Geschichtsmethodologische Grundlagen

Was Hirsch mit diesen methodischen Feststellungen geltend macht, darf als Allgemeingut neuzeitlicher Evangelienforschung gelten. Hervorhebenswert daran ist lediglich, daß es sich bei dem so beschriebenen Verfahren um generelle Gesichtspunkte historischer Quellenkritik handelt. Zur Überhöhung in ein Sonderproblem spezifisch neutestamentlicher Hermeneutik und Kritik besteht keinerlei Anlaß. Damit sind wir bei der tendenzkritischen Funktion der Quellenkritik. Wie bei jedem anderen Gegenstand historischer Forschung ist es auch mit Bezug auf die Jesus-Überlieferung möglich und notwendig, die Intentionen, Perspektiven und Interessen, denen die in den erhaltenen Zeugnissen vorhandenen Mitteilungen unterliegen, kritisch abzuwägen und so aus der Art dieser Berichte einen Zugang zu den in ihnen dargestellten Hergängen zu bahnen; "der einzige einsichtiger Nachprüfung offene Weg ist, das Ineinander von geschichtlichem Zeugnis, Legendenbildung und theologischkirchlicher Verformung der Überlieferung zu durchleuchten" ( F E II, 374). Das heißt methodisch: Die Quellenkritik erweist sich gerade dadurch, daß sie Tendenzkritik ist, als hermeneutisch produktiv, sofern sie nämlich wieder im Bild ausgedrückt - "von den gebrochnen Lichtern und Bildern der Evangelien den Weg zurücksucht zu der Wirklichkeit, die in ihnen und durch sie unserm Auge sich kund t u t " ( F E II, 372f). Diese Rekonstruktionsleistung erfüllt die Quellenkritik, indem sie als Literarkritik bzw. als "Literaranalyse" (FE II, 373) durchgeführt wird.

b) Die synoptische Literarkritik Die quellenkritische Funktion der Literaranalyse im Sinne der Prüfung und Beurteilung der Überlieferungskette besteht darin, daß sie "der Kombination und Bearbeitung der Vorlagen und Vorgestalten unsrer heutigen Evangelien nachgeht". Ihr unmittelbares Ziel dabei ist es, die Wandlungen in der Überlieferungskette "nach ihrer Bedingtheit durch Art und Gesichtsfeld des jeweiligen Schriftstellers zu durchklären". Dieses Ziel kann aber "ohne Wiederherstellung der Ausgangsfassung und etwaiger Mittelglieder nicht erreicht werden". Das bedeutet, daß die Literarkritik die Anzahl der Evangelien- oder Teilevangelienfassungen notwendigerweise "noch vermehrt". Aber die Analyse bleibt nun "nicht bei der Feststellung der verschiednen Fassungen stehen" ( F E II, 373). Sie "dringt in die Gesetze ein, unter denen die Wiedergabe und Weiterbildung der Berichte von Jesu Wort und Geschichte in den Anfangszeiten der christlichen Kirche bis hin zur Evangelienbildung gestanden hat" ( F E II, 373f). Die Auseinanderfächerung der Überlieferung ist demnach zugleich das "Herauspräparieren der vorhandnen geschichtlichen Struktur" ( F E II, 374) mit

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dem übergreifenden Ziel, "das Werden dieser verschiednen Fassungen im Zusammenhang zu begreifen". Die Literaranalyse ordnet die schriftlichen Uberlieferungsschichten "einem großen geschichtlichen Prozesse ein und gibt damit dem Urteil über Gestalt und Verhältnis der Berichte einen tragenden Grund" ( F E II, 373). Die erste Aufgabe der literarkritischen Erforschung der synoptischen Jesus-Überlieferung kann demnach so zusammengefaßt werden: Sie ist "Herausarbeitung einerseits der ersten und ursprünglichen Fassungen seines Worts und seiner Geschichte, anderseits der geschichtlichen Bedingungen, unter denen diese Fassungen jeweils zustande gekommen" ( F E II, 374). Worauf es Hirsch insbesondere ankommt, ist dies: "Echte Analyse deckt nicht nur einen literarischen Prozeß, sondern ein Stück christlicher Religions- und Theologiegeschichte auf" ( F E II, 373). Die Literarkritik der Jesus-Uberlieferung bleibt nicht bei der Beschreibung der synoptischen Quellenschichtung stehen, sondern bettet diese ein in die "Erkenntnis der Frühgeschichte des Evangeliums" (FE II, 372), welche sich im umfassenden Horizont der Kirchen- und Dogmengeschichtsschreibung der beiden ersten J a h r h u n d e r t e zu bewähren hat. Damit nimmt Hirsch ein Motiv der Dogmengeschichtsschreibung Ferdinand Christian Baurs auf. Dessen wichtigster Beitrag zur Entwicklung der neutestamentlichen Quellenkritik besteht für Hirsch in der Forderung nach Einbeziehung aller neutestamentlichen Uberlieferungsstränge in das kirchen- und dogmengeschichtliche Gesamtbild der Anfänge des Christentums: "jede urchristliche Schrift muß in die Geschichte des Urchristentums hineingestellt, zu den bestimmten in dieser Geschichte wirksamen Richtungen ins Verhältnis gesetzt und auf eine bestimmte in dieser Geschichte entstandne Lage bezogen werden" (GneTh V, 524). Allein aus dieser religionsgeschichtlichen Gesamtverortung der neutestamentlichen Zeugnisse lassen sich dann auch Maßstäbe der Tendenzkritik mit Bezug auf jedes einzelne von ihnen gewinnen; "die in den verschiednen urchristlichen Schriften enthaltnen Nachrichten über irgendein Tatsächliches sind stets von der geschichtlichen Stellung dieser Schrift her und ihren aus dieser sich ergebenden Urteilen und Zielen her zu beurteilen, niemals aber vereinzelt oder unter Absehen von der Gesamthaltung und Gesamtart dieser Schrift mit andern Nachrichten zu vergleichen" (ebd.). Aus diesen beiden von Baur aufgestellten methodischen Regeln neutestamentlicher Quellenkritik leitet Hirsch folgenden Grundsatz synoptischer Literarkritik ab: "sämtliche in der synoptischen Analyse angesetzten Vorgänge und Schriftwerke von der ersten evangelischen Erzählung bis hin zu unseren Evangelien müssen sich, und zwar in engem Zusammenhang mit der uns bekannten Geschichte der zwei bis drei ersten christlichen Generationen, zu einem in sich geschlossenen, historisch glaubhaften

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Prozesse der Evangelienbildung zusammenschließen lassen. Das Ziel und Ende der synoptischen Analyse darf nicht ein Haufe von Schriftwerken und Vorgängen sein, deren Zusammenordnung zum geschichtlichen Bilde und Einsenkung in die Realität der Geschichte dunkel und willkürlich ist. Es muß eine Frühgeschichte des Evangeliums erarbeitet werden, die mit den wesentlichen Momenten, Stufen, Bewegungen der ersten christlichen Kirchen- und Dogmengeschichte in klarem inneren Verhältnis steht" ( F V F E 11 Of). Man könnte diesen Forschungsgrundsatz bezeichnen als den der Konvergenz von literarischem und historischem Prozeß. Literarkritik an den Synoptikern ist für Hirsch nur in dem Maße einleuchtend, als das so gewonnene Bild der Uberlieferungskette sich restlos deckt mit dem historischen Gesamtbild der Epoche, in welche jener Üb erlieferungsprozeß fällt. Hirschs Schritt über Baur hinaus besteht darin, daß er dessen Postulat der Verschränkung von Quellenkritik und Religionsgeschichte auf jedes einzelne individuell bestimmte Glied derjenigen Uberlieferungskette, die sich aus literaranalytischen Gründen als quellenkritisch wahrscheinlichste ergeben hat, bezieht und so zeigt, "wie sich in der historischen Individualität [seil, der einzelnen Überlieferungsschichten] zufällige Momente mit notwendigen, lokale und personelle mit allgemeinen und ideellen zur Einheit des Lebens und Werdens durchdringen" ( F V F E 111). Der besondere Reiz von Hirschs Synoptikerforschung liegt nicht zuletzt darin, daß es ihr auf beeindruckende Weise gelingt, das individuelle historische und theologische Profil der einzelnen Quellenschichten prägnant darzustellen und zugleich in die Gesamtentwicklung des jungen Christent u m s weitschauend einzuordnen. 6 1 Rückblickend sagt Hirsch von seiner "Frühgeschichte des Evangeliums": "Es kam darauf an, jegliche sich in der Analyse erschließende Bildung in ihrer historischen Individualität so zu charakterisieren, daß sie als eine einmalige zufällige Wirklichkeit zu diesem Geschichtsprozesse mit allen seinen Momenten ein zu Ende definiertes Verhältnis gewann" ( F V F E 112). Das Gelingen des Nachweises einer solchen Entsprechung zwischen der individuellen Bestimmtheit einer Überlieferungsschicht und dem allgemeinen Gang der Entstehung des Christentums ist für Hirsch nicht bloß eine Zutat zur Literarkritik, sondern recht eigentlich das letzte Kriterium für die Plausibilität ihrer Ergebnisse. "Erst dann kann eine Analyse als gelungen gelten, wenn ihre Ergebnisse sich einer solchen nachverstehenden Interpretation durch den das geschichtliche Werden zeichnenden Historiker fügen" ( F V F E 112). Damit ergibt sich für Hirsch ein weiterer literarkritischer Forschungsgrundsatz: "nur eine am Bestand der drei synoptischen 61

Vgl. FE I, 188-213; FE II, 340-378.

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Evangelien bis ins Einzelne und Kleine durchgeführte Gesamtlösung kann ein wesentlicher Beitrag zur synoptischen Frage sein. An dem Nachweis, daß es innerhalb ihrer für jeden Abschnitt, jede Geschichte, jede Frage eine glaubhafte und einfache Erklärung gebe, hat sich eine Gesamtlösung als richtig zu bewähren. An der Einordnung in den Zusammenhang einer in sich folgerichtigen Gesamtanschauung gewinnt umgekehrt die Einzelbeobachtung und Einzelanalyse erst Wert und Gewicht" ( F V F E 107). Man könnte diesen zweiten Grundsatz bezeichnen als den der Konvergenz von Einzelerklärung und Gesamthypothese. Hält man sich jene Verschränkung von Quellenkritik und Religionsgeschichtsschreibung vor Augen, so ist klar, worin das methodische Postulat der "Wechselbestimmung des Ganzen und des Einzelnen" (ebd.) begründet ist. Die Synoptikeranalyse befindet sich bezüglich der von ihr untersuchten synoptischen Zeugnisse nicht nur in der logischen Position einer literarischen Hypothese dergestalt, daß sie sich als Gesamtdeutung am vollständigen Textmaterial zu bewähren hat und dabei von jedem Einzelstück jederzeit falsifiziert werden kann. Zugleich steht sie vielmehr auch ein für die Stimmigkeit des von ihr vorausgesetzten historischen Prozesses, d.h. für die Geschichte der synoptischen Überlieferung. Nicht nur ihr logischer Status als der einer literaturwissenschaftlichen Hypothese, sondern vor allem auch ihre Funktion als Geschichtsschreibung macht die Beziehbarkeit des ganzen auf das einzelne, des einzelnen auf das ganze notwendig. Synoptikerforschung ist nur so möglich, daß man "bei der Einzelanalyse den Gesamtprozeß der Evangelienbildung und beim Gesamtprozeß die Einzelanalysen im Auge behält" ( F E II, 374) und damit "an einzelnen Tatbeständen der Überlieferung die Frühgeschichte des Evangeliums zu erfassen und aus der Frühgeschichte des Evangeliums die einzelnen Tatbestände der Überlieferung zu durchleuchten fähig wird" ( F E II, 372). Auf der Basis der so rekonstruierten Geschichte der synoptischen Überlieferung ist es nach Hirsch durchaus möglich, "der Wirklichkeit Jesu und seinem Wort und seiner Geschichte mit eigenverantworteter Ursprünglichkeit zu begegnen" ( F E II, 373). Der literarische Befund macht es für Hirsch nun quellenkritisch zwingend, daß die Erfassung von Jesu Wort und Geschichte durch den ersten Erzähler (Mk I) die Grundlage aller Aussagen über die geschichtliche Wirklichkeit des Stifters der christlichen Religion zu bilden hat. "Es ist die einzige Erzählung von Jesus, die nicht durch Bedürfnis und Glaube der Gemeinde verfärbt und verwandelt worden ist. Auch sie ist gewiß von einem Glauben getragen, nämlich dem Glauben des ersten Zeugen, Petrus selbst, in seiner eben gebornen Unmittelbarkeit. Aber die Macht dieses Glaubens äußert sich in dem Einen, daß er die Erinnerung an das mit und bei Jesus Erlebte in heiliger Scheu vor ihm, so wie er war, zum Reden bringt" ( F E I, 209).

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Geschichtsmethodologische Grundlagen

Die Urmarkus-Überlieferung hat für Hirsch den Status eines Augenzeugenberichts. Dies erweist sich darin, "daß Mk I nirgends den Rahmen eines Erlebnisberichts sprengt, daß in diesem Bericht räumlich und zeitlich, stilistisch und sachlich alles ganz klar durch die Perspektive eines einzelnen bestimmten Menschen begrenzt ist, und daß nicht nur die einzelne Erzählung, sondern das Ganze nach seinem Zusammenhange von dem Gesetz des Erlebnisberichts beherrscht wird" ( F E I, 189). Es sind sonach ausschließlich quellenkritische Kriterien, welche Hirsch veranlassen, der ältesten Markusschicht den Charakter eines Augenzeugenberichts zuzubilligen. Man mag aus der Perspektive der weitgehend durch die formgeschichtliche Methode dominierten neutestamentlichen Forschungssituation dieses Ergebnis der "Frühgeschichte des Evangeliums" und überhaupt Hirschs Interesse an Augenzeugenberichten als längst überwundene Naivität abtun. Macht man sich jedoch die Zielbestimmung der Quellenkritik, wie sie die klassische Historik ausgebildet und die ältere Evangelienforschung zur Anwendung gebracht hat, klar, dann ist es in der Tat die bleibende Aufgabe der Quellenkritik, den Weg zu Augenzeugenberichten oder vergleichbar authentischem Informationsmaterial über einen geschichtlichen Hergang zurückzubahnen. Auch die größten Schwierigkeiten einer abschließenden Antwort können die Plausibilität dieser historischen Fragestellung nicht entkräften. Das durch Mk I gebotene Bild der geschichtlichen Wirklichkeit Jesu erweist sich auch für Hirsch allerdings in einem P u n k t als unzulänglich, nämlich darin, daß es keinen Eindruck vermittelt "von dem, was doch das Eigentümlichste und Bezauberndste an Jesus gewesen sein muß, von seinem Reden und Lehren" ( F E I, 210). Hier haben das lukanische Sondergut und das Spruchmaterial aus Q, tendenzkritisch ausgewertet, unersetzbaren Überlieferungswert. "Nimmt man diese drei Berichte zusammen und benutzt jeden von ihnen auf historisch strenge und einwandfreie Weise gemäß seiner Eigenart, stellt man dann endlich das Ganze auf den Boden der uns sehr gut bekannten Geschichte des palästinischen J u d e n t u m s zur Zeit Jesu, dann bleiben nur sehr wenige P u n k t e zurück, an denen Zweifel begründet und unüberwindlich ist" ( F E II, 377). Unter der Voraussetzung dieser Sicht des quellenkritischen Befundes der Jesus-Überlieferung ist es begreiflich, daß Hirsch den durch die Bultmannsche Fassung der formgeschichtlichen Methode propagierten und weithin wirksam gewordenen historischen Skeptizismus bezüglich der Erkennbarkeit der geschichtlichen Wirklichkeit Jesu nicht teilen kann. "Es ist neuerdings oft, teils jammernd, teils triumphierend, festgestellt worden, daß sich von Jesus eine Biographie im modernen Sinn nicht schreiben

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läßt. Das ist richtig, besagt aber für die Frage, ob anschauliche, klare und vollständige Erkenntnis von Jesus, seinem Wort und seiner Geschichte, möglich ist, wenig oder nichts" ( F E II, 378). Hirsch sieht die quellenkritischen Argumente, die für jenen Skeptizismus in der Regel vorgebracht werden, als sachlich nicht durchschlagend an. Was die methodische Grundhaltung anbelangt, so erblickt Hirsch den hier obwaltenden Fehler darin, daß man offensichtlich "an der mittleren und neueren Geschichte, die hauptsächlich in datierten Urkunden unmittelbar abgedrückte Ereignisse und Persönlichkeiten darstellt, sich einen völlig einseitigen Begriff von geschichtlicher Zuverlässigkeit gebildet hat" ( F E II, 377f). Solche methodischen Standards dürfen aber nicht verallgemeinert werden. "Anschaulichkeit, Klarheit und Vollständigkeit einer Erkenntnis sind zu messen an der Eigenart ihres Gegenstandes" ( F E II, 378). Es ist daher rein methodisch unzulässig, an Personen und Ereignisse der alten Geschichte mit Maßstäben geschichtlicher Verbürgtheit heranzugehen, die nur auf dem Gebiet der neueren Geschichte brauchbar sind. Berücksichtigt man diese Unterschiede der quellenkritischen Standards, dann tritt das religionsgeschichtliche Profil Jesu von Nazareth - so Hirschs Überzeugung - für jeden, der mit der alten Geschichte umzugehen weiß, "mit erschöpfender Deutlichkeit und mit der größten nur denkbaren Anschaulichkeit aus den Berichten über ihn entgegen .... Das heißt für den, der sich das Maß von der Sache bestimmen läßt: die Anschaulichkeit, Klarheit und Vollständigkeit der geschichtlichen Erkenntnis ist hier in der Tat gegeben" ( F E II, 378). Und der Autor der "Frühgeschichte des Evangeliums" merkt an: "Ich weiß keinen großen Religionsstifter sonst, bei dem wir auch nur annähernd in gleich günstiger Lage wären" ( F E II, 377). Die inhaltlichen Ergebnisse der Synoptikeranalyse Hirschs können hier nicht im einzelnen ausgebreitet werden. Die wichtigsten Verschiebungen gegenüber der traditionellen Zweiquellentheorie lassen sich, wie folgt, zusammenfassen: 1. Im Hinblick auf das Markusevangelium werden unterschieden a) der erste Erzähler (Mk I), b) die korrigierte und erweiterte Fassung des Berichts des ersten Erzählers (Mk II), c) die Verschmelzung von Mk I und Mk II - mit Einfügungen und Abänderungen - zu einem Text (Mark) durch einen Redaktor (R), d) das nachträgliche Eindringen von Glossen in den bereits fertiggestellten Text. 2. Die entscheidende Veränderung gegenüber der herkömmlichen Fassung der Zweiquellentheorie betrifft die über Mark hinausgehende gemeinsame Grundlage für M a t t h und Luk (Q). Sie wird erstens, und zwar im Anschluß an Eduard Schwartz (vgl. F V F E 109), nicht als reine Logiensammlung, sondern als vollständiges Evangelium mit überwiegendem

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Geschieht smethodologis che Grundlagen

Spruchmaterial bestimmt. "Es ist eins der Gebrechen der klassischen Gestalt der Zweiquellentheorie, daß sie Q als Rede- oder Spruchsammlung gefaßt und damit ein schriftstellerisches Genus erdichtet hat, das es im Urchristentum nicht gegeben hat" (FVFE 109). Zweitens wird Q als von anderen, durch Gemeindetheologie erheblich geprägten Vorlagen abhängig nachgewiesen. "Es muß mit dem Dogma der Evangelienforschung gebrochen werden, als ob der Nachweis der Herkunft aus Q gleich sei mit dem des Ursprungs in echter alter Überlieferung: das ist einfach nicht wahr. Aber mit Kritik benutzt ist Q nach Mk I unsre beste - und für das Wort Jesu eine unentbehrliche - Quelle der Erkenntnis Jesu und seines Worts" (FE II, 345). Mit dieser Feststellung der historischen Priorität auch des Redenmaterials der Markus-Überlieferung gegenüber Q teilt Hirsch das Urteil Wellhausens. Als Vorlagen von Q kommen für Hirsch neben M k l eine nicht mehr näher erkennbare Überlieferungsschicht (X) und insbesondere die im Anschluß an Eduard Meyer (vgl. FE I, 202) rekonstruierte Zwölferquelle (Zw) in Frage. Von Zw ist auch Mk II der Markusüberlieferungskette abhängig. 3. Das Lukasevangelium basiert auf Mk II, Q und Sondergut. 4. Das Matthäusevangelium ist gebildet aus Mark, Q und Sondergut. Luk und Matth haben also verschiedene Schichten der Markusüberlieferung benutzt. 5. Überall handelt es sich um schriftlich tradierte Vorlagen. Als eigentliche Schriftsteller greifbar sind aber nur der Redaktor von Mark und die Urheber von Luk und Matth. 62 c) Die Kritik der Formgeschichte Die formgeschichtliche Methode 63 hat - und darin liegt nach Auffassung Hirschs ihr methodologischer Grundfehler - nahezu vollständig vergessen, daß "der Historiker den Blick auf das Individuelle zu richten hat" (FVFE 109). Das Verfahren der literaturwissenschaftlichen Klassifikation 62

63

Zu Hirschs Synoptikerstudien vgl. G. LÜDEMANN: Emanuel Hirsch als Erforscher des frühen Christentums, 12-25; E. HAENCHEN: Frühgeschichte des Evangeliums; M. LEHMANN: Synoptische Quellenanalyse und die Frage nach dem historischen Jesus; vgl. dazu die kritische Besprechung von H. GERDES. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit Hirschs Evangelienforschung im Zusammenhang einer Wiederbelebung der literarkritischen Methode als Grundform historischer Quellenkritik steht noch aus. Einen Überblick über die wichtigsten Forschungsbeiträge vermittelt der Sammelband von F. HAHN (Hrsg.): Zur Formgeschichte des Evangeliums. Kritische Überlegungen zu ihrer Methodik finden sich bei D. LANGE: Historischer Jesus oder mythischer Christus, 306-312. Zu Hirschs eigener Sicht vgl. GdlF.

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und der literatursoziologischen Verortung der Überlieferung nach allgemeinen Schematen läßt es rein als solches gar nicht mehr zu, bei den solchermaßen herauspräparierten Traditionsschichten überhaupt noch so etwas wie "unableitbare ursprüngliche geschichtliche Wirklichkeit von unwiederholbar individuellem Gepräge" (ebd.) festzustellen. Eine "auf den Typus, die Form ausgehende Forschung" ( F V F E 108) hat schon allein aufgrund ihrer logischen Struktur nicht mehr den Charakter der Geschichtsschreibung. Hirschs Gesamturteil über den wissenschaftlichen Ertrag der formgeschichtlichen Forschung fällt deshalb überwiegend negativ aus. "Wir verdanken der Formgeschichte manche schöne Beobachtung über Stilformen der Erzählung. Sie hat aber dadurch schweren Schaden getan, daß sie die jüngere theologische Generation dem ehrfürchtigen Erschauen des individuellen historischen Gehalts, wie die klassische deutsche Historik es übte, entfremdet hat" ( F V F E 109; Hhg.v.Vf.). Demgegenüber beharrt Hirsch auf dem geschichtsmethodologischen Forschungsgrundssatz: "der Geschichtsforscher hat mit unbeirrbarem zähem Willen auf die Erkenntnis des individuellen historischen Gehalts sich zu richten und alle Fragen nach dem Typischen, dem Allgemeinen lediglich als den Blick schärfende Hilfen in der Erkenntnis des Individuell-Historischen anzusehn" ( F V F E 108). Für die synoptische Forschungspraxis ergibt sich daraus folgende Regel: "Das Sonderbare, Befremdende, aus dem Gesetz der Form und des Typus Herausfallende ist nicht von vornherein als störende Klitterung oder Vermengung aufzulösen, sondern vorerst einmal daraufhin anzusehn, ob es nicht Träger und Ausdruck eigenartigen vergangnen Lebens von unwiederholbarer Prägung sei" (ebd.). Es ist wichtig zu sehen - dies macht gerade auch das letzte Zitat deutlich daß Hirschs Kritik an der formgeschichtlichen Methode nicht geleitet ist von der Alternative: Priorität der schriftlichen oder Priorität der mündlichen Uberlieferung bzw. Vorrang der Literarkritik oder Vorrang der Analyse vorliterarischer Komplexe. Sie nimmt ihren Ausgangspunkt vielmehr bei der in der geschichtswissenschaftlichen Selbstreflexion insbesondere von Windelband und Rickert geltend gemachten Grundeinsicht, daß es die Historiographie aus rein erkenntnistheorethischen Gründen wesentlich mit der Beschreibung individueller Ereignisse zu tun hat. Hirschs Einwand gegen die formgeschichtliche Methode bringt lediglich diesen Grundsachverhalt historischer Hermeneutik zur Geltung. Die Formgeschichte des Evangeliums und die Geschichte der synoptischen Tradition sind aus geschichtsmethodologischen Gründen nicht das, was sie zu sein beanspruchen, nämlich eine Formgeschichte des Evangeliums bzw. eine Geschichte der synoptischen Tradition. Das literatursoziologisch typisierende Verfahren und das auf solche Gesetzmäßigkeiten gegründete Rückschlußverfahren haben rein für sich genommen überhaupt nichts gemein mit der

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geschichtlichen Rekonstruktion einer Überlieferungskette und der daraus erwachsenden Abstufung des Quellenwertes ihrer einzelnen Elemente. Von diesem historiographischen Verständnis synoptischer Quellenkritik her ergibt sich für Hirsch schließlich ein letzter Forschungsgrundsatz, daß nämlich "eine Lösung der synpotischen Frage ein völlig eindeutiges, folgerichtiges und individuell bestimmtes Bild sowohl von den verschiedenen schriftlichen Vorlagen und Vorgestalten unsrer synoptischen Evangelien als auch vom Verhalten der unsre synoptischen Evangelien gestaltenden Schriftsteller zu diesen Vorlagen und Vorgestalten bieten muß.... Er zwingt den Forscher dazu, in der Evangelienbildung allem andern voran den noch erkennbaren literarischen Prozeß klar herauszuarbeiten und den Rückgriff auf das flüchtige, jedem Belieben leicht sich fügende Element der mündlichen Überlieferung von Einzelgeschichten wirklich erst da zu vollziehen, wo jede literarische Erklärung versagt" ( F V F E 109f). Nur mit Bezug auf den Gebrauch schriftlicher Vorlagen ist für Hirsch ein kontrollierbares Bild der einzelnen Überlieferungsstationen und der redaktionellen Abschlußarbeit möglich. "Daß man den AllerweltsrückgrifF auf die mündliche Überlieferung dem Beobachten und Herausarbeiten der schriftstellerischen Vorgänge vorgezogen hat, ist nichts als Destruktion m ü h s a m begonnener und weit getriebener Forschungsarbeit gewesen. In dieser Hinsicht hat die Formgeschichte auf die jüngere Generation verderblich gewirkt" ( F V F E 110). Die Frage ist für Hirsch also nicht die, ob der literarischen Schicht eine ursprünglichere mündliche Tradition zugrunde liegt. Auf diesen Sachverhalt h a t t e bereits Wellhausen hingewiesen 64 , er wird auch von Hirsch selbstverständlich bejaht. Es geht vielmehr ausschließlich darum, in welchem Maße jene vorliterarische Phase der Überlieferung noch historisch überprüfbar, d.h. in einem methodologisch strengen Sinne von "historisch", zu rekonstruieren ist. 6 5 Genau hier liegen Hirschs Zweifel an der Leistungskraft der Formgeschichte. Deren Annahmen von literarischen Formen, vor allem bezüglich ihrer Zuordnung zu soziologischen Überlieferungsträgern und -orten hängen, kirchen- und dogmengeschichtlich allzu sehr in der Luft: "unsre Forschung rechnet vielfach mit literarischen Gattungen, die ganz allein zur Evangelienerklärung erfunden worden sind" ( F V F E 109). Muster an quellenanalytischer und historischer Überprüfbarkeit und damit Maßstab der Kritik der Formgeschichte bleiben für Hirsch 64 65

Vgl. J. WELLHAUSEN: Einleitung 2 , 32. Wellhausen rechnet auch bereits mit einer Formgeprägtheit der mündlichen Überlieferung (a.a.O. 38). Für die Beurteilung des historischen Quellenwertes der Jesus-Überlieferung stellte Wellhausen folgenden Grundsatz auf: "als Maß der Authentie seiner wirklichen W o r t e müssen wir ... den Grad der literarischen Bezeugung verwenden" (a.a.O. 77).

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deshalb die literarkritischen Arbeiten der "klassischen deutschen synoptischen Forschung ..., von deren Höhe wir im letzten Menschenalter bei allen fruchtbaren und schönen Beobachtungen und Entdeckungen im einzelnen Schritt u m Schritt herabgeglitten sind, dem Chaos entgegen". Mit seiner Frühgeschichte des Evangeliums will Hirsch, "angewidert von den mancherlei ... Gespenstern, die in der synoptischen Kritik herumflattern" ( F V F E 112), nichts anderes als den Anschluß an die ältere Evangelienforschung zurückgewinnen und dabei einige ihrer Aporien ein Stück weit der Klärung zuführen. 6 6 Faßt m a n die beiden Hauptkritikpunkte Hirschs an der Formgeschichte - insbesondere in der Fassung, die ihr durch Bultmann zuteil geworden ist - zusammen, so wird man sagen müssen, daß sie weder methodisch noch inhaltlich den Maßstäben genügt, welche an eine geschichtswissenschaftliche Disziplin als solche zu stellen sind. "Daß wir in der synoptischen Frage so viele Analytiker und so wenige Historiker haben, das ist einer der Notstände der historischen Forschung" ( F V F E 112). Man wird Hirsch jedenfalls bescheinigen müssen, gegenüber der formgeschichtlichen Schule methodologische Grundeinsichten der historischen Hermeneutik vorgebracht zu haben, wie sie von deren Vertretern ihrem prinzipiellen Gehalt nach niemals ernsthaft reflektiert worden sind. Die häufig wiederholte Versicherung, daß die Grenzen der literarkritischen Analyse - herkömmlicher Manier - erreicht seien, macht jedenfalls für sich allein wenig Sinn. Auch das spröde Nebeneinander von formgeschichtlicher Analyse in der neutestamentlichen Wissenschaft und historischer Arbeit in der Kirchen- und Dogmengeschichtsschreibung ist mit Bezug auf das Urchris t e n t u m und seine Literatur keine wissenschaftlich einleuchtende Form der Arbeitsteilung. Doch wenden wir uns dem Hauptpunkt von Hirschs Kritik an der Formgeschichte zu und fragen wir nach der Triftigkeit seines Einwandes. Ist der Vorwurf berechtigt, sie habe die historische Frage aus dem Auge verloren und sei stattdessen vorwiegend nur noch Literaturanalyse? Daß die Frage nach dem Verhältnis von literaturwissenschaftlicher Analyse und historischem Verstehen kein von außen herangetragenes Problem darstellt, zeigt die Auseinandersetzung innerhalb der formgeschichtlichen Schule. Die Diskussion kreiste von Anfang an um den Stellenwert und die Funktion des analytischen Verfahrens. Bultmann selber h a t t e sein eigenes formgeschichtliches Verfahren als "analytisch" bezeichnet und genau mit diesem Methodenmerkmal seine grundlegende Kritik an Dibelius verbunden.

66

Maßstab der Differenziertheit literarkritischer Analyse ist für Hirsch die Evangelienforschung von H.J. Holtzmann und J. Wellhausen - also das, was A. S C H W E I T ZER etwas despektierlich als "Synoptikermathematik" bezeichnete.

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Im Jahre 1919 veröffentlichte Martin Dibelius, unter Rückgriff auf ältere methodologische Überlegungen und methodisch relevante inhaltliche Forschungsergebnisse, sein für die wissenschaftliche Behandlung der synoptischen Evangelien bahnbrechendes Werk "Die Formgeschichte des Evangeliums", in dem zunächst nur die "Umrisse zu einer formgeschichtlichen Betrachtung der Evangelien" angedeutet werden, u m "die Betrachtungsweise als Ganzes der kritischen Debatte auszusetzen" (a.a.O. III). Diesen Entwurf hat Dibelius dann 1933 stark überarbeitet und erweitert. Eine zusammenfassende Erläuterung insbesondere der theologischen Bedeutung der formgeschichtlichen Methode hat Dibelius in einem erstmals 1935 in englischer Sprache veröffentlichten Beitrag vorgelegt. Dibelius charakterisiert die formgeschichtliche Methode durch drei Annahmen. Grundlegend ist die These von den sogenannten kleinen Einheiten, d.h. die Annahme, daß wir "kurze in sich abgeschlossene Berichte oder Perikopen" (Botsch. u. Gesch. I, 306) finden, wenn wir "die Tradition bis zu ihrem Ausgangspunkt zurückverfolgen" (ebd.). Hieran schließt sich die These von der Predigtbezogenheit der ältesten Uberlieferung an, d.h. die Annahme, daß "alles, was die frühe Tradition über Jesus berichtet, in engstem Zusammenhang mit der Predigt steht" (a.a.O. 307). Daran nun knüpft sich die These von der Erkennbarkeit der Erzählabsicht aus der Erzählform, d.h. die Annahme, daß es möglich sei, "die Intention der Geschichten aus ihrem Stil zu erkennen" (a.a.O. 312). Erst das Zusammenwirken dieser drei Annahmen, wie auch immer dies näher zu bestimmen ist, ermöglicht es Dibelius, ein klares, wissenschaftlich kontrollierbares Bild der Formgeschichte des Evangeliums zu gewinnen. Wir haben diese drei Annahmen, welche der synoptischen Arbeit von Dibelius zugrunde liegen, ganz bewußt bloß nebeneinandergestellt und uns des eigenen Urteils über deren Begründungsgefälle enthalten. In der Tat f ü h r t die Präzisierung des Begründungszusammenhanges der drei Thesen untereinander in nicht unerhebliche Schwierigkeiten, die mit deren epistemologisch uneindeutigem Status zusammenhängen. Es fällt auf, daß Dibelius' Annahmen weder rein inhaltlich noch rein methodisch gemeint sind, sondern inhaltliche und methodische Aspekte miteinander verbinden. So spricht Dibelius denn auch von "Hypothese[n] der formgeschichtlichen Methode" (a.a.O. 306f) bzw. von "Arbeitshypothesefn] der formgeschichtlichen Methode" (a.a.O. 312). Es handelt sich hier weder u m rein deskriptive Annahmen von Grundsachverhalten historischen oder literaturwissenschaftlichen Inhalts noch u m reine Verfahrensregeln historischer oder literaturwissenschaftlicher Forschungsarbeit, sondern u m ein Mittelding aus beidem, nämlich ein Erklärungsmodell mit heuristischer Funktion. Dementsprechend ist auch Dibelius' Bestimmung der Rangordnung seiner drei Grundannahmen auffallend vage. These I bezeichnet

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er zunächst als "die grundlegende" (a.a.O. 306), charakterisiert aber im nachhinein These III als "die in Wahrheit grundlegende" (a.a.O. 312). Daß hier nicht bloß eine begriffliche Unscharfe vorliegt, sondern eine auch andere Kombinationsmöglichkeiten zulassende konzeptionelle Undeutlichkeit, zeigt die schon früh vorgenommene Korrektur des Dibeliusschen Ansatzes durch Bultmann, die ihre Pointe gerade in einer Modifikation der Methode hat. Bultmanns Näherbestimmung seiner spezifischen Variante der formgeschichtlichen Fragestellung betrifft genau die aus der epistemologischen Vagheit der Grundannahmen von Dibelius sich ergebende unterschiedliche Zuordnungsmöglichkeit von methodischem und inhaltlichem Aspekt der Formgeschichte. Darüber ist sich Bultmann schon sehr früh klar gewesen, lange bevor er seinen eigenen, auch inhaltlich von Dibelius stark abweichenden Beitrag zur formgeschichtlichen Arbeit vorgelegt hat. Die methodischen und inhaltlichen Ubereinstimmungen brauchen hier nicht im einzelnen angeführt zu werden. Sie resultieren aus der beiden Forschern gemeinsamen Aufgabenstellung, die Dibelius darin erblickt, "Entstehung und Geschichte dieser Einzelstücke [seil, der kleinen Einheiten mündlicher oder schriftlicher Überlieferung] zu rekonstruieren" und somit "die Geschichte der vorliterarischen Uberlieferung aufzuhellen" (ThR NF 1, 187). Dieser Funktionsbestimmung stimmt Bultmann vorbehaltlos zu (vgl. Gesch. d. synop. Trad., 2. Aufl., 4). Die innovative Schubkraft zur Einlösung dieses Programms verleiht die von Bultmann schon gleich nach Erscheinen der ersten Auflage von Dibelius' "Formgeschichte" zum Ausdruck gebrachte Uberzeugung von der "Fruchtbarkeit der Betrachtungsweise des Verf." (ThLZ 44 (1919), 174). Auch Bultmanns inhaltliche Abweichungen von Dibelius hinsichtlich der Differenzierung der Gattungen und der sich daraus ergebenden Sicht des Überlieferungsprozesses brauchen hier nicht ausgeführt zu werden. Im folgenden wird es ausschließlich um Bultmanns formale Korrektur der formgeschichtlichen Betrachtungsweise gehen, um von dieser internen Debatte her Hirschs Einwände gegen diesen methodischen Ansatz als ganzen zu erhellen. Wir gehen die Reihe der diesbezüglich einschlägigen Äußerungen Bultmanns durch. In der 1919 erschienenen Dibelius-Rezension referiert Bultmann zunächst die von Dibelius explizierte Methode: " Er geht ... zuerst nicht analytisch, sondern konstruktiv vor" (a.a.O. 173), meldet genau daran aber - und zwar von den mit dieser Methode erzielten Forschungsergebnissen her - seine Kritik an: "Mir scheint: der konstruktive Ausgangspunkt führt den Verf. irre. Es wäre zunächst analytisch zu verfahren" (ebd.). Diese letzte Äußerung läßt vermuten, Bultmann plädiere durchaus für eine Anwendung beider Operationen, aber für die Umkehrung ihrer Reihenfolge, also für die Vorordnung des analytischen Verfahrens vor dem konstruktiven. In der 1921 erschienenen Erstauflage der "Geschichte der

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synoptischen Tradition" liest man nun aber - mit Bezug auf die Entstehungsgeschichte der Apophthegmata - erstaunlicherweise: "Nur darf m a n m.E. nicht konstruktiv verfahren, wie Dibelius es tut ... . Sondern m a n hat analytisch vorzugehen" (a.a.O. 4) - ein Satz, der, wie wir noch sehen werden, an gleicher Stelle in der 2. Auflage stillschweigend korrigiert wird. Es entsteht der Eindruck, als bildeten analytische und konstruktive Methode einen ausschließenden Gegensatz und nicht eine wechselseitige Ergänzung - wie Dibelius zeitlebens und nur die Reihenfolge umkehrend auch Bultmann 1919 noch optierte - und als propagiere Dibelius die eine, während er, Bultmann, deren Inadäquatheit wegen für die andere eintrete. In der Fas eher-Rezension von 1925 stimmt Bultmann der in dem rezensierten Buch vorgetragenen Kritik an der formgeschichtlichen Methode zumindest in einem zu: "Richtig erscheint mir die Kritik des konstruktiven Verfahrens von Dibelius, soweit dieser nicht aus der Analyse des gegebenen Materials, sondern aus vorausgesetzten Gemeindebedürfnissen die Begriffe und die Geschichte der Gattungen ableitet" (ThLZ 50 (1925), 314), verschärft dann aber seinen Einwand gegen die falsche Zuordnung beider Operationen, sofern er Dibelius "einseitig konstruktiv verfahren" (a.a.O. 317) sieht, und fügt hinzu: "Wir werden ... in der Regel nicht konstruktiv verfahren dürfen" (ebd.). Es ist nicht ganz deutlich, ob Bultmann hier das konstruktive Verfahren für die formgeschichtliche Arbeit generell ablehnt oder ob er in ihm lediglich ein Teilmoment der formgeschichtlichen Methode erblickt; letzteres würde bedeuten, daß er lediglich in Dibelius' Anwendung des konstruktiven Verfahrens eine einseitige Uberbetonung gegenüber dem zweiten, analytischen Teilmoment erblickt. Es war Dibelius selbst, der Bultmanns endgültige Zuordnung beider methodischen Operationen innerhalb der von beiden gemeinsam vertretenen Grundposition einer Klärung zugeführt hat. In der bereits herangezogenen Sammelrezension "Zur Formgeschichte der Evangelien" ( T h R N F 1 (1929), 185-216) schreibt Dibelius: "Bultmann hat bekanntlich auf die konstruktive Methode zur Begründung der Formgeschichte verzichtet und sich auf die Analyse der Uberlieferungsstücke beschränkt. Aber jener Verzicht ist doch nur ein scheinbarer. In Wirklichkeit macht Bultmann eine Anzahl von Voraussetzungen ... ; nur trägt er sie nicht ausdrücklich als Konstruktion vor" (a.a.O. 193f). Und Dibelius weist auf einige Inkonsistenzen hin, die bis heute zu den maßgeblichsten Gesichtspunkten nicht der Kritik an der formgeschichtlichen Methode überhaupt, wohl aber an Bultmanns Konzeption und Handhabung derselben gehören dürften. In der zweiten, neubearbeiteten und erweiterten Auflage der "Geschichte der synoptischen Tradition" von 1931 hat Bultmann daraufhin in einem eingeschobenen Teil der schon in der ersten Auflage der Rechenschaft von der Methode gewidmeten Einleitung sein methodologisches

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Verhältnis zu Dibelius abschließend präzisiert (vgl. a.a.O. 4 Z.16 - 7 Z.l). Bultmann bedient sich - in Analogie zur Struktur historischen Verstehens - der Zirkelmetapher, u m die interne Differenz in der Ausgestaltung des formgeschichtlichen Verfahrens zu rechtfertigen. "Es gibt keine Methode, um den notwendigen Wechsel und die gegenseitige Beziehung beider Betrachtungen zu regulieren oder auch vorzuschreiben, von wo aus der erste Ansatz gemacht werden soll. Wenn M. Dibelius die 'konstruktive Methode' befolgt, ... und wenn umgekehrt ich von der Analyse der Traditionsstücke ausgehe, so handelt es sich nicht um gegensätzliche, sondern u m einander ergänzende und korrigierende Arbeitsweisen" (a.a.O. 5f). Und im einleitenden Abschnitt des Apophthegmatakapitels, in dem in der ersten Auflage noch von einem schroffen Gegensatz beider Verfahrensarten und von der Inadäquatheit des Dibelius'schen Weges die Rede war, heißt es jetzt: "Konstruktion und Analyse müssen in Wechselbeziehung stehen" (a.a.O. 8). Bultmann bekennt sich ausdrücklich zu den ihm von Dibelius vorgeworfenen konstruktiven Elementen seines eigenen analytischen Verfahrens. Aufschlußreich ist Bultmanns Charakteristik dieser konstruktiven Komponente. Es "schwebt mir bei meinen Analysen ein freilich noch vorläufiges Bild von der urchristlichen Gemeinde und ihrer Geschichte vor, das seine Bestimmtheit und Gliederung eben durch die Untersuchung gewinnen muß" (a.a.O. 6). Diese Äußerung Bultmanns gibt einige Rätsel auf. Bultmann subsumiert - wie der Kontext zeigt - das "Vorschweben" dieses die Analyse des Traditionsstoffes leitenden Bildes von der die Überlieferung tragenden Gemeinde, das zugleich durch die Analyse seine Deutlichkeit erhalten soll, lediglich unter die wissenschaftlich nicht mehr zu erhellenden Reste, wie sie sich aus der zirkulären Struktur historischen Verstehens notwendig ergeben. Aber so allgemein h a t t e Dibelius seinen Konstruktivismusvorwurf gegenüber Bultmanns vermeintlich rein analytischem Verfahren gar nicht vorgebracht, sondern durchaus im Hinblick auf die materialen Fragen der synoptischen Überlieferung näher präzisiert. Dibelius denkt vor allem an Bultmanns "Voraussetzungen über die Produktion der Überlieferungsgattungen durch die Gemeinde ... . Er [seil. Bultmann] setzt voraus, daß es 'Gemeindedebatten' gab ...; aus diesen Debatten entstanden nach Bultmann die 'idealen Szenen' der Streit- und Schulgespräche ... . Es ist aber doch zu fragen, ob das hier vorausgesetzte Bild der Gemeinde viel Wahrscheinlichkeit für sich hat.... Denn wenn Schriftgelehrsamkeit und eine den rabbinischen Debatten vergleichbare Diskussion in den Gemeinden schon eine wesentliche Rolle gespielt hätte, so würden die Perikopen früher und regelmäßiger eine Form angenommen haben, wie sie ihnen vielfach im Matthäusevangelium eigen ist" ( T h R NF 1 (1929), 194).

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Wir b r a u c h e n hier nicht auf die im H i n t e r g r u n d stehende, auch schon in B u l t m a n n s Dibelius-Rezension angesprochene (vgl. T h L Z 15/16 (1919), 173f) Sachfrage der Triftigkeit und Reichweite der Dibelius'schen These von der Predigt als dem ursprünglichen Motiv der Jesus-Überlieferung einzugehen. Wichtig ist allein das methodische P r o b l e m . Dibelius diagnostiziert in B u l t m a n n s vermeintlich rein analytischem Verfahren die konstruktive K o m p o n e n t e an einem f ü r B u l t m a n n s G e s a m t p r o g r a m m schlechterdings zentralen P u n k t : B u l t m a n n muß, u m die d u r c h Klassifikation der Motive u n d A b s t r a k t i o n der formalen Gemeinsamkeiten gewonnenen literarischen F o r m e n gattungsmäßig identifizieren zu können, die Existenz von Gemeindesituationen ( G e m e i n d e d e b a t t e n ) voraussetzen, die a m Leitfaden des religionsgeschichtlichen Vergleichs (rabbinische D e b a t t e n ) gewonnen werden u n d d e m T y p u s nach auch d a r a n orientiert bleiben (ideale Szenen). Weniger die literarische Forschungsarbeit als vielmehr die historische Erklärungsleistung von B u l t m a n n s "Geschichte der synoptischen Tradition" wäre entscheidend relativiert, sollte sich die Dibelius'sche Kritik einer ungeklärten Abhängigkeit des überlieferungsgeschichtlichen Rekonstruktionsverfahrens von ungeklärten religionsgeschichtlichen P r ä m i s s e n e r h ä r t e n lassen. Der methodologisch entscheidende Differenzpunkt zwischen Dibelius' u n d B u l t m a n n s Fassung u n d H a n d h a b u n g der formgeschichtlichen Met h o d e d ü r f t e jedenfalls in der unterschiedlichen Bewußtheit hinsichtlich der Verschränkung von analytischer und konstruktiver K o m p o n e n t e u n d hinsichtlich ihres jeweiligen Beitrags z u m G e s a m t v e r f a h r e n zu suchen sein. B u l t m a n n h a t t e die beiden Vorgehensweisen zwar von Anfang an präzise auseinanderzuhalten gewußt, wenn er das k o n s t r u k t i v e Verfahren dahingehend b e s t i m m t , "aus ... Vorausgesetzen Gemeindebedürfnissen die Formen der Überlieferung ab[zu]leiten" (Gesch. d. synop. Trad., 1. Aufl., 4), u n d demgegenüber das von ihm bevorzugte analytische Verfahren darin erblickte, "aus d e m C h a r a k t e r der Überlieferungsstücke auf ... ihren E n t stehungs- u n d Pflegeort in der Gemeinde zu schließen" (ebd.). Die wechselseitige E r g ä n z u n g beider, worauf Dibelius von A n f a n g an aus guten G r ü n d e n Wert gelegt h a t t e , war ihm jedoch erst durch Dibelius u n d auch d a n n nicht in ihrer ganzen Tragweite aufgegangen. Angesichts dieser elem e n t a r e M e t h o d e n f r a g e n berührenden internen T h e o r i e d e b a t t e der formgeschichtlichen Schule ist es eigentlich erstaunlich, wie B u l t m a n n s "Geschichte der synoptischen Tradition" gerade in methodischer Hinsicht hat schulbildend wirken können. Eine historiographisch reflektierte Formulierung des formgeschichtlichen P r o g r a m m s hat B u l t m a n n niemals vorgelegt. A u c h die späteren, insbesondere die inhaltlichen Folgerungen hinsichtlich der Frage nach d e m historischen Jesus betreffenden K o r r e k t u r a n s t r e n g u n gen, wie sie in der Bultmann-Schule selbst vorgenommen wurden, h a b e n

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an jener methodischen Unklarheit in Bultmanns Handhabung der formgeschichtlichen Methode nicht gerüttelt. Bultmann stimmt mit Dibelius darin überein, daß im Sinne der formgeschichtlichen Fragestellung ein Zusammenhang besteht zwischen der historischen Erhellbarkeit eines Sachverhaltes und der historischen Erhellbarkeit der Tradition, die auf jenen Sachverhalt Bezug n i m m t . Bultmann meint genau diesen Zusammenhang, wenn er als "die entscheidende Frage" formuliert: "wie verhält sich die Wirksamkeit literarischer Formen zu dem Schwergewicht geschichtlicher Erinnerungen?" (ThLZ 52 (1927), 579). Aber im Gegensatz zu Dibelius, der die Feststellung des Erinnerungswertes zum Gegenstand eines von der Formenanalyse unabhängigen historischen Rekonstruktionsverfahrens macht, glaubt Bultmann, den Aufweis der "Wechselwirkung von Form und geschichtlicher Erinnerung" (a.a.O. 579) mit rein analytischen Mitteln zuwege zu bringen. Die Zweigleisigkeit des Dibelius'schen Verfahrens wird unterlaufen zugunsten der ausschließlich literarischen Formenrekonstruktion. So stellt Bultmann schon in der Dibelius-Rezension von 1919 den methodischen Grundsatz auf, "daß aus dem Vergleich der Überlieferungs-Schichten Mk und Q einerseits, Mt und Lk andrerseits auf gewisse Gesetze des Tradierens geschlossen werden könnte, mittels derer man dann auch auf eine noch frühere, vor Mk und Q liegende Stufe der Uberlieferung zurückschließen könnte" (ThLZ 44 (1919), 174). Bultmann führt diesen Forschungsgrundsatz dann 1921 in seiner "Geschichte der synoptischen Tradition" durch und rechtfertigt ihn später noch einmal ausdrücklich: "sind auch nur einige meiner Beobachtungen an M a t t h . , Luk. und späteren Quellen richtig, - wer gebietet dann halt, wenn man das hier Erkannte auf Mark, und Q anwendet, um die Vorgeschichte der Tradition zu erkennen?" (ThLZ 14 (1925), 316). Worauf doch wohl zu antworten wäre: ganz allein eine genauere methodische Selbstreflexion hinsichtlich der historiographischen Leistungskraft des formgeschichtlichen Verfahrens, wie sie bei Dibelius durchaus vorliegt. Bultmanns Zutrauen in das eigene, vermeintlich rein analytische Verfahren hat ihn stattdessen zu einer Radikalisierung seiner Forschungsmaxime gebracht, derzufolge das analytische Verfahren als solches - in ausdrücklichem Gegensatz zu Dibelius - "auch zu sachkritischen Urteilen (über Echtheit eines Wortes, Geschichtlichkeit eines Berichtes u. dergl.) führen muß" (Gesch. d. synop. Trad., 2. Aufl., 6). Es soll im folgenden keineswegs darum gehen, den literaturwissenschaftlichen Wert von Bultmanns "Geschichte der synoptischen Tradition" auch nur von ferne anzutasten; es kann sich vielmehr nur d a r u m handeln, die methodischen Voraussetzungen des analytischen Verfahrens nach möglichen historiographischen Konsequenzen zu befragen bzw. die

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überlieferungsgeschichtliche Reichweite der Verknüpfung von literaturwissenschaftlicher und gattungsgeschichtlicher Forschung, wie sie in Bultmanns "Geschichte der synoptischen Tradition" vorliegt, methodisch zu überprüfen. 1. Ausgangspunkt ist die Frage nach der Jesus-Uberlieferung als solcher: "Das besondere Interesse an den synoptischen Evangelien ist dadurch begründet, daß sie die wichtigste Quelle für das geschichtliche Leben und Wirken Jesu von Nazareth sind" (Erforschung 3). Andererseits aber gilt: Die synoptischen Evangelien sind historischer Kenntnis zufolge "als Dokumente des Gemeinde-Christentums zu nehmen und ... primär als solche zu verstehen.... Von den Texten als Dokumenten des GemeindeChristentums hat jedenfalls historische Interpretation ihren Ausgang zu nehmen, und wer hinter die Texte zum Leben Jesu zurückdringen will, hat den Beweis dafür zu erbringen" (ThLZ 50 (1925), 315). Die Synoptiker sind für die historische Forschung also zunächst Quellen für die Geschichte des Urchristentums und erst mittelbar Quellen für die Geschichte des Lebens und Wirkens Jesu von Nazareth. Dieser Befund besagt für sich allein aber nichts für die Frage, worauf sich das historische Interesse primär zu richten habe. 2. Zwar folgt aus jener historischen Beschaffenheit der Überlieferung eine Stufung ihres Quellenwertes bezüglich der Urchristentumsgeschichte einerseits und der Geschichte Jesu andererseits, nämlich zugunsten der ersteren. Wenn sich die Interpretation der Überlieferung deshalb zunächst auf die Erforschung der Geschichte des Urchristentums konzentriert, muß sie sich dieser - methodisch unumgänglichen - Verschiebung ihres historischen Interesses im Vergleich zur Ausgangsfrage gleichwohl bewußt bleiben; sie darf also darüber nicht ihren ursprünglichen Gegenstand gleichsam aus den Augen verlieren. Der Motivationsgrund der historischen Interpretation der Text-Dokumente des Urchristentums, das geschichtliche Interesse an Leben und Wirken Jesu von Nazareth, wird durch die Feststellung einer Stufenordnung im Quellenwert der Uberlieferung in gar keiner Weise außer Kraft gesetzt. Nur unter der Voraussetzung einer unbewußten Verschiebung des Gegenstandes des historischen Interesses auf das Urchristentum ist die Frage nach dem historischen Jesus ein seinerseits beweispflichtiges "Hinter-den-Text-Zurückdringen-Wollen". Das Ziel der ursprünglichen Fragestellung bleibt trotz der methodischen Not ihrer Beantwortung nicht weniger Ziel. 3. Das historiographische Problem des mittelbaren Quellenwertes der synoptischen Evangelien für Leben und Wirken Jesu von Nazareth empfängt seine radikale Verschärfung nun nicht etwa durch das Hinzutreten historischer Besonderheiten innerhalb der Geschichte des Urchristentums, sondern durch die Anwendung einer allgemeinen literaturwissen-

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schaftlichen These über die Genese von Volksliteratur speziell auf die Literatur des Urchristentums. 6 7 Diese Annahme besagt, "daß die Literatur, in der sich das Leben einer Gemeinschaft, also auch der urchristlichen Gemeinde, niederschlägt, aus ganz bestimmten Lebensäußerungen und Bedürfnissen dieser Gemeinschaft entspringt" (Gesch. d. synop. Trad., 2. Aufl., 4). Daß Bultmann in dieser literatursoziologischen Struktur des synoptischen Materials nicht nur eine weitere Brechung der Uberlieferungskette und damit seines Quellenwertes erblickt, sondern viel stärker als Dibelius die ideologiekritischen Momente jener wissenssoziologischen These durchschaut, erklärt die Radikalität seiner Skepsis ebensosehr wie die energische Konzentration auf das Ziel, hinsichtlich der Produktivität des Gemeindebedürfnisses zu letzten Ergebnissen zu gelangen. 4. Diese scheinbar unausweichliche historiographische Aporie wird nun selber gerade zum Vehikel ihrer eigenen Überwindung, indem von ihrer methodischen Ambivalenz positiv Gebrauch gemacht wird. Von jeder Volksliteratur und damit auch von der urchristlichen Überlieferung gilt einerseits, daß "sich die literarische Gestaltung (mündlich wie schriftlich) in ziemlich festen Formen bewegt, die ihre eigenen Stilgesetze haben" (Erforschung 14). Andererseits kann man "ihre Formen und Gattungen nur im Zusammenhang ... mit den im Leben der Gemeinde wirkenden Motiven verstehen" (Gesch. d. synop. Trad., 2. Aufl., 5). Von hier aus ergibt sich zwangsläufig die Aufgabe einer methodischen Verschränkung von literaturwissenschaftlicher und soziologischer Analyse, die das Verhältnis von kollektiven Überlieferungsträgern und literarischen Kleinformen zum Forschungsschwerpunkt hat. Mit der Verschiebung des Gegenstandes des historischen Interesses vollzieht sich also zugleich ein Wechsel von der historiographischen Aufgabenstellung zur literatursoziologischen. Rudolf Bultmanns "Geschichte der synoptischen Tradition" ist streng genommen keine Geschichte, sondern vielmehr eine Literatursoziologie der urchristlichen synoptischen Überlieferung. Als solche wird dieses Buch seinen ungeschmälerten Rang in der neutestamentlichen Forschung vermutlich auch dann behalten, wenn sein überlieferungsgeschichtlicher Aussagegehalt von der Forschung überholt sein wird. 67

Sie wurde 1923 erstmals entfaltet von K.L. SCHMIDT: Die Stellung der Evangelien in der allgemeinen Literaturgeschichte. Gerade die Allgemeinheit dieser G r u n d these h ä t t e aber in historigraphischer Hinsicht zu denken geben müssen: Gehören die Evangelien zur allgemeinen Klasse der "Kleinliteratur" (a.a.O. 76), der "kultische[n] Volksbücher oder auch volkstümliche[n] Kultbücher" (a.a.O. 124), also einer Literaturform, unter die sich Beispiele aus zwei J a h r t a u s e n d e n Literaturgeschichte subsumieren lassen (vgl. die von Schmidt angeführten Texte), dann ist mit einer auf Merkmale dieser Spezies ausgerichteten Literaturanalyse eben noch gar nichts ausgesagt über die individuierenden Bestimmungen des synoptischen Traditionsprozesses.

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5. Bultmanns eigene methodologischen Äußerungen bieten eine Bestätigung für die These vom Wechsel von der Historiographie zur Literatursoziologie des Urchristentums. Zunächst geht es Bultmann darum, "mittels der Analyse die Form des literarischen Objekts festzustellen ... , wobei der Blick auf den Inhalt einen Leitfaden abgibt" (ThLZ 50 (1925), 317). Die Analyse sondert die nach Motiven vage gegliederten Bestandteile des Textmaterials, vergleicht sie mit nach parallelen Motiven gleichartig gegliederten Bestandteilen der Überlieferung, abstrahiert sodann von den jeweiligen Unterschieden und klassifiziert schließlich die Formen. Die Formenanalyse bedient sich zunächst also rein philologischer Methoden und Mittel. Entscheidend ist nun, daß dabei vom Quellen wert der Dokumente, gleichgültig wofür diese als Quelle herangezogen werden können, vollständig abstrahiert wird. Ausschlaggebend ist hierbei nicht die Intention, sondern die logische Form des Verfahrens. Die Subsumtion unter einen Klassifikationsbegriff, sofern es nämlich "die 'Form' [ist], durch die ein Einzelstück einer G a t t u n g zugeordnet wird" (Gesch. d. synop. Trad., 2. Aufl., 4), bringt rein als solche die individuelle Bestimmtheit des Subsumierten zum Verschwinden. Damit aber verliert die Quelle zugleich den Charakter eines individuellen historischen Zeugnisses. 6. Wegen dieses vom historischen Quellenwert der Dokumente abstrahierenden Charakters der literarischen Formenanalyse müssen die so gewonnenen Formen auf sogenannte Gattungen bezogen werden, u m überhaupt in den Uberlieferungsprozeß eingeordnet werden zu können. Die G a t t u n g ist bestimmt als eine "historische Größe, deren Ausdruck eben die Form ist" (ThLZ 14 (1925), 317). Im Unterschied zur bloßen Form besitzt die G a t t u n g eine positive geschichtliche Valenz, nämlich durch ihren Sitz im Leben. Historiographisch entscheidend an jenem Übergang von den Formen zu den Gattungen ist also die Rückgewinnung einer geschichtlichen Dimension, von der durch die rein philologische Analyse gerade methodisch abstrahiert wurde. Weil aber die der geschichtliche Dimension einer G a t t u n g ganz in ihrem eigentümlichen Sitz im Leben aufgeht, d a r u m rückt nun die soziologische Ortsbestimmung der G a t t u n g in den Vordergrund: "Letztlich erkannt ist die G a t t u n g ... erst, wenn ihr 'Sitz im Leben' erkannt ist" (ebd.). Daß durch die Verzahnung einer G a t t u n g mit ihrem Sitz im Leben wieder eine geschichtliche Dimension in die philologische Formenanalyse zurückkehrt, dürfte außer Frage stehen. Mißt man diese Rückgewinnung der geschichtlichen Fragestellung jedoch an dem ursprünglichen historischen Interesse, das den Ausgangspunkt der ganzen Bemühungen gebildet hatte, nämlich die Frage nach dem historischen Jesus, dann bleibt die historiographische Reichweite der auf den Sitz im Leben gerichteten geschichtlichen Perspektive weit hinter jenem Ziel zurück. Sie wird noch

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stärker eingeschränkt, wenn man darüber hinaus den in der "Geschichte der synoptischen Tradition" zugrundegelegten Begriff Sitz im Leben nach seiner historiographisch-erkenntniskritischen Seite in Rechnung stellt. 7. Bultmann versteht unter dem Sitz im Leben von Uberlieferungsgattungen deren "Entstehungs- und Pflegeort in der Gemeinde" (Gesch. d. synop. Trad., 1. Aufl., 4). Es ist nun eine zentrale Voraussetzung der formgeschichtlichen Methode, daß dieser Aufweis von Ortern der Entstehung und Pflege von Tradition nicht als deren historiographische Bestimmung, sondern als deren soziologische Einordnung zu verstehen ist. Mit dem Begriff "'Sitz im Leben' ... ist nämlich nicht der Ursprung eines einzelnen Berichts (als Berichtes über etwas) in einer einzelnen geschichtlichen Situation oder Person gemeint, sondern die Beziehung eines literarischen Stücks (als literarischen) auf eine allgemeine geschichtliche Situation (wie Krieg, Kult, Verkehr usw.), aus der die Gattung erwuchs, der jenes Stück zugehört" (ThLZ 50 (1925), 316). Er bezeichnet "nicht ein einzelnes historisches Ereignis, sondern eine typische Situation oder Verhaltungsweise im Leben einer Gemeinschaft" (Gesch. d. synop. Trad., 2. Aufl., 4). In ihm geht es u m die "Bezogenheit der literarischen Formen auf das Leben und die Geschichte der urchristlichen Gemeinde" (a.a.O. 6). Er ist ein "soziologischer Begriff" (a.a.O. 4). Indem die formgeschichtliche Methode die Frage nach dem Sitz im Leben neben der Formenanalyse zu ihrem zweiten methodischen Schwerpunkt macht, bestätigt sie sowohl durch den Begriff der literarischen Form als auch durch den Begriff des soziologischen Ortes, daß sie - erkenntnislogisch betrachtet - die Frage nach dem Allgemeinen und Typischen, und nicht die für Geschichtsschreibung konstitutive Frage nach dem Besonderen und Eigentümlichen in das Zentrum ihres methodischen Vorgehens rückt. Faßt m a n die beiden methodischen Grundprobleme von Bultmanns "Geschichte der synoptischen Tradition" zusammen, das von Dibelius n a m h a f t gemachte Fehlen einer historiographischen Absicherung des analytischen Verfahrens sowie Bultmanns eigene Bestimmung der philologischen und literatursoziologischen Formenanalyse als Frage nach dem Allgemeinen und Typischen, dann wird man Hirschs Vorwurf einer Suspendierung der spezifisch historischen Perspektive kaum als einen Einwand von außen abtun können. In der Tat bleibt in Bultmanns Beitrag zur synoptischen Forschung historiographisch-methodisch allzuviel im Dunklen, als daß man sich mit dem daraus gefolgerten radikalen Skeptizismus hinsichtlich der Erkennbarkeit des historischen Jesus unbesehen abzufinden hätte. 6 8 Dem Ergebnis nach ist dies bereits von den unmittel68

Das Merkwürdige ist, daß B u l t m a n n seine radikal-kritische Position nicht einmal

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baren Schülern Bultmanns zur Geltung gebracht worden. Die grundsätzliche Reichweite des formgeschichtlichen Verfahrens wurde dabei allerdings nicht in Frage gestellt.

3. Die B e s t i m m u n g des Individuellen

a) Das komparative Verfahren Wenden wir uns nun den hermeneutisch-methodischen Mitteln zu, deren Hirsch sich bei der Rekonstruktion der Jesus-Uberlieferung bedient. Jesu Verkündigung ist für Hirsch - religionsgeschichtlich betrachtet - aus dem Pharisäismus hervorgegangen, derjenigen Epoche der Geschichte der israelitisch-jüdischen Religion, welche die Grundzüge der vor- und nachexilischen Frömmigkeit zu einer in sich konsequent durchgebildeten Volksreligion verschmolzen hat. Mit dem Schöpfungsglauben, dem ethischen Monotheismus und dem religiösen Individualismus hat Jesus konstitutive Elemente pharisäischer Frömmigkeit zu Grundmomenten der christlichen Religion gemacht - aber: "Wer nur das am Worte Jesu sieht, der sieht nicht das Besondere, das ihn ans Kreuz führte" (JChH 12). Jesu Wort weist nicht allein auf den Pharisäismus zurück, sondern ebensosehr auf die Botschaft Johannes des Täufers, und zwar gerade im Hinblick auf die "Johannes gegen den Pharisäismus eigentümlichen Gedanken" (JChH 13). Die Botschaft des Täufers steht zunächst ganz in der Kontinuität mit der pharisäischen Frömmigkeit und Sittlichkeit. Ihre Besonderheit liegt hauptsächlich in der Erwartung eines ausschließlich durch Gott bewirkten, stürmischen Hereinbrechens des Himmelreiches und in einem daraus resultierenden radikalisierten Verständnis von Buße. Wiederum gilt jedoch: "So viel Jesu Ja zur Botschaft des Täufers auch bedeuten möge, das Besondere, das ihn ans Kreuz führte, ist damit noch nicht gegeben" (ebd.). Der wichtigste Einfluß des Täufers auf Jesus dürfte allerdings nicht in der Wirkung seiner Botschaft auf den Gehalt der Verkündigung Jesu zu sehen sein, sondern vielmehr darin, in Jesus das Bewußtsein seiner persönlichen Sendung geweckt zu haben. "Er wurde so zu Johannes hinübergeselbst durchgehalten hat. J. ScHNIEWIND hat daraufhingewiesen, daß Bultmanns Jesusbuch "ein Schulbeispiel... für Querschnittexegese" darstelle. "Hier wird weitgehend auch mit Material gebaut, das der skeptischen Prüfung der Formgeschichte nicht standgehalten hatte.... In der 'synoptischen Tradition' waren diese Worte fast ohne Ausnahme Jesus abgesprochen" (Zur Synoptiker-Exegese, 172).

Bestimmung des Individuellen

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zogen, daß er etwas Eigenes wurde" (JChH 14). Gleichwohl knüpft Jesus mit seiner Verkündigung so offenkundig an die Thematik der Botschaft des Täufers an, daß ihre spezifische Bestimmtheit nur dann als hinreichend erfaßt gelten kann, wenn sie in ihrer Differenz zu dieser begriffen ist. Dieser Aufweis eines Unterschiedes zwischen der Predigt Jesu und der des Täufers unterliegt der besonderen Schwierigkeit, daß Jesus gerade die beiden Grundbegriffe des Täufers, nämlich "Buße" und "Reich Gottes", übernommen hat. F ü r Jesu Predigt ist nun spezifisch, daß er das Doppelgebot der Gottesund Nächstenliebe zum Fundament seines Bußrufes macht und den darin ausgedrückten ganzheitlichen Gotteswillen als ein Zugleich von Forderung und Gabe versteht. Mit beiden zerbricht er sowohl die religiöse Möglichkeit eines formellen Gesetzesgehorsams als auch den ihm korrespondierenden Verdienstgedanken und hebt dadurch die Grundlage der pharisäischen Ethik auf. Und so "vertieft er nicht bloß den Bußruf des Täufers, nein, er gibt ihm einen andern, zweiten Sinn. Buße ist mehr noch als persönliche Umkehr, die Ernst macht mit dem, was sie als das Rechte weiß. Buße ist zuallererst, daß der Mensch über die Gerechtigkeit, über das was f r o m m und gut sein heißt, ganz andre neue Gedanken bekommt. Johannes hat es den Pharisäern abgesprochen, daß sie gerecht seien; damit traf er die Personen und was sie tun, traf sie aus dem heraus, worunter beider Gewissen gemeinsam sich beugte. Jesus richtet seinen Angriff nicht bloß gegen die Personen, er zerbricht auch ihre religiösen und ethischen Normen. ... Johannes war in den Augen der Pharisäer höchstens einseitig, übertrieben streng; Jesus ist von ihnen als Lästerer empfunden worden u m seines Bußrufs willen" ( J C h H 15). Hinsichtlich des Vollmachtsanspruchs, mit dem er das Widerfahrnis seines Bußwortes zur Situation der Entscheidung für oder gegen Gott macht, läßt er die strengsten der alten Gerichtspropheten hinter sich. Denn er selber "steht nicht unter dem Bußruf, er schöpft ihn ja aus dem, was er ist und lebt" (JChH 19). So spricht aus der Unmittelbarkeit des Bußwortes Jesu, mit der es die letzten Intentionen des göttlichen Willens souverän ausdeutet, "das Geheimnis eines ganz eigenen Lebens mit Gott" ( J C h H 16). Ähnliches gilt auch für Jesu Reich-Gottes-Predigt. Trotz mancherlei äußerer Entsprechungen zu Vorstellungen frühjüdischer Apokalyptik zeigt sich, daß Jesus mit der Verheißung des Gottesreiches als der Vollendung der Gottesgemeinschaft in ungebrochener Kindschaft und reiner Ewigkeit "sein Allereigenstes in den Gedanken des Gottesreichs hineingelegt" ( J C h H 20) hat. Die eigentliche Mitte dieser Reich-Gottes-Predigt - die in engstem Zusammenhang zur besonderen Fassung des Bußrufs steht nämlich die Vollmacht, Sünden zu vergeben, ist daneben "das andre ganz Eigene, das Jesus in die Verheißung des Gottesreichs hineingebunden h a t "

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Geschichtsmethodologische Grundlagen

(JChH 22). Diese Verschränkung von Sündenvergebung und Reichsankunft macht denn auch den spezifischen Unterschied zwischen Jesus und Johannes hinsichtlich der Fassung des Reich-Gottes-Gedankens aus. "Das Reich Gottes ist die Vergebung der Sünden; wem Gott nicht vergibt, der geht in es nicht ein, und wem er vergibt, der ist in es schon eingegangen. Das ist der tiefste, der eigentümlichste Zug an Jesu Botschaft vom Reiche. Hier scheidet er sich am klarsten vom Täufer. Das ist das Unfaßliche, das der Täufer nicht gewußt hat" (ebd.). Mit diesem summarischen Abriß dürfte Hirschs Art der Bestimmung des Eigentümlichen der Verkündigung Jesu nach ihrer inhaltlichen Seite hinreichend deutlich geworden sein. 69 Was ist ihr nun in hermeneutischmethodischer Hinsicht zu entnehmen? Hirsch stellt zunächst fest, was Jesus mit dem Pharisäismus gemeinsam hat. Daraufhin wendet er sich der Gestalt des Täufers zu und untersucht, was dieser mit dem Pharisäismus gemeinsam hat und worin er sich unterscheidet. Sodann arbeitet er heraus, was Jesus mit demjenigen Teil der Botschaft des Täufers gemeinsam hat, worin dieser sich vom Pharisäismus unterscheidet. Und vor diesem Hintergrund schließlich fragt er nach dem, was Jesus vom Täufer unterscheidet. Hirsch vollzieht damit in methodisch luzider Weise einen Subtraktionsvorgang, der vom Allgemeinen über mehrere Stufen hinweg zum Individuellen führt. Er bringt damit genau diejenige Operation zur Anwendung, die Schleiermacher in seiner Hermeneutik als "comparatives Verfahren" beschrieben hat. 70 Aber damit ist Hirschs Vorgehensweise noch nicht erschöpfend charakterisiert. Die Anwendung des komparativen Verfahrens zum Zweck des Verstehens des Eigentümlichen der Verkündigung Jesu ist bei Hirsch eingebettet in die umfassendere religionsgeschichtliche Aufgabe der Bestimmung der Individualität Jesu von Nazareth, die über rein sprachlich zu verifizierende Subtraktionsoperationen weit hinausgeht. Auch bezüglich die-

69

Hirschs Versuch im Anhang der Wesensschrift von 1939 (WCh 158-165), den individuierenden Gegensatz gegen den Pharisäismus - unter Zuhilfenahme von Argumenten im Streit zwischen Kelsos und Origenes (vgl. Origenes: Contra Celsum I, 32.69) - genealogisch zu untermauern, muß als zeitbedingte Fragestellung eingestuft werden. In seiner Habilitationsschrift über Fichte Geschichtsphilosophie konnte Hirsch noch feststellen: "Sogar für den Unfug der These, daß Jesus kein Jude gewesen sei, hat Fichte im Geheimen etwas übrig gehabt" (ChG 58 Anm. 2).

70

"Für das ganze Geschäft giebt es vom ersten Anfang an zwei Methoden, die divinatorische und die comparative, welche aber wie sie aufeinander zurückweisen auch nicht dürfen voneinander getrennt werden.... Die comparative sezt erst den zu verstehenden als ein allgemeines, und findet dann das Eigenthümlicke[,] indem mit andern unter demselben allgemeinen befaßten verglichen wird" (SCHLEIERMACHER: Hermeneutik, 109; Hhg.v.Vf.).

Bestimmung des Individuellen

253

ser allgemeineren religionsgeschichtlichen Fragestellung erweist sich eine konsequente Ausrichtung auf die Bestimmung des Individuellen als methodologisch sachgemäß.

b) Die individuelle Bestimmtheit des Allgemeinen

Religionsgeschichtliches Erkennen vollzieht sich wie alles Erkennen von Geschichte grundsätzlich auf der Basis der Erkenntnis von Individuellem. Hirsch hat die diesbezüglich einschlägigen wissenschaftstheoretischen Überlegungen, insbesondere Heinrich Rickerts Präzisierung der erkenntnislogischen Grundlagen des Verstehens von Geschichte, nachweislich zur Kenntnis genommen und sich im Sinne einer problemgeschichtlichen Selbstverständlichkeit zu eigen gemacht. Die religionsgeschichtliche Bestimmung des Individuellen stößt im Falle der Deutung Jesu von Nazareth allerdings auf eine ganz besondere Schwierigkeit: Hinsichtlich der Ausdrucksgestalten des messianischen Selbstbewußtseins Jesu h a t t e sich ergeben, daß die Prägung des Menschensohntitels für die Rolle des Messias seine einzige Formschöpfung gewesen ist; "sonst hat er sein Neues... in schon vorhandenen Formen ausgedrückt" (JChH 29). Und im Hinblick auf den Inhalt der Predigt Jesu h a t t e sich gezeigt, daß Jesus hier an Johannes den Täufer anknüpft und die Grundbegriffe der Botschaft des Täufers, Buße und Reich Gottes, "einfach aufn i m m t " (JChH 14). Jesus entfaltete demnach sowohl sein eigenes Selbstverständnis als auch seine Gedanken über Gottes Wesen und Willen hauptsächlich "in den Denkformen, die ihm das geschichtliche Dasein, in dem er sich fand, gewährte" ( W C h 35). Konkret angewandt auf den spezifisch bestimmten religionsgeschichtlichen Hintergrund besagt dies, daß Jesus "das ihm Eigne in den Denkformen der alttestamentlich-jüdischen Religion und insbesondre denen ihrer Endhoffnung besessen hat" ( W C h 29). Dennoch macht die religionsgeschichtliche Erforschung der Eigentümlichkeit Jesu für Hirsch mit hinreichender Sicherheit kund, daß sein Wort und seine Geschichte den "Durchbruch eines schlechthin neuen Gottesverhältnisses" ( W C h 26) bedeuten. "Es steigt in seinen Worten das Bild eines Gottes empor, der wunderbarer, unbegreiflicher, freier über alle menschlich-geschichtlichen religiösen Setzungen und Satzungen erhaben und also mehr Geheimnis ist, als irgendein noch so seltsamer Glaube es ahnen mochte" ( W C h 23). Die methodische Frage muß demnach lauten: Wie kann die Eigentümlichkeit Jesu von Nazareth religionsgeschichtlich erkannt werden, wenn sowohl das Selbstverständnis seiner Person als auch das Gottesbild seiner Predigt ihren gedanklichen Ausdruck nahezu aus-

254

Geschichtsmethodologische Grundlagen

schließlich in der Verwendung religionsgeschichtlich überkommenen Vorstellungsmaterials gefunden haben? Ein vermeintlicher Lösungsweg scheidet für Hirsch von vornherein aus, nämlich die insbesondere von der Theologie der Aufklärung bevorzugte Akkommodationstheorie. Jesu Umgang mit den Ausdrucksmöglichkeiten, die ihm die Denkformen seiner religiösen Umwelt boten, vollzieht sich - nach allem, was wir wissen - "nicht in einer Art Anpassung, sondern so, daß er selbst in dieser Denkform als der ihm selbstverständlich gegebnen sich bewegt" ( W C h 29). Gleichwohl schließt Jesu Aneignung dieser ethisch-religiösen Vorstellungen die Erkennbarkeit seiner Individualität nicht aus. "Es ist der Grundfehler der üblichen Evangelienauslegung, daß sie zwischen dem von Jesus gebrauchten alttestamentlich-jüdischen Bildund Begriffsmaterial und dem von Jesus in diesem Material ausgedrückten Sinn nicht hinreichend unterscheidet" (Lf §19.M.l.). Wenn wir die in dieser Kritik enthaltene hermeneutische These zunächst nach ihrer grundsätzlichen und methodischen Seite betrachten, dann ergibt sich folgende Forschungsmaxime: Bezüglich der Aneignung überkommenen religionsgeschichtlichen Bild- und Begriffsmaterials muß immer die Frage im Auge behalten werden, worin dessen ursprünglicher Sinn bestanden hat und welche Intention dem angeeigneten Ausdrucksmaterial als solchem zugrunde liegt. Der religionsgeschichtliche Vergleich darf sich nicht beschränken auf die Feststellung der Identität bzw. Differenz von Termini oder sonstigen Redeelementen, sondern hat darüber hinaus auch die differente Verwendung identischer Ausdrucksmittel in Rechnung zu stellen. Man darf die individuelle Bestimmtheit der Bestandteile eines Redekomplexes nicht verwechseln mit der definitorischen Explizitheit dieser individuellen Bestimmtheit. Eine streng auf die Erfassung des Individuellen gerichtete religionsgeschichtliche Fragestellung betrachtet vermittelst der Unterscheidung von Material und Sinn, von Ausdruck und Intention auch die Art der Verwendung der Redeelemente. Sie ermittelt den im Gebrauch der einzelnen Redeelemente intendierten Sinn aus dem umfassenden Horizont sowohl des gesammten erhaltenen Redekomplexes als auch des überlieferten Lebenskontextes seines Sprechers. Selbstverständlich muß sich die vorwiegend in der Verwendung von Redeelementen manifestierende individuelle Bestimmtheit einer Sprecherintention auch an sprachlichen Beobachtungen festmachen lassen. Aber man wird bei der Art der hier in Frage kommenden Redekomplexe weniger mit einer definitorischen Explizitheit individueller Bestimmtheit zu rechnen haben, als vielmehr mit Individualitätsphänomenen, die sich aus Sprachgebrauchs- und Kontextbeobachtungen ergeben.

Bestimmung des Individuellen

255

Jede Deutung des Wortes Jesu hat nach Hirsch somit davon auszugehen, daß im begrifflich-technischen Sinne des Ausdrucks Lehre "das Entscheidende ... nicht lehrhaft von ihm ausgesagt worden ist" (JChH 21). "Er lehrt nicht Wahres, wie ein reflektierender Denker das t u t , sondern lebt die Wahrheit in seine geschichtliche Welt hinein" ( W C h 30). Aber gleichwohl eignet seiner Botschaft ein hohes Maß an individueller gedanklicher Bestimmtheit. "Die Jesus eigne Schärfe und Klarheit des Geistes drückt sich nicht darin aus, daß er ein eignes Lehr- und Begriffssystem aufstellt, sondern darin, daß er die Denk- und Lebensformen seiner geschichtlichen Welt mit der Wirklichkeit, die ihm im Verhältnis zu Gott als dem Vater aufgeschlossen ist, durchdringt und so zu Zeugen für das ihm Eigne macht" ( W C h 29f). Demzufolge ist bei Jesus nicht mit einer definitorischen Explizitheit der individuellen Bestimmtheit seiner "Lehre" zu rechnen. Dies hat unmittelbare Folgen für die Erkennbarkeit des individuellen Gehaltes derjenigen Grundbegriffe, die Jesus religionsgeschichtlich vorgegeben waren, die er aufgriff und als Ausdrucksmaterial seiner ureigensten Darstellungsintention verwendete. Die historische Kontextualität seines Redens und Denkens ist unbestreitbar. "Seine Eigentümlichkeit könnte also höchstens in einem besondern Leben beschlossen sein, das er in die gleichen Begriffe hineingelegt hat" (JChH 14). In welcher Weise hat Jesus nun religionsgeschichtlich vorgegebenes Material mit individuellem Gehalt durchdrungen? Wir beantworten diese Frage exemplarisch anhand von Jesu Aneignung des frühjüdisch-apokalyptischen Ausdrucks "Reich Gottes". Soll der in der Jesus-Überlieferung enthaltene Begriff des Reiches Gottes nach seinem Verhältnis zu religionsgeschichtlichen Vorläufergestalten charakterisiert werden, dann ist aus Gründen der Quellenlage allerdings eine Vorbemerkung nötig. Im Unterschied zu anderen Bestandteilen der Predigt Jesu ist nach Auffassung Hirschs die Überlieferung durch die Urgemeinde gerade an diesem P u n k t auffallend verzerrt und uneinheitlich. Hier "haben ihre Wünsche und Hoffnungen die Treue des Berichts stärker gestört" ( J C h H 19; vgl. W C h 28). Hirsch ist mit Wellhausen der Meinung, daß die Enderwartung der ersten christlichen Generationen gegenüber derjenigen Jesu eine beträchtliche Verschiebung nach Umfang, Intensität und Charakter durchlaufen hat. Nach Hirschs Einschätzung der Quellenlage unterscheidet sich Jesu Vorstellung vom Ende aller Dinge von der auf ihn rückübertragenen urchristlichen Fassung vor allem durch folgende negative Merkmale: "Es fehlen alle Vorzeichen, alle Schilderungen der Endereignisse .... Es fehlt jede Vorstellung von einem Messiasreich im Gegensatz zu irdischen Reichen, überhaupt aber von einem Messiasreich, das als gesteigerte irdi-

256

Geschichtsmethodologische Grundlagen

sehe Existenz verstanden werden könnte.... Es fehlt... jede Ausmalung der zweiseitigen Vergeltung, überhaupt aber der Vergeltungsgedanke im eigentlichen Sinne.... Es fehlt jede Beschränkung des ewigen Reichs auf bestimmte umreißbare Gruppen von Menschen, nicht nur die nationale, sondern auch die auf die Glieder der Gemeinde" (ChR I, 59). In sachlicher Entsprechung dazu hält sich dann auch die kritisch-andeutende Seite der Vorstellung von der Art des Kommens des Gottesreiches: "Der Vorgang ist... unvergleichbar und unvorstellbar...: ein Geheimnis erfüllt sich, das da geahnt und erkannt ist, wo man dem Vater im Glauben gehört.... Die Gerichtsseite des Vorgangs ist allein als Enthüllung bestehender Scheidung von Gott, bestehender Ferne vom Leben gedacht.... Damit verliert die... Vorstellung von der Nähe des Endes der Geschichte ihren gegenständlichen Sinn, oder besser: dieser gegenständliche Sinn wird bedeutungslos. ... Der Messias wird für das Reich, wenn es hereinbricht, eine vollkommen nebensächliche Vorstellung" ( C h R I, 60). Das in positiver Hinsicht schlechterdings Eigentümliche an Jesu ReichGottes-Predigt ist demgegenüber erstens die Vorstellung von diesem Reich als ganzer Teilhabe an Gottes Leben in Reinheit und Vollkommenheit, zweitens die Vorstellung vom Kommen dieses Reiches in Form tätiger Bußentscheidung und erlittener Sündenvergebung und drittens die Vorstellung von der erfahrbaren verborgenen Gegenwärtigkeit des Reiches in der von Jesus ausgeübten Vollmacht. Das Reich Gottes ist bei Jesus nichts anderes als "das durch Gericht und Auferstehung sich offenbarende und vollendende, den Tod verschlingende ewige Leben, das Gott den Seinen mit der Vergebung der Sünden und der Gewährung der Gotteskindschaft schon hier zur heimlichen Gegenwart macht" (Lf § 19.Α.). In der Gewißheit des Kommens des Gottesreichs verbinden sich Zukunft und Gegenwart zur Einheit eines reinen Ewigkeitsglaubens. Setzt man Jesu Reich-Gottes-Gedanken in Beziehung zur frühjüdischapokalyptischen Gestalt dieser Vorstellung, dann zeigt sich die einschneidende Umbildung dieses religionsgeschichtlichen Komplexes: "An keiner Stelle bedeutet es Sturz der Weltmächte und Herrschaft Gottes auf Erden in einem politischen Reiche" (ChR I, 57). Vielmehr ist "die der alttestamentlichen Bundesreligion gemäße irdisch-politische Fassung dieses Reichs, nach der es eine die Herrschaft andrer, weltlicher Reiche ablösende Herrschaft Gottes und des Gottesvolks ist, als widergöttlich abgestoßen" (Lf § 19.Α.). "Das Apokalyptische ist von dem Politischen gereinigt und Gleichnis inneren Ewigkeitsglaubens geworden" (ChR I, 57). 71

71

Den reinen Ewigkeitscharakter der Reich-Gottes-Hoffnung bei Jesus betont auch die von Hirsch besonders geschätzte Darstellung von P. WERNLE: Jesus, 251-271.

Wesentlich und Unwesentlich

257

Jesus hat - so kann Hirsch den hier geschichtsmethodologisch-hermeneutisch zu reflektierenden Sachverhalt zusammenfassen - "die Hoffnung auf eine die menschlich-geschichtliche Welt verwandelnde Endvollendung in ihrer spätjüdischen Gestalt als ein der Erfüllung mit göttlichem Sinn fähiges Gefäß des Gedankens und der Rede aufgenommen" (Lf §19.A.) und damit zugleich eine "Verwandlung des Begriffs Reich Gottes" (ChR I, 57) vollzogen. Und in genauer Entsprechung hierzu (vgl. Lf § 19.B.) hat Jesus auch bei der Verwendung der ihm überkommenen Messiasvorstellung "empfangenes Erbe nach seinem Sinn gestaltet" ( J C h H 28). 7 2 Das komparative Verfahren der Bestimmung des Individuellen findet seine hermeneutische Vollendung, indem in der Verwendung überkommenen Vorstellungs- und Begriffsmaterials dessen "sinnverwandelnde Aneignung" (Lf § 19) aufgewiesen wird. Religionsgeschichtliche Individualität ist nicht gebunden an die terminologisch identifizierbare Individuation des äußeren Ausdrucksmaterials, sondern kann sich auch in der bloßen Art seiner differenten Verwendung niederschlagen. Durch die sinnverwandelnde Aneignung der Begriffe Reich Gottes und Messias hat Jesus der eigentümlichen Bestimmtheit seines Gottesverhältnisses einen religionsgeschichtlich unverwechselbaren Ausdruck verliehen.

4. Die Unterscheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem a) Das hermeneutische Problem Im Zusammenhang mit der Darstellung der Reich-Gottes-Predigt Jesu merkt Hirsch beiläufig an: "Jesu Erwartung von der Nähe des Endes aller Dinge bedeutet eine durch eine fast zweitausendjährige Geschichte widerlegte falsche Weissagung. Wer daher ... die Aufnahme der alttestamentlich-jüdischen Vorstellung von der die menschlich-geschichtliche Welt verwandelnden wunderbaren Endvollendung für das Wesentliche an der Botschaft Jesu hält, müßte bei Sauberkeit des Denkens folgern, daß Jesus ein im wesentlichen seiner Botschaft widerlegter Schwärmer sei" (Lf §19.M.2.). Wir haben bereits gesehen, daß Hirschs Nachzeichnung der Predigt Jesu - in Übereinstimmung mit Wellhausen - ihren religionsgeschichtlichen Orientierungsrahmen aus der markinischen Überlieferung 72

BULTMANN vereinfacht das Problem, wenn er den in Frage stehenden Vorgang der "Umprägung" auf den Prozeß der "Vergeistigung" reduziert und diesen bestreitet (vgl. Theologie des Neuen Testaments 6 , 29f).

258

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gewinnt. Und es wurde auch deutlich, daß Hirsch - darin ebenfalls Wellhausen folgend - für Jesus selbst, im Unterschied zur ersten Gemeinde, nicht mit einem über das zeitgeschichtlich bedingte Minimalquantum hinausgehenden Interesse an der Eschatologie, geschweige denn an deren apokalyptischer Durchkonstruktion rechnet. Ernst Troeltsch hatte an diesem Punkt anders geurteilt. Er hat sich weitgehend den diesbezüglichen Forschungen der religionsgeschichtlichen Schule angeschlossen, wonach die Predigt Jesu tiefgreifend durch die Vorstellungswelt frühjüdischer Apokalyptik geprägt gewesen sei. 7 3 Aber er hat darum nicht die Forderung erhoben, daß das Selbstverständnis des neuzeitlichen Christentums wieder zum ursprünglichen Gehalt jener "prophetisch-messianischen Selbstempfindung" (G. Sch. II, 414) Jesu zurückzufinden habe, sondern er hat die Radikalität dieser apokalyptischen Spekulation durchaus in ihrer Andersheit und Fremdheit stehen lassen können. "An der Predigt Jesu ist für uns schließlich gerade das wesentlich, was für sie selbst nicht unmittelbar wesentlich gewesen war; nicht das bevorstehende Weltende und kommende Reich, sondern die Bedingungen für den Reichsempfang und die in der Erfüllung dieser Bedingungen erwachsende Gemeinschaft der Geister ist für uns das Wesentliche" (G. Sch. II, 420). Wir wollen hier nun keineswegs unmittelbar Stellung nehmen zur Frage der Reichweite der apokalyptisch-eschatologischen Komponente innerhalb der Predigt Jesu. Troeltschs Äußerung und die dazu kontrastierende Anmerkung Hirschs weisen vielmehr auf ein tiefer liegendes methodisches Problem hin, dem Troeltsch und dann Hirsch je auf ihre Weise differenzierte Überlegungen gewidmet haben. Die durch das letzte Troeltsch-Zitat aufgeworfene Frage muß zunächst lauten: Hat man sich mit der - theologisch fatalen - Situation, daß für einen heutigen Rezipienten an der Predigt Jesu möglicherweise andere Dinge wesentlich sind als für Jesus selbst, abzufinden, oder ist sie hermeneutisch auflösbar? Im Zusammenhang der Analyse der historischen Grundlagen seiner frühen Christologie hatte Hirsch bereits auf den hermeneutisch elementaren Sachverhalt aufmerksam gemacht, daß jeder auf Verstehen zielende Umgang mit der neutestamentlichen Überlieferung den Charakter eines Selektions- und Interpretationsvorganges hat. Dies gilt auch und gerade für den methodisch unreflektierten Leser. "Sie haben alle ihnen persönlich wichtige Stellen, und ihnen unwichtige, vergessene, unverständliche. Und 73

Vgl. aber auch die davon abweichenden Ausführungen TROELTSCHS im Zusammenhang der "Soziallehren". Hier heißt es: "Uber die Beschaffenheit des Gottesreiches selbst spekuliert Jesus nicht .... Auch über 'Wie' und 'Wann' ist nur zu sagen, daß es bald kommen wird .... Aller Nachdruck liegt auf der Bereitung für das Gottesreich .... In dieser Forderung der Bereitung liegt die Ethik und der sie bedingende Gottesgedanke Jesu eingeschlossen" (G. Sch. I, 35).

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sie haben gerade bei dem, was ihnen wichtig ist, ihre Deutungen. Nur durch Scheiden, Wählen und Deuten hindurch also fassen sie auf und verstehen sie" ( J C h H 11). Solche Selektions- und Interpretationsvorgänge finden in erhöhtem Maße und dem Ergebnis nach mit noch weiterreichender Konstruktivität in allen methodisch reflektierten Verstehensoperationen geschichtswissenschaftlichen Forschens s t a t t , sei es auf dem Felde der historisch-kritischen Exegese, sei es auf dem Felde der vergleichenden Religionsgeschichtsschreibung. Die einander nahezu ausschließenden Deutungen der Eschatologie Jesu oder der paulinischen Christologie etwa in den Forschungsbeiträgen Albert Schweitzers und Rudolf Bultmanns mögen als Beispiel dafür stehen. Solche Differenzen lassen sich nicht mit der Verschiedenheit des Standes der Forschungsgeschichte und schon gar nicht mit einem unterschiedlichen Niveau wissenschaftlicher Standards erklären. Unverträglichkeiten von Gesamtperspektiven und Gesamtdeutungen haben rein wissenschaftstheoretisch gesehen ihre Ursache vor allem darin, daß die Benutzung, Auswertung und Deutung von Quellen grundsätzlich hypothetische Momente enthält. Dies zeigt sich daran, daß eine historische Darstellung - im strikten Sinne des Wortes - niemals verifiziert werden kann. Sie kann das Maß ihrer Plausibilität immer nur in der Genauigkeit und Reichweite ihrer quellenerschließenden Kraft erweisen, umgekehrt aber jederzeit durch den Quellenbefund falsifiziert werden. Diese Falsifikationsmöglichkeit wird jedoch durch zweierlei grundsätzlich eingeschränkt: Hermeneutisch betrachtet sind Zeugnisse und Denkmäler der Vergangenheit nicht schon an sich historiographische Quellen, sondern sie werden gleichsam erst zu Quellen, indem der Forscher sie dazu macht, dann nämlich, wenn er jene als empirische Grundlage seiner Rekonstruktion der Vergangenheit aufsucht und nach seinen Gesichtspunkten befragt. In jede als Quellenmaterial eingestufte Überlieferung ist - wie Droysen gezeigt hat - somit immer schon die interpretatorische Tätigkeit des Forschers eingegangen, noch bevor es zur eigentlichen Deutung der darzustellenden Ereignisse kommt. Dieses eigentümliche Reflexionspotential jeder "Quelle" kommt in hohem Maße zum Tragen, wo es zum Zwecke des historischen Vergleichs um die Berücksichtigung paralleler oder verwandter Überlieferung geht. Auf der anderen Seite sind differenzierte Gesamtdeutungen komplexer historischer Sachverhalte niemals so einlinig, als daß sie nicht dazu in der Lage wären, auf den ersten Blick widersprechende oder zumindest schwer einzuordnende Daten durch Berücksichtigung weiterer Gesichtspunkte noch als Grenzfälle des eigenen Deuteschemas integrieren oder wenigstens als Ausnahmefälle in ihrem Abweichen erklären zu können. Wissenschaftstheoretisch geurteilt liegt hier der Fall der Exhaustion ei-

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ner Hypothese vor, d.h. die Ausschöpfung ihrer Erklärungsleistung durch den Anbau von mit ihr prinzipiell verträglichen Zusatzannahmen. Eine so angereicherte Grundannahme kann sich auch gegenüber extrem sperrigen Fakten nicht selten als falsifikationsresistent erweisen und damit selbst an solchen Phänomenen bewähren, die ihr zunächst offenkundig zu widersprechen scheinen. Der unbestreitbare Tatbestand des Auftretens f u n d a m e n t a l divergierender Gesamtdeutungen ein und desselben komplexen historischen Phänomens - gerade in der Geschichte der neutestamentlichen Wissenschaft ein wichtiges Moment ihres Voranschreitens - wird deshalb nicht auf das Konto der Alternative von historisch-kritischer Sachgemäßheit oder Unsachgemäßheit zu verbuchen sein, jedenfalls solange nicht, als m a n den Kanon der elementaren methodischen Standards historischen Erkennens nicht zugunsten externer Motive und Ziele mutwillig preisgibt. Die Selektivität historischen Verstehens birgt aber neben dem gerade angeführten noch ein weiteres prinzipielles Problem in sich. Versucht man es in seiner hermeneutischen Allgemeinheit zu erfassen, so wird m a n sagen können: Jeder auf Verstehen zielende und deshalb ebenso auswählende wie deutende Umgang mit historischen Quellen vollzieht, von einem Vorverständnis der Sache geleitet, mehr oder weniger kontrolliert eine Unterscheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem. Mit Beziehung auf einen identischen Überlieferungsbestand können die unterschiedlichsten Akzentsetzungen in Quellenauswahl, -bewertung und -interpretation vorgenommen werden. Dies kann im Extremfall so weit gehen, daß es zu sich wechselseitig förmlich ausschließenden Deutungen ein und desselben Ereigniszusammenhangs kommt. Es macht nun für den Historiker wenig Sinn, das darin sich als mächtig erweisende Phänomen des hermeneutischen Zirkels zu beschwören oder sich an seinem prinzipientheoretischen Gewicht zu erbauen. Für ihn wird sich vielmehr die Frage stellen: Gibt es über die elementaren Grundsätze historischer Kritik hinaus weitere, ihrerseits kontrollierbare Kriterien für die in allem historischen Verstehen sich vollziehende Unterscheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem oder muß sie zwangsläufig in den Bereich des rein subjektiv bedingten "Divinatorischen" fallen? Bevor diese Frage weiter verfolgt werden kann, soll zunächst die formale Struktur der Unterscheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem erörtert werden.

b) Die logische Struktur der Bestimmung des Wesentlichen Zu Beginn des zweiten Buches von Hegels großer Logik, also genau an der Stelle des Ubergangs vom "Sein" zum "Wesen", findet sich der Ab-

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schnitt "Das Wesentliche und das Unwesentliche". Hegel weist daraufhin, daß jede Wesensbestimmung, die das Sein lediglich in der Weise enthält, daß sie es von sich unterscheidet, die Form der Unterscheidung eines Wesentlichen von einem Unwesentlichen am Dasein annehme. 7 4 So gesehen hat jede historische Wesensbestimmung, die empirisch gegebene Phänomene der Vergangenheit zum Gegenstand einer reflektierten Geschichtsbetrachtung macht, die logische Struktur der Unterscheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem. Die bedeutendste Abhandlung zur spezifisch historischen Wesensbestimmung stammt aus der Feder Troeltschs. Anlaß der enorm weitgespannten methodologischen Ausführungen war die Besprechung von Harnacks "Wesen des Christentums" in der "Christlichen Welt". In dieser im Jahre 1903 erschienenen Rezension gibt Troeltsch - mit Bezug auf das religionsgeschichtliche Phänomen Christentum - eine knappe Definition seines historiographischen Wesensbegriffs: "Das Wesen ist eine intuitive Abstraktion, eine religiös-ethische Kritik, ein beweglicher Entwicklungsbegriff und das für die gestaltende und neuverknüpfende Arbeit der Zukunft einzusetzende Ideal" (G. Sch. II, 433). Troeltsch unterscheidet in seiner Definition vier Momente am Wesensbegriff. 75 Uns interessiert hier ausschließlich das zuerst genannte Merkmal, das Moment der historischen Abstraktion. Troeltsch führt dazu aus: "große zusammenhängende Komplexe geschichtlichen Geschehens sind die Entwickelung einer Idee, eines Wertes, eines Gedankenkreises, eines Zweckgedankens, der mit seiner Ausführung wächst und Konsequenzen entwickelt, der fremde Stoffe sich angliedert und unterwirft, der mit beständigen Abirrungen von der Zielrichtung und herandrängenden Gegensätzen kämpft. Das 'Wesen' eines solchen Komplexes ist der abstrakte Begriff, die der Historie eigentümliche Abstraktion, vermöge dessen der ganze bekannte und im Detail erforschte Umkreis der zusammenhängenden Bildungen aus dem treibenden und sich entwickelnden Grundgedanken verstanden wird" (G. Sch. II, 393). Die Funktion der historischen Abstraktion besteht also in der Bildung historischer Allgemeinbegriffe. Damit erfüllt die Wesensbeschreibung keineswegs nur eine rein innerwissenschaftliche Aufgabe, sondern vermittelst ihrer bekommt die Geschichtswissenschaft als ganzes allererst lebensweltliche Relevanz. "Nur durch sie [seil, die Abstraktionen], sofern sie im engen Zusammenhang mit der exakten Detailforschung bleiben, ist die Historie das, was sie sein will, die erweiterte Lebenserfahrung des Menschen" (ebd.). 74 75

Vgl. G.W.F. HEGEL: Wissenschaft der Logik II, 7-9. Vgl. auch die Zusammenfassung in G. Sch. II, 448.

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Der Abstraktionsvorgang selber vollzieht sich nun in der Weise, daß auf der Basis einer "Vergleichung" (a.a.O. 396) "typische und durchgängige Erscheinungen als überall sich wiederholende, unwesentliche Formen" ausgeschieden werden, u m "die wirklichen geistigen Triebkräfte und ... die wirklichen wesentlichen Äußerungen derselben" (ebd.) zu gewinnen. Die Bildung des historischen Allgemeinbegriffs fragt nach der "Eigentümlichkeit eines besonderen Gebietes" (a.a.O. 397), aber so, daß sie mit dieser Bestimmung zugleich zur Geltung bringt, daß "jedes besondere Wesen ... nur eine besondere Form des allgemeinen, sich entwickelnden Geisteslebens überhaupt ist". Troeltsch fügt hinzu: "In Schleiermachers Ethik sind die Grundzüge eines solchen Verfahrens vorbildlich entwickelt und begründet" (ebd.). 7 6 Als Resultat jener Operationen erhält man "das Wesentliche" (a.a.O. 396) bzw. das Wesen eines historischen Phänomens. Weil bei einem solchen Abstraktionsverfahren sowohl das Vergleichen als auch die Aussonderung des bloß Typischen und ebenso die Reflexion auf das Wesentliche die anschauliche Gegebenheit des Gesamtphänomens voraussetzen, welch letztere immer nur das Ergebnis einer "das Ganze zusammenschauenden Divination" (a.a.O. 393) ist, hat Troeltsch das Bilden historischer Allgemeinbegriffe auch als "intuitive Abstraktion" (a.a.O. 433) bezeichnen können. Angewandt auf den Bereich der Religionsgeschichtsschreibung besagt dies: Das durch intuitive Abstraktion gewonnene Wesen eines religionsgeschichtlichen Gesamtkomplexes ist "der aus seiner historischen Erscheinung selbst erhellende, seine Entfaltung bewußt und unbewußt bestimmende, für sein eigenes Denken und Wollen im Mittelpunkt stehende Inbegriff religiöser Grundgedanken" (a.a.O. 396). Jede historiographische Abstraktion, die Wesentliches von Unwesentlichem unterscheidet und abhebt "geht ... über die gewöhnliche induktiv-empirische erzählende Geschichte hinaus" (a.a.O. 398). Durch die Wesensbestimmung fließen nicht nur in formaler, sondern auch in materialer Hinsicht gedankliche, d.h. gegenstandsbestimmende Elemente und Gesichtspunkte in die historische Arbeit ein. Die historiographische Abstraktion verleiht der Geschichtsschreibung eine grundsätzlich konstruktive Komponente. Troeltsch hat das Wissen um den - in diesem Sinne - konstruktiven Charakter historischer Arbeit als eines der konstitutiven Momente des historischen Bewußtseins erachtet. Insbesondere in den einleitenden Passagen seines Protestantismus-Vortrages auf dem Stuttgarter Historikerkongreß von 1906 hat Troeltsch die Notwendigkeit der historischen Abstraktion für die Geschichtswissenschaft nachhaltig betont, wobei er ei76

Troeltsch bezieht sich mit diesem Urteil insbesondere auf die Abhandlung seines Schülers H. SÜSKIND: Christentum und Geschichte. Die geschichtsphilosophischen Grundlagen der Schleiermacherschen Theologie, Teil 1.

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gens darauf hinweist, daß der Historie damit eine durchaus problematische Nähe zur spekulativen Geschichtsphilosophie erwachse: "ganz kann keine historische Untersuchung, sie sei so einzelsachlich wie möglich, solcher Allgemeinbegriffe entbehren; sie kann sich über sie nur dadurch täuschen, daß sie sie für selbstverständlich hält. Andererseits ist die besondere konstruktive und begriffliche Art auch offen zuzugeben; sie setzt die Einzelforschung voraus und bleibt von ihr abhängig; sie hat ihre besonderen Gefahren und Abwege der falschen Verallgemeinerung und wird sehr bescheiden sein gegenüber der eigentlich fachlichen Forschung. Das ändert aber daran nichts, daß sie immer wieder unternommen werden muß, und daß in ihr das eigentliche Geschichtsdenken seinen Ausdruck findet. Sie ermöglicht allein, das verarbeitete Material für weitere Fortarbeit zu gruppieren, die Zusammenhänge herauszuarbeiten und neue Fragestellungen an den Stoff heranzubringen". 7 7 Die Unverzichtbarkeit der historischen Abstraktion ist letztlich darin begründet, daß es ausschließlich die aus ihr hervorgehenden Allgemeinbegriffe sind, die "die wirklichen Tatbestände als Ganzes erscheinen lassen" (a.a.O. 14). Man kann hier die Frage auf sich beruhen lassen, ob und inwieweit Troeltsch als Historiker den von ihm selber erwähnten Gefahren der falschen Verallgemeinerung erlegen ist oder nicht. Wie Hirsch diese Frage beantwortet hätte, geht aus einer Äußerung hervor, die - sowohl betreffs der Wahl der Beispiele als auch im Vergleich mit Hirschs Urteil über Troeltsch an anderer Stelle - wahrscheinlich auf ihn zu beziehen ist. Im Nachwort zu seiner Theologiegeschichte sagt Hirsch rückblickend: "Von meinen frühesten theologischen Anfängen an habe ich immer ein Grauen empfunden, wenn ich Geschichtsschreiber mit so schwebenden und vieldeutigen Allgemeinbegriffen wie 'die Mystik', 'der Pietismus', 'der Rationalismus', 'der Deismus', 'der Supranaturalismus' arbeiten sah. Es stellte sich mir bei der Nachprüfung fast immer heraus, daß diese schillernden Allgemeinbegriffe, diese Tendenzen und Richtungen höchst unanschauliche Schemata waren, welche den Erfordernissen anschaulicher und anschaubarer geschichtlicher Abstraktionen nicht entsprachen" (N 35). Das Wesen der historischen Abstraktion ist nach Hirsch falsch verstanden, wenn es darauf hinausläuft, "sich mit allgemeinen Kennzeichnungen zufrieden zu geben, die irgendwie auf viele und genau auf keinen Einzigen passen" (N 36). Trotz dieser grundsätzlichen Kritik an einem zu breiten Gebrauch abstraktiv hochstufiger Klassifikationsausdrücke in der Geschichtsschreibung steht Hirschs Verständnis der Wesensbestimmung der Methodologie Troeltschs näher, als man es jener Abgrenzung entnehmen kann. So gilt es denn, genau den 77

E. TROELTSCH: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, 3.

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Punkt zu bezeichnen, an dem Hirsch hinsichtlich des in Frage stehenden Problems von der Position Troeltschs abweicht. Nach Ranke hat Geschichtserkenntnis ihren letzten und maßgeblichen Zweck darin zu zeigen, wie es eigentlich gewesen. Eine Grundvoraussetzung dafür ist die methodisch geübte Quellenkritik. Als Frage nach dem wirklich Gewesenen schlägt sie notwendigerweise die Richtung auf die Erfassung des Individuellen ein. Aber damit ist ihre Aufgabe noch nicht abgeschlossen. Ranke war bekanntlich der Meinung, der Historiker müsse sein Auge auch für das Allgemeine offen haben. Hirsch hat Rankes These von der Einbeziehung des Allgemeinheitsmomentes bzw. des Universalitätsaspektes in die Geschichtsschreibung bereits in seinem frühen geschichtsphilosophischen Entwurf von 1920 zustimmend aufgegriffen (vgl. DSch 7). Rankes Maxime zufolge ist für Hirsch historische Arbeit nie reines Faktenwissen, sondern schließt immer "die Erarbeitung einer klaren Anschauung und eines bestimmten Begriffs vom Ganzen der Geschichte" ein. Insofern ist alles Geschichtserkennen zugleich auch "geschichtsphilosophische Besinnung" (DSch 7). Ranke suchte der Verschränkung von Individualitäts- und Universalitätsaspekt sowohl inhaltlich als auch methodisch zu entsprechen, indem er die Geschichte als Werdezusammenhang zugleich individueller und universeller konkreter Entitäten, nämlich Staaten und Epochen, in ihrer dynamischen Verflechtung darzustellen unternahm. Grundlage für die Verschränkung von Individuellem und Universellem war ihm eine romantischidealistische Geschichtstheologie protestantischer Prägung. Hirsch hat mit Ranke zwar die generelle Auffassung von einem religiös-metaphysischen Kern der Geschichte geteilt und als für Geschichtsschreibung schlechterdings grundlegend erachtet, deren inhaltliche Näherbestimmung bei Ranke jedoch eindeutig abgelehnt. Das Substantielle der Geschichte liegt für Hirsch nicht in den welthistorisch gewordenen Staaten, sondern - mit Droysen - in der die Geschichtlichkeit des Menschen konstituierenden ethisch-religiösen Bezogenheit des individuellen Geistes auf das Absolute. Davon wird im nächsten Abschnitt noch die Rede sein. Rankes Verschränkung von Individual- und Universalaspekt hält Hirsch als unverzichtbar fest, reduziert dieses Prinzip jedoch auf eine rein methodische Maxime: "der Historiker ... will ... alles Einzelne miteinander verbinden, zusammenschauen zu einem größeren Ganzen, will das Wesentliche und Unwesentliche unterscheiden, möchte verstehen und begreifen" (DSch 7; Hhg.v.Vf.). Die Unterscheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem bildet für Hirsch ein konstitutives Moment des Geschichtserkennens. Sie ist gewissermaßen die Transposition der Rankeschen Verschränkung von Individualitäts- und Universalitätsaspekt ins rein Methodische. Worin besteht nun der methodische Gehalt dieser hermeneutischen Operation?

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Oben hatten wir bereits gesehen, daß Geschichtserkennen notwendigerweise das Erkennen des Individuellen als eines solchen ist. Nun erweist aber zugleich die Forschungspraxis der Geschichtsschreibung: Nicht alles erkannte Individuelle oder als Individuelles Erkennbare ist in gleicher Weise von historischem Interesse. "Geschichtliche Erkenntnis hat geradezu ihre Wesenseigentümlichkeit darin, daß sie sich allein auf das richtet, was für den zu erforschenden und anzuschauenden geschichtlichen Ablauf wesentlich ist .... Das Durchgehen der dem Wissen sich bietenden Einzelheiten ist dem Geschichtsforscher da, wo sie sich in Uberfülle bieten, oft nur eine lästige Pflicht. Auf sich nehmen tut er es nur in dem Maße, als es ein unentbehrliches Mittel ist zu der Erkenntnis, die der eigentliche Zweck seines Forschens ist" ( F E II, 378). Deshalb kann man ein geschichtliches Ereignis nur dann "verstehen und begreifen" (DSch7), wenn m a n auf der Basis der Kenntnis aller Einzelfakten zugleich über diese hinausgeht und zwar in dem Sinne, daß m a n von dem als individuell Erkannten einiges als das Wesentliche in den Vordergrund der Darstellung rückt, anderes hingegen als Unwesentliches ausklammert: "in und mit dem durchdringenden Betrachten des Einzelnen erwächst dem Historiker das Allgemeine" (DSch 8). Mit diesem Hinzutreten des Allgemeinen zum Besonderen ist natürlich nicht der triviale Sachverhalt gemeint, daß in jeder logischen Form der Prädikation ein Allgemeines von einem Individuellen bzw. ein Allgemeineres von einem weniger Allgemeinen ausgesagt wird. Vielmehr geht es darum, daß der geschichtliche Sachverhalt selber als ein solcher gewußt wird, an dem einige seiner individuellen Bestimmungen von allgemeinerer Bedeutung sind als andere. Das Wesentliche ist das, was als reale Verschränkung von Individual- und Universalaspekt Eingang in die Darstellung findet. Das so verstandene Allgemeinheitsmoment des Geschichtserkennens hat seine zentrale hermeneutische Funktion darin, daß die in den Zeugnissen und Denkmälern der Überlieferung enthaltenen Einzeldaten vergangenen Lebens und Handelns nun nicht mehr bloße Ereignisse einer fremden Vergangenheit repräsentieren, sondern daß vielmehr jeweils "in der geschichtlichen Gestalt die menschliche Bedeutung erfaßt" ( W C h 4) wird. Das durch die Unterscheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem zutage tretende Allgemeine ist somit das h u m a n Bedeutsame eines geschichtlichen Ereignisses, wie es sich vermöge der für Geschichte konstitutiven "Gleichmäßigkeit der menschlichen Handlungen" (GneTh III, 33) zeigt. Die methodische Durchführung der Unterscheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem realisiert sich deshalb als konsequente Inter-

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pretation nach dem "Grundsatz der Analogie". Das Wesentliche im Sinne des per analogiam Rekonstruierten ist das Universalitätsmoment eines Individuellen. Aber das Wesentliche eines historischen Phänomens ist nun keineswegs nur das Allgemeine an einem Individuellen. Unterscheidet der Historiker das Wesentliche von dem Unwesentlichen, so tut er es insbesondere auch deshalb, weil er nicht bei der Mannigfaltigkeit des gegebenen Besonderen stehen bleiben kann, sondern "alles Einzelne miteinander verbinden" (DSch 7) muß. Er wird sich aber auch nicht mit einer bloßen Summation seiner Einzelkenntnisse begnügen können. Will er deren narrative Synthese nicht perspektivenlos vollziehen, so muß er sie "zusammenschauen zu einem größeren Ganzen" (ebd.). Mit dem Erschauen des Ganzen als des Horizontes der Wahrnehmung des Individuellen wird eben dieses auf der kognitiven Ebene zum Teil des Ganzen. Und dies bedeutet zweierlei: Zum einen hört das Wissen um das Einzelne auf, lediglich Kenntnis des Einzelnen zu sein. Vielmehr wird "in der Vergegenwärtigung des Einzelnen das Ganze ... erfaßt" (WCh 4). Zum andern bleibt das Ganze, dessen Bedeutung in der Perspektivenfunktion für die Wahrnehmung des Einzelnen aufgeht, strikt auf das Einzelne rückbezogen. Das Schauen des Ganzen besagt hinsichtlich der Erkenntnis eines historischen Phänomens lediglich, daß "ein das Einzelne bestimmender Sinn darinnen waltet" (ebd.). Das Unterscheiden von Wesentlichem und Unwesentlichem ist in dieser Hinsicht das Hervorheben eines ganzheitlichen Sinns am Einzelnen. Wenn nun sowohl das Allgemeine als auch das Ganze nur am Individuellen erkannt zu werden vermag, dann ist damit zugleich gegeben, daß das in ihnen repräsentierte Wesen niemals für sich allein, sondern immer nur in seiner "Hineinbildung in die Wirklichkeit" (WCh 6) erfaßt werden kann. Dies führt zu einer weiteren Bedeutung der Unterscheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem. Das Wesentliche eines geschichtlichen Phänomens zeigt sich an diesem selber, dergestalt daß es "seine Eigentümlichkeit von immer neuen Seiten offenbar" (WCh 4) macht. Das so erscheinende historische Gebilde enthüllt sich dem Betrachter als ein einziger, in sich einiger Zusammenhang "wechselnder und doch in sich zusammenhängender und stets bedeutender geschichtlicher Bilder" (ebd.). Diesem historiographischen Verstehensvorgang liegen drei spezifische kognitive Operationen zugrunde. Zunächst sucht der Historiker an dem zu begreifenden historischen Phänomen "die besondre Art [zu] verstehen" (WCh 6), die es zu einem eigentümlich Bestimmten qualifiziert. Zu diesem Zweck wird ein hypothetischer Vorbegriff von dem für es Wesentlichen aufgestellt. Sodann registriert er an dem solchermaßen spezifizierten Gebilde all "die Wandlungen, die seine ... Gestalt... erfuhr" (WCh 4). Vollständigkeit wird dabei niemals möglich sein, muß aber gleichwohl an-

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gestrebt werden. Schließlich unternimmt er es, an dem insoweit durchbestimmten Phänomen "alle Wandlungen der geschichtlichen Gestalt ... nach ihrem Zusammenhange mit dieser seiner Art einzuordnen und so zu begreifen" ( W C h 6). Die wechselnden Bilder sind als Erscheinungen des Gesamtzusammenhangs begriffen, wenn sie sich als Variationen eines Identischen auffassen lassen. Nur wenn dies der Fall ist, erweist sich auch der Vorbegriff vom Spezifischen und Eigentümlichen des Gesamtphänomens als sachlich gerechtfertigt. Mit den drei genannten Operationen will der Historiker also nichts anderes als "das Wesentliche und das Wandelbare ... in ihrer Wechselbestimmtheit ... schauen" (WCh 38). Das Unterscheiden von Wesentlichem und Unwesentlichem besteht in dem Hervorheben eines Konstanten, Gleichbleibenden am sich Ändernden, Wechselnden. Das Wesentliche ist in dieser Hinsicht das Identitätsmoment am historisch Wandelbaren. Das Wesentliche als das Identische der Genesis einer Geschichtsgestalt ist nun aber "nicht irgendein Kern, den m a n aus ihr wie aus einer Schale herausklauben könnte" ( W C h 5). Das durch alle Veränderungen hindurch konstant Bleibende macht sich keineswegs als beharrendes, stetiges Moment geltend, sondern durchaus als die "bewegende Unruhe der erscheinenden Gestalt" (WCh 6). Diese Funktion kann das Wesentliche nur erfüllen, sofern es als "das Ursprüngliche" (Lf §18.M.l.) einer Geschichtsgestalt gefaßt wird. Diese Ursprünglichkeit ist jedoch nicht zeitlich gemeint, das Ursprüngliche ist nicht als das in der Anfangsgestalt als solcher Gegebene aufzufassen. Vielmehr ist an die Konstitutionsfunktion des Wesentlichen gedacht, an das die Bestimmtheit eines historischen Phänomens überhaupt "Bedingende" (Lf §18.M.l.). Das solchermaßen Ursprüngliche und Bedingende konstituiert die Geschichtsgestalt sowohl nach der Ganzheit ihrer Teile als auch nach der Identität ihrer genetisch erscheinenden Abwandlungen. Es ist dasjenige, "was sie bildet und bestimmt in ihrem gesamten verzweigten und buntwechselnden Dasein und ihrem Werden und Vergehen" (WCh 5). Das Konstitutionsprinzip einer historischen Erscheinung äußert seine konstitutive Kraft in keiner anderen Form als in einem alle Momente des lebendigen Werdezusammenhangs derselben "beseelenden innern Gesetz" ( W C h 6). Das Unterscheiden von Wesentlichem und Unwesentlichem an einem historischen Phänomen bedeutet somit ein Hervorheben des für es Konstitutiven gegenüber seinen kontingenten Randbedingungen, welche dadurch den Charakter des Akzidentellen erhalten. Das Wesentliche in diesem Sinne ist somit das für ein kontingentes historisches Phänomen Konstitutive. Fassen wir das bislang Erreichte zusammen, so können wir folgendes Ergebnis festhalten: Die Unterscheidung von Wesentlichem und Unwe-

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sentlichem ist eine Form denkender Geschichtsbetrachtung. Das Wesentliche eines historischen Phänomens erschließt sich ihr in der Weise, daß sie vier Unterscheidungsgesichtspunkte reflektierend an es heranträgt: 1. Was an ihm ist für immer vergangenes Besonderes, was besitzt h u m a n e Allgemeinheit? 2. Was an ihm ist bloße Einzelheit, was hat Relevanz für das Ganze? 3. Was an ihm wandelt sich ab, was hält sich als konstant durch? 4. Was an ihm ist akzidentell, was ist konstitutiv? Die so erzielten Einsichten sind bei aller Reflektiertheit gleichwohl Elem e n t e historischen Wissens. D.h. die für Geschichtserkenntnis konstituive Eigenschaft, Erkenntnis des Individuellen zu sein, wird durch jene gedankliche Bestimmtheit keineswegs suspendiert. Daraus folgt, daß sich die einzelnen Momente der Bestimmung des Wesentlichen immer nur als Reflexionsgesichtspunkte der Darstellung von individuellen Ereignissen zur Geltung bringen lassen. Das eigentliche Anwendungsfeld der Unterscheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem ist somit die erzählende Darstellung von Geschichte nach ihrer individuellen Bestimmtheit. Eine auf das Wesentliche gerichtete und in diesem Sinne reflektierte Geschichtsbetrachtung greift aus der Fülle der Daten von individuell bestimmten Vorkommnissen alle diejenigen heraus, die durch einen Allgemeinheits-, Ganzheits-, Kontinuitäts- oder Konstitutionssinn ausgezeichnet sind, und verknüpft sie narrativ miteinander. Die entscheidende Differenz der Struktur der Wesensbestimmung bei Hirsch gegenüber der Wesensabstraktion im Sinne Troeltschs besteht sonach darin, daß das Allgemeine einer geschichtlichen Erscheinung nicht in der Bedeutung eines Abstraktionsausdrucks aufgeht, sondern sich in Gestalt der Anwendung von Reflexionsgesichtspunkten auf die Form der erzählenden Darstellung realisiert. Historischen Allgemeinbegriffen eignet weniger eine klassifikatorische Rolle als vielmehr eine Perspektivenfunktion mit Bezug auf das Erzählen individueller Ereignisse. Die historiographische Wesensbestimmung als ganze hat für Hirsch - in Übereinstimmung mit Ranke - die Form der reflektierten narrativen Synthese.

c) Die religionsgeschichtliche Durchführung Hirsch hat die logische Struktur der Bestimmung des Wesentlichen anhand seiner Wesensbestimmung des Christentums entwickelt. Sie läßt sich aber unschwer übertragen auf die Bestimmung des Wesentlichen eines religionsgeschichtlichen Individuums. Was besagt dies nun konkret für das geschichtliche Verständnis Jesu von Nazareth? Dazu müssen wir uns die wichtigen Ergebnisse des vorange-

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gangenen Abschnitts bzw. des vorigen Kapitels bezüglich der individuellen historischen Bestimmtheit der Person Jesu vergegenwärtigen. Im Hinblick auf die Verkündigung Jesu hatten wir gesehen, wie Hirsch zur Ermittlung ihres individuellen Gehaltes das komparative Verfahren zur Anwendung brachte, zunächst in Form eines reinen Subtraktionsverfahrens, sodann in Gestalt der Rekonstruktion der sinnverwandelnden Aneignung religionsgeschichtlich vorgegebenen Vorstellungsmaterials im Kontext seiner kontigenten Verwendung durch Jesus. Bezüglich der Geschichte Jesu zeigte sich, daß Hirsch dessen messianisches Selbstverständnis vor allem aus dem Gehalt seiner Predigt ermittelte. Beide Fragestellungen waren geleitet von einer hermeneutischen Verschränkung von Wort und Geschichte Jesu. Diese Deutung Jesu von Nazareth unter Zugrundelegung einer wechselseitigen Erhellung seines Wortes und seiner Geschichte erwies sich deshalb als unumgänglich, weil sich sowohl hinsichtlich des Wortes als auch bezüglich der Geschichte letztlich das Gottesverhältnis Jesu als dasjenige herausstellte, was beiden überhaupt ein individuelles Gepräge verleiht. Damit sind wir aber hinsichtlich der Wesensreflexion in eine hermeneutisch fatale Situation geraten: Das Gottesverhältnis eines Menschen ist keine historisch gegebene Größe, so daß man an ihr Besonderes und Allgemeines, Einzelnes und Ganzes, Wandelbares und Identisches, Akzidentelles und Konstitutives unterscheiden könnte. Am Gottesverhältnis eines Menschen in religionsgeschichtlicher Hinsicht Wesentliches und Unwesentliches unterscheiden zu wollen, scheitert aus rein kategorialen Gründen. Das religionsgeschichtlich Wesentliche der Person Jesu kann an ihr selber historisch niemals ausgemacht werden, weil die Voraussetzung dafür, die individuelle Bestimmtheit dieser Person, ihrerseits auf deren Gottesverhältnis zurückführt, welches als solches der historischen Wahrnehmung grundsätzlich unzugänglich ist. Erweist sich damit jene Unterscheidung im Hinblick auf Jesus überhaupt als undurchführbar? Dieser Schluß ist keineswegs zwingend. Zwar kann die Unterscheidung zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem unmittelbar an dem, was sich als individueller Kern herausstellte, d.h. an seinem Gottesverhältnis, nicht vollzogen werden, sie läßt sich jedoch an dem historischen Entdeckungszusammenhang dieses Individuellen, nämlich an den geschichtlichen Ausdrucksphänomenen seines Gottesverhältnisses durchführen, da es sich hierbei - kategorial betrachtet - u m historisch prinzipiell zugängliche Sachverhalte handelt. Nun weisen, wie wir bereits gesehen haben, diese Ausdrucksphänomene des Gottesverhältnisses Jesu, seine Reden und Zeichenhandlungen, formal betrachtet nahezu durchgängig ein negatives Merkmal auf: Sein Bußruf und Vergebungswort, sein Verständnis von Gottesreich und Messias und auch sein Leben und Sterben als Ganzes artikulieren sich in mehr oder weniger expliziten Antithesen zum religionsgeschichtlichen Kontext sei-

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nes Auftretens und Wirkens. Diese Antithetik tritt bei Jesus offenkundig in besonders markanter Weise zutage, stellt aber nach Hirsch gleichwohl kein Spezifikum gerade seines Wortes und seiner Geschichte dar. Hirsch erblickt darin vielmehr ein strukturelles, religionsgeschichtliches Problem, nämlich das der geschichtlichen Artikulation einer nicht-geschichtlichen Größe. "Jede Deutung eines menschlichen Gottesverhältnisses gewinnt ihre Bestimmtheit allein vermöge der Entgegensetzung wider eine sie verneinende und von ihr verneinte verkehrte Deutung" ( B W G J 28). Damit ist der Wesensfrage die Richtung angezeigt: Wenn das am individuellen Dasein Jesu religionsgeschichtlich Wesentliche überhaupt erkannt werden soll, dann muß es dort historisch aufgesucht werden, wo sich sein Gottesverhältnis in antithetisch verfaßten Ausdrucksphänomenen niedergeschlagen hat. Diese antithetischen Selbstexplikationen Jesu, seien sie mehr worthaft oder eher tathaft, stellen den exklusiven Gegenstandsbereich der historischen Wesensreflexion dar. Da Hirsch - in Ubereinstimmung mit dem größten Teil der älteren Forschung 78 - den unmittelbaren Kontext des Wirkens Jesu vorrangig durch die religionsgeschichtliche Erscheinung des frühjüdischen Pharisäismus bestimmt sieht, kann die Frage nach dem Wesentlichen an Jesus nur so beantwortet werden, daß an seiner Antithese zum Pharisäismus Wesentliches von Unwesentlichem unterschieden wird. Dies ist wiederum nur unter der Voraussetzung möglich, daß das historische Phänomen des Pharisäismus selber zureichend erkannt ist. Deshalb gehört es für Hirsch zu den unabdingbaren Voraussetzungen einer religionsgeschichtlichen Deutung Jesu von Nazareth, daß man sich über das "eigentümliche Wesen des Pharisäismus" (ChR I, 54) im klaren ist. Hirsch hat sein Verständnis des frühjüdischen Pharisäismus - methodisch betrachtet - in zwei Schritten entfaltet: Der erste ist eine religionswissenschaftliche Klassifizierung, der zweite eine historisch-genetische Wesensbeschreibung. Zunächst unterscheidet Hirsch drei Grundgestalten von Religion: vitale Religion, Volksreligion und grenzüberschreitende bzw. Erlösungsreligion. Die alttestamentlich-jüdische Religion als Ganzes ist obzwar mit Elementen aus vitaler und grenzüberschreitender Religion angereichert - "grundsätzlich eine geschichtliche Verwirklichung der zweiten Möglichkeit" (ATPE 81). Volksreligion "im strengen Sinne" zeichnet sich dadurch aus, daß sie "in dem Gesetz des menschlichen Lebens miteinander, 78

Vgl. E. SCHÜRER: Die Predigt Jesu Christi in ihrem Verhältniss zum Alten Testament und zum Judenthum; A.v. HARNACK: LD I, 67 Anm. 1. 78 Anm. 2; J. WELLHAUSEN: Einleitung2, 90; P. WERNLE: Jesus, 21; E. MEYER: Ursprung und Anfänge des Christentums 1.2, 427; W. BOÜSSET: Jesu Predigt in ihrem Gegensatz zum Judentum, 32. Zu Bousset vgl. jetzt auch G. LÜDEMANN: Die religionsgeschichtliche Schule, 342-350.

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wie es in Familie, Recht, Sippe, politischem Verbände sich verwirklicht, den Willen der Gottheit, den heilig unverbrüchlichen wie den segnenden und zürnenden, ehrt und erfährt, und die mit allem ihren Tun zu diesem Willen das rechte, dies Leben miteinander bewahrende und steigernde Verhältnis sichert und sucht" ( A T P E 80). Versucht man nun, die innere Entwicklung der alttestamentlich-jüdischen Volksreligion selber noch einmal schematisch zu unterteilen, so kann man unterscheiden zwischen einer Frühphase von "gewachsener" Religion und ihrer späten als einer "gestifteten" ( W C h 9). Die Entstehung dieser alttestamentlich-jüdischen Stiftungsreligion wird von Hirsch ganz im Anschluß an die klassische Darstellung Wellhausens 7 9 wiedergegeben: Sie hat ihre Wurzeln einerseits in der Bewegung der großen Propheten und andererseits in der auf die legendäre Wiederauffindung des deuteronomischen Gesetzes gestützten Kultreform des Josia: "aber erst der an Esra's Namen sich knüpfende, unter dem Schutz der persischen Könige geschehende Akt vollendet die Stiftung" ( W C h 14). Von diesem Zeitpunkt an ist die alttestamentlich-jüdische Religion "Gesetzesreligion" ( W C h 15). "Sie versteht sich als feierlichen Bund zwischen Gott und Israel, der das mosaische Gesetz zur Daseinsgrundlage der jüdischen Volks- und Religionsgemeinde macht und ihr das Erwählungsbewußtsein und damit den Glauben an eine religiöse Sonderstellung über allen Völkern gründet" ( W C h 14). Nach dem Untergang zuerst Samarias und dann J u d ä a s entfaltet sich das restituierte Gottesvolk mehr und mehr zur spezifischen Religionsgemeinde oder "Kirche" (Lf § 18.M.4.). 80 Ohne die institutionelle Etablierung des Gesetzes wäre das geschichtliche Überdauern dieser Religion unter den historischen Bedingungen der nachexilischen Zeit nicht möglich gewesen. Allein jene Reorganisation der Frömmigkeit hat "die Reste des von Weltreichen zerstampften Volks fähig gemacht, sich in volksähnlicher, auch sich selbst als Volk verstehender Gestalt künstlich neu zu bilden als Religionsgemeinde, die das Gesetz dieses Gottes hält und verwirklicht" ( W C h 14). Bedeutete diese Stiftung gegenüber den Anfängen zwar eine tiefgreifende Veränderung, so bildete sie in der Folgezeit - unter Einbeziehung auch fremder Elemente - ihren Charakter mit zunehmender Konsequenz 79

Vgl. J. WELLHAUSEN: Prolegomena zur Geschichte Israels 391-409; ders.: Israelitische und jüdische Geschichte, 153-176.193-213.275-294. Vgl. dazu jetzt R. SMEND: Julius Wellhausen and His "Prolegomena to the History of Israel"; ders.: Wellhausen und das Judentum; L.H. SILBERMANN: Wellhausen and Judaism. 80 Die Deutung der jüdischen Theokratie als "Kirche" bildet ein zentrales Element von Wellhausens Geschichte des Judentums (vgl. Prolegomena 421); die jüdische Kirche wird dann ihrerseits zur "Mutter" der altkatholischen Kirche. Vgl. dazu jetzt: E. BAMMEL: Judentum, Christentum und Heidentum, 222.

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aus. Das historisch wie sachlich folgerichtige Ergebnis dieses Prozesses ist für Hirsch - wie für Wellhausen 81 - die Entstehung der pharisäischen Ethik und Frömmigkeit. An einer entscheidenden Stelle weicht Hirsch nun allerdings erheblich von Wellhausens Sicht ab. Diese Differenz betrifft nicht die Wahrnehmung der historischen Fakten, sondern deren religionsgeschichtliche Bewertung. Für Wellhausen war der Pharisäismus - gemessen an der prophetischen Religion Altisraels - im wesentlichen eine Verfallserscheinung.82 Hirsch dagegen hält es für eine "falsche Anschauung", den Pharisäismus zum klassischen Prophetismus so in Beziehung zu setzen, daß er nur als ein "Abfall von ihm" (ChR I, 54) erscheint. Hirsch begründet seine Einschätzung mit zwei Argumenten. Zunächst, der Pharisäismus bringt die Entwicklung der alttestamentlich-jüdischen Stiftungsreligion zur spezifischen Gestalt einer Religionsgemeinde zu einem inneren Abschluß, sofern die religiöse Identität des Gottesvolkes nun nicht mehr von äußeren geopolitischen Vorbedingungen abhängt, sondern ganz darin aufgeht, als eine "in freiwilligem Entschlüsse geheiligte geschichtliche Gemeinschaft von Menschen in Anbetung und Dienst Gottes" (Lf § 18.M.4.) zu existieren. Damit ist der Pharisäismus - religionsgeschichtlich geurteilt - die "einzige Gestalt, in der prophetische Religion Glaube und Dienst einer Gemeinschaft und Träger einer persönlichen Frömmigkeit werden konnte" (ChR I, 54). Seine inhaltliche Bedeutung für die Durchformung alttestamentlich-jüdischer Frömmigkeit sodann besteht vor allem darin, daß in ihm "Bundestreue und Gottesdienst zu einem das ganze Leben umfassenden persönlichen Gehorsam unter das Gesetz werden und das Gott Fürchten und Trauen an der persönlichen Erwartung von Gericht und Auferstehung sein Ziel bekommt" (Lf § 18.Α.). 83 Damit ist der Pharisäismus - religionsgeschichtlich beurteilt - die "beste Möglichkeit" (Lf § 18.M.2.) bzw. "tiefste und lauterste Gestalt alttestamentlich-jüdischer Religion" (Lf § 18.Α.). 81

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83

Ausgangspunkt der gesamten älteren Pharisäismusforschung ist die 1874 erschienene Studie von J . WELLHAUSEN: Die Pharisäer und die Sadducäer. Auf sie bauen auf W. BoussET: Die Religion des Judentums im späthellenistischen Zeitalter, 184ff; E. MEYER: Ursprung und Anfänge des Christentums 1.2, 282ff; E. SCHÜRER: Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi II, 447-579. Schürers Werk ist 1979 in einer von G. Vermes, F. Miliar und M. Black übersetzten und revidierten Fassung erschienen. Schürers "§ 28. Das Leben unter dem Gesetz" ist in der Bearbeitung "§28. Life and the Law" nicht mehr zu erkennen. "Es herrschte ein wahrer Götzendienst des Gesetzes. Gott selbst studierte in seinen Mußestunden die Thora und Iiis am Sabbat in der Bibel - so meinten die Rabbinen" (J. WELLHAUSEN: Israelitische und jüdische Geschichte, 284). In diesem Sinne gebraucht neuerdings E.P. SANDERS im Hinblick auf die tannaitische Literatur den Begriff "Bundesnomismus" (Paulus und das palästinische Judentum, 400).

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Mit beiden genannten P u n k t e n , einschließlich ihres religionsgeschichtlichen Hintergrunds, sind nun auch die Voraussetzungen einer Wesensbeschreibung des Pharisäismus gegeben. Eine prinzipielle Schwierigkeit hinsichtlich dessen, was als Feld der Unterscheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem zu gelten habe bzw. ob dieses Feld überhaupt der historischen Wahrnehmung gegeben sei, liegt hier nicht vor. Zwar gilt auch für die Erforschung des Wesens des Pharisäismus, daß nur die Ausdrucksformen dieser Frömmigkeit historisch zugänglich sind, nicht aber das ihnen zugrundeliegende Gottes Verhältnis. Da es jedoch zur individuellen Bestimmtheit dieser Frömmigkeit gehört, sich in - sei es schriftlich fixierten, sei es mündlich tradierten - positiven Satzungen, Weisungen Jahwes, niederzuschlagen, ist sie damit zugleich als geschichtliche Größe, und zwar auf eine ihr selber genuine Weise, empirisch greifbar. Der Pharisäismus hat die Funktion des Gesetzes als Ordnungsinstanz sowohl des individuellen Gottesverhältnisses als auch der Religionsgemeinde als ganzer in besonderer Weise durchgebildet. "Indem das Religionsgesetz das Volk gleichsam erst erschafft, saugt es die gesamten Lebensbeziehungen in sich hinein. Das Gesetz nimmt mit seinen ethischen und rituellen Vorschriften ... den Ernst und die Entscheidung des Frommen härter in Anspruch, als es von irgendeiner Stiftungsreligion sonst ihren Bekennern gegenüber geschieht .... So ist der Fromme gleichsam durchs Gesetz und fürs Gesetz da. In ihm und unter ihm gehört er Gott. Von ihm aus versteht der Einzelne wie die Gemeinschaft das Walten Gottes in Wirklichkeit und Geschichte" (WCh 15). So wird die durch Josia und Esra geschaffene Stiftungsreligion im Pharisäismus zur "Gesetzesreligion in einem unerhört gesteigerten Sinne" (ebd.). Der Pharisäismus stellt für Hirsch - religionsgeschichtlich gesehen - darum "das nahezu vollkommene Schema" ( C h R I, 54) bzw. "das folgerichtig durchreflektierte ... Modell menschlicher Gesetzesreligion überhaupt" (Lf§18.M.2.) dar. 8 4 Im Hinblick auf jene beiden P u n k t e zeigt sich nun aber auch die innere Problematik dieses Religionstypus. Zunächst sieht Hirsch bezüglich der Frömmigkeitsgestalt einen inneren Zwiespalt vorliegen: "Sie baut da, wo sie ihr Tiefstes erreicht, die Gotteserfahrung auf das Kontrasterlebnis 84

Sanders' Versuch einer Abschwächung des Gesetzesbegriffs: "Dadurch, daß man an der Grundstruktur des Bundesnomismus kontinuierlich festhielt, blieben Gabe und Forderung Gottes in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander, wurden die Bagatellbestimmungen des Gesetzes auf der Grundlage der Hauptprinzipien der Religion sowie wegen der Verpflichtung gegnüber Gott befolgt" (a.a.O. 405; Hhg.v.Vf.), besitzt kaum Uberzeugungskraft, wenn Sanders selbst zugleich "das relativ seltene Vorkommen des Begriffs 'Bund' in der rabb. Literatur" einräumen muß und als Erklärung dafür nur ein argumentum e silentio angeben kann: "Der Bund wurde vorausgesetzt, und die rabb. Debatten bezogen sich weitgehend auf die Frage, wie die Verpflichtungen des Bundes zu erfüllen seien" (a.a.O. 398; Hhg.i.O.).

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der göttlichen Majestät und der an ihr vergehenden menschlichen Kleinheit auf, ohne daß doch im Kontraste die Güte dieser M a j e s t ä t aufhörte, geehrt zu werden" (WCh 16). Trotz dieser Gewißheit der Bundesgüte Jahwes kann der Pharisäismus die darin angelegte Pflicht z u m Gehorsam gegenüber Gott und seinen Geboten nur so zur Durchführung bringen, daß er sich die Form einer "harten und künstlichen Gesetzesreligion" ( W C h 17) gibt und damit eine "Künstlichkeit des Daseins" ( C h R I, 54) vor Gott erzwingt. "So bricht in der alttestamentlich-jüdischen Religion das Rätsel ... auf, nur unter dem Gesetz ernst und doch eben so nicht menschlich sein zu können"; denn "menschliches Leben erträgt es nicht, Anbetung Gottes unter dem Gesetz zu sein" (WCh 16). Repräsentiert der Pharisäismus in nahezu vollkommener Weise das Schema einer Gesetzesreligion, so besteht seine Aporie eben darin, "daß er als solches Schema zugleich Lebensgestalt sein muß" (Lf § 18.M.2). Der andere Zwiespalt betrifft die Funktion des Gesetzes als des Konstitutionsprinzips der Religionsgemeinde. Der Pharisäismus "hat sich durch die in der Logik des Gottesverhältnisses angelegte Entdeckung, daß die Gottheit nur da als wahre Hoheit gedacht werde, wo sie als der eine, erhabne, über alles gebietende Schöpfer und Wirker gedacht wird, nicht die volkliche und gesetzliche Bildung ihres Glaubens und Dienstes zerstören lassen. Sie hat jene vielmehr mit dem Glauben an die in der Bundschließung und Gesetzgebung sich verwirklichende Erwählung dieses Volkes durch den Einzigen zu meistern gesucht. Dadurch ist in ihr der tiefe Widerspruch zwischen echter Anbetung der verborgnen göttlichen Hoheit und volksgebundnem Gesetzesdienst kund geworden" ( A T P E 81f). Betraf die erste Aporie der Vergesetzlichung des Gottesverhältnisses den Gegensatz zwischen menschlicher Lebendigkeit und formalistischer Künstlichkeit, so äußert sich die zweite in der Differenz von universal-monotheistischem Schöpfungsglauben und national-partikularer Erwählungsfrömmigkeit. Die Einzigartigkeit des Pharisäismus als Frömmigkeitsgestalt und Gemeinschaftsform gründet für Hirsch "in dem Fruchtbaren, erkannter und gelebter Widerspruch zu sein". Er enthüllt damit "das negative Geheimnis aller menschlichen Religionsgeschichte, in einem echten Gottesverhältnis dem Gesetz nicht entrinnen zu können und eben durch dies Gesetz von Gott geschieden zu sein" ( A T P E 82). Hirsch hat im Unterschied zu Wellhausen den Pharisäismus ob seiner immanenten Konsequenz als den höchsten Gipfel der alttestamentlichjüdischen Religion verstanden. Das, was ihn in den Augen Wellhausens zur Verfallserscheinung deklassierte, begründete umgekehrt für Hirsch gerade seine Höchststellung unter den außerchristlichen Religionen, nämlich die konsequente Durchformung der alttestamentlich-jüdischen Religion zur

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Gesetzesreligion. Sicherlich spielen in Hirschs Wesensbestimmung des Pharisäismus auch christologische Konstruktionszwänge eine Rolle. Unabhängig davon dürfte ihre historiographische Bedeutung jedoch darin bestehen, mit dem Aufweis jener Aporetik zugleich das historische Auftreten und die spezifische Wirksamkeit der Gestalt Jesu von Nazareth bis zu einem gewissen Grad religionsgeschichtlich verständlich zu machen. In Jesu Kritik am Pharisäismus erreicht die innere Zwiespältigkeit dieser Religion gewissermaßen ihre unüberbietbare krisenhafte Zuspitzung. Im Hinblick auf Jesus selber ist damit aber noch keineswegs der entscheidende P u n k t getroffen. Das gesuchte Wesentliche an Jesus kann nicht schon in der bloßen Antithese zum Pharisäismus liegen, sondern nur in dem, was an dieser Antithese sich als wesentlich zeigt. Weil Jesu Gottesverhältnis jedoch weder der historischen Wahrnehmung noch der reflektierten Geschichtsbetrachtung zugänglich ist, kann der wesentliche Gehalt der zwischen ihm und dem Pharisäismus bestehenden Antithese auf keine andere Weise ermittelt werden, als daß ausschließlich auf Seiten der Bestimmung des Pharisäismus die Wesensbeschreibung vollzogen wird. Das religionsgeschichtlich Wesentliche an Jesus kann somit nur als antithetisches Gegenüber zu dem am Pharisäismus selber Wesentlichen erfaßt werden. Das Wesentliche an Jesus ist die Antithese zum Wesentlichen am Pharisäismus. Nun h a t t e n aber die religionswissenschaftliche Klassifizierung und die religionsgeschichtliche Wesensbeschreibung des Pharisäismus ergeben, daß dieser die exemplarische Fassung einer Gesetzesreligion darstellt. Das religionsgeschichtlich Wesentliche an Jesus besteht demnach nicht in der Antithese zum Pharisäismus als geschichtlicher Erscheinung, sondern in der Antithese zu dem an ihm Wesentlichen, nämlich exemplarische Gestalt von Gesetzesreligion zu sein. Das religionsgeschichtlich Wesentliche an Jesus ist für Hirsch nichts anderes als "Jesu Wort, so wie es sich in Jesu geschichtlichem Kampf gegen die pharisäische Frömmigkeit, und damit gegen die höchste Spitze der alttestamentlich-jüdischen Frömmigkeit, als Ende des Gesetzes enthüllt" ( W C h 28). Religionsgeschichtlich wesentlich an Jesus ist die Aufhebung der Gesetzesreligion überhaupt, unwesentlich an ihm ist die geschichtlich bestimmte Gestalt dieser Antithese, d.h. die Kritik am Pharisäismus als geschichtlich bedingter Erscheinung. Das religionsgeschichtlich Wesentliche an Jesus ist demnach identisch mit dem, was der paulinische Begriff "Evangelium" ( W C h 28) bedeutet. Dieses "Evangelium" begegnet nicht nur in Jesu Wort, sondern auch in derjenigen Geschichte, in die die Verkündigung dieses Wortes ihren Verkündiger gebracht hat. "In dem Kreuz Jesu bekommt sein Verständnis des Gegensatzes von Gesetz und Evangelium die Unwiderruflichkeit des Endgültigen" (Lf §20.B). Der Ausdruck "Evangelium" als historiographi-

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scher Wesensbegriff bezeichnet somit den Inbegriff des religionsgeschichtlich Wesentlichen an Wort und Geschichte Jesu, nämlich die grundsätzliche Aufhebung des Gesetzes als einer Deutungskategorie des menschlichen Gottesverhältnisses. Weil dieser Begriff gewonnen ist auf dem Wege einer an dem antithetischen Verhältnis zwischen Jesus und dem Pharisäismus orientierten Unterscheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem, eben d a r u m steht das Evangelium zum Gesetz in einer "zugleich geschichtlichen wie dialektischen Beziehung" ( A T P E 83). Hat sich mit diesem Begriff des Evangeliums als dem Resultat der Unterscheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem das historische Verstehen aber nicht letztlich verflüchtigt, wenn vielleicht auch nicht ins Theologumenon, so doch in einen historiographischen Klassifikationsausdruck, wogegen gerade Hirsch opponiert hatte? Diese Frage mag sich auf den ersten Blick nahelegen. Betrachtet man indes das von Hirsch tatsächlich befolgte Verfahren der religionsgeschichtlichen Deutung Jesu, so nehmen sich die Dinge anders aus. Daß Hirsch sein historiographisch-hermeneutisch.es P r o g r a m m auch im Hinblick auf das Verständnis des Evangeliums als des religionsgeschichtlich Wesentlichen an Jesus durchhält, macht seine "Definition" des Ausdrucks "Evangelium" deutlich. "Unter Evangelium verstehn wir Jesu Wort, so wie es sich in Jesu geschichtlichem Kampf gegen die pharisäische Frömmigkeit ... als Ende des Gesetzes enthüllt" ( W C h 28). Schon bei einer rein formallogischen Betrachtung fällt auf, daß es sich bei dem Ausdruck "Evangelium" gar nicht um einen Begriff handelt, sondern u m eine Kennzeichnung, d.h. um einen prädikative Elemente einschließenden komplexen Individuenausdruck. Das "so wie es sich ... als ... enthüllt" zeigt darüber hinaus, daß die Wesensbestimmung auf einen historisch gegebenen Tatsachenbefund rekurriert. Das heißt, das Evangelium erweist sich nur dann als das Wesentliche an Jesus, wenn dessen Wort und Geschichte sich in einer reflektierten Geschichtsbetrachtung als Aufhebung der Gesetzesreligion darstellen lassen. Das Wesentliche ist in erkenntnistheoretischer Hinsicht somit nicht das Allgemeine, unter welches das historische Phänomen subsumiert würde, sondern der Reflexionsgesichtspunkt, unter dem es nacherzählt wird. Hirschs geschichtsmethodologisch.es Verfahren der Bestimmung des Wesentlichen an Jesus läßt sich demnach folgendermaßen zusammenfassen: Das religionsgeschichtlich Wesentliche an Jesus von Nazareth historisch darstellen heißt, das geschichtliche F a k t u m der Antithese zwischen dem Pharisäismus einerseits und Jesu Wort und Geschichte andererseits unter dem Begriffspaar "Gesetzesreligion/ Aufhebung des Gesetzes" reflektiert erzählen. Hirsch hat diesen hermeneutischen Grundsatz in der Weise eingelöst, daß er Jesu ausdrückliche Kritik am Gesetz, seine sinnverwandelnde An-

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eignung der Begriffe "Reich Gottes" und "Messias" sowie die Geschichte seines Leidens und Sterbens zum Gegenstand einer reflektierten Geschichtsbetrachtung gemacht hat. Von den beiden zuletzt genannten Themen war bereits an anderer Stelle die Rede. So bleibt allein der erste P u n k t noch zu erläutern. Die überlieferten Fälle konkreter Zusammenstöße mit dem Pharisäismus, vor allem die Kritik an der Verkehrung der Funktion des Sabbathgebots (vgl. W C h 21f), die Entgegensetzung von ritueller Reinheit und wahrer Herzensreinheit (vgl. W C h 22), die Bestreitung des Eides als einer Gott bindenden frommen Handlung (vgl. W C h 23f) und der Angriff gegen die religiöse Sanktionierung des Ehescheidungsrechtes (vgl. W C h 24f) 8 5 , machen nach Auffassung Hirschs deutlich, daß für Jesus weder das formalistische Verständnis der Autorität des Gesetzes, noch das juridischkasuistische Auslegungsverfahren, sondern allein ein "freier Gebrauch seines Sinns und Inhalts" (ChR I, 54) der Intention des göttlichen Willens gerecht zu werden vermag. Als Voraussetzung solcher Freiheit vom Gesetz und zugleich der Erfüllung des dahinter verborgenen göttlichen Willens nimmt Jesus äußerlich nichts weiter für sich in Anspruch, als was den Schriftgelehrten seiner Zeit auch bekannt war, nämlich, daß das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe den "Sinn des Gesetzes" erschöpfend beschreibe. Aber während ihnen dieses Gebot sich als eines unter vielen wieder relativierte, entfaltet Jesus es zum tragenden Gesichtspunkt seiner inneren Uberwindung der Gesetzesfrömmigkeit. Jesu Verständnis des Willens Gottes als des in sich Einen, den es in seiner Ganzheit wahrzunehmen und zu befolgen gilt, "zerbricht das Gesetz als unmittelbare Gottesmacht im Dasein; diese Macht legt sich vielmehr in das innerliche sich Vernehmen des Einzelnen" (ebd.). Gott ist "verborgene lebengebende Güte". Das einzig wahrhaftige Dasein vor Gott ist "der Glaube, der Gottes Liebe grundlos empfängt" (ChR I, 55). Der Mangel der pharisäischen Frömmigkeit besteht für Hirsch nicht darin, daß sie Liebe und Güte, Gnade und Barmherzigkeit nicht als Momente des Gottesgedankens zur Geltung gebracht hätte 8 6 , sondern darin, daß sie sich der Einsicht verschließt, Gottes Güte sei schlechthin verborgene Güte und Gottes Liebe werde schlechthin ohne menschliches Zutun empfangen. Beides hat Jesus zusammenfassend ausgedrückt in der Vorstellung von der wahren Gotteskindschaft, wie sie im Kommen des Got85

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Diese Perikopen sind dann auch in den Jesus-Darstellungen der Bultmann-Schule (H. Braun, E. Fuchs, G. Bornkamm, E. Käsemann) in den Vordergrund getreten, woraus sich die Frage nach einer impliziten Christologie des Vollmachtsanspruches Jesu von selbst ergeben mußte. Auch die ältere Pharisäismusforschung insgesamt läßt sich nicht auf diese Position reduzieren.

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Geschichtsmethodologische Grundlagen

tesreiches unter der Form der Sündenvergebung zuteil wird. Deshalb hebt Hirsch mit Nachdruck hervor: "Der Inhalt des christlichen Verständnisses von Gnade kann nur da bewahrt werden, wo der Kampf Jesu gegen den Pharisäismus lebendig bleibt" (ChR I, 55). Jesu Deutung des Gottesverhältnisses als schlechthin verborgener und schlechthin empfangener Gotteskindschaft verneint es nicht, sondern schließt es vielmehr ein, daß der zur Vollendung in der ungebrochenen Gottesgemeinschaft begnadete und berufene Mensch sein Leben als Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes vollbringt. Aber der Sinn der göttlichen Weisung ist für den Gehorsam in der Gotteskindschaft ein anderer als für die äußerliche formalistische Gesetzesobservanz. "Das Gebot wird im Glauben verstanden als Hilfe, für den, der Gott schon gehört" (ChR I, 55). Jesus hat nach Auffassung Hirschs das Gesetz, welches für den Pharisäismus ebensowohl uneingeschränkte Offenbarungsinstanz wie heilige Ordnungsinstanz gewesen ist, seiner Letzt Verbindlichkeit beraubt. "Jesus begründet das wahre Verhältnis zu Gott und zum Nächsten in einer Wirklichkeit, die allein dem Glauben erschlossen ist und durch kein Gesetz ... definiert werden kann" (WCh 26). Seine Auffassung vom wahren Verhältnis des Menschen zu Gott und dem Nächsten hat Jesus am knappsten und klarsten in denjenigen Worten zusammengefaßt, deren erweiterte Gestalt dann als Herrengebet in die christliche Uberlieferung eingegangen ist. Hirsch paraphrasiert folgendermaßen: "Zweierlei bedarf der Mensch: daß Gottes Reich zu ihm komme als sein Leben in Gott, und daß er das zum täglichen Leben Nötige heute habe. Und zweierlei ist es, darin er seine Freiheit aus Gott erfährt: daß ihm die Schuld vergeben wird und er andern die Schuld vergeben kann" ( W C h 25). D a r u m hat Jesus dieses Gebet seinen Jüngern als Muster des inneren Verkehrs mit Gott an die Hand gegeben. Hirsch betont: "Wer dies Gebet verstanden hat, der hat das Entscheidende an Jesus verstanden" (ebd.). Nimmt m a n die einzelnen Momente von Jesu expliziter Auseinandersetzung mit der pharisäischen Frömmigkeit zusammen, so kann man nach Auffassung Hirschs nicht umhin, als Ergebnis festzuhalten, daß hiermit "der Gesetzesreligion alle Voraussetzungen entzogen" ( W C h 27) sind. Deshalb ist Hirsch alles daran gelegen, die pharisäische Gestalt alttestamentlich-jüdischer Religion als religionsgeschichtlichen Typus nicht abzuwerten, sondern das Wesentliche an ihr geradezu als exemplarische Gestalt von Religion zu verstehen, nicht u m des Pharisäismus selber willen, sondern u m das Wesentliche an Jesus zu begreifen. "Der Pharisäismus ist Repräsentant des allgemein menschlichen Gottesverhältnisses. Dies ist ein Schlüssel, ohne den das Evangelium nicht verständlich wird. Nur so wird Jesu Kampf gegen den Pharisäismus zu etwas anderem als etwas bloß Historischem" (ChR I, 55).

Wesentlich und Unwesentlich

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Hirsch weiß selbstverständlich, daß nicht der historische Jesus selber die Aufhebung des Gesetzes als das Wesentliche seines Auftretens und Wirkens bezeichnet hat, sondern daß diese Charakteristik das Resultat einer reflektierten Geschichtsbetrachtung ist. Hirsch war sich auch darüber im klaren, damit zu einer Bestimmung des Wesentlichen an Jesus gelangt zu sein, die mit der Fundamentalperspektive der paulinischen Theologie nahezu deckungsgleich ist. Diese Übereinstimmung wäre aber mißverstanden, wollte m a n in ihr lediglich ein Indiz dafür erblicken, daß der Historiker seinem theologischen Vorverständnis erlegen sei. Hirsch sah darin eher umgekehrt einen Beleg für die religionsgeschichtliche Zuverlässigkeit des paulinischen Christusbildes. "Jesu Kampf gegen den Pharisäismus ist die geschichtlich unanfechtbare Grundlage für den paulinischen Satz, daß Christus das Ende des Gesetzes sei" (Lf § 18.M.3.). Hirsch war sich der Stufigkeit des religionsgeschichtlichen Vermittlungsprozesses von Jesus zu Paulus ebenso bewußt wie dessen inhaltlicher Kontinuität. "Es ist töricht, eine Einheit in der Denk- und Lebensverfaßtheit zwischen Jesus, erster Gemeinde und Paulus erdichten zu wollen. Es ist noch törichter, die letzte Einheit im Evangelium leugnen zu wollen. Es geht ein einfacher und gerader Zusammenhang durch die beobachtete Geschichte hindurch" ( W C h 49). Das Gesamtergebnis der Wesensreflexion zu Wort und Geschichte Jesu kann Hirsch somit folgendermaßen zusammenfassen: "Soll m a n das, was das Wesentliche an Jesus ist, reügionswissenschaftlich bezeichnen, so wäre es doch wohl dies: er ist Überwinder der alttestamentlich-jüdischen Religion und letzter Ursprung der das Abendland sich erobernden christlichen Religion geworden dadurch, daß er mit Wort wie mit Tat und Leiden, mit seiner ganzen Person, eine neue Art menschlichen Gottesverhältnisses und damit eine neue Weise des Menschseins erschlossen h a t " ( F E II, 378). Für Harnack war es ein Widerspruch, daß m a n einerseits den leben digen Gott anrufen konnte mit den Worten: "Herr, wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde", und andererseits einen Dienst an ihm darin zu erkennen meinte, Minze und Kümmel zu ver zehnten. Nach seiner Auffassung machte Jesus genau auf diesen inneren Widerspruch der alttestamentlich-jüdischen Religion aufmerksam. Hirsch schließt sich dieser religionsgeschichtlichen Einschätzung an, ergänzt sie jedoch u m die Feststellung, daß jene Gestalt der Frömmigkeit aus sich heraus zu einer Uberwindung dieses Widerspruchs nicht in der Lage sei. Weil Jesus das erkannt und den Schritt gewagt hat, eben d a r u m ist er aus Israel ausgestoßen worden und wurde umgekehrt zum Ende des Gesetzes. F ü r Hirsch würde sich der religionsgeschichtliche Ort Jesu ins Unbestimmbare verflüchtigen, wollte m a n seine Antithese zur pharisäischen Gestalt antik-jüdischer Frömmigkeit historiographisch unter die

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Geschichtsmethodologische Grundlagen

K a t e g o r i e des Zufälligen s u b s u m i e r e n oder aus a n d e r w e i t i g e n M o t i v e n z u m Verschwinden bringen.87

5. D a s G l e i c h z e i t i g w e r d e n als Ziel h i s t o r i s c h e n V e r s t e h e n s

E i n e seiner w i c h t i g s t e n h e r m e n e u t i s c h e n K a t e g o r i e n g e w i n n t Hirsch in A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t d e m D e n k e n S0ren Kierkegaards. D e s s e n Chris t o l o g i e f a n d sich vor folgendes P r o b l e m gestellt: "die O f f e n b a r u n g geht als geschichtliche g e r a d e an die S u b j e k t i v i t ä t , ist als a n die S u b j e k t i v i t ä t g e h e n d e g e r a d e geschichtlich" ( K S t 700). E i n e g e d a n k l i c h e A u f l ö s u n g dieser A p o r i e k o n n t e nur so v o r g e n o m m e n werden, daß b e i d e e i n s e i t i g e n Ext r a p o l a t i o n e n , "eine geschichtliche V e r s ö h n u n g j e n s e i t s der Innerlichkeit u n d eine m i t G o t t v e r s ö h n t e Innerlichkeit diesseits der g e s c h i c h t l i c h e n Wirklichkeit" ( e b d . ) , strikt v e r m i e d e n w ü r d e n . D i e j e n i g e K a t e g o r i e , in der Kierkegaard das Ergebnis seiner Ü b e r l e g u n g e n z u s a m m e n g e f a ß t h a t ,

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Die Einordnung des Verständnisses des Alten Testamentes in den Gesamtzusammenhang von Hirschs Denken steht im Mittelpunkt der Untersuchung von W. S C H O T T R O F F : Theologie und Politik bei Emanuel Hirsch (vgl. dazu D. L A N G E : Der Begriff des Heiligen, 200f Anm. 48.51). Die dabei gewonnenen Ergebnisse werden nahtlos mit Hirschs Jesusbild in Verbindung gebracht (a.a.O. 34.143) und beides abgelehnt (a.a.O. 152f). Zu Schottroffs allgemeinem "Theologie nach Auschwitz"-Argument zunächst ist zu sagen: Die aus dem Holocaust sich zwingend ergebende und schlechterdings alternativlose Ethik der Buße und Aussöhnung gegenüber dem jüdischen Volk darf nicht verwechselt werden mit der wissenschaftlichen Aufgabe einer religionsgeschichtlichen Ortsbestimmung Jesu von Nazareth. Auf ideologische Implikationen der Lösung dieser Aufgabe in der älteren Forschung hinzuweisen ist notwendiger Bestandteil ideologiekritischer Wissenschaftsgeschichtsschreibung, schützt umgekehrt aber diese selbst keineswegs davor, ihrerseits anderen, neuen Ideologumena aufzusitzen. Was nun speziell Hirschs Verschränkung der Hermeneutik der Jesus-Überlieferung mit der Hermeneutik des Alten Testaments anbelangt, so ist sie mit Bezug auf letztere allerdings keineswegs so einleuchtend, wie Hirsch vorgibt. Dieses Verschränkungsproblem wird von Schottroff merkwürdigerweise ganz übergangen. So angemessen Hirschs Verfahren ist, die religionsgeschichtliche Bestimmtheit Jesu aus dem Kontext des ihm zeitgenössischen Judentums zu erhellen, so wenig zwingend ist es, von hier aus zugleich einen theologischen Gesamtsinn des Alten Testaments zu ermitteln. Die Aussage, daß der Pharisäismus die innere Konsequenz der israelitisch-jüdischen Religion darstelle, ist eine religionsgeschichtliche These, kein hermeneutisches Kriterium des Umgangs mit dem Alten Testament. Nicht zuletzt Schleiermachers Verständnis des Alten Testaments zeigt, daß mit der Feststellung des religionsgeschichtlich Neuen an der Person Jesu von Nazareth auch ganz andere hermeneutische Optionen bezüglich der alttestamentlichen Schriften möglich sind.

Hermeneutische Gleichzeitigkeit

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ist der Begriff der Gleichzeitigkeit. 8 8 Im Akt des Glaubens an die ewige B e d e u t u n g des Erscheinens Gottes in der Zeit e m p f ä n g t der G l a u b e diejenige ewige Bedingung, vermöge deren er der Niedrigkeitsgestalt des G o t t Menschen gleichzeitig zu werden vermag. Die Möglichkeit solchen Gleichzeitigwerdens mit Jesus ist darin b e g r ü n d e t , daß das Erscheinen Gottes in der Zeit den S t a t u s einer zugleich absoluten u n d geschichtlichen T a t s a c h e h a t , welche mit Bezug auf den Gott-Menschen ebenso die Ewigsetzung des Geschichtlichen wie umgekehrt die Geschichtlichsetzung des Ewigen zur Folge h a t . So offenkundig n u n die hermeneutische Leistungskraft der Kierkegaardschen Gleichzeitigkeitslehre ist, so augenfällig ist f ü r Hirsch auch deren Mangel. Sie war von Kierkegaard konsistent ausformulierbar n u r u n t e r der nicht problematisierten Voraussetzung der Gültigkeit der traditionellen Christologie einschließlich ihrer metaphysischen Implikationen. "Es ist Kierkegaard selbst nicht gelungen, die in diesem Ansatz s c h l u m m e r n d e neue Gestalt persönlicher Rechenschaft von dem Wege, auf welchem uns Jesus als Träger des Evangeliums das Gottesverhältnis innerlich zu bestimmen vermag, auf eine d e m Geschichtsalter u n t e r der Macht des Zweifels gemäße Weise zu e n t f a l t e n " (WG1 122f). D a r u m sieht sich Hirsch vor die A u f g a b e gestellt, einen Begriff des Gleichzeitigwerdens innerhalb der Grenzen allgemein-menschlichen Verstehens zu entwerfen. 8 9 Er bildet die h e r m e n e u t i s c h e Voraussetzung f ü r den in der Christologie zu e n t f a l t e n d e n Sachverhalt, daß in der geschichtlichen Begegnung mit d e m Menschen Jesus die W a h r h e i t Gottes auf g n a d e n h a f t e Weise als gegenwärtige evident wird (vgl. Kap. V.B.7.). Hirschs "Gleichzeitigkeitslehre" ( C h R II, 40) u m f a ß t im wesentlichen zwei Aufgaben. Die eine besteht in der Analyse der Konstitutionsbedingungen von Geschichtlichkeit, die andere b e s t e h t in der K l ä r u n g b e s t i m m t e r Merkmale von Geschichtserkenntnis. Nach beiden Problemkreisen b e t r a c h t e t , ist Hirschs Gleichzeitigkeitslehre also " d e m Gebiete der Erkenntnislehre" (WG1 123f) zuzuordnen.

88 Zum Begriff der Gleichzeitigkeit in den "Philosophischen Brocken" vgl. jetzt B. FISCHER: Die Christologie des Paradoxes, 59-64. Zur Verwendung dieses Begriffs

in der "Einübung im Christentum" vgl. auch B. GERDES: Sören Kierkegaards "Einübung im Christentum", 74-78.

89 flirsch weiß sich darin demjenigen Begriff humaner Kommunikation verbunden, wie er in der Existenzphilosophie bei K. Jaspers vorgetragen wurde (vgl. KSt 703 Anm. 1; 800 Anm. 2).

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Geschichtsmethodologische G r u n d l a g e n a ) Der handlungstheoretische Begriff der Geschichte

Geschichtserkenntnis vollzieht sich für Hirsch auf zwei voneinander verschiedenen Stufen. Diese Zweistufigkeit ist einerseits i m Wesen der Geschichte selber, andererseits in den Möglichkeiten ihrer A u s d e u t u n g b e g r ü n d e t . Geschichte als lediglich geschehene Geschichte, im unterschied zur Historie als erkannter u n d dargestellter Geschichte (vgl. K S t 540, A n m . 4), kann v e r s t a n d e n werden - ohne d a m i t erschöpfend definiert zu sein - als Z u s a m m e n h a n g g e m e i n s c h a f t s b e z o g e n e r , freier menschlicher H a n d l u n g e n (vgl. C h R I, 184). Dieser H a n d l u n g s z u s a m m e n h a n g kann n u n g r u n d s ä t z lich zwiefach interpretiert werden: Z u m einen unter d e m A s p e k t des dyn a m i s c h e n V e r k n ü p f t s e i n s der m a n n i g f a l t i g e n H a n d l u n g e n u n t e r e i n a n d e r , z u m andern unter d e m A s p e k t des d e m V o l l z u g s c h a r a k t e r aller dieser Einzelhandlungen korrespondierenden Vollzugssinns. N a c h der ersten Seite b e t r a c h t e t , zeigt sich Geschichte als ein "Wirkzus a m m e n h a n g , der sich aus widerstreitenden menschlichen W i l l e n s k r ä f t e n n a c h den G e s e t z e n von U r s a c h e u n d W i r k u n g gebildet h a t " ( H c h R 358). D a ß die scheinbar ausschließlich auf den Bereich des N a t u r z u s a m m e n h a n g s b e z o g e n e u n d insofern der S p h ä r e der empirischen Verstandeserkenntnis zugehörige K a u s a l i t ä t s k a t e g o r i e auch als S c h e m a der V e r k n ü p f u n g von H a n d l u n g e n zu fungieren v e r m a g , h a t u n m i t t e l b a r h a n d l u n g s t h e o r e t i s c h e G r ü n d e . " D i e k a u s a l v e r k n ü p f t e Welt u n d unsere T ä t i g k e i t in dieser Welt sind von gleichartiger S t r u k t u r " ( C h R I, 188). Dieser S a t z b e d a r f der Erläuterung. Die K a u s a l v e r k n ü p f u n g auf d e m Felde der empirischen V e r s t a n d e s erkenntnis u m f a ß t nach Hirsch drei M o m e n t e : E r s t e n s die "Isolierung b e s t i m m t e r einzelner U r s a c h e n und Wirkungen, d.h. die A b s t r a k t i o n von d e m All, d e m jeder einzelne K a u s a l v o r g a n g z u g e h ö r t " ( C h R I, 188; Hhg.v. V f . ) ; vermittelst dieser Isolierung wird jeder beliebige e m p i r i s c h e V o r g a n g ü b e r h a u p t erst als Einzelereignis, d.h. als in sich einige, k a u s a l geordnete, reale Z u s t a n d s v e r ä n d e r u n g identifizierbar u n d d a m i t weiterer Unt e r s u c h u n g u n d B e s t i m m u n g fähig. Zweitens die " N e u t r a l i s i e r u n g des Unterschieds von U r s a c h e u n d Wirkung durch A n n a h m e einer rechnerisch s y m b o l i s i e r b a r e n Gleichheit zwischen b e i d e n " ( e b d . ) ; a u f g r u n d dieser Neutralisierung kann der K r a f t a u f w a n d , der zur H e r b e i f ü h r u n g einer d u r c h d a s Verhältnis von U r s a c h e u n d Wirkung s t r u k t u r i e r t e n Z u s t a n d s v e r ä n d e r u n g erforderlich ist, m a t h e m a t i s c h erfaßt werden, u n d zwar so, daß z u m Zwecke der Berechenbarkeit der verändernden K r a f t d a s M a ß der K r a f t ä u ß e r u n g u n d d a s M a ß der K r a f t e i n w i r k u n g - obschon einander n e g a t i v entgegengesetzt - absolut gesehen als gleich a n g e n o m m e n werden. D r i t t e n s die "unendliche Summierung der so isolierten u n d neutralisierten einzelnen

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Kausalvorgänge zur Vorstellung eines in sich streng kausal verknüpften Gesamtzusammenhangs im All" (ebd.). Allein vermöge dieser unendlichen Summierung gehen die vom Gesamtverweisungszusammenhang eines Einzelereignisses absehende Kausalerklärung und die das darin vorliegende dynamische Verhältnis neutralisierende Quantifizierung des Kraftmaßes darüber hinaus, lediglich die mathematische Darstellung der Beobachtung eines begrenzten empirischen Regelverhaltens zu sein, indem sie zu gültigen Elementen der universellen Gesetzesmäßigkeit des dynamisch geordneten und mathematisch erfaßten Naturzusammenhanges werden. Alle drei genannten Momente der Kausalverknüpfung der empirischen Verstandeserkenntnis sind nun - unbeschadet der oben ausgeführten Differenz von naturwissenschaftlicher "Sachwahrheit" und geschichtswissenschaftlicher "Sinnwahrheit" - auch Strukturmerkmale des menschlichen Handelns. Handeln bedeutet zunächst, "den Weg zum Ziel in eine Reihe von Teilakten zerlegen" (ChR I, 188). Dies entspricht dem Moment der Isolierung, wobei es im Falle des Handelns darum geht, die hinreichend distinkten Teilzwecke derjenigen Teilakte aufzufinden, in die sich jede auf einen gegebenen Gesamtzweck intentional bezogene Handlung aufspalten läßt. Von jedem dieser Teilakte gilt sodann, daß nur mit Bezug auf deren Effekt "die eigne Veränderungskraft genau berechenbar, der Erfolg ... vorhersagbar ist" (ebd.). Dies entspricht dem Moment der Neutralisierung, sofern zunächst die für den Vollzug einer Gesamthandlung notwendige Veränderungskraft sich zusammensetzt aus den für die einzelnen Teilakte jeweils aufzubringenden Kräften, letztere sich jedoch allein nach dem Kraftaufwand bemessen lassen, welcher für die einzelnen, den jeweiligen Teilakten korrespondierenden ZustandsVeränderungen erforderlich ist. Und schließlich, den Aufbau einer Gesamthandlung auf dem Wege der Realisierung ihrer Teilakte vollziehen, kann nurmehr heißen: "in der Summierung dieser Akte das Ziel ... ergreifen" (ebd.). Diese Summierung ist prinzipiell unendlich, da jede Handlung aufgrund der immanenten Stetigkeit der von ihr hervorgebrachten bzw. hervorzubringenden Zustandsveränderung ins Unendliche teilbar ist. So kann auch jede unter einem Gesamtzweck stehende Gesamthandlung prinzipiell in unendlich viele Teilakte mit jeweils verschiedenen Teilzwecken aufgespalten werden. Hirsch faßt das Ergebnis seiner handlungstheoretisch außerordentlich wichtigen Überlegungen dahingehend zusammen, daß "die drei Akte der Kausalverknüpfung auch die drei Akte jeder menschlichen Tätigkeit sind" (ebd.). Hirschs Gleichzeitigkeitslehre nimmt ihren Ausgang somit vom Nachweis einer prinzipiellen Isomorphic bzw. Strukturidentität

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zwischen dem Kausalnexus der Naturerkenntnis einerseits und dem internen Aufbau menschlichen Handelns andererseits. 9 0 Wenn nun aber zwischen der erfahrungswissenschaftlichen Kausalverknüpfung und der Binnenkomplexität einer Handlung jene strukturelle Entsprechung besteht, dann ist es grundsätzlich möglich und sachgerecht, jene Kausalitätsstruktur nicht nur auf das Handeln isolierter Individuen anzuwenden, sondern auch auf das gesamte Feld der Interaktionsprozesse. Demgemäß kann das Beziehungsgeflecht einer Mannigfaltigkeit sich wechselseitig bestimmender Handlungen, die von verschiedenen Akteuren ausgehen, als dynamisches Verhältnis, nämlich als "Wirkzusammenhang" (HchR 358) aufgefaßt werden. Der so verfaßte Handlungszusammenhang gewinnt darüber hinaus die Beschaffenheit eines vernünftig-lebendigen Wechselwirkungsverhältnisses, wenn seine Gesamtkausalität den Charakter eines auf Freiheit basierenden, intentional verfaßten Interaktionsgeschehens aufweist. Geschichte ist ihrer kausaldynamischen Struktur nach somit ein "Wirkzusammenhang, der sich aus widerstreitenden menschlichen Willenskräften nach den Gesetzen von Ursache und Wirkung gebildet h a t " (ebd.). Interdependenzen von Handlungen bilden den Mittelpunkt der Geschichte. Geschichtswissenschaft hat es im wesentlichen mit der Erhebung von "Tatsachenverkettungen" (ChR II, 22) zu tun. Entscheidend ist nun aber, welche Stellung bei dieser Art der Geschichtsauffassung die den geschichtlichen Wirkungszusammenhang hervorbringenden Instanzen, d.h. die handelnden Subjekte einnehmen. Deren Rolle scheint aufzugehen in der realdynamischen Funktion, die ihnen im Hinblick auf das Ganze zukommt: "Es können freilich in diesem Wirkzusammenhang große machtvolle Veränderungen erfaßt und begriffen sein, wenn m a n ihn wieder aus seinen Teilstücken sich a u f b a u t . Die Menschen aber, die in ihm vorkommen, sind eben nichts als wirkende Kräfte, in denen Verstand und Absicht sich auf eine bestimmte Weise verknüpft haben" (HchR 358). Am handelnden Subjekt verdient nur das Aufmerksamkeit, was in den dynamischen Wirkungszusammenhang eingegangen ist, und nur insofern, als es in ihm zur Geltung kommt.

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Es fällt auf, daß Hirsch den Parallelismus zwischen der kausalen Verknüpfung von Ereignissen durch den empirischen Verstandesgebrauch und dem kausalen Aufbau eines Handlungsvollzugs selbst nicht mehr erklärt, etwa durch ein transzendentalidealistisches Begründungsmodell der Unterscheidung und Zuordnung von Phainomena und Noumena, empirischem und intelligiblem Kausalitätscharakter, Naturkausalität und Freiheitskausalität. Hirsch fragt nicht nach der Denkbarkeit von Handlungen überhaupt, sondern nach deren strukturellem Aufbau unter Voraussetzung ihrer realen Möglichkeit. Die stillschweigende Prämisse dieser Handlungstheorie bildet der transzendentale Begriff der Freiheit (vgl. dazu unten Kap. III.B.3.a).

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b) Das Fremdverstehen von Handlungssinn

Genau an dem P u n k t zeigt sich ein prinzipieller Mangel jener Geschichtsbetrachtung. So unbestreitbar aufschlußreich sie für die dynamische Strukturierung und gedankliche Ordnung von gegebenen Handlungszusammenhängen ist, so wenig kann sie für sich in Anspruch nehmen, das gesamte Sinnpotential geschichtlichen Handelns zutage zu fördern. 9 1 Denn hierzu gehört auch der dem menschlichen Handeln eigene innere Vollzugssinn des Werdens einer Handlung, wie er sich nur dem die Handlung jeweils Vollziehenden selber erschließt. Wie verschieden hoch der Stellenwert dieses inneren Vollzugssinnes einer Handlung für den jeweils Handelnden bezüglich der einzelnen Felder der Geschichte - Staatengeschichte, Wirtschaftsgeschichte, Sozialgeschichte, Ideengeschichte, Religionsgeschichte, Mentalitätsgeschichte usw. - auch zu veranschlagen sein mag, ganz kann er nirgends fehlen, da er unmittelbar zum Begriff einer Handlung gehört. Der Erlebnisgehalt einer Handlung geht nie in dem auf, was diese für den geschichtlichen Wirkungszusammenhang bedeutet, in den sie wirkend-gewirkt eingeht. 9 2 Der verbleibende Rest mag für den Handlungszusammenhang der Geschichte unwesentlich sein, für die Selbstauffassung des geschichtlich Handelnden und dessen historisches Bewußtsein ist er es jedenfalls nicht. Wo und als was zeigt sich der innere Vollzugssinn des Handelns? Als Ort seines Erschlossenseins zunächst erweisen sich diejenigen "Augenblicke, in denen sich etwas entschieden oder auch neu hineingeboren hat in die menschliche Wirklichkeit" (HchR 358). Solche Situationen der Entscheidung oder des Entstehens von Neuem sind hier deshalb einschlägig, weil anscheinend nur sie den eigentümlichen Vollzugs- und Spontaneitätscharakter des Handelns offenbaren. Speziell die Entscheidungshaftigkeit des Handelns macht nun aber auch deutlich, worin der Vollzugssinn des Handelns der Sache nach besteht. Hier ist an zweierlei zu denken. Als Entscheidungssituation betrachtet, gerät das Handeln nach einer Seite in den Blick, die der abgeschlossenen Handlung als solcher grundsätzlich fehlt, nämlich nach der für seine Prozessualität konstitutiven Selektivität, Indeterminiertheit und Aktualität. Jeder Handlungsvollzug als solcher ist im strengen Sinn nicht Faktum, sondern "lebendige Schwebe im EntwederOder, mit ungewissem Ausgang" (ebd.).

91 92

Die hier vorliegende Problematik wird in der heutigen Handlungstheoriedebatte unter dem Stichwort "Kausalitäts- oder Intentionalitätsmodell" verhandelt. Der hermeneutische Begriff des Erlebens ist selber fundiert in einem subjektivitätstheoretischen Strukturmodell; vgl. dazu jetzt die problemgeschichtliche Studie von K. CRAMER: "Erlebnis".

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Aber in der Entscheidungshaftigkeit des Handelns liegt noch ein zweites Moment. In jeder Selektionsleistung bezieht sich der Handelnde über den Umkreis der Fragen der Zweck/Mittel-Rationalität hinaus auf Normen, die sein Handeln in übergreifender Weise orientieren und in dieser Funktion von ihm akzeptiert sind. Damit nimmt er - in der faktischen Handlungssituation geschieht dies mehr implizit als explizit - zugleich auch Stellung zu dem jene Normenmenge strukturierenden Wertgefüge. Als Grenzfall normativ reflektierter Entscheidungshaftigkeit wäre jene Situation anzusehen, bei der der Handelnde vom Bewußtsein der schlechthinnigen Verbindlichkeit einer Grundnorm geleitet ist. Beide Grundsachverhalte der Entscheidungsstruktur des Handelns, dessen spezifische Prozessualität ebenso wie die ihm eigene Tendenz zur normativen Selbstreflexion, machen die ethische Dimension geschichtlichen Handelns offenbar. Beide Momente nimmt Hirsch in jene zweite Seite des Geschichtsbegriffs, u m die es hier geht, auf, und zwar jeweils in ihrer radikalisierten Steigerungsform. Geschichte ist ihrem in der Entscheidungssituation zutage tretenden und solchermaßen nur dem darin befindlichen Subjekt erschlossenen inneren Vollzugssinn nach "Schwebe zwischen dem Gewordenen und dem Werdenden, bei welcher es dem Handelnden und Erlebenden u m die höchsten und letzten menschlichen Ziele geht" (HchR 358). Unter Zugrundelegung dieser Perspektive zeigen sich die geschichtlich agierenden Menschen nicht mehr als ursächliche Faktoren eines dynamischen Gesamtzusammenhangs, sondern als individuell existierende Subjekte. Das eigentliche Verstehen von Geschichte zielt d a r u m auf "die innerliche, die geisthafte, die wagende und sich entscheidende Seite am Menschen" (HchR 359). Damit haben sich nun aber zwei grundsätzlich verschiedene Aspekte von Geschichte ergeben. "Dem Wirkzusammenhang der ersten Seite der Betrachtung stellt sich ... der ideenbedingte Werdezusammenhang des Geistigen und Sittlichen und Menschlichen gegenüber. Wiegen bei der ersten Seite der Betrachtung die Fakta vor, so drängen sich bei der zweiten Seite die in Freude und Leidenschaft, mit Bangen und mit Ü b e r m u t gewagten Taten lebendiger Menschen in den Vordergrund" (HchR 358). Auch wenn Hirsch in der zweiten Seite, in der sich die Subjektivität des inneren Werdezusammenhangs ethisch reflektierten Handelns erschließt, das "Wesentliche der Geschichte" (HchR 359) erblickt, weil sie nämlich den Konstitutionsort geschichtlichen Handelns betrifft, so geht er doch nicht so weit, diese etwa gegen den erstgenannten Aspekt auszuspielen. Geschichtserkenntnis vermag sich für ihn immer nur in der Duplizität beider Ansichten zu vollziehen. Den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit gegenüber der zweiten Betrachtungsweise läßt Hirsch als Einwand nicht gelten, da er seiner Mei-

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nung nach auf ungeklärten Voraussetzungen beruht und darüber hinaus zu voreiligen Schlußfolgerungen führt. "Man behauptet nun gewöhnlich, allein eine sich auf die erste Seite der Geschichte begrenzende Betrachtung sei objektiv. Mit der zweiten Seite aber fahre die Willkür der Subjektivität in die Geschichtsdarstellung hinein. An diesem Urteil stimmt etwas nicht. Es kann doch nicht als objektive Darstellung menschlichen Geschehens gelten, wenn der Mensch allein als eine von Verstand und Absicht gelenkte Naturkraft aufgefaßt wird.... Die Geschichtsschreiber halten d a r u m eine einseitige Durchführung der ersten Betrachtung auch keineswegs aus. Sie bringen von irgendwoher ein Werturteil mit über die richtige Gestaltung menschlicher Gemeinschaft und über das richtige Ziel alles geschichtlichen Strebens. So werden sie unversehens zu Rezensenten der toten Vergangenheit, welche sie mit ihrer kunstvollen Mühe wiederherstellen. Die positivistischen Historiker des neunzehnten Jahrhunderts sind gerade die parteilichsten gewesen" (HchR 359). Geschichtserkenntnis erweist sich für Hirsch dann und nur dann als ihrem Gegenstand angemessen, wenn sie personales geschichtliches Handeln ebensowohl als Faktor eines kausal geordneten, überindividuellen Wirkungszusammenhangs wie umgekehrt als selbständige Erscheinung eines durch die Struktur der ethischen Subjektivität bestimmten, inneren Werdezusammenhangs aufzufassen und darzustellen in der Lage ist. Aber mit dieser Charakteristik ist die Zweischichtigkeit von Geschichtserkenntnis noch nicht zureichend analysiert. Einen geschichtlichen Vorgang als Element eines Wirkungszusammenhangs auffassen heißt immer, ihn als etwas nehmen, das "nun abgelaufen ist", d.h. als ein "rein Gewesenes und Vergangenes". "Auch wenn er aus den Uberresten des Vorgangs und den Berichten über ihn mehr oder weniger genau wiederhergestellt werden kann, bleibt er etwas voreinst Gewesenes" (HchR 358). Rickert h a t t e gezeigt, daß die Frage nach einem individuellen Ereignis aus rein erkenntnistheoretischen Gründen notwendig die Frage nach einem Gewesenen ist, und Ranke h a t t e darauf hingewiesen, daß eine objektive Darstellung von Ereignissen überhaupt nur unter der Voraussetzung möglich ist, daß die in ihm wirksamen Potenzen zum Austrag gekommen sind. Ein Ereignis als Resultat eines Wechselspiels zur Entfaltung gelangter Kräfte beschreiben, heißt notwendig: auf es zurückblicken. Geschichtserkenntnis ist als Erhebung von Tatsachen und Tatsachenverkettungen zunächst immer "reine Vergangenheitserkenntnis" ( C h R II, 22). Ganz anders liegen die Dinge indes bei der Frage nach der Bedeutung eines geschichtlichen Ereignisses für die daran beteiligten Subjekte. Hier steht gerade nicht dessen Eingegangensein in einen abgeschlossenen Wirkungszusammenhang zur Debatte, sondern hier geht es u m die dem Ereignis zugrundeliegenden Handlungsvollzüge als solche mit ihrem spezi-

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fischen Sinnpotential, wie es originär nur im Selbstbewußtsein der jeweils Handelnden und für dasselbe gegeben ist. Auf diesen Sinngehalt aber ist "das menschliche Verstehen" (ebd.) ausgerichtet. Verstehen vollzieht sich d a r u m allein durch Nacherleben und Einfühlung - wie Hirsch im Anschluß an Droysen und Dilthey darlegt - , indem die innere Situation der ethischen Subjektivität des Handelnden vom Verstehenden auf der Basis einer beide übergreifenden Strukturidentität erlebnismäßig nachvollzogen wird. "Die Seelen der Täter der Geschichte in ihrem Ringen und Zweifeln und Wagen und Versagen werden uns so innerlich ethisch offenbar" (HchR 358). Entscheidend für Hirschs Hermeneutik ist nun, daß sich im analogen Nacherleben durch Einfühlung eine "Annäherung an gegenwärtiges Erkennen" ( C h R II, 22) vollzieht. Wo die dem geschichtlichen Handeln innewohnende Sinndimension für das ihm zugrundeliegende praktische Selbstbewußtsein bzw. die interne ethische Situation der handelnden Subjektivität nachverstanden wird, dort wird Geschichte nicht nur "innerlich erlebt", sondern zugleich "vergegenwärtigt ..., so als ob m a n ein mit an ihr Teilhabender sei". Ja, Hirsch geht sogar so weit zu sagen, daß m a n hier "wirklich ein ihr Gleichzeitiger wird" (HchR 358). Damit sind die beiden ersten der vier Grundthesen von Hirschs Gleichzeitigkeitslehre gewonnen. Die erste betrifft die Möglichkeit und die Reichweite des Gleichzeitigwerdens mit der geschichtlichen Vergangenheit: "Alle lebendige menschliche Innerlichkeit, auch die der schon längst im Tode dahin Gegangenen, kann durch Vermittlung der geschichtlichen Erinnerung an sie unmittelbar zu unserm Herzen und Gewissen sprechen" (WG1 124). Anders gesagt: Die Isomorphic aller Individuen von der Struktur ethischer Subjektivität ermöglicht eine durch Erinnerung vermittelte erlebnismäßige Reproduktion des authentischen Sinngehaltes vergangener Entscheidungssituationen fremder Subjekte und insofern ein Verstehen dieser selbst. An diese These schließt sich unmittelbar eine zweite an, welche die konstitutive Funktion des Gleichzeitigwerdens sowohl für die Historie als auch für das alltägliche Geschichtsbewußtseins beinhaltet. Das in den Grenzen der ethischen Subjektivität mögliche Gleichzeitigwerden mit der Vergangenheit ist "der Träger der eigentlich lebendigen geschichtlichen Erkenntnis" (HchR 357). Damit hat sich die aus der Unterscheidung zweier Begriffe von Geschichte hervorgegangene Duplizität des Geschichtserkennens als eine Diversität im Verhältnis des historischen Bewußtseins zum Zeitbewußtsein herausgestellt. Die kausal geordnete Verknüpfung von Handlungen der Vergangenheit zu einem Wirkungszusammenhang kennt diese immer nur als Ereignisse der Vergangenheit. Das ethische Nach verstehen von Handlungen der Vergangenheit nach ihrem inneren Werdezusammenhang kennt umgekehrt diese immer nur als zeitunabhängige und insofern

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dem Nachverstehenden gleichzeitige Handlungssinnkonstellationen. Beides zusammengenommen besagt: Das historische Bewußtsein ist in seinem verstehenden Umgang mit den Zusammenhängen von Fakten der Vergangenheit notwendig ein zweigleisiges Zeitbewußtsein. Im Begriff des Gleichzeitigwerdens mit Personen der Vergangenheit innerhalb der Grenzen der ethischen Subjektivität ist allerdings ein Problem enthalten, das bislang noch nicht zur Sprache gekommen ist. Wie kann der innere Vollzugssinn einer Handlung, einer ethischen Entscheidungssituation, der als solcher allein im Selbstbewußtsein des Handelnden und für dasselbe existiert, vom Nachverstehenden reproduziert werden, wie kann m a n sich in die ethische Subjektivität eines letztlich fremden Menschen einfühlen? Denn gegeben sind der historischen Wahrnehmung als Mittel des Gleichzeitigwerdens j a immer nur - gemessen an der Selbsterschlossenheit des Handelnden - äußerliche Sachverhalte, seien es geäußerte Meinungen oder vollzogene Handlungen. Wie ist ein Gleichzeitigwerden möglich unter der Voraussetzung der Mittelbarkeit und Äußerlichkeit des Gegebenseins vergangenen Lebens? Die von einem historischen Subjekt geäußerten Meinungen und vollzogenen Taten lassen sich nur dann als Ausdrucksphänomene eines inneren Lebensvollzugs nachverstehen, wenn es gelingt, gleichsam hinter deren Ergebnischarakter zurückzugehen. Geäußerte Meinungen erweisen sich als Antworten auf Fragen, die das betreffende Subjekt sich selbst gestellt hat oder die ihm von anderen gestellt worden sind. In der Vergangenheit getätigte Aussagen werden so zu Erscheinungen eines Problembewußtseins, das gegebenenfalls in der Lage ist, den Nachverstehenden in sich hineinzuziehen und sich ihm so als ein quasi zeitenthobenes zu vermitteln. Ahnliches gilt für das Verstehen abgeschlossener historischer Handlungsvorgänge. Jede vollzogene Handlung kann als Resultat eines Entscheidungsprozesses aufgefaßt werden. Auch die ihn auslösende ethische Problemsituation kann einem Nachverstehenden gegebenenfalls ganz unmittelbar und insofern zeit differenzunabhängig einleuchten. Kommt es aber zu einem solchen Nachverstehen, dann werden Personen, "die wir nur durch die Medien der geschichtlichen Erinnerung kennen, ... uns durch alle Medien der Erkenntnis ... hindurch lebendig gegenwärtig ..., daß wir sie vernehmen in unserm Gewissen und sie Macht darüber üben, indem wir von ihnen Leben empfangen" (ChR II, 22). "Man wird ... ein von den alten Kämpfen und Leiden persönlich Mitbetroffener. Da urteilt man nicht aus eigenen Prinzipien heraus. Da wird man ergriffen und mitgenommen, so oder so.... Man fragt nicht, man wird gefragt. Kehrt man aus solchem Erleben der Geschichte zu sich selbst zurück, so spürt man im Innersten, daß mit einem etwas geschehen ist. Man ist ein andrer geworden, weil m a n lebendige Menschen neu gesehen und von innen her erlebt

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hat" (HchR 360). Das Gleichzeitigwerden mit Personen der Vergangenheit führt sonach zu einer passiven Betroffenheit durch vergangenes Leben, die über die Kenntnisnahme von Taten und Meinungen und über das bloße ästhetische Berührtsein weit hinausgeht, sofern durch jene Erfahrung die ethische Subjektivität des Nachverstehenden selber in Frage gestellt wird. Aber selbst diese existentielle Betroffenheit der ethischen Subjektivität markiert noch nicht den entscheidenden P u n k t . 9 3 Das Gleichzeitigwerden mit Menschen der Vergangenheit reicht erlebnismäßig weit tiefer: "Wenn m a n mit einem von ihnen zu tun bekommt, so begegnen sich stets auch Seele und Seele" (HchR 355) "Jeder neue Mensch ..., der uns wahrhaft begegnet, entriegelt in uns selber neue Tiefen der Seele, des Geistes, der Idee" (HchR 360). Im Gleichzeitigkeitserlebnis vollzieht sich somit, was sich in jedem "Verhältnis von Mensch zu Mensch" ereignet, sofern es darin zu "eigentlichen Begegnungen" kommt. In beiden Fällen gibt es Augenblicke, "in denen ein Mensch dem andern zum inneren wesentlichen Moment der geistig seelischen Geschichte wird" (HchR 354). Begegnungserlebnisse solcher Art erweisen sich als ebenso interpretationsbedürftig wie aufklärungsresistent - worüber nicht zuletzt Biographien materialgesättigt Aufschluß geben. Ahnliche Grenzen der Erklärbarkeit kennzeichnen auch das Gleichzeitigwerden mit Personen der Vergangenheit. Auch hier gibt es tiefgreifende Unterschiede der existentiellen Betroffenheit. "Der eine hat seltsame Vollmacht, der andre nicht". Diese Unterschiede sind kaum kalkulierbar, das Maß der Betroffenheit deshalb kaum vorhersehbar oder steuerbar. "Ursprüngliche Gleichgestimmtheit und empfangene Einwirkung sind selbst für den das Verhältnis Erlebenden nicht sicher zu scheiden". Auch der Versuch der externen Auflichtung solcher Verhältnisse führt nicht sehr weit und macht sie in keiner Weise beherrschbarer, da "die von einem dritten Beobachter festgestellten Verwandtschaften immer erst nach geschehener Begegnung sichtbar werden" (HchR 355). Damit sind wir bei der dritten These von Hirschs Gleichzeitigkeitslehre angelangt: Die durch historisches Faktenwissen, einfühlendes Nacherleben und existentielle Betroffenheit konstituierte Gleichzeitigkeitsbeziehung zu Personen der Vergangenheit ist ein Interpersonalitätsverhältnis zu nicht kopräsenten Subjekten. Das Gleichzeitigwerden mit vergangenem Leben ist somit nichts anderes als eine bestimmte Form der Intersubjektivitätserfahrung. Historisches Verstehen kann demzufolge als Spezialfall von Fremdverstehen aufgefaßt werden. 9 4 Damit stellt sich aber die ent93 94

Gegen HERMS (a.a.O. 96); vgl. dazu auch LANGE (a.a.O. 215 Anm. 107). Der von Hirsch für das interpersonale Gleichzeitigwerden verwendete Begriff der "Begegnung" steht auch im Mittelpunkt der hermeneutischen Einleitung von BULTMANNS Jesusbuch (a.a.O. 7-15). Während Bultmann ihn aber ausspielt ge-

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scheidende Frage: Erschließt sich in solchem Gleichzeitigwerden auch das Gottesverhältnis jener Personen? Zur Beantwortung dieser Frage gilt es, vorab einige subjektivitätstheoretische Voraussetzungen zu klären.

c) Das historische Verstehen religiöser Subjektivität Anthropologisch elementar und somit Grundlage aller das Verhältnis von religiösem Bewußtsein und geschichtlicher Existenz betreffenden Überlegungen ist für Hirsch "die gewissensmäßige Bestimmtheit des menschlichen Seins" (ChR I, 289). 95 Sie bedeutet eine "Doppelbeziehung" des Menschen, nämlich ein Verhältnis "zugleich zu andern Menschen und zu Gott" (ChR I, 285). Bezeichnet man das Sein vor Gott als die religiöse, das Sein miteinander als die ethische Seite des Menschen, so repräsentiert jene gewissensmäßige Bestimmtheit ein gleichermaßen ethisches wie religiöses G r u n d d a t u m des Menschseins. Aufgrund und nach Maßgabe solcher Gewissensverfaßtheit erweist sich das menschliche Dasein sowohl in der Bezogenheit auf Gott, als auch in der Intersubjektivitätsbeziehung als ein zu seinen jeweiligen Relaten "sich verhaltendes" (Lf §65.Α.). Das Sich-Verhalten-zu ist kategorial betrachtet nicht ein äußeres In-Relation-Stehen zu Anderem, sondern ein SichBeziehen auf Anderes als Anderes, welches ein Unterscheiden des Anderen von sich und darin ein Sich-Beziehen auf sich voraussetzt. Beide Sphären des Bezogenseins auf Anderes enthalten als Weisen des Sich-Verhaltenszu sonach das Moment der Selbstbezüglichkeit. Das Gewissen ist nur in der Weise Träger des Gottes- und Intersubjektivitätsverhältnisses, als es zugleich auch Träger eines ethisch und religiös qualifizierten Selbstverhältnisses ist. Weil die religiöse Beziehung auf Gott und die ethische Beziehung auf den Mitmenschen als Momente des Gewissens auch Formen der Selbstbeziehung darstellen, deshalb können sie als "die beiden ... Seiten reflektierender Selbstbestimmung" (Lf §65.B.) aufgefaßt werden. Im Gewissen reflektiert sich der Mensch in seinem Verhältnis zu Gott und Mitmensch. Die Selbstreflexion des Menschen im Gewissen vollzieht sich generell in

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gen die historische Methode, läßt Hirsch - im Anschluß an Droysen (vgl. oben Abschnitt A.2.) - die historiographische Hermeneutik geradezu darin gipfeln. Eine Weiterführung von Droysens intersubjektivitätstheoretischer Deutung historischen Verstehens bietet jetzt H.U. G u m b r e c h t : "Das in vergangenen Zeiten Gewesene so gut erzählen, als ob es in der eigenen Welt wäre". Versuch zur Anthropologie der Geschichtsschreibung. Die nachfolgenden Überlegungen knüpfen an die Behandlung des Gewissensbegriffs in K a p . I.B.2.C a n .

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dieser Duplizität von Reflexionshinsichten. Ethische und religiöse Reflexivität sind darum die beiden grundlegenden Dimensionen der Selbsterfassung humaner Subjektivität. Es ist dieser aus Holls Luther-Deutung überkommene Begriff von Gewissen - und nicht etwa die Selbstbezüglichkeit des reinen Denkens, die Spontaneität des Freiheitsbewußtseins oder die Begriffsstruktur des absoluten Geistes - , von dem Hirschs Theorie der Subjektivität ihren Ausgang nimmt. Beide Dimensionen der Selbstthematisierung des Menschen im Gewissen stehen nun aber nicht unverbunden und auch nicht auf gleicher Stufe nebeneinander. Dies hat zum einen anthropologische, zum andern konstitutionstheoretische Gründe. Was das Erste anbelangt, so bemängelt Hirsch an der abendländischen Tradition philosophischer und theologischer Anthropologie, daß sie über weite Strecken durch den "Ausgang vom isolierten Subjekt" (Lf §62.M.4.) bestimmt sei. "Die christliche Lehre vom Menschen hat dadurch eine wirklichkeits- und sinnfremde Abstraktheit angenommen" (Lf §62.M.2.). Im Gegensatz zu jenen Modellen gilt es nach Hirsch das Mitsein der Menschen als anthropologische Fundamentalbestimmung zu exponieren. "Eine echte Lehre vom Menschen kann nicht gegeben werden, indem man den einzelnen Menschen an und für sich hinstellt: menschliches Leben ist für uns nur als Leben mit, gegen und in andern Menschen da, und selbst die Bestimmung des Einzelnen kann nicht verstanden werden außer als eben auf den Menschen gehend, der an diesem Leben miteinander die Wirklichkeit seines Daseins h a t " (Lf § 62.Α.).

Die anthropologsche Durchführung dieser programmatischen These kann hier nicht weiter verfolgt werden. 9 6 Für unseren Zusammenhang gilt es festzuhalten, daß im Sinne Hirschs ein von der Intersubjektivitätsbeziehung unberührtes Verhältnis des Einzelnen zu Gott nicht gedacht werden kann. Damit ist zugleich eine inhaltliche Verbindung jener beiden Reflexionshinsichten des Menschen gegeben: "daß er mit den andern lebt, betrifft sein Sein vor Gott, und daß er vor Gott ist, bestimmt ihm sein Leben mit den andern" (Lf §65.Α.). Die ethische und die religiöse Reflexivität lassen sich nur durch Abstraktion voneinander trennen. Ihrem ursprünglichen Gehalt nach kommen sie immer nur als ineinander verschränkte und wechselseitig sich durchdringende, d.h. als sich wechselbestimmende, vor. Die Gewissensbestimmtheit des Menschen in seinem Dasein vor Gott und im Mitsein mit anderen Menschen besagt, daß er allein als ein "in der Beziehung auf diese zu Gott sich verhaltendes" (Lf §65.A.) Wesen existiert. Das Selbstverhältnis des Gewissens als des Ortes der Wechselbestimmung von ethischer und religiöser Reflexivität bildet für Hirsch die Basisstruktur 96

Vgl. dazu Lf §§ 62-67.103-111.

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von Subjektivität. Es repräsentiert diejenige Form der Ichheit, die allen kontingenten Akten der Selbstreferenz, Selbstidentifizierung und Selbstcharakterisierung des empirischen Ich immer schon zugrunde liegt. Oder umgekehrt formuliert: "Der empirische Ausdruck für ... die Personhaftigkeit des als Gewissen bestimmten Menschen ... ist das Ichbewußtsein" (Lf § 65.M.3.). 9 7 Damit sind zunächst nur das Faktum der Verschränktheit von ethischer und religiöser Reflexivität und der hinter ihm stehende anthropologische Gesichtspunkt benannt. Das Gewissensphänomen läßt sich jedoch auch unter konstitutionstheoretischem Aspekt betrachten. Hirsch definiert die dem Gewissen eigentümliche Reflexivitätsstruktur als "ein sich in Gott durchsichtig Gemachtwerden des sich in seinem Sein mit den andern als Einzelnen entdeckenden Menschen" (Lf §49.Α.). An dieser Definition fällt auf, daß die für das Gewissen konstitutive Selbsterkenntnis als eine von diesem nicht selbsttätig hervorgebrachte bestimmt wird, und daß das Gottesverhältnis als die Dimension dieser Selbsterkenntnis aufgefaßt wird. Beides ist für Hirsch darin begründet, daß die Selbsterkenntnis als eine Gestalt des Wahrheitsbewußtseins in der unbedingten Wahrheit Gottes ihren Ursprung hat. Wir werden darauf in Kap. IV.B.2 und Kap. V.B.3 näher einzugehen haben. Für den vorliegenden Zusammenhang ist jedoch festzuhalten, daß sich im passiven Geschehen des Durchsichtiggemachtwerdens "die Gründung der Subjektivität" (WG1 52) vollzieht. Das Gottesverhältnis muß als "das die Person oder das Selbst konstituierende letzte Geheimnis des menschlichen Lebens" (Lf §49.M.3.) verstanden werden. Die dem Gewissen als Selbsterkenntnis eigentümliche kognitive Tätigkeit ist gemäß dem Passivitätscharakter des Durchsichtiggemachtwerdens eine rezeptive Tätigkeit, nämlich "das Vernehmen" (Lf §49.Α.). Indem "das Unbedingte ... dem Einzelnen ruft" (WG1 54), erzeugt es dessen Ichheit. Dieser "Ruf" hat nun zwei in sich ganz verschiedenen Adäquatheitsbedingungen zu genügen. Er muß einerseits als vom Unbedingten ausgehend selbst unbedingt sein. Als "unwidersprechlicher Ruf" (WG1 51) ist er zugleich ein "unentrinnliches" (WG1 50) Geschehen. Er muß aber andererseits, sofern er den Vollzug gewissensbestimmten Daseins soll betreffen können, "im Element der Selbstbestimmung" zu vernehmen sein. Er gilt der "Entscheidungshaftigkeit" ( C h R I , 286) desjenigen Selbstverhältnisses, welches dem Gewissen eigentümlich ist. Gemäß der zweiten Adäquatheitsbedingung kann der Ruf des Unbedingten nur die Form eines Appells an die Entscheidungsfreiheit haben, gemäß der ersten kann es sich nur u m einen Appell von unbedingter Gültigkeit und Verbindlichkeit handeln. Im 97

Vgl. dazu auch den - ideologisch leicht aufgeladenen - Beitrag von W . BODENSTEIN : Die religiöse Persönlichkeit im Werk Emanuel Hirschs.

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Gerufensein vernimmt das Gewissen den "unbedingten Appell an unser zum Handeln bestimmtes Wesen" (WG1 41). Hirsch bestimmt den Ruf an das Gewissen, in dessen Vernehmen der Mensch sich allererst als Gewissen erfährt, deshalb als ein "absolutes ewiges Soll" (Lf § 65.B.). Insofern es Selbsterkenntnis im Gewissen ermöglicht, kommt dem "unbedingten Soll" (WG1 56) eine zwiefache Konstitutionsfunktion zu, hinsichtlich des Gottesverhältnisses und hinsichtlich des Selbstverhältnisses. "Durch solch ein Soll allein ... wird der Einzelne unmittelbar zu Gott" (WG1 50), und nur "als der in sich den Ruf zum Menschsein Vernehmende ist er Mensch" (Lf § 65.B.). Das letztere Moment, nämlich das Konstituiertwerden des Daseins in und mit dem Vernehmen eines unbedingten Sollens im Gewissen, ist nun aber von entscheidender Bedeutung hinsichtlich der Möglichkeit der Einheit der Subjektivität. Als unter dem unbedingten Sollen stehend weiß sich das Gewissen dazu bestimmt, Ort und Vollzug der Einheit von ethischer und religiöser Reflexivität zu sein: "indem uns in einem Denk- oder Lebensakte das Zugleich dieser Doppelbestimmtheit unsers Seins aufbricht, ist in ihm die Einheit und Ganzheit unsers Menschseins lebendig" (Lf §65.Α.). Dennoch vermag das Gewissen in keinem einzelnen Akt der Selbsterkenntnis der Einheit seiner beiden Reflexivitätsdimensionen innezuwerden. "Diese Einheit in der Doppelbestimmtheit hat etwas Undurchdringliches" (ebd.). Der Grund für die Opakheit der Einheit der Subjektivität liegt in deren grundsätzlich normativem Charakter bezüglich der Kontingenz personaler Selbst Wahrnehmung. Der Mensch "vermag es ... nicht mit unmittelbarer Selbstverständlichkeit, in seiner Doppelbestimmtheit als mit den andern lebend und vor Gott seiend der eine und ganze Mensch zu sein. Nur die an ihn gestellte Aufgabe, so zu sein, gehört zu dem Wesen, darin er sich mit Selbstverständlichkeit vorfindet, diese allerdings so, daß sie unentrinnlich ihm gesetztes Schicksal ist" (Lf §65.B.). Die Einheit der Subjektivität ist nie gegeben, sondern immer nur aufgegeben. Im Vernehmen des unbedingten Sollens erfährt sich das je existierende Gewissen als gerufen zur Einheit. Die Realisationsgestalt des sich als zur Einheit von ethischer und religiöser Reflexivität bestimmt erkennenden Gewissens ist d a r u m formal zu charakterisieren als ein Dasein "in der Spannung der aus Entzweiung werdenden Einheit" (ChR I, 286). Das Vernehmen des unbedingten Sollens bedeutet hinsichtlich des Bewußtseins der Einheit der ethisch-religiösen Subjektivität somit nichts anderes als das Bewußtsein der Pflicht eines Werdens zu sich. 98

98

Zu dieser Denkform der Hegeischen Logik vgl. U. GuzzoNI: Werden zu sich.

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Das dem Gewissen unbedingt gebotene Werden zu sich ist für das Selbstverständnis menschlichen Handelns - und damit kommen wir zurück auf das T h e m a unseres Abschnittes - von grundlegender Bedeutung. Zunächst, für die ethisch-religiöse Selbst Wahrnehmung einer handelnden Instanz ergibt sich daraus, daß das unbedingte Sollen sie weder als reines Ich, noch als empirisches Ich isoliert in Anspruch nimmt, sondern als ein aus beiden zusammengesetztes. Ethische Subjektivität konkretisiert sich in solchen Erfahrungen, in denen "ihr aus den Inhalten und Aufgaben ihres Lebens in der Welt ein unbedingtes, dem Gewissen als unwidersprechlicher Ruf vernehmliches 'Du sollst' ersteht" (WGI 51). Das unbedingte Sollen kann immer nur als der unbedingte Sinn des Guten an einem real als gut Angemuteten und Erstrebten vernommen werden. Welche Konsequenzen daraus für den Aufbau und die Durchführung der Ethik zu ziehen sind, kann hier nicht näher erörtert werden. Was folgt aus jenem unbedingten Gebotensein des Werdens zu sich aber für die Selbstwahrnehmung der ethisch-religiösen Subjektivität in einer Handlungssituation? Wenn sich das Gewissen im Vernehmen des unbedingten Sollens zu einem Werden zu sich gerufen weiß, und zwar von sich weg aus Entzweiung auf sich zu als Einheit, dann bedeutet dies, daß die ethisch-religiöse Situation des Handelnden für dessen eigenes Bewußtsein grundsätzlich die Form einer Zweiheit aufweist, nämlich die Zweiheit von Vorfindlichkeit und Zielbestimmtheit bzw. die Differenz von faktizitärem und normativem Handlungssinn. Jede Handlungssituation ist für Hirsch "zugleich Schicksal und Forderung" (Lf §63.M.l.). Die Gewissensbestimmtheit einer Handlungssituation bedeutet für den Handelnden, seine ethische Aufgabe so wahrzunehmen, wie sie "aus Gottes Fügen und Rufen für ihn da ist" (Lf §63.B.). In jeder durch das darin enthaltene Intersubjektivitätsverhältnis ethisch qualifizierten Handlungssituation verhält sich der Handelnde zugleich zu Gott als dem "ihm das Leben mit den andern fügenden und ihn darin zum Dienst an den andern rufenden" (Lf §49.Α.). Damit sind die beiden in unserem Zusammenhang entscheidenden Begriffe genannt, nämlich "Ruf" und "Fügung". In ihnen spricht sich die religiöse Valenz jeder Handlungssituation aus. Mit dem Ausdruck "Ruf" ist Bezug genommen auf den Sachverhalt des vernehmenden Gewissens, das in der Brechung von endlichem und unendlichem Ethos seiner Pflicht gewahr wird. Schwerer zu durchschauen ist der Gedanke, der sich hinter dem Ausdruck "Fügung" verbirgt. Es handelt sich - dies gilt es von vornherein festzustellen - hierbei nicht etwa u m eine Art konträrer Variante zum göttlichen Vorsehungshandeln, gewissermaßen dessen bewußt-

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lose A l t e r n a t i v e . " Hirsch will auf etwas anderes hinaus, nämlich auf den ethisch-religiösen Gehalt eines ganz bestimmten handlungstheoretischen Struktursachverhalts. 1 0 0 Jede Handlungssituation ist dadurch charakterisiert, daß hinter sie nicht zurückgegangen werden kann. Das besagt, daß alles Handeln unausweichlich unter jeweils existierenden Voraussetzungen erfolgt, auch dann, wenn es selbst gerade auf deren Korrektur zielt. Diese Abhängigkeit resultiert daraus, daß man den Anfang seines Handelns niemals den vorgegebenen Umständen entheben kann. In diesem Sinne ist alles Handeln prinzipiell situationsbedingt. Diese Unhintergehbarkeit jeder Handlungssituation ist nun aber nicht nur ein handlungstheoretisch relevanter Sachverhalt, sondern sie betrifft auch den - im engeren Sinne des Wortes - ethischen Aspekt des Handelns. Hier ist an dreierlei zu denken. Zunächst, alles Handeln ist seinem Inhalt nach in unterschiedlichem Maße sozial mitbedingt. Der Umkreis der Aufgaben, in deren pflichtgemäßer Erledigung die Tätigkeit eines Subjekts besteht, hängt von dessen Interaktionssphäre ab. Diesen sozialen Ort kann es selbstverständlich wechseln, aber nur so, daß es damit in neue Interdependenzen eintritt, auf die es nunmehr inhaltlich rückbezogen ist. Sodann stehen alle unmittelbaren Zwecksetzungen des Handelns sowie alle im Rahmen der Zweck-Mittel-Rationalität angestellten Handlungsmittelbestimmungen unter der Frage, inwieweit sie auch tatsächlich zu verwirklichen sind. Diese Kalkulation der Realisierbarkeit bemißt sich nicht nur nach den Fähigkeiten und Dispositionen des Akteurs, sondern vor allem auch nach der Zeit, dem Ort und den darin beschlossenen Umständen der zu erbringenden Leistung. Und schließlich, alles Handeln strebt auf ein von dem Handelnden als gut qualifiziertes Ziel hin und erfolgt insofern innerhalb des Umkreises des von ihm als ethisch vertretbar Erachteten. Hier wird m a n in aller Regel solche Fälle unterscheiden können, in denen er sich mit dem Wertgefüge seines sozialen Umfeldes in Übereinstimmung findet, von anderen, wo er sich in Opposition dazu weiß. Hier wie dort aber ist die das individuelle Handeln begleitende normative Gewißheit auf einen überindividuellen Normenkontext bezogen, dem sie sich anpaßt oder widersetzt. Sowohl bezüglich der Bestimmung der ethischen Aufgabe in Abhängigkeit vom sozialen Ort des Handelnden als auch hinsichtlich der Einschät99

Dies war bekanntlich die Auffassung Schleiermachers: "Also entspricht auch weder der Begriff des Schicksals noch der Begriff der Vorsehung der Idee der Gottheit. Das Schicksal ist das die Totalität aller Causalverhältnisse unter sich begreifende unter der Form des bewußtlosen. Die Vorsehung ist dasselbe unter der Form des bewußten" (Dialektik (J) §202.1; Hhg.v.Vf.). 100 Vgl. dazu W. WIELAND: Praktische Philosophie und Wissenschaftstheorie.

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zung der Realisierbarkeit einer intendierten Handlung in Abhängigkeit von deren Umständen und ebenso mit Bezug auf die Artikulation der ethischen Einsicht in Abhängigkeit von einem sozialen Normengefüge kann m a n von einer Situationsbedingtheit der ethischen Subjektivität sprechen. Jeder Handlungsvollzug ist demzufolge geprägt durch eine ethische Konstellation, die sich der Handelnde selbst nicht aussuchen kann, die d a r u m auch in der Selbstwahrnehmung der ethischen Subjektivität als eine immer schon vorausgesetzte in Rechnung gestellt wird. Was ergibt sich daraus für die religiöse Selbstauslegung der ethischen Subjektivität? Sie wird sich niemals als zu einem Handeln "gerufen" verstehen können, ohne sich nicht zugleich als in eine ethische Situation "gefügt" zu begreifen. Man kann nicht das freiheitlich-appellative Moment des praktischen Selbstbewußtseins religiös ausdeuten, ohne zugleich auch dem faktizitären Moment desselben einen religiösen Gehalt zuzubilligen; und ebenso umgekehrt. Es wäre prinzipiell unvollständig bzw. der Handlungsstruktur inadäquat, die ethisch-religiöse Bedeutung einer Handlungssituation für das Selbstbewußtsein des Handelnden auf einen der beiden Begriffe, sei es "Ruf" oder "Fügung", zu reduzieren. Das Sinnpotential beider Begriffe hängt unmittelbar an dem internen Antagonismus, welcher nur in ihrer Duplizität zum Ausdruck kommt. Insofern bilden sie ausschließlich paarweise zu verwendende ethisch-religiöse Reflexionsbegriffe. "Ruf ohne Fügung ist pseudoreligiös [v]erklärte Ideenhaftigkeit, Fügung ohne Ruf pseudoreligiös verklärte Faktenknechtschaft: die erste Möglichkeit ist also getarnte Gottlosigkeit, die zweite getarnter Götzendienst" ( C h R I, 186). "Ruf" und "Fügung" in ihrer komplementären Verwendung sind somit als die beiden entscheidenden Kategorien der religiösen Selbstauslegung der ethischen Subjektivität anzusehen. In ihnen artikuliert sich die eigentümlich religiöse Valenz des praktischen Selbstbewußtseins. "Ruf" bezeichnet den religiösen Reflex des Selbstbestimmungscharakters des Handelns. Das Vernehmen des Rufes im Gewissen macht dieses zur "Stätte der Freiheit" (ChR I, 276). Indem dem Gewissen "aus letzter Ursprungstiefe ein Ruf zuteil wird" (Lf §48.B.), entdeckt es die Entscheidungshaftigkeit des Handelns nach ihrer verborgenen Unbedingtheit; das je und je angem u t e t e alternative Stellungnehmen erscheint als Entscheidung zwischen Gehorsam und Ungehorsam gegenüber Gott. Für das praktische Selbstbewußtsein des Handelnden bedeutet dies das "Erfassen ... der im eignen Sein steckenden verpflichtenden Möglichkeiten" (ChR I, 276). "Fügung" bezeichnet im Unterschied dazu den religiösen Reflex des Faktizitätscharakters der ethischen Situation: "wir verfügen nicht selbst über uns". Dieser "Verfügtheit des Daseins" (ChR I, 275) kann ebenso eine religiöse Ausdeutung zuteil werden wie umgekehrt der Entscheidungs-

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haftigkeit des Handelns im Falle des Rufs. Das Spezifikum des religiösen Umgangs mit der Faktizität des je eigenen Daseins liegt darin, daß "das Unerbittliche menschlich-geschichtlicher Existenz in ihrem Sosein" (ebd.) zutage tritt. Indem sich entscheidungshaft verfaßtes Dasein als "unter dem unerbittlichen Schicksal einer unergründlichen Fügung" (Lf §48.B.) stehend auslegt, entdeckt es die Situationsgebundenheit seines ethischen Existierens nach ihrer verborgenen Unbedingtheit; die Geworfenheit allen Handelns erscheint als schicksalshafte Abhängigkeit von Gott. 101 In diesem Sinne genommen, als religiöses Moment der Selbstwahrnehmung der ethischen Subjektivität hinsichtlich der Unhintergehbarkeit ihres geschichtlichen Existierens - und damit als Gegenmoment des normativen Gerufenseins zum Handeln - , ist der Begriff des Schicksals für Hirsch eine theologisch unentbehrliche Kategorie religiöser Erfahrung. Wie der religiöse Aspekt des Gerufenseins zur Pflicht auf den unendlichen Sinn des Sollens am endlichen Sollen hinweist, so bringt der religiöse Begriff der Fügung anhand der Erfahrung des Sich-Vorfindens in einer ethischen Situation den Unbedingtheitsaspekt geschichtlich kontingenten Existierens zum Ausdruck. Die Unentrinnbarkeit und Unhintergehbarkeit des Handelns weist ebensowohl eine religiöse Dimension auf wie dessen tathaftverantwortliche Seite. 102 Wir hatten oben die Seinsweise des zugleich in der Einheit stehenden und zur Einheit werden sollenden Gewissens als ein im Vernehmen des Unbedingten sich vollziehendes Werden zu sich charakterisiert. Soll diese Polarität bezogen werden auf eine sich im Horizont von Ruf und Fügung auslegende ethische Situation, so bedeutet dies: Das Handeln kann nur vollzogen werden in einem "verantwortlichen Verstehen von Fügung und Ruf durch das Gewissen" (ChR I, 244); insofern ist das Gewissen immer schon als gegebenes vorausgesetzt und in seiner Funktion in Anspruch genommen. Umgekehrt befindet sich der Handelnde grundsätzlich in der Situation des "an Ruf und Fügung zum Gewissen werden sollenden" (ChR I, 238), und insofern ist die Gewissensbestimmtheit keine seinem Handeln zugrundeliegende Verfaßtheit seiner selbst, sondern Inhalt eines Sollens. Die Ausdeutung einer Handlungssituation in der Duplizität von Ruf und

101 Der Begriff der Fügung bildet auch ein integrales Moment der späten philosophischen Theologie W. CRAMERS (Natürliche Theologie llf.24f). 102 Die der Situativität des Agierens eigene Schicksalshaftigkeit läßt sich auch übertragen auf problemgeschichtliche Konstellationen, mit deren Identifizierung alles innovative Denken anhebt. Solche in der Selbstverortung sich erschließende Schicksalshaftigkeit der eigenen intellektuellen Situativität widerspricht in gar keiner Weise deren weiterer historischen Genetisierbaikeit durch externe epistemische Instanzen. Zur Verwendung des Schicksalsbegriff in GneTh vgl. jetzt U. KÖPF: Die Theologiegeschichte der Neuzeit in der Sicht Emanuel Hirschs 83-92.

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Fügung kann somit als die konkrete Gestalt der für die Seinsweise des Gewissens signifikanten Struktur des Werdens zu sich verstanden werden. Dieser ethisch-religiösen Sinnduplizität der Handlungssituation entspricht dann auch ein in sich konträr verfaßtes Gottes Verhältnis. Frömmigkeit, bezogen auf realitätsgesättigte Wirklichkeits- und Lebenserfahrung, wird beides, und zwar beides zugleich sein: einerseits "tathaftes Schaffen und Lieben" (ChR I, 245), "aus Gott" (Lf § 58), andererseits "bejahtes Gotterleiden" (Lf §58.Α.). Ein so verstandener Schöpfungsglaube ist kein eindeutiges Sinnstiftungsprinzip menschlichen Handelns, weder im Positiven als reine Sinnvertiefungsinstanz gelungenen Handelns, noch im Negativen als reine Bewältigungsinstanz handlungssinndefizitären Kontingenzerlebens. In der Polarität von Gott Erleiden und Tathaftigkeit aus Gott zeigt sich die grundsätzlich unauflösliche "Zweigesichtigkeit des Glaubens an den Lebendigen im Durchleben der Wirklichkeit" (ChR I, 245). Daß sich diese Zweigesichtigkeit des Schöpfungsglaubens gerade unter der Form des Gegensatzes von Tun und Erleiden im Verhältnis zur Wirklichkeit artikuliert, resultiert aus dem Verschränktsein der Sinnbezüge jedes gelebten Gottes Verhältnisses mit denen der ethisch-geschichtlichen Existenz. Umgekehrt findet sich die Spannung von Gott Erleiden und Tathaftigkeit aus Gott auch in der religiös vertieften ethischen Reflexivität, und zwar nicht nur - wie wir bereits gesehen haben - im Hinblick auf die einzelnen Handlungssituationen, sondern auch bezüglich der sämtliche Handlungssituationen umgreifenden, komplexen ethischen Situation des Gewissens als eines Werdens zu sich. Gott erleiden heißt in diesem Zusammenhang: "Gott ruft mich zum Personsein in und aus ihm und fügt mir damit, daß ich mich als im Widerspruch zu dem Leben, dazu gerufen zu sein mein Leben ist, verfangen finde" ( C h R I, 193). Und Tathaftigkeit aus Gott bedeutet hier: In allem "verantwortlichen Verstehen von Fügung und Ruf durch das Gewissen ist ein Moment der auf Gott wagenden Entscheidung" (ChR I, 244). Sonach bleibt festzuhalten, daß sowohl die Beziehung des Gottesverhältnisses auf eine einzelne Lebenssituation als auch die religiöse Ausdeutung der Situation der ethischen Subjektivität als ganzer dem geschichtlichen Dasein eine in sich zwiefache, antagonistische Sinnhaftigkeit verleiht, wobei jede der beiden Reflexionsdimensionen durch die jeweils andere mitbestimmt ist. Diese Parallele zwischen der einzelnen Handlungssituation und der ethischen Gesamtsituation macht noch einmal deutlich, w a r u m die Duplizität von Ruf und Fügung weder im Einzelfall noch in der Gesamtexistenz übersprungen werden kann. Beide Antagonismen sind lediglich Ausdrucksformen der Antinomie des Gottesverhältnisses in der Sphäre der Selbstwahrnehmung geschichtlichen Daseins. Insofern erweist sich die in der Polarität von Tathaftigkeit aus Gott und Gott Erleiden religiös fun-

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dierte Spannung von Ruf und Fügung als unauflöslich. "Man lernt Gott im Ruf kennen als den, der das menschliche Leben will, in der Fügung als den, der die Negativität zur Lebensmöglichkeit macht" ( C h R I, 186). In dieser These faßt Hirsch die religiöse Zweideutigkeit jeder menschlichen Handlungssituation und damit allen geschichtlichen Existierens zusammen. Sie darf als prägnanter Ausdruck dessen gelten, was Geschichtlichkeit ihrem ethisch-religiösen Gehalt nach für Hirsch bedeutet. "Ruf" und "Fügung" sind Reflexionskategorien des praktischen Selbstbewußtseins, "in denen eine h a r t e Tatsächlichkeit und eine verborgne religiöse Tiefe sich verbinden" (Lf § 63.M.1.). Auf der Grundlage einer solchen Interpretation des religiösen Gehaltes einer ethischen Situation für das Selbstbewußtsein des Handelnden hält Hirsch es für unumgänglich, jede nichtreligiöse Auffassung von geschichtlichem Handeln als dem Phänomen der Situationsbedingtheit und Entscheidungshaftigkeit ethischen Existierens sachlich inadäquat abzuweisen. "Wagen und Leiden sind die beiden fruchtbaren geschichtlichen Akte: keiner von beiden kann aus der Relation F a k t u m / I d e e geistig gerechtfertigt werden, erst recht nicht die Entscheidung zwischen beiden im bestimmten Augenblick" (ChR I, 186). Die Begriffe des Rufs und der Fügung sind nichts anderes als ethisch-religiöse Deutungskategorien für den Wagnisund Leidenscharakter geschichtlichen Existierens. Die Unauflöslichkeit der Duplizität von Ruf und Fügung ist ethisch-religiöser Reflex der Unausweichlichkeit des Sich-Entscheidens zwischen Handeln und Leiden; "die lebendig wollende Freiheit [ist] falsch verstanden, wenn sie als bloß zwischen F a k t u m und Idee schwebend verstanden wird: sie will erlebt werden als in diesem ihrem zwischen Faktum und Idee Schweben bezogen auf Ruf und Fügung" (ebd.). Jeder nichtreligiösen Auffassung menschlichen Handelns liegt nach Meinung Hirschs nicht nur ein mangelndes Verständnis für die Entscheidungshaftigkeit und Situativität ethisch-geschichtlichen Existierens zugrunde, sondern darüber hinaus auch eine Verkennung der Struktur des menschlichen Willens als des Ursprungs allen Handelns. "Die lebendige Mitte der Geschichte, der Idee und Faktum aufeinander beziehende t a t e n d e menschliche Wille, ... ist ... nur da von echter geschichtlicher Menschlichkeit, wo unter dem unerbittlichen Schicksal einer unergründlichen Fügung ihm aus letzter Ursprungstiefe ein Ruf zuteil wird" (Lf §48.B.). In der Unhintergehbarkeit der ethischen Situation und in der Unausweichlichkeit des sich zum Handeln Entscheidenmüssens, die sich in den religiösen bzw. religionsphilosophischen Kategorien von Ruf und Fügung ihren gedanklichen Ausdruck verschaffen, realisiert sich - unabhängig von der Frage eines religiösen Gesamtsinns der Wirklichkeit - die Bezogenheit des menschlichen Willens auf das Absolute: "das allein bewahrt seiner Hingabe an das

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sinnvolle vernünftige Ziel, seinem Erfassen der ideebestimmten vernünftigen Aufgabe die Verantwortlichkeit und Entscheidungshaftigkeit, die vom menschlich-geschichtlichen Dasein unabtrennlich ist" (ebd.). Hirsch beschreibt den Willen unter Verwendung des Fichteschen Schemas der in sich schwebenden Fünffachheit - darauf wird in Kap. III.B.3 noch genauer einzugehen sein - als einen "zwischen Fügung und Ruf und zugleich zwischen Faktum und Idee schwebenden" (Lf §48.M.4.). Alles lebendige Wollen realisiert sich "zugleich in horizontaler und vertikaler Doppelrelation" (ChR I, 186). Diese Fünffachheit - vier Endpunkte zweier sich kreuzender Bewegungen und ein nur als Fokus des Schwebens gegebener Einheitspunkt - definiert den Willen als einen "entscheidungshaften" (Lf § 48.M.4.). Vor dem Hintergrund dieses Aufweises der konstitutiven Bedeutung des in den Begriffen von Ruf und Fügung beschlossenen ethisch-religiösen Gehaltes für die Situativität und Entscheidungshaftigkeit des Handelns gelangt Hirsch zu dem Urteil, daß "der Sinn des menschlich-geschichtlichen Lebens da mißkannt ist, wo man meint, es mit der Sinnwahrheit ganz durchdringen und in einen durch und durch verstandnen irdisch-vernünftigen Zusammenhang, sei es auch geisthaft-ideeller Art, verwandeln zu können" (Lf §48.B.). Die handlungstheoretisch, subjektivitätstheoretisch und religionsphilosophisch explizierten Struktursachverhalte des unbedingten Gerufenseins zum Handeln und des unhintergehbaren Gefügtseins in eine ethische Situation signalisieren für Hirsch die "wahre innere Grenze des Geschichtlichen gegen das Religiöse" (ChR I, 185). Damit ist nun keineswegs gemeint, daß das Geschichtserkennen vor bestimmten Stellen des Tatsachenzusammenhangs haltzumachen hätte zugunsten solchermaßen sich ergebender, vermeintlich ethisch-religiös bedeutsamer Lücken des Begreifens. Nichts läge ferner als dies. Aus dem Aufweis der Grenzen des Geschichtsbewußtseins folgert Hirsch vielmehr den methodischen Grundsatz, daß alle Geschichtserkenntnis "sich in einer widerspruchsvollen Doppelbewegung vollzieht: sie kann den sinnvollen vernünftigen Zusammenhang im menschlich-geschichtlichen Dasein nur verstehen, wenn sie die ihr nicht weiter durchdringliche innre Begrenzung des menschlich-geschichtlichen Willens im göttlichen Geheimnis als das der Geschichte Sinn, Leben und Halt Gebende erkennt; und sie wird die Begrenzung des menschlich-geschichtlichen Willens im göttlichen Geheimnis nur da als den selbst nicht mehr menschlich-geschichtlichen ... Ursprung des menschlich-geschichtlichen Daseins zu erkennen vermögen, wo sie das Ganze menschlich-geschichtlicher Wirklichkeit ihrem Willen zum Verstehen bis an die letzte Grenze unterwirft" (Lf § 48.B.). Dieser Antinomie des Geschichtserkennens - die erkenntnistheoretischen Grundlagen werden in Kap. IV.Β entfaltet werden - kann sich Hirschs Meinung nach keine Hi-

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storiographie entziehen, es sei denn, daß sie ihren Erkenntnisanspruch positivistisch oder moralistisch reduziert bzw. mythologisch oder spekulativ übersteigert - wobei unterschiedliche Kombinationsmöglichkeiten dieser Deformationsgestalten durchaus möglich sind. Damit kehren wir zurück zur Gleichzeitigkeitsthematik. Das Ergebnis des gerade zurückgelegten Weges bestand in dem anhand der Begriffe von Ruf und Fügung aufgewiesenen Sachverhalt, daß das Geschichtserkennen selber von der für es spezifischen Sinnwahrheit her "auf das Geheimnis des das menschlich-geschichtliche Dasein begrenzenden Göttlichen stößt" (Lf §48.M.l.). Das bedeutet, "daß die Erkenntnis des MenschlichGeschichtlichen eine innre Nähe zum Ethisch-Religiösen h a t " (Lf § 48.Α.). Darin ist aber zugleich enthalten, daß, sofern wir mit einer Person der Vergangenheit überhaupt gleichzeitig zu werden vermögen, wir diese Person auch nach ihrem Gottesverhältnis zu verstehen in der Lage sind. Das Gleichzeitigwerden mit vergangenem entscheidungshaftem Dasein ist nicht auf das Nachverstehen äußerlich greifbarer Handlungen beschränkt, sondern schließt den Gesamtkomplex ethisch-religiöser Subjektivität ein. Wo sich die "Gleichzeitigkeit alles persönlichen Lebens im letzten Verhältnis" (ChR II, 22) ereignet, dort geschieht beides: m a n wird eines anderen Menschen inne nach dessen Sein vor Gott, und zugleich erlangt jener andere die Vollmacht, das eigene Gottes Verhältnis über zeitliche und räumliche Abstände hinweg zu affizieren. Das Gleichzeitigwerden mit fremder religiöser Subjektivität ist ebensowohl tätiges Nachverstehen wie rezeptive Betroffenheit. Es liegt im zweiten Moment dieser Struktur des Gleichzeitigwerdens begründet, daß "eine Person der andern zum Lebensquell, zum Faktor im letzten Verhältnis zu Gott werden kann" ( C h R I, 32). Dieses Gleichzeitigwerden in religiöser Hinsicht findet nun auch s t a t t in der Beziehung zu der geschichtlichen Person Jesus von Nazareth. Hirsch betont aber ausdrücklich, daß es sich hierbei zunächst keineswegs u m ein exklusives Verhältnis handelt. Es liegt auch im Falle der Begegnung mit dem Menschen Jesus nur ein Anwendungsfall jener allgemeineren hermeneutischen Struktur vor. "Das Besondere liegt allein in der unergründlichen Tiefe" (WG1 124). Die in diesem Gleichzeitigwerden mit Jesus stattfindende Verstehensarbeit setzt d a r u m ein "in menschlicher Unbefangenheit des Kennenlernens" ( C h R II, 22) und vollzieht sich "in Offenheit des Ausgangs, und ohne [die] Voraussetzung, daß Jesus Gottes Sohn und der Versöhner sei. Sie muß auch so geschehen, daß sie nicht etwa von einer diese Voraussetzung aufnehmenden Thesis des Glaubens plötzlich abgebrochen wird; sondern aller Glaube an Jesus als den Herrn und Versöhner muß aus dieser Arbeit hervorwachsen" (ChR I, 50). Das Gleichzeitigwerden ist auch nach seiner

Hermeneutische Gleichzeitigkeit

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religiösen Entdeckungs- und Erschließungskraft eine rein humane Kategorie. Auf das konkrete Verstehen der Person Jesu angewandt besagt dies: Die geschichtliche Begegnung mit diesem Menschen umfaßt das Gleichzeitigwerden ebensowohl mit seinem lebendigen Reden wie mit seinem faktischen Handeln, und zwar beides nach seiner religiösen Tiefenschichtsdimension. Jesu Wort wird in Gleichzeitigkeit nachverstanden, indem es als Ausdruck seines Gottesverhältnisses innere Vollmacht über die ethischreligiöse Subjektivität der es Vernehmenden gewinnt. Jesu Geschichte wird in Gleichzeitigkeit nacherlebt, indem der seinem Sendungsgehorsam entspringende Gang durch Leiden, Anfechtung und Tod als die ihm eigentümliche Erfüllung von Ruf und Fügung evident wird. Als Offenbarungswort und Offenbarungsgeschichte wird sein Reden und Handeln jedoch erst da erkannt, wo sich unter jener hermeneutischen Gleichzeitigkeitserfahrung die gnadenhafte Gleichzeitigkeit vollzieht, wie sie allein der Erscheinung der Wahrheit Gottes selber eignet. Diese spezifisch christologische Kategorie der gnadenhaften Gleichzeitigkeit wird in Kap. V.B.2.e zu behandeln sein.

III. Die subjektivitätstheoretische S t r u k t u r des G l a u b e n s

Einleitung: Die Aufgabe einer Neubestimmung des Glaubensbegriffs Ausgangspunkt für Hirschs Neubestimmung des Glaubensbegriffs ist die Kritik an der altprotestantischen Lehrmeinung. Luther hat am Glauben bekanntlich zwei Momente unterschieden, den Akt der Zustimmung zur Wahrheit eines Glaubensartikels sowie den Akt der Aneignung der so bejahten Wahrheit. Das erste Moment, die kognitive Komponente, brachte er auf den Begriff der fides historica, das zweite Moment, wodurch allererst die heilbringende Wirkung des Gottesverhältnisses gesetzt wird, auf den Begriff der fides apprehensiva. Die Orthodoxie hat die Grundintention dieser Unterscheidung übernommen und in Gestalt der Trichotomie von notitia, assensus und fiducia lehrmäßig zur Geltung gebracht. Hirschs Verhältnis zum altprotestantischen Glaubensbegriff als ganzem ist durch große Vorbehalte gekennzeichnet. Seine Kritik betrifft unterschiedliche Aspekte, entspringt aber einem einheitlichen Leitgesichtspunkt. Hirschs Haupteinwand besteht darin, daß seiner Auffassung nach "der Begriff eines auf Dogma oder Glaubensartikel sich richtenden Glaubens schlechterdings im Widerspruch mit dem Wesen des echten Glaubens ist, allein auf Gott als das uns sein Leben aufschließende Wort zu gehen" (Lf § 82.B.). Das Gewicht dieses Argumentes ist deshalb so hoch zu veranschlagen, weil der in ihm formulierte Einwand sich aus den Grundeinsichten der Reformation selber nährt. Der Begriff des Glaubens - darin weiß Hirsch sich mit ihr einer Meinung - kann nur auf der Grundlage der Korrelativität von Wort und Glaube bestimmt werden. Die in den altprotestantischen Glaubensbegriff miteingegangene partielle Gleichsetzung von Wort und biblischer Lehre bzw. bekenntnisartig formulierten Glaubensartikeln hingegen hält er für eine zeitbedingte Erscheinung. Den Grundintentionen der reformatorischen Theologie zufolge kann für Hirsch der Ausdruck "Wort Gottes" nichts anderes bedeuten als ein "auf Vernehmen und Verstehen zielendes innres Sichmitteilen Gottes an Sinn, Herz und Gewissen des Menschen". Und der Begriff "Glaube" bezeichnet in Entsprechung dazu ein "von diesem Worte bedingtes personhaftes Sichvernehmen vor Gott" (Lf Vbmg. zu §§ 73-99). Das Merkmal der Lehrmäßigkeit des göttlichen Wortes kann aus der bloßen Korrelation von Wort und Glaube für sich allein noch nicht gefolgert werden. Umgekehrt kann aber anhand vieler Einzelbeobachtungen gezeigt werden, daß Luthers inhaltliche Entfaltung seiner reformatorischen Einsicht den Charakter ei-

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Theorie der Subjektivität

ner überlehrmäßigen Erkenntnis besitzt (vgl. WrCh 25ff). Deshalb hält Hirsch das Moment der Zustimmung zu einer Lehraussage bzw. zu einem Bekenntnisartikel für kein essentielles Merkmal eines von der Mitte der reformatorischen Theologie her zu gewinnenden Glaubensbegriffs. An diesen Haupteinwand schließen sich sodann kritische Anmerkungen an, welche die gedankliche Konsistenz des überkommenen Glaubensbegriffs betreffen. Hirsch erklärt diesbezüglich: "Die altevanglische Lehre vom Glauben unterliegt rein logisch schon tödlichen Einwänden: a) Das Vertrauen des seligmachenden Glaubens geht auf Gott; die Zustimmung des historischen Glaubens dagegen geht nicht auf Gott, sondern auf einen Lehrinhalt, in dem u.a. von Gott Aussagen gemacht werden. Es handelt sich also u m zwei wesensunterschiedne Akte .... b) Die Aussage, m a n stimme den Glaubensartikeln um Gottes willen zu, der sie offenbart habe, ist widersinnig. Wenn ich weiß, daß Gott sie offenbart hat, so halte ich sie schon von selbst für wahr; weiß ich das nicht, so belüge ich mich und andre mit der Zustimmung .... c) Wahrheitsgewißheit wird ihrem Begriff zufolge empfangen, nicht durch Willensakt erwirkt" (Lf §82.M.3.). Zu diesen Einwänden, welche die innere Stimmigkeit des altprotestantischen Glaubensbegriffs in Frage stellen, treten geschichtsphilosophische Erwägungen hinzu, die die veränderte Lage von Kirche und Christentum in der Neuzeit betreffen. Auch sie erhärten die Kritik an jener überkommenen Unterscheidung zwischen einem zustimmenden und einem aneignenden Glauben. "Mit dieser Unterscheidung war der auf Lehrinhalte bezogne GlaubensbegrifF christlich zur Not erträglich in jener nun schon lange vergangnen Zeit, in der der Hauptinhalt der Glaubensartikel ein Bestandteil der allgemein anerkannten öffentlichen Anschauungen war, also die Zustimmung zu ihrer Wahrheit kaum etwas andres war als das sich Bewußtwerden eines geistigen Gehalts, an dem man vermöge der Bestimmtheit durch das Leben des Geschichtskreises, dem m a n zugehörte, ohnehin Anteil h a t t e . . . . Hingegen heute, unter der Geschichtsmacht des Zweifels ... , wird die Zustimmung als Voraussetzung des Vertrauens, d.h. also ohne vorhergehende persönliche Ergriffenheit vom persönlichen Glauben an den Gott des Evangeliums, einfach zu einer Betätigung innrer Unwahrhaftigkeit. W ü r d e aber etwa die Zustimmung zu den Glaubensartikeln ... als ... etwas zu dem Glauben an den Gott des Evangeliums Hinzukommendes ... verstanden, so kann sie als heilsnotwendig nur geltend gemacht werden, wenn m a n die evangelische Anschauung preisgibt, daß allein der Glaube an den Gott des Evangeliums, ohne Leistungen oder Werke des Menschen, selig macht" (Lf § 82.B.). Jede unter den soziokulturellen Bedingungen des neuzeitlichen Christentums erhobene Forderung nach einer dem Glauben vorgängigen Zustimmung zur Wahrheit einer Lehre oder eines Bekenntnis-

Der Glaubensbegriff als Aufgabe

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artikels setzt sich sonach dem Verdacht aus, sei es geistiger Entfremdung, sei es intellektueller Werkgerechtigkeit Vorschub zu leisten. Schließlich richtet sich Hirschs Kritik an der altprotestantischen Lehre vom Glauben auch noch gegen die darin implizierte anthropologische oder psychologische Verortung des Glaubensaktes. Eine solche führt zwangsläufig - wenn auch unbeabsichtigt - zu einer Restriktion der Lebensbedeutung des Glaubens. "Wird ... die Wahrheit, auf die der Glaube sich richtet, als der in Christus sich uns gnädig aufschließende lebendige Gott selbst verstanden, dann ist es unmöglich, irgendeine Seite am Menschen als die den Glaubensakt tragende auszusondern. Gott n i m m t den ganzen Menschen in Anspruch. Es gibt also keine psychologische Umgrenzung des Glaubens. Der Glaube ist das durch alle psychologischen Unterscheidungen quer Hindurchgehende" (GlerA 106). Glaube wie Unglaube sind "Totalbestimmungen des Menschseins, die sich in jedem Lebenselement des inneren Menschen spiegeln und in jedem Sondergebiet des Seelischen die Ganzheit des Menschen zur Geltung bringen" (ChR II, 70). Als solche Bestimmung "des ganzen vor Gott stehenden Menschen in allen seinen Regungen" (Lf §82.A.) entzieht sich der Glaube jeder anthropologischen und psychologischen Regionalisierung oder Segmentierung. Hirschs Konsequenz aus dieser kritischen Würdigung der altprotestantischen Lehre vom Glauben kann man nicht anders denn als radikal bezeichnen. "Da der Fehler schon in Ansatz und Voraussetzungen liegt, gibt es auch keine Reform des altevangelischen Glaubensbegriffs: er muß als ganzer preisgegeben werden" (Lf §82.B.). Die von Hirsch vorgelegte Bestimmung des Glaubensbegriffs hat darin ihre Eigenart, daß sie im Vergleich zur altprotestantischen Lehrfassung völlig neue Wege geht, daß sie aber gleichwohl mit einer kaum zu überbietenden Konsequenz an der reformatorischen Korrelativität von Wort und Glaube orientiert bleibt. Den gedanklichen Gehalt seines Glaubensbegriffs hat Hirsch in den Paragraphen 82-90 des "Leitfadens" in drei Kapiteln mit wiederum je drei Teilaspekten auseinandergefächert. Über die Leitgesichtspunkte dieser Systematik orientieren insbesondere Hirschs früher Briefwechsel mit Tillich aus dem J a h r e 1917/18, ferner der 1931 gehaltene Vortrag "Der Glaube nach evangelischer und römisch-katholischer Anschauung" und schließlich die in demselben Jahr erschienene Monographie "Schöpfung und Sünde in der natürlich-geschichtlichen Wirklichkeit des einzelnen Menschen". F ü r unsere Behandlung der subjektivitätstheoretischen Struktur von Hirschs Glaubensbegriff sind vor allem drei Problemkreise von Bedeutung: (1) Der Glaube als Innerlichkeit, (2) Der Glaube als Gewißheit, (3) Der Glaube als ganzheitlicher Lebensakt. Den kategorialen Orientierungspunkt von Hirschs Neubestimmung des Glaubensbegriffs bildet die Philosophie Johann Gottlieb Fichtes. Seinem

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Theorie der Subjektivität

Denken galten bereits die Dissertation und die Habilitationsschrift. 1 Kein philosophischer Entwurf hat Hirsch nachhaltiger geformt als die Fichtesche Wissenschaftslehre. 2 So ist denn auch die Beschreibung der genannten Strukturmomente des Glaubens - sieht man von den prägenden Einflüssen der Hollschen Luther-Deutung, von denen bereits die Rede war, ab - im wesentlichen durch die Auseinandersetzung mit der Philosophie Fichtes bestimmt. Im Vordergrund steht dabei dessen "Daxstellung der Wissenschaftslehre" aus dem Jahre 1801/02. Deren Theorieprogramm soll zunächst rekonstruiert werden, bevor im Anschluß daran Hirschs Neufassung des Glaubensbegriffs im Zusammenhang seiner Fichte-Rezeption zu erörtern sein wird. Hirschs gleichfalls an der Wissenschaftslehre von 1801/02 orientierte Beschreibung der eigentümlichen Vermittlungsstruktur des Glaubens kann aus systematischen Gründen erst im Kontext der Entfaltung der reifen Christologie gewürdigt werden (vgl. Kap. V.B.3).

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2

Zu ihnen bemerkt W. JANKE: "Fichtes Weg zum Absoluten läßt sich anhand seiner vertieften Religionslehre studieren. (Das haben maßgeblich die Fichte-Studien von E. Hirsch vorgezeichnet)" (TRE XVI, 11). Dies gilt auch hinsichtlich des Verhältnisses zu dem großen Dänen: Fichte war für Hirsch der Theoretiker des Prinzips Subjektivität, Kierkegaard hingegen verkörperte die gedanklichen Perspektiven konkreter ethisch-religiöser Selbstauslegung, gewissermaßen das Paradigma von "Lebensdialektik" (KSt 495).

A. Fichtes Grundlegung einer Theorie des Absoluten in der Wissenschaftslehre von 1801/02 Die besondere Bedeutung der "Darstellung" von 1801/02 im Vergleich zu den beiden früheren Hauptstationen der Fichteschen Wissenschaftslehre, der "Grundlage" von 1794 und der "Nova methodo" von 1798, hegt in einem Zwiefachen. Zunächst in dem Umstand, daß der Begriff der intellektuellen Anschauung in ihr zum tragenden Mittelpunkt des Systems geworden ist, und zwar sowohl in inhaltlicher wie in methodischer Hinsicht. Will m a n Fichtes Denkweg innerhalb des genannten Zeitraumes unter diesem Gesichtspunkt zusammenfassen, bietet sich folgende schematische Ubersicht an: 3 In der ersten Phase konzipiert Fichte eine Philosophie der Subjektivität, die im schlechthinnigen Sich-Setzen des Ich ihre letzte Gültigkeitsbasis besitzt. In der zweiten Phase wird sich Fichte mehr und mehr der Zugangsbedingungen eines solchen Ansatzes bewußt; das Postulat bzw. der Vollzug der intellektuellen Anschauung wird als methodischer Operator der Ichphilosophie eingeführt. In der dritten Phase sieht Fichte sich vor die Aufgabe gestellt, den systematischen Gehalt und die methodische Funktion des Prinzips der Wissenschaftslehre miteinander zu verbinden; an die Stelle des absoluten Ich tritt das absolute Wissen, dessen Strukturbeschreibung sich in der reinen Selbstkonstruktion der intellektuellen Anschauung vollendet. Was die Darstellung von 1801/02 sodann auszeichnet, ist der Sachverhalt, daß dem Begriff des Absoluten jetzt erstmalig eine systematische E n t f a l t u n g von den internen Begründungsproblemen der Wissenschaftslehre her zuteil wird. Und zwar sind es vorwiegend Fragen der gedanklichen Voraussetzungshaftigkeit vernünftiger Freiheit, die zu ihm hinführen. Diese Integration der Theorie des Absoluten in den Erörterungskontext der Wissenschaftslehre wird unterstützt durch die von Fichte zunehmend als drängend empfundene Aufgabe, gewisse systematische Lücken in deren älteren Fassungen zu schließen. Hier sind insbesondere das Problem der Synthesis der Geisterweit und das Problem des nicht deduzierbaren Anstoßes zu nennen. Daneben waren es schließlich auch die Erfahrungen des 3

Das folgende Schema ist nicht zu verwechseln mit der bekannten Drei-StadienTheorie von D. H E N R I C H (Fichtes ursprüngliche Einsicht). Sie darf seit W . J A N K E (Fichte. Sein und Reflexion, 4 1 6 Anm. 6 9 ) und J . S T O L Z E N B E R G (Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung, 287 Anm. 14) als widerlegt gelten.

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Theorie der Subjektivität

Atheismusstreites, die Fichte dazu veranlaßt haben, dem Verhältnis von Freiheits- und Gottesgedanken verstärkte Aufmerksamkeit zuzuwenden. Was nun Emanuel Hirschs besondere Wertschätzung der Wissenschaftslehre von 1801/02 anbelangt, so schlägt sie sich vor allem in zwei Feststellungen nieder, die mit den gerade erwähnten Eigentümlichkeiten unmittelbar zusammenhängen. Die eine betrifft das Verhältnis von intellektueller Anschauung und philosophischer Reflexion. Letztere läßt sich - nach Fichtes Auffassung - mit ersterer prinzipiell nicht zur Deckung bringen, obwohl sie von ihr unmittelbar motiviert und geleitet wird. Das methodische Denken des Philosophen "kann das Ich der intellektuellen Anschauung nach seiner Einheit lediglich formell denken, es stößt hier also auch an seine eigene Grenze." Daß sie eben diese Einsicht in die prinzipielle Begrenztheit der philosophischen Reflexion "zur Grundlage der ganzen Darstellung der W.L. gemacht h a t " , bildet nach Hirsch die Ursache für "die einleuchtende Klarheit der W.L. 1801" (ICh 179 mit Anm. 1). Die endgültige Ausdifferenzierung der Binnenstruktur des Wissens läßt sich deshalb nur aus der Perspektive der intellektuellen Anschauung selbst vornehmen. Aber genau an dieser und nur an dieser Stelle tritt deren Bezogenheit auf das Absolute offen zutage. Damit ist zugleich der andere Aspekt angesprochen. Weil eine ihrer herausragenden gedanklichen Leistungen darin besteht, das interne Verhältnis der intellektuellen Anschauung zum Absoluten aufgedeckt zu haben, eben d a r u m ist "die W.L. 1801/02 der Muttergrund ..., auf dem alle konkreten Aussagen der Berliner Religionsphilosophie Fichtes gewachsen sind" (ICh 284). Alle späteren Wissenschaftslehren, einschließlich der berühmten zweiten Fassung aus dem Jahre 1804, knüpfen hinsichtlich jener Thematik an sie an und lassen sich ohne diesen Rückbezug nicht angemessen verstehen. Die Darstellung von 1801/02 ist d a r u m wie kaum eine andere Fassung der Wissenschaftslehre geeignet, in Fichtes Theorie des Absoluten einzuführen. Die nachfolgende Interpretation sucht dem Verlauf des Fichteschen Textes entlangzugehen. Dabei fungieren gewisse H a u p t t h e m e n als Leitgesichtspunkte: zunächst Fichtes Verständnis der Innerlichkeit des absoluten Wissens (Abschnitt 1), sodann die Explikation des Schemas der Fünffachheit des Wissens (Abschnitt 2), ferner die Beschreibung der Selbstkonstruktion der intellektuellen Anschauung als der Mitte von Selbsterzeugung aus Freiheit und Selbstvernichtung am Absoluten (Abschnitt 3) und schließlich die Analyse des für die Grundlegung der Religionsphilosophie zentralen Begriffs des absoluten Seins (Abschnitt 4).

Fichte: Innerlichkeit

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1. Die Innerlichkeit des absoluten Wissens Erste Philosophie kann nach Auffassung Fichtes nur Wissenschaftslehre sein. Damit ist gesagt, daß Philosophie für Fichte nicht schon dort vorliegt, wo überhaupt begriffliche Kompetenz methodisch zur Geltung kommt, sondern im strengen Sinne erst da, wo es um die begriffliche Letztbegründung von Wissen geht. Ein solches Programm kann nicht anders realisiert werden, als daß das philosophische Denken den Umfang des von ihm thematisierten Wissens auf die Erkenntnis der Wirklichkeit im ganzen ausweitet. Daraus resultiert, daß es sich nurmehr im System zu vollenden vermag. Wissenschaftslehre ist demzufolge die begriffliche Entfaltung und Begründung derjenigen Bedingungen, welche die Letztbegründetheit und Systemeinheit von Wissen konstituieren. Fichtes Begriff der "Wissenschaftslehre" wäre indes gänzlich mißverstanden, wollte man aus dem sprachlichen Sinn dieses Begriffsausdrucks schließen, Philosophie habe ausschließlich oder überwiegend mit Erkenntnistheorie zu tun. Ganz im Gegenteil wendet sich die Wissenschaftslehre beiden Grundhemisphären philosophischer Reflexion gleichgewichtig zu, der theoretischen ebensosehr wie der praktischen. Eine der wesentlichen Pointen der Wissenschaftslehre besteht gerade darin, die Nahtstelle von theoretischer und praktischer Vernunft aufzuzeigen, den Verweisungszusammenhang beider genauestens zu bestimmen sowie das darin obwaltende Wechselbestimmungsverhältnis auf deren gemeinsamen Ursprung zurückzuführen bzw. aus ihm hervorgehen zu lassen. Fichtes Wissenschaftslehre ist in dem Sinne Letztbegründungs- oder Systemdenken, daß sie die Dichotomie von theoretischer und praktischer Vernunft nicht unbesehen hinnimmt, sondern deren Einheit als für das Verständnis beider unumgänglich nachweist. Der außerordentliche gedankliche Reichtum der Philosophie Fichtes besteht nicht zuletzt darin, daß mit den rasch aufeinander folgenden unterschiedlichen Fassungen der Wissenschaftslehre sich die exakte Bestimmung dessen, was als theoretisch-praktisches Letztbegründungsprinzip zu fungieren habe, immer wieder geändert hat - ohne dabei freilich die Kontinuität im wesentlichen preiszugeben. Im Mittelpunkt der Wissenschaftslehre von 1801/02 steht der Begriff des absoluten Wissens. 4 Er wird in der Weise eingeführt, daß zunächst ein Vorbegriff davon aufgestellt wird, den Fichte am Beispiel der Konstruktion eines mathematischen Gegenstandes gewinnt (vgl. § 1). Vorbedingung sei4

Die folgenden in den Text gesetzten Zitatnachweise beziehen sich auf J . G . FICHTE: Darstellung der Wissenschaftslehre aus den Jahren 1801/02, hrsg. v. R. Lauth. Zu Fichtes Begriff des absoluten Wissens in der WL 1801/02 vgl. JANKE, a.a.O. 207248.

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Theorie der Subjektivität

ner Exposition wiederum ist die Einklammerung sämtlicher Vormeinungen hinsichtlich des Begriffs des Wissens überhaupt. Die wesentlichen Merkmale jenes paradigmatisch gewonnenen VorbegrifFs des Wissens sind folgende: 1. die Notwendigkeit der materialen Bestimmtheit des vorgestellten Gegenstandes, 2. die unbedingte Gewißheit der vorstellenden Bezugnahme auf ihn, 3. die intersubjektive Gültigkeit dieses Vorstellens. Diese drei Merkmale stehen in logischer Hinsicht keineswegs auf derselben Ebene, sondern verhalten sich so zueinander, daß die Notwendigkeit der materialen Bestimmtheit des Gegenstandes und die intersubjektive Gültigkeit des Vorstellens ihrerseits Inhalt der unbedingten Gewißheit sind. Wissen liegt demzufolge vor, wenn m a n "der absoluten Gültigkeit" einer bestimmten Aussage "schlechthin sicher" (10) ist. Wissen ist seinem Vorbegriff zufolge die unbedingte Gewißheit von unbedingter Gültigkeit. Eine mathematische Konstruktion - so fährt Fichte anhand seines Paradigmas fort - vollzieht sich nun immer an einem Einzelfall. Die Gültigkeit der Aussagen über ihn bezieht sich jedoch auf die Allgemeinheit des an ihm Vorgestellten. Das Wissen von einem im Einzelfall erscheinenden Allgemeinen hat demzufolge den Charakter unendlicher Wiederholbarkeit. Oder in Form eines Stufenmodells ausgedrückt: Eine unendliche Menge qualitativ identischer Wissensvollzüge wird in einem einzigen Wissensvollzug virtuell zusammengefaßt. Deshalb kann Fichte die für Wissen konstitutive unbedingte Gewißheit von unbedingter Gültigkeit bzw. die Stetigkeit des Vorstellens, auf der der Wissende unwandelbar ruht, auch beschreiben als das Überschauen einer Mannigfaltigkeit, "schlechthin mit Einem Blike" (12). Dieses Zusammenfassen einer Mannigfaltigkeit mit einem Blick läßt sich unschwer auf alle drei Allgemeinheitsmerkmale des Wissens beziehen. Der eine Blick ergreift das Allgemeine einer Unendlichkeit gleichgearteter Fälle. Dieses zusammenfassende Bewußtsein, welches a m einzelnen das Allgemeine sieht, nennt Fichte in §2 "Anschauung" (13). Dieser Begriff bezeichnet bei Fichte also nicht wie bei Kant das bloße Gegebensein von Mannigfaltigem, sondern das Schweben der Einbildungskraft zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen. Der Anschauungsbegriff empfängt d a r u m eine doppelte Abgrenzung: der Wahrnehmung des Besonderen gegenüber ist das Anschauen ein Zusammenfassen, dem Denken von Einheit gegenüber ist das Anschauen ein Schweben im Mannigfaltigen. Die Wissenschaftslehre vollzieht nun im weiteren Fortgang die thematische Ausarbeitung dessen, was sich bei der Aufstellung des Vorbegriffs des Wissens am Beispiel der Konstruktion des mathematischen Gegen-

Fichte: Innerlichkeit

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standes ergeben h a t t e (vgl. §3). Wissenschaftslehre als Thematisierung der invarianten Strukturmerkmale von Wissen erweist sich dabei als ein in sich amphibolischer Sachverhalt: sie ist eben von der Struktur dessen, was sie beschreibt. Auch das Wissen vom Wissen kommt nicht aus dem Wissen heraus. Wissenschaftslehre ist sonach nichts anderes als die interne Selbstdifferenzierung des Wissens. Allem Wissen kommt nun nach Fichte Uniformität zu, sofern von seiner Inhaltsbezogenheit abgesehen wird. Inhaltsbezogenheit fungiert demnach als Diversitätsprinzip des Wissens. Nicht dem Wissen von etwas, sondern Wissen als solchem kommt absolute Identität zu. Diese uniforme Struktur des bloßen, noch nicht durch Gegenstandsgebundenheit spezifizierten Wissens ist auch eine Identitätsbedingung von Bewußtsein. Im Horizont der Wissenschaftslehre ist Bewußtsein ein systematisch abgeleitetes Moment des Wissens. Wissenschaftslehre ist somit ein absolutes Zusammenfassen allen Wissens seiner Uniformität nach mit einem Blick bzw. das In-einemBlick-Zusammenfassen allen In-einem-Blick-Zusammenfassens (vgl. §4). Deshalb wird die Theorie der intellektuellen Anschauung den Kern der Wissenschaftslehre bilden. Als jenes uniforme, in allem "Wissen von" sich durchhaltende "blosse Wissen" wird sich das Wissen selbst aber noch keineswegs thematisch. Dies geschieht erst auf der Ebene des Wissens vom Wissen. Um sich also thematisieren zu können, muß sich das Wissen zuvor von sich differenziert haben. Wissenschaftslehre besteht in dem aktuellen Vollzug der Selbstdifferenzierung und Selbstthematisierung des Wissens. Es wird die Aufgabe der Theorie der intellektuellen Anschauung sein, verständlich zu machen, wie sich das Wissen zugleich vollziehen und - u m sich selbst sehen zu können - differenzieren kann. Wissen kann grundsätzlich nicht aus einer externen Position, die ihrerseits nicht auch Wissen wäre, beschrieben werden. D a r u m ist es erforderlich, die Einheit der intellektuellen Anschauung als in sich differenzierte zu denken, nämlich als Struktur. Sie wird sich zunächst als synthetische Fünffachheit herausstellen. Diese bildet dann ihrerseits den methodischen Einstieg in die Selbstkonstruktion der intellektuellen Anschauung. Die Wissenschaftslehre ist somit vergleichbar der "Klarheit des Auges" (16); denn als die Thematisierung der uniformen Struktur des Wissens produziert sie nur die Deutlichkeit dessen, was in allem faktizitären Wissen vom Wissen immer schon, wenn auch nicht ausdrücklich, erkannt wird. Philosophie als Wissenschaftslehre ist in erster Linie nicht ein System wahrer Aussagen. Diese haben vielmehr nur eine Übermittlungsfunktion zum Zwecke der Auslösung einer Selbstreflexion des Wissens. Wissenschaftslehre ist der aktuelle Vollzug der Selbstanschauung des Wissens.

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Theorie der S u b j e k t i v i t ä t

Erst mit § 5 beginnt die Theorie des absoluten Wissens im eigentlichen Sinne. Alle bisherigen Darlegungen h a t t e n m e h r oder weniger einführenden C h a r a k t e r . Zwecks Klärung des Begriffs des absoluten Wissens wird von Fichte gleich zu Beginn des §5 der Begriff des Absoluten eingeführt. A b e r es m u ß b e t o n t werden, daß es Fichte an dieser Stelle noch nicht u m die Denkmöglichkeit des Absoluten selbst geht, sondern zunächst n u r u m allerelementarste Folgerungen aus d e m Wortsinn des Ausdrucks "absolut" f ü r dessen Verwendung in d e m Ausdruck "absolutes Wissen". "Zuförderst, welches lediglich d a r u m gesagt wird, u m unsre Untersuchung zu leiten, ist d u r c h den bloßen Begriff eines absoluten Wissens soviel klar, daß dasselbe nicht das Absolute ist. Jedes zu d e m Ausdruke: das absolute gesezte zweite W o r t hebt die Absolutheit, schlechthin als solche, auf, u n d läßt sie n u r noch in der durch das hinzugesezte Wort bezeichneten R ü k s i c h t , u n d Relation stehen. Das absolute ist weder ein Wissen, noch ist es ein Seyn, n o c h ist es I d e n t i t ä t , noch ist es Indifferenz beider, sondern es ist d u r c h a u s bloß u n d lediglich das Absolute. D a wir aber in der Wissenschaftslehre, u n d vielleicht auch ausser derselben in allem möglichen Wissen, nie weiter k o m m e n , d e n n bis auf das Wissen, so kann die W . L . nicht v o m Absoluten, sondern sie m u ß v o m absoluten Wissen ausgehen" (19; Hhg.i.O.). Die T h e s e dieses P a r a g r a p h e n besteht in der Negation einer I d e n t i t ä t s aussage: Das absolute Wissen ist nicht das Absolute. Die B e g r ü n d u n g dieser T h e s e erfolgt über eine sprachliche und eine kategoriale Analyse der prädikativen Verwendung des Ausdrucks "absolut". Logisch-semantisch b e t r a c h t e t h a n d e l t es sich bei d e m Ausdruck "das Absolute" u m eine Kennzeichnung mit individueller Referenzfunktion, w ä h r e n d d e m Ausd r u c k "absolut" in der a t t r i b u t i v e n W e n d u n g "absolutes Wissen" die Rolle eines P r ä d i k a t e s mit genereller Charakterisierungsfunktion z u k o m m t . Streng g e n o m m e n ist in d e m Terminus "absolutes Wissen" also gar nicht von einem Absoluten die Rede, sondern von der Eigenschaft Absolutheit mit Bezug auf das Wissen. Der Ausdruck "absolut" b e d e u t e t seinem unm i t t e l b a r e n Wortsinn n a c h nichts anderes als "nicht in Relation s t e h e n d " . U n d so verwendet ihn Fichte auch in der T a t . "Absolutheit" besagt also soviel wie "Nicht-Relativität". W i r d der Begriff "nicht-relativ" prädiziert mit Bezug auf etwas, d a n n - so l a u t e t Fichtes These - widersprechen sich der semantische Gehalt und die F o r m jener Prädikation. Der B e d e u t u n g des P r ä d i k a t s zufolge wird ein e m E t w a s die Eigenschaft der Nicht-Relativität zugesprochen. Bezüglich der F o r m der P r ä d i k a t i o n n u n tritt die B e s t i m m u n g s f u n k t i o n des Prädikates "nicht-relativ" u n t e r die Bedingung der B e s t i m m t h e i t dessen, d e m das P r ä d i k a t zugesprochen wird. Was aber unabhängig davon, daß ihm das M e r k m a l der Absolutheit z u k o m m t , noch selbständige B e s t i m m t h e i t aufweist, dessen Absolutheit divergiert offenkundig von der Absolutheit des-

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jenigen, welches ausschließlich durch diese Eigenschaft konstituiert wird. Es liegt in der Verschränkung des Wortsinnes des Ausdrucks "absolut" mit der Prädikationsstruktur bzw. der Ding/Eigenschaftsrelation begründet, daß jedes zu dem Ausdruck "das absolute ..." hinzugesetzte zweite Wort die eigentlich prätendierte schlechthinnige Absolutheit verfehlt. Darin ist zugleich enthalten, daß der Ausdruck "das Absolute", d.h. die Kennzeichnung einer Entität durch das ausschließliche Merkmal der Absolutheit, nur tautologisch verwendet werden kann. Fichte weist d a r u m alle qualitativen Identifizierungen des Absoluten konsequent ab. Und so wird durch den Begriff des absoluten Wissens keineswegs eine Identitätsbeziehung aufgestellt dergestalt, daß das Wissen das Absolute sei, oder umgekehrt, sondern es wird lediglich eine Eigenschaft für das Wissen reklamiert, die ihm - in einem noch zu spezifizierenden Sinne - Absolutheit verleiht. Immerhin folgt aus dem gerade Ausgeführten, daß es sich bei der Absolutheit des absoluten Wissens auf keinen Fall um die Absolutheit des Absoluten selbst handeln kann. Vielmehr geht es u m einen davon verschiedenen Modus von Absolutheit. Fichte wird darum an späterer Stelle explizit zwischen primärer und sekundärer Absolutheit unterscheiden. F ü r die Beurteilung des weiteren Fortgangs der Argumentation ist diese Unterscheidung aber schon hier grundlegend, sofern nämlich durch sie klargestellt wird, daß Fichtes nachfolgende Frage nach der internen Vermittlungsstruktur der Absolutheitscharaktere des absoluten Wissens ausschließlich dessen eigentümlichem Absolutheitsmodus gilt, also keinesfalls mit dem Problem der inneren Möglichkeit eines spekulativen Gottesbegriffs verwechselt werden darf. Fichtes Wissenschaftslehre - soviel darf an dieser Stelle schon vermerkt werden - impliziert bezüglich der Möglichkeit einer Theorie des Absoluten eine mit Kants Kritizismus durchaus vergleichbare Restriktionsthese: Begrifflich kann das Absolute auf keine Weise erkannt, sondern nur gedacht werden. Die Begründung dieser Restriktionsthese erfolgt dann allerdings völlig anders als bei Kant. Da die Wissenschaftslehre ganz in der Selbstthematisierung des Wissens hinsichtlich seiner immanenten Strukturmerkmale aufgeht, hat sie es nie mit etwas anderem zu t u n als mit Wissen. Das Absolute als Bedingung des absoluten Wissens kann lediglich den Inhalt eines Grenzbegriffs jener Selbstaufklärung des Wissens bilden. Die Theorie des Wissens ist d a r u m der logische Ort eines möglichen Begriffs des Absoluten, und nicht etwa umgekehrt der Begriff des Absoluten Horizont einer Theorie des Wissens. Alles wirkliche Wissen ist nun - wie bereits ausgeführt - durch Gegenstandsgebundenheit gekennzeichnet. Es entsteht das Problem, inwiefern unter einer solchen Voraussetzung ein absolutes Wissen gedacht werden

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kann. Diese Frage gilt sowohl der Denkbarkeit eines absoluten Wissens als auch der Möglichkeit einer Theorie des absoluten Wissens (vgl. §6). Wirkliches Wissen ist relativ, sofern es Wissen von etwas ist. Wirkliches Wissen ist nicht-relativ bzw. absolut, sofern es als Wissen von etwas zugleich die uniforme Struktur "Wissen schlechthin" aufweist (vgl. §7). Das Wissen von etwas und das Wissen schlechthin stehen in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis dergestalt, daß das Wissen schlechthin nur im Wissen von etwas wirklich wird, und umgekehrt jedes Wissen von etwas nur insoweit Wissen überhaupt sein kann, als es die Identitätsbedingung "Wissen schlechthin" erfüllt. Die Theorie des absoluten Wissens ist für Fichte somit das "Denken des Wissenfs] ... als des Einen und sich selbst gleichen in allem besonderen Wissen" (21). Dieser Begriff des absoluten Wissens darf darum nicht verwechselt werden mit dem der Hegeischen Phänomenologie des Geistes, und zwar in doppeltem Sinne. Das absolute Wissen ist für Fichte weder ein Wissen vom Absoluten, noch ist es das die Selbstexplikation des Geistes vollendende Sich-Wissen des Wissens. Für die Wissenschaftslehre ist das absolute Wissen das "Wissen schlechthin" in seiner uniformitätsstiftenden Funktion bezüglich allen Wissens von etwas. Eher ist es der Begriff der intellektuellen Anschauung, dem man innerhalb der Fichteschen Philosophie eine Hegels Begriff des absoluten Wissens systematisch äquivalente Stellung zusprechen könnte. Die Entgegensetzung von absolutem und relativem Wissen betrifft nicht etwa das Verhältnis des Wissens zu einer dem Wissen gegenüber externen Instanz, also nicht die Relation Wissen/gewußter Gegenstand, sondern eine Differenz im Wissen selber, nämlich den Unterschied zwischen seiner Konstitutionsstruktur einerseits und seiner Inhaltsbezogenheit andererseits. Das absolute Wissen ist "der Charakter des Wissens überhaupt, den jedes besondere Wissen haben muss" (22), um allererst Wissen zu sein. Insofern bildet der Begriff des absoluten Wissens mit all seinen Merkmalen, auch wenn er methodisch nur abstrahierend gewonnen werden kann, keine Abstraktionsklasse aus einem vorgegebenen "Wissen von" abstrahierter invarianter Strukturmerkmale, sondern die durch Abstraktion aufgezeigten Strukturmerkmale sind in Wahrheit die Konstitutionsbedingungen jedes Wissens von etwas. Das Denken weist mit dem von ihm gebildeten Begriff des absoluten Wissens nur die Bedingungen auf, denen alles besondere Wissen immer schon genügt und genügen muß, um überhaupt Wissen zu sein. Der durch den Ausdruck "absolutes Wissen" bezeichnete Sachverhalt kann nach Fichte nicht so einsichtig gemacht werden, daß er aus anderem

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Wissen erklärt w ü r d e 5 , sondern allein dadurch, daß er in einer A n s c h a u u n g nachgewiesen wird. Diese Anschauung wird sich im weiteren Verlauf des Fichteschen Gedankengangs als intellektuelle A n s c h a u u n g herausstellen. Die reale Möglichkeit des absoluten Wissens wird zunächst jedoch mit Hilfe zweier Absolutheitscharaktere erklärt, welche beide aus einem problematisch aufgestellten Begriff des Absoluten gewonnen sind: "In der Beschreibung selbst bedienen wir uns folgender Hinleitung. Denke sich der Leser zuvörderst das Absolute, schlechthin als solches, sowie oben sein Begriff b e s t i m m t worden. Er wird finden, b e h a u p t e n wir, dass er es nur u n t e r folgenden zwei M e r k m a l e n denken könne, theils, dass es sey schlechthin, was es sey, auf u n d in sich selbst r u h e durchaus ohne W a n d e l u n d Wanken, fest, vollendet u n d in sich geschlossen, theils, dass es sey, was es sey, schlechthin weil es sey, von sich selbst, u n d durch sich selbst, ohne allen f r e m d e n Einfluss, i n d e m neben d e m Absoluten gar kein Fremdes übrig bleibt, sondern alles, was nicht das Absolute selbst ist, verschwindet. (Es kann seyn, daß diese Duplicität der Merkmale, mit welcher wir das Absolute fassen, u n d es anders gar nicht fassen können, welche d e m Absoluten gegenüber allerdings sonderbar scheint, selbst Resultat unsers Denkens, also eben eines Wissens ist, welches wir vorläufig unentschieden lassen m ü s s e n . ) W i r können das erstere absolutes Bestehen, ruhendes Seyn u.s.w. nennen; das leztere absolutes Werden, oder Freiheit.... Nun soll das Wissen absolut seyn, als Eins, eben als sich selbst gleiches, u n d ewig gleich bleibendes Wissen, als Einheit einer und eben der höchsten A n s c h a u u n g , als blosse absolute Q u a l i t ä t . Im Wissen sonach m ü s t e n die beiden oben unterschiedenen M e r k m a l e des Absoluten schlechthin in einander fallen, u n d verschmelzen, so daß beide garnicht mehr unterscheidbar wären; u n d eben in dieser absoluten Verschmelzung würde das Wesen des Wissen, als solchen, oder das absolute Wissen bestehen" (23; Hhg.i.O.). Der Begriff einer Sache wird im allgemeinen so gewonnen, daß die wesentlichen M e r k m a l e derselben als Merkmale in deren Begriff eingehen. Notwendige Bedingung der qualitativen I d e n t i t ä t der auf diese Weise erf a ß t e n Sache ist, daß in ihrem Begriff nicht nur eine Mannigfaltigkeit verschiedener Merkmale, sondern auch deren Einheit gedacht wird. Wie gewinnt m a n n u n angesichts der Nicht-Erkennbarkeit des Absoluten die f ü r den Begriff des absoluten Wissens erforderlichen Merkmale des Begriffs des Absoluten? Die Nicht-Erkennbarkeit des Absoluten besteht genau darin, 5

Der Grund für diese begriffliche Nicht-Ableitbarkeit der realen Möglichkeit des absoluten Wissens liegt in der Absolutheit des zu begreifenden absoluten Wissens selber. Ein absolut Gültiges kann nicht aus einem ihm übergeordneten Grundsatz deduziert werden. Der Ausdruck "absolut" wird von Fichte hier offensichtlich im Sinne der Funktionseigenschaft eines obersten, höchsten Prinzips und nicht im Sinne von Nicht-Relativität verstanden (vgl. 22).

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daß zwar einzelne Merkmale desselben problematisch aufgestellt werden können, nicht aber deren Einheit gedacht werden kann. Die für den Begriff des absoluten Wissens erforderliche Spezifikation der Bedeutung von "absolut" kann also nur so erfolgen, daß der Begriff der Nicht-Relativität, wie er sich in § 5 als konstitutives Merkmal ergeben hatte, nach verschiedenen Hinsichten aus differenziert wird. Auch hier wiederum wird von dem Begriff des Absoluten nur insoweit Gebrauch gemacht, als er innerhalb des Horizonts einer Theorie des Wissens relevant und thematisierbar ist. Die beiden grundlegenden Hinsichten, nach denen Nicht-Relativität näher spezifiziert werden kann, sind der qualitative und der genetische Aspekt: Nicht-Relativität in qualitativer Hinsicht ist In-sich-Sein, NichtRelativität in genetischer Hinsicht ist Von-sich-Sein. Die qualitative NichtRelativität bezeichnet ein "absolutes Was" - traditionell gesprochen die Substantialität der Substanz. Das besagt: Die Bestimmtheit der qualitativen Beschaffenheit des Absoluten verdankt sich keiner Bestimmtheit außerhalb ihrer selbst, sondern ausschließlich der eigenen. Die Bestimmtheit des Absoluten ist eine absolute Qualität. Seiner Qualität nach ist das Absolute ein in sich Ruhendes. Umgekehrt, die genetische NichtRelativität bezeichnet ein "absolutes Weil" - traditionell gesprochen die Aseität der causa sui. Das besagt: Das für das Absolute signifikante Sein von qualitativer Nicht-Relativität verdankt sich keiner fremden Ursache, sondern ausschließlich seiner Selbsterzeugung. Qualitative NichtRelativität kommt dem Absoluten allein von ihm selber her zu. Das Absolute wird zu dem, was es ist, unmittelbar durch sich selbst, indem es sich dazu macht. Qualitative und genetische Nicht-Relativität können d a r u m auch bezeichnet werden als Sein, absolutes Bestehen, einerseits und Freiheit, absolutes Werden, andererseits. 6 In logischer Hinsicht ist dabei entscheidend, daß zwischen qualitativer und genetischer Nicht-Relativität offenkundig ein Stufenverhältnis besteht: Der Begriff der ersteren ist im Begriff der letzteren vorausgesetzt.

6

Mit der Bestimmung der beiden Absolutheitsmerkmale als "in sich selbst" und "von sich selbst" (23) schließt Fichte an die Beschreibung des ersten Grundsatzes in der "Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre" von 1794 an. Zu jenen Merkmalen findet sich eine interessante Parallele in der theologischen Lehrtradition, nämlich bei LUTHER im Weihnachtsteil seiner Kirchenpostille: "Ist denn alles durch ihn gemacht, so muß er selbst nicht gemacht sein. So folgt j a klärlich, daß er wahrer Gott sei; denn alles, was nicht gemacht ist, und ist doch etwas, das muß Gott sein. Wiederum alles, was gemacht ist, das muß Kreatur und nicht Gott sein; denn es hat sein Wesen nicht von sich selber, sondern von dem, der es gemacht hat. Aber nun sind alle Ding durch Christum gemacht, und er ist durch keines gemacht. So hat er gewißlich sein Wesen von sich und in sich selbst und von keinem gemachten Ding, auch von keinem Macher." (WA 10/1.1, 151; Hhg.v.Vf.).

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Beide Merkmale, unter denen die Absolutheit des Absoluten gedacht werden kann, lassen sich auf den Begriff des absoluten Wissens anwenden: "Sein" steht für den qualitativen Gehalt des absoluten Wissens - nämlich unbedingte Gewißheit von unbedingter Gültigkeit; "Freiheit" steht für die genetische Struktur des absoluten Wissens - nämlich Spontaneität der Wissensaktivität. Sein und Freiheit, vom Wissen ausgesagt, repräsentieren sonach die beiden Absolutheitscharaktere des Wissens. Zugleich entsteht aber die Frage: Wie verhalten sich die beiden jetzt aufgestellten Absolutheitscharaktere des absoluten Wissens zu dessen eingangs entfalteter Funktion als einer Uniformitätsbedingung allen Wissens? Das absolute Wissen als Form des Wissens h a t t e gemäß § 7 im Hinblick auf alles besondere "Wissen von" identitätsstiftende und in diesem Sinne konstitutive Funktion. Diese Funktion konnte es nur erfüllen, sofern ihm Einheit und Sich-selbst-Gleichheit eignete. Nun in §8, bei der Explikation der Absolutheit des absoluten Wissens aus der Perspektive des Begriffs des Absoluten, hat sich eine Duplizität innerhalb dieser Absolutheit ergeben. Wie auch immer nun die beiden Absolutheitscharaktere des absoluten Wissens gedanklich zu vereinigen sein mögen - offenkundig ist jedenfalls, daß beide miteinander vereinigt werden müssen, wenn anders das absolute Wissen als eines und sich selbst gleiches seine Konstitutionsfunktion mit Bezug auf Wissen überhaupt soll erfüllen können. Aus der Konstitutionsfunktion des absoluten Wissens einerseits und aus der Duplizität der Merkmale im Begriff der Absolutheit andererseits ergibt sich notwendig die Augabe, Sein und Freiheit im Hinblick auf das absolute Wissen miteinander zu vereinigen. Die Einheit des Seins und der Freiheit des absoluten Wissens ist die Bedingung der Möglichkeit seiner Konstitutionsfunktion für alles besondere Wissen von etwas. Als Merkmale des Absoluten lassen sich Freiheit und Sein nicht vereinigen, als Absolutheitscharaktere des Wissens aber müssen sie vereinigt werden. Der hierbei in Frage kommende Begriff der Vereinigung muß allerdings abgegrenzt werden gegenüber unzureichenden Einheitsvorstellungen. Die Adäquatheit eines auf die Vereinigung von Sein und Freiheit anzuwendenden Einheitsbegriffs bemißt sich danach, ob vermöge seiner die Entstehung eines neuen, selbständigen, in sich einigen absoluten Wesens gedacht werden kann. Aus der Vereinigung von Sein und Freiheit muß als Ermöglichungsgrund der Konstitutionsfunktion des absoluten Wissens "ein absolutes Tale" (24) hervorgehen. Damit ist aus dem Postulat der Vereinigung der beiden Absolutheitscharaktere der Begriff der Materie des absoluten Wissens gewonnen. Diese ist als Einheit von Sein und Freiheit zu bestimmen. Die Materie des absoluten Wissens besteht nicht in der bloßen Addition jener Momente, sondern erst in der wechselseitigen Gebundenheit beider durch einander. Die

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Materie des absoluten Wissens ist aber auch nicht das lebendige SichDurchdringen von Sein und Freiheit, sondern verkörpert nur das Resultat des Zusammengetretenseins bzw. das Vereinigtsein von Sein und Freiheit zu einem neuen Wesen. Die Materie des absoluten Wissens repräsentiert sonach den substantiellen Gehalt der Einheit, nämlich das Verbundensein von Verschiedenem zu einem neuen Wesen. Die Form des absoluten Wissens betrifft demgegenüber den Vollzugscharakter des Zusammentretens von Sein und Freiheit. Sie qualifiziert den Vorgang der Vereinigung als Verschmelzen und Sichdurchdringen. Die Form des absoluten Wissens betrifft also die Art des Sichvereinigens der zur Konstitution der Materie sich verbindenden Momente. Einheit west aktual nur als lebendiges Sichdurchdringen der Sichvereinigenden. Die Materie und die Form des absoluten Wissens akzentuieren mithin unterschiedliche Aspekte der Einheit des Wissens, die sich ebensosehr wechselseitig fordern wie wechselseitig irreduzibel sind. Die Analyse der absoluten Form des Wissens in § 9 f ü h r t zu einem der wichtigsten Begriffe der Wissenschaftslehre, nämlich zum Begriff des Für-sich-Seins. Die Bedeutung dieses Ausdrucks ist alles andere als selbstverständlich. Der hier in Frage stehende Für-Bezug ist nicht im Sinne Kants aufzufassen als die Gegebenheitsweise von Gegenständen für ein Bewußtsein (sicuti apparent) - im Unterschied zu deren Ansichsein (sicuti sunt). Vielmehr betrifft er die Binnenstruktur von Wissen und bezeichnet "das eigentliche innere Wesen des Wissens" (26). Aber auch im Hinblick auf die Deutung des internen Für-Bezugs des Wissens selber erweist sich jene Unterscheidung des Ansichseins eines Gegenstandes von seinem FürBezug auf ein Bewußtsein als ungeeignet. Der interne Für-Bezug des Wissens entsteht nämlich keineswegs durch eine Selbstvergegenständlichung des Bewußtseins, sondern ausschließlich durch das Sichdurchdringen der beiden Absolutheitscharaktere des Wissens. Das Für-Sich-Sein des absoluten Wissens vermittelst seiner Form ist sonach die durch die Verschmelzung von Sein und Freiheit konstituierte interne Reflexivität des Wissens. Der Begriff "Reflexivität" ist dabei streng formal zu verstehen im Sinne der Relationenlogik, darf also keineswegs verwechselt werden mit dem bewußtseinstheoretischen Begriff "Reflexion". Weil das Für-sich-Sein des Wissens äquivalent ist dem Sichdurchdringen seiner beiden Absolutheitscharaktere, darum kann es auch als das lebendige Sichdurchdringen der Absolutheit selbst aufgefaßt werden. Referenz und Relat des Für-Sich-Seins des absoluten Wissens ist allein die Absolutheit des absoluten Wissens - in der Metapher ausgedrückt: dem Absoluten ist ein Auge eingesetzt, mit dem es sich selbst sieht (vgl. 26). Diese interne Reflexivität ist "der lebendige Lichtzustand" des Wissens, das "substantielle innere Sehen" (25). Das besagt: Das Sichdurchdringen

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der Absolutheitscharaktere Sein und Freiheit im Wissen ist die Bedingung der Möglichkeit von Wißbarkeit überhaupt, "die Quelle aller Erscheinungen im Lichte"(ebd.). Mit dieser Licht-Metaphorik steht Fichte durchaus in der Tradition des Piatonismus. Die Unterscheidung einer subjektiven und einer objektiven Seite am Wissen ist allererst auf dem Boden des intern-reflexiven Für-Bezuges des Wissens möglich. Insofern ist die Subjekt/Objekt-Unterscheidung ein unzureichender Ausgangspunkt erkenntnistheoretischer Fragestellungen. Aller intentio obliqua des Bewußtseins liegt immer schon die interne Reflexivität des Wissens zugrunde. Denn allein die aktuose wechselseitige Durchdringung der beiden Absolutheitscharaktere vermag jene Einheit des Wissens zu stiften, welche ihrerseits die Strukturganzheit der Selbstvergegenständlichung verbürgt. Als Wechselbegriffe für die dem absoluten Wissen eigene interne Reflexivität kann Fichte auch den Begriff der Ichheit (vgl. 26.30) oder den Begriff der Innerlichkeit verwenden (vgl. 34.69.78). Der Begriff der Innerlichkeit ist bei Fichte ganz im Schema der internen Reflexivität von Wissen gedacht. Alle Umgangs- oder bildungssprachlichen Konnotationen sind strikt fernzuhalten. T h e m a der §§ 10, 11 ist die Vereinigung der beiden Absolutheitscharaktere Sein und Freiheit des Wissens in der absoluten Form des Wissens. Letztere war in § 9 als Struktur des Für-sich-Seins analysiert worden. Die nun erfolgenden Fortbestimmungen gelten nicht jener Strukturbeschreibung selbst, sondern dem Vorkommen dieser Struktur und dessen Genese. Demzufolge erörtert § 10 den Seinscharakter der Vereinigung von Sein und Freiheit, §11 hingegen deren Freiheitscharakter. In §10 geht es um das Sein des Für-Sich-Seins, in §11 um das Werden des Für-Sich-Seins. § 10 behandelt den Seinscharakter der aus der Verschmelzung von Sein und Freiheit resultierenden Form des Wissens. Dieser Aufweis des Seinscharakters der Form des Wissens bedeutet für den eingangs aufgestellten Vorbegriff von Wissen als dem Zusammenfassen eines Mannigfaltigen in einem Blick nachträglich dessen Erklärung aus dem inneren Wesen des absoluten Wissens heraus (vgl. 27). Durch diesen systematischen Rückbezug ergeben sich zwei verschiedene Dimensionen der Rede von "Einheit", "Vereinigung", "Glieder des zu Vereinigenden" und "Ort der Vereinigung". Die erste Dimension betraf den Horizont des Vorbegriffs. In diesem Zusammenhang ergaben sich folgende Bestimmungen: a) Einheit = der eine Blick, b) Vereinigung = Zusammenfassen, c) zu vereinigende Glieder = das Mannigfaltige, d) Ort der Vereinigung = das Anschauen. Die zweite Dimension betrifft den Horizont des Seinscharakters des Für-sichSeins. In diesem Zusammenhang ergeben sich nun folgende Bedeutungen: a) das Sein der Einheit = Für-sich-Sein, b) das Sein der Vereinigung =

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Verschmelzen und Sichdurchdringen, c) das Sein der zu vereinigenden Glieder = das Vereinigtsein der beiden Absolutheitscharaktere, d) das Sein des Ortes der Vereinigung = der Seinscharakter der Form des Wissens. Bereits mit der Einbeziehung des Verhältnisses zwischen beiden Dimensionen vollzieht sich der Ubergang von der Beschreibung der bloßen Struktur des Für-sich-Seins (§9) zur Beschreibung des Seins von dieser Struktur (§ 10). Fichte erörtert in § 10 nun vor allem die Vermittlung der beiden Dimensionen, nämlich die Beziehung des Wissens qua Seinscharakter der Form des absoluten Wissens zum Wissen qua Anschauung. Die Notwendigkeit der Thematisierung des Zusammenhangs resultiert offensichtlich aus der formalen Konstitutionsfunktion des absoluten Wissens für das besondere Wissen. Diese birgt ein besonderes Problem in sich auf derjenigen Reflexionsstufe, auf welcher die absolute Form des Wissens nicht als bloße Struktur, sondern wo das Sein von solcher Struktur erwogen wird. Die Form des absoluten Wissens war eingeführt worden als Konstitutionsbedingung von Wissen überhaupt. Sie h a t t e sich sodann herausgestellt als interne Reflexivität bzw. als Struktur des Für-sich-Seins. Werden beide Bestimmungen aufeinander bezogen, dann stellt sich die Frage, ob jenes Für-sich-Sein ausschließlich auf die abstrakte Form beschränkt ist, oder ob es sich auch auf deren Konstitutionsfunktion erstreckt. Da die Form allein ihrer Konstitutionsfunktion wegen gesucht wurde, muß die zweite Möglichkeit eigens analysiert werden. Die Frage läßt sich auch so formulieren: Als was erfaßt sich das Sein von der Struktur Für-sich-Sein, wenn es sich nach seinem Für-sich-Sein begreift? Hier ergibt sich nun folgendes Dilemma: Eigentlich müßte das Wissen, welches von der Struktur des Für-sich-Seins ist, sofern es sich nach seinem Für-sich-Sein begreift, sich zugleich als in der Einheit des Fürsich-Seins stehend erfassen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Der Grund dafür liegt in der Konstitutionsfunktion der Einheit des Für-sich-Seins für alle Einzelfälle von Wissen überhaupt. Begreift das seiende Wissen sich nämlich nach der Konstitutionsfunktion der Struktur des Für-sich-Seins wie es muß, da es ja nicht diese selbst in ihrer reinen Form, sondern deren Vorkommen ist dann verströmt ihm die Einheit des Für-sich-Seins (allein der Konstitutionsfunktion dieses Für-sich-Seins wegen) in die gesamte Mannigfaltigkeit des konstituierten Wissens. Weil es sich bei diesem Antagonismus des Sich-Erfassens-nach-seinerEinheit einerseits und des Sich-nicht-als-in-der-Einheit-stehend-erfassenKönnens andererseits eigentlich u m einen in sich konträren Aktuositätszustand handelt, wird er von Fichte durch die Metapher des Schwebens gekennzeichnet. Das Wissen schwebt unaufhörlich zwischen dem SichZusammenfassen zur Einheit und dem Sich-Zerstreuen zur Mannigfaltig-

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keit. Diese Seinsweise der absoluten Form des Wissens wiederholt sich an jedem Punkte des Wissens. Wissen ist darum ein ins Unendliche teilbares Kontinuum. Mit dieser Beschreibung des Wissens als eines Schwebens zwischen Einheit und Mannigfaltigkeit oder als eines Verschmelzens von Vereinen und Zerstreuen ist zugleich die Vermittlung der beiden oben genannten Dimensionen hergestellt. Der Antagonismus des Wissens besteht also nicht in dem Gegensatz zwischen der Einheit des Wissens auf der einen Seite und der Mannigfaltigkeit des Gewußten auf der anderen Seite, sondern in der immanenten Duplizität des Wissens selber. Das Wissen kann seine Einheit nicht als Einheit erfassen, sondern nur in ihrer Konstitutionsfunktion bezüglich der Mannigfaltigkeit des besonderen Wissens. Das Wissen steht in der Einheit und erfaßt sich nur, weil es in der Einheit steht, aber es erfaßt die Einheit nur als in die Mannigfaltigkeit des Konstituierten verströmend. Es steht in der Einheit, aber kann sich nicht als in der Einheit stehend begreifen. Jene Duplizität des Wissens besteht also nur in der Selbsterfassung des Wissens und für dieselbe. § 11 erörtert den Freiheitscharakter der Form des Wissens oder das Werden des Für-sich-Seins. Welche Bedeutung hat dieser Freiheitscharakter der Form des Wissens für die Art des Sich-Durchdringens von Sein und Freiheit, und wie verhält er sich zu dessen Seinscharakter? Während § 9 nur die Struktur der internen Reflexivität analysiert hatte, wurde in § 10 das Sein von solcher Struktur thematisiert: Das Sein des Für-sich-Seins erfaßt sich als ein organisches Schweben zwischen Vereinen und Zerstreuen. Sieht man vom Inhalt dieser neuen Einsicht ab und achtet auf ihre bloße Form, dann zeigt sich: Mit dem Übergang von der Struktur des Für-sich-Seins zur Selbsterfassung des Vorkommens dieser Struktur vollzieht sich zugleich der Ubergang vom bloßen Für-sich-Sein zum Für-sich-Sein dieses Für-sich-Seins. Das durch interne Reflexivität Qualifizierte ist allein für sich so qualifiziert, wie es qualifiziert ist. "Das Wissen ist ein Für sich für sich selbst" (29; Hhg.i.O.). Den Freiheitscharakter der absoluten Form des Wissens beschreiben, heißt nichts anderes als genau diese These nach ihrer Freiheitsdimension analysieren. § 11 hat sonach die Aufgabe, das Für-sich-Sein des Für-sich-Seins als Resultat der Freiheit zu explizieren. Das bedeutet aber: Sowohl das Fürsich-Sein als auch der reflexive Für-Bezug dieses Für-sich-Seins sind unter dem Aspekt des Freiheitscharakters zu analysieren, denn beide, das Für-sich-Sein ebenso wie dessen reflexiver Für-Bezug, sind durch Freiheit hervorgebracht. Daß Wissen die Struktur des Für-sich-Seins aufweist, resultiert dem Freiheitsaspekt nach aus seinem Tathandlungscharakter bzw. aus seinem Sich-Setzen. Daß die Struktur des Für-sich-Seins nur für das

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Wissen besteht, resultiert dem Freiheitsaspekt nach aus dem Innerlichkeitscharakter dieser Tathandlung bzw. aus dessen Sich-Setzen-als (vgl. 30). Die freiheitstheoretische Fassung des Für-sich des Für-sich-Seins ist sonach das "Sich-Setzen-als". Sowohl das Sein des Für-sich-Seins als auch dessen reflexiver Für-Bezug sind durch Freiheit erzeugt. Daraus lassen sich zwei Näherbestimmungen der obigen These ermitteln: 1. Bezüglich des ersten Teils des Prädikats ergibt sich: Das Wissen ist "ein Für-sich" für sich selbst, sofern es in seinem Sich-Setzen-als das Sein des Für-sich-Seins hervorbringt. 2. Bezüglich des zweiten Teils des Prädikats ergibt sich: Das Wissen ist ein Für-sich "für sich selbst", sofern es in seinem Sich-Setzen-als den reflexiven Für-Bezug des Für-sich-Seins selber hervorbringt. Bezieht man beide Näherbestimmungen auf den Begriff der Freiheit, dann zeigt sich: Das dem Für-sich-Sein des Für-sich-Seins von Wissen zugrundeliegende Sich-Setzen-als ist "Ausdruk seiner Freiheit, und seiner absoluten Freiheit" (30; Hhg.i.O.). Der Freiheitscharakter der Form des absoluten Wissens besteht somit darin, daß das absolute Wissen sein Sich-Setzen-als absolut erzeugt, und daß die Absolutheit seines Erzeugens ausschließlich in diesem Sich-Setzen-als zur Darstellung kommt. Diesen Sachverhalt faßt Fichte zusammen unter dem Begriff der formalen Freiheit. Sie ist das absolute Erzeugen des Sich-Setzens-als, ganz abgesehen davon, als was das Wissen sich in dieser Selbsterzeugung setzt. Auf den Seinscharakter der Form des absoluten Wissens bezogen geht die formale Freiheit in die materiale Freiheit über. Im Sinne der rein formalen Freiheit erzeugt sich die Form des absoluten Wissens in Gestalt des unbedingten, in sich leeren Sich-Setzens-als. Im Sinne der materialen Freiheit setzt sich die Form des absoluten Wissens ebenfalls durch einen absoluten Akt, aber nunmehr in Gestalt des Für-sich-Werdens des Wissens. Fragt man nach dem Grund, der Fichte dazu genötigt hat, zwischen formaler und materialer Freiheit zu unterscheiden, so ist er in der systematischen Lücke zu erblicken, die zwischen dem reinen Begriff der Aseität und dem Begriff der Wissensspontaneität liegt. Die materiale Freiheit ist sozusagen der Anknüpfungspunkt der Freiheit an das absolute Wissen. Im Begriff der Freiheit ist die Konstitutionsfunktion hinsichtlich des Fürsich-Seins des absoluten Wissens noch nicht enthalten. Es muß darum ein Vermittlungsbegriff der Freiheit konzipiert werden, der die absolute Spontaneität des Erzeugens verknüpft mit dessen positiver Bezogenheit auf den Seinsgehalt des absoluten Wissens. Die materiale Freiheit ist so

Fichte: Innerlichkeit

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gesehen die durch den Seinscharakter der Form des absoluten Wissens erfüllte Gestalt der Freiheit. Umgekehrt bildet auch der formale Freiheitsbegriff eine Vermittlungsinstanz zwischen Wissensbegriff und Freiheitsgedanken. Die leere Immanenz der Selbsterzeugung, wie sie der formalen Freiheit eignet, wird in der materialen Freiheit überführt in die erfüllte Immanenz der Selbsterzeugung in Gestalt des Für-sich-Werdens des absoluten Wissens. Diese Fortbestimmung setzt den grundsätzlichen Immanenzcharakter der Erzeugung aus Freiheit voraus. Dieser ist aber im reinen Begriff der Aseität noch keineswegs enthalten. Die Negation externer Ursachen impliziert nicht schon die Negation externer Folgen. Es ist deshalb die Funktion des Begriffs der formalen Freiheit als des unbedingten Sich-Setzens-als, die Immanenz der Folgen absoluten Erzeugens auszusagen. Aufgrund der formalen Freiheit ist das Für-sich-Werden des absoluten Wissens ein dem absoluten Setzen immanenter Sachverhalt. Aufgrund der materialen Freiheit ist das Für-sich-Werden des absoluten Wissens der i m m a n e n t e Akt des Sich-Ergreifens als eines Für-sich-Seins des Wissens. Vermittelst des Freiheitscharakters der Form des absoluten Wissens kommt es nun tatsächlich zur Erfassung ihrer Einheit, und zwar als solcher, nämlich genau in dem punktuellen Akt der Erzeugung des Für-Sich-Seins für sich selbst. Dieser absolute Anfangspunkt der immanenten Erzeugung der internen Reflexivität des Wissens ist die "absolute Aufregung des Lebens" (31), das erste Sichregen der Selbsterfassung von Ichheit bezüglich seiner Einheit, das Erwachen des Geistes schlechthin. Wissen ist nur kraft seines freien Sicherzeugens, aber auch "nur inwiefern es dieses für sich (keinesweges für ein fremdes und äusseres) innerlich in sich selbst ist" (30). Es durchdringt sich im Einheitspunkt seines Fürsich-Seins und ist in dieser Hinsicht "nichts anderes, als ein inneres für sich seyn jener Einheit" (32). Innerlichkeit ist - und mit dieser Fortbestimmung kehren wir zugleich zurück zum Ausgangsproblem unserer Überlegungen bezüglich des Freiheitscharakters der Wissensform - die dem "Für sich [-Sein] für sich selbst" (29) eigene Form der Durchsichtigkeit. Von hier aus läßt sich nun auch das Verhältnis von § 10 und § 11 abschließend zusammenfassen. Während das Wissen dem Seinscharakter des Für-sichSeins nach ein Schweben zwischen Vereinen und Verströmen ist, ist es dessen Freiheitscharakter zufolge ein Sicherfassen von Einheit im absoluten Anfang der Selbsterzeugung. Der Seinscharakter des Für-sich-Seins realisiert sich im Sein des Wissens als organischer Mannigfaltigkeit, der Freiheitscharakter des Für-sich-Seins realisiert sich im punktuellen Sichergreifen des Wissens nach seiner Einheit. Aufgrund dieses Ergebnisses kann nun auch die traditionelle ZweiStämme-Lehre der Erkenntnis auf den Seins- und Freiheitscharakter des

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Theorie der Subjektivität

Für-sich-Seins des absoluten Wissens bezogen werden. Anschauen ist das "schweben in der Mannigfaltigkeit der Separaten" (32) und korrespondiert mithin dem Seinscharakter des Für-sich-Seins. Denken ist das "ruhen in der Einheit" (ebd.) und korrespondiert sonach dem Freiheitscharakter des Für-sich-Seins. Die klassische Zwei-Quellen-Theorie der Erkenntnis ist vollständig herausgelöst aus ihrer traditionellen Beschreibung im Horizont der Vermögenstheorie und ganz aus dem Für-sich-Sein des absoluten Wissens begriffen. Zugleich sind die beiden unterschiedlichen Dimensionen des Wissensbegriffs, die sich aus dem Vorbegriff des Wissens und dessen Fortbestimmung zur Form des absoluten Wissens ergeben hatten, auf eine höhere Stufe der Vermittlung gebracht.

2. D i e s y n t h e t i s c h e Fünffachheit des a b s o l u t e n Für-sich

Das Für-Sich-Sein des absoluten Wissens wurde am Leitfaden der beiden Absolutheitscharaktere des Wissens rekonstruiert. In beiden Fällen zeigte sich das absolute Wissen in seiner reinen inneren Immanenz, aber beide Male auf verschiedene Weise: Im Hinblick auf den Seinscharakter der Wissensform erwies es sich als organisches Schweben zwischen Einheit und Mannigfaltigkeit. Im Hinblick auf den Freiheitscharakter der Wissensform erwies es sich als Selbsterzeugung in der Form des Sich-Setzens-als. Diese Duplizität muß überwunden, beide Gestalten der Wissensform müssen miteinander vereinigt werden, wenn anders es zur Identität des absoluten Wissens kommen soll, welch letztere in dessen Konstitutionsfunktion vorausgesetzt ist. Nicht nur die beiden Absolutheitscharaktere des Wissens bedürfen einer Vereinigung - nämlich in Gestalt der Form des absoluten Wissens - , sondern auch der Seinscharakter und der Freiheitscharakter dieser Form selbst. § 10 und § 11 enthüllen sich somit als jeweils einseitige Darstellungen des Für-sich-Seins des absoluten Wissens. Der Auflösung jener Duplizität ist das Strukturmodell der intellektuellen Anschauung gewidmet. Sie ist diejenige höhere vereinigende Reflexion, in der das absolute Wissen so in Erscheinung tritt, daß der Seinscharakter des Für-sich-Seins und der Freiheitscharakter des Für-sich-Seins miteinander verschmelzen und sich wechselseitig bestimmen. Die intellektuelle Anschauung muß sich darum ebensowohl als in sich einiger wie als in sich differenzierter Blick darstellen lassen und zugleich müssen sich dessen Momente im Hinblick auf ihren Seinscharakter und Freiheitscharakter unterscheiden lassen.

Fichte: Fünffachheit

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In § 1 2 formuliert Fichte die sich aus §10 und §11 ergebenden Forderungen für die Auflösung jener Duplizität bzw. die Adäquatheitsbedingungen für die Struktur der höheren vereinigenden Reflexion: a) Ihrem Freiheitscharakter nach ist sie ein absolutes Erzeugen und inneres Für-sich-Sein von Einheit; die ihr zugeordnete epistemische Grundform ist das Denken. b) Ihrem Seinscharakter nach ist sie ein Schweben zwischen Vereinen und Zerstreuen; dessen epistemische Form ist das Anschauen eines organischen Mannigfaltigen. c) Allererst die wechselseitige Verschränkung beider Bestimmungen konstituiert die Struktur der höheren vereinigenden Reflexion. Fichte kann letztere - in bewußter Anspielung auf das von Kant in der zweiten Auflage der transzendentalen Deduktion der Kategorien verwandte geometrische Beispiel - vorläufig illustrieren anhand des synthetisch-apriorischen Charakters des Ziehens einer Linie (vgl. 33). Bevor Fichte nun sein eigenes Modell dieser vereinigenden Reflexion in Gestalt der äußeren Form der intellektuellen Anschauung darlegt, wendet er sich zunächst zwei Vorfragen zu: Erstens, welche Bedeutung hat die Absolutheit des absoluten Wissens für die Funktion der vereinigenden Reflexion? Und zweitens, welche Folgerungen ergeben sich daraus im Hinblick auf die mögliche Gestalt derselben? Beiden Vorfragen ist der § 13 gewidmet. Die höhere vereinigende Reflexion ist ebensowohl ein Ruhen im Sein wie ein Sichergreifen in der Einheit. Aber das Sein, worin das Wissen ruht, ist nun streng gefaßt als durch Verschmelzung der beiden Absolutheitscharaktere zustandekommend. Sich in der Einheit Begreifen heißt darum: sich hinsichtlich des Sich-Durchdringens der Absolutheitscharaktere Begreifen. Da jedoch allein dieses Sich-Durchdringen die Absolutheit der Wissensform konstituiert, bedeutet das Sich-hinsichtlich-der-EinheitBegreifen zugleich "ein für sich Seyn des absoluten Wissens ... als absoluten" (34; Hhg.i.O.). Fichte führt an dieser Stelle die Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Absolutheit ein. Von ihr war vorweggreifend bereits oben die Rede. Die primäre Absolutheit ist die Absolutheit des Absoluten, die sekundäre Absolutheit ist die Absolutheit des absoluten Wissens (vgl. 34). Die Notwendigkeit jener Unterscheidung ist im folgenden begründet: Dem Absoluten eignet Absolutheit schlechthin dadurch, daß es das Absolute ist. Soll hingegen vom Wissen Absolutheit ausgesagt werden, so müssen erst Merkmale des Absoluten vom Absoluten selber abstrahiert, auf das Wissen übertragen - in Form der Absolutheitscharaktere - und dort in ihrer Einheit - der Materie und Form des absoluten Wissens entsprechend - nachgewiesen werden. Erst in diesem Rekonstruktionsprozeß kommt es

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Theorie der Subjektivität

wieder zum Verschmelzen der Prädikate. Eben d a r u m ist die Absolutheit des absoluten Wissens eine von der primären Absolutheit des Absoluten selbst zu unterscheidende sekundäre. Daß die Absolutheit eine Eigenschaft des absoluten Wissens ist, bedeutet aber zugleich, daß das Wissen nur in der Weise ein absolutes sein kann, daß es sich auch als solches erfaßt: das absolute Wissen ist "nur absolut, als für sich" (33). F ü r die sekundäre Absolutheit des absoluten Wissens ist also das Merkmal des reflexiven Für-Bezugs konstitutiv. Wenn es darum in der Immanenz der vereinigenden Reflexion zu einem Für-sich-Sein des Für-sich-Seins des Wissens kommen soll, dann bedeutet dies zugleich, daß sich das absolute Wissen in seiner Absolutheit vollständig durchdrungen haben muß, und zwar gerade weil es sich bei ihr nur u m eine sekundäre Absolutheit handelt. Daraus läßt sich umgekehrt folgern: Solange sich das Für-sich-Sein der Wissensform noch in zwei getrennten Absolutheitscharakteren zur Geltung bringt, nämlich in einem Seinscharakter und in einem Freiheitscharakter, hat sich das absolute Wissen noch nicht in letzter Konsequenz nach seiner Absolutheit erfaßt - unbeschadet dessen, daß beiden Charakteren auch in ihrer Isoliertheit materiale Absolutheit eignet. Das Für-sich-Sein des Für-sich-Seins muß, wenn es sich in seiner vollen, wenn auch sekundären Absolutheit begreifen will, über die Duplizität seiner Absolutheitscharaktere hinausgehen und deren innere Einheit immanent zur Darstellung bringen. Wenn also für die Struktur der höheren vereinigenden Reflexion die Vereinigung des Seins- und des Freiheitscharakters der Form des absoluten Wissens gefordert ist und diese in Gestalt der Fünffachheit der intellektuellen Anschauung nachgewiesen wird, so entspringt dies letztlich dem Geltendmachen der Absolutheit des absoluten Wissens. Bliebe die Wissenschaftslehre bei einem zwiefachen Charakter der Form des absoluten Wissens stehen, dann widerspräche dies der Absolutheit des von ihr thematisierten Wissens. Es ist somit die Idee der Absolutheit, welche den Explikationsprozeß der Wissenschaftslehre vorantreibt. Welche Folgerungen ergeben sich daraus für die mögliche Gestalt der höheren vereinigenden Reflexion? Nach Fichte lassen sich "zwei Ruhe- und Wende-Punkte" der vereinigenden Reflexion denken. "Entweder nemlich ruht sie im Charakter der absoluten Freiheit, die nur durch weitere Bestimmung zu der eines Wissens werde"; dies ist der Standpunkt des konsequenten Idealismus. "Oder sie ruht im Charakter des absoluten Seyns, so daß ein Bestehen schlechthin voraus gesezt werde, und dieses nur zu einem Bestehen des Wissens, zu einem Bestehen in und für sich selbst erhoben werde" (34f); letzteres ist der Standpunkt des konsequenten Realismus. Der Idealismus vollzieht die Verabsolutierung des Freiheitscharakters, der Realismus umgekehrt die Verabsolutierung des Seinscharakters hin-

Fichte: Fünffachheit

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sichtlich der Bestimmung des Für-sich-Seins der Einheit des Wissens. Beide Bewußtseinsstandpunkte erweisen sich sonach als einseitige Fassungen der aufzuzeigenden Mitte des Wissens. Fichte zieht daraus die Schlußfolgerung, daß die von ihm gesuchte höhere vereinigende Reflexion jene beiden Wissensansichten gleichermaßen hinter sich zurücklassen bzw. übergreifen müsse, wenn anders die Duplizität der beiden Absolutheitscharaktere in ihr wahrhaft überwunden werden soll. Das absolute Für-sichSein der absoluten Einheit des Wissens im Sinne der Wissenschaftslehre steht jenseits der Alternative von Idealismus und Realismus. Auch im Entwurf von 1804 wird für Fichte die Absolutheitsthematik das treibende Motiv sein, den Gegensatz von Idealismus und Realismus - einschließlich des dort entfalteten höheren Idealismus und höheren Realismus - zu überwinden. Die eigentliche Konstruktion des Modells der höheren vereinigenden Reflexion beginnt in § 14, zunächst mit einigen definitorischen Vorfragen. § 15 n i m m t dann den systematischen Zusammenhang mit § 13 wieder auf; doch gleich zu Beginn bricht der Text - es handelt sich um Fichtes eigene Reinschrift für den Druck - aus unbekannten Gründen ab. Die nachfolgenden Ausführungen (§§ 15ff) liegen nur noch als Vorlesungsmanuskript - gleichfalls aus Fichtes Feder - vor. Dem Einschnitt in der Text Überlieferung entspricht auch die Art des inhaltlichen Fortgangs in § 15. Fichte setzt gleichsam noch einmal neu ein mit einer allgemeinen Darlegung des Theorieprogramms dieser Wissenschaftslehre: Die Theorie der intellektuellen Anschauung gilt der Denkbarkeit der Einheit von Freiheit und Wissen (vgl. 38f). Im weitesten Sinne handelt es sich dabei um das Problem der Vermittlung von theoretischer und praktischer Vernunft. In einer genaueren, an Kant orientierten Beschreibung könnte man Fichtes Programm auch bezeichnen als den Versuch, die Spontaneität des Verbindens von Vorstellungen durch den Verstand vermittelst der synthetischen Einheit der transzendentalen Apperzeption als Modus eben derjenigen Freiheit zu denken, die sich im kategorischen Imperativ ihrer selbst ansichtig wird, bzw. umgekehrt das Autonomie und Moralität konstituierende Bewußtsein des Sittengesetzes mit der Selbstbezüglichkeitsstruktur des "Ich denke" in Verbindung zu bringen. Wissen und Freiheit müssen deswegen miteinander vereinigt werden, weil sie im theoretisch-praktischen Doppelphänomen des Selbstbewußtseins beide zugleich in Anspruch genommen werden. Auch wenn Fichtes Wissenschaftslehre dann in der Durchführung mit einer Fülle von Dunkelheiten aufwartet, die jedem Interpreten ein hohes Maß an explikationslogischer Anstrengung abverlangen, wird man sie schon allein ihrer Fragestellung wegen als eine höchst subtile Zuspitzung des transzendentalphilosophischen Ansatzes würdigen müssen. Das von

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Theorie der Subjektivität

Fichte formulierte Theorieprogramm ist nicht zuletzt deshalb so einleuchtend, weil es sich auf eine rational kontrollierbare Weise an die Grundeinsichten des Kantischen Kritizismus rückbinden läßt - auch und gerade dort, wo es erklärtermaßen über ihn hinausweist. Fichte stellt sein auf drei Thesen gebrachtes Theorieprogramm allerdings sofort in den systematischen Kontext des bisherigen Argumentationsverlaufs. Dies wird aus deren Erläuterungen ersichtlich: Separate werden zur Einheit nur in der absoluten Freiheit vereinigt, da nur die absolute Freiheit ein Sichwissen von Einheit hervorbringt. Dieses Sichwissen von Einheit ist absoluter und unmittelbarer Effekt der Freiheit. Daher ist das absolute Wissen als ein Sichwissen von Einheit ein unmittelbares Wissen, nämlich das unmittelbare Wissen von Freiheit. Freiheit ist das einzige unmittelbare Objekt des Wissens. Die Möglichkeit einer Unmittelbarkeit des Wissens gründet sich sonach allein auf dessen Freiheitsmoment. Der Begriff der Unmittelbarkeit - wie ihn Fichte hier verwendet - darf also nicht verwechselt werden mit Hegels Charakterisierung derselben als einer Setzung des Bewußtseins, nämlich der (leeren) Prätension des NichtVorliegens von Andersheit, aber auch nicht mit dem vorgegenständlichen Innesein einer vorreflexiven Lebenszuständlichkeit im Sinne des Schleiermacherschen Gefühlsbegriffs. Die Unmittelbarkeit des Wissens von Freiheit beruht für Fichte auf der Unmittelbarkeit des absoluten Effektes des Sichwissens von Einheit im P u n k t e ihrer spontanen Erzeugung. Dieses unmittelbare Wissen von Freiheit kann Fichte auch als "Selbstbewußtseyn" (38) bezeichnen. So gesehen hebt alles Wissen mit dem Selbstbewußtsein an. Die Unmittelbarkeit der Freiheit gründet darin, daß letztere die Einheit des Wissens auf absolute Weise erzeugt. Was da geeint wird, kann die Freiheit aber nicht aus sich selbst hervorbringen. Das Material der Vereinigung, das "Entgegengesezte" (38), ist ihr nur von seiten des Wissens gegeben bzw. liegt für sie nur im Wissen vor. Eben d a r u m kann es von ihr auch nur im Wissen vereinigt werden. Unmittelbare Freiheit realisiert sich nur als Moment am Wissen. Oder umgekehrt formuliert: Wissen ist der alleinige Sinn- und Geltungshorizont des Begriffs der unmittelbaren Freiheit. Mit dieser Verortung der unmittelbaren Freiheit im Wissen sind zugleich alle anderen Freiheitsbegriffe, etwa Freiheit im kosmologischen Verstände oder Freiheit als Form der Selbstbestimmung des Willens, zu sekundären Freiheitsbegriffen herabgestuft. Nimmt m a n beide Thesen zusammen, dann ist damit nichts weniger behauptet als die strukturelle Bikonditionalität von Wissen und Freiheit. Auf ihr gründet "die ganze Philosophie" (38). Wie kann nun diese Bikonditionalität ihrerseits verständlich gemacht werden? Die beiden ihr zugrundeliegenden einseitigen Implikationen lassen sich nach Fichte in der "unmittelbaren Anschauung" (ebd.) nachweisen. Um was für eine Form

Fichte: Fünffachheit

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des Wissens handelt es sich aber im Falle der Einsicht in den Gehalt jener wechselseitigen Implikation? Damit sind wir bei dem eigentlichen T h e m a von § 15 angelangt, beim Begriff der intellektuellen Anschauung. Den Ausgangspunkt für die Theorie der intellektuellen Anschauung bildet die Frage nach der internen Verfaßtheit der Einsicht in die Einheit von Wissen und Freiheit. Mit ihrer Beantwortung soll zugleich das seit § 12 anstehende Problem der Struktur der höheren vereinigenden Reflexion einem positiven Abschluß zugeführt werden. F i c h t e setzt ein mit einer Beschreibung des Inhalts der intellektuellen Anschauung (vgl. 40f). An der Einsicht in die Einheit von Wissen und Freiheit lassen sich zwei Stufen unterscheiden: Die erste Stufe ist die Selbsthabe des Wissens in der Einheit, das Durch-sich-Gebundensein und Sich-Erschlossensein des Wissens in der Einheit. Wenn sich das Wissen nur so begreift, wie es sich hat, dann erfaßt es sich nur als vollzogenes Wissen. Ihrem Charakter als dem eines vollzogenen Wissens nach ist die Einsicht in die Einheit von Wissen und Freiheit für F i c h t e ein "in sich lebendiger Gedanke" (40). Die zweite Stufe betrifft die Genese jener Einsicht. In der Selbsthabe des Wissens wird wohl die Einheit von Wissen und Freiheit angeschaut. Aber an dieser Anschauung selbst ist deren Freiheitscharakter noch nicht zu seinem Recht gekommen. Durchdringt sich die Einsicht in j e n e Einheit nach ihrem Freiheitscharakter, dann begreift sie sich als Ursprung derselben. Sie erblickt sich in ihrem eigenen Vereinigen. Sie ist "Anschauung des absoluten Intelligirens selbst" (40). Damit hat Fichte die Nominalerklärung der intellektuellen Anschauung aufgestellt. Zugleich wird deutlich, daß dieser Begriff nichts zu tun hat mit K a n t s und Schellings Verwendung des gleichlautenden Ausdrucks. Während K a n t darunter eine - lediglich für das göttliche Erkenntnisvermögen problematisch anzunehmende - vom Verstand selbst bewirkte unmittelbare Anschauung der Dinge versteht, Schelling sie für die Art der kognitiven Bezugnahme auf die schlechthinnige Indifferenz des Absoluten reserviert, geht es Fichte ausschließlich um das immanente Sich-Zusehen nach seiner mentalen Grundaktivität, welches zugleich den Kern des absoluten Wissens bildet. Der Begriff der intellektuellen Anschauung erschöpft sich aber keineswegs in der Beschreibung ihres Gehaltes, und zwar aus folgenden Gründen: J e n e wurde gerade expliziert mit Hilfe eines Zweistufenmodells, wobei die erste Stufe für sich allein noch nicht die Struktur der intellektuellen Anschauung ergab, die zweite jedoch nur deshalb auf diesen Begriff führte, weil sie die erste der Sache nach voraussetzte. Die Einsicht in die Einheit von Wissen und Freiheit ließ sich also nur duplizitär beschreiben, einerseits unter der Form des seienden Wissens, andererseits unter der

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Theorie der Subjektivität

Form des werdenden Wissens. Die Gebundenheit des Wissens durch sich selbst unter der Form des in sich lebendigen Gedankens war die Voraussetzung dafür, daß sich dieser nach seinem Freiheitscharakter zu erfassen vermochte. Die Selbsthabe der Anschauung von Einheit war sonach die Bedingung der Möglichkeit der Selbstanschauung des Aktes des Vereinigens, in welch letzterer jene allererst zu ihrem Ziel gelangte. Das bedeutet aber: Die Beschreibung des Gehaltes der intellektuellen Anschauung weist in sich einen "hiatus" (41) auf, sofern nämlich hinsichtlich der Anschauung der Einheit von Freiheit und Wissen deren Vollzogenheit im lebendigen Gedanken und deren Vollzug im absoluten Intelligieren nicht durch diese Anschauung selbst, sondern nur durch das beide Momente aufeinander beziehende Denken vermittelt sind. Die Vereinigungsfunktion der intellektuellen Anschauung muß demnach so exponiert werden, daß sie auch die Vermittlung von Anschauung und Denken einschließt. Bevor Fichte sich jedoch dieser Aufgabe zuwendet, klärt er zunächst die Form der intellektuellen Anschauung, das sogenannte Schema der Fünffachheit. Die Form der intellektuellen Anschauung gewinnt Fichte mit Hilfe einer Strukturbeschreibung der Reflexion. Sie war in § 13 anläßlich der Frage nach der Beschaffenheit der höheren vereinigenden Reflexion gleichsam im Vorbeigehen eingeführt worden (vgl. 35). Reflexion ist für Fichte nicht die Selbstthematisierung einer epistemischen Instanz, sondern die Selbstthematisierung von Wissen, und insofern subjektlos - im umgangssprachlichen Sinne von "Subjekt". Ihrer Grundform nach ist sie "ein doppeltes Wissen, ein solches, für welches das andere ist (in der Anschauung das obere, oder das subjektive) und ein solches, welches für das andere ist (in der Anschauung das unten liegende, das objektive)" (35; Hhg.i.O.). Diese polare Struktur von wissendem und gewußtem Wissen ist dem Wissen selbst immanent: "es fehlte zwischen ihnen das Band, wenn sie nicht zusammen Ein Wissen wären, und beides innigst sich durchdränge". Da Wissen überhaupt seiner Selbstbezüglichkeit wegen als Für-sich-Sein bestimmt worden war, kann Fichte "das innere Wesen der Reflexion" hinsichtlich ihrer zweistufigen Selbstbezüglichkeit auch beschreiben als "ein für sich seyn ... des für sich seyns" (35). Damit hat der Ausdruck "für sich" eine weitere Bedeutung empfangen. Bezeichnete er zunächst im Fall der Form des absoluten Wissens das Sich-Durchdringen der beiden Absolutheitscharaktere Sein und Freiheit, bezeichnete er sodann im Fall des absoluten Aktes der formalen Freiheit das Sich-Setzen-als, so bezeichnet er nun die interne Selbstthematisierung des Wissens. Die Eintragung der Reflexionsstruktur in die Selbstexplikation der Einheit des Wissens darf nicht dahingehend mißverstanden werden, als

Fichte: Fünffachheit

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sollte d u r c h jene F o r m der Selbstbeziehung die In-sich-Geschlossenheit des Selbstverhältnisses allererst hervorgebracht werden. J e n e Einheit geht vielmehr der Selbstbeziehung qua Reflexion immer schon voraus. Sie h a t ihren G r u n d einerseits im Verschmelzen der A b s o l u t h e i t s c h a r a k t e r e zur Einheit, andererseits in der Selbsterfassung dieser Einheit d u r c h die formale Freiheit. Das Wissen bringt die S t r u k t u r des Für-sich-Seins des F ü r sich-Seins bereits mit, wenn es sich in der F o r m der Reflexion als Selbstbeziehung des Wissens auslegt. Jene E i n t r a g u n g der Reflexionsstruktur ist aber deshalb notwendig, weil eine Ausdifferenzierung der Selbstbezüglichkeit des Wissens in gleichsam zwei polare Wissensebenen der bisher entfalteten S t r u k t u r des Für-sich-Seins des Für-sich-Seins noch nicht zu entn e h m e n war. Die S t r u k t u r der Reflexion bildet sonach die Voraussetzung dafür, die interne Stufigkeit der F o r m der intellektuellen A n s c h a u u n g gedanklich zu konstruieren. In § 15 wendet Fichte n u n die Reflexionsstruktur, d.h. die Duplizität von wissendem u n d gewußtem, s u b j e k t i v e m u n d objektivem, u n t e r e m u n d oberem Wissen, auf die intellektuelle Anschauung an. Die A u f g a b e besteht darin, die selbstbezügliche Einsicht in die Einheit von Wissen u n d Freiheit als ein "organische[s] sich durchdringen des Reflektiren, u n d des Reflectirtseyns" (35) zu exponieren. Bereits in der Wissenschaftslehre Nova M e t h o d o h a t t e Fichte aber dargelegt, daß eine Synthese, die einen "vollendeten SYNTHETISCHEN PERIODUS" (AA IV.2, 234) bildet, "immer ein 5faches seyn m u ß " (a.a.O. 90). Und so konstruiert er auch in der Darstellung von 1801/02 die F o r m der intellektuellen A n s c h a u u n g als ein " u n t r e n n b a r e s fünffaches" (43). "Mit absoluter Freiheit ergreift sich der Gedanke, oder das Wissen. Es wird daher gleichsam ein sich von sich selbst losreissen des Gedankens, u m sich wieder zu fassen, eine Leerheit der absoluten Freiheit, u m f ü r sich selbst zu seyn, vorausgesezt" (41). "Wohlgemerkt, diese Reflexion geschieht ... mit absoluter Freiheit ... - Diesem ganzen der Reflexion wird n u n ein Seyn des Gedankens sowohl, als der - eben stehenden u. seyenden - Freiheit voraus gesezt, u. Eins ist nicht ohne das andere. Zugleich aber liegt u n t e n , wie gesagt auch Freiheit u. Seyn (des Wissens - Möglichkeit der Reflexion, u. der reine absolute Gedanke) u. beide sind auch nicht Eins ohne das andere; u. eben so oben; u. die beiden Beziehungen derselben, des oben u. des u n t e n sind auch nicht ohne einander; u n d wir bekommen so, wie das Bewußtseyn a n h e b t ein u n t r e n n b a r e s fünffaches, als eine vollkommne Synthesis. E b e n in d e m M i t t e l p u n k t e d.i. in d e m Akte des Reflektirens steht die intellectuelle Anschauung, u. vereinigt beides, u. in beiden die Nebenglieder beider" (43; Hhg.i.O.). Die Fünffachheit der intellektuellen Anschauung u m f a ß t vier Glieder sowie eine f ü n f t e Position, den Vereinigungspunkt. Jene vier M o m e n t e

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Theorie der Subjektivität

lassen sich gemäß der Struktur der Reflexion in ein oberes oder subjektives und in ein unteres oder objektives Wissen aufspalten. Da im Umschlag des unteren Wissens in das obere Wissen das eigentliche Sichergreifen des Wissens besteht und letzteres allein im absoluten Akt der Freiheit begründet ist, verhalten sich unteres und oberes Wissen wie Seinscharakter und Freiheitscharakter des Wissens (vgl. 41f). Da es sich aber in beiden Fällen, sowohl im Falle des unteren als auch des oberen Wissens, wiederum u m Wissen handelt - worin Sein und Freiheit sich immer schon vereinigt haben - sind sowohl im oberen Wissen als auch im unteren Wissen die beiden Momente Sein und Freiheit enthalten. Erst alle vier Momente zusammen genommen erschöpfen die Form des absoluten Wissens, wie es sich in der intellektuellen Anschauung ansieht. Deren einigender Blick ist nichts anderes als das Zusammenfassen der vier Momente aus einem Mittelpunkt. Die vier Glieder der Fünffachheit können aber noch näher bestimmt werden. Die Charakterisierung hat, weil es sich um eine Analyse der intellektuellen Anschauung ihrem Sein nach handelt - davon wird im folgenden Abschnitt die Rede sein - zu beginnen bei dem Sein des Wissens, also beim unteren Wissen, und hier wiederum bei dessen Seinsmoment: 1. Das Seinsmoment des unteren Wissens ist das Vollzogensein von Wissen, d.h. das Produziertsein des Für-sich-Seins. 2. Das Freiheitsmoment des unteren Wissens, d.h. das Sein der Freiheit, ist die in ihm angelegte Möglichkeit des Aufgehens der Reflexion über ihm. 3. Das Freiheitsmoment des oberen Wissens ist das absolute Von-sichSein des Aktes der Reflexion bzw. die Spontaneität des SichLosreißens des Wissens von sich selbst. 4. Das Seinsmoment des oberen Wissens ist das Worum-willen des Freiheitsaktes bzw. die Telosbestimmung der Reflexion, nämlich das Sichdurchdringen des Wissens in seinem Für-sich-Sein. Das Sich-von-sich-selbst-Losreißen des Wissens ist der Umschlag des unteren Wissens ins obere Wissen. Dieser Umschlag dient ausschließlich der Selbsterfassung des Wissens. Denn das Freiheitsmoment des oberen Wissens, das bloße Von-sich-Sein des Aktes, ist für sich genommen leer; absolutes Von-sich-Sein und Seinsbestimmtheit schließen einander aus. Der Freiheit hingegen kommt im unteren Wissen eine Seinsbestimmtheit zu, nämlich die des Möglichseins des Aufgehens der Reflexion über ihm. Damit ist eine Duplizität der Freiheit gegeben. Das Freiheitsmoment des oberen Wissens ist auf dessen Seinsmoment in der Weise bezogen, daß die Erfülltheit des letzteren als das Worum-willen des ersteren fungiert.

Fichte: Fünffachheit

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Das Seinsmoment des unteren Wissens wiederum ist nichts anderes als das, was in der Beschreibung der Materie der intellektuellen Anschauung als in sich lebendiger Gedanke bezeichnet wurde, nämlich das Vollzogensein von Wissen, das Produziertsein des Für-sich-Seins. Das Seinsmoment des oberen Wissens, das Für-sich-Sein als Worum-willen des absoluten Von-sich, und das Seinsmoment des unteren Wissens, der in sich lebendige Gedanke als das Produziertsein des Für-sich-Seins, qualifizieren beide das Sein als ein Sein des Wissens, neben dem es im Horizont der Wissenschaftslehre kein anderes Sein geben kann (vgl. 42). Darin besteht die "Ontologie" des transzendentalen Idealismus. Jenes Sein des Wissens bezeichnet Fichte auch als "Wahrheit" (42). In einem davon noch einmal zu unterscheidenden Sinn kann die Wissenschaftslehre von 1804 dann den gesamten Aufstieg zum höchsten Prinzip, dem in sich geschlossenen lebendigen Sein, auf den Begriff der "Wahrheitslehre" bringen. Die einzelnen Glieder der Fünffachheit sind keine isolierten substantiellen Entitäten. Ihre wechselseitig relativen Eigenschaften weisen sie vielmehr als funktionale Momente eines Strukturzusammenhangs aus. D a r u m läßt sich die durch sie bezeichnete Form der intellektuellen Anschauung auch relationslogisch beschreiben: 1. Hinsichtlich der Duplizität des Wissens gilt: Der Akt der Reflexion und das Sein des Wissens implizieren sich wechselseitig. 2. Hinsichtlich des unteren Wissens gilt: Das Sein des Gedankens und die Möglichkeit der Reflexion implizieren sich wechselseitig. 3. Hinsichtlich des oberen Wissens gilt: Das absolute Von-sich-Sein der Reflexion und dessen Telosbestimmtheit als Für-sich-Sein implizieren sich wechselseitig. 4. Hinsichtlich des Verhältnisses von oberem und unterem Wissen gilt: Die interne Bikonditionalität des reflektierenden Wissens und die des reflektierten Wissens implizieren sich wechselseitig. Der Vereinigungspunkt der intellektuellen Anschauung kann somit zweifach aufgefaßt werden: systemtheoretisch betrachtet, ist er das Durchlaufen ihrer einzelnen Momente, relationslogisch verstanden, ist er das simultane Schweben in den verschiedenen polaren Dimensionen. Beide Beschreibungen ihrer Strukturganzheit bilden den organischen Charakter des Wissens ab, demzufolge sämtliche Momente des Für-sich-Seins des Für-sich-Seins sich wechselseitig bedingen und bestimmen. Mit der formalen Konstruktion der synthetischen Fünffachheit der intellektuellen Anschauung ist Fichtes Theorieprogramm der Vereinigung von Wissen und Freiheit - im Sinne eines ersten Durchgangs - eingelöst.

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Theorie der Subjektivität

In der intellektuellen Anschauung, dem "absoluten Fürsich" (vgl. 45), erreicht die Wissenschaftslehre ihren höchsten Punkt und hat sich von daher als Letztbegründungsdenken zu bewähren.

3. Die Selbstkonstruktion der intellektuellen Anschauung Die §§ 16-19 behandeln die Selbstanalyse der intellektuellen Anschauung. Das System des Wissens ist nichts anderes als das Resultat der Selbstauslegung der intellektuellen Anschauung. Der höchste Grundsatz der Wissenschaftslehre von 1801/02 kann demnach so formuliert werden: In der intellektuellen Anschauung erblickt sich das Wissen als absolutes Wissen. Deutet man jene Paragraphen im Sinne von Max Wundt als die "Erschöpfung des absoluten Wissens nach seinen verschiedenen Ansichten", 7 dann ist dies der Sache nach zwar richtig, wird aber dem methodischen Umschlag nicht gerecht, der sich mit der Einnahme der Position der intellektuellen Anschauung verbindet. 8 Worin besteht nun das Neue dieses weiteren Fortgangs der Erörterung? Fichte bemerkt dazu in einer methodischen Zwischenüberlegung: "Bis jezt sind wir heraufgestiegen, haben alle Glieder, durch die wir heraufstiegen, liegen gelassen und stehen nun in dem höchsten Punkte, in welchem wir stehen konnten, in der absoluten Form des Wissens eben dem Für. Von nun an steigen wir wieder herab, stossen daher nothwendig wieder auf dieselben Glieder, durch die wir in der erst genommenen Richtung hindurch gingen, nur daß wir dieselben vielleicht, aus der Urquelle herkommend, klarer durchschauen werden" (45; Hhg.i.O.). "Zugleich tritt, mit der entdeckten Täuschung, in der sie sich befand, die Reflexion des Wissenschaftslehrers, als thätig, und etwas aus sich selbst, als ihr bekannt, herbeiliefernd, ab. Sie ist von nun an nur leidend, verschwindet daher in sich selbst. Alles, was von nun an aufgestellt werden soll, hegt in der aufgezeigten Anschauung, und der Verfolg ist bloß u. lediglich eine Analyse derselben - wohlgemerkt - inwiefern sie nicht etwa als ein einfaches Seyn, 7 8

Vgl. M. WUNDT: Fichte-Forschungen, 187 Anm. 1. Vgl. zum folgenden J . STOLZENBERG, 249-376. Durch die ebenso textnahe wie explikationslogisch stringente - aufgrund der kategorialen Orientierung an W. Cramers Theorie der Bestimmtheit allerdings etwas eigenwillige - Fichte-Deutung Stolzenbergs ist die Darstellung JANKES (a.a.O. 249-274) weitgehend überholt. Letzteres rührt allerdings nicht zuletzt daher, daß Janke noch auf die alte Ausgabe in SW II, 30-51 zurückgreifen mußte, die nachgerade einen Torso darstellt. Jürgen Stolzenberg bin ich für eine Vielzahl intensivster Debatten - morgens, mittags, abends oder nachts - zu tiefem Dank verpflichtet.

Fichte: Intellektuelle Anschauung

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Ding, angesehen wird, in welchem Falle es in ihr nichts zu analysiren gäbe, sondern inwiefern sie eben als das, was sie ist, als Wissen angesehen wird. Sie ist unser eigner R u h e P u n k t . Doch analysiren wir nicht: sondern das Wissen selbst analysirt sich, eben weil es Wissen; ein für sich ist." (47; Hhg.i.O.). Es ist die entscheidende methodische Voraussetzung der Theorie der intellektuellen A n s c h a u u n g , daß der epistemische S t a n d p u n k t der philosophischen Reflexion aufgegeben werden muß zugunsten derjenigen Instanz, die den eigentlichen Inhalt der gedanklichen B e m ü h u n g e n bildet. Die philosophische K o n s t r u k t i o n n i m m t sich gleichsam zurück u n d überläßt den V o r t r i t t dem, welchem ihr Interesse gilt. Nicht mehr der Wissenschaftslehrer analysiert, sondern der virtuelle Gegenstand ü b e r n i m m t seine eigene Explikation. Im S t a n d p u n k t der intellektuellen A n s c h a u u n g klärt das absolute Wissen sich selbst auf und ist gerade nicht mehr K o n s t r u k t transzendental-philosophischen Fragens nach den Konstitutionsbedingungen von Wissen. Die bis dahin notwendigerweise in A n s p r u c h g e n o m m e n e Reflexionsstufe des Wissenschaftslehrers wird als lediglich propädeutisch verabschiedet. Die begriffliche Erhellung des Für-sich-Seins des absoluten Wissens wäre nicht zu E n d e gedacht, wenn die philosophische Rekonstruktion des absoluten Wissens nicht ü b e r f ü h r t würde in dessen Selbstkonstruktion. Denn w e n n Wissen der Intention seines Begriffs n a c h identisch ist mit d e m Für-sich-Sein des Für-sich-Seins, d a n n kann die maßgebliche Beschreibung seiner S t r u k t u r ausschließlich von ihm selber e r b r a c h t werden. Jener methodische Umschlag ist somit eine notwendige Bedingung f ü r die Einlösung des P r o g r a m m s der vollständigen Selbstaufklärung des absoluten Wissens. Nur die intellektuelle A n s c h a u u n g selbst ist in der Lage, die Beschreibungen der i m m a n e n t e n S t r u k t u r des absoluten Wissens sachgemäß durchz u f ü h r e n . Allein ihre aus der eigenen Binnenperspektive vorgenommene SelbstdifFerenzierung vermag den Grundriß des absoluten Wissens festzulegen. In der M e t a p h e r ausgedrückt: Was das absolute Wissen ist, bemißt sich nach demjenigen Bild, welches das in sich selbst r u h e n d e u n d in sich geschlossene Auge des absoluten Wissens im S t a n d p u n k t der intellektuellen A n s c h a u u n g erblickt, indem es jenes selbst projiziert. Vermittelst des methodischen Ansatzes der Theorie der intellektuellen A n s c h a u u n g wird die A b s t r a k t h e i t oder Äußerlichkeit der philosophischen Reflexion gegenüber ihrem Gegenstandsbereich, wie sie f ü r die Transzendentalphilosophie Kantischen T y p s wesentlich ist, p r o g r a m m a t i s c h aufgehoben. Von hier aus gesehen ist auch der von Schelling u n d Hegel gegen Fichte erhobene Einwand bloßer Reflexionsphilosophie als unzutreffend einzustufen. Er b e d ü r f t e zumindest weiterer Präzisierung.

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Theorie der Subjektivität

In der methodischen Zwischenüberlegung wird darauf aufmerksam gemacht, daß bis jetzt das Für-sich-Sein des absoluten Wissens noch nicht zureichend expliziert ist, weil es nur von außen, durch die Reflexion des Wissenschaftslehrers, rekonstruiert worden ist. D a r u m erweist sich auch speziell die Beschreibung der Form der intellektuellen Anschauung, nämlich das Schema der Fünffachheit, als lediglich propädeutisch, nur als Vorbegriff derselben. Diese explikationslogische Vorläufigkeit zeigt sich vor allem darin, daß die Vereinigungsfunktion der intellektuellen Anschauung nicht anders zur Geltung gebracht werden konnte denn als Ganzheit einer Struktur, als die In-sich-Geschlossenheit des absoluten Für-sich-Seins. Nur das Stehen in diesem Einheitsblick, keineswegs dessen Selbsterzeugung, ist aufgewiesen. Der Vorbegriff der intellektuellen Anschauung konnte diese nur ihrem Sein nach analysieren, nicht jedoch hinsichtlich ihres Werdens. Die nun anhebende Darstellung kann die Vorläufigkeit jener Konstruktion der Vereinigungsfunktion der intellektuellen Anschauung nach ihrem Seinscharakter infolgedessen nur so überwinden, daß sie die Vereinigungsfunktion der intellektuellen Anschauung hinsichtlich ihres Freiheitscharakters in den Vordergrund stellt. Dies geschieht in den §§ 16-19. Die beherrschende Perspektive dieser Ausführungen besteht d a r u m in der Beschreibung der tätigen Selbstkonstruktion der intellektuellen Anschauung. Bereits in § 13 war die Notwendigkeit einer Vereinigung des Seinsund des Freiheitscharakters der Form des Wissens aus dessen Absolutheit begründet worden. Legt man diesen Gesichtspunkt zugrunde, dann erweist sich selbst die in § 15 vorgetragene, den Umschlag der Darstellung begründende Methodenreflexion im nachhinein noch als vorläufig. Denn die konsequente Durchführung der Selbstexplikation der intellektuellen Anschauung ist in Wahrheit nichts anderes als die konsequente Realisierung des zweiten Absolutheitscharakters des absoluten Wissens, des absoluten Weil. Die besondere Pointe der Selbstkonstruktion der intellektuellen Anschauung nach ihrem Freiheitscharakter ist sonach darin zu sehen, daß sie hiermit in erster Linie ihre eigene Absolutheit zum Zuge bringt. Die Neuheit der Theorie der intellektuellen Anschauung im Ganzen der Wissenschaftslehre von 1801/02 kann dahingehend bestimmt werden, daß Fichte zum ersten Mal den Gedanken der Absolutheit - des absoluten Wissens - als die den Selbstexplikationsprozeß der intellektuellen Anschauung vorantreibende Kraft exponiert. Die Wissenschaftslehre von 1804 wird dann dem Begriff des Absoluten selbst diese Funktion zuweisen. § 16 Abschn. 3-5 thematisiert das Selbstverhältnis der intellektuellen Anschauung in der Ansicht ihres absoluten Weil-Momentes. Letzteres war in § 8 eingeführt worden als einer der beiden Absolutheitscharaktere des

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Wissens: Das Wissen ist schlechthin, weil es ist. § 10 interpretierte es sodann als Freiheitscharakter der Form des Wissens: Das Für-sich-Sein des Für-sich-Seins ist seiner Genesis nach ein unbedingtes Sich-Setzenals. § 15 schließlich erläuterte es im Horizont der Reflexionsstruktur der intellektuellen Anschauung als absolute Reflexion: Mit absoluter Freiheit reißt sich das Wissen los von sich selbst, u m sich wieder zu ergreifen. Die Beschreibung des absoluten Weil in der Selbstkonstruktion der intellektuellen Anschauung knüpft an die vorausgegangenen Bestimmungen an: "Die intellectuelle Anschauung ist in sich und für sich schlechthin weil sie ist, heißt, sie ist für sich ein absolutes SelbstErzeugen, durchaus aus nichts: ein sich ergreifen des freien Lichts" (48). Aus ihrer eigenen Binnenperspektive begreift sie sich als Synthese von Akt und Faktum. Beide Begriffe sind an dieser Stelle allerdings doppeldeutig. Der Akt ist einerseits absolute Selbsterzeugung; dementsprechend ist das F a k t u m das Resultat solchen Erzeugens, d.h. reines Selbsterzeugnis. Der Akt ist andererseits das Sich-Zusehen in der Selbsterzeugung; in dieser Hinsicht ist das F a k t u m das Resultat jenes Sehens: das lebendige Blicken ist zu einem "stehenden Blike" (ebd.) geworden. Sowohl das Produkt der Selbsterzeugung als auch der stehende Blick des Sich-Zusehens verdanken ihr Vorkommen allein der selbstbezüglichen Aktivität der intellektuellen Anschauung und haben "Objektivität" nur mit Bezug auf diese. Daß das Selbstverhältnis der intellektuellen Anschauung seiner Freiheitsdimension nach eine Synthese von Akt und Faktum darstellt, besagt demnach, daß jene ihrer absoluten Selbsterzeugung nur unter der Voraussetzung inne wird, daß sie selber in ihrer Tätigkeit "sich hält" (ebd.) und in ihrem Sich-Zusehen sich erblickt als ein "ausser sich, und vor sich selbst hingestelltes" (ebd.). Diese Synthesis von Akt und Faktum steht allein für die Selbstkonstruktion hinsichtlich des absoluten Weil-Moments. Was aber folgt aus diesem Selbstverhältnis für das in der intellektuellen Anschauung gleichfalls enthaltene absolute Was-Moment? § 16 Abschn. 6f sucht diesem Vereinigungspostulat Rechnung zu tragen. H a t t e die gerade aufgewiesene Selbstanschauung hinsichtlich der Freiheit rein für sich betrachtet eine Synthese erbracht, so führt die nun erfolgende Einbeziehung des Seins des Wissens allerdings in eine Aporie. Die Aporie ist in folgendem begründet: Die intellektuelle Anschauung soll sich nach ihrem absoluten Was begreifen. Dieses Sichbegreifen kann sich nur durch Freiheit vollziehen. Da ein solcher Vollzug aber seine Selbstanschauung impliziert, wird in jenem Sichbegreifen immer auch die Freiheit angeschaut, der sich die Selbsterfassung als Vollzug verdankt. Das bedeutet: das intendierte Selbstverhältnis der intellektuellen Anschauung unter dem Aspekt einer Synthesis des Weil- und des Was-Momentes bringt

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Theorie der S u b j e k t i v i t ä t

das absolute Was als solches, nämlich in seiner Reinheit ü b e r h a u p t nicht in den Blick, weil jene Selbstanschauung dieses Was n u r in seiner Verbind u n g mit d e m Weil, also nicht als absolutes Was vorfindet: "schaute dieses Weil sich an, so w ü r d e das Was als absolutes vernichtet" (49; Hhg.i.O.). K o n s t r u i e r t sich die intellektuelle Anschauung nicht als Synthesis, sondern als Selbstanschauung lediglich n a c h ihrem absoluten W a s - M o m e n t , so gerät sie als ganze in Konflikt mit ihrer Form. D e n n auch hier gilt wiederum: Die F o r m des Vollzugs kann nicht gedacht werden ohne die S t r u k t u r der Selbsterfassung. "Die F o r m dieser A n s c h a u u n g wird sonach durch ihre Materie vernichtet" (ebd.). Resultat dieser Selbstvernichtung der F o r m der Selbsterfassung an deren eigener Materie ist ein Für-sichSein, welches nicht mehr selbst f ü r sich ist, "ein absolutes Was wissen, ohne ein woher angeben zu können" (50; Hhg.i.O.). D a die A n g a b e des Woher des Wissens allein im Bewußtsein seines E r z e u g t h a b e n s b e s t e h t , bezeichnet F i c h t e jenes uneigentliche Wissen als "ein Wissen, ohne Selbstb e w u ß t s e y n " (ebd.). Die Selbstanschauung bezüglich des absoluten Was vermittelst der Vernichtung ihrer Freiheitsform f ü h r t zur A u f h e b u n g des innersten Wesens des Wissens, nämlich des Für-sich-Seins des Für-sichSeins. Die postulierte Einbeziehung des absoluten Was in die Selbstkonstruktion hinsichtlich des absoluten Weil endet sonach in einer Aporie. Die anh a n d der aporetischen K o m p o n e n t e der intellektuellen A n s c h a u u n g hier erstmals zur Geltung gebrachte S t r u k t u r der Selbstvernichtung wird auch Fichtes weitere A u s f ü h r u n g e n z u m Selbstverhältnis der intellektuellen Anschauung bestimmen. Aus der Aporie, in die § 16 f ü h r t e , erwächst zunächst die A u f g a b e des weiteren Fortgangs in §§ 17-19: Die a n s t e h e n d e H a u p t s y n t h e s e betrifft die Integration des absoluten Was-Momentes in das Selbstverhältnis der intellektuellen Anschauung, das sich mit Bezug auf deren absolutes WeilM o m e n t als reine Selbstkonstruktion darstellt. J e n e Aporie gibt aber zugleich einen Hinweis, wie der Einstieg in die H a u p t s y n t h e s i s zu erfolgen habe: Z u m einen ist die Äußerlichkeit (vgl. 52) des Vereinigungspostulates zu überwinden. Die Einheit der intellektuellen A n s c h a u u n g m u ß als "faktische, auf Freiheit als solche gegründete" (50) erwiesen werden. Z u m a n d e r n m u ß die Äußerlichkeit des in die Synthesis einzuholenden absoluten Was ü b e r w u n d e n werden. Das W a s - M o m e n t ist als ein solches zu exponieren, als welches es in und von derjenigen Reflexion, in der das Wissen seine Einheit erzeugt, vorausgesetzt wird (vgl. 51). I n d e m § 17 den freien Akt des absoluten Wissens in der F o r m des Denkens beschreibt, sucht er beiden A d ä q u a t h e i t s b e d i n g u n g e n zu genügen. "Der lezte G r u n d des Akts, der als Akt doch absolut bleiben m u ß , ist

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seine Möglichkeit, und der der Bestimmung der Reflexion die ihr voraus gesezte absolute Bestimmtheit" (53; Hhg.i.O). Das absolute Was ist nichts anderes als die absolute Bestimmtheit der denkenden Selbstreflexion der Freiheit bzw. der Notwendigkeitscharakter der Einsicht in die Möglichkeit des freien Aktes. "Der Grund ihrer absoluten Einheit wird eingesehen, hiesse, es wird eingesehen, daß der Akt gar nicht möglich ... ist ohne diese Bestimmtheit" (ebd.). Die vermittelst der denkenden Selbstreflexion der Freiheit erfolgende Vereinigung von absolutem Weil und absolutem Was ist demnach die Vereinigung der Unableitbarkeit des Aktes und der Notwendigkeit der Einsicht in dessen innere Möglichkeit. Fichtes abschließende Lösung wird darin bestehen, ebensowohl die innere Zusammengehörigkeit wie die inhaltliche Widersprüchlichkeit beider Eckdata des absoluten Wissens nachzuweisen: Absolutes Für-sich-Sein der Freiheit, d.h. absolutes Sich-Setzen-als, und Gebundensein des Wissens in einem absoluten Was, d.h. notwendiges Setzen einer absoluten Voraussetzung, fordern einander und schließen sich zugleich wechselseitig aus. In §17 hingegen gelingt eine widerspruchsfreie, wenn auch inhaltlich paradoxe Synthese beider Momente, und zwar deshalb, weil die Vereinigung erklärtermaßen methodisch einseitig vorgenommen wird, nämlich in der ausschließlichen Form des Denkens. Aus der Perspektive des Denkens ist zunächst die Unableitbarkeit des freien Aktes zu bestimmen als rein formale Ursprungsfunktion. Der absolute Akt des Hervorbringens von Wissen ist lediglich "Grund des Daß, und nicht des Was" (ebd.; Hhg.i.O.). Als Grund des bloßen Daß des Wissens bzw. als formale Freiheit der Reflexion realisiert sich das absolute Weil nicht mehr als ein Schweben zwischen Akt und Faktum, sondern ist übergegangen in die der Form des Denkens eigentümliche Ruhe. Erscheint die Freiheit des Wissens ausschließlich unter der Form des Denkens, dann bedeutet dies, daß deren formale Ursprungsfunktion auftritt in Gestalt des sich rein aus sich selbst begründenden Denkens (vgl. 54). Unter Berücksichtigung dieser Fortbestimmung ist - ebenfalls aus der Perspektive des Denkens - sodann die Möglichkeit des freien Aktes zu interpretieren als die innere Gesetzmäßigkeit des freien Denkens. Das Denken vermag sich nur unter der Voraussetzung aus sich zu begründen, daß es sich selbst als seiendem Wissen "ein Prädikat, das der absoluten Erzeugung aus sich selbst" (ebd.; Hhg.i.O.), beilegt. Das Gesetz, welches die innere Möglichkeit des freien Aktes beschreibt, ist die Verallgemeinerung eben dieser Selbstzuschreibung von Spontaneität. Es lautet: "Das Wissen kann sich nur als erzeugt, und dann nur als schlechthin aus sich selbst erzeugt, denken" (55). Die Möglichkeit des freien Aktes des Wissens ist dahingehend erklärt, daß seine formale Spontaneität in Gestalt des rein aus sich selbst begründenden Denkens nur unter Voraussetzung

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eines Gesetzes der Selbstzuschreibung von Spontaneität gedacht werden kann. Dieses Gesetz der Selbstzuschreibung von Spontaneität ist aber selbst wiederum von einem höheren Denken erzeugt worden. Die Synthese der Unableitbarkeit des freien Aktes mit der Notwendigkeit der Einsicht in dessen Möglichkeit hat sonach die formale Struktur der Selbstsubsumtion: Der spontane Akt des Denkens subsumiert sich unter ein höheres Denken, welches dessen Gesetzmäßigkeit formuliert. Die Selbstkonstruktion der intellektuellen Anschauung unter der ausschließlichen Form des Denkens kann die formale Freiheit des Wissens nur vermittelst deren Strukturgesetzlichkeit explizieren. Denn die Unableitbarkeit des freien Aktes selber läßt sich allein unter der Voraussetzung denken, daß dieser selbst sich gewisse notwendige Strukturmerkmale zuschreibt. An ihr selbst entdeckt die absolute Reflexion eine "innere Notwendigkeit" (ebd.). Der freie Akt muß möglich sein: in dieser Formel läßt sich die immanente Paradoxie der absoluten Reflexion zusammenfassen. Weil sie diese materiale Paradoxie nur aufstellt, aber nicht eigens thematisiert, erweist sich die in § 17 vollzogene Vereinigung von absolutem Weil u n d absolutem Was als vorläufig bzw. als bloße "Nebensynthese" (vgl. 53). Es wird deshalb die Aufgabe der Hauptsynthese sein, die Vereinigung von absolutem Weil und absolutem Was als die Vereinigung von Freiheit und Notwendigkeit zu explizieren. Die in § 17 analysierte Selbstexplikation der intellektuellen Anschauung unter der Form des Denkens erbrachte die Struktur der Selbstsubsumtion der rein formalen Grundfunktion des Aktes unter das Denken eines Gesetzes, welches die Möglichkeit des Aktes erklären sollte. Es stellt sich sonach die Frage, wie im Denken jenes Gesetzes von der Notwendigkeit selbst gewußt werden kann. Daß von ihr gewußt wird, ist im Begriff des Gesetzes selbst enthalten: Notwendigkeit ist nichts anderes als ein Für-sich-Sein der Gesetzmäßigkeit des Wissens. Gewußte Gesetzmäßigkeit setzt sonach ein Selbstverhältnis des Wissens voraus. Die eigentümliche Schranke der denkenden Selbstexplikation des Für-sich-Seins des Wissens von Notwendigkeit liegt nun genau darin, daß sie - konsequent angewandt - in eine unendliche Iteration führt (vgl. § 18 Abschn. 4). D a r u m muß die Aufklärung jenes Selbstverhältnisses über einen anderen Weg erfolgen. Die spezifische Begrenztheit der denkenden Selbstbeziehung, sich erstens nur in der Form der Gebundenheit (Bestimmtheit des Begriffs), zweitens nur in der Form der Stufigkeit (Grund/Folge-Beziehung) und drittens nur in der Form der Abstraktion (strukturelle Gesetzmäßigkeit) erfassen zu können, muß überwunden werden. Die rein denkende Selbstexplikation der intellektuellen Anschauung bleibt hinter dem geforderten Selbstkonstruktionscharakter zurück, worin die Lebendigkeit, Innerlich-

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keit und Inhaltlichkeit des Freiheitsmoments ebensosehr zur Geltung kommen müßten. Aus dieser Perspektive gesehen erweist sich die in § 17 beschriebene Selbsterfassung der formalen Freiheit als ein bloßes Sein des Für-sich-Seins. Erst wenn auch jenes Wissen um die Gesetzmäßigkeit, unter der die formale Freiheit steht, nach seinem Freiheitsmoment durchdrungen ist, hat sich die intellektuelle Anschauung nach ihrem reinen Freiheitscharakter begriffen. Die entscheidende Pointe besteht also darin, daß die Selbstreflexion der formalen Freiheit sich erst in dem Reflexivwerden des Wissens von dem Gesetz vollendet, welches ihr inneres Wesen konstituiert. Auch die denkende Selbsterfassung der formalen Freiheit muß noch einmal einem Reflexionspostulat unterworfen werden: "das Wissen von diesem Gesetz, als ein Wissen, ... muß ... sich selbst als durch Freiheit faktisch erzeugt, oder erleuchtet ansehen; oder was dasselbe heißt: in und für sich so seyn" (56). Dieses In- und Für-sich-Sein ist nur unter der Form der Anschauung möglich. § 18 beschreibt darum die Selbstkonstruktion der intellektuellen Anschauung in der reinen Form der Anschauung. Wie aber legt sich das Wissen aus, wenn es sich als Selbstanschauung der formalen Freiheit exponiert? Als Anschauung erfaßt es sich nur unter der Form der "unbedingten Separabilität" (57), weil das Anschauen generell ein Überschauen von Mannigfaltigem ist. Als Selbstanschauung der Freiheit erblickt es die ins Unendliche teilbare reine Agilität, die Totalität aller Spontaneitätsakte. Damit schaut das Wissen sich selbst aber noch nicht als formale Freiheit an. Dazu müßte es sich in dem Einheitspunkte ergreifen, der für den absoluten Akt der Selbsterzeugung konstitutiv ist. Die Selbstexplikation der formalen Freiheit unter der Form der Anschauung wird so zu einer in sich komplexen Struktur: Die formale Freiheit erblickt sich als eine in die Mannigfaltigkeit zerfließende und sich in einem Blick zusammennehmende. Die Ganzheit und In-sich-Geschlossenheit dieser Selbstanschauung erzeugt sich erst im Durchgang durch jenen Prozeß des Sich-Diffundierens und Sich-Kontrahierens. Ihr Einheitspunkt bildet sich allein als Resultat des In-sich-Zurückkehrens. Zugleich aber werden allein von diesem Einheitspunkt her sowohl das Sich-Diffundieren als auch das Sich-Kontrahieren als Momente der Selbstanschauung qualifiziert. Und letzteres hat Rückwirkungen auf die Selbstanschauung des Einheitspunktes als des Resultates jenes Prozesses: Er schaut sich nur in der Weise an, daß er sich selbst verdoppelt. Der Mittelpunkt der Selbstanschauung der formalen Freiheit liegt demnach nicht in dem Einheitspunkt als "von sich durchdrungenem" (58) - d.h. als dem Resultat des Selbstdurchdringungsprozesses. Er hegt aber auch nicht in dem Zerfließen und Kontrahieren als "dem Durchdringenden" (ebd.) - d.h. als

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den Phasen des Prozesses der Selbstverdoppelung des Einheitspunktes. Er liegt vielmehr zwischen der Sichdurchdrungenheit und dem Sichdurchdringen des Einheitspunktes. Der Mittelpunkt der Selbstanschauung der formalen Freiheit ist somit kein punktueller logischer Ort, sondern ein Fokus des Schwebens. Die Selbstanschauung der formalen Freiheit ist ein Inund Für-sich-Sein von der Form des Schwebens. Die Selbstanschauung der formalen Freiheit hat die Gestalt eines ganz bestimmten Schwebens. In und mit der Durchdrungenheit wird Einheit gesetzt. Zugleich aber wird vermittelst des Durchdringens Mannigfaltigkeit gesetzt, nämlich als Bedingung der Möglichkeit des In-sich-Zurückkehrens der Einheit. Das Für-sich-Sein dieser Anschauung vollzieht sich somit als ein Schweben zwischen dem freien Erzeugen von Einheit und dem Vernichten der so erzeugten Einheit, wobei beide Momente sich wechselseitig fordern: "Vernichten, u m setzen zu können, setzen, u m vernichten zu können" (ebd.). Dieses Schweben zwischen dem Setzen und Vernichten faktisch erzeugter Einheit in der Selbstanschauung der formalen Freiheit "ist von Seiten der Anschauung der eigentliche Fokus des absoluten Bewußtseyns" (ebd.). Damit hat sich im Hinblick auf das Selbstverhältnis der formalen Freiheit aber eine tiefgreifende Modifikation ergeben: Ursprünglich und rein als solche war sie das Sich-Durchdringen des absoluten Aktes in einem unteilbaren P u n k t (vgl. §11). Nun, als absolute innere Qualität des Wissens betrachtet (vgl. 58), zeigt sich, daß "die formale Freiheit sich nur anschaue, als Contraction eines verfliessenden mannigfaltigen möglichen Lichts zu einem CentralPunkte, und verbreiten dieses Lichts aus diesem C e n t r a l P u n k t e über ein nun dadurch gehaltnes, u. faktisch erleuchtetes Mannigfaltiges" (59). Das besagt: Die formale Freiheit kann sich selbst nur anschauen, indem sie sich der Strukturverfaßtheit der Anschauung unterwirft. Auch die Selbstanschauung der formalen Freiheit weist sonach eine Notwendigkeitsdimension auf. Dieses Notwendigkeitsmoment der Selbstanschauung der formalen Freiheit ist offensichtlich der innere Grund dafür, daß sie sich nur unter der Form des Schwebens zwischen dem Erzeugen von Einheit und dem Vernichten der erzeugten Einheit explizieren kann. § 18 schließt darum in einer überraschenden Parallele zu § 17. Nicht nur die Selbstkonstruktion in der Form des Denkens, sondern auch die Selbstkonstruktion in der Form der Anschauung endet in einer Paradoxie. Hier wie dort entdeckt die intellektuelle Anschauung an sich selbst ein von ihr unbegriffenes Notwendigkeitsmoment. Auch § 18 beschreibt d a r u m nur eine Nebensynthese. Im Fall der denkenden Selbstexplikation erwies sich der mit absoluter Freiheit hervorgebrachte Akt der Reflexion als abhängig von seiner Denkbarkeit, nun im Fall der Selbstanschauung erweist sich der

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faktische Vollzug der Selbstexplikation als abhängig von der Anschauungsstruktur des Wissens. Beide Male stößt die intellektuelle Anschauung bei der Selbstkonstruktion hinsichtlich ihrer formalen Freiheit an eine innere Grenze. Diese verschafft sich Geltung entweder in Gestalt der Selbstsubsumtion unter ein höheres Denken, oder in Gestalt der Selbstexplikation unter der Form der Wechselbedingtheit von Setzen und Vernichten. Sowohl § 17 als auch § 18 formulieren je auf ihre Weise eine innere Grenze der Selbstexplikation der Freiheit. Die Pointe dieses Nachweises besteht aber darin, daß diese Grenze nur dann sichtbar wird, wenn die formale Freiheit tatsächlich gedacht oder angeschaut wird. Für das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit folgt daraus: Notwendigkeit wird nur dort erkannt, wo sie als Moment des Vollzugs und der Selbstexplikation der Freiheit thematisch wird. Und umgekehrt, Freiheitsbewußtsein ist nur unter der Voraussetzung möglich, daß der Notwendigkeitscharakter seiner Strukturverfaßtheit ihm selber zu Bewußtsein kommt. Das Ergebnis der Selbstexplikation der intellektuellen Anschauung unter der Form des Denkens und unter der Form des Anschauens besteht sonach darin, daß die beiden konträren Elemente, formale Freiheit und Notwendigkeit, sich wechselseitig fordern. "Die Freiheit ... ist selbst Nichtfrei ... ; und die Nichtfreiheit ist ... selbst Freiheit" (61; Hhg.i.O.). Es wird die Aufgabe der Hauptsynthese sein, Freiheit und Notwendigkeit nicht nur faktisch aufeinander zu beziehen, sondern diese Struktur genetisch zu durchdringen. Erst damit ist die Mitte der intellektuellen Anschauung, das Für-sich-Sein der Einheit des absoluten Wissens, tatsächlich erreicht. § 19 entfaltet das Schweben der intellektuellen Anschauung im Mittelpunkt des absoluten Wissens. In dieser Hauptsynthesis vollzieht sich die Vereinigung der beiden Nebensynthesen aus § 17 und § 18. Die Durchführung auch dieser Synthese kann wiederum nur in Form einer Selbstkonstruktion der intellektuellen Anschauung erfolgen, d.h. in der Weise, daß diese selbst die Vereinigung der zu vereinigenden Momente vornimmt und dabei sich als in der Einheit stehend erfaßt. Das Reflexionspostulat der neuen Synthesis lautet zunächst in einer ersten Annäherung: Das Notwendigkeit und Freiheit vereinigende Denken muß sich selbst reflexiv werden. Fichte formuliert es jedoch sogleich um. Das eigentliche Problem hegt in der Frage: Wie kann von dem Notwendigkeitsmoment darin gewußt werden? Der Grund für diese Präzisierung des Reflexionspostulates der Hauptsynthesis liegt in der Abgrenzung gegenüber den beiden Nebensynthesen in § 17 und § 18. Man könnte nämlich die Forderung des Für-sich-Seins des Notwendigkeit und Freiheit vereinigenden Denkens einerseits im Sinne von § 17 mißverstehen. Der kritische Rückblick von § 18 auf § 17 hatte jedoch ge-

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zeigt, daß die Selbstsubsumtion des freien Aktes der Reflexion unter ein höheres Denken noch keine Synthesis von Freiheit und Notwendigkeit darstellt, weil beide Momente auf unterschiedlichen Ebenen auftreten: formale Freiheit als Prinzip der absoluten Reflexion realisiert sich als faktisches Erzeugen, Notwendigkeit hingegen wird auf der gedanklichen Ebene von der Strukturverfaßtheit dieses Prinzips ausgesagt. Freiheit und Notwendigkeit können sonach erst dann als miteinander vereinigt gelten, wenn jene Stufigkeit überwunden ist. Man könnte die vorläufige Fassung des Reflexionspostulates andererseits aber auch im Sinne von § 18 mißverstehen, als sollte das Denken der Notwendigkeit der Gesetzmäßigkeit der Freiheit sich nach seiner inneren Agilität begreifen und insofern für sich sein. Nun konnte die sich so konstruierende Selbstanschauung der formalen Freiheit zwar jene Stufigkeit überwinden, drang aber zu keiner expliziten Vermittlung von Freiheit und Notwendigkeit vor. Denn das Notwendigkeitsmoment kam nur mittelbar zur Geltung, nämlich in Gestalt des Unterworfenseins der Selbstanschauung der formalen Freiheit unter die Struktur der Anschauung sowie in der daraus resultierenden Form der Selbstanschauung der formalen Freiheit als eines Schwebens zwischen Setzen und Vernichten. Es kann im folgenden sonach nur d a r u m gehen, wie die Einheit von Freiheit und Notwendigkeit nicht im Denken, sondern in der Anschauung gewußt wird und wie in der Anschauung speziell von dem Notwendigkeitsmoment gewußt wird. Letztere Frage wird von Fichte schließlich dahingehend beantwortet werden, daß Notwendigkeit nicht auf eine freie Weise wißbar ist, sondern nur in Form eines Gefühls der Gebundenheit oder der Abhängigkeit gewußt werden kann - "gewußt" in einem noch näher zu präzisierenden Sinne. Doch zuvor stellt sich die Aufgabe, die systematische Funktion jener Anschauung von Notwendigkeit zu klären, u m so den Mittelpunkt des absoluten Wissens aufzufinden, wie er sich in der Binnenperspektive der intellektuellen Anschauung darstellt. Wenn das formale Freiheitsmoment der intellektuellen Anschauung hinsichtlich der Gesamtstruktur des Wissens seinen adäquatesten Ausdruck in der absoluten Reflexion fand, d.h. in einem mit absoluter Freiheit sich vollziehenden Sichlosreißen des Wissens von sich selbst - u m sich wieder zu ergreifen - , dann kann Notwendigkeit umgekehrt nur in der Unmöglichkeit solchen Sich-von-sich-Losreißens bestehen. Notwendigkeit ist "absolute Gebundenheit des Wissens" (62). Die Frage: Wie ist Notwendigkeit von Seiten der Anschauung wißbar? kann d a r u m auch so formuliert werden: Kann absolute Gebundenheit angeschaut werden? Diese Frage muß nach Auffassung Fichtes strikt verneint werden, da der Begriff einer Anschauung von Notwendigkeit eine contradictio in adiecto darstellt. Anschauung vollzieht sich immer vermittelst der Freiheit und

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impliziert insoweit die Selbstanschauung der Freiheit. Eine Anschauung von Notwendigkeit wäre mithin ihrem Gehalt nach eine Anschauung absoluter Gebundenheit, ihrer Form nach jedoch ein freies Für-sich-Sein. Im Falle der postulierten Anschauung von Notwendigkeit "vernichtete" (63) demnach die Materie dieser Anschauung deren Form. Welcher Art aber ist das Wissen von der Selbstvernichtung der Freiheitsform am Notwendigkeitsgehalt des Wissens? Es kann nur eine solche Gestalt von "Wissen" sein, deren Für-sich-Sein dadurch charakterisiert ist, seinerseits nicht mehr für sich zu sein - womit es den eigentlichen Charakter des Wissens verliert. Die innere Verfaßtheit des "Wissens" von der Vernichtung der Freiheit an der Notwendigkeit zeichnet sich dadurch aus, daß es hier zwar zu keinem Sich-Setzen des Wissens als Wissen kommt, daß aber gleichwohl die formale Struktur des Sich-Setzen-als vorliegt. Die AisStruktur des Für-sich-Seins des Wissens wird nicht dadurch aufgehoben, daß es sich selbst nicht mehr als Wissen setzen kann. Die formale Aporie des "Wissens" von der Selbstvernichtung des Wissens besteht sonach darin, einerseits im Sich-Setzen-als seinen Charakter des Für-sich-Seins zu bewahren und andererseits im Sich-nicht-als-Wissen-setzen-Können das Für-sich-Sein dieses Für-sich-Seins preiszugeben. Auf die Gesamtstruktur der Vereinigung von Freiheit und Notwendigkeit in der intellektuellen Anschauung bezogen, besagt dies: Der volle Gehalt der Ais-Struktur des absoluten Wissens realisiert sich nur in Form einer Duplizität, nämlich von Sich-Erfassen und Sich-Vernichten. Materialiter läßt sich jene Aporie folgendermaßen ausdrücken: Im Wissen von Notwendigkeit setzt sich das Wissen als absolutes Sein. "Sein" bedeutete für die Wissenschaftslehre zunächst nichts anderes als "Sein des Wissens". Für die Selbstexplikation der intellektuellen Anschauung - sowohl in der Form des Denkens als auch in der Form der Anschauung - , worin die Absolutheit des Erzeugens des Seins des Wissens erstmals dem Wissen selbst zu Bewußtsein gelangte, war "absolutes Seyn" (55) identisch mit faktisch erzeugtem Sein (vgl. 56). Nun, mit Bezug auf das Notwendigkeitsmoment, an dem sich das Freiheitsmoment des Wissens vernichtet, enthüllt sich das absolute Sein als das schlechthin auf sich ruhende Sein (vgl. 63), als das absolute Voraus der Freiheit des Wissens und dennoch zugleich Moment dieses Wissens. Damit treten das faktische Sein und das absolute Sein in eine ontologische Differenz. Im Wissen von Notwendigkeit vernichtet sich das Wissen als faktisches Sein und setzt sich als absolutes Sein. Es ist sonach die Selbstvernichtungsstruktur des Wissens, welche jene ontologische Differenz - auf welcher dann auch der Gottesbegriff aufruht - begründet. Nimmt man die formale und die materiale Seite jener Aporie zusammen, dann läßt sich auch die Bewußtseinsstruktur des Wissens von Not-

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Theorie der Subjektivität

wendigkeit genauer beschreiben. Es handelt sich - wie bereits erwähnt - u m das "Gefühl der Abhängigkeit" (76). Ist das Wissen von Notwendigkeit ein Sich-Setzen des Wissens als des absoluten Seins, dann lassen sich aus strukturellen Gründen Wissendes und Gewußtes von ihm selbst nicht mehr unterscheiden. Es liegt in der bloßen Ais-Struktur des Wissens von der Selbstvernichtung der Freiheitsform a m Notwendigkeitsgehalt begründet, daß aus der Perspektive des Gefühls das an sich Gebundensein und das Gefühl des an sich Gebundenseins bzw. das absolute Sein und das Gefühl des absoluten Seins nicht mehr als differente Positionen gesetzt werden können (vgl. 75f.79f). Der Gefühlsbegriff bezeichnet sonach nichts anderes als die interne Indifferenz der Ais-Struktur des Wissens von Notwendigkeit. Damit ist die Selbstkonstruktion der intellektuellen Anschauung, was den formalen Aufbau ihrer Hauptsynthesis anbelangt, an das Ende gekommen. "Der eigentliche Fokus, und Mittelpunkt des absoluten Wissens ist ... gefunden" (63). Wissen ist das wechselseitige Sichfordern der beiden konträren Momente des Sicherfassens vermittelst des absoluten Aktes formaler Freiheit und des Sichvernichtens am absoluten Sein. Wissen vermag nur so seiner eigenen Absolutheit inne zu werden, daß es das Für-sich-Sein der Freiheit in der Gebundenheit an das absolute Sein vergißt. Und umgekehrt, es kann die Notwendigkeit seines Gebundenseins an das absolute Sein nicht anders in den Blick bekommen, als daß es sich aus sich selbst erzeugt. So schwebt es zwischen dem Sein des Wissens und dessen "sich vernichten an dem absoluten Seyn" bzw. zwischen dem "Nichtabsoluten Seyn, und absoluten seyn des Seyns" (ebd.). Die Einheit der intellektuellen Anschauung ist nichts anderes als die Widerspruchseinheit eben jenes in sich konträren Schwebens. Will m a n das inhaltlich Besondere der in der Wissenschaftslehre von 1801/02 formulierten Theorie der intellektuellen Anschauung zusammenfassend charakterisieren, so besteht es im wesentlichen darin, daß die Struktur der Selbstvernichtung der Freiheit am Absoluten als integrales Moment der intellektuellen Anschauung entdeckt und in seiner systematischen Funktion nachgewiesen ist. Letztere ist nicht mehr - wie in der ersten Phase des Fichteschen Denkens - das bloße Sich-Zusehen der reinen Selbsterzeugung des Wissens, sondern ein Schweben zwischen dem reflexiven Für-sich-Sein des Wissens und dem Gewahren seines Ursprungs, der zugleich dessen Grenze bezeichnet.

Fichte: Absolutes Sein

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4. Der Begriff des absoluten Seins

Fichte entfaltet die in der Auffindung des Mittelpunkts des absoluten Wissens erreichte Einsicht noch in einer nachträglichen "populärere[n] Untersuchung" (75ff), in der er den wesentlichen Gehalt der Selbstexplikation der intellektuellen Anschauung formelhaft zusammenfaßt. Der methodische Unterschied dieser "populäreren Untersuchung" gegenüber der voraufgehenden Darstellung besteht darin, daß von dem spezifischen Charakter der Selbstkonstruktion, dem Unterschied der Selbstexplikationsstufen, dem damit gegebenen Gefalle der Synthesen und den daraus resultierenden explikationslogischen Problemen vollständig abgesehen ist. Von religionsphilosophischer Bedeutung sind insbesondere die Ausführungen über den Begriff des Absoluten und dessen Verhältnis zum absoluten Wissen, die über die im Zusammenhang der Selbstkonstruktion der intellektuellen Anschauung gemachten Aussagen noch ein gutes Stück hinausgehen. Bei der Darstellung des Mittelpunkts des absoluten Wissens hatte sich ergeben, daß das Wissen in seinem Schweben zwischen Sein und Nichtsein "seinen absoluten Ursprung wissend in sich trägt" (63). Dieser Gedanke der Innerlichkeit des Ursprungs des absoluten Wissens bildet den Ansatz zur Gewinnung eines genaueren Begriffs des Absoluten. Der argumentative Fortschritt gegenüber der Einführung der Idee des Absoluten als des Begriffs des Nicht-Relativen, welches durch die beiden Merkmale des a se esse und in se esse als Modi von Nicht-Relativität fortbestimmt werden konnte, besteht darin, daß dieser Begriff nun im Horizont der Beschreibung des Mittelpunkts des absoluten Wissens verortet werden kann. Der in § 5 exponierte Begriff des Absoluten erweist sich im Lichte der in § 15 entfalteten Methodenreflexion ebenso als bloßer Vorbegriff wie der der intellektuellen Anschauung als synthetischer Fünffachheit. Die Bestimmung des Absoluten aus der Mitte des absoluten Wissens heraus kann schon allein wegen des mit der Einnahme des Standpunkts der intellektuellen Anschauung verbundenen methodischen Umschlags nicht mit jenem propädeutischen Vorbegriff identisch sein. Im Unterschied freilich zum Begriff der intellektuellen Anschauung, wo der Vorbegriff durch den Wissenschaftslehrer aufgestellt wurde und die endgültige Bestimmung dann aus deren Binnenperspektive erfolgte, übernimmt im Falle des Begriffs des Absoluten nicht das Absolute selbst seine eigene gedankliche Rekonstruktion, sondern diese Aufgabe bleibt weiterhin dem Wissenschaftslehrer überlassen. Wohl aber muß der nun zu entfaltende Begriff des Absoluten im Unterschied zu seinem Vorbegriff als Moment der Selbstexplikation der intellektuellen Anschauung nachgewiesen werden.

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Theorie der Subjektivität

Die gegenüber der propädeutischen Einführung des Vorbegriffs sich ergebenden Merkmale des Begriffs des Absoluten sind folgende: 1. Das Absolute ist vom Mittelpunkt des Wissens her betrachtet Gegenglied der formalen Freiheit. Daß es konträres Korrelat der formalen Freiheit ist, besagt: das Daß-Sein des Wissens fällt allein dem unbedingten Sich-Setzen-als zu; ohne diesen spontanen Akt ist das Wissen nur mögliches Wissen. Als Gegenglied der formalen Freiheit ist das Absolute zugleich aber auch Moment am absoluten Wissen: Das Absolute steht immer in Beziehung auf ein mögliches Wissen, ist der innere Ermöglichungsgrund des absoluten Wissens. 2. Das Absolute ist als immanente Notwendigkeit der absoluten Reflexion das schlechthinnige An-sich-Gebundensein des Denkens. Nur vermittelst des Aktes der absoluten Reflexion kann das absolute Wissen sich von sich losreißen - um sich wieder zu ergreifen. Aber dieser Akt der absoluten Reflexion birgt in sich selbst eine innere Notwendigkeit. Das Absolute ist hinsichtlich der Selbstkonstruktion des Wissens unter der Form des Denkens das schlechthinnige An-sich-Gebundensein des Denkens. 3. Das Absolute ist als absolutes Gebundensein zugleich das Gefühl des absoluten Gebundenseins. Das Gefühl ist die Form des Wissens von Notwendigkeit, und zwar ein solches Wissen, worin Wissendes und Gewußtes konvergieren. Das Gefühl des absoluten Gebundenseins - und damit auch das absolute Gebundensein oder das Absolute selbst - ist als Gegenmoment der formalen Freiheit aber ein rein funktionales Moment des absoluten Wissens. 4. Abstrahiert von seiner funktionalen Eigenschaft, Ermöglichungsgrund der formalen Freiheit oder Notwendigkeitsmoment der absoluten Reflexion zu sein, ist das Absolute bloßes reines Sein, Sein schlechthin. Alles faktisch erzeugte Sein des Wissens ist vom Begriff des absoluten Seins fernzuhalten. 5. Das absolute Sein ist das absolut Eine. Diese Einheit ist keine numerische, sondern eine qualitative Einheit. Das Absolute ist das Eine im Sinne des sich selbst Gleichen, Unveränderlichen. An dieser Stelle ist ein Blick auf den weiteren Fortgang von Fichtes religionsphilosophischem Denken zu werfen. Eine der Korrekturen, die die Wissenschaftslehre von 1804 2 gegenüber der Darstellung von 1801/02 vorgenommen hat, betrifft die Bestimmung des Absoluten als des absoluten Seins. 9 Sie dient vor allem der Abwehr möglicher Mißverständnisse. Die Wissenschaftslehre von 1804 2 nimmt bekanntlich ihren Ausgang von einem Begriff des Absoluten als dem Punkt im Wissen, in dem abso9

Zu Fichtes Theorie des Absoluten in der W L 1804 2 vgl. H. RADERMACHER: Fichtes Begriff des Absoluten, 67-143.

Fichte: Absolutes Sein

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lute Einheit sich in Mannigfaltigkeit disjungiert und als Vernunft zugleich der Genesis dieses Vorgangs ansichtig wird. Auf der Grundlage dieses Normbegriffs des Absoluten durchläuft sie kritisch die erkenntnistheoretischen Grundstellungen von Idealismus und Realismus, höherem Idealismus und höherem Realismus. Dagegen erhebt sich nun Fichtes Kritik, die aber keineswegs von einer externen Position aus formuliert wird - wodurch sie von deren erkenntnistheoretischen Voraussetzungen abhängig wäre. Sie besteht vielmehr ausschließlich in der Analyse des Sinns des Ausdrucks "an sich sein". Seiner unmittelbaren Wortbedeutung nach bezeichnet er das Gegenteil des Für-Seins, sagt somit die Negation einer Relation aus. Wo immer von einem An-sich-Sein die Rede ist, wird offenkundig Relation gedacht, die aber zugleich negiert wird. Dies gilt unabhängig davon, wie dieses An-sich-Sein inhaltlich näher bestimmt wird. Wird nun der Begriff des Absoluten im Begriff des An-sich-Seins festgemacht, dann geht jene gedankliche Operation unweigerlich in ihn ein. Auch der so exponierte Begriff des Absoluten verdankt sich der konstruktiven Leistung des ihn konzipierenden Bewußtseins. Indem der höhere Realismus Relation und Negation denkt, sich darüber jedoch vergißt und ein vermeintlich bewußtseinsunabhängiges Ansich setzt, vollzieht er darum nach Auffassung Fichtes eine "proiectio per h i a t u m irrationalem". Der höhere Realismus ist nicht das, wofür er sich hält; er ist gerade kein reiner Realismus, sondern ein sich selbst in seiner Wurzel verborgener Idealismus. Sofern das An-sich Glied einer Relation ist, erfüllt sein Begriff darüber hinaus noch nicht einmal die Grundbedingung, die an jeden Begriff des Absoluten zu stellen ist, nämlich die Form der Einheit. Fichte selbst bestimmt den Begriff des absoluten Seins darum nicht als An-sich-Sein, sondern als In-sich-, Bei-sich-, Von-sich- und Durchsich-Sein. Alles Freiheitsleben gründet in diesem in sich geschlossenen, unmittelbaren Sein des Absoluten, dessen Erscheinung es ist. 1 0 Ein auf der Grundlage der Darstellung von 1801/02 sich möglicherweise noch einstellendes Mißverständnis des Ausdrucks "absolutes Sein" im Sinne von "An-sich-Sein" ist damit explizit ausgeschlossen. 6. Abschließend soll noch einmal von der "populärerefn] Untersuchung" die Rede sein, und zwar von ihrem religionsphilosophisch vermutlich bedeutsamsten Theorem. 10

Auf der Basis dieser Thesis hat Fichte dann seine späte Religionsphilosophie entfaltet, nämlich in der "Anweisung zum seligen Leben" von 1806. Damit hat er seine frühe an Kant anschließende Ethiko-Theologie konzeptionell endgültig hinter sich gelassen zugunsten des Ansatzes bei einem Begriff des Absoluten, wie er sich aus der internen Letztbegründungsproblematik des absoluten Wissens ergibt.

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Theorie der S u b j e k t i v i t ä t

N i m m t m a n die im M i t t e l p u n k t des absoluten Wissens z u t a g e tret e n d e U r s p r u n g s f u n k t i o n des absoluten Seins z u s a m m e n mit d e m M o m e n t der Selbstvernichtung der Freiheit an eben diesem Ursprung, so ergibt sich: Das Absolute ist G r u n d und Grenze des Für-sich-Seins des Wissens. Beide B e s t i m m u n g e n , G r u n d ebenso wie Grenze, sind aber keine "objektiven" D a t a des Bewußtseins, sondern B e s t i m m u n g e n der Innerlichkeit des Wissens. Innerlichkeit des Ursprungs meint: Sichdurchsichtigkeit des Gegründetseins des Wissens im Absoluten. Innerlichkeit der Grenze besagt: Das Wissen "findet in sich u n d d u r c h sich sein absolutes Ende u n d seine Begrenzung: - in sich u n d d u r c h sich, sage ich; es dringt wissend zu seinem absoluten Ursprünge (aus d e m Nichtwissen) vor, u n d k o m m t so durch sich selbst (d.i. in Folge seiner absoluten Durchsichtigkeit u n d Selbsterkenntniss) an sein Ende" (SW II, 63; Hhg.i.O.). In dieser Antinomie des Absoluten als G r u n d u n d Grenze des absoluten Wissens ist f ü r F i c h t e "der W i d e r s p r u c h in seine Spitze z u s a m m e n g e d r ä n g t " (77). Die innere Antinomie des Gottesgedankens im Horizont der Selbstexplikation der intellektuellen Anschauung b e s t e h t darin, daß das Absolute immer n u r als Wissensgrund und Wissensgrenze zugleich gewußt werden kann. Das absolute Wissen erfaßt sich hinsichtlich des Gegründetseins in seinem Ursprung, indem es sich an ihm vernichtet. Insofern ist das Absolute seine Grenze. Dieses E n d e des Für-sich-Seins ist aber kein von außen gesetztes Ende, sondern n u r die letzte Konsequenz der Selbstaufklärung des Wissens. I m Horizont eines Systems der Freiheit v e r m a g das Wissen an keiner anderen Stelle zu einer Grenze der Selbstgenetisierung zu gelangen als dort, wo es sich n a c h dem G r u n d seiner Selbsterzeugung durchdringt. Im Gewahrwerden der Grenze vollendet sich die Selbstreflexion der Freiheit. Die Wissenschaftslehre von 1801/02, mit der die ausgereifte Religionsphilosophie Fichtes a n h e b t , gipfelt somit in einem Begriff des Absoluten, welcher n u r in der Antinomie von G r u n d und Grenze gedacht werden kann. Mit dieser Fassung des Gottesgedankens zieht Fichte n u r m e h r die Konsequenz aus d e m T h e o r e m von der Selbstvernichtung der Freiheit a m Absoluten in der Selbstkonstruktion des absoluten Wissens d u r c h die intellektuelle A n s c h a u u n g .

Β. Hirschs Explikation des Glaubensbegriffs im Horizont der Philosophie Fichtes

1. D e r G l a u b e als Innerlichkeit Indem wir uns Hirschs Explikation des Glaubensbegriffs im Lichte seiner Fichte-Rezeption zuwenden, müssen wir uns zugleich mit einer gängig gewordenen Auffassung seiner Kritik der Philosophie des Deutschen Idealismus auseinandersetzen. Diese stützt sich nahezu ausschließlich auf die Vorlesungsreihe "Die idealistische Philosophie und das Christentum" aus dem Jahre 1923, die in leicht überarbeiteter Form dann in den gleichnamigen Aufsatzband von 1926 eingegangen ist. Jenem Deutungstyp 1 1 entnimmt man ein vorwiegend ablehnendes Verhältnis Hirschs zum Idealismus. Drei Thesen haben ihm zufolge als für Hirschs Position signifikant zu gelten. Hirsch konstatiert in der genannten Vorlesungsreihe erstens: "Alle Kritik ... läßt sich dahin zusammenfassen, daß das geheimnisvolle Verhältnis des Ich zum Du, in dem Persönlichkeit wie Gemeinschaft ihren Grund haben, unverstanden geblieben sei.... Die Philosophie der intellektualen Anschauung hat allein Sinn für das Verhältnis des Ich zum Gegenstande. Es hebt darum die Entgegensetzung von Ich und Du ihrem tieferen Ursprung zum Trotz ebenso in einer Synthese auf wie alle andern Gegensätze" (ICh 73f). Die zweite Feststellung Hirschs lautet: "Alles Gegenüber von Ich und Du unter Menschen ist nur ein Abglanz des Gegenüber im Verhältnis zu Gott. So vollendet sich mir der allgemeinste Gottesbegriff in dem Satze: als der Herr und Geist ist Gott zugleich der Du" (ICh 79). Und drittens geht es um die Behauptung Hirschs, es sei ein wesentlicher Mangel der Philosophie der intellektuellen Anschauung, daß sie "im Banne der erkenntnistheoretischen Fragestellung" (ICh 75) stehen geblieben sei. Aus diesen drei Thesen hat man nun gefolgert, Hirschs Kritik am Idealismus gründe in einer Ich-Du-Philosophie, diese bilde sodann 11

Et liegt in unterschiedlich stringent entfalteter Weise vor bei D. BONHOEFFER: Sanctorum Communio, 22f.31-33; E. HERMS: Die Umformungskrise der Neuzeit in der Sicht Emanuel Hirschs, 99-107; K. TANNER, a.a.O. 222-227. Vgl. dagegen M. WEINRICH: Der Wirklichkeit begegnen..., 265-331; Weinrich erblickt bei Hirsch eine an der idealistischen Philosophie orientierte individualistische Anthropologie.

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den eigentümlichen Ansatz seines Wirklichkeits- und Geschichtsverständnisses und stelle schließlich auch die Leitgesichtspunkte seines Gottesgedankens bereit. An allen drei Folgerungen aus den oben zitierten Aussagen Hirschs darf aber mit Fug und Recht Zweifel angemeldet werden. Zunächst verwundert die Beschränkung jener Deutungen auf die Vorlesungsreihe von 1923. In der Vorbemerkung zu diesem Text weist Hirsch ausdrücklich darauf hin, daß die darin gemachten Ausführungen "dem Zwecke der Einführung" dienten und sich an einen "weiteren Kreis" wendeten. "Nicht reine, sondern angewandte Wissenschaft stellen sie dar". Aber auch für sich selbst betont er: "mein letztes Wort als Gelehrter habe ich mit diesen Vorlesungen nicht aussprechen wollen. Ich vermag noch nicht einmal zu übersehen, wann ich soweit sein werde, mich an dies mein letztes Wort zu wagen" (IChr 36). Aus beiden Äußerungen der Vorbemerkung ist also der Schluß zu ziehen, erstens, daß die dort vorgetragenen Überlegungen sorgfältig daraufhin überprüft werden müssen, was an ihnen popularisierende Vergröberung ist und was zum harten Kern der Argumentation gehört, und zweitens, daß, was solchermaßen sich als theoretischer Gehalt der Kritik herausstellt, in den Gesamtzusammenhang von Hirschs Stellungnahmen zur Philosophie des Deutschen Idealismus eingeordnet werden muß. Wir beginnen aus darstellungstechnischen Gründen zweckmäßigerweise mit dem zweiten. Da es im vorliegenden Zusammenhang aber kaum möglich ist, Hirschs umfassende Untersuchungen zur gesamten idealistischen Philosophie in gleichem Maße zu würdigen, konzentrieren wir uns auf die Auseinandersetzung mit Fichte. Mit ihm hat Hirsch sich am ausführlichsten befaßt; dessen System der intellektuellen Anschauung steht im Vordergrund der fraglichen Idealismuskritik.

a) Der Hintergrund der Fichte-Kritik Hirschs erste wissenschaftliche Publikation zu Fichte und zum Deutschen Idealismus überhaupt ist die im Jahre 1913 vorgelegte Dissertation über "Die Religionsphilosophie Fichtes". Hirsch untersucht zunächst deren Entstehungsbedingungen in der Zeit von Fichtes Kantischer Periode bis zum Atheismusstreit und entfaltet sodann ihre systematische Ausarbeitung vor dem gedanklichen Hintergrund sowohl der Wissenschaftslehren wie der praktisch-philosophischen Entwürfe und populären Gelegenheitsschriften der Berliner Zeit. Hirschs Studie stellt sich ganz in den Dienst der Sache und will ausschließlich dem Verständnis Fichtes dienen. Erst auf der allerletzten Seite erlaubt sich Hirsch eine explizite Kritik, die - bei aller Bewunderung von Fichtes konstruktiver Kraft - dezidierte Vorbehalte anmeldet. Sein Haupt-

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einwand lautet folgendermaßen: "Die Spekulation Fichtes trägt in der Zeit ihrer Vollendung einen merkwürdigen Zwiespalt in sich. Die Selbständigkeit des Ich, wie sie in der sittlichen Überzeugung dem Ich durch das Ich selber verbürgt ist, ist der Ausgangspunkt, die Erkenntnis, daß das Ich gerade in dieser seiner Selbständigkeit nichts sei als unselbständige Teilerscheinung des Absoluten, ist der Endpunkt und Gipfelpunkt der Philosophie. Und das ist nun nicht nur eine scharf zugespitzte Paradoxie, das ist der vollendete Selbstwiderspruch. Denn: nur der ist wahrhaft Persönlichkeit und wahrhaft selbständig, der sich als Persönlichkeit weiß auch gegenüber Gott.... So gewiß unser persönliches Leben nur soweit Gehalt und Tiefe hat, als unser Wille aufgegangen ist in den Willen Gottes, so gewiß können wir doch persönliches Leben nur dann haben, wenn wir auch in unserem religiösen Verhältnis uns wissen und betätigen dürfen als selbständige Person" ( F R 132; Hhg.i.O.). Genau jener Widerspruch bedarf für Hirsch der "dialektische[n] Auflösung" ( F R 131). Uns interessiert im vorliegenden Zusammenhang weniger Fichte selbst, als vielmehr Hirschs Stellungnahme zu dem von ihm konstatierten Widerspruch. Hirsch bietet an jener Stelle noch keinen Lösungsvorschlag, sondern betont ausdrücklich, daß dies in einem Schlußwort nicht zu leisten sei (vgl. F R 131). Immerhin deutet er an, wo und in welcher Weise seiner Meinung nach eine Korrektur Fichtes anzusetzen habe, nämlich in Gestalt einer Konzeption des Gottesverhältnisses, derzufolge Persönlichkeit oder Subjektivität als so durch Gott Konstituierte zu denken sei, daß in dieser Beziehung ebensowohl das Einssein mit Gott als auch das ihm selbständig Gegenüberstehen enthalten sind - wobei der Akzent ganz offenkundig auf der Denkbarkeit dieses Gegenüberstehens und speziell seiner Konstitutionsbedeutung für die Subjektivität liegt. Ein Stück weiter in der Auflösung des Fichteschen "Widerspruchs" führt uns Hirschs Briefwechsel mit Tillich aus der Zeit von Dezember 1917 bis Juli 1918. Hirsch versucht darin, den Ansatz einer eigenständigen Religionsphilosophie auf dem Boden des reformatorischen Rechtfertigungsglaubens zu entwickeln. 1 2 W i r brauchen hier nicht den Entwurf als ganzen zu verfolgen, sondern können uns auf dessen Voraussetzungen beschränken. Hirsch führt dazu aus: "Die Rechtfertigung ist eine Tat göttlichen Willens, und Gott vollzieht sie dadurch, daß er uns sich offenbart.... Von Gott gesetzt sich wissen, d.h. freilich sich als Creatur wissen, als Relatives sich ansehen müssen. Aber Gott wissen, das heißt in den eigenen relativen Lebensgrund das Absolute empfangen haben. Gott sagt ' J a ' zu uns, aus freiem E r b a r m e n " ( B r 34f). Darin ist für Hirsch dreierlei enthalten: Erstens, der Rechtfertigungsglaube veranschaulicht in exemplarischer Weise den formellen Wider12

Vgl. dazu H.-W. SCHÜTTE: Subjektivität und System.

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spruch, den jedes Gottesverhältnis enthält, sofern in ihm sich ein Relat einem anderen Relat als Selbständiges strukturell entgegensetzt, obwohl es weiß, daß es durch dieses vollständig bedingt ist. "Dieser Widerspruch ist j a charakteristisch für alles fromme Leben. Ich stelle mich Gott gegenüber, ich handle mit ihm, ich denke ihn.... Die schärfste Zuspitzung des Widerspruchs ist die Rechtfertigung" (Br 15). Zweitens, der Rechtfertigungslaube ist die erfüllte Möglichkeit des Bewußtseins Gottes als eines Anderen, sofern die sich Gott als selbständig gegenüberstellende Instanz durch den Widerspruch des Gottesverhältnisses nicht vernichtet, sondern gerechtfertigt, d.h. dialektisch bestätigt wird. Wenn dem menschlichen Geist die Gewißheit Gottes als "des 'Andern' gegenwärtig wird, er an dem Gedanken des Andern zu vergehen droht und infolgedessen an seiner Gewißheit des Andern wieder irre werden möchte, ohne daß er doch von dem ihm sich Bezeugenden loskommen könnte, - so hilft ihm nur eins: Er sieht eben darin, daß das Andere sich ihm offenbart, seine Rechtfertigung. Gott zerbricht ihn nicht.... Er bestätigt uns in dem, was die Wurzel unseres Lebens ist" (Br 35). So enthüllt gerade der Rechtfertigungsglaube die in sich widersprüchliche Beziehung auf Gott als ein "dialektische[s] Verhältnis" (ebd.). Damit ist drittens zugleich angedeutet, wie diese im Rechtfertigungsglauben empfangene Gewißheit Gottes als des Anderen formell zu denken ist. "Gott gewinnt auf diese Weise ... nicht die Art eines Begriffes. Wir haben ein außerreligiöses Analogon, das das deutlich macht, das ist die intuitive Erfassung einer andern Persönlichkeit" (Br 18). Gottes als des Anderen inne zu werden, ist dem vergleichbar, wenn "sich unserem Verständnis ein anderer Mensch erschließt" (ebd.). Dieser dritte Aspekt besagt, daß sich Hirsch der Interpersonalitätsrelation bedient, u m auf dem Wege einer Analogie die Gewißheit Gottes als des Anderen von jedweder begrifflich-erkennenden Bezugnahme auf Anderes zu unterscheiden, nicht etwa u m eine allgemeine Ich-Du-Metaphysik zu etablieren. Alle drei Momente des Gottesverhältnisses, die Hirsch im frühen Briefwechsel mit Tillich zur Geltung gebracht hat, die Widersprüchlichkeit der Relation als solcher, das dialektische Bestätigtwerden des Bedingten durch das Bedingende und die formelle Analogie mit dem Interpersonalitätsbewußtsein finden in dem 1922/23 erstmals erschienenen Aufsatz über "Das Gericht Gottes" ihre vorläufig abschließende Klärung. 1 3 Hirsch setzt ein mit einer Wesensbestimmung des christlichen Gottesverhältnisses, die offenbar genau den Begriff dessen enthält, wovon Hirsch sich in der Dissertation eine Auflösung des bei Fichte konstatierten Widerspruchs versprochen hatte. "Die Eigenart der christlichen Religion, so wie wir sie durch die Re13

Über die Bedeutung dieses Aufsatzes für die weitere Entwicklung von Hirschs Theologie vgl. SchS, S. V.

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formation neu verstehen gelernt haben, ist es ..., daß sie den Menschen die schlechthinnige Bedingtheit durch Gott erfahren läßt im Gegenüber eines persönlichen Verhältnisses" (SchS 103). Diese schlechthinnige Bedingtheit bedeutet die Unmöglichkeit einer echten Beziehung zwischen gleichwertigen Relaten. "Zwischen Schöpfer und Geschöpf, Allbedingendem und Ganzbedingtem, ist das lebendige Hin und Her eines persönlichen Verhältnisses nicht möglich" (ebd.). Gleichwohl kommt es im Geschuldigt- und Begnadetwerden des Rechtfertigungsglaubens zur Erfahrung eines wirklichen Gegenübers zwischen Gott und Mensch. Die Reformation hat diese Beziehung auf den Begriff des "coram Deo" gebracht. Hirsch interpretiert sie mit Hilfe der Interpersonalitätsrelation. "Wenn ... Gott mich durch sein Du zum Ich macht, so entsteht ein Wechselverhältnis. Es ist uns nicht seltsam, daß beide, Gott und der Mensch, 'Ich' von sich selber, 'Du' zum andern sagen" (SchS 103f). Auch hier sehen wir, daß die Verwendung der Kategorie der Intersubjektivität nicht der Grundlegung eines am Ich-Du-Schema orientierten Wirklichkeitsverständnisses dient, sondern vielmehr der Bezeichnung eines strukturellen Momentes am Gottes Verhältnis, nämlich des der Wechselbestimmung zweier Relate, zwischen denen es unter dem Aspekt ihrer Substantialität eigentlich keine Wechselbestimmung geben kann. Dieses Zugleich von Unmöglichkeit eines Gegenübers und tatsächlichem Stehen in einem Gegenüber macht für Hirsch "die Antinomie der persönlichen Religion" (SchS 104) aus. In diesem Begriff der Antinomie der persönlichen Religion hat das in der Dissertation anvisierte "religiöse Verhältnis" bzw. das im Brief an Tillich statuierte "dialektische Verhältnis" seine für Hirsch grundlegend gebliebene Präzisierung empfangen. 1 4 Die Ich-Du-Relation zwischen G o t t und Mensch repräsentiert - wohlbemerkt - nicht die vollständige Beziehung, sondern nur das eine Moment derselben, nämlich die Wechselbestimmtheit. Berücksichtigt man darüber hinaus deren lediglich explikative Verwendung, so wird man ihren begrifflichen Gehalt als den einer analogen Bestimmung zu bezeichnen haben. Noch ein weiterer, neuer Aspekt des als Interpersonalitätsbeziehung umschriebenen Gottesverhältnisses wird in dem Aufsatz von 1923 zur Geltung gebracht. Hirsch hebt an dieser Stelle hervor: "gerade Gottes Anrede zwingt mich, mein vielfältig in die Umwelt hinein verzweigtes Leben unter der geschlossenen Einheit eines Gott verantwortlichen Ich zusammenzufassen" (SchS 103). Das aber besagt: Allein das im Gottesverhältnis gewährte Sich-Gott-gegenüber-Wissen bewegt den Menschen dazu, die Mannigfaltigkeit seiner Bewußtseinsvollzüge miteinander zu vereinigen, sie 14

Der Antinomiegedanke findet sich andeutungsweise auch bereits in der 1921 erschienenen Erstauflage der Schrift "Der Sinn des Gebetes", ist hier allerdings ganz eingebettet in die psychologische Analyse religiöser Erfahrung (vgl. a.a.O. lOf).

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also nicht bloß zu einem Aggregat oder Bündel faktisch zu kolligieren, sondern in einem in sich einigen reflektierten Selbstverhältnis verbunden zu wissen. So ist das Gottesverhältnis nicht nur Darstellungsort, sondern auch Ursprung von Ichheit. Zu einem "persönlichen Ich" werden wir, wenn und nur wenn wir uns als ein "Ich vor Gott" (SchS 129 Anm. 14) finden. Von daher bestimmt sich für Hirsch auch der "Unterschied zwischen dem erkenntnis-theoretischen Ich und dem persönlichen Ich" (ebd.). Beide stellen keine gleichrangigen Pole mit jeweils voneinander unabhängigen Bewußtseinshemisphären dar, sondern das persönliche Ich als das im Gottesverhältnis gewährte Ich vor Gott ist die Konstitutionsbasis von Ichheit überhaupt, demgegenüber das erkenntnistheoretische Ich als lediglich hinsichtlich seiner kognitiven Aktivität selbstbezüglich strukturierter Ursprung von Gegenstandsbewußtsein (im weitesten Sinne) zu stehen kommt. Der Vorrang des persönlichen Ich vor dem erkenntnistheoretischen Ich resultiert also daraus, daß sich Ichheit ihrer wahren Bestimmtheit nach allein im Gottes Verhältnis aufbaut, und zwar in Form des Sichvor-Gott-als-Einheit-Wissens. "Das ist die tiefste, die einzige stichhaltige Begründung meines Ichbewußtseins, daß Gott Du zu mir sagt; wäre das nicht, es wäre wahrlich viel vernünftiger, meine Seele als Komplex verschiedener Funktionen eines allgemeinen Lebens anzusehen" (SchS 103). Stellt man in Rechnung, daß in Fichtes System der intellektuellen Anschauung das in sich reflektierte Für-sich-Sein des Wissens den Ursprung und Inbegriff von Ichheit bildet, so zeichnet sich bereits auf der Grundlage des Aufsatzes von 1922/23 Hirschs Kritik am Idealismus ab: Nicht in der Selbstanschauung des Wissens, sondern im gelebten Gottesverhältnis des Glaubens konstituiert sich Ichheit. Dies ist der eigentliche Kern von Hirschs Fichte-Kritik. 1 5 In der ersten Hälfte der 20er Jahre hat Hirsch Fichte noch einmal durchgearbeitet mit dem Ziel einer Neufassung der Dissertation. 1 6 Er liest Fichte nun auch unter dem Blickwinkel der mit dem Gedanken der Konstitution menschlicher Icherfahrung im Ich-Du-Verhältnis zu Gott zusammenhängenden Frage der theoretischen Deutung des innermenschlichen Ich-Du-Verhältnisses. Dabei stößt er bei Fichte auf folgenden Satz: "Die Ichheit... wird ursprünglich dem Es, der blossen Objectivität, entgegengesetzt... . Auf etwas, das in diesem ersten Setzen als ein Es, als blosses Object, als etwas ausser uns gesetzt worden, wird der in uns selbst gewordene Begriff der Ichheit übertragen, und damit synthetisch verei15

16

Vgl. ZPE 54f: "Wir sind überhaupt nur soweit Person als eine Anrede Gottes an uns ergeht. Ich würde hier meinen stärksten Gegensatz gegen Fichte sehen. Ich erkenne kein autogenes Ichbewußtsein der Menschen an." Vgl. ICh 140, Vorbemerkung.

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nigt; und durch diese bedingte Synthesis erst entsteht uns ein Du. Der Begriff des Du entsteht aus der Vereinigung des Es und des Ich" (SW I, 502). Diese Aussage Fichtes findet sich in der "Zweite[n] Einleitung" zur Wissenschaftslehre aus dem Jahre 1797. Aufschlußreich ist ihr näherer Kontext. Fichte n i m m t mit seiner Äußerung nämlich bereits Bezug auf einen unmittelbar zuvor referierten Einwand gegen ihn, den er nur aufgreift, u m ihn sogleich zu widerlegen. " 'Wir für unsere Person können uns unter dem Begriffe des Ich nichts denken als unsere liebe Person, im Gegensatze mit anderen Personen,' - beichten andere Gegner der Wissenschaftslehre. - 'Ich bedeutet meine bestimmte Person, wie ich nun eben heisse, Cajus oder Sempronius, im Gegensatze mit allen anderen, die so nicht heissen ...'. Was will dieser mit so viel Keckheit vorgebrachte Einwand eigentlich sagen?" (SW I, 501). Und dann gibt Fichte jene gerade zitierte Erklärung des Du als einer durch Übertragung zustande gekommenen Vereinigung von Ich und Es. Das Interessante ist nun, daß Hirsch genau diese synthetische Erklärung des Du, die Fichte gegen eine das Ichbewußtsein aus der Interpersonalitätserfahrung ableitende Gegenposition vorbringt, als die Stelle bezeichnet, "an der sich meine grundsätzliche Kritik an Fichte entzündet h a t " (ICh 241 Anm. 1). Fichtes Deutung des menschlichen Ich-Du-Verhältnisses leuchtet Hirsch nicht ein. Für den vorliegenden Zusammenhang ist aber vor allem dies wichtig: Man braucht Hirsch keine theoretischen Sympathien zu den in den 20er Jahren in Hochkonjunktur befindlichen Ich-DuPhilosophien 1 7 zu unterstellen, 1 8 wenn man seine Gegenposition zu Fichte erklären will, weder was - wie gezeigt - die Konstitution von Ichheit überhaupt betrifft, noch was die Deutung des menschlichen Ich-Du-Verhältnisses anbelangt. Fichtes Referat des gegen ihn erhobenen Einwandes enthält bereits exakt diejenige Ansicht, die Hirsch hinsichtlich des Ursprungs, Ortes und Horizontes des empirischen Ichbewußtseins zeitlebens vertreten hat. So wird es dann später in der "Christlichen Rechenschaft" heißen: "Wer 'ich' sagt, stellt sich einem andern Menschen gegenüber .... Das Ichbewußtsein gehört der Sphäre der Gemeinschaft an" ( C h R I, 284). Fassen wir das bislang Erreichte zusammen, dann besteht es wesentlich in zwei Thesen: 1. Hirsch hält Fichtes Zuordnung von Ich und Absolut e m für falsch; sie muß dahingehend revidiert werden, daß ausschließlich das Gottesverhältnis die Ichheit des Menschen konstituiert, und zwar insbesondere was dessen Selbständigkeit gegenüber Gott betrifft. 2. Hirsch hält Fichtes Deutung des menschlichen Ich-Du-Verhältnisses für falsch; sie 17

18

Hinzuzunehmen wäre noch der "Tuismus" L. FEUERBACHS, dessen "Grundsätze der Philosophie der Zukunft" (vgl. darin §32) 1922 in der Ausgabe von H. Ehrenberg erschienen sind. Vgl. auch Hirschs wenig schmeichelhaftes Urteil über F. Ebner (ICh 116 Anm. 2).

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m u ß dahingehend revidiert werden, daß die Intersubjektivitätsbeziehung den Ursprung, Ort und Horizont des empirischen Ichbewußtseins bildet. Die Entdeckung des in These 1 festgehaltenen Sachverhaltes ist gegenüber der von These 2 die frühere.

b) Das Defizit des Systems der intellektuellen Anschauung Wenden wir uns nun der Vorlesungsreihe von 1923 zu, und zwar insbesondere der dritten Vorlesung, welche die in Diskussion befindliche "Kritische Selbstbesinnung gegenüber der idealistischen Grundeinsicht" (ICh 66) enthält. Im Vordergrund stehen für uns diejenigen Ausführungen, in denen Hirsch seine prinzipiellen Vorbehalte gegenüber der Philosophie des Deutschen Idealismus am Beispiel Fichtes exemplifiziert (vgl. ICh 74-76). Hirsch leitet die einschlägige Passage so ein: "Die in den beiden nächsten Absätzen enthaltenen Gedanken stellen eine gegenüber dem in meinen Fichtebüchern Ausgeführten neue Erkenntnis dar" (ICh 74 Anm. 1). Im ersten Abschnitt führt Hirsch mit Bezug auf Fichte aus: "Er hat mit der Frage des Verhältnisses zum Du gerungen .... Gerade bei Fichte wird d a r u m verzweifelt deutlich, daß diese Frage eine Verlegenheit, ein Ort der Widersprüche ist in einer vom erkenntnistheoretischen Ich her aufgebauten Philosophie" (ICh 74). Die verfehlte Deutung des Interpersonalitätsverhältnisses ist - nach Meinung Hirschs - somit als eine Konsequenz der primordialen Stellung des erkenntnistheoretischen Ich aufzufassen. Diese Beurteilung wird nun im folgenden Abschnitt näher erläutert: "Fichte hat zu der Selbstbesinnung, in der die intellektuale Anschauung sich erzeugt, angeleitet mit der Aufforderung, von allem zu abstrahieren, wovon m a n abstrahieren kann, und zuzusehen, was dann übrig bleibe.... Der wirkliche Fehler Fichtes ist in dem Haftenbleiben in der Erkenntnistheorie gegeben, in dem Wahn, als ob im Akt des Abstrahierens eben das lebendig sei, was das Ich zum Ich mache.... ich komme bei diesem Akte nur an die Pforte meines Ich, ich verstehe mich in ihm noch nicht nach meiner Grundlebendigkeit" (ICh 75). Die wahre Grenze von Fichtes erkenntnistheoretischer Bestimmung der Ichheit besteht für Hirsch demnach nicht darin, daß sie das Wesen des empirischen Ich-Du-Verhältnisses verzerrt dies ist lediglich ein Folgeproblem - , sondern in erster Linie darin, daß sie von einer verfehlten Bestimmung der die Ichheit des Menschen konstituierenden Grundlebendigkeit ausgeht. Genau diesem P u n k t gilt Hirschs letzte Kritik an Fichtes System der intellektuellen Anschauung: "das ist die Frage - die einzige Frage, die gegenüber der Grundeinsicht des Idealismus m.E. s t a t t h a f t ist - ob die intellektuale Anschauung wirklich das Tiefste, das, daraus alles andre quillt, in uns erschließe" (ICh 67).

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Basis der Kritik Hirschs ist die Überzeugung, daß jene die Form der Ichheit konstituierende Grundlebendigkeit des Menschen nirgendwo anders aufbricht als in dessen unmittelbarem Gottesverhältnis selbst: "persönliches Leben ... hat seinen letzten Ursprung in der Begegnung mit Gott im Gewissen, aus der der Glaube geboren wird" (ICh 80). Dem "Idealismus im strengen Sinne" hingegen gilt stattdessen "der in der intellektualen Anschauung u m sein tiefstes Wesen wissende Geist als das alles Übrige Bedingende, als das in Wahrheit Lebendige" (ICh 67). Genau diese Differenz bezüglich der Bestimmtheit des letzten Ursprungs von Subjektivität verleiht Hirschs kritischer Verhältnisbestimmung von Christentum und Idealismus ihr prinzipielles Gewicht. "In der Grundeinsicht, die wir hier der intellektualen Anschauung entgegengestellt haben, ist ... der Glaube der tiefste und eigentümlichste Akt unsers Geistes geworden, und die intellektuale Anschauung muß es sich gefallen lassen, an ihm gemessen zu werden" (ICh 82). Alle diejenigen, die Hirsch eine positive Ich-Du-Philosophie unterstellen, haben übersehen, daß die gesamten hier einschlägigen Argumente Hirschs gegen eine idealistische Fehldeutung von Persönlichkeit und Gemeinschaft nur als Exemplifizierung einer weit tiefer reichenden Kritik verstanden sein wollen. Hirsch leitet die diesbezüglichen Ausführungen ausdrücklich ein mit den Worten: "Ich mache das [seil, das grundsätzliche Defizit der idealistischen Philosophie] anschaulich an zwei Begriffen, Persönlichkeit und Gemeinschaft" (ICh 69). Und es handelt sich bei diesen Anwendungsfällen der Idealismuskritik noch nicht einmal u m die inhaltlich gravierendsten. Das letztlich entscheidende Problem ist für Hirsch die Stellung des Gottesgedankens und die damit korrespondierende Bestimmung des Wesens der Frömmigkeit. Die Philosophie der intellektuellen Anschauung macht den Gottesgedanken zum Moment der intellektuellen Anschauung. So wird der Gottesgedanke zu einem bloßen Epiphänomen des Wissens. In strenger Korrespondenz dazu läßt sie die Frömmigkeit epigenetisch als Teilansicht oder untergeordnete Bewußtseinsstufe aus dem System hervorgehen (vgl. ICh 50f). Hirsch sieht das Verhältnis gerade umgekehrt: "Eine Gottesanschauung und eine Frömmigkeit, die nicht in den tiefsten Grund des Lebens hinabreichen, wären ein Selbstwiderspruch" (ICh 76). Nimmt man das bisher Ausgeführte zusammen, so wird m a n sagen müssen: Hirschs Kritik am Deutschen Idealismus fußt in gar keiner Weise in irgendeiner Ich-Du-Metaphysik als tragendem Grund seines Wirklichkeits- und Geschichtsverständnisses, sondern vielmehr darin, daß er der intellektuellen Anschauung die Funktion einer letzten, sämtliche Formen des Bewußtseins und insbesondere Ichheit konstituierenden Grundleben-

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digkeit abspricht. Letztere hat ihren Sitz vielmehr im unmittelbaren Gottesverhältnis des Glaubens. Auch wird m a n nicht behaupten können, daß das Ich-Du-Schema den bestimmenden Leitgesichtspunkt von Hirschs Gotteslehre abgebe. Schauen wir uns genauer an, wie Hirsch das Gottesverhältnis des Glaubens des Näheren beschreibt: "Ich könnte ganz einfach sagen, daß ich das Hören der Rede Gottes im Herzen meine. Indem Gott uns anredet, macht er sich uns z u m Du und nimmt uns in seinen Geist hinein. Aber der Ausdruck ist mir noch zu unbestimmt, zu gefühlsmäßig; er kann nur zu leicht enthusiastisch mißdeutet werden; und damit wäre auch die Grenze zur idealistischen Frömmigkeit hin wieder unscharf geworden" (ICh 80). Worin besteht aber die begriffliche Unschärfe des Ich-Du-Modells? Hirsch erblickt sie in folgendem: "Gott wird uns nicht so zum Du, daß er aufhörte, der Herr und Geist zu sein; dann wäre er ja seiner Gottheit entkleidet und rein Glied eines Wechselverhältnisses geworden. Den Herrn und Geist als den Du denken, das ist aber ein unvollziehbarer Gedanke" (ICh 79f). Denn die Polarität von Herr und Geist repräsentiert genau den "antinomischen Charakter" (ICh 80) des Gottesverhältnisses, wie er bereits in dem Aufsatz "Das Gericht Gottes" von 1922/23 unter dem Begriff der Antinomie der persönlichen Religion erörtert wurde. Deshalb muß Hirsch von der Gottesbeziehung als ganzer sagen: "Innerhalb dieser Begegnung macht sich mir Gott zum Du, auf daß ich an ihm und ihm gegenüber z u m Ich werde. Und zugleich erweist er sich doch in ihr als der Herr und Geist" (ICh 80). Die Interpersonalitätsbeziehung bildet sonach eine Analogie allein für das Gegenüberstehen von Gott und Mensch, also für das Wechselbestimmungsverhältnis. Letzteres wird aber überlagert von der Antinomie des Geist- und Herrseins Gottes. Alle Interpreten, die Hirsch eine kategorial an der Ich-Du-Relation orientierte Gottesvorstellung unterstellen, übersehen, daß die eigentliche Pointe seines Gottesgedankens gerade in der Aufhebung dieser Relation durch die Struktur der Antinomie liegt. Die Beziehung zu Gott, diejenige Grundlebendigkeit des Menschen, die seine Ichheit konstituiert, trägt notwendig antinomischen Charakter. "Sie kann kein ruhendes Sichversenken in die stille klare Einheit eines geschlossenen Erlebnisses sein" (ICh 80). Jene Antinomie kommt aber gerade nicht in der Relation Geist/Geist zum Tragen, sondern in der Relation Herr/Geist: Als Geist bin ich Gott verwandt und er mir, als Herr ist er der ganz Andre, nämlich der allein Bedingende, ich das ausschließlich Bedingte. Eben aus dieser Antinomie empfängt das Gottesverhältnis seine wurzelhafte Unruhe. Nicht das IchDu-Verhältnis zwischen Geist und Geist, sondern die antinomisch verfaßte "Erfahrung des Herrn und Geistes" (ICh 79) bildet d a r u m "den absoluten

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Grund unsers Daseins" (ICh 78), "die Wahrheit des persönlichen Lebens" (ICh 79). Daß Hirsch mit seiner Vorlesungsreihe über "Die idealistische Philosophie und das Christentum" aus dem Jahre 1923 alles andere als die Ersetzung des Systems der intellektuellen Anschauung durch eine Ich-DuPhilosophie oder einen vom Ich-Du-Schema bestimmten Gottesbegriff im Auge hatte, zeigt sehr schön der Rückblick, der sich in den 1963 erschienenen "Hauptfragen christlicher Religionsphilosophie" findet. Im fünften dieser religionsphilosophischen "Briefe", der dem T h e m a "Gottes Einheit, Allheit und Lebendigkeit" (HchR 48-62) gewidmet ist, sagt Hirsch: "Ich habe im J a h r e 1923 die damals seltsam viel Glück habende Formel gebraucht, daß im christlichen Sichbegegnen von Gott und Mensch der ewige unendliche Herr und Geist sich dem Herzen zu einem Du mache und damit das Herz zu einem Du erschaffe. Diese Formel h a t t e mir zur Unterscheidung der personhaften christlichen Frömmigkeit von solchen Gestaltungen der Religion dienen sollen, welche ein geisthaftes, genauer ein gedankliches oder mystisches Innewerden Gottes als des höchsten Seins oder höchsten Denkens für die allein der Wahrheit gemäße Art der Gottesbegegnung halten. Der schlagwortartige kurze Ausdruck dafür war mir, daß zwischen Mensch und Gott im christlichen Glauben ein Ich-Du-Verhältnis bestehe. Ich wurde dann rasch gewahr, daß dieser Ausdruck von theologischen Naivlingen zur Rechtfertigung einer mythologischen Metaphysik von einem personartigen unsichtbaren Einzelwesen namens Gott ... mißbraucht wurde. Seitdem habe ich für die von mir gemeinte, mir unaufgebliche Wahrheit andre, weniger leicht mißdeutbare Ausdrücke bevorzugt" (HchR 58). Im Anschluß an diesen Rückblick erläutert Hirsch, worum es ihm damals gegangen sei und worin der trotz des Wechsels der Formulierungen gleichbleibende substantielle Gehalt seiner Auffassung bestehe. Luthers Erklärung des 1. Artikels im Kleinen Katechismus aufgreifend führt Hirsch näher aus: "Nach dem christlichen Verständnis des Gottes Verhältnisses sollen wir Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen. Das heißt doch nichts anderes, als daß wir im Gottesverhältnis uns gerufen finden, als eine lebendige Person in einem unser ganzes inneres Leben zusammenfassenden Akt uns Gott als einem sich unser annehmenden überpersönlichen Willen zu übergeben.... Er ist als der Lebendige der uns in der Gemeinschaft mit sich zu Personen Erschaffende. Indem er so uns sich naht, wird er uns Person und wir ihm, und damit sind wir überhaupt, erst Person im wahren Sinne geworden" (HchR 59). Das Gottesverhältnis ist der Ursprungsort von Subjektivitätserfahrung. Aber nur vermöge seiner antinomischen Verfaßtheit eignet ihm diese Funktion. "Es kommt darauf an, daß wir diese in sich antinomische Verschmelzung von Gott Erleiden und

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in Gott frei Sein als den höchsten und tiefsten Lebensakt empfinden Diesem Entscheidenden gegenüber sind alle andern Lebensakte die bedingten, von ihm getragenen, weniger lebendigen Regungen unsers Lebens" (ebd.). Die durch Gottes Selbstmitteilung erzeugte und in ihr gewährte Widerspruchseinheit des Glaubens ist der letzte Grund von Subjektivität.

c) Die theologische Relevanz der idealistischen Philosophie Hirschs Auseinandersetzung mit der Philosophie des Deutschen Idealismus - exemplarisch durchgeführt an Fichte - erweist sich als von hoher Geschlossenheit und prinzipientheoretischer Strenge. Nicht das Sich-Wissen des Wissens in der intellektuellen Anschauung, sondern das antinomisch verfaßte Gottesverhältnis des Glaubens repräsentiert die alle Funktionen des Ichs konstituierende Grundlebendigkeit des Menschen. Hirschs Kritik an der Philosophie der intellektuellen Anschauung gilt also nicht diesem Denken pauschal, sondern primär der Funktionalisierung des Gottesverhältnisses zu einem Moment am absoluten Wissen bzw. der Verlagerung der Grundlebendigkeit des Menschen aus dessen Gottesverhältnis in die Selbstbezüglichkeit des Wissens. Dieser Ansatzpunkt der Kritik schließt es deshalb umgekehrt für Hirsch in gar keiner Weise aus, von den im Begriff der intellektuellen Anschauung festgehaltenen Grundeinsichten in das Wesen der Subjektivität auch theologischen Gebrauch zu machen. Nachdrücklich betont er: "Ich möchte ... mit der Kritik, die ich am Idealismus übe, keineswegs der heute verbreiteten Stimmung recht geben, die den Idealismus zum Kinder- und Theologenschreck machen möchte" (ICh 67 Anm. I). 1 9 Mit seinem Standpunkt einer kritischen Rezeption der idealistischen Philosophie wußte sich Hirsch tief geschieden vom totalen Idealismus-Verdikt der frühen Dialektischen Theologie. "Ich vermisse in manchen theologischen Äußerungen über den Idealismus eine Spur des Empfindens, daß wir es in ihm mit einer Philosophie zu tun haben, die der Eigenart des Christentums, die Religion der Innerlichkeit zu sein, so wahlverwandt ist wie keine der sonst vorhandenen" (ICh 67). 20 19 20

Ähnlich lautet es später im Dogmatikkolleg: "dieser theologische Kinderkreuzzug hat das Denken nur in die Sklaverei ... des Nihilismus geführt" (ChR I, 169). Unbeschadet aller reformatorisch-theologischen Überbietungsanstrengungen bleibt der transzendentale Idealismus für Hirsch "die tiefste, die reichste, die dem Christentum nächste Philosophie" (ICh 115). Mit dieser These von der "Wahlverwandtschaft" (ICh 90. 105) zwischen Christentum und Idealismus steht Hirsch in der Kontinutät zu B. TROELTSCH. In dessen frühen Bonner Vorträgen heißt es: "Aber das freilich muß hervorgehoben werden, daß die idealistische Metaphysik

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Mit dem letzten Zitat ist zugleich das Stichwort genannt, welches die Wahlverwandtschaft von Christentum und idealistischer Philosophie für Hirsch a m präzisesten faßt: der Begriff der Innerlichkeit. Wenn Hirsch diesen Begriff von ihr als für die Beschreibung christlich-theologischer Sachverhalte unentbehrlich übernimmt, dann sind sogleich einige vorläufige Abgrenzungen angebracht: 1. Das "Innerliche" ist nicht das geometrisch Konträre z u m räumlich-Äußeren. 2. Das "Innerliche" ist nicht das metaphysisch Konträre z u m leiblich-Sinnlichen. 3. Das "Innerliche" ist nicht das soziologisch Konträre zum gesellschaftlich-Öffentlichen. Innerlichkeit im Sinne der von Hirsch rezipierten idealistischen Philosophie ist vielmehr ein Moment der Wissensstruktur, nämlich die formale Beschaffenheit alles Gewußten, bestimmter Wissensgehalt immer nur für einen und an einem Wissensvollzug zu sein. Innerlichkeit besagt sonach, daß in allen Formen der Gewißheit von Gültigkeit ein Selbstverhältnis der solcher Gewißheit zugrundeliegenden epistemischen Aktivität enthalten ist. Die besondere Stellung, die Fichte nicht nur im Ganzen der Philosophiegeschichte, sondern auch innerhalb des Deutschen Idealismus einn i m m t , hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß er in allen Abschnitten seines Denkweges wie kaum ein anderer damit gerungen hat, diese strukturelle Innerlichkeit des Wissens auf den Begriff zu bringen und im Hinblick auf das Gesamtsystem der Philosophie zu bewähren. Die Begriffe des Ich (1794), des Absoluten Wissens (1801/02) oder der Vernunft (1804 2 ) dienten ihm dabei nur als wechselnde Erläuterungsebenen ein und derselben Fragestellung. Es ist letztlich diese gedankliche Leistung der begrifflichen Entfaltung dessen, was "Innerlichkeit" bedeutet, weshalb Hirsch sich der Philosophie des Deutschen Idealismus, insbesondere derjenigen Fichtes, dauerhaft verpflichtet wußte. Das ist für ihn "das Große des idealistischen Ausgangs von der intellektualen Anschauung ..., das keineswegs wieder verloren gehen darf: daß der Schlüssel für das Verständnis der Welt im innern Leben des Menschen gefunden wird" (ICh 66f). Uber die f u n d a m e n t a l e theologische Relevanz dieser bewußtseinstheoretischen Einsicht hat Hirsch keinen Zweifel gelassen. "Wer nicht den M u t hat, in die Bestimmung der Innerlichkeit einzugehn, der kann überhaupt keine Aussagen über das Gottesverhältnis machen" (GlerA 107). 21

21

und der christliche Glaube innerlich wahlverwandt sind. Wir haben an ihr den Bundesgenossen, den wir bei einer Verständigung über die religiöse Lage nicht entbehren können" (G. Sch. II, 248). Die Verwendung des Kierkegaardschen Begriffs "Bestimmung der Innerlichkeit" zur allgemeinen Charakteristik einer am idealistischen Denken orientierten theologischen Methodenlehre zeigt, daß Hirsch hinsichtlich dieses Punktes Kierkegaard in unmittelbarer Nachbarschaft zu Pichte ansiedelt. Es spricht einiges dafür, daß es Hirschs - im Sinne Fichtes - konsequent idealistische Kierkegaard-Deutung war,

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Hirsch war zeitlebens der festen Überzeugung, daß nur eine idealistische Philosophie im Sinne des transzendentalen Idealismus begrifflich dazu in der Lage sei, die subjektivitätstheoretischen Strukturen des christlichen Glaubens - im Sinne des Hollschen Begriffs der reformatorischen Gewissensreligion - kategorial angemessen zu erhellen. Seine gedankliche und problemgeschichtliche Arbeit auf diesem Felde entsprang zum allergrößten Teil der Besorgnis, daß die zeitgenössische theologische Polemik gegen die Philosophie des Deutschen Idealismus nicht nur auf ein Feld subjektivitätstheoretischer Naivitäten, sondern auch in den Abgrund des Nichtmehrverstehens der reformatorischen Grundeinsicht führen würde. Die von Fichte analysierte Struktur der Innerlichkeit hat Hirsch in seiner Theologie sowohl methodisch als auch inhaltlich zur Geltung gebracht. Der methodische Aspekt besagt, daß "Form und Inhalt der denkenden Rechenschaft", welche der Dogmatik obliegt, "streng ... aufeinander abgemessen sind" (ChR I, 172). Alle Setzungen des theologischen Bewußtseins werden demzufolge rückbezogen auf die Operationen seines Setzens. "Diese Kommensurabilität von Denken als Akt und Denken als Inhalt ist die höchste Probe der denkenden Klarheit" (ebd.). Die Innerlichkeit theologischen Wissens bedeutet für Hirsch sonach, daß kein theologischer Gedanke zureichend erfaßt ist, der nicht explizit zu der epistemischen Instanz in Beziehung gesetzt wird, die ihn erzeugt hat. Nicht zuletzt diese Kornmensurabilitätsthese hat Hirsch dazu veranlaßt, das dogmatische Verfahren insgesamt als Rechenschaftsgabe zu verstehen. Was daraus für die methodische Durchführung der Christologie folgt, wird unten (Kap. V.B. 1/4) zu erörtern sein. Inhaltlich wirkt sich jener Ansatz insbesondere auf die dogmatische Bestimmung des Gottes Verhältnisses aus, und zwar sowohl auf den Gottesgedanken selbst wie auch auf den Begriff des Wortes Gottes. Was das erstere anbelangt, so wird das Ergebnis der Fichteschen Überlegungen, die Innerlichkeit des göttlichen Ursprungs bedeute zugleich das Ende des Wissens, also das sogenannte Selbstvernichtungstheorem der Wissenschaftslehre, von Hirsch vorbehaltlos übernommen und sogar noch überboten (vgl. dazu den folgenden Abschnitt). Hirschs Gedankengang gipfelt in der These, daß das humane Bewußtsein der Wahrheit Gottes nur unter der Form der Antinomie von Grund und Grenze innezuwerden vermöge (vgl. Kap. IV.B.3.b). Was das zweite betrifft, so hat Hirsch die reformatorische Korrelation von Wort und Glaube konsequent von der Struktur der Innerlichkeit des Gottesverhältnisses her ausgedeutet. Das göttliche Wort als innerlich im die K. Barth dazu veranlaßt hat, von seiner ursprünglichen Wertschätzung Kierkegaards wieder abzurücken.

Glaube als Gewißheit

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Glauben ergriffenes ist ein "mich in meinem persönlichen mich Vernehmen vor Gott bestimmendes und mir darin Gott erschließendes gegenwärtiges Handeln Gottes an mir" (Lf § 73.Α.). Darin liegen folgende Merkmale: a) Gott handelt worthaft am Glauben nur in der Weise, daß er in diesem Verhältnis als der schlechthin Bestimmende auftritt; d.h. im Glauben an das Wort wird das Handeln Gottes im Modus des schlechthinnigen Gotterleidens erfahren. b) Gott handelt schlechthin bestimmend nur in der Weise, daß er das von ihm Bestimmte in seinem Sichvernehmen bestimmt; d.h. im Glauben an das Wort hat das von Gott Bestimmtwerden die Form des in der Innerlichkeit bejahten Gotterleidens. c) Gott handelt schlechthin bestimmend im innerlich bejahten Gotterleiden nur in der Weise, daß das darin enthaltene Moment des Fürsich-Seins seine schlechthinnige Vollendung empfängt; d.h. im Glauben an das Wort gewinnt die Innerlichkeit des Sich-in-seiner-Bestimmtheit-durchGott-Vernehmens den Charakter absoluter Durchsichtigkeit. Hirsch hat sich des Fichteschen Begriffs der Durchsichtigkeit insbesondere zur Beschreibung der Innerlichkeit der Wahrheit Gottes bedient. Seine inhaltliche und methodische Bedeutung für die Selbstexplikation des christlichen Wahrheitsbewußtseins soll in der Behandlung von Hirschs später Christologie zur Darstellung kommen (vgl. Kap. V.B.2-4).

2. D e r G l a u b e als G e w i ß h e i t a) Der erste Systementwurf Schon die allerfrühesten selbständigen theologischen Überlegungen Hirschs haben der subjektivitätstheoretischen Struktur religiöser Gewißheit gegolten. Uber dieses Problem hat sich der Bonner Privatdozent in dem bereits erwähnten Briefwechsel mit Tillich vom Winter und Frühjahr 1917/18 ausführlich mitgeteilt. 2 2 Der Briefpartner war von den Ausführungen seines Freundes in solch hohem Maße beeindruckt, daß er ebenso bewundernd wie selbstbewußt zurückschrieb: "Dein Brief ist das Tiefste, was seit Schellings 'positiver Philosophie' ein Theologe geschrieben hat! Wie zwerghaft erscheinen zwischen solchen Höhen die dazwischenliegenden Geschlechter der systematischen Theologen, Tröltsch nicht ausgenommen! Ich bin stolz, daß ich die Ehre habe, als erster gegen diese Höhe 22

Der erste Brief Hirschs ist nur noch als Entwurf erhalten (vgl. Br 14-20).

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anrennen zu dürfen" (Br 21). Wir werden uns im folgenden auf den ersten Schwerpunkt dieser Briefe, die formale Struktur religiöser Gewißheit, konzentrieren. Hirsch unterscheidet zwei "geistige Grunderfahrungen" (Br 14), die "Geistesevidenz" (Br 16) einerseits und das "Innewerden des Göttlichen" (Br 14) andererseits. Da beide Grunderfahrungen Gestalten des Erlebens von Gültigkeit darstellen, kann Hirsch auch von "geistigen Grundgewißheiten" (Br 15) sprechen. Geht m a n davon aus, daß Gewißheit nicht bloß das kontingente Gegebensein eines Überzeugungsgefühls bezüglich eines je bestimmten Wissen ist, sondern - allgemeiner verstanden - in der hierbei immer schon vorausgesetzten Einsicht in die strukturelle Unzertrennlichkeit von Wissensform und Wissensgehalt besteht 2 3 , d a n n erhellt, daß Gewißheit nicht nur wie jedes Uberzeugungsgefühl "vorbegrifflich" ist, sondern im Unterschied zu diesem auch "der Skepsis entzogen" (Br 14), und zwar prinzipiell entzogen ist, sofern jene nämlich eine Bedingung der Möglichkeit auch noch des Zweifels, und zwar als formaler Wissensoperation, darstellt. Nun sollen aber die Geistesevidenz einerseits u n d das Innewerden des Göttlichen andererseits zugleich Gewißheitsgestalten "von spezifisch verschiedener Art" (ebd.) repräsentieren. Ihre Verschiedenheit kann daher unter Zugrundelegung des obigen Gewißheitsbegriffs - nur entweder in der spezifisch verschiedenen Zuordnung identischer Wissensformen und Wissensgehalte oder in der identischen Zuordnung unterschiedlicher Wissensformen und Wissensgehalte oder schließlich in einer Kombination beider Möglichkeiten liegen. Das letzte ist in der Tat der Fall. Betrachten wir zunächst die Struktur der Geistesevidenz. "Das Wesen des Geistes ist, sich absolut zu sein" (Br 17). In dem dazugehörigen Evidenzerlebnis "werden wir uns der Allgemeinheit und Absolutheit unseres geistigen Lebensgrundes bewußt" (Br 14). Unter Absolutheit und Allgemeinheit ist hier nichts anderes zu verstehen als Gültigkeit überhaupt. Weil nun aber alle Gültigkeit von Wissensgehalten auf den Formen des Erzeugens von Wissen beruht, ist das formale Bewußtsein der Gültigkeit von Wissensgehalten eine Evidenz, "die der Geist als subjektiv-objektive Identität für sich selber h a t " (ebd.). Die Geistesevidenz hat somit die Form einer Synthesis von der Art der Selbstidentität oder - wie sich Hirsch auch ausdrücken kann - die Struktur einer "sich selbst evidenten Absolutheit". Geistesevidenz ist deswegen die "nie bezweifelbare Voraussetzung alles Lebens und Denkens" (ebd.), weil alles lebensweltlich oder wissenschaftlichmethodisch hervorgebrachte Wissen von der Form des Gültigkeitsbewußtseins die synthetische Selbstbezüglichkeit des Geistes impliziert. Die Be23

Vgl. Fichte SW I, 51.

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Sonderheit der Geistesevidenz als spezifischer Gestalt von Gewißheit besteht demnach in ihrer strukturellen Beschaffenheit, Gültigkeitsbewußtsein vom Typus des reinen Für-sich-Seins zu verkörpern. Hirschs Analyse der Geistesevidenz bewegt sich mithin noch ganz im Rahmen der Fichteschen Beschreibung des absoluten Wissens als eines in sich vermittelten Gültigkeitsbewußtseins. Wesentlich komplizierter liegen die Dinge im Falle des Innewerdens des Göttlichen. Dieses ist hier lediglich nach seiner strukturellen Verfaßtheit zu analysieren. "Es wird selbstverständlich an einem Inhalt gemacht werden können und sollen.... Aber ebenso wie die Evidenz ablösbar ist von dem einzelnen Satze, bei dem sie mir zuerst aufging, ebenso ist das Innewerden des Göttlichen eine Form, die auch unter Ablösung vom Inhalt beschrieben werden kann" (Br 14f). Für alle Gestalten desselben ist nach Hirsch zweierlei konstitutiv, nämlich erstens, daß das Bewußtsein "ein ihm zunächst geheimnisvolles Neues, Positives jenseits seiner gewahrt", und zweitens, daß es eben "diesem Positiven ausschließliche Absolutheit zuspricht", oder genauer gesagt: daß es diese ausschließliche Absolutheit "als jenem wesenhaft eigen erfaßt" (Br 14). Nur beide Bestimmungen zusammen beschreiben das "Grunderlebnis, ... aus dem ... die Religion entspringt". Dieses Grunderlebnis kann sonach als ein "Innewerden des 'Andern', des 'Fremden' als des Göttlichen" (ebd.) charakterisiert werden. 2 4 Als Innewerden des Göttlichen ist jedoch auch das religiöse Erlebnis ein Bewußtsein von Gültigkeit. Als ein solches ist es rein formell zunächst dem Wissensgehalt nach - der Evidenz des Geistes durchaus verwandt. Und ebenso setzt das religiöse Bewußtsein als das Innewerden von etwas als etwas die synthetische Selbstbezüglichkeit dieses Innewerdens und damit eben diejenige Struktur voraus, die auch der Evidenz des Geistes - der Wissensform nach - eignet. Letzteres besagt, daß alle religiöse Gewißheit "als geistiges Erlebnis natürlich formal innerhalb der Evidenz steht" (ebd.). Nur weil das Innewerden des Anderen als des Göttlichen sowohl hinsichtlich des Wissensgehaltes - als Gültigkeitsbewußtsein - als auch mit Bezug auf seine Wissensform - als synthetische Selbstbezüglichkeit - strukturelle Ubereinstimmung mit der Geistesevidenz aufweist, nur unter der Voraussetzung eines solchen Beziehungsgrundes kann es zu einem Konflikt zwischen beiden Gewißheitsarten kommen. Und ein solcher Konflikt besteht in der Tat. Man braucht nur dasjenige am Grunderlebnis der Re-

24

Der Gedanke des Göttlichen als des Anderen verrät den unmittelbaren Eindruck, den die Lektüre von R. OTTOS Schrift "Das Heilige" bei Hirsch hinterlassen hat, auch wenn die Wirkung vielleicht überwiegend sprachlicher Art ist (vgl. Br 31).

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ligion näher ins Auge zu fassen, "das in scharfem Gegensatz zu dem der Evidenz steht" (ebd.). Was zunächst die Wissensform des religiösen Innewerdens betrifft, so kann auch das Absolute im Sinne der Gültigkeit des "Anderen" - wie gerade gezeigt - nie anders als unter der Form der Selbstbezüglichkeit des Geistes zur Gewißheit gelangen. Aber zugleich gilt, daß es darin immer als das von diesem Verschiedene gewußt wird. Die Selbstbezüglichkeit des Geistes wird somit strukturell überlagert von einer asymmetrischen Selbstbeziehung auf anderes. Das religiöse Erlebnis ist genuin ein "Innewerden des 'Andern', des ' F r e m d e n ' " (ebd.). "Jenes Gottinnewerden haut eben eine tiefe Quarte in das System der reinen Immanenz" (Br 16). Das Gewißwerden des Göttlichen weist unbeschadet seines Evidenzcharakters die Struktur der Selbsttranszendenz auf. Aber auch bezüglich des Wissensgehaltes kollidiert die religiöse Gewißheit mit der Geistesevidenz. Für letztere ist konstitutiv, daß sich das Bewußtsein seiner Grundfunktion im Hinblick auf die Erzeugung von unbedingter Gültigkeit inne wird. Darin ist aber keineswegs enthalten, daß es sich selber gleichfalls als unbedingt Gültiges anschaut. Genau in dieser Spannung besteht die "Dialektik" des Geistes, daß er "die Wahrheit, die er ist, nie findet", daß er wohl Unbedingtheit zu setzen in der Lage ist, sich selber aber "nur als einzelnes Bestimmtes und d a r u m Bedingtes, Relatives fassen kann" (Br 14). Umgekehrt vermag die religiöse Gewißheit ihres absoluten Ursprungs unmittelbar ansichtig zu werden, aber nur so, daß sie sich selbst transzendiert und jenen unbedingten Grund jenseits ihrer selbst gewahrt. An dieser Unbedingtheit religiöser Gewißheit jedoch begrenzt sich der Geist in seinem Anspruch, Letztinstanz von Gültigkeit zu sein. "Mit unwidersprechlicher Evidenz erkennt er, der sich selbst evidente und in dieser Evidenz absolute Geist seine eigene metaphysische Relativität oder noch schärfer Unrealität" (ebd.). Die Evidenz des Geistes erfährt sich als eine am Innewerden Gottes sich brechende und vernichtende. Der oberste Grundsatz eines Systems der Gewißheit lautet sonach: "Der Geist ist sich evident, und wird des Andern inne" (Br 18). Jenes System ist vollständig, denn die Evidenz des Geistes und das Innewerden des Göttlichen erweisen sich als "die beiden notwendig einzigen" (Br 31) Grundformen von Gewißheit. Bei jener Duplizität handelt es sich mithin u m eine vollständige Disjunktion: "Gewißheit des Geistes: von sich selbst - vom Andern. Neben den beiden ist ein Drittes nicht denkbar" (ebd.). Die Geistesevidenz und das Gottinnewerden bilden den "Grundgegensatz, unter dem alle unsere Erkenntnis steht" und fungieren deshalb auch als Prinzipien der "Begründung der Religionsphilosophie" (ebd.). Damit haben sich die beiden Grundformen von Gewißheit zugleich als die tragenden Prinzipien von Hirschs frühem Systementwurf herausgestellt. Wie dieses

Glaube als Gewißheit

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System auszusehen hätte, wird von Hirsch nur in den Grundzügen angedeutet.

b) Die Dialektik religiöser Gewißheit Jener Gegensatz von Geistesevidenz und Gottinnewerden bleibt für beide Gewißheitsarten nicht folgenlos. Insbesondere auf Seiten des letzteren hat das Zugleich von bewußtseinsinternem Evidenzvollzug und inhaltlicher Selbsttranszendenz strukturelle Auswirkungen: "Es liegt ein Widerspruch im Innewerden des Göttlichen" (Br 15). Dieser interne Antagonismus der religiösen Gewißheit äußert sich in einem Dreifachen: 1. Das Gottinnewerden ist kein in sich einfacher Bewußtseinsstandpunkt, sondern ein zusammengesetzter Akt, dessen H a u p t m o m e n t e "sich wie Thesis und Antithesis verhalten" (Br 16). Nach Maßgabe ihrer formalen Kongruenz mit der Geistesevidenz ist Gott für die religiöse Gewißheit einerseits "das dem Geist als höchstes Evidente" (Br 17); darin vollzieht sie die Thesis. Nach ihrer formalen Differenz zur Geistesevidenz ist Gott ihr andererseits "das dem Geist schlechthin Überlegene" (ebd.); damit setzt sie die Antithesis. Der interne Antagonismus der religiösen Gewißheit als ganzer resultiert sonach aus der Korrespondenz zwischen den in ihr enthaltenen konträren Setzungsarten einerseits und den dazu korrelativen konträren Bestimmungen des Gottesgedankens andererseits. F ü r den Evidenzcharakter des Gottinnewerdens - also nicht für die Geistesevidenz abstrakt für sich genommen - bedeutet jener Widerspruch: "Die Evidenz hebt sich durch und in sich selber auf, in einer Betätigung ihrer Absolutheit verneint sie ihre Absolutheit" (Br 15). Eben diese Widersprüchlichkeit am Evidenzmoment des Gottinnewerdens ist der Grund dafür, warum religiöse Gewißheit kein punktuelles Klarheitserlebnis nach Art des cartesianischen Selbstbewußtseins darstellt, sondern eine mit einer prinzipiellen Opakheit behaftete Bewußtseinserfahrung. Zur Evidenzerfahrung religiöser Gewißheit gehört gleichursprünglich das Evidentwerden ihrer internen Widersprüchlichkeit. 2. Dieses in sich widersprüchlich-opake Gottinnewerden ist aber auch nicht das schlechthinnige Ausgeliefertsein an eine Diastase, keine Unterwerfung unter die formelle Autorität eines absoluten Paradoxes im Sinne Kierkegaards. Vielmehr vermag die widersprüchlich verfaßte religiöse Gewißheit durchaus mit Evidenz das göttliche Andere zu ergreifen, weil es ein solches Anderes ist, zu dessen Wesen es gehört, durch Aneignung seiner Selbstmitteilung an ihm Teil zu bekommen: "indem Gott sich der Evidenz als des ausschließlich Absoluten verständlich macht, hat er sie schon als Teil in sein absolutes Leben hineingenommen, noch schärfer: hat er sie als

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das, was von jeher Moment seines absoluten Lebens war, bestätigt. Was Gott berührt, hat an seiner heiligen Absolutheit teil" (ebd.). Die religiöse Gewißheit bleibt nicht bei dem Gegensatz von Thesis und Antithesis stehen, sondern gelangt zur "Synthesis" (Br 17) des Glaubens. Aus dieser synthetischen Struktur des Gottinnewerdens folgt, daß auch die Geistesevidenz - als Moment des Gottesverhältnisses - eine dialektische Synthesis enthalten muß. Letztere verhält sich gewissermaßen spiegelbildlich zu ersterer. "Der Geist ist unter Gott, d.h. nur in beugender Gemeinschaft mit Gott hat er Absolutheit. Aber der Geist ist auch vor Gott geheiligt und bestätigt. D.h. er wird Erkenntnisprinzip Gottes. Das sacrificium intellectus ist ausgeschlossen. Nur das dem Geist sich als evident Bezeugende ist wahr" (Br 15). Diese Synthesis des Geistesmomentes religiöser Gewißheit ist für Hirsch der eigentliche Grund des Einspruchs gegen jede lehrgesetzlich-autoritative Fassung des OfFenbarungsbegriffs. In ihr ist letzten Endes die Dialektik des Gottesverhältnisses nicht zu Ende gedacht. Die unweigerliche Folge solchen Reflexionsabbruchs ist - wie Hirsch es später genannt hat - "Prämissetheologie" ( C h R I, 13). 3. Die Gestalt der Synthesis religiöser Gewißheit ist der Gottesbegriff. Die Uberwindung des Widerspruchs vollzieht sich wohl im Durchgang durch die religiöse Gewißheit, aber nicht am Orte derselben. Allein der Gottesgedanke vermag den "Einheitsgrund beider geistigen Grundgewißheiten" (Br 15) abzugeben. Denn er ist "die Synthesis zu einem gegebenen Widerstreit von Thesis und Antithesis" (Br 34). Dazu befähigt ihn nicht schon seine formale Einheit, sondern allererst der Gehalt der Merkmale, die in ihm zur Einheit gelangen. Die Synthesis der religiösen Gewißheit kommt sonach ausschließlich in der materialen Bestimmtheit des Gottesgedankens zur Darstellung. An dieser Stelle geht Hirschs Analyse der Struktur von Gewißheit d a r u m zwangsläufig über in die materiale Durchführung des Gottesbegriffs, nämlich in die Bestimmung Gottes als des unbedingten persönlichen sittlichen Willens, der die Bestimmung des Menschen als konkreter ethisch-religiöser Subjektivität parallel zugeordnet ist (vgl. Br 17). Wir brauchen diese Ausführungen Hirschs hier nicht weiter zu verfolgen. Für die Struktur des Evidenzmomentes religiöser Gewißheit folgt daraus, daß die Negativität des Geistes, welche dessen Selbstbewegung hervorbringt, keine dem Geist von ihm selber her eignende Bestimmtheit darstellt. "Gott ist der den Geist als in Widerspruch mit sich selbst Setzende" (Br 33); "jeder Versuch, den Geist zum Prinzip seines eigenen Widerspruchs zu machen, scheitert notwendig" (ebd.). In dem Maße, als die Geistesevidenz zum Moment des Gottesverhältnisses wird, gewinnt deren Endlichkeit Anteil an der absoluten Negativität des letzteren - wie sie in der Antithesis des Gottinnewerdens zum Ausdruck gelangt. Die

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Dialektik des Geistesmomentes religiöser Gewißheit darf darum nicht verwechselt werden mit der subjektivitätslogischen Dialektik der Selbstexplikation des Geistes auf der Grundlage eines formalen Negativitätsoperators im Sinne Hegels. Vielmehr wird die Teilhabe an der absoluten Negativität religiöser Gewißheit für die Geistesevidenz zum Erkenntnisprinzip ihrer eigenen Endlichkeit. "Daran, daß er im Widerspruch mit sich ist, erkennt sich der Geist nicht als sich setzend schlechthin, sondern als gesetztes sich Setzendes" (ebd.; Hhg.i.O.). Im Horizont des Gottesverhältnisses seine Selbstauslegung vollziehend identifiziert sich der menschliche Geist als gesetzes Sich-Setzen. Alle drei Momente des internen Antagonismus religiöser Gewißheit zusammengenommen weisen diese sonach als ein "dialektische [s] Verhältnis" ( B r 3 5 ) aus. Erstens, religiöse Gewißheit schließt einen Widerspruch in sich ein und ist insofern ein komplexer, opaker Bewußtseinssachverhalt. Zweitens, die solchermaßen in sich widersprüchliche religiöse Gewißheit verzehrt sich nicht an dem ihre Widersprüchlichkeit konstituierenden Gegensatz, sondern es kommt zu einer Synthesis, in der sie des schlechthin Anderen als des eigenen Grundes ansichtig wird. Drittens, die Negativität der religiösen Gewißheit ist von exklusiver Absolutheit; es ist jedoch allein ihre Gegründetheit im Gottesbegriff, die sie von allen möglichen Formen rein selbstbezüglicher Negativität unterscheidet.

c) Die Vermittlung von Luther und Fichte Hirsch läßt keinen Zweifel daran entstehen, welches konkrete religiöse Phänomen er bei seiner Analyse des internen Antagonismus religiöser Gewißheit vor Augen hat. "Die schärfste Zuspitzung des Widerspruchs ist die Rechtfertigung" ( B r 15). Die von Holl entfaltete Antinomie des Gottesverhältnisses, wie sie Luthers Gewissensreligion prägend durchzieht, ist der geheime Orientierungspunkt jener frühesten selbständigen systematischen Erwägungen. Aber Hirsch weiß zugleich, daß ein solcher Rekurs die Aufgabe einer begrifflichen oder kategorialen Explikation jener Inhalte keineswegs überflüssig, sondern eher dringlicher macht. In Luthers Rechtfertigungsglauben ist "die Lösung nicht formaler, aber sachlicher Natur gegeben" (ebd.). Hat nun Hirsch selbst eine solche formale Lösung erbracht? Gewiß, die eingangs zitierten Worte der Bewunderung von Seiten des Jugendfreundes Tillich sind angesichts der konstruktiven Kraft des ersten Hirsch'schen Systementwurfs nachvollziehbar. Aber sind damit auch schon die Begründungsprobleme ausreichend berücksichtigt, die sich mit einer formalen Klärung notwendigerweise verknüpfen? Fragen dieser Art stellen sich nicht

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erst auf der Ebene der gedanklichen Rekonstruktion, sondern bereits bei der Deskription der Phänomene selbst. Hirsch schreibt: "Das religiöse Erlebnis will in der Betrachtung dem Profanen übergeordnet sein. Nicht vom Standpunkt der Evidenz, sondern vom Standpunkt des ihr erst Leben verleihenden Gottes will das Verhältnis Geist-Gott angesehen sein" (ebd.; Hhg.v.Vf.). Es ist aber doch sehr wohl denkbar, daß sich die Geistesevidenz durchaus nicht dazu bereit findet, jenen Gültigkeitsanspruch des religiösen Bewußtseins vorbehaltlos zu akzeptieren. Hirsch selbst räumt ein: "Wo die Evidenz ihre höchsten Leistungen vollbringt, da hat sie die Neigung, den Menschen so zu besitzen, daß er für die andere geistige Grunderfahrung keinen Sinn mehr hat" (Br 19). Kommt es nicht zu einer Selbstbegrenzung der Geistesevidenz hinsichtlich der Reichweite ihres Geltungshorizontes, dann sind Konflikte zwischen beiden Gewißheitsgestalten unausweichlich, und zwar nicht nur auf lebensweltlicher Ebene, sondern auch im Bereich der Theorie. Was speziell letztere anbelangt, so entsteht die Gefahr, die Formen religiöser Erfahrung ganz der Sphäre des Immanenzbewußtseins einzuordnen und mit Bezug auf diese funktional zu erklären: Das Gottinnewerden wird zum Epiphänomen der Geistesevidenz. Zwei Arten der theoretischen Funktionalisierung religiöser Gewißheit sind nach Hirsch denkbar: zum einen, daß der Form geistiger Evidenz Ausschließlichkeit zugemessen wird, zum anderen, daß ihr nicht Ausschließlichkeit, wohl aber Priorität zugebilligt wird. Beide Deutungen hält Hirsch für unangemessen. Gegen den Exklusivitätsanspruch wendet er ein: "man darf nicht die Evidenz zum Erklärungsprinzip des Gottinnewerdens machen". Eine so konzipierte Theorie "postuliert, daß es nur eine geistige Grunderfahrung geben könne, und bemüht sich, die zweite als seltsame Verschränkung der ersten wegzudeuten. Das wird dem, der die zweite deutlich gemacht hat, ebenso geistreich klingen als die Behauptung, der Schmerz ist nur eine eigentümliche Art Freude, dem vorkommt, der Schmerzen hatte oder hat" (Br 15). Jede Erklärung, die Interpretation und nicht Wegdeutung des Phänomens sein will, hat von dem Sachverhalt auszugehen, "daß es eine unmittelbare Gewißheit Gottes gibt" (Br 16). Gegen die Erklärung religiöser Gewißheit aus dem verabsolutierten Prinzip der Geistesevidenz kann grundsätzlich verwiesen werden auf das Faktum des unmittelbaren Gottinneseins und damit auf das Faktum eines phänomenalen Gegensatzes zwischen der Authentizität eines unmittelbaren Erlebnisses und der Heterogenität eines zwar funktional äquivalenten, genetisch aber exogenen Bewußtseinsvorkommnisses. Gegen den Prioritätsanspruch macht Hirsch geltend: "Man darf auch nicht von der formalen Prinzipheit des Geistes im Erlebnis Gottes ausgehen, das führt zu Verworrenheiten. Daß ich Gottes inne werde, ist Gottes

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Werk. Ich werde von Gott in metaphysischer Unmittelbarkeit berührt. Das allein ist das aus dem religiösen Erlebnis abzuleitende Prinzip" (Br 15). Die in der religiösen Gewißheit intendierte Unmittelbarkeit zu Gott wird als durch Gott konstituierte gewußt. Deshalb kann sich die religiöse Gewißheit selber niemals als der Geistesevidenz untergeordnete Gewißheitsart begreifen. Der theoretischen Priorität der Geistesevidenz steht somit entgegen der dem religiösen Bewußtsein eigene intentionale Gehalt, genauer gesagt: derjenige Geltungsanspruch, den die religiöse Gewißheit mit ihrer Selbstdeutung im Horizont ihres intentionalen Gehaltes verbindet. In beiderlei Hinsicht wird man Hirsch zustimmen können, daß es methodisch wenig einleuchtet, den Geltungsanspruch religiöser Gewißheit theoretisch dadurch zu unterlaufen, daß entweder deren lebensweltliche Faktizität oder deren spezifische Intentionalität einfach wegerklärt werden. Aber auch wenn m a n jenes zubilligt, bleibt das Verhältnis der Gültigkeitsmächtigkeit beider rivalisierenden Gewißheitsformen weiterhin ein Problem. Um es geltungstheoretisch befriedigend zu lösen, bedürfte es hochstufiger Reflexionszusammenhänge mit kompliziertesten bewußtseinstheoretischen Strukturanalysen - Aufgaben, die weder durch den Verweis auf die Konformität mit den Grundaussagen der reformatorischen Rechtfertigungslehre, noch durch den Rekurs auf die Eigenintention gegebenen religiösen Bewußtseins ersetzt werden können. In der Tat liegt der Schwerpunkt jenes frühen Briefwechsels mit Tillich auf seiten Hirschs vorrangig darin, die Reichweite und Tragfähigkeit der aufgestellten Prinzipien im Hinblick auf einen künftigen Systementwurf auszumessen, weniger darin, deren innere Begründbarkeit selber zu erhellen. Überblickt m a n die Explikation jener Prinzipien in argumentationslogischer Hinsicht, dann ist zwar kaum von der Hand zu weisen, daß Hirsch ein hohes Maß an gedanklicher Abstraktion aufwendet, u m den von ihm anvisierten Sachverhalt strukturell zu erfassen. Gleichwohl wird m a n die Gedankenführung im strengen Sinne nicht als eine "Begründung" der Dialektik religiöser Gewißheit bezeichnen dürfen. Eher müßte man von der konsequenten Formalisierung eines gegebenen Phänomenbestandes, von einer Strukturphänomenologie religiöser Gewißheit sprechen. Eine Begründung im geltungstheoretischen Sinne h ä t t e stattdessen zu zeigen, inwiefern einerseits die Geistesevidenz an der Absolutheit des im religiösen Erlebnis zur Gewißheit gelangenden Göttlichen notwendig zu einer Selbstbegrenzung gelangt und inwiefern andererseits diese Negativität der Geistesevidenz ein notwendiges Moment der Selbsttranszendenz religiöser Gewißheit bildet. Immerhin macht Hirsch eine Andeutung, in welcher Richtung eine kategorial angemessene Behandlung des in Frage stehenden Problems zu erfolgen hätte. Diejenige synthetische Struktur von Gewißheit, die die

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Negativität der Geistesevidenz und die Selbsttranszendenz des Gottinnewerdens gleichermaßen umgreift, wird bezeichnet als "Projectio per hiat u m irrationalem" (Br 16). Dieser Begriff stammt aus Fichtes Wissenschaftslehre von 1804 2 . 25 Ihm galt bereits das besondere Interesse der Dissertation. 26 Er kehrt auch in den späteren Schriften wieder. Will man seine religionsphilosophische Bedeutung für Hirschs Theorie der religiösen Gewißheit ermessen, ist es unumgänglich, ihn in den einschlägigen Kontext von Hirschs Fichte-Rezeption ingesamt einzubetten. Das Idealismus-Buch von 1926 erblickt die religionsphilosophische Bedeutung der Berliner Wissenschaftslehren, insbesondere der Darstellung von 1801/02, in Fichtes Nachweis, daß "das Freiheitsleben als solches Gottinnigkeit sei" (ICh 287). 27 Daß es sich bei dieser Einschätzung keineswegs um ein vorübergehendes, sondern um ein bleibendes Urteil Hirschs handelt, bestätigt in auffälliger Weise die Schlußpassage zu Fichtes Gotteslehre in der späten Theologiegeschichte von 1952: Auf der Grundlage der reifen Wissenschaftslehre "entsteht der Philosophie Fichtes als letzte und höchste Aussage in sich gehender geisthafter Selbstbesinnung - und nicht als eine über sie hinausgehende grundlose An-sich-Setzung - der Satz: .Aus dem ewig Notwendigen und an sich Verborgnen geht mit ewiger in der Selbstbesinnung als Grenze alles Für-sich mitgedachter Notwendigkeit die ewige Freiheit und Klarheit des in sich sich selbst ergreifenden Geistes hervor. Dieser Satz ist ihm die tiefste Enthüllung des Geheimnisses des Daseins, die überhaupt denkbar ist, und daher der einzig mögliche Mittelpunkt einer idealistischen Philosophie, die im moralischen Bewußtsein den Schlüssel aller Erkenntnis der Wahrheit sucht. Und damit dürfte er Recht haben. Zum mindesten aber hat er mit diesem Satze etwas gedacht, was weder Spinoza noch Kant noch sonst jemand vor ihm gedacht haben, und hat so der idealistischen Gottesidee einen durchsichtigen und klaren Ausdruck gegeben, der von keinem spätem idealistischen System erreicht, geschweige überboten ist" (GneTh IV, 369f; Hhg.i.O.). 28 25 26 27

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Vgl. SW X, 212 (mit Bezug auf 200-204). Eine Deutung dieses Begriffs gibt Hirsch in FR 95. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch D. HENRICH: "Fichtes späte Wissenschaftslehre hat den Gedanken der unausdenkbaren Begründung des Selbstseins in einem 'Absoluten' gefaßt.... In der Wissenschaftslehre wird die Freiheit selbst aus einer ihr unverfügbaren Möglichkeit verstanden.... Selbstsein ist Manifestation Gottes.... Selbstbewußtsein ist innige Einheit aus unverfugbarem und unausdenkbarem Grund" (a.a.O. 218-220); zum theologischen Gehalt des mittleren bis späten Fichte vgl. auch W. JANKE: "Das ist die innere Bestimmung des Wissens, sich aus Freiheit zu immer höherer Durchsichtigkeit zu erheben, um sich in absoluter Durchdrungenheit als Bild Gottes und Gott im Bilde zu wissen" (a.a.O. 414). Der von Hirsch formulierte oberste Grundsatz der reifen Religionsphilosophie Fich-

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Geht man davon aus, daß für Hirsch der Deutsche Idealismus dasjenige philosophische Denken hervorgebracht hat, das dem Christentum wahlverwandt ist wie kein anderes (vgl. ICh 67), so wird man die beiden letzten Zitate kaum anders verstehen können, als daß die Religionsphilosophie Fichtes für Hirsch das unüberbietbare Modell einer christentumsaffinen philosophischen Gotteslehre repräsentiert. Als Modell einer Theorie religiöser Gewißheit kann Fichtes Religionsphilosophie Hirsch darum dienen, weil sie den Gottesgedanken strikt aus der Position der Selbstaufklärung des Wissens heraus entfaltet. Nirgends überspringt Fichtes Theorie des Absoluten die Grenzen der Wißbarkeit von Wissensinhalten. Umgekehrt wäre die Selbstaufklärung des Wissens unvollständig, könnte sie ihre Letztbegründungsfunktion nicht von ihrem Ursprung im Absoluten her verständlich machen. So bildet das Gottinnewerden selbst ein Moment am Wissen. Dasjenige Element der Fichteschen Theorie des Absoluten, welches für Hirschs Begriff der religiösen Gewißheit - was deren dialektische Grundstruktur betrifft - im Vordergrund steht, ist das im ersten Teil dieses Kapitels behandelte Selbstvernichtungstheorem der Wissenschaftslehre, also Fichtes These von der "Selbstvernichtung des Wissens am absoluten Sein" (ICh 285): Die intellektuelle Anschauung findet ihre Einheit und Mitte letztlich in einem Schweben zwischen der Selbstanschauung der Freiheit und deren Selbstvernichtung am Absoluten. 2 9 Dies subjektivitätstheoretisch wirklich nachgewiesen zu haben, macht für Hirsch den "Höhepunkt der W.L. 1801/02" (ebd.) aus. 3 0 Nur einmal mehr zeigt sich Hirschs intime Vertrautheit mit Fichtes Wissenschaftslehre, wenn er - die neuere Forschungsdiskussion 3 1 vorwegnehmend - das Selbstvernichtungstheorem

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30 31

tes findet sich fast wörtlich, nur etwas knapper in F R 115. Das Motiv, welches Fichtes Selbstvernichtungstheorem zugrunde liegt, charakterisiert Hirsch folgendermaßen: "Gegen den realitätsvernichtenden Charakter der Reflexion gibt es nur ein Heilmittel: zu reflektieren bis an das Ende" ( F R 83). Zum Selbstvernichtungstheorem der WL 1801/02 vgl. ICh 270. W. JANKE faßt das Problem folgendermaßen zusammen: "Fichtes Lehre vom absoluten Wissen fällt nicht in einen transzendentalen Dogmatismus ab, mit ihr hebt die transzendentale Grenzziehung eigentlich erst an. Eine Selbstdurchdringung des absoluten Wissens nämlich durchdringt das Wissen bis an seinen Ursprung und an seine Grenze. ... Beides, der aufbrechende Zusammenhang und die unübersteigbare Kluft zwischen dem absoluten Wissen und dem Absoluten, zeigt sich an dieser Grenze. An ihr bildet sich die tiefste Fassung der Wechselbestimmung: Kein Selbstsein ohne absolutes (und nicht bloß objektives) Sein, kein Sichfassen ohne Sichvernichten" (a.a.O. 208f). Zu deren logischem Status führt J . STOLZENBERG näher aus: "Das Theorem der Selbst Vernichtung der Reflexion ist ... nicht so zu verstehen, daß von einer Begründungsfunktion mit Bezug auf diese Position überhaupt nicht die Rede sein könnte. Seine spezifische Logik ist vielmehr so zu verstehen, daß es allein den Versuch als undurchführbar zurückweist, diese Funktion ...

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als die eigentliche Pointe der Darstellung von 1801/02 hervorhebt und darin zugleich das eigentliche Novum gegenüber Fichtes bisheriger Theorie der intellektuellen Anschauung erblickt. Das religionsphilosophisch Entscheidende an Fichtes Selbstvernichtungstheorem liegt für Hirsch darin, daß auf seiner Grundlage das Verhältnis zum Absoluten tatsächlich "gedacht" werden kann. "Das ist die letzte und höchste Erkenntnis der W.L.: ein sich wissendes und besitzendes J a zu Gott, das da zugleich weiß: Gott bejahen heißt sich im Gedanken vernichten" (ICh 284). Vom vorkritischen dogmatischen Gottesgedanken unterscheidet sich derjenige der Wissenschaftslehre dadurch, daß er auf dem Boden des transzendentalen Kritizismus verbleibt, vom Kantischen dadurch, daß das Absolute als letztbegründender Ursprung deduziert wird und seine Funktion sich nicht in die Duplizität von theoretisch-regulativer Idee und praktischem Postulat verflüchtigt. "Er [seil, der Gedanke des Absoluten] ist ein wirkliches Denken des absoluten Seins als des ewig Einen, das jenseits des Wissens dem Wissen zugrunde liegt, und bleibt doch in dem Gebiete der W.L." (ICh 283). Auch gegenüber der Philosophie Hegels ist Fichtes Theorie des Absoluten nach Auffassung Hirschs überlegen: "für Hegel ist Gott nicht die undurchdringliche Grenze des Freiheitslebens, sondern seine im Begriff uns aufgeschlossene Tiefe; und ist in ihm gegenwärtig nicht als das Bestimmende schlechthin, sondern als die in allem Reichtum und Gegensatz des Sichentfaltens ewig in sich zurückkehrende Einheit. ... Fichte hat ... wirklich Gott gedacht, Hegel aber leider nichts andres als - eben den absoluten Geist" (ICh 288f). Es ist Hirsch zufolge allein der systematischen Funktion des Selbstvernichtungstheorems zuzuschreiben, daß Fichtes Theorie des Absoluten innerhalb der philosophischen Lehrtradition eine schlechterdings exemplarische Rolle einnimmt. Dieser Ansatz hat nun auch Konsequenzen für die bereits statuierte Wahlverwandtschaft zwischen Christentum und Idealismus. Sie läßt sich nach Meinung Hirschs an keinem anderen idealistischen Gottesgedanken genauer exemplifizieren als an Fichtes Gotteslehre. Auf der Basis des Selbstvernichtungstheorems kann Fichte zunächst die Uberschwenglichkeit Gottes denken. "Gott ist ihm nicht die höchste Synthesis, die Synthesis der Synthesen; er ist der Fels, über dem die höchste Synthesis, unser absolutes Wissen, sich gründet und sich bricht" (ICh 289). Auf der Basis des Selbstvernichtungstheorems kann Fichte sodann die Verborgenheit Gottes denken. Gott ist deshalb der uns seinem Wesen nach Verborgene, weil "die als eine Bestimmung des Wissens auszuweisen. Das Theorem der Selbstvernichtung der Reflexion zeigt das Scheitern dieses Versuchs auf und entwickelt zugleich eine logische Struktur, die als Ausdruck der im Begriff des absoluten Wissens implizierten Logik eines unmittelbaren oder absoluten Begründungsverhältnisses bezeichnet werden muß" (a.a.O. 367).

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Wissens- und Freiheitsform zwischen Gott und unserm Leben steht ... : zwischen Gott und uns klafft für unser Wissen ewig ein hiatus irrationalis" (ebd.). Und auf der Basis des Selbstvernichtungstheorems kann Fichte schließlich auch die Majestät Gottes denken: "nicht darum handelt es sich, daß das Einzelne gemäß seiner Endlichkeit seiner Unangemessenheit zum Allgemeinen entkleidet werde; nein das Allgemeine selbst, die unendliche schöpferische Freiheit, wird in Frage gestellt" (ebd.). Mit allen drei Bestimmungen des Absoluten ist es Fichte gelungen, wesentliche Merkmale des christlichen Gottesbegriffs auf dem Boden der Selbstaufklärung des Wissens gedanklich zu rekonstruieren. 3 2 Eben dasselbe, was den philosophischen Rang der Fichteschen Gotteslehre begründet, nämlich das Selbst Vernichtungstheorem, macht für Hirsch zugleich deren Nähe zum christlichen Gottesgedanken aus, und zwar in seiner genuin reformatorischen Fassung. "Man meint ihn [seil. Fichte] oft nahe daran, die Antinomie als die notwendige Form einer philosophischen Aussage über Gott in seinem Verhältnis zu uns aufzustellen" (ICh 290). Darin liegt für Hirsch nichts geringeres als die unmittelbare Nachbarschaft zur Gottesanschauung Luthers, "dem tatsächlich die sinnhafte Antinomie die notwendige Form der theologischen Aussage war" (ebd.). Fichtes Selbstvernichtungstheorem bildet darum den eigentlichen philosophischen Anknüpfungspunkt und argumentativen Rückhalt für Hirschs an der reformatorischen Theologie orientierte Beschreibung der Struktur religiöser Gewißheit, insbesondere was deren Negativitätsmoment betrifft. Hirsch liest Fichtes Theorie des Absoluten ganz aus der Leitperspektive der von Holl überkommenen, an Luthers Rechtfertigungslehre aufgewiesenen Antinomieproblematik. So rückt für ihn zwangsläufig das Selbstvernichtungstheorem der reifen Wissenschaftslehre, und nicht etwa die neuplatonisch-mystische oder neutestamentlich-johanneische Komponente der "Anweisung", in den Vordergrund. Umgekehrt verarbeitet er Holls Verständnis der Rechtfertigungslehre unter dem Gesichtspunkt der in der Wissenschaftslehre dargelegten Selbstanschauung des Wissens und 32

Alle drei Abgrenzungen sind kritisch auf Hegels Theorie des absoluten Geistes bezogen. Gerade an dieser Gegenüberstellung bewährt sich für Hirsch das Urteil, daß Fichte "in die Abgründe und Tiefen einer Theorie des religiösen Erkennens tiefer hineingedrungen ist, als jeder andre philosophische und theologische Denker" (ICh 290). Auch die oben skizzierte Dialektik von Thesis, Antithesis und Synthesis ist nach ihrer formellen Seite nicht etwa Hegel entlehnt, sondern Fichte, nämlich dem Prinzipiengefüge der drei Grundsätze der "Grundlage der Wissenschaftslehre" von 1794 (vgl. FR 17f). Daß Hegels spekulative Dialektik in Fichtes Dialektik des Ich ihren Ursprung habe, war dann u.a. die These der Darstellung von R. KRONER: Von Kant zu Hegel, "einem" - nach Hirsch - "der wertvollsten Bücher zum Verständnis des Idealismus, das wir besitzen" (ICh 84 Anm. 1); zu Kroners hegelianisierender Fichte-Kritik vgl. ICh 175-183.238.

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des darin mitgesetzten Bezugs auf das Absolute. So verdichtet sich ihm die Antinomik der Rechtfertigungslehre zur Problematik einer Theorie der religiösen Gewißheit.33 Nimmt man beides zusammen, so besagt dies: Fichtes Gotteslehre mit ihrem Theorem der Selbstvernichtung des Wissens am Absoluten wird zum gedanklichen Modell religiöser Negativität, welches umgekehrt in der antinomischen Gottesanschauung reformatorischer Frömmigkeit seinen exemplarischen Ausdruck findet. Fichtes Selbstvernichtungstheorem und die Antinomik des reformatorischen Rechtfertigungsglaubens verhalten sich zueinander wie theoretisches Strukturmodell und lebensweltliches Paradigma. Beides zusammengedacht zu haben, ist die gedankliche Leistung von Hirschs Theorie religiöser Gewißheit.34 Man wird somit kaum zu weit gehen, wenn man im Entdecken und Durchdringen dieser keineswegs bloß von außen herangetragenen Möglichkeit einer wechselseitigen Erläuterung und Korrektur zwischen Luthers Christentumsverständnis einerseits und Fichtes Gotteslehre andererseits nicht nur den biographischen, sondern auch den sachlichen Fußpunkt der Theologie Hirschs erblickt. 35 d) Folgerungen für die Struktur der Glaubensgewißheit Hinter den beiden zuletzt angeführten Zitaten wird nun allerdings auch ein Vorbehalt Hirschs gegen Fichtes Modell der intellektuellen Anschauung sichtbar. Ist in ihm tatsächlich die Struktur der Negativität des Gottesverhältnisses zu seinem Recht gekommen, oder wird letzteres nicht doch 33

Hirsch war sich dessen bewußt, daß er sich damit ein gutes Stück weit auch von Holl entfernt hatte. Rückblickend bemerkt er von seinem Lehrer: "Er würde meine Dogmatik ... wegen ihres philosophisch durchreflektierten Gottesbegriffes ... nicht billigen können" (FCh 3 (1951), Nr. 10, S. 3). 34 H.-W. SCHÜTTE hat diese "Kombination von Luther und Fichte" so charakterisiert: "Der christliche Gehalt, der sich für E. Hirsch mit dem Namen Luthers verbindet und dessen Entfaltung einen erheblichen Teil seiner schriftstellerischen Arbeit ausmacht und ausmachen sollte, empfängt in der fichteschen Philosophie seine gleichsam formelle begriffliche Klärung" (Subjektivität und System 40). 35 Die Synthese von Luther und Fichte bildet auch den Rahmen von Hirschs Kierkegaard-Rezeption. 1924 erschien Kierkegaards Beichtrede "Die Reinheit des Herzens" in einer deutschen Ubersetzung von E. Geismar. In ihr entfaltet Kierkegaard ein Kapitel reformatorischer Bußtheologie unter der Leitkategorie der "Durchsichtigkeit". Hirsch urteilt in der Rezension über diese Rede: "Sie ist, als mich E. Geismar zum ersten Mal auf sie aufmerksam machte, mir der Schlüssel zu Kierkegaard] geworden" (ThLZ 50 (1925), Sp. 63). Zur Differenz Kierkegaard/Fichte bezüglich ihrer Stellung zum reformatorischen Christentum vgl. E. HIRSCH (Hrsg.): Sören Kierkegaard. Auswahl aus dem Gesamtwerk, 441.

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reduziert auf den Akt der "klaren stillen Gewißheit" (ICh 290) bzw. auf ein "ruhendes Sichversenken in die stille klare Einheit eines geschlossenen Erlebnisses" (ICh 80)? Diese Anfrage läßt sich ihrerseits nach zwei Richtungen interpretieren. Meint Hirsch, daß die Selbstvernichtung der Freiheit am Absoluten als bloßes Moment des Wissens grundsätzlich nicht in der Lage sei, die prinzipielle Antinomik des Gottesverhältnisses hinreichend zur Geltung zu bringen? Dieser Deutung widerspricht, daß Hirsch die für die Antinomie des Gottesverhältnisses konstitutive Duplizität von Grund und Grenze gerade in der Wissenschaftslehre von 1801/02 scharf herausgearbeitet sieht: Das absolute Wissen erlangt seine schlechthinnige Durchsichtigkeit, indem es sich am Absoluten vernichtet; so "trägt es in seinem freien sich verstehenden Selbstvollzuge auf seinem Grunde das absolute Sein, das die bestimmende Grenze seiner selbst (des Wissens) ist" (ICh 270). 3 6 Oder will Hirsch sagen, daß die Zentralstellung des Selbstvernichtungstheorems innerhalb der Darstellung von 1801/02 von den nachfolgenden Fassungen der Wissenschaftslehre nicht mehr so klar festgehalten, jenes vielmehr reduziert worden sei zu einem bloßen Moment des Erscheinens des Absoluten am Ort des Wissens bzw. zu einem bloßen Moment des Begriffs 3 7 in seiner Differenz zur Anschauung? Dafür scheint Hirschs Charakteristik der WL 1804 2 zu sprechen 38 sowie der Umstand, daß Hirsch seine kritischen Äußerungen zum Intuitionscharakter der intellektuellen Anschauung exemplarisch belegt mit einem späten Sonett Fichtes (vgl. ICh 58f), das vermutlich erst um 1812 entstanden ist 3 9 und - unbeschadet 36

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Auch JANKE erblickt "die Kehre der Wissenschaftslehre von 1801" in der "Einkehr des absoluten Wissens bis an seine Grenze und in seinen unverfugbaren Grund" (a.a.O. 416). "Darin ist Wissen begründet, daß es einen Grund und Ursprung ins Bewußtsein hebt.... Der Ursprung absoluten Wissens aber ist zugleich sein Ende" (a.a.O. 291f). STOLZENBERG bezeichnet dieses Schweben des Wissens zwischen seinem Sein und seinem Nichtsein als "Ausdruck des Bewußtseins der Nichtanalysierbarkeit des zu Analysierenden" bzw. umgekehrt der "Konstruktion eines nicht Konstruierbaren" (a.a.O. 375). Vgl. Hirschs Deutung der Selbstvernichtung des Begriffs als Moment der Selbstkonstruktion des erscheinenden Absoluten in FR 91-97. In der überarbeiteten Fassung seines einstigen Dissertationsprogramms, "Fichtes Gotteslehre 1794-1802", bemerkt Hirsch: "die Selbstvernichtung des Wissens am absoluten Sein, dieser Höhepunkt der W.L. 1801/02, hat ihm zu immer erneuter Besinnung Anlaß gegeben. Dabei hat sie sich ihm dahin bestimmt, daß in ihr ein Ursprung aus dem absoluten Sein zwar nicht angeschaut, wohl aber mitgedacht sei, daß also das Wissen, obwohl Genesis schlechthin und d.h. mit absoluter Freiheit sich vollziehend, eben als absolute Genesis nichts sei als Erscheinung des Absoluten, als Dasein des absoluten Seins. Diesen Gedanken so zu sagen, daß er nicht spinozistisch mißverstanden werde und die Philosophie der Freiheit aufhebe, ist das Bemühen der W.L. 1804" (ICh 285, Hhg.i.O.). Vgl. HENRICH a . a . O . 216f.

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der genaueren Datierung - eindeutig eine solche systematische Position zu erkennen gibt, wie sie für Fichte frühestens seit 1804 vorlag. Das würde aber besagen, daß allein das Selbstvernichtungstheorem in der Fassung der WL 1801/02 für Hirsch als zutreffende Strukturbeschreibung der Negativität religiöser Gewißheit zu stehen kommt. Eine solche Deutung wird in der Tat bestätigt durch Hirschs Verwendung desjenigen Fichteschen Begriffs, der bei der Analyse der Struktur religiöser Gewißheit programmatisch zur Anwendung gelangt. Deren Synthesis vollzieht sich - wie bereits ausgeführt - auf der Basis einer "Projectio per h i a t u m irrationalem" (Br 16). Dieser Begriff bezeichnet in der Wissenschaftslehre von 18042 das Verhältnis des Wissens zum Absoluten, aber - und das ist das Entscheidende - nicht wie es nach Fichtes eigener Auffassung zu bestimmen wäre, sondern wie es seiner Meinung nach für den Bewußtseinsstandpunkt des sogenannten Höheren Realismus zutrifft. Hirsch setzt nun ganz offensichtlich jenen 1804 von Fichte auf den Höheren Realismus gemünzten Begriff der Projectio per h i a t u m irrationalem unmittelbar gleich mit dem 1801/02 von Fichte selbst vertretenen Selbstvernichtungstheorem. 4 0 Damit weist er indirekt auf die Abschwächung jenes für Fichte einst zentralen Theorems in dessen späteren Wissenschaftslehren hin, wie er umgekehrt - und darauf kommt es hier in erster Linie an - die bleibende Relevanz desselben hinsichtlich der eigenen religionsphilosophischen Konzeption eines antinomisch verfaßten Gottesverhältnisses unterstreicht. Als wie grundlegend Hirsch dieses an Fichtes Selbstvernichtungstheorem orientierte Modell einer "Projectio per h i a t u m irrationalem" erachtet hat - und zwar genau im Hinblick auf dessen gedankliches Potential bezüglich der Rekonstruktion des reformatorischen Verständnisses von Glaubensgewißheit - wird daraus ersichtlich, daß er in seinem letzten systematischen Werk "Weltbewußtsein und Glaubensgeheimnis" aus dem J a h r e 1967 - also fast genau 50 Jahre nach dem Briefwechsel mit Tillich - die "Synthesis per h i a t u m irrationalem" (WG1 99) ausdrücklich als den "Träger einer von der gewöhnlichen Geistesevidenz sich unterscheidenden Gottesgewißheit" (WG1 99f) bezeichnet hat. Diese späten Äußerungen bekräftigen die bisherige These, daß die in Fichtes ausgereifter Wissenschaftslehre enthaltene Theorie des Absoluten für Hirsch das begriffliche Instrumentarium dazu gebildet hat, die im reformatorischen Verständnis von Glaubensgewißheit enthaltenen subjektivitätstheoretischen Strukturen gedanklich aufzuschlüsseln. 40

Die religionsphilosophische Bedeutung der Fichteschen Wissenschaftslehre besteht für Hirsch demzufolge darin, gezeigt zu haben, "daß wir gerade an dem synthetischen Charakter unsrer das Wahre ergreifenden Lebendigkeit die Erinnerung an den hiatus besitzen, der da klafft zwischen Gott und uns" (ICh 290).

Glaube als Gewißheit

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Daß die Evidenzerfahrung des religiösen Bewußtseins auf einer Projectio per hiatum irrationalem gründet, besagt nicht nur, daß sich das Sein des Absoluten der allgemeinen Geistesevidenz faktisch entzieht, vielmehr ist damit zugleich deren grundsätzliche Fähigkeit zur Einsicht in die Nichteinsehbarkeit des Absoluten gesetzt. Daraus folgt umgekehrt, daß ein rein auf die religiöse Gewißheit aufgebautes System religiöser Vorstellungen notwendigerweise undeduzierbar, d.h. "kein genetisches" (Br 16) ist. 4 1 Dies bedeutet nun aber keineswegs, daß die religiöse Gewißheit keiner logischen Operationen fähig wäre. Im Gegenteil, es kann gezeigt werden, daß sie ohne solche gar nicht denkbar ist. Oben hatte sich ergeben, daß der Synthesischarakter der religiösen Gewißheit ausschließlich in der materialen Bestimmtheit des Gottesgedankens seinen Ursprung hat. Und es wurde des weiteren dargelegt, daß dieser Gottesgedanke im Sinne des reformatorischen Rechtfertigungsglaubens wesentlich antinomisch verfaßt ist. Beides zusammen genommen besagt, daß die konträre Bestimmtheit des Gottesgedankens als solche die synthetische Struktur der Glaubensgewißheit begründet. "In ihr schließt ein die Antinomie im Glauben umspannendes Gotterleiden die widerstreitenden Züge zusammen zu einem Bilde von Gott in seiner ewigen Wahrheit, von des Menschen Verhältnis und Weg zu ihm, von dem wahren und ewigen Sinn des irdischen Daseins des Menschen als freier Geist" (WG1 98f). Allein dadurch, daß jene konträren Merkmale in der Glaubensgewißheit zur Einheit verbunden werden, vermag diese die Widerspruchseinheit des Gottesgedankens mit Evidenz nachzuvollziehen. Sie weist darum notwendigerweise auch in logischer Hinsicht die Form der Synthesis auf. Zugleich aber vermag sie über die Gültigkeit ihrer Synthesis bzw. über die Gültigkeit der Einheit der von ihr verbundenen Merkmale keine Rechenschaft zu geben. Genau dieser Eigenschaft wegen bezeichnet Hirsch die den Evidenzcharakter des Gottesgedankens konstituierende Synthesis der religiösen Gewißheit als "Synthesis per hiatum irrationalem" (WG1 98). Das Bewußtsein der Einheit des antinomischen Gottesgedankens ist eine "Synthesis, die alle unsre Begriffe sprengt" (ICh 80), weil - im Unterschied zur begrifflichen Synthesis - jene Einheit als am Orte des Bewußtseins grundsätzlich nicht herstellbare, aber gleichwohl als hier zur Gewißheit gelangende gesetzt wird. Auch dem Gehalt nach handelt es sich um eine "Synthesis ... über alle Synthesen" (ICh 114), sofern sie nämlich absolute Gegensätze als absolut vereinigte setzt. Weil das Innewerden Gottes eine Projectio per hiatum irrationalem einschließt, eben 41

Wissen ist für Fichte der selbstreferentielle Übergang von faktischer in genetische Evidenz. Zum Begriff der Genesis in der WL 18042 vgl. F R 91.96 sowie neuerdings H . R A D E R M A C H E R , a . a . O . 103FF.

Theorie der Subjektivität

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d a r u m läßt es sich "durch keine Synthesis nach den Regeln denkender oder handelnder dialektischer Bewegung meistern" (WG1 98). Die Struktur der Projectio per h i a t u m irrationalem bildet die spezifische Differenz der Glaubensgewißheit gegenüber der "genetisch in sich vermittelten Evidenz freier vernünftiger Geistigkeit". Die "Duplizität von Vernunftevidenz und Glaubensgewißheit" (WG1 99) ist unauflösbar. Das "Innewerden des ' A n d e r n ' " , welches im frühen Briefwechsel mit Tillich die Besonderheit der religiösen Gewißheit gegenüber der allgemeinen Geistesevidenz konstituierte, hat mit Hilfe der von Fichtes Selbstvernichtungstheorem her interpretierten Struktur der "Projectio per h i a t u m irrationalem" seine subjektivitätstheoretische Begründung empfangen. Aus dieser formalen Strukturverfaßtheit ergeben sich für Hirsch wichtige Konsequenzen hinsichtlich der religionspsychologischen Gestalt der Glaubensgewißheit. Der antinomische Gehalt des religiösen Erlebnisses "läßt sich wohl denkerisch ... zur Einheit eines paradoxen Verhältnisses zusammenschließen, aber nicht in der Wirklichkeit eines persönlichen Verhältnisses zu dem lebendigen Gott" (Lf § 60.Α.). Jede begriffliche Vermittlung scheitert letztlich an der "Unterscheidung der dialektischen Lösbarkeit und persönlichen Unvollendbarkeit" ( C h R I, 286). Sowohl nach ihrem Widerspruchscharakter als auch nach ihrem Einheitscharakter erweist sich die Glaubensgewißheit als eine "persönlich durchlebte Synthesis per hiat u m irrationalem" (WG1 98). Diese Erlebnishaftigkeit der Synthesis verleiht der Glaubensgewißheit eine unvermeidliche Instabilität. "Uber eine diese Synthesis per h i a t u m irrationalem glaubend umfassende Subjektivität kann ... jeden Augenblick aufs neue der Widerstreit hereinbrechen. Dann taucht das zu ihr kommende Bild von Gott, von dem Wege zu ihm und vom rechten Menschsein in der Welt jäh zurück in das Dunkel" (WG1 99). Jene Instabilität resultiert nicht aus der Erlebnisbedingtheit rein als solcher, sondern aus dem Umstand, daß jene Erlebnisse strukturell von der Art sind, daß sie nicht durch Selbsttätigkeit herbeigeführt werden können, vielmehr umgekehrt alle Selbsttätigkeit in ihnen sich am Innewerden Gottes vernichtet. Glaubensgewißheit hat immer die Form einer individuellen inneren Geschichte des Menschen mit Gott und fällt damit notwendig unter die Kategorie der religiösen Erfahrung. Den Antipsychologismus der frühen Dialektischen Theologie hat Hirsch als einen ihrer theologisch schwerstwiegenden Irrtümer eingestuft. 4 2 Am Erfahrungscharakter der Glaubensgewißheit lassen sich folgende Aspekte unterscheiden: Erstens, der Glaube wird - unbeschadet seiner materialen Bestimmtheit und assertorischen Form - der Wahrheit Got42

Vgl. ChR I, 47.

Glaube als Lebensganzheit

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tes immer nur als einer "im Glaubensgeheimnis per hiatum irrationalem ergriffenen" (WG1 100) gewiß. Der Geheimnischarakter des Innewerdens Gottes ist das die Evidenz des Glaubens von allen übrigen Arten der Evidenzerfahrung erlebnismäßig unterscheidende Merkmal. Zweitens, Glaubensgewißheit ist "kein ruhendes Sichversenken in die stille klare Einheit eines geschlossenen Erlebnisses" (ICh 80), sondern führt in die "antinomische Tiefe des Glaubensgeheimnisses, in der Erlebnis und Gegenerlebnis unentrinnlich miteinander verschmolzen sind" (WG1 94). In derjenigen Synthesis, die der Glaubensgewißheit eignet, treten die konträren Grundmomente stets erlebnismäßig kopräsent auf. Die Glaubensgewißheit hat darum in qualitativer Hinsicht die Form eines Kontrasterlebnisses, in genetischer Hinsicht die Form eines Durchbruchserlebnisses. Inhaltlich führt Hirsch dies insbesondere an den reformatorischen Gegensatzpaaren lex/euangelium, iudicium/gratia, mortificatio/vivificatio durch (vgl. Kap. V.B.2.b). Drittens, weil die Antinomie der Glaubensgewißheit nicht von dieser selbst hervorgebracht wird, sondern in der Widerspruchseinheit des materialen Gottesgedankens, auf den sie bezogen ist, ihren Ursprung hat, deshalb vollzieht sich die Glaubenserfahrung in Gestalt passiver Synthesen. Glaubensgewißheit ist kein Spontaneitätserlebnis, sondern ein "die Antinomie im Glauben umspannendes Gotterleiden" (WG1 98). Alle drei religionspsychologischen Aspekte der Glaubenserfahrung lassen sich zusammenfassen im Begriff des inneren Wunders: "Die Gewißheit, die dem Glaubensgeheimnis eigen ist, bleibt ein von Gottes Verborgenheit her unbegreiflich uns ins Herz hineinleuchtendes Wunderlicht" (WG1 99). Ohne die Kategorie des inneren Wunders ist nach Auffassung Hirschs jede Beschreibung religiöser Gewißheitserfahrung unvollständig. Damit soll in gar keiner Weise der Einführung und Anwendung supranaturalistischer Zusatzhypothesen das Wort geredet sein. Vielmehr ist die subjektive Erfahrung eines inneren Wunders nichts anderes als die erlebnismäßige Gestalt der subjektivitätslogischen Erkenntnis, daß die Vernunftevidenz ihre Vollendung findet an der Einsicht in die Nichteinsehbarkeit des Absoluten.

3. D e r G l a u b e als ganzheitlicher L e b e n s a k t Hirschs Neukonzeption des Glaubensbegriffs - wie seine gesamte philosophische und theologische Anthropologie - bezieht ihre Eigenart nicht zuletzt daraus, daß sie die ganzheitliche Bestimmtheit des Menschen durch das Gottesverhältnis zu einem besonderen Gegenstand ihrer begrifflichen Analysen macht. Daß der Mensch in seiner Ganzheit betroffen ist, wenn er sich im Glauben als vor Gott stehend erfährt, dieser Gedanke scheint

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Theorie der Subjektivität

zu den theologischen Selbstverständlichkeiten zu gehören, birgt aber in Wahrheit eines der kompliziertesten subjektivitätstheoretischen Probleme in sich, welches nicht im entferntesten auf den Status rein praktischer Anwendungsfragen - sei es der Predigt oder Seelsorge, sei es der religiösen Lebenspraxis - reduziert werden kann. Hirschs subjektivitätstheoretische Beschreibung des Gottesverhältnisses hebt es deshalb als einen eigenständigen Programmpunkt hervor, daß sie "den Menschen entschlossen als ein lebendiges Ganzes faßt und die - auch in unsrer Dogmatik und Ethik auf grund jahrhundertalter Uberlieferung noch immer weitergeschleppte - törichte Absonderung einzelner Vermögen Kräfte Eigenschaften Handlungen von der bedingenden Mitte des Ich unvollziehbar macht" (SchS 19). Die so bezeichnete Aufgabe zerfällt ihrerseits in zwei Teilaufgaben: erstens, die Bestimmung des Menschen nach seiner Lebendigkeit und Lebensganzheit, und zweitens, die Bestimmung des Glaubens als Lebensganzheit. a) Die Anknüpfung an Fichtes Freiheitsverständnis Hirschs Überlegungen zur Struktur ichhafter humaner Lebendigkeit lassen keinen Zweifel daran, daß sie sich den diesbezüglichen Grundeinsichten neuzeitlicher Subjektivitätstheorie verdanken. Sie berufen sich geradezu programmatisch auf "die vom idealistischen Denken ernst genommene Wahrheit, daß der Mensch kein Ding ist und jeder Erfassung nach den Maßstäben und mit den Denkmitteln, vermöge derer wir des Dinghaften, Gegenständlichen uns geistig bemächtigen, sich unweigerlich entzieht" (SchS 16). Piatons Begriff der Seele und Aristoteles' Begiff der Naturbewegtheit h a t t e n noch gleichsam selbstverständlich mit dem Phänomen der Selbstbewegung gerechnet. Diese Voraussetzung bestimmte auch nahezu die gesamte Tradition der abendländischen Theologie und Philosophie. Es war Kant, der als erster - provoziert vor allem durch Newtons Auffassung von Natur als durchgängig bestimmtem, mathematisch darstellbarem Gesetzeszusammenhang - die Möglichkeit von Selbstbewegung in einem prinzipiellen Sinne thematisierte. Das von ihm formulierte Freiheitsproblem wurde geradezu zur Signatur neuzeitlichen Denkens überhaupt. Fichte hat sich die von Kant heraufgeführte Problemkonstellation uneingeschränkt zu eigen gemacht und zwar in einem solchen Maße, daß er in der Alternative zwischen dem Determinismus eines Spinoza und dem Freiheitsgedanken des Transzendentalen Idealismus die philosophische Grundentscheidung schlechthin ausgedrückt fand. Hirschs Freiheitsverständnis wurzelt ganz in dieser Kantisch-Fichteschen Tradition. Diese Feststellung mag auf den ersten Blick überraschen.

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H a t t e Hirsch nicht in der Vorrede seines Idealismus-Buches u n t e r Berufung auf Luthers Schrift "De servo arbitrio" noch ganz anders geurteilt: " 'Sequitur nunc, liberum a r b i t r i u m esse plane divinum n o m e n nec ulli posse competere q u a m soli divinae m a i e s t a t i ' (W.A. X V I I I 636), an diesem W o r t e stirbt die Philosophie der Freiheit" (ICh S. VII)? Hirsch k o m m t auf diese Frage selber zu sprechen. "Man h a t es als einen W i d e r s p r u c h meines Denkens e m p f u n d e n , daß ich, obwohl wie L u t h e r strenger Prädestinatianer, dennoch den Menschen konkret, lebensmäßig als jeder N a t u r notwendigkeit widerstehende Freiheit fasse .... Ich h a t t e e r w a r t e t , daß die Unterscheidung des naturalistischen Determinismus, der den Menschen z u m t o t e n Stücke der natürlich-geschichtlichen Wirklichkeit m a c h t , u n d des religiösen, der G o t t e als d e m Alleinwirkenden die E h r e gibt, geläufiges theologisches Gedankengut wäre" (SchS 91f A n m . 14). Es sind sonach im Begriff der Freiheit immer die möglichen Hinsichten zu unterscheiden. Die B e h a u p t u n g der Freiheit des Menschen mit Bezug auf das Dasein in der Welt ist mit der B e h a u p t u n g seiner schlechthinnigen Abhängigkeit im Hinblick auf G o t t durchaus verträglich. In diesem Sinn fußt Hirschs Freiheitsverständnis vorbehaltlos auf dem t r a n s z e n d e n t a l e n Begriff der Freiheit 4 3 , der f ü r das Kantisch-Fichtesche Denken die notwendige Voraussetzung einer jeden Theorie der Moralität bildet. 4 4 Eine Theologie der Freiheit kann auf eine solche t r a n s z e n d e n t a l e Grundlegung ohne weiteres a u f b a u e n und wird es sinnvoller Weise auch t u n ; denn ihre spezifische A u f g a b e liegt nicht darin, den Freiheitsbegriff ü b e r h a u p t zu etablieren, sondern zu zeigen, wie "der lebendige Mensch in seiner Freiheit u n d an seiner Freiheit selber das Gottesverhältnis e r f ä h r t " (SchS 20). Hirschs erste anthropologische G r u n d t h e s e lautet d a r u m : "Mensch sein heißt allein in t a t h a f t e m Sichverwirklichen sein, heißt Freiheit sein" (SchS 16; Hhg.i.O.). Der "ontologische" S t a t u s freier menschlicher Lebendigkeit - von welchem u n t e r idealistischen Denkvoraussetzungen allerdings n u r m e h r m e t a p h o r i s c h die Rede sein kann - ist der eines "esse in mero actu" (ebd.). D a m i t greift Hirsch explizit eine Formel aus Fichtes Wissenschaftslehre von 1804 2 auf. 4 5 Jene A k t u o s i t ä t k a n n handlungstheoretisch aufgespalten werden in eine wirkende Instanz als Ursprung des Handelns u n d in Handlungszwecke als Resultat willentlicher Selbstbes t i m m u n g . Beide M o m e n t e lassen sich aber n u r durch A b s t r a k t i o n unterscheiden. In W a h r h e i t vollzieht sich Freiheit "nur im lebendigen, zwischen G r u n d u n d Ziel schwebenden sich Entscheiden und Vollbringen" (ebd.). 43 44 45

Im Idealismus-Buch von 1926 wird er von Hirsch vor allem unter der Bezeichnung "Lebendigkeit" erörtert. Auch für Hirsch ist die "Lebendigkeit" des Menschen immer schon im Vollzug des "Entscheidungslebens" impliziert. Vgl. Fichte: SW X, 206.

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Wie aber kann solche zwischen Grundbestimmtheit und Zielbestimmtheit schwebende Aktuosität, an der "alles Gesetz und Ordnung in der Wahrnehmungswelt fassende Begreifen zerbricht" (ebd.), als Strukturmerkmal Eingang in die Bestimmung des Glaubensbegriffs finden? Hirsch beantwortet diese Frage nicht unmittelbar, sondern schaltet eine weitere Vorüberlegung ein. Sie betrifft die interne Ausdifferenzierung jener aktuosen Lebendigkeit für diese selbst. Auch hierbei folgt er einem Theorem Fichtes. Die "zweite Wahrheit, die das idealistische Denken in seiner Lehre vom Menschen ernst genommen hat", gilt dem Sachverhalt, daß die "allein in lebendigem Tun seiende Menschlichkeit als ein freies Uberspannen innerer Spannungen verstanden werden will" (SchS 18). Hirsch hat Fichtes Beschreibung der internen Struktur der Selbsterfassung von Freiheit vor Augen, derzufolge sich Freiheitsbewußtsein spaltet in ein reflektierendes und ein reflektiertes Bewußtsein. Verbindet m a n beide idealistischen G r u n d a n n a h m e n miteinander, so ergibt sich die These, "daß unser Geist als freies zwischen der Zweiheit seines Grundes und, seines Zieles schwebendes Tun notwendig darin zugleich die Zweiheit von Leben und Denken überfasse, und daß die so sich ergebende Gestalt der Fünffältigkeit an jedem noch so einzelnen Momente menschlichen Lebens wiederkehre, sobald der Geist sich in diese Einzelheit hineingebe" (ebd.; Hhg. i. 0 . ) . Es ist das Fichtesche Modell der fünffachen Synthesis, auf das Hirschs Freiheitsverständnis a u f b a u t . Fichte entwickelte es erstmalig in der 1798 zu Jena vorgetragenen Wissenschaftslehre "Nova methodo" 4 6 , u m es dann in populären Schriften und vor allem in semen Berliner Wissenschaftslehren der J a h r e 1801/02 4 7 , 1804 48 und 46

47 48

Noch vor der vollständigen Publikation der "Nova Methodo" durch H. Jacob (vgl. Fichte AA IV.2, 2) veröffentlichte Hirsch Teile daraus in seiner Habilitationsschrift (ChG 62-67) und im Idealismus-Buch (ICh 291-307). Auf die komplizierte Quellenlage einschließlich der Datierungsfragen (vgl. FR 59 Anm. 3; ChG 67 Anm. 9; ICh 151 Anm. 4) kann hier nicht eingegangen werden. Wichtiger ist, daß unter den von Hirsch mitgeteilten Fichteschen Diktaten auch § 2 enthalten ist (vgl. ICh 301; jetzt in: Fichte AA IV.2, 36f.40), der die erste Fassung des Schemas der Fünffachheit darstellt (vgl. ICh 286 Anm. 3). Die Erkenntnis der systematischen Schlüsselstellung dieses Strukturmodells gehört zu den genuinen Momenten der Fichte-Deutung Hirschs. - Zur Struktur der Fünffachheit in der Nova Methodo vgl. jetzt M. WUNDT, a.a.O. 134-141; D. HENRICH, a.a.O. 211 Anm. 21; H.-J. M Ü L L E R : Subjektivität als symbolisches und schematisches Bild des Absoluten, 158-190; G. M E C K E N S T O C K : Vernünftige Einheit, 7 3 - 7 9 . Vgl. ICh 286 Anm. 3. - Zur fünffachen Synthesis in der WL 1801/02 vgl. jetzt W. JANKE, a.a.O. 255-257; MECKENSTOCK, a.a.O. 149-159. Vgl. FR 118 Anm. 3; ICh 287. - Zum Schema der Fünffachheit in der WL 1804 2 vgl. jetzt M. WUNDT, a.a.O. 233f; J. WIDMANN: Die Grundstruktur des transzendentalen Wissens; H.-W. SCHÜTTE: Lagarde und Fichte, 77-86; W. JANKE, a.a.O.

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18 1 2 49 systematisch auszuweiten und zu vertiefen. Jene - im ersten Teil dieses Kapitels anhand der Darstellung von 1801/02 exemplarisch erläuterte - Fünffachheit, bestehend aus zwei verschiedenen, aber zugleich sich überlagernden, in sich selbst jeweils noch einmal konträr verfaßten Doppelbewegungen mit einem zwischen diesen vier Momenten schwebenden Einheitspunkt als fünfter Position, eben dieses Schema fungiert für Hirsch als ein solches, mit dessen Hilfe Freiheitsbewußtsein als in sich einiges und zugleich gegliedertes gedacht werden kann. Hirsch betont zu Recht, daß die synthetische Fünffachheit bei Fichte nicht nur der Beschreibung der Hauptmerkmale des Freiheitsbewußtseins dient, sondern darüber hinaus auch der Analyse aller seiner Einzelmomente. Es handelt sich sonach u m ein Strukturmodell der Bestimmung von Bewußtseinsagilität überhaupt. Und Hirsch hebt des weiteren hervor, daß die Fünffachheit bei Fichte keineswegs nur auf abstrakte Formen mentaler Tätigkeit, sondern auch auf real erscheinende Bewußtseinspositionen Anwendung findet. In all den genannten Fällen erfolgt die Ausdifferenzierung nie auf Kosten der Einheit des Auszudifferenzierenden, weil die Durchstrukturierung immer eine Wechselbestimmtheit der Momente zum Ergebnis hat. In diesem Sinne bildet Fichtes Schema der Fünffachheit für Hirsch die "Form der Lebensganzheit unsrer Freiheit" (SchS 22). Mit dem gerade erörterten Strukturmodell ist nun allerdings lediglich eine Beschreibung der internen Verfaßtheit reflexiver Freiheitsaktivität gegeben, nicht jedoch eine Begründung im strikten Sinne. Fichte seinerseits h a t t e eine solche erbracht, indem er die Konstruktion jenes Schemas als noch zu äußerlich und darum lediglich propädeutisch herabstufte und dessen Momente aus der reinen Selbstkonstruktion der intellektuellen Anschauung hervorgehen ließ. Genau an dieser Stelle aber trennen sich Hirschs und Fichtes Wege. Der Grund dafür h a t t e sich bereits im vorigen Abschnitt ergeben: Hirsch bestreitet der intellektuellen Anschauung eine Letztbegründungsfunktion im Hinblick auf die Konstitution von Subjektivität und behält diese dem unmittelbaren Gottesverhältnis des Glaubens vor. Die von Fichte in Gestalt der äußeren Konstruktion aufgewiesene Fünffachheit aber bleibt für ihn gleichwohl in Geltung, und zwar deshalb, weil allein mit ihrer Hilfe die lebendige Ganzheit der Freiheit sowohl formal als auch material adäquat auf den Begriff zu bringen sei. Es ist sonach gerade die Äußerlichkeit jener Konstruktion der Fünffach-

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54-59; G. MECKENSTOCK: Das Schema der Fünffachheit, 85-199. Vgl. ChG 40f Anm. 3. - Zur Deduktion der Fünffachheit in der WL 1812 vgl. jetzt G. SCHULTE: Die Wissenschaftslehre des späten Fichte, 116-124. Für das Verständnis der Genese der Spätphilosophie Fichtes ist immer noch grundlegend J. DRECHSLER: Fichtes Lehre vom Bild.

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heit, die für Hirsch deren Ablösbarkeit von der Letztbegründungsfunktion, die Fichte mit der inneren Selbstkonstruktion der intellektuellen Anschauung verbunden hatte, rechtfertigt und damit zugleich die Anwendung jenes Modells auch außerhalb eines Systems der intellektuellen Anschauung ermöglicht. Das Schema der Fünffachheit wird so für Hirsch zum Strukturprinzip des h u m a n e n Freiheitslebens in seiner unmittelbaren Beziehung auf Gott. An die Stelle der höchsten Synthesis der Selbstkonstruktion der intellektuellen Anschauung bei Fichte tritt bei Hirsch die synthetische Struktur des Gottesverhältnisses. Will man daher den Glaubensbegriff im Sinne einer Totalbestimmtheit des menschlichen Daseins exponieren, dann m u ß m a n "das Anteilhaben des Gottesverhältnisses an der Form der Lebensganzheit unsrer Freiheit dadurch deutlich machen, daß m a n auch es unter die fünffältige Form stellt, die wir am Freiheitsleben geschaut haben" (SchS 22). Hirsch expliziert das in die Fünffachheit des Freiheitslebens eingegangene Gottesverhältnis in der Weise, daß er all die oben genannten Merkmale der Fünffachheit der Freiheit, also die Zwiefachheit von Grund und Ziel, die Duplizität von unmittelbarer und reflektierter Ichheit sowie die beide Gegensätze übergreifende Einheit als Strukturmomente des Gottesverhältnisses nachweist. In methodischer Hinsicht folgt daraus, daß die Ganzheit des lebendigen Gottesverhältnisses nur dort in Ansatz gebracht werden kann, wo sich ein Spannungsgeflecht zweier sich überlagernder und zugleich in sich polarer Tätigkeiten des religiösen Bewußtseins aufzeigen läßt. Die Ganzheit der einzelnen Momente des Gottesverhältnisses besteht allein im wechselseitigen Sich-Fordern solcher wechselseitig irreduziblen Grundfunktionen. Der virtuelle Fokus des In-sich-Schwebens derselben bildet die innere Einheit des religiösen Lebens.

b) Die menschliche Freiheit als Relat des Gottesverhältnisses Wie ist zunächst die Duplizität von ursprungsbezogener und teleologischer Bestimmtheit als Strukturmerkmal des Gottes Verhältnisses aufzufassen? Die Beantwortung dieser Frage hat einzusetzen bei der Bestimmung der menschlichen Freiheit als eines Momentes des Gottesverhältnisses. Den Ausgangspunkt dafür bildet für Hirsch die paulinisch-reformatorische Rechtfertigungslehre: "Der schärfste begriffliche Ausdruck, den dies Geheimnis bisher in der Reflexion gefunden hat, ist Luthers Deutung der paulinischen Gottesgerechtigkeit als einer von uns erlittenen Gerechtigkeit" (SchS 22). Gemäß dieser Verschränkung von servum arbitrium hominis

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und iustitia Dei passiva "ist der Freiheit des Menschen die Paradoxgestalt des Leidens, genauer des Leidendtuns gegeben". Jeder Freiheitsakt hat die Form eines "erlittenen Tatvollzugs" (ebd.). Menschliches Dasein aus Gott ist sonach "der lebendige Widerspruch gesetzter Freiheit" (SchS 18). Vor dem Hintergrund der antinomischen Verfaßtheit endlicher Freiheit läßt sich nun auch die Gegründetheit und Zielgerichtetheit menschlicher Freiheitsaktivität bestimmen, sofern sie als endliches Relat in das Gottesverhältnis eingeht. Darin, daß der Mensch "gewirkte Freiheit, als Kreatur gesetzte Freiheit" (SchS 17) ist, liegt zweierlei: Zum einen, menschliche Lebendigkeit ist "nicht aus sich selber und durch sich selber, sie hat einen Urständ jenseits ihrer in der unergründlichen verborgenen Freiheit des alleinwirkenden Gottes.... All ihr freies sich Entscheiden und Vollbringen ist nichts denn Vollzug des ihr undurchdringlichen göttlichen Waltens und Führens" (SchS 16f). Dieses verborgene Gegründetsein in Gott ist für das "Gegenüber der Reflexion" - "falls sie sich auf es besinnen sollte" "eine undurchschaubare heilige Notwendigkeit" (SchS 17). Zum andern, wie der freie Grundimpuls des Handelns sich erst im "Ziele des konkreten Willensausdrucks" (SchS 18) vollendet, so schließt auch die verborgene Gegründetheit der Kreatur in Gott eine konkrete Zielbestimmtheit derselben ein. Gottes Alleinwirksamkeit ist als schöpferisches Wort zugleich ein "Rufen des Menschen hinein in das Sicherkennen als Werkzeug Gottes" (SchS 21) und damit ein Ruf zu Gott verantwortlicher Freiheit. Menschliche Freiheit kann sich immer nur so auf Gott beziehen, daß sie die eigene Lebendigkeit "ganz und gar" (SchS 23) in Gottes schöpferischer Alleinwirksamkeit gegründet und dadurch zugleich teleologisch qualifiziert sein läßt, nämlich als "ErschafFensein ... zum Gottesverhältnis" (SchS 24). Die eigentümliche Lebendigkeit von Gott geschenkter Freiheit besteht darin, daß die religiöse Ausdeutung jedes Existenzvollzugs unaufhörlich schwebt zwischen dessen verborgener Ursprungsbezogenheit und dessen kreatürlicher Zielbestimmtheit. Das lebendige Gottesverhältnis läßt sich weder auf seine Ursprungsdetermination noch auf seine Telosdefinition reduzieren. Die verborgene Gegründetheit in Gott und die konkrete Zielbestimmtheit zu einem Dasein vor Gott sind dem lebendigen Gottesverhältnis vielmehr gleichursprünglich. Damit gelangen wir zu der anderen Duplizität, nämlich zu der von unmittelbarer und reflektierter Ichheit. Sie ist für die Lebendigkeit des Gottesverhältnisses in demselben Grade konstitutiv wie die gerade verhandelte. Diese zweite Polarität läßt sich nach Hirsch in der Weise entfalten, daß gezeigt wird, inwiefern "die freie menschliche Lebendigkeit nach ihrem Verhältnis zur Einzelheit" (SchS 20) durch den Sachverhalt ihrer verborgenen Gegründetheit in Gott und ihrer kreatürlichen Bestimmtheit zu einem Dasein vor Gott eine inhaltliche Näherbestimmung empfängt.

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Zunächst, das Bewußtsein des in Gott Gegründetseins schließt die Erfahrung von Ichheit mit ein. Gott "zeigt sich mir, gerade mir, als mein Schöpfer und Herr. So werde ich an Gott, in Gott erst wahrhaft ein einzelner, ein Ich" (SchS 21). Und wie die Ursprungsbezogenheit der Freiheit überhaupt deren Zielgerichtetheit korrespondiert, so kann auch die Ursprungsbezogenheit religiöser Icherfahrung nicht ohne deren Zielgerichtetheit gedacht werden. "So gewiß ich in meiner kreatürlichen Freiheit als zum Gottesverhältnis bestimmt mich finde, so gewiß finde ich mich als zur Einzelheit hin von Gott geschaffen". Die religiöse Dimension der Icherfahrung besteht sonach im Wissen der Freiheit um ihre "Eigengegriindetheit in Gott", und zwar in dem Doppelsinn einer "Innigkeit" aus Gott und einem "Innewerden" (ebd.) zu Gott hin. Diese - in sich duplizitäre - Erfahrung der Eigengegründetheit in Gott wird nun allerdings entscheidend modifiziert durch die Einbeziehung der Reflexion auf die Art des In-Gott-Gegründetseins der Freiheit. Letzteres erwies sich für jene als schlechterdings undurchdringlich. Diese schlechthinnige Verborgenheit des Ursprungs der Freiheit teilt sich auch der Icherfahrung mit, in der jene Reflexion ihren Sitz hat. "Zu dem Gott spricht, der geht aus seinem Vaterlande und aus seiner Freundschaft und aus seinem eignen Leben in ein Land, da er sich selbst nicht kennt. Er hört auf, in sich stehende Freiheit zu sein" (ebd.). Der religiösen Erfahrung von Selbstheit korrespondiert notwendigerweise die religiöse Erfahrung von Selbstentzogenheit. Dieser Selbstentzug des Ich ist kein der Freiheit widerstreitendes Moment, sondern hat in dieser selbst seinen Ursprung. Das Selbstbewußtsein kreatürlicher Freiheit besteht zunächst in dem Wissen, "daß ich auch in meiner Freiheit ein Bedingtes, Gesetztes bin". Daß die sich so verstehende Freiheit darüber hinaus um die schlechthinnige Verborgenheit ihres Gegründetseins in Gott weiß, bedeutet für sie den "Verlust aller Eigengegründetheit an Gott". Auf die teleologische Struktur des Gottesverhältnisses rückbezogen hat diese Abtretung des Eigenstandes an Gott zur Folge, daß das Wissen um die Endlichkeit individueller Freiheit zu einem solchen "Innewerden" alteriert, "das sie über sich selbst hinausreißt" (ebd.). Das Selbstbewußtsein kreatürlicher Freiheit enthält neben der Erfahrung von Gott getragener und geleiteter Ichheit sonach immer zugleich das Bewußtsein der "Ichverlorenheit" (SchS 23), und zwar in den beiden beschriebenen Formen von ursprungsverlorener und zielverlorener Selbstentzogenheit. Menschliche Freiheit als Relat des Gottesverhältnisses nach ihrer Einzelheit betrachtet ist sonach "Innigkeit und Ubersprung in einem" (SchS 21). Es ist für Hirschs Verständnis des Wesens des Glaubensvollzuges grundlegend, daß religiöses Selbstbewußtsein, d.h. ichhaft verfaßte Er-

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fahrung mit Gott, nie anders als in einem "Urgegensatze" zur Darstellung kommt. "Es ist ... das Merkwürdige am Gottes Verhältnis, daß es den Menschen sich selbst innerlich macht und doch ihm den Mittelpunkt außer seiner selbst anweist" (ebd.). Die für Luthers Gewissensbegriff signifikante These, daß der Mensch unter dem Wort Gottes seine wahre Selbstheit erfährt und sie zugleich transzendiert, hat auf diese Weise eine subjektivitätstheoretische Näherbestimmung empfangen. Die beiden einander überlagernden, in sich konträren Doppelbewegungen des lebendigen Gottesverhältnisses sind damit gekennzeichnet: Bezüglich des Gegensatzes von ursprungsbezogener und zielgerichteter Bestimmtheit vollzieht sich das lebendige Gottesverhältnis in der Antinomie von Innigkeit und Ubersprung. Worin besteht nun aber das fünfte Moment, welches jene vier Bewegungen des Gottesverhältnisses als Vereinigungsposition überspannt und so zur Einheit einer in sich schwebenden FünfFachheit bringt? " Unser Überspannen ... kann es ... nicht sein, sonst wäre die Freiheit der Herr Gottes, und damit Gott zum Dämon, die Religion ganz in die Zauberei verkehrt.... So kann es allein das Überspannen ... Gottes selber sein, das christlich als das Wunder der Geistessendung und des Lebens im Geiste beschrieben wird" (SchS 22). Die Ganzheit der Struktur des lebendigen Gottesverhältnisses bzw. deren reale Identität muß ihrerseits als gesetzte Freiheit verstanden werden. Die organische, ebensowohl in sich einige wie in sich differenzierte Einheit des lebendigen Gottesverhältnisses, welche die darin enthaltenen konträren Bewegungen schwebend überspannt, ist der Geist des göttlichen Lebens selbst. Damit hat sich die volle Struktur des lebendigen, in das Freiheitsleben eingegangenen Gottesverhältnisses ergeben. "Aus dem Grunde des unschaubaren, unverfügbaren göttlichen Waltens und Führens wird durch den Geist, den die Freiheit erleidet, um in diesem Erleiden erst recht Freiheit zu sein, der Gegensatz von Innigkeit und Ubersprung, oder auch von Eigengegründetheit und Ichverlorenheit, überspannt zum Ziele der bestimmten Herzensgestalt hin" (SchS 22f; Hhg.i.O.). Religiöses Selbstbewußtsein oder die Erfahrung eines Ich mit Gott liegt überall dort vor, wo ein Mensch "in Innigkeit und Übersprung sich als Gottes Geist erleidende Freiheit versteht" (SchS 30). Genau darin liegt aber "die ganze fünffältige Form des Gottesverhältnisses" (SchS 31). Wird die menschliche Freiheit zum Relat des Gottesverhältnisses, dann ist. auch der Vollzug des Glaubens unmittelbar davon betroffen. Die daraus resultierende lebendige Ganzheit des Glaubens schließt es ebensowohl aus, daß die Glaubenserfahrung auf eine bestimmte Provinz des Gemütes eingegrenzt wird, wie es ihr widerspricht, mit der Einnahme eines Bewußtseinsstandpunktes bzw. der Position faktischer Evidenz identifiziert zu werden. Der Glaube betrifft das menschliche Dasein in seiner Totalbestimmtheit

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u n d läßt sich d a r u m nur in einem Geflecht von in sich konträren Akten religiöser Selbstauslegung realisieren. Das freie Leben des Glaubens ist die spannungsvoll bewegte Geschichte des Umgangs des Ichs mit sich selbst in seinem Sein vor Gott. Die strukturelle Fünffachheit des individuellen Gottesverhältnisses hat Hirsch vor allem dann im "Leitfaden" zur Geltung gebracht, und zwar in allen Systemteilen bzw. "Lehrkreisen". 1. F ü r die Verfaßtheit allgemein-humaner Religion gilt: Frömmigkeit ist ein Schweben "zwischen den beiden antithetischen Bestimmungen" (Lf §55.B.) Gottes als des Herrn und Geist und zugleich ein Schweben in der "Doppelbewegung" (Lf §55.M.3.) von Andacht zu Gebet und umgekehrt. 2. Für die religiös verstandene Geschichtlichkeit des Daseins gilt: Das Sein der Freiheit ist ein Schweben "in horizontaler und vertikaler Doppelrelation" (ChR I, 186) zwischen Idee und Faktum, Ruf und Fügung. 3. Für die ethische Seite des Gewissens gilt: Verantwortliches sich Entscheiden schwebt in einem "Zugleich zweier Beziehungen" ( C h R II, 191), nämlich in der Duplizität des endlichen und unendlichen Sinnes des Guten (bzw. Bösen) und in der Duplizität der Handlungs- und Persondimension ethischen Qualifiziertseins. 4. Für den Glauben an das Evangelium gilt: Als "eine Bestimmung des ganzen vor Gott stehenden Menschen in allen seinen Regungen" ist der Glaube ein Schweben zwischen "Erkenntnis und Hingabe, Gehorsam und Anbetung" und damit "zu einem einzigen sich Vernehmen und Verstehen in Gottes Liebe geeinigt" (Lf § 82.Α.). Dergestalt ist der Glaube die "erfüllte Lebensmöglichkeit in der Antinomie der Religion" (Lf §88.Α.). Alle Hauptstrukturmerkmale ethisch-religiöser Subjektivität sind nach der Struktur der Fünffachheit konstruiert, nach eben dem Synthesismodell, das Fichte im Hinblick auf das Selbstverhältnis des Wissens in der intellektuellen Anschauung entwickelt hatte. Hirsch hat sich dieses Schema erstmalig 1930 zu eigen gemacht, und zwar in dem Freudenstädter Vortrag über das T h e m a "Der Glaube nach evangelischer und römisch-katholischer Anschauung". Während es hier aber noch ganz auf die Bestimmung des Glaubensbegriffs beschränkt ist, erfährt es in der 1931 entworfenen (vgl. GluN 687.683) Studie "Schöpfung und Sünde" seine Aufwertung zum universalen Konstruktionsprinzip der Deutung menschlicher Lebenswirklichkeit überhaupt. Der "Leitfaden" knüpft an diese gedankliche Neuorientierung des Wirklichkeitsverständnisses nurmehr an. Für die Fassung des Glaubensbegriffs ist der Freudenstädter Vortrag darüber hinaus deshalb von besonderem Interesse, weil hier die Fünffachheit des Glaubenslebens (vgl. GlerA 107) ausdrücklich auch zur wahrheitstheoretischen Fassung des Gottesbegriffs in Beziehung gesetzt wird -

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wie sie in erkenntnistheoretisch reflektierter Gestalt dann vom "Leitfaden" an für Hirschs gesamtes systematisches Denken verbindlich werden sollte. Glaube als das Sein in der Wahrheit Gottes und als fünffältige Lebensganzheit ist "die in der Selbsterschließung Gottes als der lebendigen Wahrheit mir geschenkte Freiheit, Gott in der Hingabt an ihn zu erkennen, in dem Gehorsam unter ihm anzubeten" (GlerA 112; Hhg.v.Vf.). Mit dieser Definition hat Hirsch auch hinsichtlich des theologischen Wahrheitsbegriffs das methodische Postulat eingelöst, den Glaubensbegriff als "synthetische Bestimmung", d.h. "in einander ergänzenden, je eine dialektische Antithese enthaltenden Doppelbestimmungen" (GlerA 107) zu exponieren. Ihr zufolge hat die Seinsweise des Glaubens als ein Schweben im Fokus zweier sich überlagernder konträrer Doppelbewegungen zu gelten - ganz im Sinne des Fichteschen Begriffs des Schwebens. Auf dieser kategorialen Grundlage entfaltet der "Leitfaden" das Lehrstück über den Glauben (Lf §82-90).

c) Zusammenfassung: Hirschs Fichte-Rezeption Blicken wir auf die in diesem Kapitel insgesamt behandelte Thematik zurück, dann läßt sich folgendes Ergebnis festhalten: 1. Der Begriff der Glaubensinnerlichkeit bezeichnet den grundsätzlichen Für-Bezug aller Glaubensinhalte in dem Sinne, daß das Für-Sich-Sein von Subjektivität den Ort des Erscheinens der Wahrheit Gottes darstellt. 2. Der Begriff der Glaubensgewißheit bezeichnet das Evidenzerlebnis der die Antinomien des Gottesgedankens umschließenden passiven Synthesis des Glaubens. 3. Der Begriff der lebendigen Ganzheit des Glaubens bezeichnet die in sich organisch ausdifferenzierte, prozessuale Totalbestimmtheit des Sichvor-Gott-Findens; Glaube ist nicht das Verharren in einem kognitiven Uberzeugungsstandpunkt, sondern ein alle Bereiche der Subjektivität durchgreifendes, in sich spannungsreiches religiöses Reflexionsgeschehen. Alle drei Momente lassen - was ihren kategorialen Status anbelangt die Herkunft aus der Subjektivitätstheorie Fichtes erkennen. Die grundsätzlichen Modifikationen ihr gegenüber sind aber auch kaum zu übersehen. Rein formell ist dies nichts Außergewöhnliches. Die Rezeption philosophischer Systeme durch die Theologie zum Zwecke der kategorialen Klärung der eigenen Aussageintentionen pflegt in aller Regel mit der Abstoßung basaler Elemente aus dem Bereich des Rezipierten einherzugehen. Dafür mögen stehen etwa der altkirchliche Piatonismus, der thomistische Aristotelismus, der altprotestantische Schulrationalismus, der aufklärungstheologische Altkantianismus, der vermittlungstheologische

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Hegelianismus, der liberaltheologische Neukantianismus. Diesem dogmengeschichtlichen Tatbestand läßt sich auch Hirschs Neufichteanismus unschwer einordnen. Was speziell die Abweichungen von Fichte anbelangt, so lassen sie sich präzis an den genannten drei P u n k t e n festmachen. Im ersten und dritten Fall überträgt Hirsch die Binnenstruktur der intellektuellen Anschauung auf die Wahrheitsbezogenheit des Gewissens im Sinne des individuellen Gottesverhältnisses christlich-reformatorischer Prägung: Die Glaubensinnerlichkeit ist nicht das reine Für-sich des Für-sich-Seins, sondern der in sich reflexive Für-Bezug der Wahrheit Gottes, und die lebendige Ganzheit des Glaubens ist nicht die Synthesis der Selbstanschauung des absoluten Wissens, sondern die synthetische Fünffachheit des Sichvor-Gott-Wissens. Im zweiten Fall ordnet Hirsch die Unauflösbarkeit der Antinomie der Religion in Übereinstimmung mit Fichtes Theorem von der Selbstvernichtung der Freiheit am Absoluten einer von Fichte als "Höherer Realismus" apostrophierten und deshalb abgelehnten Wissensform zu. Nimmt m a n alle drei Momente zusammen, dann scheint die von Fichte vertretene mittlere Position zwischen Idealismus und Realismus als Vermittlungsposition zwar im Prinzip gewahrt, aber deutlich in Richtung Realismus umakzentuiert worden zu sein. Hirsch selbst schrieb diesbezüglich am 22. Mai 1918 an Tillich: "das Schema des Supranaturalismus ... trifft mich nicht. Wohl aber hat bei mir das idealistische System einen realistischen Unterton bekommen. Die idealistische Erkenntnistheorie ist richtig, aber sie hat einen religiösen Realismus zur geheimen Voraussetzung" (Br 36). Mit diesem P r o g r a m m eines religiösen Realismus als Basis des transzendentalen Kritizismus hat Hirsch selbstverständlich keine Rückkehr zur vorneuzeitlichen Ontologie im Auge, sondern ein theologisches System, das auf der Voraussetzung aufgebaut ist, daß Gott die unbedingte Wahrheit ist. Davon soll im nächsten Kapitel (IV.B.2) die Rede sein.

I V . Die e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e G r u n d l e g u n g der D o g m a t i k

Einleitung: Emanuel Hirschs Denkweg zwischen 1926 und 1938 in erkenntnistheoretischer Hinsicht Einer der zentralen Vorwürfe, die Hirsch in seiner frühen Christologie an die Adresse der durch Schleiermacher geprägten Theologie gerichtet hat, bestand - wie wir oben gesehen haben - darin, daß sie die Wahrheitsfrage neutralisiert habe. Dieses methodische Defizit f ü h r t e in seinen Augen einerseits zu einer Fehlbestimmung des Verhältnisses von Glaube und theologischer Reflexion, andererseits zu einer Verzeichnung des historischen Bildes von Wort und Geschichte Jesu. Hinsichtlich des letztgenannten Problems h a t t e bereits Hirschs früher christologischer Entwurf eine Korrektur einzuleiten versucht. Bezüglich des erstgenannten Punktes waren die dort geäußerten Verbesserungsvorschläge jedoch mehr indirekter Art. Fragt m a n nach den Gründen dieser Zurückhaltung, so wird m a n sagen müssen, daß Hirsch damals zu einer konstruktiven Kritik an der Vernachlässigung des dogmatischen Aspektes des Wahrheitsproblems deshalb nicht in der Lage war, weil er selber noch keineswegs über einen Wahrheitsbegriff verfügte, der sowohl in theologischer wie in erkenntnistheoretischer Hinsicht hinreichend abgeklärt gewesen wäre. Ein erster Ansatzpunkt zur Behebung dieses Theoriedefizits findet sich in Hirschs Antwort auf Bultmanns Rezension seines Jesus-Buches aus dem J a h r e 1927. Bultmann war auf Hirschs Stellungnahme zu der zwischen B a r t h , Gogarten und Tillich entstandenen Kontroverse hinsichtlich der dogmatischen Bedeutung des Glaubensparadoxes eingegangen. Diesbezüglich macht Hirsch nun folgendes gegen Bultmann geltend: "Wenn es dem Glauben wesentlich ist, seinen Inhalt als seinen Grund und Ursprung zu sehen, wesentlich ist, ein in Wahrhaftigkeit vollendetes W a r u m seiner selbst zu besitzen, so ist er damit notwendig in ein Verhältnis zur forschenden und erkennenden Seite unseres inneren Menschen getreten So ist dem Christen auch die Aufgabe gesetzt, vom Glauben aus u m ... eine völlige Einigung der natürlichen Erkenntnis mit der Wahrheit Gottes zu ringen". Diese Aufgabe in Angriff zu nehmen, bedeutet nichts anderes als "Ernst damit zu machen, daß unser Gott der Herr aller Wahrheit ... ist" ( A R B 658; Hhg.i.O.). Hirsch kommt zu folgendem Schluß: "Gottes Wahrheit will die natürliche Wahrheit nicht totschlagen, sondern aus dem Dienst der Vergänglichkeit freimachen; das ist dem Glauben damit, daß er seinen Grund selber als seine Wahrheit sieht, gegeben. Der Glaubensgehorsam ebenso will die natürliche Wahrhaftigkeit nicht totschlagen, son-

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dern aus dem Dienst der Unheiligkeit herausnehmen; das ist dem Glauben damit, daß er einem Warum in ihm selber offen ist, selber wahrhaftig ist, gegeben. Die Einigung ist also eine Befreiung der natürlichen Wahrheit, eine Heiligung der natürlichen Wahrhaftigkeit. Es ist eine Gnadengabe Gottes, daß er uns seine Wahrheit nicht bloß in einer Wüste der Erkenntnis gewährt, daß wir vielmehr als diese geschichtlichen Menschen, mit gerade diesem Blicke durch seine Welt, seine Kinder sein dürfen" (ARB 659). Bezieht man diese Äußerungen auf den weiteren Fortgang seiner dogmatischen Arbeit, so ist festzuhalten, daß Hirsch offenkundig aus der Stellungnahme zu der in den zwanziger Jahren strittig verhandelten Funktion des Paradoxes heraus - von Bultmann mit dieser Frage noch einmal unmittelbar konfrontiert - zu genau den Grundthesen gefunden hat, die dann die wahrheitstheoretische Basis seines systematischen Hauptwerks, des 1938 erschienenen "Leitfadens zur christlichen Lehre", abgeben sollten: erstens, daß Gott der Ursprung und Inbegriff aller Wahrheit ist, und zweitens, daß die gläubige Beziehung auf diese unbedingte Wahrheit Gottes und das Selbstverständnis des humanen Wahrheitsbewußtseins miteinander verträglich sind. Einen weiteren Ansatzpunkt für die Ausbildung seiner Wahrheitstheorie läßt Hirsch in der 1928 in zweiter, völlig neu bearbeiteter Auflage erschienenen Schrift "Der Sinn des Gebets" erkennen. Im Zusammenhang der Erörterung der allgemeinen dogmatischen Grundlagen des Begriffs des Gebets wird folgende Feststellung getroffen: "Unsre Selbstbestimmung steht nicht einfach einer mannigfaltigen Möglichkeit gegenüber, sie steht unter dem unbedingten Gegensatze von wahr und unwahr, gut und bös. Die Wahrheit und das Gute wollen nicht so nebenher in uns eingehen. Sie treten uns gegenüber und rufen uns auf, uns ihnen gegenüber hinauszuwagen, uns ganz einzusetzen in der Verantwortung einer Wahl" (SdG 15). Humaner Ort der für Autonomie konstitutiven Entscheidungshaftigkeit gegenüber dem Wahren und Guten ist das Gewissen. "Wir sind zugleich zufälliges Ereignis im Umtrieb der Welt - und der Wahrheit erschlossener, sich selbst in Ursprünglichkeit bestimmender persönlicher Geist" (SdG 22). Diese Bezogenheit der Subjektivität auf Wahrheit ist jedoch keineswegs in sich ungebrochen. Im Gewissen lernt der Mensch vielmehr "sein Verhältnis zur Wahrheit neu verstehn. Er weiß sein Denken jeden Augenblick in aller Gebrechlichkeit und Zufälligkeit und Umschränktheit aus der Wahrheit empfangend, und jeden Augenblick von der Wahrheit, auf die es zielt, gebeugt und gerichtet. Er weiß, daß sein Denken zur Wahrheit eine antinomische Beziehung hat, welche in dem gleichen Augenblick auseinanderbricht, wo sie nicht mehr tathaft gelebt wird mit all ihrer Spannung, wo er die Wahrheit jenseits des Grundwiderspruchs statt durch den Grundwiderspruch erkennen will" (SdG 23f). Wiederum haben sich zwei

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grundlegende Thesen der späteren, ausgereiften Wahrheitstheorie ergeben. Erstens, vor dem Hintergrund des Bezogenseins aller natürlichen Wahrheit auf die unbedingte Wahrheit Gottes kommt der Wahrhaftigkeit des Gewissens eine Vorrangstellung zu. Damit ist die später detailliert herausgearbeitete Leitfunktion der in der Selbsterkenntnis erschlossenen Gewissenswahrheit angesprochen. Zweitens, die Bezogenheit allen Denkens auf die unbedingte Wahrheit ist antinomisch verfaßt. Damit ist die Verbindung hergestellt zwischen dem bereits in den frühen 20er Jahren mit Bezug auf das Religionsverständnis erarbeiteten Gedanken der Antinomie einerseits und dem Begriff der Wahrheit andererseits. Einen vorläufigen Abschluß dieser Überlegungen zur Klärung der wahrheitstheoretischen Grundlagen der Dogmatik bildet die für den Druck überarbeitete Fassung des 1930 auf der Tagung der christlichen Akademiker in Freudenstadt gehaltenen Vortrage über das Thema "Der Glaube nach evangelischer und römisch-katholischer Anschauung". Den für unseren Problemzusammenhang entscheidenden Ertrag dieses brillanten Essays faßt Hirsch selber in der Form eines Schlusses mit geteiltem Obersatz zusammen. "Erstens, nur eine Wahrheit ist uns gegeben: der sich an uns, in uns offenbarende lebendige Gott. Zweitens, unser Anteil an dieser Wahrheit ist die Herrschaft Gottes über unsern, in unserm ganzen Menschen. ... Nun aber ist unser Verhältnis zu Gott durch die Rechtfertigungstat bestimmt:... Die Wahrheit des christlichen Zeugnisses und der christlichen Rechenschaft von Gott kann also nur Rechtfertigungswahrheit sein, Erkenntnis Gottes in dem Wunder der Vergebung, d.h. wirkliche Erkenntnis Gottes und doch menschliche Torheit und menschliche Fehle, - eben dadurch über sich hinausweisend, auf den Einen, der allein die Wahrheit ist, daß sie ihn in sich wirkend hat trotz ihrer Gebrochenheit" (GlerA lOlf; Hhg.i.O.). Worin der begriffliche Gehalt dieses Gedankens einer Rechtfertigungswahrheit liegt, werden wir in Kap. V.B.3.b noch ausführlich zu erörtern haben. Hier ist nur darauf hinzuweisen, welch hohen systematischen Stellenwert Hirsch der dogmatischen, speziell der rechtfertigungstheologischen Explikation des Wahrheitsbegriffs beigemessen hat. "Es will mich bedünken, daß die deutsche systematische Theologie hart davor ist, diesen Begriff der Rechtfertigungswahrheit zu finden und zum entscheidenden Angelpunkte ihres Verständnisses der Theologie und der Kirchenlehre zu machen" (GlerA 102). Die gerade zitierte Bemerkung wurde im Jahre 1931 veröffentlicht. Zwei Jahre später rückten die Ereignisse - zumindest auf absehbare Zeit - ganz andere Themen in den Vordergrund. Aber nicht nur dieser zeitgeschichtlich bedingte Abbruch einer erhofften Debatte verleiht Hirschs Begriff der Rechtfertigungswahrheit das Gepräge einer gewissen Unfertigkeit, sondern vor allem die vorläufige Fassung des Begriffs selber. So

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einleuchtend der dogmatische Rahmen des Wahrheitsbegriffs gewählt ist, so schmal erscheint zugleich sein erkenntnistheoretischer Explikationshorizont. Traditionelle Erörterungskontexte, vor allem in logisch-semantischer und bewußtseinstheoretischer Hinsicht, fehlen nahezu ganz. Man kann davon ausgehen, daß Hirsch spätestens bei der Auseinandersetzung mit Kierkegaards Wahrheitsbegriff im Verlauf seiner mehrjährigen, 1930 bis 1933 sukzessiv publizierten Kierkegaard-Studien, sich darüber klar geworden ist, welch enorme erkenntnistheoretische Begründungslast m a n sich auflädt, will man dem Wahrheitsbegriff eine systematisch so prominente Stelle einräumen, wie es das Konzept der Rechtfertigungswahrheit intendierte. In den Jahren unmittelbar nach 1933 gilt Hirschs Interesse weniger erkenntnistheoretischen Fragen. Immerhin gibt es auch für diese Zeit Anhaltspunkte für eine Steigerung seines Problembewußtseins hinsichtlich einer Grundlegung des theologischen Wahrheitsbegriffs. In einem offenen Brief vom Herbst 1934, worin Hirsch sich - aus aktuellem Anlaß - über sein Verhältnis zu Tillich glaubte äußern zu müssen, versucht er zu benennen, was er trotz der inzwischen spannungsreich gewordenen Beziehung zu dem Jugendfreund immer als den "tiefsten gemeinsamen P u n k t " erachtet habe: "Er und ich haben beide von der bei Fichte angelegten, bei Hegel klar durchbrechenden Erkenntnis, daß der Begriff ganz und gar, nach Form und Inhalt, geschichtsbedingt sei, in ihrer radikalsten Zuspitzung einen für immer verwundenden Eindruck empfangen, und haben beide u m einen neuen Begriff der Wahrheit, der dieser Erkenntnis gemäß ist, gerungen. Diese zugleich aufbauende und kritische Dialektik von Wahrheit und Geschichte, als Stachel und Unruhe zur Neugestaltung des Verhältnisses von Wahrheit, Wissenschaft und Begriff ..., ist ihm wie mir als das philosophische Grundfragmal unsrer Generation erschienen" ( C h F p B 25). Hirsch konkretisiert diese allgemeine Andeutung durch einen Rückbezug auf seinen eigenen wissenschaftlichen Werdegang. Er weist darauf hin, das Problem eines dialektischen Wahrheitsbegriffs am Schluß der 1914 geschriebenen, allerdings erst 1920 erschienenen Habilitationsschrift über Fichtes Geschichtsphilosophie "das erste Mal angerührt" (ebd.) zu haben. Darüber hinaus fügt er noch eine Bemerkung hinzu, die ebenso die einstige Gemeinsamkeit wie den nunmehrigen Abstand zu Tillich artikulieren soll: "Dies Fragmal [seil, eines neuen Wahrheitsbegriffs] liegt meinem Begriff der RechtfertigungsWahrheit ... mit gleicher Ursprünglichkeit zugrunde wie seinem mir existentialphilosophisch nicht genügenden der dynamischen Wahrheit" (ChFpB 26). Wir werden zum Verständnis von Hirschs Gewichtung des erkenntnistheoretischen Aspekts des theologischen Wahrheitsbegriffs gut daran tun, auf die erwähnten Ausführungen am Ende der Habilitationsschrift kurz einzugehen.

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Hirsch nimmt hier eine förmliche "Kritik der Geschichtsphilosophie Fichtes" (ChG 60) vor, an der in der Tat vor allem die erkenntnistheoretische Akzentuierung ins Auge fällt. Die entscheidende Grenze der Geschichtsphilosophie Fichtes sieht Hirsch darin, daß sie "blind geblieben ist für das Gericht, welches das Leben am Denken alle Tage übt" (ChG 61). Was er damit meint, hat er folgendermaßen erläutert: "Fichte hat das Verhältnis des Lebens zum Denken noch nicht vollständig gesehen, wenn er das Leben nur als das das Denken Zeugende sieht. Das Leben ist auch das das Denken Richtende, Vernichtende. Jedes philosophische System verfällt diesem Gerichte, das die Geschichte ohne tiefsinnige Anstrengung einfach dadurch ausübt, daß sie weiter geht. Nur das philosophische System hat darum wahrhaft die paradoxen Tiefen unseres geistigen Daseins durchmessen, das diesem Gericht ins Auge geblickt und dennoch den Mut zur Wahrheit behalten hat" (ebd.). Unter dem "Paradox" wird Hirsch später die lebensweltliche Fassung der "Antinomie" verstehen. Mit "Gericht" wird er die Erfahrung des göttlichen Urteils über menschliche Schuld bezeichnen. Beide können sich miteinander verschränken und sich im Erleben und Verstehen geschichtlicher Ereignisse wechselseitig erläutern. Von all dem ist in dem gerade diskutierten Zusammenhang nicht die Rede, auch nicht ansatzweise. Das Gericht, das Hirsch in dem zitierten Text von 1914 im Auge hat, liegt im Gewahren der Kontingenz eines sich als absolutes Wissen begreifenden Denkens. Und die Paradoxie bezieht sich auf die Ohnmacht allen Denkens gegenüber dem tatsächlichen Lebensprozeß. Beide Sachverhalte in ihrer Kombination umschreiben das, was man gewöhnlich unter dem Begriff der Historismus-Problematik erörtert. Hirsch selbst hat später auf diese Phase seines Lebens zurückblickend - von einer "skeptische[n] Erschütterung durch Nietzsche und Dilthey" ( C h F p B 19) gesprochen. Bereits im Schlußwort der Habilitationsschrift ist sich Hirsch jedenfalls darüber im klaren gewesen, daß die Errichtung eines systematischen Gedankengefüges, das sich dem "wissenden Begreifen dieses Gerichtes" unterzöge, einen "vollständigen spekulativen Neubau" (ChG 61) bedeuten würde. Auch wenn er diese Erwägung an Ort und Stelle nicht ausführen kann, deutet er immerhin in einer Fußnote an, in welcher Richtung seiner Meinung nach weiterführende Überlegungen zu einem solchen Neubau des spekulativen Denkens zu erfolgen hätten. "Eine neue Lehre vom Begriff, die dessen historischen Charakter und sein nicht starres, sondern dialektisches Verhältnis zur Wahrheit herausarbeitet, ohne die Strenge, Lebenskraft und Selbstgewißheit des Denkens skeptisch-positivistisch zu lahmen, wäre eine der dazu erforderlichen Voraussetzungen" (ChG 61, Anm. 10). Eine solche "Lehre vom Begriff" hat Hirsch allerdings auch in keinem der später von ihm veröffentlichten Texte vorgelegt. Gleichwohl gibt es ein

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systematisches Äquivalent dazu, nämlich das erste Lehrstück des "Leitfadens" - nach den Prolegomena welches die Uberschrift "Die Wahrheit" (Lf §§ 44-52) trägt. Den sachlichen Mittelpunkt von § 45 bildet die "Dialektik des Wahrheitsbewußtseins", den von § 46 der Begriff der "Antinomie". Mit beiden sucht Hirsch, der 1914 noch mehr indirekt formulierten Aufgabe gerecht zu werden, nämlich einen erkenntnistheoretischen Mittelweg zwischen Idealismus und Realismus einzuschlagen. Die im "Leitfaden" vorgelegte Theorie des Wahrheitsbewußtseins darf demnach nicht nur als Einlösung des frühen wahrheitsdialektischen Theorieprogramms betrachtet werden, sondern sie hat auch - bezieht m a n die weiterführenden Uberlegungen bis hin zum Begriff der Rechtfertigungswahrheit mit ein - als die maßgebliche Ausarbeitung der erkenntnistheoretischen Grundlagen der theologischen Dogmatik insgesamt zu gelten. Sowohl die Gotteslehre (Lf §§53-61) als auch die Anthropologie (Lf §§62-70), Ethik und Geschichtslehre (Lf §§ 101-130) und in besonderer Weise die Christologie basieren auf dieser Wahrheitstheorie, einem Lehrstück von höchster sprachlicher und gedanklicher Dichte. Das systematische Gewicht dieser werkgeschichtlichen Beobachtungen wird m a n kaum überschätzen können. Sie sind Indiz für eine Wandlung im internen Begründungsgefälle von Hirschs Denken, die vorweggreifend so zusammengefaßt werden kann: Während in Hirschs Frühzeit das Wirklichkeitsverständnis - nach seinen prinzipiellen Gesichtspunkten - auf einer im Gewissensbegriff verankerten Geschichtstheologie a u f r u h t , wird vom "Leitfaden" an der erkenntnistheoretisch exponierte Begriff des Wahrheitsbewußtseins zum alles tragenden Fundament des philosophisch-theologischen Gesamtentwurfs. Diese ebenso architektonisch augenfällige wie inhaltlich gewichtige Verschiebung ist vor allem deswegen bemerkenswert wie einer Erklärung bedürftig, weil sie in der näheren Bestimmung des konkreten Gottesverhältnisses, dessen Grundlegung dieser Gedanke dient, nicht auf den ersten Blick zum Ausdruck kommt. Für Hirsch gelangt das religiöse Bewußtsein im Heiligkeitserlebnis zu seiner erfüllten Daseinsgestalt; hier offenbart die Religion zu allererst ihre sinnstiftende und lebensbewahrende Kraft. Ein Zusammenhäng zwischen dem Begriff des Wahrheitsbewußtseins und dem des Heiligkeitserlebnisses ist aber nicht ohne weiteres einsehbar. Es bleibt also die Frage bestehen, worin für Hirsch die Gründe gelegen haben mögen, der Wahrheits- bzw. Erkenntnistheorie eine derart weitgehende Fundierungsfunktion zuzuweisen. Mit der inneren Dynamik eines theologischen Wahrheitsbegriffs allein wird man diese systematische Umorientierung wohl kaum erklären können. Als erste Vermutung legt es sich nahe, hier mit einem Fortwirken des philosophischen Kritizismus zu rechnen, also derjenigen philosophischen Lehr-

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tradition, die im wesentlichen durch die theoretische Philosophie Kants und die Philosophie des Neukantianismus repräsentiert wird. F ü r diesen Kritizismus ist die Priorität von Geltungsfragen vor genetischen Fragen signifikant und in eins damit die Vorrangstellung der Erkenntnistheorie nicht nur vor allen positiven Fachwissenschaften, sondern auch vor allen sonstigen philosophischen Disziplinen. Allein, so vielfältig und stark Hirschs frühe Position und insbesondere auch seine ausgereifte Theologie inhaltliche Berührungspunkte mit dem philosophischen Kritizismus Kantischer oder neukantianischer Prägung aufweist, ein besonderes "quaestio iuris"-Methodeninteresse ist kaum zu bemerken. Einen zusammenfassenden Hinweis auf diejenige Problemperspektive, die Hirsch neben der Etablierung des Wahrheitsbegriffs zu einer erkenntnistheoretischen Grundlegung der Dogmatik veranlaßt hat, gibt er freilich selbst, und zwar in einer Erläuterung zum §44, der eine Art Einleitung zum gesamten erkenntnistheoretischen Lehrstück darstellt. Dort heißt es: "Man muß unbeschadet des konkreten Anlasses im Heiligkeitserlebnis, wenn m a n dem Wesen der den Zweifel handhabenden autonomen Vernunft gemäß vorgehen will, die Frage zunächst als erkenntnistheoretische behandeln und sehen, was dabei herauskommt. Allein so erschließt sich die Grenze [seil, des Zweifels und der Autonomie] auf eine innerlich überzeugende, der Vernunft gemäße Weise, daher ist hier die Frage nach der Wahrheit gestellt" (ChR I, 160). Die Dogmatik kann nach Hirsch ihre Entfaltung des Wesens der Religion und des Christentums deshalb nicht mit einer Deskription des Heiligkeitserlebnisses beginnen, weil sie sich dadurch von vornherein u m ihre gedankliche Anschlußfähigkeit brächte. Die Stichworte "Zweifel" und "autonome Vernunft" indizieren n u n elementare Momente des Selbstverständnisses neuzeitlichen Bewußtseins. Es ist unverkennbar, daß Hirschs erkenntnistheoretischer Einstieg in die Dogmatik zeitdiagnostisch motiviert ist. So verwundert es nicht, daß das für den "Leitfaden" systematisch zentrale Lehrstück über den WahrheitsbegrifF mit einem geschichtsphilosophischen Portrait des neuzeitlichen Christentums anhebt (vgl. Lf §44). Will die theologische Dogmatik ihren eigenen geschichtlichen Ort nicht naiv verdrängen oder gar fiktiv überspringen, so wird sie sich den epochalen Bewußtseinskonstellationen stellen müssen, an denen das Christentum allein aufgrund seiner geschichtlichen Lage partizipiert. Dazu gehören für Hirsch auch und gerade die erkenntnistheoretischen Implikationen des neuzeitlichen Wahrheitsbewußtseins. Und so fordert der "Leitfaden" denn in programmatisch schlechterdings unüberbietbarer Entschlossenheit: "Der christliche Glaube ist darauf geworfen, sich selbst als Wahrheitserkenntnis nach seinem Verhältnis z u m menschlichen Sein und Erkennen von Grund auf neu zu bestimmen" (Lf § 44.B.).

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Hirschs geschichtsphilosophische Deutung des Verhältnisses von Chris t e n t u m und Neuzeit kann in zwei verschiedenen, sachlich aber gleich elementaren Beschreibungen ihren Ausdruck finden. Die erste ist wissenssoziologischer Art. Danach ist die neuzeitliche Situation des Christentums wesentlich dadurch charakterisiert, daß Kirche und Theologie ihre selbstverständliche Gültigkeit eingebüßt haben und christliche Grundüberzeugungen nicht mehr z u m allgemeinmenschlichen Vorwissen gehören. Die zweite ist erkenntnistheoretisch formuliert: Die Neuzeit ist das Geschichtsalter des Zweifels, die Modernisierungskrise des Christentums ist im wesentlichen eine innere Krise christlicher Wahrheitsgewißheit. Bestimmt die erste der beiden Beschreibungen die Durchführung der Hirschschen Dogmatik im ganzen, sofern diese vorrangig der Klärung des Verhältnisses von christlichem und humanem Bewußtsein gewidmet ist, so geht die zweite vor allem in ihre erkenntnistheoretische Grundlegung ein. Letztere ist hier genauer zu verfolgen. F ü r das Wahrheitsbewußtsein unter den Bedingungen des Geschichtsalters des Zweifels ist die Grundmaxime leitend, daß "nur der die Wahrheit erkennen kann, der den Mut hat, sich jedem an ihn kommenden Wahrheitsanspruch gegenüber zweifelnd zu verhalten" (Lf §44.Α.). Diese Heraufkunft des Zweifels ist von universaler Bedeutung, nicht nur weil grundsätzlich alle Bereiche des Wißbaren von ihm betroffen sind, sondern vor allem weil er in das methodische Selbstverständnis der neuzeitlichen Wissenschaft Eingang gefunden hat: "in frei geübtem und beherrschtem Zweifel hat alles Forschen und alles gegründete Urteilen seinen Einsatz" (ebd.). Das Wesen des methodischen Zweifels wäre allerdings völlig verkannt, wollte m a n in ihm lediglich eine negative Bewußtseinseinstellung erblicken. Äußert er sich zunächst auch vorwiegend in formal negativen Optionen, etwa im Habitus der kritischen Reserve und inneren Distanziertheit gegenüber bestehenden Lehrmeinungen oder im aktiven skeptischen Hinterfragen institutionell sanktionierter Geltungsansprüche, so liegt ihm ebenso offenkundig ein formal positiver Wert zugrunde: der "Mut zu sich selber und der eignen Einsicht". Seiner letzten Intention nach ist der neuzeitliche Zweifel die "Beanspruchung der Autonomie für die sich selbst kontrollierende menschliche Vernunft" (Lf §44.Α.). Es ist für Hirschs geschichtsphilosophische Zuordnung von Christent u m und Aufklärung charakteristisch, daß er den Begriff der Autonomie erstens aus dem engeren Bereich der praktischen Philosophie und des politischen Denkens herauslöst und zur Beschreibung der allgemeinen Signatur des neuzeitlichen Wahrheitsbewußtseins verwendet, und daß er ihm zweitens keine prinzipiell religionskritische Bedeutung verleiht. Die Autonomie der Vernunft äußert sich für Hirsch vor allem in drei Funktionen: als kognitives Prinzip ist sie "der unbefangen sich von Wirklichkeit und

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Geschichte Rechenschaft gebende Verstand"; in technisch-praktischer Hinsicht ist sie das "Prinzip der Gestaltung der die menschliche Gemeinschaft tragenden Uberzeugungen und Ziele"; und ethisch-religiös verstanden ist sie "die jedem Menschen in sich zugängliche Erkenntnis von Gott und dem Guten, das ... Gewissen" ( C h R I, 158). Der innere Zusammenhang von Autonomie und Zweifel kommt darin zum Ausdruck, daß im Begriff der autonomen Vernunft - vor allem nach deren erstem und drittem Aspekt und indirekt auch nach dem zweiten - der grundsätzliche "Gegensatz gegen das Vorurteil" enthalten ist: "die reine Sachlichkeit, die durch keine Voraussetzungen im Ergebnis im voraus gebunden ist" (ebd.) wird zur methodischen Maxime des neuzeitlichen Wahrheitsbewußtseins. Wie auf dieser Basis eine der Neuzeit gemäße Rekonstruktion der christlichen Wahrheitsgewißheit auszusehen habe, kann aus den genannten, überwiegend formalen Merkmalen noch nicht erschlossen werden. Als eine negative, aber notwendige Bedingung ergibt sich aber immerhin die Forderung, daß der christliche Glaube grundsätzlich "darauf verzichtet, dem Autonomie und Zweifel sich voraussetzenden Wahrheitsbewußtsein von außen eine für uns doch unwahr bleibende Grenze entgegenzusetzen". Dazu dürfte er allerdings solange nicht in der Lage sein, als er die ihm eigene Wahrheitsgewißheit "als überlieferte metaphysisch-ethische Lehre in Gestalt eines geschlossenen Welt- und Geschichtsbildes mißversteht" (Lf § 44.B.). In jener negativen Bedingung ist nun aber doch auch ein positives Moment enthalten. Das religiöse Bewußtsein, das sich dem neuzeitlichen Zweifel nicht verweigert, sondern wirklich stellt, kann seiner formalen Verfaßtheit nach nichts anderes sein als die Erfahrung eben derjenigen Grenze, "an der menschliches Sein und Erkennen auf das Unerforschliche stößt" (ebd.). Die vom religiösen Bewußtsein zur Anerkennung gebrachte Grenze der Vernunft kann immer nur in einer "in echt menschlichem Verständnis menschlichen Lebens sich aufzwingenden Grenze" (ebd.) bestehen. Die Erfahrung dieser Grenze will immer nur das Resultat einer Selbstbegrenzung der Vernunft sein. Nur dann kann das autonome Wahrheitsbewußtsein dieser Grenze auch tatsächlich frei zustimmen. "Diese Grenze kann nur immanent, d.h. durch eigenen freien Akt der autonomen Vernunft, bestimmt werden, nicht von außen gesetzt werden, was j a die Autonomie aufheben würde" ( C h R I, 159). Die Grenze der Autonomie muß selber "auf immanent-autonome Weise" (ChR I, 160) entdeckt werden, u m innere Wahrheit zu besitzen. Von daher ergibt sich für Hirsch eine schneidend scharfe Kritik an der antiaufklärerischen Apologetik etwa auf Seiten des theologischen Offenbarungspositivismus und kirchlichen Autoritätsglaubens. "Das falsche

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Verhältnis [seil, des Christlichen zu der Grenze des Zweifels und der Autonomie] wäre, wenn der Glaube versuchen wollte, der autonomen Vernunft von außen die christliche Wahrheit als etwas entgegenzustellen, woran Zweifel nicht zulässig ist und worunter die autonome Vernunft sich zu beugen hat" (ChR I, 160). Hirsch begründet seine prinzipielle Absage an religiös motivierte Aufklärungsfeindlichkeit durch zwei unterschiedliche Argumente. Das erste hängt mit seinen geschichtsphilosophischen bzw. zeitdiagnostischen Überlegungen zusammen. "Ein Christentum und Kirchentum, welches ... der Autonomie der menschlichen Vernunft die Autorität sei es der Kirche sei es der Bibel entgegenstellt, ... wird eintrocknen zu Ritus und Satzung ohne sinngebende und lebenbewahrende Macht" (Lf § 44.B.). Das Christentum hat gar keine andere Wahl, wenn es geschichtlich überleben will, als sich dem kulturellen Modernisierungsprozeß zu stellen, den die europäische Aufklärung eingeleitet hat, auch wenn er für die christliche Tradition im ganzen einen schmerzvollen Prozeß darstellt. Hirsch hat ihn auf den Begriff der "Umformungskrise"gebracht. Gegen eine von vornherein polemische Einstellung zur Neuzeit spricht nach Hirsch aber auch noch ein zweites, theologisches Argument: "alles, was man so entgegenstellen kann, ist mindestens der Form nach ein geschichtlich bedingtes menschliches Geisteserzeugnis". Mehr als dies in ihm zu erblicken "wäre auch christlich unwahr"; denn die "christliche Wahrheit ist nicht mit irgendeiner Gestalt menschlicher (kirchlicher) Rechenschaft von ihr identisch, sondern das Geist und Gewissen durchleuchtende göttliche Leben" (ChR I, 160). Im Streit um die Modernisierung des Christentums geht es um die Plausibilität und Zeitadäquatheit der Lehrgestalt christlicher Frömmigkeit, nicht um die Frage der Gültigkeit ihres Gewißheitsgrundes. Nichts ist vielleicht charakteristischer für Hirschs Theorie des neuzeitlichen Christentums als gerade die Verbindung beider Argumentationsstränge. Das theologische Programm einer Umformung des christlichen Denkens bezieht seine Legitimation nicht allein daraus, daß es auf einen allgemeinen kulturellen Transformationsprozeß verweisen kann, der die Neufassung religiöser Deuteschemata und theologischer Formeln nachgerade erzwingt, sondern mindestens ebensosehr daraus, daß die Selbstunterscheidung christlicher Wahrheitsgewißheit von ihren eigenen Symbolisierungsformen durchaus im Sinne des - historisch-kritisch festgestellten - Wesens des Christentums liegt. Wer sich darum der Modernisierungskrise entzieht oder gar widersetzt, vernachlässigt nicht nur eine durch konkrete Zeitgenossenschaft aufgegebene theologische Explikationsaufgabe, sondern er verwechselt auch den Glauben an das Evangelium mit einer kulturell bedingten Gestalt seiner lehrhaften Realisierung. Eine tatsächliche Neubestimmung der christlichen Wahrheitserkenntnis hätte somit

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an der Stelle einzusetzen, wo das durch Zweifel und Autonomie gekennzeichnete Wahrheitsbewußtsein selber die Erfahrung einer inneren Grenze macht. Nun ist es aber wichtig zu sehen, daß die neuzeitliche Vernunft ein Bewußtsein ihres eigenen Begrenztseins zunächst einmal gar nicht mit Bezug auf die religiöse Dimension entwickelt, sondern innerhalb desjenigen Bereichs, wo sie als rein innerweltliche am Werke ist. Bereits hier treten imm a n e n t e "Grenzen des Zweifels und der Autonomie" ( C h R I, 159) zutage. Hirsch hat diesbezüglich zwei Sphären im Auge: zum einen die Funktion der Vernunft bei der Regulierung des menschlichen Zusammenlebens, zum anderen - sie ist für unseren Problemzusammenhang die wichtigere - den inneren Aufbau des Wissens selber. Auch und gerade hier kommt es zu einer gewollten Selbsteinschränkung von Autonomie. "Der Zweifel dient nur dann der Erkenntnis der Wahrheit, wenn ich ihn in der Hand behalte" (Lf § 44.M.3.). Zweifel im Sinne neuzeitlicher Lehre und Forschung ist immer methodischer Zweifel, nämlich die Suspendierung der Gültigkeit von Aussagen oder Aussagezusammenhängen zwecks besserer Begründung oder Erklärung dessen, was jene zu begründen bzw. zu erklären intendieren, aber einzulösen offensichtlich nicht in der Lage sind. Seiner genuinen Intention nach ist der neuzeitliche methodische Zweifel "der Wille zur Bindung aller individualistischen Beliebigkeit im wahrhaftig und gültig Menschlichen" (Lf §44.A.). Aber nicht nur die Ausrichtung der Vernunft auf Gültigkeit wendet Selbstkritik in Konstruktion. Die sich selbst kontrollierende Vernunft akzeptiert Schranken des Zweifels und der Autonomie auch in dem Sinne, daß "sie sich begrenzt auf das ihr in Erkenntnis Aufschließbare" ( C h R I, 159). Nach dieser Seite betrachtet ist die Selbstrestriktion des Denkens äquivalent der Einsicht, daß die "Begrenzung auf das dem Menschen zu erkennen Gegebne Voraussetzung aller echten Erkenntnis" (Lf § 44.A.) ist. Damit ist dann aber auch derjenige erkenntnistheoretische Grundsachverhalt benannt, dessen Problematik allererst die klassische neuzeitliche Erkenntnistheorie in der Gänze seines prinzipientheoretischen Gewichts ansichtig geworden ist. Es handelt sich genauer gesagt um die sogenannte Zweiquellentheorie, d.h. um die Lehre von den zwei Konstitutionsstämmen der Erkenntnis: Der Verstand endlicher Vernunftwesen bringt nur in der Weise Erkenntnis hervor, daß seine Spontaneität und Konstruktivität sich auf das den Sinnen sich darbietende Material richtet und dieses gedanklich verarbeitet. Hirsch hat den theoretischen Gehalt der Zweiquellentheorie auf die Form eines Wahrheitskriteriums gebracht: "Wahrheit ist in unserm Erkennen insofern, als das Gegebne der Vernunft erschlossen ist oder umgekehrt die Vernunft das Gegebne durchdringt" (Lf §45.Α.).

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Bildet die Zweistämmigkeit der Erkenntniskonstitution die Grundstruktur des Wahrheitsbewußtseins, dann gerät die Explikation des Gottesgedankens als des Begriffs der absoluten Wahrheit allerdings in ein Dilemma. Der methodische Zweifel hinsichtlich der Bestimmtheit von Gegenständlichkeit läßt sich durch die Funktion der Vernunft und den Rekurs auf das Gegebene begrenzen: durch erstere unterwirft er sich dem diskursiv Allgemeinen, durch letzteren beugt er sich dem intersubjektiv Wahrnehmbaren. Beide Momente scheiden aber im Falle der religiösen Skepsis als Begrenzungsinstanzen aus. "Wo es u m mein Verhältnis zu Gott geht, kann ich aus mir selber den Zweifel nicht anhalten und die Autonomie nicht ins Gemeinsame binden" (Lf §44.M.3.). Auf der anderen Seite wird der Gottesgedanke dem neuzeitlichen Wahrheitsbewußtsein nur dann gerecht, wenn er dessen autonomen Zweifel nicht überspringt, sondern sich ihm stellt und als dessen eigene innere Grenze von sich überführt. Das religiöse Bewußtsein muß also der Struktur des humanen Wahrheitsbewußtseins gemäß sein. Das aber bedeutet: Es kann sich nur so realisieren, daß es an der Zweistämmigkeit der Konstitution von Gegenstandserkenntnis partizipiert. Die Durchführung des Gottes gedankens als des Begriffs der absoluten Wahrheit kann vor dem Hintergrund des Zwei-Quellen-Theorems neuzeitlicher Erkenntniskritik demnach nur so erfolgen, daß aufgezeigt wird, inwiefern die unbedingte Wahrheit Gottes am Ort des zweistämmig verfaßten Wahrheitsbewußtseins zur Darstellung kommt. Daß Hirsch sich mit dieser pointierten Option für eine neuzeitgemäße erkenntnistheoretische Grundlegung der Dogmatik in eine Außenseiterposition bezüglich der ihn umgebenden Theologengeneration brachte, war ihm wohl bewußt. Seiner dem Transzendentalen Idealismus verpflichteten Grundthese von der abstrakt-religiösen Bedeutung des Begriffs des Absoluten, wie er der Selbstreflexion des humanen Wahrheitsbewußtseins entspringt, fügt er die ebenso trotzige wie resignative Bemerkung hinzu: "Daß ich das noch weiß, unterscheidet mich von theologischer Barbarei" ( C h R I, 171) - ein mit Bezug auf die erkenntnistheoretische Grundlagenforschung der Theologie in den 20er und 30er Jahren sicherlich nicht ganz unbegründeter Satz. Angesichts der gedanklichen Entwicklung seiner zeitgenössischen Kollegen im Bereich der systematischen Disziplinen sah sich der Kirchen- und Dogmengeschichtler Hirsch plötzlich in die Rolle eines Anwaltes neuzeitlicher Erkenntnistheorie hineingedrängt. In einem Brief an seinen Freund und Kollegen Hans Lietzmann schreibt Hirsch am 15. August 1940: "Ich h ä t t e als Privatdozent getobt, wenn ich gewußt hätte, daß es einmal mein Schicksal sein würde, der unerbittliche Hüter und Vollstrecker der historischen Theologie und der humanen Erkenntnislehre in und an der systematischen Theologie zu werden. Aber seinem Schicksal

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kann niemand entlaufen". Hirsch nimmt die an ihn gestellte Herausforderung an und erfüllt die daraus zugewachsenen Aufgaben im Sinne eines ihm "durch Schicksal gegen Willen gefügten Amt[es]" (GluN 1004). Man wird unter Berücksichtigung nicht zuletzt dieser brieflichen Äußerung die erkenntnistheoretische Grundlegung der systematischen Theologie, wie sie im "Leitfaden" vorliegt und insbesondere in der Anbindung des Gottesgedankens an die interne Verfaßtheit des humanen Wahrheitsbewußtseins ihr spezifisches Profil gewinnt, zu den theologiegeschichtlich programmatischen Bestandteilen der Theologie Hirschs rechnen müssen. Jede Rekonstruktion seiner ausgereiften Dogmatik und Ethik, Religionstheorie und Geschichtsphilosophie kann deshalb daraufhin befragt und danach beurteilt werden, inwieweit es ihr gelingt, die einzelnen Regionen dieses theologischen Gesamtentwurfs zu dessen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen in Beziehung zu setzen und aus ihnen verständlich zu machen. Bevor im folgenden Hirschs eigene erkenntnistheoretische Grundlegung der Dogmatik auf der Basis der neuzeitlichen Zweiquellentheorie dargestellt wird, sollen deren prinzipielle Fassungen anhand der theoretischen Philosophie Lockes, Leibniz' und Kants dem Ansatz nach vorgeführt werden.

Α. Die exemplarischen Theorieprogramme neuzeitlicher Erkenntnistheorie

1. Der empiristische Ansatz bei J. Locke

Im Dezember des Jahres 1689 erscheint in London ein Buch mit dem Titel "An essay concerning human understanding". 1 Sein Autor ist der in der Nähe von Bristol geborene und in Oxford ausgebildete Arzt, Pharmakologe und Naturkundler John Locke. Buch und Autor haben seither ihren festen Platz in der Philosophiegeschichte der Neuzeit. Auch wenn Lockes Essay streng genommen nicht ganz genau den Anfangspunkt des neuzeitlichen Empirismus bildet, so verkörpert er dennoch dessen erkenntnistheoretisches Grundprogramm auf eine klassische Weise und darf insofern als repräsentativ gelten für die empiristischen Erkenntnistheorien der Neuzeit insgesamt. Sie alle können unschwer als Variationen zu Lockes Essay aufgefaßt und diesbezüglich auf ihre spezifische Pointe hin befragt werden. Eine klassische Bedeutung kommt Lockes Essay darüber hinaus darin zu, daß er auch Gegen- und Vermittlungspositionen, so etwa Leibniz und Kant, Anlaß geboten hat, das jeweils eigene Programm ihm gegenüber kritisch zu profilieren. Locke gibt als Thema und Ziel der Darlegungen des Essays an, "Ursprung, Gewißheit und Umfang der menschlichen Erkenntnis zu untersuchen" (Intr. § 2). Es geht ihm - wie er sich auch ausdrücken kann - um die Erforschung der "menschlichen Erkenntnisfähigkeiten, so wie sie sich an den ihnen vorkommenden Objekten betätigen" (Intr. §2). D.h. der eigentliche Gegenstand der Abhandlung ist weder der Verstand (einschließlich der mit ihm zusammenhängenden weiteren Erkenntnisvermögen), noch das Reich der Begriffe (samt den darauf aufbauenden Begriffs- und Urteilsverknüpfungen), noch die Dinge (in ihrer allgemeineren oder spezielleren 1

Die folgenden in den Text gesetzten Zitatnachweise beziehen sich auf J. LOCKE: Uber den menschlichen Verstand, Hamburg 1976. Was die Art des Nachweises anbelangt, so werden das Buch jeweils mit römischen, die Kapitel mit arabischen Ziffern angegeben; die einzelnen Abschnitte der Kapitel werden durch Paragraphen bezeichnet. Vgl. zum folgenden A. RIEHL: Der philosophische Kritizismus I, 1999; L. KRÜGER: Der Begriff des Empirismus; H.W. ARNDT: John Locke. Die Funktion der Sprache

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Verfaßtheit), jeweils für sich genommen, sondern vielmehr deren genauer Zusammenhang, wie er durch jeden Einzelfall von Erkenntnis dem Verstehen aufgegeben ist. Die besondere Bedeutung jener Aufgabenstellung liegt aber darin, daß Locke damit nicht nur das Ziel seiner eigenen Untersuchungen angeben konnte, sondern daß er darüber hinaus die Funktion und den systematischen Ort neuzeitlicher Erkenntnistheorie überhaupt bezeichnet hat, nämlich als einer eigenständigen Disziplin zwischen Psychologie, Logik und Ontologie, auf alle drei bezogen und gleichwohl von jeder signifikant verschieden. Worin besteht nun das spezifisch empiristische Profil der Erkenntnistheorie Lockes? Er selber sagt im Hinblick auf die Plausibilität seines Entwurfes: "Wer entscheiden will, ob ich die Wahrheit getroffen habe, den m u ß ich auf Erfahrung und Beobachtung verweisen; denn der beste Weg, die Wahrheit zu finden, besteht darin, die Dinge daraufhin zu prüfen, wie sie wirklich sind, nicht aber zu schließen, sie seien so, wie wir es uns einbilden oder wie wir es uns vorzustellen von andern gelernt haben" (II, 11 § 15). Es fällt auf, daß das Stichwort "Erfahrung" hier nicht etwa auf den Bereich der von der Erkenntnistheorie thematisierten Erkenntnisse bezogen ist, sondern auf die problematische Gültigkeit der Erkenntnistheorie selber. Die programmatische Relevanz des Prinzips Erfahrung darf nach Locke in keiner Hinsicht eine Einschränkung erleiden, indem es etwa als nur für bestimmte Bereiche des Wissens zuständig erklärt würde. Vielmehr hat sich ihm alles zu stellen, was den Anspruch erhebt, Wissen zu sein, auch die Erkenntnistheorie: Eine Theorie des Empirismus muß sich ihrerseits noch empirisch ausweisen können. Eine auf Erfahrung rekurrierende materiale Phänomenologie der Erkenntnis hat Locke denn auch wohl im Auge, wenn er für die Erkenntnistheorie in verfahrensmäßiger Hinsicht nichts anderes gelten lassen will als die "historische, einfache Methode" (Intr. §2). Material-phänomenologische Untersuchungen hinsichtlich des Ursprungs und des Umfangs der Erkenntnis bilden demzufolge den Schwerpunkt des Essays. Sie machen im wesentlichen den Inhalt des gesamten zweiten Buches aus. Auf welches Material kann eine solchermaßen methodisch kontrollierte Untersuchung nun aber zurückgreifen? Locke gibt auf diese Frage eine sehr allgemein gehaltene Antwort. "Der Geist hat bei allem Denken und Folgern kein anderes unmittelbares Objekt als seine eigenen Ideen; er betrachtet nur sie und kann nur sie betrachten. Daher ist es offenbar, daß es unsere Erkenntnis lediglich mit unseren Ideen zu tun hat" (IV, 1 § 1). Der Begriff der Erkenntnis - und damit das eigentliche Forschungsthema des Essays - wird demzufolge definiert als "die Wahrnehmung des Zusammenhangs und der Übereinstimmung oder der Nichtübereinstimmung und des Widerstreits zwischen irgendwelchen von unseren Ideen" (IV, 1 §2). Weil

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also Ideen, und nicht etwa deren sprachliche Repräsentanten, die unmittelbaren Objekte der erkenntnistheoretischen Reflexion verkörpern, kann Locke bei der Analyse des Ursprungs und Umfangs der Erkenntnis von deren sprachlichem Aspekt weitgehend absehen. Der gleichwohl elementaren Funktion der Sprache ist dann in relativ selbständiger Weise das ganze dritte Buch des Essay gewidmet. Wenn also der Bereich der Ideen im Vordergrund der Aufklärungsbemühungen der empiristischen Erkenntnistheorie Lockes steht, so darf man nicht den von Piaton entwickelten und von den verschiedenen Spielarten des Piatonismus unterschiedlich fortgebildeten, der Sache nach auf rein intelligible Denkinhalte gehenden Ideenbegriff zugrunde legen, sondern hat an die Gesamtheit der möglichen intentionalen Korrelate des humanen Vorstellungsvermögens zu denken. So definiert Locke den Begriff der Idee als den Begriff dessen, "was immer, wenn ein Mensch denkt, das Objekt des Verstandes ist, ... was immer man unter Phantasma, Begriff, Vorstellung, oder was immer es sei, das den denkenden Geist beschäftigen kann, versteht" (Intr. § 8). Da es Locke nun aber nicht nur um den Ursprung und Umfang der Erkenntnis, sondern auch um deren Gewißheit geht, so kommt er nicht umhin, auch "Maßstäbe für die Gewißheit unserer Erkenntnis" (Intr. § 2) aufzustellen. Genau diese Problematik greift speziell das vierte Buch auf, indem es insbesondere die verschiedenen Grade und Abstufungen des Fürwahrhaltens samt der damit zusammenhängenden Fragen thematisiert. Nach allen genannten Momenten setzt die Möglichkeit von Erkenntnistheorie die Fähigkeit des Geistes zur Selbstthematisierung voraus. Jene Fähigkeit gedanklich prinzipiell zu durchdringen, scheint Locke keine Veranlassung gehabt zu haben, wenn er auch den Vollzug von Selbstthematisierung als der alltäglichen Bewußtseinseinstellung nicht gerade geläufig erachtet hat. "Wie das Auge läßt uns der Verstand alle anderen Dinge sehen und wahrnehmen, ohne doch dabei seiner selbst gewahr zu werden, und es erfordert Kunst und Mühe, um einen gewissen Abstand von ihm zu gewinnen und ihn zu seinem eigenen Objekt zu machen" (Intr. § 1). Allen erkenntnistheoretischen Selbstthematisierungen Lockes liegt die Einsicht in die Notwendigkeit einer Selbstbescheidung des Wissens zugrunde. "Wenn wir ermitteln können, wie weit der Verstand seinen Gesichtskreis ausdehnen kann, in welchem Umfange er die Fähigkeiten besitzt, Gewißheit zu erlangen, und in welchen Fällen er nur urteilen und vermuten kann, so werden wir vielleicht lernen, uns mit dem zu begnügen, was in dieser Lage von uns zu erreichen ist" (Intr. §4). In kritischer Absicht erfolgt die Selbstthematisierung des Geistes, sofern die in ihr vorgenommene Bestimmung der Reichweite des Verstandes auf eine Unterschei-

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dung von Wißbarem und Nichtwißbarem zielt. Als Kriterium des richtigen Verstandesgebrauches stellt Locke folgende Regel auf: "Wir gebrauchen unseren Verstand dann richtig, wenn wir alle Objekte in der Weise und in dem Maße betrachten, wie es unseren Fähigkeiten entspricht, und wenn wir sie auf solche Gründe hin untersuchen, die uns zugänglich sind" (Intr. §5). Was Locke als der humanen Erkenntnisfähigkeit gemäß erachtet, wird in prinzipieller Hinsicht noch zu erörtern sein. Hier gilt es zunächst nur festzuhalten, daß für Locke die Ausmessung der "Kapazität unseres Verstandes" (Intr. § 7) den methodischen Orientierungsrahmen und das Kriterium aller erkenntniskritischen Arbeit abgibt. Die erkenntniskritische Selbstthematisierung des Geistes hat ihren Mittelpunkt in einer solchen Bestimmung der Grenzen des Wissens, welche diese im wesentlichen mit der Reichweite des legitimen Gebrauchs des Verstandes identifiziert. So gesehen ist Lockes Essay die erste Kritik der Vernunft, und m a n hat ihn völlig zu Recht als den Vorläufer jenes Kritizismus betrachtet, welcher in Kants theoretischer Philosophie seinen bisherigen Höhepunkt erreicht hat. Ähnlich wie im Falle Kants will auch Lockes Erkenntniskritik keineswegs Theorie u m der bloßen Theorie willen sein, sondern weiß sich vielmehr in die Lebenspraxis eingebunden und ihr verpflichtet. "Unsere Aufgabe in dieser Welt ist es nicht, alle Dinge zu wissen, wohl aber diejenigen, die unser Verhalten betreffen" (Intr. §6). Dieses pragmatistische Telos in der Bestimmung des Wissens ist aber nur dann aufrecht zu erhalten, wenn dem Scheinwissen samt der damit Hand in Hand gehenden radikalen Skepsis Einhalt geboten werden kann. "Wenn die Menschen ... mit ihren Untersuchungen die Grenzen ihrer Kapazität überschreiten und ihre Gedanken in jene Tiefen hinabdringen lassen, wo sie keinen sicheren Boden mehr unter den Füßen finden können, so ist es kein Wunder, daß sie Fragen aufwerfen und immer mehr Streitgespräche führen, die, weil sie nie klar entschieden werden, nur dazu dienen, ihren Zweifeln neue Nahrung zu geben und sie zu vertiefen und sie selbst schließlich in einem vollständigen Skeptizismus zu bestärken. Wenn man dagegen die Kapazität unseres Verstandes wohl erwöge, den Umfang unserer Erkenntnis einmal feststellte und die Grenzlinie ausfindig machte, die den erhellten und den dunklen Teil der Dinge, das für uns Faßliche und das Unfaßliche voneinander scheidet, so würden sich die Menschen vielleicht unbedenklicher mit der eingestandenen Unkenntnis auf dem einen Gebiet zufrieden geben und ihr Denken und Reden mit mehr Erfolg und Befriedigung dem andern zuwenden" (Intr. § 7). U m nun Lockes Verständnis der Grenzen des Verstandes einschätzen zu können, ist es erforderlich, die maßgeblichen G r u n d a n n a h m e n seiner Bewußtseinstheorie kurz zu umreißen. Nach einer ausführlichen Kritik

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der überkommenen Lehre von den eingeborenen Ideen, die das ganze erste Buch des Essays ausfüllt, setzt Locke folgendermaßen ein: "Nehmen wir also an, der Geist sei, wie man sagt, ein unbeschriebenes Blatt ohne alle Schriftzeichen, frei von allen Ideen; wie werden ihm diese dann zugeführt? ... Woher hat er all das Material für seine Vernunft und f ü r seine Erkenntnis? Ich antworte darauf mit einem einzigen Worte: aus der Erfahrung. Auf sie gründet sich unsere gesamte Erkenntnis, von ihr leitet sie sich schließlich her. Unsere Beobachtung ... liefert unserem Verstand das gesamte Material" (II, 2 §2). War vom Erfahrungsbegriff zunächst nur im Hinblick auf die Methode der Erkenntnistheorie die Rede, so betrifft er nunmehr deren Objektbereich: Alle Erkenntnis entsteht aus Erfahrung. Beobachtung ist diejenige Form kognitiven Verhaltens, innerhalb derer sich Erfahrung aktualisiert. Die Inhalte und Resultate der Beobachtung bilden ihrerseits dann den Stoff von Verstandesoperationen. Locke unterscheidet nun zwei voneinander prinzipiell verschiedene Erfahrungsweisen oder Beobachtungsformen. Die eine nennt er "Sensation", die andere "Reflexion". Deren Gegensätzlichkeit gründet in der unterschiedlichen Struktur ihrer Intentionalität, d.h. Gegenstandsbezogenheit. "Wenn unsere Sinne mit bestimmten sinnlich wahrnehmbaren Objekten in Berührung treten, so führen sie dem Geist eine Reihe verschiedener Wahrnehmungen von Dingen zu, die der mannigfach verschiedenen Art entsprechen, wie jene Objekte auf die Sinne einwirken.... Diese wichtige Quelle der meisten unserer Ideen, die ganz und gar von unseren Sinnen abhängen ..., nenne ich Sensation. Die andere Quelle, aus der die Erfahrung den Verstand mit Ideen speist, ist die Wahrnehmung der Operationen des eigenen Geistes in uns, der sich mit den ihm zugeführten Ideen beschäftigt.... Diese Quelle von Ideen liegt ausschließlich im Innern des Menschen, und wenn sie auch kein Sinn ist, da sie mit den äußeren Objekten nichts zu t u n hat, so ist sie doch etwas sehr Ahnliches und könnte füglich als innerer Sinn bezeichnet werden. Während ich im ersten Fall von Sensation rede, so nenne ich diese Quelle Reflexion" (II, 1 § 3f). Wenn Locke hier nicht nur die Reflexion, sondern auch die Sensation als "Wahrnehmung" bezeichnet, so ist dies im Hinblick auf seine spätere Präzisierung des Wahrnehmungsbegriffs - wie wir noch sehen werden - ausgesprochen mißverständlich. Locke kommt es jedoch mit der Einführung und Unterscheidung der Begriffe "Sensation" und "Reflexion" im wesentlichen darauf an, daß diese beiden Formen von Erfahrung als "die beiden Quellen der Erkenntnis" zu gelten haben bzw. als diejenigen Quellen, "aus denen alle Ideen entspringen" (II, 1 §2). Lockes programmatisch vorgetragene Zweiquellentheorie der Erkenntnis ist also nicht wie später die Zweiquellentheorie Kants an der Zweistämmigkeit von Sinnlichkeit u n d Verstand orientiert, son-

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d e m hat die duplizitäre Struktur allein der empirischen Beobachtung, des Anschauungs- oder Rekursvermögens vor Augen. Die wichtigste Näherbestimmung der kognitiven Funktion von Sensation und Reflexion - als den beiden Quellen der Erkenntnis - besteht nun darin, daß es sich bei den von ihnen gelieferten Ideen immer nur u m sogen a n n t e "Einfache Ideen" (II, 2) handelt. Eine einfache Idee ist für Locke dadurch charakterisiert, daß sie "nichts in sich enthält als eine einheitliche Erscheinung oder Vorstellung im Geist" (II, 2 § 1). "Wenn auch die auf unsere Sinne einwirkenden Qualitäten in den Dingen selbst so vereinigt und verschmolzen sind, daß es bei ihnen keine Trennung, keinen Zwischenraum gibt, so ist es doch klar, daß die Ideen, die sie im Geist erzeugen, vermittelst der Sinne einzeln und unvermischt Eintritt finden" (II, 2 §1). Diese zunächst an der Struktur des sinnlichen Gegebenseins von äußeren Objekten aufgewiesene Einfachheit der Ideen der Sensation wird von Locke dann auch auf die Ideen der Reflexion übertragen. Alle einfachen Ideen sind demnach entweder Ideen der Sensation oder Ideen der Reflexion. Einfache Ideen können "nichts anderes darstellen als etwas, das wir von der Sensation und der Reflexion empfangen haben" (II, 23 §32). Sensation und Reflexion sind nun insofern Quellen der Erkenntnis, als die in ihnen enthaltenen einfachen Ideen die Gegenstandsbezogenheit von Ideen überhaupt herstellen und verbürgen. Jene "einfachen Ideen rühren sämtlich von den Dingen selbst her" (II, 12 § 2): genau darin gründet ihre Objektivität stiftende Funktion. Vermöge dieser Eigenschaft gewährleisten sie dann auch den Realitätsgehalt allen Wissens, sofern nämlich "unser Wissen nur insoweit real [ist], als zwischen unseren Ideen und der Realität der Dinge eine Ubereinstimmung besteht" (IV, 4 §3). Dabei kommt der Sensation eine gewisse Priorität vor der Reflexion zu, weil sie allein uns unmittelbar in Beziehung zu irgendwelchen Objekten bringt. Es wäre allerdings völlig verfehlt, Locke deshalb eine etwa dem materialistischen Datensensualismus vergleichbare Intention zu unterstellen. Ausdrücklich betont er vielmehr: "Es beruht auf mangelnder Reflexion, wenn wir geneigt sind, zu glauben, daß uns unsere Sinne lediglich materielle Dinge zeigten. Recht betrachtet vermittelt uns jeder Akt der Sensation gleichermaßen einen Einblick in beide Seiten der Natur, der körperlichen wie der geistigen" (II, 23 § 15). Aber jene Objektivität bzw. objektive Realität stiftende Kraft der einfachen Ideen geht nun keineswegs auf in dieser positiven Konstitutionsfunktion, sondern darin ist für Locke auch, und zwar gleichwesentlich, ein Negationsmoment enthalten. "Wir können" - dies ist der Grundtenor des Essays - "niemals weiter kommen als bis zu den einfachen Ideen, die wir ursprünglich durch Sensation und Reflexion empfangen haben" (II, 23

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§ 37). Diese einfachen Ideen bilden "die Grenzen unseres Denkens ..., über die der Geist, welche Anstrengungen er auch unternehmen wollte, nicht u m Haaresbreite hinaus gelangt" (II, 23 §29). Locke hat diese restriktive Bedeutung der Unabdingbarkeit des Rekurses aller Erkenntnis auf Sensation und Reflexion nicht nur auf die Bereiche des Alltagswissens und der Wissenschaft bezogen, sondern insbesondere auch auf die metaphysische Tätigkeit des Geistes, wie sie sich in der traditionellen Philosophie dargestellt hatte. Bei "jenen entlegenen Spekulationen, durch die er [seil, der Geist] vielleicht über sich selbst hinausgehoben zu werden scheint, kommt er auch nicht u m Haaresbreite über jene Ideen hinaus, die ihm die Sinne oder die Reflexion zur Betrachtung dargeboten haben" (II, 1 §24). Vergißt der Verstand diese Grenzen seiner kognitiven Erschließungskraft, so ist Scheinwissen die unvermeidliche Folge solcher Selbstvergessenheit: "jedesmal, wenn wir über diese einfachen, aus der Sensation und der Reflexion gewonnenen Ideen hinausgehen und tiefer in die Natur der Dinge eintauchen wollen, geraten wir sofort in Dunkelheit und Finsternis, Verwirrung und Schwierigkeiten und können nichts weiter entdecken als unsere eigene Blindheit und Unwissenheit" (II, 23 §2). Damit ist einer der wichtigsten P u n k t e des von Locke maßgeblich ausformulierten erkenntnistheoretischen Grundmodells berührt. Der spezifisch neuzeitliche Empirismus unterscheidet sich von dem älteren, auf Aristoteles zurückgehenden Empirismus vor allem dadurch, daß die gegenüber jedweder Erkenntnis erhobene Forderung nach Rückgang auf Erfahrung und Beobachtung unmittelbar und wesentlich eine Restriktionsthese bezüglich der Reichweite alles sonstigen Verstandes- oder Vernunftgebrauchs impliziert. Locke hat diese spezifisch empiristische Restriktionsthese auf besondere Weise in der Widerlegung der überkommenen Lehre von den eingeborenen Ideen zur Geltung gebracht und vor allem in der Destruktion des klassischen SubstanzbegrifFs (vgl. II, 23f), jenes Eckpfeilers sowohl mittelalterlich-scholastischer Theologie als auch frühneuzeitlichrationalistischer Philosophie. Mit der kritischen Verabschiedung aller ontologischen Begründungsleistungen dieses vermeintlichen Prinzips hat Lockes Empirismus der gesamten Neuzeit einen über Humes Kritik der Kausalitätskategorie vielleicht noch hinausgehenden metaphysik-restriktiven Impuls erteilt. Kehren wir zurück zu Lockes Ideenbegriff. In der Beschreibung der spezifischen Funktion der einfachen Ideen ist bereits angeklungen, daß Locke offenbar noch eine ganz andere Sorte von Ideen kennt. Er nennt sie "Komplexe Ideen" (II, 12). Auf die Diskrepanzen, die bezüglich einer genaueren Bestimmung dieser Klasse von Ideen zwischen der ersten bis dritten Auflage des Essays (vgl. II, 12 § 3) und dem Zusatz der vierten Auflage (vgl. II, 12 § 1) bestehen, braucht hier nicht näher eingegangen zu

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werden. Entscheidend ist vielmehr, daß mit der Einführung des Begriffs der komplexen Ideen eine grundlegend andere Funktion des Geistes ins Spiel kommt. Komplexe Ideen entstehen nach Locke erstens durch Kombination einfacher Ideen (komplexe Ideen im engeren Sinne), zweitens durch Zusammenstellung einfacher Ideen (Relationsideen) und drittens durch Trennung real verbundener einfacher Ideen (Abstraktionsbegriffe). In allen drei Fällen nimmt der Geist das jeweils empirisch Gegebene nicht bloß hin, sondern er vollzieht darüber hinaus spontan getätigte Operationen an dem sich ihm durch Sensation und Reflexion darbietenden Stoff. "Während er sich ... bei der Aufnahme aller seiner einfachen Ideen durchaus passiv verhält, vollbringt er selbständig verschiedene Handlungen, um aus seinen einfachen Ideen als dem Material und der Grundlage für alles Weitere die übrigen Ideen zu bilden" (II, 12 § 1). Und ähnlich heißt es an anderer Stelle: "Der Geist verhält sich zwar hinsichtlich seiner einfachen Ideen völlig passiv; jedoch dürfen wir behaupten, daß das hinsichtlich seiner komplexen Ideen nicht der Fall ist. Denn da diese Kombinationen von einfachen Ideen sind, ... so ist es klar, daß der Geist eines Menschen bei der Bildung dieser komplexen Ideen mit einer gewissen Freiheit verfährt" (II, 30 §3). Die Nuancen des Bedeutungsunterschiedes von "selbständig" und "mit einer gewissen Freiheit" brauchen hier nicht thematisiert zu werden. Entscheidend ist, daß mit der Frage nach dem Ursprung der komplexen Ideen und deren Rückführung auf ganz bestimmte Operationen des Geistes ein neuer Unterscheidungsgesichtspunkt eingeführt wird. Neben die an der Dichotomie von Sensation und Reflexion orientierte Zweiquellentheorie tritt die Duplizität von Aktivität und Passivität. Aktivität kommt allein den Denkoperationen zu, während Passivität gleichermaßen auf Sensation und Reflexion zutrifft. Locke ist sich über den grundsätzlichen Charakter dieser zweiten Unterscheidung völlig im klaren. Aktivität und Passivität des Geistes müssen strikt auseinandergehalten werden, und zwar gerade unter der Voraussetzung, daß Erkenntnis im vollen Sinne des Wortes beide Seiten des Geistes erforderlich macht. Die Einführung dieser in der Bildung der komplexen Ideen wirksamen aktiven Geistesfunktion in den von Locke bisher entwickelten Erfahrungsbegriff ist bewußtseinstheoretisch nun allerdings keineswegs problemlos. Betrachten wir zunächst das Verhältnis jener aktiven Operationen des Geistes zur passiven Reflexion. Hier ergibt sich der merkwürdige Sachverhalt, daß einerseits die aktiven Operationen des Verbindens, Zusammenstellens und Trennens den Gegenstand der Reflexion sollen abgeben können, daß aber andererseits die in der Reflexion enthaltenen einfachen Ideen ihrerseits das Material sollen bilden können, aus dem die aktiven Operationen

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des Geistes ihre komplexen Ideen erstellen. Wie dieses Verschränkungsverhältnis zwischen Reflexion und logischer Aktivität strukturell zu denken sei, darüber hat sich Locke nicht geäußert. Hinzu kommt ein Zweites. So einleuchtend Lockes Unterscheidung der Passivität und Aktivität des Geistes auf den ersten Blick erscheinen mag - Passivität im Falle des Hinnehmens einfacher Ideen, Aktivität im Falle der Bildung komplexer Ideen - so wenig klar n i m m t sie sich bei genauerem Hinsehen aus, und zwar sowohl mit Bezug auf die Bestimmtheit des Begriffs der Aktivität als auch betreffs der Stellung der Wahrnehmungen. Im Zusammenhang einer Gegenüberstellung von Wahrnehmen und Denken hebt Locke nachdrücklich hervor, daß das Wort Denken "nach richtigem englischem Sprachgebrauch" eine an den Ideen vorgenommene Operation bezeichne, "bei der der Geist aktiv tätig ist, das heißt mit einem gewissen Grad gewollter Aufmerksamkeit etwas betrachtet" (II, 9 § 1). Aktivität liegt für Locke demnach nicht nur im Fall der Bildung komplexer Ideen vor, sondern auch überall dort, wo ein Aufmerken auf gegebene Bewußtseinsinhalte stattfindet. Eine genauere Strukturdifferenzierung der verschiedenen Arten von Denkaktivität hat Locke selber allerdings nicht ausgearbeitet. Und schließlich versichert Locke - zunächst in völliger Übereinstimm u n g mit dem dazu bereits Ausgeführten: Bei "der reinen Wahrnehmung bleibt der Geist meist nur passiv, und was er wahrnimmt, muß er unvermeidlich wahrnehmen" (II, 9 § 1). Zugleich wendet er sich jedoch gegen ein datensensualistisches Verständnis der Wahrnehmung. "Soviel ist gewiß, wenn alle Veränderungen, die im Körper herbeigeführt werden, nicht den Geist erreichen, wenn alle Eindrücke, die auf die äußeren Organe gemacht werden, nicht im Innern bemerkt werden, dann gibt es keine Wahrnehmung. ... Der Impuls, der dem Organ mitgeteilt wird, mag hinreichend stark sein, wenn er aber vom Geist nicht beachtet wird, so erfolgt keine Wahrnehmung" (II, 9 §3f). Es ist offenkundig, daß die Wahrnehmung trotz der Passivität ihres Hinnehmens der Sinneseindrücke eine Aktivität des Aufmerkens auf das eigene Affiziertsein impliziert. Die Bedingungen der Möglichkeit eines Zugleichs von Passivität und Aktivität im Falle der Wahrnehmung hat Locke ebenfalls nirgends problematisiert. Doch sieht man von den gerade genannten Schwierigkeiten einmal ab, so kommt Lockes Konzeption eines gegenüber Sensation und Reflexion eigenständigen operativen Vermögens eine erkenntnistheoretisch epochale Bedeutung zu. Locke betont immer wieder, daß der menschliche Geist keine Macht habe über die Materialien seines möglichen Wissens: "er kann sie weder schaffen noch vernichten; alles was er t u n kann, besteht darin, daß er sie entweder miteinander vereinigt, sie nebeneinanderstellt oder vollkommen trennt" (II, 12 § 1). Die Aktivität des Geistes beschränkt

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sich u n t e r dieser Voraussetzung auf die Bildung komplexer Ideen, nämlich der Modi, Substanzen u n d Relationen sowie der Allgemeinbegriffe überh a u p t . Die F u n k t i o n des Verstandes im engeren Sinne geht diesem erkenntnistheoretischen Modell zufolge ganz in der lediglich d u r c h o p e r a t i v e Fähigkeiten gekennzeichneten Geistesaktivität auf. Die M a c h t des Verstandes "wie kunstreich und geschickt sie auch g e h a n d h a b t werden möge, reicht nicht weiter als bis zu der Zusammensetzung und Zerlegung des ihm in die H ä n d e gelieferten Materials" (II, 2 §2). D a m i t ist Locke der Schöpfer eines rein operativen Verstandesbegriffs geworden. Der V e r s t a n d sieht im strengen Sinne des Wortes nichts, weder u n m i t t e l b a r , noch wenn er etwas aus dem Sinnen a b s t r a h i e r t . Er operiert nur, d.h. er teilt, zerlegt, v e r k n ü p f t , stellt z u s a m m e n usw. Die m e n t a l e Akt i v i t ä t des Verstandes erschöpft sich in bloßen Z u o r d n u n g s f u n k t i o n e n . Es b r a u c h t hier wohl k a u m näher erläutert zu werden, daß die Transzendentalphilosophie K a n t s ohne diesen Begriff eines rein operativen Verstandes nicht zu denken wäre. F ü r Locke war diese Auffassung v o m Wesen des Verstandes offenkundig n u r die Kehrseite der These, daß aller Stoff der E r k e n n t n i s n u r aus E r f a h r u n g u n d Beobachtung erwachse. A u c h hierin h a t sich K a n t als ein gelehriger Schüler Lockes erwiesen. Es war Leibniz v o r b e h a l t e n , jenen beiden Prämissen des neuzeitlichen Kritizismus eine Absage zu erteilen. Es ist hier nicht der Ort zu beurteilen, inwieweit es Locke tatsächlich gelungen ist, das P r o g r a m m einer empiristischen Erkenntnistheorie konseq u e n t d u r c h z u f ü h r e n . Seine Theorie der M a t h e m a t i k u n d seine A u s f ü h r u n gen zur Existenz G o t t e s legen gewisse Zweifel u n d Inkonsistenzvermutungen zumindest nahe. Es kann hier auch nicht d a r u m gehen, zu der in der neueren Locke-Forschung viel verhandelten Frage des Verhältnisses von Sprachphilosophie u n d Erkenntnistheorie Stellung zu n e h m e n . Nur wird m a n wenigstens soviel sagen müssen, daß das anscheinend weit verbreit e t e Schema eines m e h r oder weniger direkten Psychologismusvorwurfs alles a n d e r e als eine geeignete Perspektive zur Lösung der bei Locke zugegebenermaßen a n s t e h e n d e n P r o b l e m e b e d e u t e t . Im Hinblick auf die durch Leibniz und K a n t weitergeführte D e b a t t e wird m a n mit Bezug auf Lockes E m p i r i s m u s p r o g r a m m eher an zwei andere Theoriedefizite zu denken h a b e n . In inhaltlicher Hinsicht wäre hier an die bereits oben b e r ü h r t e n , systematisch weitreichenden Fragen bewußtseinstheoretischer Art zu erinnern, so etwa an das P r o b l e m des ungeklärten Zugleichs von Passivität u n d A k t i v i t ä t im Falle der W a h r n e h m u n g , oder an das P r o b l e m der mangelnden Strukturdifferenzierung von A r t e n der D e n k a k t i v i t ä t , oder an das P r o b l e m der Z u o r d n u n g von Reflexion u n d o p e r a t i v e m Verstand. All dies weist hin auf die Notwendigkeit einer grundlegenderen Problematisierung der Bedingungen der Möglich-

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keit von epistemischer Aktivität überhaupt. In methodischer Hinsicht erscheint Lockes Ansinnen, die Theorie des Empirismus selber empirisch zu begründen, zwar vom Ansatz her auf den ersten Blick als konsequent. Bei näherem Hinsehen zeigt sich indes, daß ein solches Vorhaben zwangsläufig zu einer Verwischung des Unterschieds zwischen genetischen Fragen einerseits und Geltungsfragen andererseits führt, ohne daß die Einziehung dieser Differenz selber noch einmal gerechtfertigt würde. Man sagt nicht zuviel von Leibniz und Kant, wenn man beiden bescheinigt, sowohl in bewußtseinstheoretischer als auch in erkenntnistheoretischmethodischer Hinsicht je auf ihre Weise wesentliche Problemvertiefungen gegenüber Locke erzielt zu haben.

2. D a s rationalistische G e g e n m o d e l l bei G. W . Leibniz

Im Winter 1689/90 war Lockes Essay erschienen. Sechs Jahre später nimmt Leibniz brieflich in knappster Form erstmals dazu Stellung. Im Jahre 1700 erscheint dann in Amsterdam eine französische Übersetzung von Lockes Werk, basierend auf dessen vierter Auflage aus demselben Jahr. Diese französische Ubersetzung scheint die Basis für Leibniz' detaillierte Auseinandersetzung mit Lockes erkenntnistheoretischem Ansatz gebildet zu haben. Vermutlich im Frühjahr 1707 rasch niedergeschrieben, wird diese jedoch erst im Jahre 1765 publiziert - nahezu fünfzig Jahre nach Leibniz' Tod. Um die Gegensätzlichkeit in der Grundauffassung hervorzuheben, nennt Leibniz seine Gegenschrift "Nouveaux Essais sur l'entendement humain". 2 Leibniz läßt sich darin völlig auf das Lockesche Thema ein - nämlich die Frage nach dem Ursprung, der Gewißheit und dem Umfang der menschlichen Erkenntnis - und zwar so konsequent, daß er auch formell ganz exakt dem Aufbau der von ihm kritisierten Abhandlung folgt. Dadurch 2

Die folgenden in den Text unter dem Sigel NE gesetzten Zitatnachweise beziehen sich auf G.W. LEIBNIZ: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, Hamburg 1971. Das Buch wird jeweils mit römischen, die Kapitel mit arabischen Ziffern angegeben; die einzelnen Abschnitte der Kapitel werden durch Paragraphen bezeichnet. Alle Zitate anderer Schriften von Leibniz werden unter Verwendung der im Literaturverzeichnis angegebenen Sigel nachgewiesen. Vgl. zum folgenden E. CASSIRER: Leibniz' System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen, 355ff; ders.: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit II, 126-190; N. HARTMANN: Leibniz als Metaphysiker; G. MARTIN: Leibniz. Logik und Metaphysik; W. JANKE: Leibniz. Die Emendation der Metaphysik; H. BURKHARDT: Logik und Semiotik in der Philosophie von Leibniz.

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erwecken Leibniz' Ausführungen auf den ersten Blick leicht den Anschein einer bloß ad hoc geführten Gegenargumentation, welcher Eindruck sich allerdings verliert, wenn man ihren systematischen Zusammenhang genau im Auge behält und sie darüber hinaus in Beziehung setzt zu Leibniz' philosophischem Gesamtentwurf, wie er spätestens seit den 80er Jahren des 17. J a h r h u n d e r t s in groben Zügen vorliegt und dann in der ausgereiften Monadologie der Briefe und Veröffentlichungen von 1714 bis 1716 seine abschließende Klärung empfangen hat. Leibniz ist sich des fundamentalen erkenntnistheoretischen Gegensatzes zu Locke scharf bewußt gewesen und hat ihn sogleich in eine ideengeschichtlich schlechterdings klassische Theorienkonstellation eingerückt. "Das seinige", so stellt er gleich zu Beginn der Vorrede im Hinblick auf Lockes System fest, "hat mehr Verwandtschaft mit Aristoteles, und das meinige mit Plato, obwohl wir uns in vielen Stücken alle beide von der Lehre dieser zwei Alten entfernen" (NE Pref.). So unbestreitbar diese traditionelle Alternative auf die vorliegende neuzeitliche Kontroverse anwendbar ist, so wird man sie - Leibniz' eigenen Worten folgend - dennoch nicht überstrapazieren dürfen. Worum es vielmehr in erster Linie zwischen Locke und Leibniz nach Auffassung des letzteren geht, ist die Frage, welche Rolle der Sinnlichkeit beim Aufbau von Erkenntnis zukommt. Locke h a t t e ihr im Gegenzug zu der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Lehre von den eingeborenen Ideen eine - wie wir gesehen haben - schlechterdings maßgebende Funktion zugewiesen. Hiergegen opponiert Leibniz. Seine Grundüberzeugung faßt er in der These zusammen, daß "alle Gedanken und Tätigkeiten unserer Seele aus ihrem eigenen Grunde stammen, und ihr ... nicht durch die Sinne gegeben werden können" (NE I, 2 § 1). Und Leibniz fügt hinzu: "Man wird mir das anerkannte philosophische Axiom entgegenhalten, daß in der Seele nichts sei, das nicht von den Sinnen kommt. Aber m a n muß die Seele selbst und ihre Zustände hiervon ausnehmen" (NE II, 1 §2). Damit wendet er sich insbesondere gegen die aus der Tradition überkommene Auffassung des Bewußtseins als einer tabula rasa, die bei Locke über die ursprüngliche Bedeutung dieses Theorems hinaus eine dramatische Zuspitzung erfahren hatte. Leibniz greift jene Vorstellung so auf, daß er das in ihr enthaltene metaphysikkritische Potential zugleich außer Kraft setzt. Sein Grundsatz lautet: "Nihil est in intellectu quod non fuerit in sensu, excipe: nisi ipse intellectus" (NE II, 1 §2). Als nichtsinnliche Bestandteile der Erkenntnis können alle diejenigen Elemente verstanden werden, die das Bewußtsein rein als solches immer schon, und zwar notwendigerweise, mitbringt, wenn es sich überhaupt vermittelst der Sinne auf irgendetwas erkennend soll beziehen können. Dies ist gewissermaßen die abgeschwächte Form des Leibnizschen Theoriepro-

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gramms bezüglich der Grenzen der Sinnlichkeit. Die stärkere Fassung bestreitet dieser darüber hinaus generell jede Selbständigkeit als eines eigenen kognitiven Vermögens. Die Nouveaux Essais zeichnen sich dadurch aus, daß sie den Nachdruck auf den Erweis der reduzierten These legen, ohne allerdings den weiterreichenden Behauptungsanspruch zu verleugnen. Mindestens zwei Theoriefelder lassen sich bezüglich der gegen Locke gerichteten Einwände unterscheiden, nämlich wahrheitstheoretische und bewußtseinstheoretische Argumentationskontexte. Beide machen je auf ihre Weise die Kontinuität des Leibnizschen Denkens sichtbar. Die Leibnizsche Wahrheitstheorie nimmt ihren Ausgang von der Verschränkung einer zweifachen Unterscheidung. Es gibt erstens ursprüngliche und abgeleitete Wahrheiten, sowie zweitens Vernunft- und Tatsachenwahrheiten. Für eine ursprüngliche Vernunftwahrheit steht jede unmittelbare Einsicht in die Adäquatheit einer Realdefinition ein, für eine ursprüngliche Tatsachenwahrheit jede unmittelbar gewisse innere Erfahrung. Bei den abgeleiteten Vernunftwahrheiten denkt Leibniz an durch analytische Beweisführung erkannte, notwendige Sachverhalte, bei den abgeleiteten Tat Sachenwahrheiten an durch Aufweis des Zusammenhangs von Erscheinungen erkannte, zufällige Sachverhalte. Allen vier Formen von Wahrheiten liegt ein einheitlicher Wahrheitsbegriff zugrunde. Ein aus der Verbindung zweier Ideen gebildeter Satz ist wahr oder falsch, wenn "die eine in der anderen enthalten oder nicht enthalten ist" (NE IV, 5 § 1). Was Leibniz damit näher meint, hat er etwa in dem ethischen Traktat "Uber die Freiheit" so formuliert: "der klare Begriff der Wahrheit" besagt, daß "es jedem wahren, bejahenden, allgemeinen und einzelnen, notwendigen oder zufälligen, Satze gemein ist, daß das Prädikat dem Subjekte innewohnt oder daß der Begriff des Prädikats in dem Begriffe des Subjekts in irgend welcher Weise enthalten ist" (Hauptschr. II, 498). Leibniz' Wahrheitsbegriff hat seine Pointe darin, daß das vollständige oder partielle Enthaltensein des Prädikats im Subjektsbegriff als die notwendige und hinreichende Bedingung einer Ubereinstimmung zwischen Satz und bestehendem Sachverhalt angesehen wird. Was dies für die Kritik an der Erkenntnistheorie Lockes bedeutet, kann nur verständlich gemacht werden, wenn wir uns in knappster Form den logischen Kontext der Leibnizschen Wahrheitstheorie vergegenwärtigen. Wir beschränken uns dabei zweckmäßigerweise auf die hierfür wohl wichtigste Abhandlung aus dem Jahre 1686, nämlich die "Generales Inquisitiones de Analysi Notionum et Veritatum". Wir fragen zunächst nach dem Kriterium des Wahrseins von Aussagen. Ursprüngliche Wahrheiten bedürfen eines solchen nicht, weil sie von Definitivem intuitiv gewiß sind. Im Hinblick auf abgeleitete Wahrheiten

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sagt Leibniz unter Zugrundelegung seines spezifischen Wahrheitsbegriffs: Da "der Begriff des Prädikats in dem vollkommen verstandenen Begriff des Subjekts beinhaltet ist, muß sicherlich durch die Analyse der Begriffe in ihre Werte, d.h. in jene Begriffe, die sie enthalten, die Wahrheit aufgezeigt werden können" (Gl § 132). Als Wahrheitskriterium ergibt sich daraus folgender Grundsatz: "Wahr ist ..., was bewiesen werden kann; falsch ist, wofür das Gegenteil gilt" (Gl § 130a). Sätze, welche eine nichtintuitive Wahrheit ausdrücken, sind demnach wahr, genau dann, wenn sie einer Ableitung fähig sind. Dieses Kriterium erscheint auf den ersten Blick als trivial, ist es aber nicht, weil seine Gültigkeit sowohl für Vernunftwahrheiten als auch im Hinblick auf Tatsachenwahrheiten vorausgesetzt wird. Für den ersten Fall heißt dies: "Eine wahre notwendige Aussage kann bewiesen werden durch Zurückführung auf identische Aussagen oder durch Zurückführung der entgegengesetzten Aussage auf widersprüchliche Aussagen" (Gl § 133). Notwendige Aussagen über einen Gegenstand sind in Wahrheit Definitionen oder Teildefinitionen desselben und haben somit ihren Urteilsgrund ausschließlich in dessen Identität. Anders liegen die Dinge im Fall der Tatsachenwahrheiten. Hier verknüpfen wir zufällige Bestimmungen eines Gegenstandes miteinander, weil uns dessen Begriff nicht hinreichend erkennbar ist. Auf die Funktionsfähigkeit des oben genannten Wahrheitskriteriums im Falle von Tatsachenwahrheiten angewandt, besagt dies: "Eine wahre kontingente Aussage kann nicht auf identische Aussagen zurückgeführt werden, sie wird aber trotzdem bewiesen, indem gezeigt wird, daß sie sich durch eine immer weiter fortgesetzte Analyse den identischen Aussagen zwar ständig nähert, jedoch niemals zu diesen gelangt" (Gl § 134). Von einer kontinuierlichen Annäherung an das Ideal identischer Sätze kann aber nur dann gesprochen werden, wenn "die Progression der Analyse auf irgendeine Regel zurückgeführt werden kann" (Gl §65). Die Funktion einer solchen Regel besteht darin, "aus der Progression der Analyse selbst, d.h, durch irgendeine allgemeine Beziehung zwischen den vorangegangenen Schritten der Analyse und dem folgenden Schritt, [zu] beweisen, daß niemals so etwas [seil, wie ein Widerspruch] auftreten wird, wie weit auch immer die Analyse fortgesetzt werden wird" (Gl §56). Die Feststellung einer solchen Progressionsregel befähigt somit den empirischen Forscher, über die Möglichkeit einer zufälligen Wahrheit mit Gründen zu entscheiden. "Wenn ... bei fortgesetzter Analyse des Prädikats und bei fortgesetzter Analyse des Subjekts doch niemals ein Sich-Decken bewiesen werden kann, jedoch aus der fortgesetzten Analyse und aus der daraus hervorgehenden Progression sowie deren Regel zumindesten deutlich wird, daß niemals ein Widerspruch auftreten wird, dann ist die Aussage möglich" ( G l § 66).

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Und damit ist dann zugleich auch das rationale Kriterium der Wahrheit einer Tatsachenfeststellung im Kontext des analytischen Operationsprozesses gegeben. "Wenn ... aus der Regel der Progression deutlich wird, daß die Sache durch die Analyse so weit geführt wird, daß die Differenz zwischen jenen, die sich decken sollen, geringer ist als jede gegebene Differenz, so wird bewiesen sein, daß die Aussage wahr ist" (ebd.). Mit der Ausarbeitung dieses Progressionsregelsystems hat Leibniz nichts Geringeres aufgestellt als eine Logik der empirischen Forschung - welche Art der Tatsachenerkenntnis endlichen epistemischen Subjekten allein möglich ist. "Für G o t t " , so versichert Leibniz, "ist nur die Analyse der ihm eigenen Begriffe erfordert, die in ihm als ganze auf einmal geschieht. Daher kennt er auch die Wahrheit der kontingenten Dinge, deren vollkommener Beweis jeden endlichen Intellekt übersteigt" (Gl § 131). Was Leibniz mit der Aufstellung jenes forschungslogischen Progressionsregelsystems zeigen will, ist dies, daß wir auch im Hinblick auf Tatsachenwahrheiten über die Wahrheit derselben nur nach rationalen Kriterien entscheiden können. "Man muß sagen, daß das Wahre und das Falsche immer bewiesen werden kann, zumindensten durch eine ins Unendliche gehende Analyse" (Gl §66). Nicht nur im Hinblick auf abgeleitete Vernunftwahrheiten, sondern auch bezüglich jeder empirischen Vorstellungsverknüpfung kann nur das als wahr eingesehen und behauptet werden, was auf analytische Begriffszusammenhänge zurückgeführt werden kann. Damit können wir uns wieder der Kritik an Locke zuwenden. Leibniz h a t t e bereits in der 1670 erschienenen Nizolius-Rezension darauf hingewiesen, daß eine Aufstellung allgemeiner Sätze allein auf dem Wege der Induktion der Bestreitung der Möglichkeit ihrer vollständigen Gewißheit gleichkomme. Diesen Gesichtspunkt macht er nun auch gegen Locke geltend. "Unsere Gewißheit würde gering oder vielmehr gleich null sein, wenn sie für die einfachen Ideen keine andere Grundlage besäße, als diejenige, die aus den Sinnen s t a m m t " (NE IV, 4 §4). Nur vermöge der rationalen Komponenten unseres Erkennens kann es wirkliche Gewißheit gerade auch mit Bezug auf Tatsachenwahrheiten geben. Vor dem logischen Hintergrund von Leibniz' Wahrheitstheorie dürfte nunmehr deutlich geworden sein, wie jener Einwand gegen Locke zu verstehen ist: "der Grund der Wahrheit der zufälligen und einzelnen Dinge hegt darin, daß es gelingt, die Erscheinungen der Sinne geradeso zu verknüpfen, wie die intelligiblen Wahrheiten es fordern" (ebd.). Dies ist die ebensosehr wahrheitstheoretisch wie forschungslogisch gemeinte Gestalt des antiempiristischen Arguments. In einer noch komprimierteren Fassung lautet es: "Der Zusammenhang der Erscheinungen ..., der die Tatsachenwahrheiten im Hinblick auf die sinnlichen Dinge außer uns verbürgt, wird seinerseits mittels der Vernunftwahrheiten bewährt" (NE IV, 2 § 14).

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Wahrheit ist in aller Empirie nur in dem Maße vorhanden, als Elemente derselben sich mit Hilfe eines in sich widerspruchsfreien Begriffsnetzes einfangen und so rational deuten bzw. bestimmen lassen. Nicht die Erfahrung bewährt die Theorie, sondern umgekehrt, die Theorie bewährt die Erfahrung. Auch und gerade im Hinblick auf den Beitrag, den die sinnliche Wahrnehmung beim Aufbau von Erkenntnis leistet, erweisen sich die von der Vernunft erkannten notwendigen Wahrheiten als die obersten Prinzipien des Erschlossenseins von Wahrheit, sofern nämlich sie und nur sie "den Bestimmungsgrund und das ordnende Prinzip alles Daseienden selbst, mit einem Worte also die Gesetze des Weltalls enthalten" (NE IV, 11 §14). Zu dieser fundamentalen Bestimmungs- und Ordnungsfunktion sind die notwendigen Wahrheiten deshalb befähigt, weil sie "unserer Seele eingeprägt sind, nicht in Form von Sätzen, sondern als Quellen, aus denen bei bestimmten Anlässen wirkliche Urteile hervorgehen" (ebd.). Aus eben diesem Grunde glaubte Leibniz an der Lehre von den eingeborenen Ideen nicht nur festhalten, sondern sie metaphysisch noch untermauern zu müssen. Eben diese Begründungslast h a t t e für ihn die Monadologie zu übernehmen. Damit können wir den wahrheitstheoretischen Aspekt der Locke-Kritik verlassen und uns den bewußtseinstheoretischen Argumenten zuwenden. Auf diesem Felde sind Leibniz' Einwendungen gegen Locke nicht minder prinzipiell als auf dem gerade verhandelten. Die Grundthese seiner Kritik faßt Leibniz dahingehend zusammen, daß "alle Gedanken und Tätigkeiten unserer Seele aus ihrem eigenen Grunde stammen, und ihr ... nicht durch die Sinne gegeben werden können" (NE I, 1 §1). Dieses Theorem wird von Leibniz in direkter Form geltend gemacht gegen das, was ihm auf den ersten Blick unmittelbar zu widersprechen scheint, nämlich die von Locke im Hinblick auf die Sachhaltigkeit von Erkenntnis behauptete Notwendigkeit eines passiven Affiziertseins der Sinne. Um Leibniz' Position zu verstehen, ist es unerläßlich, einen Blick in diejenige Schrift zu werfen, mit der seine systematische Philosophie ihren eigentlichen Anfang genommen hat, die 1864 erschienenen "Meditationes de cognitione, veritate et ideis". Leibniz nimmt hier eine Einteilung des Gesamtbereichs der Vorstellungen bzw. Ideen vor und erläutert im Anschluß daran einige wichtige erkenntnistheoretische Konsequenzen. Wir betrachten nur die Einteilung selber. Eine Vorstellung ist dieser zufolge "entweder dunkel oder klar, die klare wiederum verworren oder distinkt, die distinkte entweder adaequat oder inadaequat, die adaequate entweder symbolisch oder intuitiv" (Hauptschr. I, 22). Mit Hilfe dieses Schemas ist es Leibniz nun möglich, Lockes Behauptung von der Passivität unseres Geistes im Falle der Sinnesaffektion be-

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wußtseinstheoretisch zu unterlaufen. Auch Leibniz leugnet nicht, daß im Falle des Vorliegens von empirischen Wahrnehmungen "eine Beziehung zwischen diesen Wahrnehmungen selbst ... und den entsprechenden körperlichen Bewegungen" besteht. Nur bestreitet er den Sachverhalt eines passiven Affiziertseins der kognitiven Instanz dabei und führt diesen Anschein einer Subjektspassivität auf die "unmerklichen Teile" unserer sinnlichen Wahrnehmungen zurück. Was Locke als Erleiden von impressions meint ansehen zu müssen, ist in Wahrheit ein Hervorbringen von "unmerklichen Perzeptionen" (NE Pref.). Bezüglich der mentalen Aktivität unseres Bewußtseins ist davon auszugehen, daß es "in jedem Augenblicke in unserem Innern eine unendliche Menge von Perceptionen gibt, die aber nicht von Apperzeption und Reflexion begleitet sind, sondern lediglich Veränderungen in der Seele selbst darstellen, deren wir uns nicht bewußt werden, weil diese Eindrücke entweder zu schwach und zu zahlreich oder zu gleichförmig sind, so daß sie im einzelnen keine hinreichenden Unterscheidungsmerkmale aufweisen". Die Entwicklung zu einem distinkten Gegenstandsbewußtsein vollzieht sich in der Weise, daß die dafür unabdingbaren "merklichen Perzeptionen stufenweise aus solchen entstehen, welche zu schwach sind, um bemerkt zu werden" (ebd.). Das von Locke im Hinblick auf die verschiedenen Funktionen des Bewußtseins wiederholt geltend gemachte Gegen- bzw. Ineinander von Passivität und Aktivität ist für Leibniz von nur scheinbarer Natur. Tatsächlich ist das Bewußtsein immer aktiv. "Der Unterschied zwischen zwei Zuständen der Seele besteht ... nur in dem größeren oder geringeren Grad von Merklichkeit und Vollkommenheit der Vorstellungen" (ebd.). Was Locke als passiven Bewußtseinsvorgang interpretiert, ist unter Leibniz' Voraussetzungen nichts anderes als das Aktivwerden einer vorstellenden Instanz, das aber infolge der Verworrenheit der erzeugten Vorstellungen dieser Instanz selber nach seinem Aktivitätscharakter verborgen bleibt. Leibniz hat deshalb Lockes grundlegendes Theorem, wonach das Erkenntnisvermögen allein bei der Bildung der komplexen Ideen als selbsttätiges oder aktives auftrete, wohingegen es sich bei der Bildung der einfachen Ideen der Sensation und Reflexion - sieht man einmal vom Moment des Aufmerksamwerdens ab - rein leidend oder passiv verhalte, nicht akzeptieren können. "Der Geist verhält sich auch hinsichtlich der einfachen Ideen tätig, indem er sie voneinander absondert, um sie getrennt in Betracht zu ziehen, was ebenso Sache der freien Willkür ist, wie die Verbindung mehrerer Ideen" (NE II, 30 § 3). "Wie könnte er auch nur in der Auffassung aller einfachen Vorstellungen rein passiv sein, da es ... einfache Vorstellungen gibt, deren Bewußtsein aus der Reflexion stammt, und da die Gedanken

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der Reflexion doch etwas sind, was der Geist sich selbst gibt" (NE II, 1 §25). Und auch den Folgerungen Lockes aus jenem Grundtheorem hat Leibniz seine Zustimmung versagen müssen. Leibniz bestreitet, daß die Grenzen des Verstandes in dessen Angewiesenheit auf Erfahrung und Beobachtung lägen. Für ihn gilt: "Jede Seele erkennt das Unendliche, erkennt alles, aber in verworrener Weise" (P § 13). Für die Monade als innerlich tätigen Spiegel des Universums bedeutet das Gegebensein oder Nichtgegebensein von Gegenständen keine Grenze ihrer Vorstellungstätigkeit, weil sie "durch nichts darauf beschränkt werden kann, nur einen Teil der Dinge vorzustellen, wenngleich man zugeben muß, daß diese Vorstellung, was die Besonderheiten des Universums anlangt, nur verworren und nur bei einem geringen Teil der Dinge, nämlich bei solchen, die für die Monade die nächsten oder größten sind, distinkt sein kann" (M §60). Leibniz leugnet also nicht die Begrenztheit des Wissens endlicher Subjekte, er setzt diese Grenze nur nicht in das Gegebene, sondern in die notwendige Abgestuftheit der Deutlichkeit, mit der der Verstand erkennt. "Nicht im Gegenstande ..., sondern in der verschiedenen Art der Erkenntnis des Gegenstandes haben die Monaden ihre Schranken" (M § 60). Und aus den obigen wahrheitstheoretischen bzw. forschungslogischen Überlegungen geht hervor, daß die jeweils vorhandenen Grenzen der Tatsachenwahrheitserkenntnis prinzipiell vorläufiger Art sind. Erblickte Locke im Gegebenen die echte Grenze des Verstandes, so kommt ihm dieser Rang nach Leibniz nicht zu, weil der empirische Verstandesgebrauch seine Funktion ja gerade darin hat, das vermeintlich Gegebene immer wieder durch Forschung, und damit durch Überführung in Vernunftwahrheiten, rational aufzulösen. Die Notwendigkeit der Opposition gegen Lockes These von der Passivität unserer Sinnlichkeit resultierte für Leibniz aus elementaren metaphysischen Grundentscheidungen seines Denkens: Vorstellende Wesen sind Substanzen, und es gilt nun einmal unumstößlich, daß "eine Substanz von Natur nicht ohne Tätigkeit sein kann" (NE Pref.). Wie dieser allgemeine metaphysische Sachverhalt mit der speziellen Ontologie betreffs der N a t u r vorstellender Wesen zusammenhängt, genau dieser Frage ist Leibniz' Monadenlehre gewidmet. Sie liegt in einer Vielzahl von Einzelentwürfen und Briefen vor, ihre Ausarbeitung reicht über einen Zeitraum von ziemlich genau 30 Jahren bis unmittelbar an Leibniz' Tod heran. Es kann hier nicht der Ort sein, über Entwicklungsgang und Aufbau von Leibniz' Monadologie auch nur überblicksweise Auskunft zu geben. Der Grund, weshalb wir sie im vorliegenden Zusammenhang heranziehen müssen, liegt allein daxin, daß wir nur aus ihr Aufschluß darüber bekommen können, wie Leibniz das

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Verhältnis von sich bewußter Aktivität und sich verborgener Aktivität ( = Scheinpassivität) bewußtseinstheoretisch verstanden wissen wollte. Jeder Monade kommt nach Leibniz eine zwiefache Vorstellungsart zu: "Tätigkeit ..., sofern sie distinkte, Leiden, sofern sie verworrene Perzeptionen h a t " (M §49). Diese Duplizität ist kein kontradiktorischer Gegensatz, weil das Leiden selber eine sich verborgene Gestalt von Tätigkeit darstellt. So kann jene Duplizität auch unter den Bedingungen inhaltlicher Bestimmtheit an vorstellenden Subjekten wirksam sein. Und dies ist in zwiefacher Hinsicht tatsächlich der Fall. Zunächst bezüglich der Gesamtsphäre monadischer Substanzen und deren Verhältnis untereinander. Von ihm gilt offensichtlich, daß "ein wechselseitiges Tun und Leiden stattfindet" (M § 53). Ein solcher Gegensatz von Tun und Leiden muß hier schon allein deshalb angenommen werden, weil ohne ihn ein Zusammenhang tätiger Subjekte gar nicht denkbar wäre. Aber dieser Gedanke eines Wechselwirkungsverhältnisses zwischen Substanzen wird von Leibniz sofort monadologisch interpretiert und mit dem bereits oben angeführen Vorstellungs- bzw. Ideenbegriff in Verbindung gebracht. Jedes monadisch verfaßte Subjekt kann bezüglich seines Verhältnisses zu anderen seiner Art zwiefach betrachtet werden: "als aktiv insofern, als eine Bestimmung, die in ihm distinkt bekannt wird, dazu dient, von einem Vorgang in einem andren Rechenschaft zu geben, als passiv, sofern der Grund eines Vorgangs in ihm sich in dem findet, was distinkt in einem andren erkannt wird" (M § 52). Es liegt auf der Hand, daß es sich bei diesem Wechselwirkungsverhältnis, welches sich in der Herstellung von Ideendistinktheit mit Bezug auf die Vorstellungstätigkeit eines anderen Subjekts erschöpft, selbstverständlich nur u m Verhältnisse idealer Beeinflussung handeln kann. Bewußtseinstheoretisch wesentlich wichtiger ist jedoch das Verhältnis von Aktivität und Passivität an einer Einzelsubstanz rein für sich genommen. An ihr lassen sich drei kognitive Grundfunktionen unterscheiden, die Perzeption, die Apperzeption und die Appetition. Der Begriff der Perzeption bezeichnet den "inneren Zustand der Monade, sofern er die äußeren Dinge darstellt" (P § 4). Der Begriff der Apperzeption bezeichnet das speziell die vernunftbegabten Wesen auszeichnende "Selbstbewußtsein oder die reflexive Erkenntnis dieses inneren Zustandes [seil, der Perzeption]" (ebd.). Und der Begriff der Appetition schließlich bezeichnet das Veränderungsprinzip der Monade, nämlich das "Streben, von einer Perzeption zur andren überzugehen" (P § 2). Genau das in diesen Begehrungen intendierte Ubergehen von einem Vorstellungszustand zu einem anderen ist nun der Ort, mit Bezug auf den m a n nach Leibniz sinnvoll von einem bewußtseinsinternen Gegensatz von Aktivität und Passivität reden kann. Aber auch hier ist wiederum das Vor-

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stellungsschema leitend. Jede Substanz vollzieht vermöge ihrer ursprünglichen Kraft, welche sich in inneren Strebungen manifestiert, selbsttätig gewirkte innere Veränderungen, nämlich Übergänge von Perzeption zu Perzeption. Diese Perzeptionen unterscheiden sich nach dem Grad ihrer Deutlichkeit oder Verworrenheit. Vor dem Hintergrund dieser sachlichen Verschränkung von SubstanzbegrifF und Vorstellungsbegriff ist für Leibniz nun auch eine subjektsinterne Duplizität von Aktivität und Passivität denkbar. Im ersten Entwurf des Briefes an de Voider vom 19. Januar 1706 schreibt Leibniz: "In jedem Vorstellenden ist eine tätige und eine leidende Kraft vorhanden: die tätige beim Übergang zu einem vollkommeneren Zustand, die leidende beim entgegengesetzten Übergang" (Hauptschr. II, 356). So hat Leibniz auch auf bewußtseinstheoretischem Feld Lockes Wertschätzung der Sinnlichkeit in jederlei Hinsicht bestritten. Die Beziehung einer vorstellend tätigen Substanz zu ihren Vorstellungsinhalten nach Art des zwischen Phänomenen vorliegenden Kräftverhältnisses zu deuten, erschien Leibniz nachgerade als ein Ungedanke - was nicht ausschließt, daß in ganz anderer Weise die Annahme von Aktivitäts-Passivitäts-Verhältnissen zwischen oder in vorstellenden Wesen ihm durchaus als sinnvoll erschien. Ob Leibniz damit ein sinnliches Affiziertsein des Bewußtseins wirklich überzeugend widerlegt hat, wird im Zusammenhang mit der LeibnizKritik Kants noch einmal aufzugreifen sein. Im Hinblick auf Locke wird man Leibniz indes bescheinigen können, auf die spezifische Leistungskraft der rationalen Komponenten des Erkennens und auf die bewußtseinstheoretischen Bedingungen der Möglichkeit von Vorstellungstätigkeit nachdrücklich hingewiesen zu haben.

3. D i e t r a n s z e n d e n t a l p h i l o s o p h i s c h e M i t t e bei I. K a n t

Leibniz und Locke gehören zweifelsohne nicht zu dem engen Kreis derjenigen Personen, die den Werdegang Kants ursprünglich oder maßgebend bestimmt haben. Bei beiden handelt es sich indes um Vertreter exemplarischer Theoriegestalten, mit denen verglichen zu werden auch und gerade den problemgeschichtlichen Ort der theoretischen Philosophie Kants aufschlußreich zu erhellen vermag. Kant selber hat gelegentlich, und zwar an systematisch zentralen Stellen seines Werkes, sein Verhältnis zu Locke und Leibniz berührt.

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Kants Grundlegung der Transzendentalphilosophie 3 ist nach dessen eigenen Worten "eine ganz neue und bisher unversuchte Wissenschaft, nämlich die Critik einer a priori urtheilenden Vernunft. Andere haben zwar dieses Vermögen auch berührt, wie Locke so wohl als Leibnitz, aber immer im Gemische mit anderen Erkenntniskräften" (AA X, 318). Beide Philosophen werden von ihm zwei einander entgegengesetzten erkenntnistheoretischen Traditionen zugeordnet, deren eine, die empiristische, in Aristoteles, und deren andere, die idealistische - Kant spricht von "Noologisten" (KdrV A 854/B 882) - in Piaton ihren ursprünglichen und exemplarischen Vertreter haben soll. "Locke, der in neueren Zeiten dem ersteren und Leibnitz, der dem letzteren ... folgte, haben es gleichwohl in diesem Streite noch zu keiner Entscheidung bringen können" (ebd.). Kant selber mißt sich in dieser Alternative so etwas wie eine mittlere Position zu, und dies nicht ohne Grund. Mit Leibniz teilt Kant die Uberzeugung von der konstitutionstheoretischen Bedeutsamkeit der Metaphysik, wenn er auch in dessen Behandlung derselben deren Möglichkeit noch nicht als erwiesen ansieht. Er stimmt ihm gleichfalls in der Einschätzung der fundamentalen Rolle der neuzeitlichen Mathematik und Physik zu, und zwar gerade als apodiktisch gültigen Disziplinen, obwohl er sowohl in inhaltlicher als auch in methodischer Hinsicht - in beidem seinem Lehrer Knutzen folgend - den von Newton gewiesenen Weg bevorzugt. Mit Locke teilt Kant die Uberzeugung von der Fundiertheit aller Erkenntnis in der Erfahrung, wenn er auch deren Stellung bei jenem als noch nicht ausreichend begründet erachtet. Er stimmt ihm gleichfalls darin zu, daß dem Prinzip Erfahrung eine metaphysikkritische Valenz innewohnt, obwohl er das an Hume beobachtete Umschlagen der Kritik in den Skeptizismus eindeutig mißbilligt. Diese Selbsteinschätzung Kants wird man auch heute noch unbefangen gelten lassen können. In der Tat dürfte es im gesamten Bereich der theoretischen Philosophie kaum ein zweites Modell geben, das auch nur annähernd vergleichbar in der Lage wäre, Erfahrung und Metaphysik bzw. experimentelle Wahrnehmung und reine Mathematik unter Wahrung der jeweils auf beiden Seiten vorliegenden Sachnotwendigkeiten so aufeinander zu beziehen, daß die Fragen ihrer Verhältnisbestimmung nicht unbeantwortet stehen bleiben, sondern daß es tatsächlich zu einer eindrucksvollen Ausformulierung der aufgegebenen Probleme und zu ihrer mindestens vergleichsweise überzeugenden Auflösung kommt. Es ist nun wichtig zu sehen, daß es ein und dieselbe Grundannahme Kants ist, welche ebensowohl seine erkenntnistheoretische Mittelstellung 3

Vgl. die vorzügliche Kant-Darstellung bei A. RIEHL: Der philosophische Kritizismus I, 249ff.

Transzendentalphilosophie: Kant

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innerhalb dieses Gesamtspektrums als auch den entscheidenden P u n k t im Verhältnis zu Locke und Leibniz markiert. Diese G r u n d a n n a h m e Kants lautet: "Unsere Erkenntnis entspringt aus zwei Grundquellen des Gemüts, deren die erste ist, die Vorstellungen zu empfangen (die Rezeptivität der Eindrücke), die zweite das Vermögen, durch diese Vorstellungen einen Gegenstand zu erkennen (Spontaneität der Begriffe);... Wollen wir die Rezeptivität unseres Gemüts, Vorstellungen zu empfangen, sofern es auf irgendeine Weise affiziert wird, Sinnlichkeit nennen, so ist dagegen das Vermögen, Vorstellungen selbst hervorzubringen, oder die Spontaneität des Erkenntnisses, der Verstand.... Beide Vermögen, oder Fähigkeiten, können auch ihre Funktionen nicht vertauschen.... Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen" (KdrV A 5 0 f / B 74-76). K a n t geht davon aus, daß es "zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis gebe, die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen, nämlich Sinnlichkeit und Verstand" (KdrV A 1 5 / B 2 9 ) . Bei jener G r u n d a n n a h m e handelt es sich somit u m die der gesamten theoretischen Philosophie Kants zugrundeliegende Lehre von der Zweistämmigkeit der Erkenntnis, die Zweiquellentheorie der Erkenntnis. Ihr Verständnis birgt insbesondere zwei Fragen in sich: 1. Worin besteht die Funktion der behaupteten Zweistämmigkeit? 2. Wie ist diese Duplizität, d.h. die Notwendigkeit der Einheit und Differenz der beiden Quellen, begründet? Wir wenden uns zunächst der Beantwortung der ersten Frage zu, und zwar in der Form, daß wir uns dabei an Kants Einwänden gegen Leibniz und Locke orientieren. Kants zusammenfassende Kritik lautet: "Anstatt im Verstände und der Sinnlichkeit zwei ganz verschiedene Quellen von Vorstellungen zu suchen, die aber nur in Verknüpfung objektiv gültig von Dingen urteilen können, hielt sich ein jeder dieser großen Männer nur an eine von beiden, ... indessen daß die andere nichts tat, als die Vorstellungen der ersteren zu verwirren oder zu ordnen" (KdrV A 271/B 327). Das "verwirren" bezieht sich dabei offenkundig auf die Beurteilung der Sinnlichkeit durch Leibniz, und das "ordnen" ebenso offenkundig auf Lockes Auffassung von der Funktion des Verstandes. Wie sieht diese Leibniz- bzw. Locke-Kritik nun vom Standpunkt der Zweiquellentheorie Kants des näheren aus? Zunächst zur Auseinandersetzung mit Leibniz. Im Mittelpunkt der Einwendungen Kants gegen Leibniz steht die Kritik an dessen Deutung der sinnlichen Anschauung, an der Verkennung der spezifischen Funktion dieses Vermögens. "Die Bedingungen der sinnlichen Anschauung, die ihre eigenen Unterschiede bei sich führen, sah er nicht für ursprünglich an;

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Erkenntnistheoretische Grundlegung

denn die Sinnlichkeit war ihm nur eine verworrene Vorstellungsart, und kein besonderer Quell der Vorstellungen" (KdrV A 270/B 326). Und in der für Kants Verhältnis zu Leibniz wichtigen, posthum erschienenen Beantwortung der Akademie-Preisfrage von 1791 über die Fortschritte der Metaphysik urteilt Kant: "er ließ nur eine Unterscheidung durch Begriffe zu, und wollte keine von diesen spezifisch unterschiedene Vorstellungsart, nämlich Anschauung, und zwar a priori, anerkennen" (AA XX, 282). Dies hat nach Kants Meinung bei Leibniz zunächst methodisch zur Folge, daß "er alle Gegenstände nur mit dem Verstände und den abgesonderten formalen Begriffen seines Denkens verglich" (KdrV A 2 7 0 / B 326). Und daraus resultieren dann auch alle aus Kants Perspektive nur als Verstiegenheiten zu bewertenden Leibnizschen Grundtheoreme, über die das Einzelurteil dementsprechend ausfällt. Über die Monadologie heißt es: "Leibniz dachte sich eine einfache Substanz, die nichts als dunkle Vorstellungen hätte, und nannte sie eine schlummernde Monade. Hier h a t t e er nicht diese Monas erklärt, sondern erdacht" (AA II, 277); "dazu gehört gar nicht Philosophie, u m zu sagen, was für einen Namen ich einem willkürlichen Begriffe will beigelegt wissen" (ebd.). Die Lehre von der prästabilierten Harmonie nennt er kurz "das wunderlichste Figment, was je die Philosophie ausgedacht h a t " (AA XX, 284). Und Leibniz' Grundaxiome, das principium identitatis indiscernibilium sowie das principium rationis sufficientis, sind für ihn "Grundsätze, die selbst dem gesunden Verstände Gewalt anthun, und die keine Haltbarkeit haben" (AA XX, 282). In dem für Kants Auseinandersetzung mit Leibniz systematisch vielleicht bedeutendsten Text, dem Amphiboliekapitel der ersten Kritik, bringt Kant den in seinen Augen bei Leibniz vorliegenden Fehler auf den Begriff einer "transzendentalen Amphibolie, d.i. einer Verwechslung des reinen Verstandesobjekts mit der Erscheinung" (KdrV Α 270/B 326): "Leibniz n a h m die Erscheinungen als Dinge an sich selbst, mithin für intelligibilia" (KdrV A 264/B 320). Im Ton nicht so scharf, aber inhaltlich im gleichen Maße grundsätzlich fällt Kants Kritik an Lockes Erkenntnistheorie aus. Kant stimmt Locke hinsichtlich der fundamentalen Rolle der Erfahrung beim Aufbau der Erkenntnis ausdrücklich zu. "Daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel; denn wodurch sollte das Erkenntnisvermögen sonst zur Ausübung erweckt werden, geschähe es nicht durch Gegenstände, die unsere Sinne rühren und teils von selbst Vorstellungen bewirken, teils unsere Verstandestätigkeit in Bewegung bringen, diese zu vergleichen, sie zu verknüpfen oder zu trennen" (KdrV Β 1). Allerdings gerät Locke nach Meinung Kants dabei in gewisse Inkonsequenzen, etwa auf dem Felde der Theologie, sofern er hier "Versuche zu Erkenntnissen wagte, die weit über alle Erfahrungsgrenze hinausgehen"

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(KdrV Β 127). Wichtiger jedoch ist Lockes Versagen hinsichtlich der erkenntnistheoretischen Grundlegung der Mathematik - jener Disziplin also, die für jeden konsequenten Empirismus ein echtes Problem darstellt. Davon ist dann selbstverständlich auch die Grundlegung des reinen Teils der Physik betroffen. "Die empirische Ableitung ... läßt sich mit der Wirklichkeit der wissenschaftlichen Erkenntnisse a priori, die wir haben, nämlich der reinen Mathematik und allgemeinen Naturwissenschaft, nicht vereinigen, und wird also durch das F a k t u m widerlegt" (KdrV Β 127f). Angesichts dieses Tatbestandes muß zwangsläufig die empiristische Grundthese hinsichtlich ihres Allgemeinheitsanspruches ins Wanken geraten. Wegen dieser empfindlichen Mängel hat Locke - Kants Meinung zufolge - den Empirismus noch nicht ausreichend gegen rationalistische Gegenstrategien gesichert, die hartnäckig gerade auf jenen Problembereich zwecks Bekräftigung der eigenen Grundansicht verweisen. So öffnet Locke "der Schwärmerei T ü r und Tor, weil die Vernunft, wenn sie einmal Befugnisse auf ihrer Seite hat, sich nicht mehr durch unbestimmte Anpreisungen der Mäßigung in Schranken halten läßt" (KdrV Β 128). Der entscheidende Einwand gegen die Lockesche Erkenntnistheorie ergibt sich für Kant aber von einer anderen Stelle her: Wenn Locke "alle Begriffe und Grundsätze von der Erfahrung abgeleitet h a t t e " (KdrV A 8 5 4 / B 882), und wenn er selbst die Kategorien "für nichts, als empirische, oder abgesonderte Reflexionsbegriffe ausgegeben h a t t e " (KdrV A 271/B 327), dann beruhte dies auf einem Mißverständnis sowohl dessen, was Erfahrung zu leisten imstande ist, als auch dessen, worin die spezifische Funktion des Verstandes besteht. Kant stimmt Locke hinsichtlich der operativen Bedeutung des Verstandes durchaus zu, aber darin hegt für ihn zweierlei: Der Verstand ist - und zwar im Falle des Kategoriengebrauchs - selber auch gegenstandsbestimmend und geht nicht in dem auf, was er in logischer Hinsicht gleichwohl auch ist, nämlich ein Vermögen "zu ordnen" (KdrV A 271/B 327) bzw. genauer gesagt: ein Vermögen "zu vergleichen, ... zu verknüpfen oder zu trennen" (KdrV Β 1). Im Hinblick auf die Möglichkeit von Erfahrung kann der Verstand sich nicht auf eine logische Ordnungsfunktion beschränken, sondern muß darüber hinaus als ein solches Bestimmungsvermögen tätig werden, das etwas "aus sich selbst hergibt" (ebd.). Kant hat seine Einwände gegen Leibniz und Locke in folgender These zusammengefaßt: "Leibniz intellektuierte die Erscheinungen, so wie Locke die Verstandesbegriffe ... insgesamt sensifiziert" (KdrV Α 2 7 1 / B 327). Es dürfte aus dem bisher Gesagten deutlich geworden sein, daß diese Kritik ihr letztes Fundament in Kants eigentümlichem Verständnis der Zweistämmigkeit des Bewußtseins hat, welches er nur nach unterschiedlichen Richtungen zu akzentuieren brauchte. Vereinfacht ausgedrückt lautet

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Erkenntnistheoretische Grundlegung

Kants Kritik: Leibniz hat das Wesen der sinnlichen Anschauung mißverstanden, Locke hat die Punktion des Verstandes falsch eingeschätzt. Damit drängt sich nun aber die Frage auf, ob in Kants Fassung der Zweiquellentheorie über die Merkmale hinaus, die aus seinen Einwänden gegen Locke und Leibniz erkennbar wurden, noch weitere erkenntnistheoretische Pointen enthalten sind, und wenn ja, worin diese bestehen. Daß die Kritik an Locke und Leibniz mit ihrem Argumentationspotential, soweit es bis jetzt ausgebreitet werden konnte, noch nicht ausreicht, die systematische Reichweite der kritizistischen Zweiquellentheorie abzuschätzen, kann m a n sich durch einen Blick auf den mittleren Kant klarmachen. Bereits in seiner Dissertation aus dem J a h r e 1770, insbesondere im 2. Abschnitt "De sensibilium atque intelligibilium discrimine generatum", entfaltet Kant eine Vorform seiner späteren ganz in den transzendentalphilosophischen Horizont eingebetteten Zweiquellentheorie. 4 Diese frühe Fassung repräsentiert allerdings einen noch überwiegend vorkritischen Standpunkt und unterscheidet sich somit in wesentlichen P u n k t e n von der späteren Version. Aber, und dies ist in unserem Zusammenhang von besonderer Bedeutung, bereits in dieser vorkritischen Frühform tauchen die maßgeblichen Argumente auf, die dann auch später noch gegen Locke und Leibniz, wenn auch in einer veränderten Perspektive, geltend gemacht werden. Die grundlegenden Definitionen dieser frühen Zweiquellentheorie von 1770 lauten: "Sinnlichkeit ist die Empfänglichkeit eines Subjekts, durch die es möglich ist, daß sein Vorstellungsverstand durch die Gegenwart irgendeines Objekts auf bestimmte Weise betroffen wird. Der Verstand oder die Vernunft ist das Vermögen eines Subjekts, kraft dessen es das, was in seine Sinne wegen seiner eigentümlichen Beschaffenheit nicht fallen kann, vorzustellen vermag" (Diss § 3). Was nun die eine der beiden Quellen, nämlich den Verstand, anbelangt, so führt Kant hier die wichtige Unterscheidung ein, derzufolge "der Gebrauch des Verstandes ... zwiefach ist: einer, durch den Begriffe selber, sei es von Dingen, sei es von Verhältnissen, gegeben werden, der sogenannte reale Verstandesgebrauch, und ein anderer, durch den irgendwoher gegebene Begriffe nur einander untergeordnet, nämlich niedere Begriffe den höhern ..., und untereinander gemäß dem Prinzip des Widerspruchs verglichen werden: der sogenannte logische Verstandesgebrauch" (Diss §5). Das bedeutet aber: Der später in der ersten Kritik vorgebrachte Einwand gegen Locke, dieser verkenne die Funktion des Verstandes, wenn er ihn auf seine logische Funktion reduziere, die Verstandestätigkeit gehe nicht in der Rolle des logischen Verstandes auf, ist in dieser negativen Fassung

4

Vgl. die instruktive Einleitung von der "Dissertation".

K. REICH

in der von ihm besorgten Ausgabe

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für sich allein genommen noch gar kein Spezifikum des transzendentalphilosophischen Kritizismus, sondern gibt eine Argumentationsebene wieder, die Kant bereits in seiner vorkritischen Phase erreicht hatte. Was nun die andere der beiden Erkenntnisquellen, nämlich die Sinnlichkeit, anbelangt, so ist Kant alles daran gelegen, die unverwechselbare Selbständigkeit dieses Erkenntnisvermögens herauszustellen. Gegen Wolffs Verständnis der Sinnlichkeit betont er nachdrücklich, "daß es verkehrt ist, das Sinnenhafte als das verworren Erkannte zu erklären, sowie das Intellektuelle als die deutliche Erkenntnis. Denn das sind nur logische Unterschiede, nämlich solche, die die Daten, die aller logischen Vergleichung zugrunde liegen, überhaupt nicht berühren. Es können nämlich sinnenhafte Erkenntnisse sehr deutlich und intellektuelle äußerst verworren sein. ... Nichtsdestoweniger bewahrt jede dieser Erkenntnisse gleichwohl ihr Rassenmerkmal, so daß die ersteren, so deutlich sie auch sein mögen, wegen ihres Ursprunges sinnenhaft genannt werden, die letzteren hingegen, so verworren auch immer, intellektuell bleiben" (Diss § 7). Im Lichte einer konsequent angewandten Zweiquellentheorie gibt es nach Kant zwei fundamental verschiedene Klassen von Gegenständen, nämlich die Klasse der Phänomena und die der Noumena (vgl. Diss §3). Dieser Unterschied gründet in einer Differenz der Vorgestelltheit dieser Gegenstände, derzufolge sich die Menge aller Vorstellungen aufteilt in "Vorstellungen der Dinge, wie sie erscheinen", und in "Vorstellungen der Dinge, wie sie sind" (Diss § 4). Mit den Phänomena beschäftigt sich die Phänomenologie, mit den Noumena die Metaphysik. Es ist hier nicht nötig, auf Kants Frühfassung sowohl seiner Theorie der Sinnlichkeit als auch seiner Unterscheidung von Phänomena und Noumena näher einzugehen. Worauf es vielmehr ankommt, ist dies: Der gegen Leibniz wiederholt vorgebrachte Doppeleinwand sowohl der Verkennung der Sinnlichkeit als einer bloß verworrenen Vorstellungsart als auch der Verwechslung von Ding an sich und Erscheinung ist - wie wir gerade gesehen haben - für sich allein genommen, ein Argument, das mit Kants transzendentalphilosophischem Kritizismus, jedenfalls seinem spezifischen Gehalt nach, noch nichts zu tun hat. Kant war zu dieser Kritik an Leibniz vielmehr bereits mit vorkritischen Mitteln imstande. Während es also zunächst so schien, als würde sich der transzendentalphilosophische Sinn von Kants Zweiquellentheorie aus der Kritik an Locke und Leibniz erschließen lassen, so ist nun offenkundig geworden, daß dies keineswegs der Fall ist. Vielmehr ist zwischen einer vorkritischen Fassung der Zweiquellentheorie, welche die wesentlichen auch später noch aufrecht erhaltenen Einwände gegen Locke und Leibniz bereits enthält, und einer kritischen, deren Bedeutung allein im Horizont der transzendentalphilosophischen Grundeinsicht verstanden werden kann, genauestens zu unter-

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scheiden. Erst von letzterer aus wäre gegebenenfalls zu entscheiden, inwiefern sich in Kants Locke- und Leibniz-Kritik vorkritische und kritische Motive mischen. Wenden wir uns nun der zweiten Frage zu. 5 Läßt sich "vielleicht" (KdrV A 15/B 29) aufzeigen, wie die beiden Stämme der Erkenntnis dem Ursprung nach miteinander zusammenhängen? Allgemeiner formuliert: Ist es möglich, die gemeinschaftliche Wurzel aller Vermögen der Seele zu ermitteln? Dieses Problem der Erkennbarkeit einer "einigen Grundkraft" (AA VIII, 181 Anm.) betrifft die Möglichkeit der Ableitung jener aus dieser. Diese Frage kann sonach nicht dadurch beantwortet werden, daß m a n die einzelnen Vermögen unterschiedlichster Art unter einem "gemeinschaftlichen Titel" (ebd.) subsumiert. Auf diesem Wege erhält m a n lediglich eine Generalkraft, aber keine Grundkraft. Denn eine so vorgenommene Subsumtion wäre keine Ableitung, da sich aus der generischen Einheit eines Oberbegriffs niemals die spezifische Differenz der unter ihm stehenden Arten gewinnen läßt. Die Frage der Erkennbarkeit einer einigen Grundkraft darf aber auch nicht verwechselt werden mit dem Problem des Zusammenhangs einer Vermögenspluralität in der Einheit einer Substanz. Eine solche Fassung der Frage würde einer Verfälschung sowohl des Kraftbegriffs als auch des Substanzbegriffs gleichkommen. Auf der einen Seite ist Kraft "nicht das, was den Grund der Wirklichkeit der Accidenzen enthält (das ist die Substanz), sondern ist bloß das Verhältniß der Substanz zu den Accidenzen, so fern sie den Grund ihrer Wirklichkeit enthält. Es können aber der Substanz (unbeschadet ihrer Einheit) verschiedene Verhältnisse gar wohl beigelegt werden" (AA VIII, 181 Anm.). Und eine Substanz auf der anderen Seite "hat wohl außer ihrem Verhältnis als Subjekt zu den Accidenzen (und deren Inhärenz) noch das Verhältnis zu eben denselben als Ursache zu Wirkungen; aber jenes ist nicht mit dem letzteren einerlei" (AA VIII, 224 Anm.). Faßt m a n also die einheitsstiftende Funktion der obersten Grundkraft nach dem Schema der Einheit der Substanz auf, dann "geht der Begriff der Substanz im Grunde ganz verloren, nämlich der der Inhärenz in einem Subjecte, statt dessen alsdann der der Dependenz von einer Ursache gesetzt wird" (AA VIII, 224 Anm.). Kant m u ß deshalb die Frage nach der Erkennbarkeit einer einigen Grundkraft der Seele sowohl in genereller Hinsicht als auch betreffs des Verhältnisses von Sinnlichkeit und Verstand verneinen: "Wir finden demnach, daß wir verschiedene Grundkräfte annehmen müssen, und nicht aus Einer alle Phänomena der Seele erklären können; denn wer wollte sich wohl 5

Vgl. zum folgenden die grundlegenden Ausführungen von D. HENRICH: Über die Einheit der Subjektivität.

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bemühen, den Verstand aus den Sinnen herzuleiten" (Pölitz 194). Und ganz im Pathos des Kritizismus faßt Kant dann zusammen: "Wahre Metaphysik kennt die Grenzen der menschlichen Vernunft und unter anderen diesen ihren Erbfehler, den sie nie verläugnen kann: daß sie schlechterdings keine Grundkräfte a priori erdenken kann .... Von einer Grundkraft ... können wir keinen andern Begriff geben und keine Benennung dafür ausfinden, als der von der Wirkung hergenommen ist und gerade nur diese Beziehung ausdrückt" (AA VIII, 180). Von daher gesehen ist nicht nur obige Frage negativ beantwortet, sondern darüber hinaus das gesamte Problem einer einigen Grundkraft der Seele als solches entschärft und die Aufgabe der Gliederung der Mannigfaltigkeit der Gemütsvermögen an die empirische Psychologie verwiesen. Daß jenes Problem in modifizierter Form gleichwohl weiter besteht, ist Kant durchaus bewußt. "Das logische Vernunftprinzip erfordert diese Einheit soweit als möglich zustande zu bringen, und je mehr die Erscheinungen der einen und anderen Kraft unter sich identisch gefunden werden, desto wahrscheinlicher wird es, daß sie nichts als verschiedene Äußerungen einer und derselben Kraft seien, welche (komparativ) ihre Grundkraft heißen kann.... Die komparativen Grundkräfte müssen wiederum untereinander verglichen werden, u m sie dadurch, daß man ihre Einhelligkeit entdeckt, einer einzigen radikalen, d.i. absoluten Grundkraft nahe zu bringen" (KdrV A 649/B 677). "Die Idee einer Grundkraft ... ist wenigstens das Problem einer systematischen Vorstellung der Mannigfaltigkeit von Kräften" (ebd.). "Diese Vernunfteinheit aber ist bloß hypothetisch. Man behauptet nicht, daß eine solche in der Tat angetroffen werden müsse, sondern, daß m a n sie zugunsten der Vernunft ... suchen, und, wo es sich tun läßt, auf solche Weise systematische Einheit ins Erkenntnis bringen müsse" (KdrV A 649f/B 677f); "da dieser Zusammenhang auf keinem Prinzip a priori gegründet ist, so machen sofern die Gemüthskräfte nur ein Aggregat und kein System aus" (AA XX, 206). Faßt man die gedankliche Intention dieser Ausführungen zusammen, so sagt Kant nichts anderes, als daß die Idee einer einigen Grundkraft der Seele im Horizont der Transzendentalphilosophie lediglich den Status einer "heuristischen Fiktion" (vgl. KdrV A 771/B 799) hat, welche im Hinblick auf den Gesamtbereich der empirischen Psychologie die Funktion eines regulativen Einheitsprinzips erfüllt. Für den methodischen Einstiegsort der Erkenntnistheorie ergibt sich daraus: Deren Überlegungen "fangen nur von dem P u n k t e ar>, wo sich die allgemeine Wurzel unserer Erkenntniskraft teilt und zwei S t ä m m e auswirft" (KdrV A 835/B 863). Und für die Einschätzung des Kooperationsverhältnisses zwischen beiden Stämmen bedeutet dies: "Verstand und Sinnlichkeit verschwistern sich bei ihrer Ungleichartigkeit doch so

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von selbst zu Bewirkung unserer Erkenntniß, als wenn eine von der anderen, oder beide von einem gemeinschaftlichen Stamme ihren Ursprung hätten; welches doch nicht sein kann, wenigstens für uns unbegreiflich ist, wie das Ungleichartige aus einer und derselben Wurzel entsprossen sein könne" (AA VII, 177; Hhg.v.Vf.). Gerade das "als wenn" dieses Zitates unterstreicht noch einmal den fiktionalen Charakter der Idee einer letzten Grundkraft des Gemüts. Doch trotz alles kritizistischen Scheins, der insbesondere aus Kants transzendentaler Methodenlehre - wie wir sie gerade herangezogen haben - auf die negative Beantwortung der Frage der Erkennbarkeit des Ursprungs der beiden Stämme fällt, darf man sich nicht darüber hinwegtäuschen, daß Kant seine beiden oben genannten Hauptargumente, nämlich einerseits das der Unterscheidung zwischen Ableiten aus einem Grundvermögen und Abstrahieren eines General Vermögens, sowie andererseits das der Unterscheidung zwischen Substanz- und KraftbegrifF, nicht aus seiner neuartigen Erkenntnistheorie, der von ihm erfundenen Transzendentalphilosophie, schöpfen mußte, sondern daß er dabei auf Gedankengänge zurückgreifen konnte, die gut ein halbes Jahrhundert vor ihm in einem schulphilosophischen Streit bereits ausformuliert worden waren. In einem späten Überblick über die Metaphysik des 17. und 18. Jahrhunderts sagt Kant: "Zwar haben Philosophen, die wegen der Gründlichkeit ihrer Denkungsart übrigens alles Lob verdienen, diese Verschiedenheit [seil, der drei Gemütsvermögen] nur für scheinbar zu erklären und alle Vermögen aufs bloße Erkenntniß vermögen zu bringen gesucht. Allein es läßt sich sehr leicht darthun, und seit einiger Zeit hat man es auch schon eingesehen, daß dieser, sonst im ächten philosophischen Geiste unternommene Versuch, Einheit in diese Mannigfaltigkeit der Vermögen hineinzubringen, vergeblich sey" (AA XX, 206). Der eine, der die Einheit der drei Gemütsvermögen in der vis repraesentativa gelehrt hatte, war Christian Wolff, der andere, der auf die Problematik der Annahme einer absoluten Grundkraft hingewiesen hatte, war Christian August Crusius. Es ist Crusius, der trotz aller sonstigen Wertschätzung Wolffs, in dem gerade berührten Punkt Kants uneingeschränkte Zustimmung erhält, was sich darin zeigt, daß Kant mit den beiden oben genannten Einwänden exakt dessen Gesichtspunkte und Argumente wiederholt hat. Wir stehen hier demnach vor einem ähnlichen Problem wie bereits bei der Frage nach dem genauen Sinn der Zweistämmigkeit der Erkenntnis. Dort wie hier gilt es genauestens zwischen kritischen und vorkritischen Argumentationssträngen zu unterscheiden. Die Feststellung von Kants Bestreitung der Ableitbarkeit von Sinnlichkeit und Verstand aus einer gemeinschaftlichen Wurzel, berücksichtigt man nur die bislang herangezogenen Gesichtspunkte, bringt für sich allein genommen, noch nicht den

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transzendentalphilosophischen Aspekt der Nichterkennbarkeit der Einheit der Subjektivität in den Blick. Deshalb muß analog zum Problem des spezifisch transzendentalphilosophischen Gehalts der These von der Zweistämmigkeit der Erkenntnisquellen auch die Frage nach der genuin transzendentalphilosophischen Begründung der These von der Nichterkennbarkeit des Ursprungs dieser Zweistämmigkeit gestellt werden. Mit Bezug auf beide Aufgaben erweist es sich als unerläßlich, dort den Ausgangspunkt zu nehmen, wo Kant erstmalig den Umriß seines transzendentalphilosophischen Theorienprogramms skizziert hat. Gemeint ist der Brief an Marcus Herz6 vom 21. Februar 1772. Kant sieht das sich ihm stellende Problem in folgender Frage zusammengedrängt: "auf welchem Grunde beruhet die Beziehung desjenigen, was man in uns Vorstellung nennt, auf den Gegenstand?" (AA X, 124). Mit der Beantwortung dieser Frage hofft Kant, "den Schlüßel zu dem gantzen Geheimnisse, der bis dahin sich selbst noch verborgenen Metaphys[ik]" (ebd.), in der Hand zu haben. Kants Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Übereinstimmung von Vorstellung und Gegenstand betrifft nun nicht diejenigen Vorstellungen, die im Sinne der Dissertation zur Sinnlichkeit gehören, also Empfindungen, reine Vorstellungen der Sinnlichkeit oder durch logischen Verstandesgebrauch gebildete empirische Begriffe, sondern ausschließlich den Bereich der "Intellectualen Erkenntnis" (AA X, 126). Das sich im Hinblick auf diese Sphäre ergebende Dilemma formuliert er mit Bezug auf die "intellectualen Vorstellungen" so: "Die reine Verstandesbegriffe müssen ... nicht von den Empfindungen der Sinne abstrahiert seyn, noch die Empfänglichkeit der Vorstellungen durch Sinne ausdrücken, sondern in der Natur der Seele zwar ihre Quellen haben, aber doch weder in so ferne sie vom Obiect gewirkt werden, noch das Obiect selbst hervorbringen" (AA X, 125). Und nun präzisiert Kant mit Bezug auf die Dissertation das ihn bedrängende Problem, dessen Auflösung dann den theoretischen Kern der Transzendentalphilosophie ausmachen wird: "Ich hatte gesagt: die sinnliche Vorstellungen stellen die Dinge vor, wie sie erscheinen, die intellectuale wie sie sind. Wodurch aber werden uns denn diese Dinge gegeben, wenn sie es nicht durch die Art werden, womit sie uns afEciren und wenn solche intellectuale Vorstellungen auf unsrer innern Thätigkeit beruhen, woher komt die Ubereinstimmung die sie mit Gegenständen haben sollen, die doch dadurch nicht etwa hervorgebracht werden und die axiomata der reinen Vernunft über diese Gegenstände, woher stimmen sie mit diesen 6

Vgl. die Interpretation des Herz-Briefes bei A. RIEHL: Der philosophische Kritizismus I, 364ff.

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überein, ohne daß diese Übereinstimmung von der Erfahrung hat dürfen Hülfe entlehnen diese Frage hinterläßt immer eine Dunckelheit in Ansehung unsres Verstandesvermögens woher ihm diese Einstimmung mit den Dingen selbst komme" (AA X, 125f). Das Grundproblem des Herz-Briefes besteht sonach darin, daß es für Kant alles andere als klar ist, inwiefern die reinen VerstandesbegrifFe, die j a ausschließlich im Denken ihren Ursprung haben und von ihm erzeugt sind, gleichwohl sich auf Gegenstände sollen beziehen können, welche doch allein durch die Sinne gegeben werden. Es ist die Frage der gegenständlichen Bedeutung bzw. der Gegenstandskorrespondenz der Kategorien und damit der reinen Verstandeserkenntnis überhaupt, welche Kant zum Uberdenken des in der Dissertation erreichten Problemniveaus veranlaßt. Die Antwort auf jene Frage hat Kant dann neun J a h r e später in Form eines Nachweises der objektiven Gültigkeit der VerstandesbegrifFe zu geben versucht. Er liegt vor in der berühmten transzendentalen Deduktion der Kategorien der "Kritik der reinen Vernunft", die somit als die Einlösung des im Herz-Brief formulierten Theorieprogramms gelten darf. Für unseren Zusammenhang folgt daraus, daß wir den spezifisch transzendentalphilosophischen Sinn sowohl der Zweiquellentheorie als auch der These von der Nichterkennbarkeit des gemeinschaftlichen Ursprungs der beiden Erkenntnisstämme nur vor dem Hintergrund der transzendentalen Deduktion der Kategorien und in deren Licht in den Blick zu bekommen vermögen. Wenden wir uns zunächst der ersten Frage zu, also dem transzendentalphilosophischen Gehalt der These von der Zweistämmigkeit der Erkenntnis bzw. der Duplizität von Sinnlichkeit und Verstand. 7 Bezüglich der Sinnlichkeit waren von Kant im ersten Teil der Elementarlehre der Kritik der reinen Vernunft, der transzendentalen Ästhetik, R a u m und Zeit als apriorische Strukturbeschaffenheiten des Gemüts, und zwar als Formen des äußeren und inneren Sinnes, ermittelt worden. Als Beweisgründe der Apriorität dieser Anschauungsformen 8 fungierten dabei im wesentlichen ganz bestimmte Eigenschaften von R a u m und Zeit, nämlich deren Homogenität und aktuale Unendlichkeit, welche nicht als durch begriffliche Synthesis hervorgebracht gedacht werden können. Zugleich wurde die Apriorität von R a u m und Zeit als notwendige Bedingung ebenso des synthetisch-apriorischen 9 Charakters der Mathematik wie deren Anwendbarkeit auf Erfahrung dargetan.

7 8 9

Vgl. M. BAUM: Erkennen und Machen; K. CRAMER: "Gegeben" und "Gemacht". Vgl. J. EBBINGHAUS: Kants Lehre von der Anschauung a priori. Zum Begriff des synthetischen Urteils a priori vgl. J. BENNETT: Kant's Analytic, 3-14; W. STEGMÜLLER: Aufsätze zu Kant und Wittgenstein, 8ff.

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Auf dieser Basis wird nun in der transzendentalen Logik, und zwar im ersten Beweisschritt der transzendentalen Deduktion der Kategorien, die spezifische Funktion des anderen Erkenntnisstammes, des Verstandes, bestimmt. Kants These ist nun, daß die epistemische Funktion des Verstandes darin bestehe, gegenständliche Einheit von Vorstellungen durch Verbinden hervorzubringen, und daß diese epistemische Funktion des Verstandes ihrerseits in der synthetischen Einheit des Selbstbewußtseins ihren Ursprung habe. Wir werden uns im folgenden auf die Erläuterung dieser beiden Teilthesen beschränken, da eine Analyse der gesamten Argumentationsstruktur 1 0 des ersten Beweisschrittes der Deduktion den vorliegenden Zusammenhang bei weitem überschreiten würde. 11 Zunächst also zur ersten Teilthese. Ausgangspunkt der Überlegungen Kants ist der Sachverhalt, daß die Sinne rein für sich genommen eine unbestimmte Mannigfaltigkeit von Anschauungen darbieten. Dies bedeutet, daß sie nur den Stoff zu aller Erkenntnis liefern, weil sie "uns etwas geben, ohne es dadurch doch als Gegenstand erkennen zu lassen" (KdU 340). Die im Begriff eines Gegenstandes der Erkenntnis intendierte Objektivität derselben ist durch das bloße Gegebensein einzelner Wahrnehmungsempfindungen nicht ausgewiesen. Sie ist aber auch dann noch nicht verbürgt, wenn jene Vorstellungen im Bewußtsein zwar kolligiert auftreten, aber nur in Gestalt einer subjektiven Einheit desselben. Objektivität von Vorstellungen liegt erst da vor, wo die Einheit des Anschauungsmannigfaltigen als in einem Begriff des Objekts selbst enthaltene vorgestellt wird. 12 Diese objektive Einheit des Bewußtseins macht allererst das Bewußtsein zu einem Objektbewußtsein, d.h. zu einem Bewußtsein von Objekten als Objekten. Wer stellt nun diese in allem Objektbewußtsein vorgestellte objektive Einheit gegebener Anschauungen vor? Es kann offenkundig nur diejenige epistemische Instanz sein, welche nur in der Weise etwas vorstellen kann, 10 11

12

Zur Struktur und Methode der Analytik vgl. R.P. WOLFF: Kant's Theory of Mental Activity, 44-56. Vgl. dazu D. HENRICH: Die Beweisstruktur in Kants transzendentaler Deduktion; H. WAGNER: Der Argumentationsgang in Kants Deduktion der Kategorien; vgl. auch die Debatte auf der Kant-Tagung Marburg 1981, dokumentiert bei B. TuscHLING: Probleme der "Kritik der reinen Vernunft", 34-96. Vgl. jetzt die vorzügliche Studie von M. BAUM: Deduktion und Beweis in Kants Transzendentalphilosophie. Baum hat Henrichs Rekonstruktion der Argumentationsstruktur der transzendentalen Deduktion mit überzeugenden Gründen in Frage gestellt. Baum hat außerdem gezeigt, daß es sich bei Kants Argumentationsverfahren um transzendentale Beweise und nicht um sogenannte transzendentale Argumente handelt. Zum Begriff der letzteren vgl. R. BUBNER: Selbstbezüglichkeit als Struktur transzendentaler Argumente. Vgl. M. HEIDEGGER: Die Frage nach dem Ding, 92FF.

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daß sie Einheit vorstellt, und zwar indem sie verbindend tätig wird. In dieser Darstellung der Einheit durch Verbinden besteht die spezifische kognitive Funktion des Verstandes - und zwar allein des Verstandes, weil er das ausschließliche Vermögen des Verbindens ist. Das ist Kants Grundthese: "die Verbindung (conjunctio) eines Mannigfaltigen überhaupt, kann niemals durch Sinne in uns kommen ...; denn sie ist ein Aktus der Spontaneität der Vorstellungskraft, und ... so ist alle Verbindung ... eine Verstandeshandlung" (KdrV Β 129f). Die Objektivität und Objektbewußtsein konstituierende Funktion des Verstandes resultiert sonach daraus, "daß wir uns nichts, als im Objekt verbunden, vorstellen können, ohne es vorher selbst verbunden zu haben" (KdrV Β 130). Wie stellt nun dieser Verstand objektive Einheit vor, die er doch nur als durch seine eigene Verbindungstätigkeit selber erzeugt vorstellen kann? Betrachtet m a n den Verstand rein für sich, dann ist es die logische Struktur des Urteils, unter der er objektive Einheit vorstellt. Die verschiedenen logischen Formen des Urteils repräsentieren insofern die verschiedenen Weisen des Verstandes, objektive Einheit nach selbsterzeugten Regeln vorzustellen. Berücksichtigt m a n zunächst, daß der Verstand nur durch Verbinden Einheit vorstellen kann, dann muß er natürlich in allem Vorstellen von Einheit immer auch etwas verbinden. Geht m a n nun davon aus, daß im Falle des Kooperationsverhältnisses zwischen Verstand und Anschauung das in dieser enthaltene Mannigfaltige eben jenes zu verbindende Etwas ist, dann kann der Verstand in diesem Kooperationsverhältnis objektive Einheit nur vorstellen, indem er das gegebene Anschauungsmannigfaltige gemäß den Arten, Einheit im Urteil zu stiften, verbindet. Solche Formen des Vorstellens von objektiver Einheit durch spontanes, nämlich nach selbsterzeugten Regeln 1 3 getätigtes, Verbinden von Anschauungsmannigfaltigkeit nennt Kant "Kategorien". Der erste Beweisschritt der transzendentalen Deduktion hat demgemäß folgendes Resultat: "Alle sinnlichen Anschauungen stehen unter den Kategorien, als Bedingungen, unter denen allein das Mannigfaltige derselben in ein Bewußtsein zusammenkommen kann" (KdrV Β 143). Damit können wir uns der Erläuterung der zweiten Teilthese zuwenden.

13

Die präziseste Bestimmung der Funktion des Verstandes hat Kant in der ersten Auflage der transzendentalen Deduktion gegeben: "Wir haben den Verstand oben auf mancherlei Weise erklärt: durch eine Spontaneität der Erkenntnis, (im Gegensatze der Rezeptivität der Sinnlichkeit) durch ein Vermögen zu denken, oder auch ein Vermögen der Begriffe, oder auch der Urteile, welche Erklärungen, wenn man sie bei Lichte besieht, auf eins hinauslaufen. Jetzt können wir ihn als das Vermögen der Regeln charakterisieren. Dieses Kennzeichen ist fruchtbarer und tritt dem Wesen desselben näher" (KdrV A 126).

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Die Beantwortung der Frage nach den Ermöglichungsbedingungen des alles Objektbewußtsein konstituierenden Vorstellens von objektiver Einheit durch Verbinden erfolgt im Umkreis einer ansatzweise entfalteten Theorie des Selbstbewußtseins. Kant führt hier die epistemische Instanz des Selbstbewußtseins deshalb ein, weil allein sie den Begründungszusammenhang herzustellen vermag zwischen dem Begriff einer vorgestellten Einheit und jener grundlegenden Verbindungsthese. Der grundlegende Akt des Selbstbewußtseins besteht in der Erzeugung der Jemeinigkeit von Vorstellungen bzw. des Meinigkeitsbewußtseins 14 mit Bezug auf gegebene Anschauungen. Die "mannigfaltigen Vorstellungen, die in einer gewissen Anschauung gegeben werden, würden nicht insgesamt meine Vorstellungen sein, wenn sie nicht insgesamt zu einem Selbstbewußtsein gehörten" (KdrV Β 132). Objektbewußtsein ohne Selbstbewußtsein ist undenkbar. Aber in diesem Bewußtsein der Meinigkeit gegebener Anschauungen ist noch nicht ein Bewußtsein der Identität des diese Vorstellungen Vorstellenden enthalten. Nur sofern dasjenige Bewußtsein, welches gewisse Vorstellungen als die seinen weiß, sich darüber hinaus auch noch als mögliche Verbindungsinstanz bezüglich jener Vorstellungen weiß, hat es auch ein Bewußtsein der Identität seiner selbst als vorstellender Instanz. "Also nur dadurch, daß ich ein Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen in einem Bewußtsein verbinden kann, ist es möglich, daß ich mir die Identität des Bewußtseins in diesen Vorstellungen selbst vorstelle" (KdrV Β 133). Demzufolge ist nicht nur Objektbewußtsein ohne Selbstbewußtsein, sondern auch Selbstbewußtsein ohne mögliches Objektbewußtsein undenkbar. Letzteres besagt: Das Bewußtsein der Identität seiner selbst als vorstellender Instanz ist nur denkbar unter der Voraussetzung, daß das Selbstbewußtsein dieser Instanz das Bewußtsein einschließt, Ort und Akteur möglicher Verstandestätigkeit zu sein. Was bedeutet es nun für den Verstand, seinen Ursprung im Selbstbewußtsein zu haben? Der Verstand stiftet objektive Einheit durch Verbinden. Er kann dies aber nur so tun, daß er die von ihm erzeugte Einheit selber als eine solche vorstellt, und das heißt, daß er das objektiv Geeinte als ein von ihm selber Geeinigtes vorstellt, und zwar in Einem Bewußtsein. Alles Vorstellen von selbst erzeugter objektiver Einheit setzt demnach eine qualitative Einheit des Bewußtseins voraus. Das Selbstbewußtsein ist nun ausschließlich in der Weise Ursprung des Verstandes, daß es vermittelst der im Bewußtsein der Identität seiner selbst im Hinblick auf mögliche Verbindungstätigkeit enthaltenen qualitativen Einheit eben jene im Vor14

Vgl. K. CRAMER: Über Kants Satz: Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können.

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stellen von objektiver Einheit vorausgesetzte qualitative Einheit des Bewußtseins ermöglicht. Der Verstand gründet im Selbstbewußtsein allein in dem Sinne, daß die im letzteren enthaltene qualitative Einheit als "Quell aller Verbindung" (KdrV Β 154) fungiert. Die epistemologische Funktion des Selbstbewußtseins überhaupt besteht demnach z u m einen darin, Meinigkeitsbewußtsein mit Bezug auf gegebene Vorstellungen hervorzubringen, und zum anderen darin, diejenige qualitative Einheit bereitzustellen, unter deren Voraussetzung eine Verbindungsfunktion des Verstandes vermittelst der Kategorien allererst möglich ist. Ehe wir z u m zweiten Beweisschritt der transzendentalen Deduktion der Kategorien übergehen, ist es notwendig, zuvor die Funktion des ersten Beweisschrittes für den transzendentalphilosophischen Gehalt der Zweiquellentheorie festzuhalten. Bereits hier zeigen sich wichtige Verschiebungen gegenüber der Dissertation. Drei Sachverhalte verdienen es, besonders hervorgehoben zu werden. Im ersten Beweisschritt der Deduktion hat sich zunächst ein neuer Begriff des Objektes herausgebildet. Hatte es in der Dissertation geheißen: "Der Gegenstand der Sinnlichkeit ist das Sinnending" (Diss §3), so korrigiert die Kritik diese Auffassung: Daß eine "Affektion der Sinnlichkeit in mir ist, macht gar keine Beziehung von dergleichen Vorstellung auf irgend ein Objekt aus" (KdrV A 253/B 309). Vielmehr ist ausschließlich das "Denken ... die Handlung, gegebene Anschauung auf einen Gegenstand zu beziehen" (KdrV A 247/B 304). Zwar ist es die Funktion der sinnlichen Anschauung, dem Bewußtsein Gegenstände, und zwar Erscheinungen, zu geben, aber dieses sinnliche Gegebensein von Erscheinungen ist für sich allein noch kein Bewußtsein von Erscheinungen als Objekten. Ein Objekt ist dasjenige, "in dessen Begriff das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung vereinigt ist" (KdrV Β 137), und zwar "notwendig" (KdrV Β 168) vereinigt ist. Nur eine nach Regeln a priori verknüpfte Erscheinung kann füglich als Objekt gelten. Damit erweist sich der Objektbegriff des Empirismus als nachgerade naiv. Kein bloß durch Wahrnehmung Gegebenes ist davor geschützt, in der Subjektivität der Wahrnehmung aufzugehen. Der Empirismus leistet gerade das nicht, was er intendiert, nämlich die Sicherung der Objektivität von Erkenntnis. Der erste Beweisschritt der Deduktion bedeutet sodann eine Neufassung der Funktion des realen Verstandesgebrauchs. Lautete die Definition des Begriffs eines Gegenstandes des realen Verstandesgebrauchs in der Dissertation: "was ... nichts enthält als was durch den bloßen Verstand erkannt werden muß, ist das Verstandeswesen" (Diss § 3), so belehrt die Kritik: "der Verstand ... hat es nur mit der Synthesis dessen zu t u n , was gegeben ist" (KdrV A 231/B 283). Auch wenn der Verstand nicht in der logischen Funktion aufgeht, sondern selber gegenstandsbestimmend

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auftritt, so ist er doch in dieser gegenstandsbestimmenden Funktion nicht unmittelbar auf Objekte gerichtet. Seine Gegenstandsbestimmung vollzieht sich vielmehr allein in Formen der Synthesis eines ihm bereits von der Anschauung gegebenen Mannigfaltigen. Damit hat Kants Kritik von Lockes Reduktion des Verstandes auf dessen logische Funktion ihre transzendentalphilosophische Begründung erhalten. Durch den ersten Beweisschritt der Deduktion verändert sich schließlich auch der Begriff der Erkenntnis. Rechnete die Dissertation noch mit im wesentlichen zwei Formen der Erkenntnis: "Die Erkenntnis, soweit sie den Gesetzen der Sinnlichkeit unterworfen ist, ist die 'sinnliche', die des Verstandes ist die 'Verstandeserkenntnis' oder die rationale" (Diss § 3 ) , so bestreitet die Kritik die Möglichkeit eines solchen Nebeneinanders zweier aus Sinnlichkeit und Verstand jeweils hervorgehender autonomer Erkenntnisweisen. "Nur daraus, daß sie [seil, beide Vermögen] sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen" (KdrV A 51/B 75f). Die wichtigste Verschiebung, die die transzendentalphilosophische Interpretation der Zweiquellentheorie - und zwar zunächst nur im Rahmen des ersten Beweisschrittes der Deduktion - gegenüber der Zweiquellentheorie der Dissertation hervorgebracht hat, dürfte fraglos in der zuletzt genannten Konzeption eines einheitlichen Begriffes von Erkenntnis liegen. Nicht schon die These von der Heterogenität von Verstand und Sinnlichkeit allein, sondern erst die Explikation jener Heterogenität durch den Nachweis der Kooperation der beiden heterogenen Vermögen als einer notwendigen Bedingung der Objektivität von Erkenntnis macht den spezifisch transzendentalphilosophischen Sinn der Zweiquellentheorie aus. Damit verliert die Zweiquellentheorie den Anschein einer definitorischen Voraussetzung transzendentalphilosophischer Erkenntnistheorie, um sich stattdessen als das Resultat einer für die Transzendentalphilosophie charakteristischen Art der Beweisführung herauszustellen. 15 15

K. CRAMER ("Gegeben" und "Gemacht", 48 Anm. 8) gibt folgende scharfsinnige Interpretation des transzendentalphilosophischen Gehaltes der Zweistämmelehre: "Anschauungen, deren Inhalt noch nicht durch allgemeine Vorstellungen von diesem Inhalt gedeutet sind, schauen nichts Bestimmtes an. Begriffe, deren bestimmende Funktion an keinem durch die Anschauung gegebenen Inhalt dargestellt werden kann, haben keine mögliche Beziehung auf einen Gegenstand der Erkenntnis, da ihrer bestimmenden Funktion nichts Bestimmbares unterlegt werden kann. - Es versteht sich, daß diese Behauptungen nicht Prämissen, sondern Resultate der kantischen Erkenntnistheorie sind". Cramer verwendet im weiteren Fortgang dann freilich einen Objektbegriff, der weniger mit dem Kants als mit dem Wolfgang Cramers und Hegels zu tun hat (vgl. 50). Für Kant ist ein Objekt eine durch allgemeingültige Regeln der Vorstellungsverbindung strukturierte Erscheinung und nicht etwas, das als ein solches vorgestellt wird, welches unabhängig von seinem Vorgestelltsein existiert. - Für viele mündliche Hinweise und Anregungen hinsichtlich des Verständnisses Kants bin ich Konrad Cramer zu Dank verpflichtet.

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Erkenntnistheoretische Grundlegung

Aber auch der Zusammenhang jener drei Punkte dürfte deutlich sein. Im ersten Beweisschritt der Deduktion offenbart die Transzendentalphilosophie ihre eigentliche Absicht, die Grundlegung einer Theorie der Objektivität 1 6 bzw. des Objektbewußtseins. Vor diesem Hintergrund kann der transzendentalphilosophische Gehalt der Zweiquellentheorie dahingehend zusammengefaßt werden, daß die Zweistämmigkeit des Erkenntnisvermögens eine notwendige Bedingung des Bewußtseins von Objekten als Objekten darstellt. Mit diesem Befund ist nun aber die argumentative Funktion der transzendentalen Deduktion der Kategorien noch keineswegs ausgeschöpft, soll sie doch erklären, inwiefern - nach dem Ausdruck des Herz-Briefs - den Intellektualvorstellungen eine Ubereinstimmung mit Gegenständen zugeschrieben werden kann. Zu einer vollständigen Lösung dieser Aufgabe gehört es ebenfalls, zu zeigen - und dies ist der Inhalt des zweiten Beweisschritts der transzendentalen Deduktion - , daß auch die Form der empirischen Wahrnehmung unter die Verbindung eines Anschauungsmannigfaltigen überhaupt, wie sie der Verstand vermöge der Kategorien ausübt, fällt. Die tragenden Elemente dieses Argumentationsganges sind der Begriff des Raumes, nun allerdings nicht mehr als Anschauungsform verstanden, und die Funktion der Einbildungskraft als eines Mittleren zwischen Sinnlichkeit und Verstand. Wir werden uns diesen zweiten Beweisschritt etwas genauer anzusehen haben, weil er intrikate Probleme des Kooperationsverhältnisses zwischen Sinnlichkeit und Verstand in sich birgt. Worin liegt das Beweisziel dieses zweiten Beweisschrittes? Kant umschreibt es so: "In der Folge ... wird aus der Art, wie in der Sinnlichkeit die empirische Anschauung gegeben wird, gezeigt werden, daß die Einheit derselben keine andere sei, als welche die Kategorie ... dem Mannigfaltigen einer gegebenen Anschauung überhaupt vorschreibt, und dadurch also, daß ihre Gültigkeit a priori in Ansehung aller Gegenstände unserer Sinne erklärt wird, die Absicht der Deduktion allererst völlig erreicht werden" (KdrV Β 144f). Welches Problem liegt diesem Beweisziel zugrunde? Kant hatte im ersten Beweisschritt nachgewiesen, daß allen anschaulich gegebenen Vorstellungen nur unter der Bedingung objektive Bedeutung zukommen kann, daß sie nach notwendigen Regeln verbunden werden; dieses Verbinden hat seinen Ursprung in der qualitativen synthetischen Einheit des Selbstbewußtseins. Die transzendentale Ästhetik hatte demgegenüber gezeigt, daß die uns Menschen eigentümliche Art des Gegebenseins von Vorstellungen dadurch gekennzeichnet ist, daß wir innere und äußere Erscheinungen immer als zeitliche, und äußere darüber hinaus zugleich als räumliche vorstellen, wobei Raum und Zeit - als Formen 16

Vgl. D. HENRICH: Identität und O b j e k t i v i t ä t ,

16-20.108-112.

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jenes anschaulichen Vorstellens - selbst den Status von reinen Anschauungen haben. Aus beiden Sachverhalten zusammengenommen folgt ohne weiteres, daß alle reinen und empirischen sinnlichen Anschauungen unter die Synthesis des Verstandes vermöge der Kategorien fallen müssen, sofern ihnen objektive Bedeutung soll zukommen können. Der Apriorität all derjenigen Anwendungsfälle, bei denen die Synthesis des Verstandes auf reine Anschauungen - samt dem in ihnen enthaltenen Mannigfaltigen bezogen wird, steht nichts im Wege, weil diese selbst a priori gültig sind. Die apriorische Anwendbarkeit der Verstandessynthesis auf nicht reine Anschauungen, wie sie in jeder empirischen Wahrnehmung vorliegen, birgt indes ein Problem in sich. Empirische Wahrnehmung 1 7 weist nämlich ihrerseits die Struktur einer Einheitsstiftung auf, wenn auch nur von empirischer, subjektiver Gültigkeit. Kant nennt sie die Synthesis der Apprehension. Wodurch - so muß nun gefragt werden - ist es gewährleistet, daß die oben skizzierte Einheitsstiftung des Verstandes, die Synthesis der transzendentalen Apperzeption, auch auf diese ganz andere Art von Einheitsstiftung, also die Synthesis der empirischen Apprehension, anwendbar, und zwar gleichfalls a priori anwendbar ist? Der Nachweis der objektiven Gültigkeit der Kategorien ist erst dann vollständig erbracht, wenn nicht nur gezeigt ist, daß alle sinnlichen Anschauungen, sofern sie sich auf Gegenstände sollen beziehen können, notwendig unter Kategorien stehen, sondern wenn darüber hinaus auch nachgewiesen ist, daß auch die Synthesis der Wahrnehmung, wie sie in allen Fällen des Bewußtseins von empirischen Sachverhalten gegeben ist, grundsätzlich unter die Einheitsstiftung des Verstandes vermöge der Kategorien fällt. Der Beantwortung genau dieser Frage ist der zweite Beweisschritt der Deduktion gewidmet. Kant macht dazu im wesentlichen zwei Argumentationsreihen auf. Der inhaltlich am Beweisziel orientierte Argumentationsgang kreist u m den Begriff der formalen Anschauung von Räumen. 1 8 Der den transzendentalen Ermöglichungsbedingungen gewidmete Argumentationsgang hat die apriorische Funktion der produktiven Einbildungskraft zum Mittelpunkt. Beginnen wir mit dem ersteren. Die Synthesis der Apprehension, wie sie aller empirischen Wahrnehmung zugrunde liegt, vereinigt gegebene Empfindungen, d.h. empirische Anschauungen, und ist insofern den reinen Formen derselben, R a u m und Zeit, notwendiger Weise "jederzeit gemäß" (KdrV Β 160). Wenden wir uns nun speziell der äußeren Anschauung zu. Alles, was durch den äußeren Sinn vorgestellt wird, wird als im R a u m befindlich vorgestellt. Jede Anschauung von einem im R a u m Befindlichen enthält aber ein Zweifa17 18

Zu K a n t s Begriff der W a h r n e h m u n g vgl. G. PRAUSS: Erscheinung bei K a n t , 114FF. Vgl. P. KRAUSSER: "Raum" und "Zeit".

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ches: einerseits die Vorstellung von einem R a u m Erfüllenden, andererseits die Vorstellung eines formalen Raumes, welchen jenes R a u m Erfüllende inhaltlich besetzt. Solches Vorstellen von formalen Räumen nennt Kant "formale Anschauung" (KdrV Β 160 Anm.), im Unterschied zur Form der Anschauung als invarianter Struktureigenschaft des äußeren Sinns. In der formalen Anschauung, d.h. in allen Vorstellungen von formalen Räumen, ist der R a u m selber "als Gegenstand vorgestellt" (KdrV Β 160 Anm.). Jedes gegenständliche Vorstellen von formalen R ä u m e n ist aber das Zusammenfassen von Mannigfaltigem in Einem, enthält somit Verbindung bzw. synthetische Einheit. Das bedeutet, daß jede Synthesis der Apprehension, in der ein R a u m Erfüllendes vorgestellt und zugleich ein formaler R a u m mitvorgestellt wird, derjenigen synthetischen Einheit "gemäß sein muß" (KdrV Β 161), welche der formalen Anschauung, dem mitvorgestellten formalen Raum, als Ermöglichungsbedingung zugrunde liegt. Jede äußere empirische Anschauung ist demnach infolge ihres notwendigen Zusammenhangs mit der formalen Anschauung der für diese konstitutiven "synthetischen Einheit des Mannigfaltigen im R ä u m e gemäß" (KdrV Β 162). Die in der formalen Anschauung enthaltene bzw. ihr zugrundeliegende synthetische Einheit kann nun aber nur die vom Verstand erzeugte sein, weil er das alleinige Vermögen des objektiven Verbindens ist, und sie kann nur eine durch die Anwendung von Kategorien erzeugte sein, weil die Kategorien eben diejenigen Formen sind, in denen der Verstand mit Bezug auf Anschauungsmannigfaltiges seine Verbindungsleistung vollbringt. Also ist die synthetische Einheit der formalen Anschauung auch "den Kategorien gemäß" (KdrV Β 161), zumindest jedenfalls denen der Quantität. Und darin ist trivialerweise zugleich enthalten, daß auch die Synthesis der Apprehension den Kategorien "durchaus gemäß sein muß" (KdrV Β 162). Alle Einheitsstiftung vermittelst der Kategorien hat nun aber ihren Ursprung in der qualitativen Einheit der Synthesis der transzendentalen Apperzeption. Jeder kognitive Akt, der den Kategorien gemäß ist, muß infolgedessen auch jener gemäß sein. Daraus ergibt sich für Kant die eindeutige Folgerung: Die Synthesis der Apprehension, welche der empirischen Wahrnehmung zugrunde liegt, muß der Synthesis der Apperzeption, welche allem transzendentalen Verstandesgebrauch zugrunde liegt, "notwendig gemäß sein" (KrdV 162 Anm.). Damit ist der eine Argumentationsgang des zweiten Beweisschrittes der Deduktion durchlaufen. Die formale Anschauung als das Anschauen von formalen Räumen garantiert vermöge der in ihr enthaltenen synthetischen Einheit die apriorische Subsumierbarkeit der kontingent strukturierten empirischen Wahrnehmung unter die Einheitsstiftung des Verstandes. Ermöglicht wird dieses Anwendungsverhältnis durch ein Gefüge von Gemäßheitsbeziehungen.

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Wenden wir uns nun dem anderen Argumentationsgang zu. Welches sind die Bedingungen der Möglichkeit dafür, daß die formale Anschauung zu solcher Vermittlungsleistung bezüglich des Verhältnisses von Verstand und Wahrnehmung fähig ist? Kehren wir zurück zur Vorstellung eines im R a u m befindlichen Gegenstandes: Abstrahiert von der Anschauung dessen, was den R a u m erfüllt, bleibt die Vorstellung eines formalen Raumes, d.h. die Vorstellung von einem dreidimensionalen formalen Gegenstand, übrig. W i e ist nun letztere möglich? Kant sagt: " W i r können uns keine Linie denken, ohne sie in Gedanken zu ziehen, keinen Zirkel denken, ohne ihn zu beschreiben, die drei Abmessungen des Raumes gar nicht vorstellen, ohne aus demselben P u n k t e drei Linien senkrecht aufeinander zu setzen" ( K d r V Β 154; Hhg.i.O.). Wir können uns also geometrische Gegenstände immer nur so vorstellen, daß wir sie sukzessiv hervorbringen. Dieses sukzessive Vorstellen folgt keinen Gesetzen empirischer Assoziation, sondern reiht allein aus sich heraus aneinander. Und zwar produziert das Bewußtsein dabei synthetische Einheit unter den Vorstellungen seines äußeren Sinns, figürliche Synthesen mithin, aber nur mit Bezug auf das in der reinen Anschauung als solcher enthaltene Mannigfaltige, also keine Synthesen nach Vorgabe inhaltlich irgendwie qualifizierter Empfindungen. Die Beschreibung eines Raumes oder eines geometrischen Gegenstandes überhaupt ist für K a n t "ein reiner Aktus der sukzessiven Synthesis des Mannigfaltigen in der äußeren Anschauung überhaupt durch produktive Einbildungskraft" ( K d r V Β 155 Anm.). Alle formale Anschauung bzw. jede Vorstellung von formalen Räumen ist demnach ein Erzeugnis der produktiven Einbildungskraft. Diese produktive Einbildungskraft ist nun keineswegs ein gleichursprüngliches drittes Radikalvermögen neben Verstand und Sinnlichkeit, sondern hat ihren Platz zwischen beiden lediglich als "die erste Anwendung" ( K d r V Β 152) von jenem auf die Vorstellungen dieser. Der Art des Verhältnisses nach ist die produktive Einbildungskraft eine "Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit" (ebd.). Dem Ort ihres Wirksamwerdens nach handelt es sich um den "Einfluß des Verstandes auf den inneren Sinn" ( K d r V Β 154). Und bezüglich der Art dieses Wirksamwerdens ist der Einfluß des Verstandes, wie es seinem Wesen entspricht, ein "synthetischer" (ebd.). Als erste Anwendung des Verstandes auf die Sinnlichkeit in Form eines synthetischen Einflusses desselben auf den inneren Sinn ist die produktive Einbildungskraft denn auch "zugleich der Grund aller übrigen" ( K d r V Β 152) Anwendungsverhältnisse. D.h. die hier erfolgende Einheitsstiftung kann sich, obwohl sie unmittelbar nur den inneren Sinn betrifft, mittelbar auch auf die äußere Anschauung beziehen - deshalb, weil die Vorstellungszustände des äußeren Sinns ihrerseits durch den inne-

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ren Sinn vorgestellt werden und somit vermittelst desselben indirekt auch dem Verstände vorliegen. Die aus dem synthetischen Einfluß des Verstandes auf den inneren Sinn resultierende Mittelstellung der produktiven Einbildungskraft im Ges a m t a u f b a u des Bewußtseins besagt nichts anderes, als daß sie "vom Verstände der Einheit ihrer ... Synthesis, und von der Sinnlichkeit der Mannigfaltigkeit der Apprehension nach abhängt" (KdrV Β 164). Im Erzeugen apriorischer - und trotzdem anschaulicher, verbundener - und dennoch sukzessiver, formaler - und gleichwohl figürlicher Vorstellungen erfüllt die Synthesis der Einbildungskraft ihre transzendentale Funktion des Vorstellens von formalen Räumen als Medien der Beziehbarkeit der Verstandessynthesis auf die Synthesis der Apprehension, wie sie in jeder empirischen Wahrnehmung vorliegt. Wie ist nun die Vermittlungsleistung der transzendentalen Einbildungskraft bezüglich des Verhältnisses von Verstand und Sinnlichkeit strukturell möglich? Der Verstand kann den inneren Sinn samt dem darin enthaltenen Mannigfaltigen der äußeren Anschauung nur der Form jenes inneren Sinnes "gemäß" (KdrV Β 155) bestimmen. Diese Form ist die Zeit. Eben deshalb kann die Einbildungskraft ihre Synthesen nur sukzessiv hervorbringen. Aber sie erzeugt tatsächlich synthetische Einheit. In ihr bestimmt der Verstand den inneren Sinn demnach der synthetischen Einheit der Apperzeption "gemäß" (KdrV Β 150). Die Synthesis der Einbildungskraft erfüllt demnach zwei strukturelle Adäquatheitsbedingungen: sie stiftet Einheit sowohl der Form des inneren Sinnes als auch der intellektuellen Synthesis des Verstandes "gemäß" (KdrV Β 152). Wir stoßen hier also wiederum auf dieselbe Art von Beziehung, die uns auch beim Verhältnis von Anschauungsform, Synthesis der Apprehension, formaler Anschauung und Synthesis der Apperzeption begegnet war, nämlich Gemäßheit. Die Vermittlungsleistung der transzendentalen Einbildungskraft vollzieht sich demnach in einem Gefüge apriorischer Gemäßheiten. Was besagen nun beide Argumentationsgänge für den systematischen Stellenwert des zweiten Beweisschrittes im Ganzen der transzendentalen Deduktion? Zunächst wurde der Raumbegriff als Medium der Beziehbarkeit der Synthesis der Apperzeption auf die Synthesis der Apprehension geltend gemacht. Der Raumbegriff konnte diese Vermittlungsleistung aber nur deshalb erbringen, weil dem R a u m selber eine zwiefache erkenntnistheoretische Bestimmtheit eignete, nämlich die der Form der Anschauung und die der formalen Anschauung. Nach seiner ersten Bestimmtheit betraf er notwendig alle in der Synthesis der Apprehension enthaltenen empirischen Anschauungen, nach der zweiten machte er die Synthesis der Apprehension auf die Verstandessynthesis beziehbar, und zwar vermöge des gleichfalls notwendigen Sachverhaltes der in jeder Vorstellung von forma-

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len R ä u m e n enthaltenen synthetischen Einheit. In einer weiteren Überlegung h a t t e sich dann diese synthetische Einheit der formalen Anschauung als ein Erzeugnis der produktiven Einbildungskraft herausgestellt. So ist es also die Einbildungskraft, welche recht eigentlich die Vermittlung zwischen dem apriorischen Verstand und der empirischen Wahrnehmung vollzieht. Sie ist dazu aber nur befähigt wegen ihrer Zwitterstellung zwischen Verstandesspontaneität und Sinnespassivität. Damit kommt dem höchsten Prinzip transzendentallogischer Letztbegründung, nämlich der transzendentalen Apperzeption, ein zwiefaches Betätigungsfeld ihrer VerbindungsSpontaneität zu, einerseits die Sphäre der Anwendung der Kategorien auf das Mannigfaltige einer durch R a u m und Zeit noch nicht spezifizierten Anschauung, andererseits die Korrespondenzverhältnisse zwischen Apprehension und Apperzeption im Rahmen einer unter den Bedingungen von R a u m und Zeit stehenden Anschauung. "Es ist eine und dieselbe Spontaneität, welche dort, unter dem Namen der Einbildungskraft, hier des Verstandes, Verbindung in das Mannigfaltige der Anschauung hineinbringt" (KdrV Β 162 Anm.). Erst mit dem Aufweis der je spezifischen Vermittlungsleistung des zwiefach bestimmten Raumbegriffs auf der einen Seite und der vermögenstheoretischen Zwitterstellung der Einbildungskraft auf der andern, und erst mit der Aufhellung der unterschiedlichen Prinzipienfunktion der Spontaneität der Apperzeption, je nachdem, ob der Verstand nur auf das Mannigfaltige einer Anschauung überhaupt, oder ob er auf die Synthesis der empirischen Wahrnehmung unter den Bedingungen von R a u m und Zeit angewandt wird, ist die transzendentale "Deduktion" der Kategorien tatsächlich erbracht. Was sagt nun speziell der zweite Beweisschritt über den transzendentalphilosophischen Gehalt der Zweiquellentheorie aus? Wir setzen am besten mit einem Zitat ein, in dem Kant selber das Resultat der Deduktion in Form eines Schlusses mit geteiltem Ober- und Untersatz zusammenfaßt: "Wir können uns keinen Gegenstand denken, ohne durch Kategorien; wir können keinen gedachten Gegenstand erkennen, ohne durch Anschauungen, die jenen Begriffen entsprechen. Nun sind alle unsere Anschauungen sinnlich, und diese Erkenntnis, sofern der Gegenstand derselben gegeben ist, ist empirisch. Empirische Erkenntnis aber ist Erfahrung. Folglich ist uns keine Erkenntnis a priori möglich, als lediglich von Gegenständen möglicher Erfahrung" (KdrV Β 165f). Der erste Teil des Maior rekapituliert den Ertrag des ersten Beweisschrittes der Deduktion, der zweite faßt den daraus resultierenden transzendentalphilosophischen Sinn der Zweiquellentheorie zusammen. Der erste Teil des Minor ist in sich selber noch einmal zweigliedrig: er charakterisiert zunächst die Beschaffenheit der spezifisch menschlichen Anschauung und beschreibt danach das, was in der

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transzendentalen Ästhetik als "Empfindung" bezeichnet worden war. Der zweite Teil des Minor schließlich führt einen Begriff von Erfahrung ein. Und was ist nun der Gehalt der Conclusio? Nichts anderes als die transzendentalphilosophische Fassung der von Locke in empiristischer Variante eingeführten Restriktionsthese. Bei Locke hieß es: Alle Erkenntnis hat ihren Ursprung in Sensation und Reflexion. Kant problematisierte diesen Erkenntnisbegriff im ersten Beweisschritt der Deduktion, indem er die Anwendung von Kategorien auf gegebene Anschauungen zur notwendigen Bedingung von Objektserkenntnis machte. In dieser Gegebenheit von Anschauungen liegt eine Bezugnahme auf Objekte aber nur dann vor, wenn jene Anschauungen auch als gegebene dem Objekt gemäß assoziiert werden. Dies geschieht in der Synthesis der Wahrnehmung, wie sie in der Erfahrung vorliegt. Daraus ergibt sich seine von Locke verschiedene Fassung der Restriktionsthese: "Die Kategorie hat keinen andern Gebrauch zum Erkenntnisse der Dinge, als ihre Anwendung auf Gegenstände der Erfahrung" (KdrV Β 146). In dieser These ist klar erkennbar eine Verschärfung desjenigen restriktiven Moments enthalten, das bereits im Nachweis der Notwendigkeit des Kategoriengebrauchs liegt, wie er im ersten Beweisschritt geführt worden war. Alle epistemischen Instanzen, welche nicht über einen intellectus archetypus verfügen, konnten demzufolge nur durch die Synthesis eines anderweitig gegebenen Mannigfaltigen auf Objekte Bezug nehmen. Gemäß dem im zweiten Beweisschritt behandelten Aspekt der objektiven Gültigkeit der Kategorien aber "liefern uns die Kategorien ... keine Erkenntnis von Dingen, als nur durch ihre mögliche Anwendung auf empirische Anschauung" (KdrV Β 147). Der erste Beweisschritt restringierte Erkenntnis auf die synthetische Form alles Erkannten. Der zweite Beweisschritt restringiert nun diese apriorisch-synthetische Erkenntnis auf die Sphäre ihrer Anwendbarkeit innerhalb des Kontextes der empirischen Wahrnehmung. Damit dürfte zugleich auch der spezifisch transzendentalphilosophische Sinn der Zweiquellentheorie nach dem zweiten Beweisschritt der Deduktion klar geworden sein. Er besteht in der Sicherung der Restriktionsthese nach ihrer zweiten, verschärften Bedeutung. Indem der zweite Beweisschritt die Anwendbarkeit der Kategorien auf die Synthesis der Wahrnehm u n g d a r t u t , schließt er die letzte Lücke im Nachweis der uneingeschränkten Gültigkeit der Zweiquellentheorie. Zugleich sichert er die empiristische Restriktionsthese, die bei Locke über den Status der bloßen Behauptung nie hinausgekommen war. So hat der Empirismus erst durch Kant seine eigentliche Begründung erhalten, jedenfalls was die von ihm aufgestellte Restriktionsthese betrifft.

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Kategorien überhaupt, synthetische Erkenntnisse a priori der Philosophie, Mathematik und Physik, 1 9 all dies muß auf Erfahrung beziehbar sein, wenn ihm Sinn oder Bedeutung 2 0 soll zukommen können. Diese Notwendigkeit der Anwendbarkeit alles nichtempirischen Wissens auf den Bereich der Empirie gipfelt dann abschließend in der Rückbindung des Wirklichkeitsbegriffes an diejenige Sphäre, die durch den "Kontext unserer Wahrnehmungen" (KdrV A 226/B 273) gebildet wird. Demzufolge ist die auf raumzeitliche Erscheinungen bezogene und nach Grundsätzen des Verstandes strukturierte Wahrnehmung "der einzige Charakter der Wirklichkeit" (KdrV A 225/B 273). Der philosophische Kritizismus hat in der transzendentalphilosophischen Fassung der Restriktionsthese seinen Höhepunkt erreicht. Der spezifisch transzendentale Sinn der Zweiquellentheorie nach dem zweiten Beweisschritt der Deduktion liegt in der Sicherung eben dieser in der transzendentalen Ästhetik aufgestellten, aber noch nicht bewiesenen Restriktionsthese. Damit wollen wir uns nun dem zweiten Problem, der spezifisch transzendentalphilosophischen Begründung der Nichterkennbarkeit der Einheit der Subjektivität, zuwenden. Warum - so lautet die Frage - erweist sich im Horizont der Transzendentalphilosophie ein gemeinsamer Ursprung von Denken und Anschauen als nicht aufweisbar? Kant geht von der Annahme aus, daß man "von einem denkenden Wesen durch keine äußere Erfahrung, sondern bloß durch das Selbstbewußtsein die mindeste Vorstellung haben" (KdrV A 347/B 405) kann: Was ein denkendes Wesen ist, vermag ich nur unter der Voraussetzung einzusehen, "als der Ausspruch des Selbstbewußtseins es an mir aussagt" (KdrV A 346/B 404f). Liest man beide Aussagen, die nur zwei Aspekte ein und desselben Sachverhaltes zum Ausdruck bringen wollen, in einem terminologisch noch nicht festgelegten Bedeutungsrahmen, dann sind sie von so hoher Allgemeinheit, daß auch ein Locke und ein Leibniz ihnen uneingeschränkt zugestimmt hätten. Kant, Locke und Leibniz würden aber sofort miteinander in Streit geraten sein, wenn es darum gegangen wäre, den Sinn des Behaupteten namhaft zu machen. Woran Locke bei der These vom Erschlossensein eines denkenden Wesens ausschließlich für dessen Selbstbewußtsein gedacht hätte, das wäre ein in konstanter Erinnerung präsentes inneres Gegebensein der eigenen Gemütszustände und Verstandesopera19 20

Zu K a n t s Verständnis der Physik vgl. P. PLAASS: K a n t s Theorie der Naturwissenschaft, 44ff. Zu einer transzendentalsemantischen Auffassung der Analytik der Kritik der reinen Vernunft vgl. G. PRAUSS: Zum Wahrheitsproblem bei Kant; W. HoGREBE: K a n t und das Problem einer transzendentalen Semantik; G. SCHÖNRICH: Kategorien und transzendentale Argumentation.

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tionen gewesen. Leibniz indes hätte ein rein gedankliches Selbstverhältnis einer denkenden Substanz vor Augen gehabt. Und Kant schließlich würde keinem von beiden zugestimmt haben, wenn er auch Wahrheitsmomente hier und dort hätte gelten lassen. Will man sich Kants Auffassung von der in Frage stehenden Sache nähern, dann ist folgende von ihm selbst aufgestellte methodische Unterscheidung zu berücksichtigen: Habe ich die Möglichkeit und Beschaffenheit der Vorstellung meiner selbst als eines vorstellenden Wesens zu klären, dann muß ich strikt auseinanderhalten, ob es mir hierbei um das "Bewußtsein meiner Selbst beim bloßen Denken" geht, oder darum, "wie mein eigenes Selbst in der Anschauung gegeben sei" (KdrV Β 429). Der Grund für die Notwendigkeit dieser Differenzierung im Begriff der Selbstvorstellung liegt darin, daß Vorstellungen vom Charakter der gegenständlichen Perzeptionen eingeteilt werden können in Anschauungen und Begriffe bzw. das diesen zugrundehegende Vorstellungsvermögen in Anschauen und Denken. Analog zu letztgenannter Differenz sind im Falle der Selbst Vorstellung deshalb anschauende und denkende Selbstbeziehung strikt zu unterscheiden.21 Wenden wir uns zunächst der anschauenden Selbstvorstellung zu. Es ist nun eine These der theoretischen Philosophie Kants, daß ich als epistemisches Subjekt "mir selbst ... ein Objekt und zwar der Anschauung und innerer Wahrnehmungen sein könne" (KdrV Β 155f). Kant nennt diese Art der Selbstvorstellung die "Selbstanschauung des Gemüts" (KdrV Β 69). Sie ist folgendermaßen zu verstehen: Nichtintellektuelle Anschauung ist ein Vermögen des Hinnehmens von Vorstellungen. Diese sind also vom epistemischen Subjekt nicht gemacht, sondern werden ihm vielmehr ausschließlich gegeben. Das Hinnehmen von Vorstellungen ist gemäß der Verschiedenheit der vorgestellten Gegenstandsbereiche eingeteilt in das Hinnehmen von Vorstellungen von äußeren Gegenständen - in diesem Fall handelt es sich um äußere Anschauung - und in das Hinnehmen von Vorstellungen von eigenen Vorstellungszuständen, wobei die hierbei vorgestellten Vorstellungszustände auch die Vorstellungen von äußeren Gegenständen umfassen; in diesem Fall handelt es sich um innere Anschauung. Die Selbstanschauung des Gemütes ist demgemäß ein Vorgang des "Anschauens unserer selbst und unseres inneren Zustandes" (KdrV A 33/B 49). Nun ist die menschliche Anschauung aber nicht nur wie jede nichtintellektuelle Anschauung eine hinnehmende überhaupt, sondern darüber hinaus auch eine sinnliche Anschauung. Vorstellungen sind uns immer nur so gegeben, daß im Hinnehmen derselben unsere Sinne affiziert wer21

Vgl. H. JAHNSON: Kants Lehre von der Subjektivität, 41-171 bzw. 173-212.

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den. Im Falle der Anschauung von äußeren Gegenständen wird der äußere Sinn affiziert, im Falle der Anschauung unseres Selbstes und seiner Vorstellungszustände hingegen wird der innere Sinn affiziert. In der sinnlichanschaulichen Selbstvorstellung werden wir unseres Selbstes samt dessen Vorstellungen von äußeren Gegenständen unter der Bedingung ansichtig, daß der innere Sinn affiziert wird. Nun sagt aber Kant nicht bloß, daß wir uns überhaupt nur vermöge eines Affiziertseins des inneren Sinnes anschauen können, sondern er behauptet darüber hinaus, daß "wir dadurch uns selbst nur so anschauen, wie wir innerlich von uns selbst affiziert werden" (KdrV Β 156; Hhg. i.O.). Was in uns ist nun aber das den inneren Sinn Affizierende? Berücksichtigt man den systematischen Kontext jener Äußerung, nämlich den zweiten Beweisschritt der Deduktion, so ist klar, daß es sich dabei um die transzendentale Apperzeption des Verstandes handeln muß, die in einer subjektsinternen Selbstaffektion über die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft den inneren Sinn beeinflußt. Wir wollen hier aber die Möglichkeit der Selbstanschauung zunächst rein für sich betrachten, unabhängig von der Selbstvorstellung im Denken und damit unter gänzlicher Absehung von der Funktion des Verstandes. Danach ist der Sachverhalt der Selbstaffektion allererst aus dem Begriff des Affiziertseins des inneren Sinnes zu erhellen. Im Fall des Affiziertseins des äußeren Sinns muß ein Gegenstand an sich gedacht werden, welcher den äußeren Sinn affiziert - nicht zur Bereicherung unserer objektbezogenen Erkenntnisse auf der Ebene des positiven Wissens, sondern aus gedanklichen Erfordernissen der Erkenntnistheorie 22 auf der Reflexionsstufe der Transzendentalphilosophie. Das Ding an sich ist die Extension desjenigen Grenzbegriffs, ohne den die erkenntnistheoretische Struktur der Rezeptivität als der Weise des Gegebenseins von Anschauungen nicht gedacht werden kann. Was ergibt sich daraus für den Fall der subjektsinternen Selbstaffektion? Wer oder was ist hier das Affizierende? Der innere Sinn kann selbstverständlich nicht von außen affiziert werden. Das ihn Affizierende kann sonach nicht unter den Grenzbegriff des den äußeren Sinn affizierenden Dinges an sich fallen. Gleichwohl schließt auch der Sachverhalt der subjektsinternen Selbstaffektion den Gedanken einer den inneren Sinn affizierenden Instanz ein, und zwar aus erkenntnistheoretischen Gründen der Denkbarkeit dieses innerlichen Affiziertseins. Die innerlich affizierende Instanz kann - in Analogie zum Ding an sich im Falle des äußeren Affiziertseins - nur als ein Ich an sich gedacht werden. Das den inneren Sinn Affizierende ist demnach als "das eigentli22

Zur Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich im transzendentalphilosophischen Sinne vgl. G. P R A U S S : K a n t und das Problem der Dinge an sich.

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che Selbst, so wie es an sich existiert, oder das transzendentale Subjekt" (KdrV A 4 9 2 / B 520) zu bestimmen. Aber dieses transzendentale Subjekt ist in strenger Analogie zum Gedanken des Dinges an sich lediglich die Extension eines Grenzbegriffs. Der Grenzbegriff eines den inneren Sinn affizierenden transzendentalen Subjektes ist deshalb die Vorstellung eines "uns unbekannten Wesens" (ebd.). Gleichwohl enthält der Begriff einer subjektsinternen Selbstaffektion der Struktur der inneren Anschauung zufolge notwendig eine "Beziehung der inneren Erscheinungen auf das unbekannte Subjekt derselben" (Prol 334). Es geht hier wohlbemerkt nur u m die Notwendigkeit des Gedankens eines innerlich Affizierenden überh a u p t , nicht u m die Struktur dieser Selbstaffektion; letztere kann nur im Horizont der Struktur der Kooperation zwischen Verstand und innerem Sinn thematisiert werden. Kant hat den Gedanken der Selbstaffektion des Subjektes unter Zugrundelegung jenes Grenzbegriffs eines transzendentalen Subjektes im Opus p o s t u m u m weiter verfolgt. Wir können diesen Überlegungen hier nicht nachgehen. Sie mögen über die Fragestellung der ersten Kritik und vielleicht auch über die darin gesteckten Grenzen des Wissens hinausgehen. Ihre Grundthese ist jedoch durchaus mit deren Position verträglich: "Das Subject afficirt sich selbst und wird ihm selbst Gegenstand und Erscheinung" (AA XXII, 364). Die in dem Begriff des Affiziertseins des inneren Sinns, rein aus der Struktur der Rezeptivität entwickelte Notwendigkeit des Gedankens eines transzendentalen Subjektes als der innerlich affizierenden Instanz wird nicht dadurch beeinträchtigt, daß uns diese Instanz unerkennbar ist und wir sie nur als Bedeutung eines Grenzbegriffs, d.h. als Noumenonen, fassen können. Aus dieser Denknotwendigkeit des Gedankens eines transzendentalen Subjektes samt der von ihm bewirkten Affizierung des inneren Sinnes folgt für die Selbstanschauung des Gemütes jedoch zwingend, daß in der Selbstvorstellung vermittelst des inneren Sinnes "das Subjekt, welches der Gegenstand desselben ist, ... nur als Erscheinung vorgestellt werden" (KdrV Β 68) kann. Daß wir uns nur so anschauen, wie wir innerlich von uns selbst affiziert werden, besagt demnach, daß uns in der inneren Anschauung "unser eigenes Subjekt nur als Erscheinung, nicht aber nach dem, was es an sich selbst ist" (KdrV Β 156), in den Blick gerät. Der erkenntnistheoretische Schnitt zwischen dem "sicuti sunt" und dem "sicuti apparent", wie er für alle Gegenstände der äußeren Anschauung zutrifft, erweist sich auch im Falle der anschauenden Selbstvorstellung vermöge des inneren Sinnes als gültig. Transzendentalphilosophisch betrachtet "ist die innere und sinnliche Anschauung unseres Gemüts, (als Gegenstandes des Bewußtseins,) ... nicht das eigentliche Selbst, so wie es an sich existiert, oder das transzendentale Subjekt, sondern nur eine Erscheinung, die

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der Sinnlichkeit dieses uns unbekannten Wesens gegeben worden" (KdrV A 4 9 2 / B 520). In der gerade erläuterten erkenntnistheoretischen Einstufung des intentionalen Gehaltes der sinnlichen Selbstvorstellung und dieser selber ist zugleich zweierlei enthalten, zum einen, daß letztere "nichts als Data der Erscheinung an die Hand gibt" (KdrV Β 430; Hhg.v.Vf.), und das will heißen, daß sie immer ein Mannigfaltiges der Erscheinung an die Hand gibt. Die Selbstbeziehung des Gemüts vermittelst des inneren Sinnes ist grundsätzlich eine "Anschauung des Mannigfaltigen in mir" (KdrV Β 158) bzw. "innere Wahrnehmung von dem Mannigfaltigen, was im Subjekte ... gegeben wird" (KdrV Β 68), und niemals die Vorstellung eines Einfachen, Einigen oder Identischen in mir. Außer dem Mannigfaltigkeitscharakter des so Gegebenen liegt darin aber auch noch das andere, daß die sinnliche Selbstanschauung nur das "passive Subjekt" (KdrV Β 153) repräsentiert. Ist ein Subjekt auf sich als Erscheinung bezogen, d.h. so, wie es dem inneren Sinn gegeben ist, dann erfaßt es sich eben darin - gewissermaßen per definitionem - nur in hinnehmender Weise, d.h. "nicht wie es sich unmittelbar selbsttätig vorstellen würde" (KdrV Β 69). Als solches nichtselbsttätiges Vorstellen ist es dann auch kein bestimmendes Vorstellen; seine Selbstvorstellung ist kein Vorstelligmachen eines Bestimmenden. Die Selbstanschauung des Gemüts vermittelst des inneren Sinns ist demnach nichts anderes als ein Modus der "Rezeptivität des Bestimmbaren" (KdrV Β 157 Anm.). In der Selbstwahrnehmung vermittelst des inneren Sinns wird ein Subjekt also weder seines An-Sich-Seins, noch seiner Einfachheit, Einheit oder Identität, noch seiner Selbsttätigkeit oder Bestimmungsfunktion ansichtig. Die innere Selbstanschauung des Gemüts, sofern sie nichts anderes ist als das Hinnehmen von sinnlichen Vorstellungen seiner selbst als in sich mannigfaltiger Erscheinung, repräsentiert das Subjekt ausschließlich in der Seinsweise "des bestimmbaren Selbst" (KdrV Β 407). Wie wir gesehen haben, ist es für Kant im Hinblick auf die Aufklärung dessen, was den Gehalt einer vorstellenden Selbstbeziehung ausmacht, wesentlich, ob wir diese Selbstvorstellung im Modus des anschauenden oder im Modus des denkenden Vorstellens vollziehen. Der erstgenannte Fall führte auf das bestimmbare Selbst bzw. auf das erscheinende Subjekt. Wenden wir uns nun der Selbstvorstellung in der Form des Denkens zu. Auch hier müssen wir wieder von der anderen Vorstellungsart vollständig abstrahieren. Es soll uns um die ausschließlich denkende Selbstvorstellung gehen. Denken ist selbsttätiges Vorstellen. Wenn ich mich denkend vorstelle, so liegt darin zweierlei: Zum einen stelle ich mich auf eine ausschließlich selbsttätige Weise vor, und zum andern stelle ich mich als einen aus-

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schließlich selbsttätig Vorstellenden vor. Beide Momente sind - wenn m a n den Gehalt der denkenden Selbstvorstellung bestimmen will - streng aufeinander zu beziehen. In dieser Verschränktheit besagen sie ein Zweifaches: Erstens, von einer ausschließlich selbsttätig vorstellenden Instanz kann ich mir nur so ein Bild machen, daß ich die Vorstellung von ihr selber spontan erzeuge. "Es ist offenbar: daß, wenn m a n sich ein denkend Wesen vorstellen will, m a n sich selbst an seine Stelle setzen, und also dem Objekte, welches m a n erwägen wollte, sein eigenes Subjekt unterschieben müsse" (KdrV A 353). Wichtiger aber ist ein Zweites. Wenn ich mich denkend vorstelle, dann stelle ich mich nicht lediglich als isolierte Instanz des selbsttätig Vorstellenden vor, sondern als selbsttätig Vorstellenden eines selbsttätig Vorgestellten. Dieses selbsttätig Vorgestellte ist nun aber nichts anderes als der durch das Denken erzeugte Gedanke. Trete ich in ein rein denkendes Selbstverhältnis zu mir, dann ist dies für Kant äquivalent mit dem Sachverhalt, daß "ich mich ... als Subjekt der Gedanken, oder auch als Grund des Denkens, vorstelle" (KdrV Β 429). In jeder denkenden Selbstvorstellung wird der selbsttätig Vorstellende "als ein transzendentales Subjekt der Gedanken vorgestellt" (KdrV A 346/B 404). Damit hat uns der Gehalt der denkenden Selbstvorstellung auf eben denselben Begriff geführt, welcher uns bereits bei der anschauenden Selbstvorstellung begegnet war. Oben h a t t e sich ergeben, daß eine innere Selbstvorstellung des Gemüts erkenntnistheoretisch nur gedacht werden kann unter der Voraussetzung, daß dasjenige, welches unter dem Grenzbegriff eines transzendentalen Subjektes gesetzt wird, auf eine subjektsinterne Weise den inneren Sinn zu affizieren vermag. Auch die Klärung des Gehaltes der denkenden Selbstvorstellung kann offenbar nicht ohne den Begriff eines transzendentalen Subjektes auskommen. Aber ebenso wie im Falle der subjektsinternen Selbstaffektion ist auch hier die Einführung jenes Begriffs mit dem Nachweis der Nichterkennbarkeit des durch ihn Bezeichneten verbunden, nur daß diese Nichterkennbarkeit hier anders begründet ist als dort. Beruhte im Falle der erkenntnistheoretischen Annahme eines den inneren Sinn affizierenden transzendentalen Subjektes dessen Nichterkennbarkeit auf den Grenzen unserer Sinnlichkeit, d.h. darauf, daß die sinnliche Anschauung von uns Menschen allein auf Erscheinungen, und nicht auf das An-sich-Sein der Dinge f ü h r t , so resultiert die Nichterkennbarkeit des transzendentalen Subjektes im Falle der denkenden Selbstvorstellung aus den Grenzen unseres Denkvermögens. Der menschliche Verstand ist diskursiv, d.h. er denkt nur in und vermittelst der Verknüpfung von Begriffen unter der Form des Urteils. Von einem Subjekt als solchem weiß dieser diskursive Verstand nur als von demjenigen, mit Bezug worauf er, ohne es als es selber zu kennen, die

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diesem inhärierenden Prädikate als untereinander notwendig verknüpfte denkt. In Anwendung auf den Fall der denkenden Selbstvorstellung besagt dies, daß die darin enthaltene Vorstellung eines transzendentalen Subjektes von Gedanken ein solches vorstellt, "welches nur durch die Gedanken, die seine Prädikate sind, erkannt wird, und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben können" (KdrV A 346/B 404). Auf der einen Seite ist die denkende Selbstvorstellung die Instanz, die "alle Vorstellungen zu Gedanken macht" und damit zugleich auch dasjenige, worin diese, "als dem transzendentalen Subjekte, müssen angetroffen werden" (KdrV A 350). Auf der anderen Seite können wir durch die denkende Selbstvorstellung "keine Kenntnis von dem Subjekte an sich selbst haben, was ... allen Gedanken ... als Substratum zu Grunde liegt" (ebd.). In der denkenden Selbstvorstellung ist wohl die Vorstellung eines transzendentalen Subjekts der Gedanken enthalten, aber es wird nur "vorgestellt = x" (KdrV A 346/B 404). Denn jene Vorstellung kann "zwar an sich kein Prädikat von einem anderen Dinge sein, aber ebensowenig auch ein bestimmter Begriif eines absoluten Subjekts" (Prol 334). Die denkende Selbstvorstellung befindet sich also in folgender Situation: Als an sich seiendes Substrat ist ihr das transzendentale Subjekt der von ihr erzeugten Gedanken schlechthin verborgen, nach dessen Subsistenzfunktion bezüglich der von ihr erzeugten und ihm inhärierenden Gedanken wird es gleichwohl schlechthin gesetzt. In allen Akten denkender Selbstvorstellung wird demnach ein "Subjekt" als Akteur des Denkens bzw. als Träger der Gedanken vorgestellt. Aber behält m a n den Sachverhalt der Nichterkennbarkeit dieses "Subjektes" scharf im Auge, so wird man sich jeder metaphysisch hypostasierenden Verwendung der Ausdrücke "Träger" oder "Akteur" zu enthalten haben. "Alle modi des Selbstbewußtseins im Denken an sich, sind ... bloße Funktionen" (KdrV Β 406f). Von hier aus fällt auch Licht auf eine zunächst ganz merkwürdig erscheinende Formulierung, die Kant einmal im Hinblick auf transzendentallogische Sachzusammenhänge verwendet hat. Kant konnte die denkende Selbstvorstellung als dasjenige bezeichnen, welches "alle Kategorien als ihr Vehikel begleitet" (KdrV A 348/B 406) bzw. als "das Vehikel aller Begriffe ü b e r h a u p t " (KdrV A 341/B 399). Was sich auf den ersten Blick als seltsame Metapher ausnimmt, wird vor dem Hintergrund des gerade Ausgeführten indes als die vielleicht präziseste Beschreibung der Letztbegründungsfunktion der denkenden Selbstvorstellung, die Kant je gegeben hat, erkennbar. Die denkende Selbstvorstellung erweist sich als Träger aller :.n ihr enthaltenen Gedanken. Mit diesem "Träger" hat es aber ontologisch eine besondere Bewandtnis: Sein Tragen ist ein Tragen, aber dennoch ist der

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Träger, absolut gesehen, nur ein Quasi-Träger. 23 D.h. die Subsistenzfunktion dieses Trägers ist gegeben, aber nicht dessen Substantialität. Das "Sein" des Trägers geht ganz in dessen Funktion auf. Die denkende Selbstvorstellung kann deshalb wie ihre Gedanken, so auch die von ihr erzeugten Formen dieser Gedanken, die Kategorien, nur so tragen, daß sie sie als Quasi-Träger trägt. Die Ausdrücke "als Vehikel" bzw. "begleiten" sollen demnach der Hypostasierung einerseits der Subsistenzfunktion, andererseits der Inhärenzrelation wehren. Das "als Vehikel begleiten" will nichts anderes zum Ausdruck bringen als den strikt funktionalen Charakter der in der denkenden Selbstvorstellung vorgestellten epistemischen Instanz. 24 Die Bedeutung des in der denkenden Selbstvorstellung gesetzten transzendentalen Subjektes geht also darin auf, daß in allem Denken eines Gedankens zugleich "Beziehung auf Sich ... (als die Form des Denkens) vorgestellt wird" (KdrV Β 411 Anm.). Für den intentionalen Gehalt der denkenden Selbstvorstellung ergibt sich daraus, daß die Vorstellung seiner selbst als eines denkenden Subjektes und das Bewußtsein des Erzeugens eines Gedankens - also Verbindungsbewußtsein - ein und dasselbe sind. Wie das Bewußtsein des spontanen Verbindens von Vorstellungen rein als solches die Form der denkenden Selbstvorstellung hat, so erweist sich umgekehrt die denkende Selbstvorstellung rein als solche als "das bestimmende Selbst" (KdrV A 402). Für diese Art der Selbstbezüglichkeit, nämlich die im Denken eines Gedankens enthaltene Selbstvorstellung des Denkenden nach seiner Bestimmungsfunktion, hat Kant den Ausdruck "Selbstbewußtsein" im Sinne eines erkenntnistheoretischen Terminus vorbehalten wissen wollen. Damit ist der Abstand Kants zu den Selbstbewußtseinstheorien eines Locke und Leibniz scharf bezeichnet: Nur durch ein denkendes, nicht durch ein wahrnehmendes Selbstverhältnis erhalten wir Kunde von den selbsttätigen Operationen unseres Geistes. Aber durch diese denkende Selbstvorstellung werden wir niemals auf eine denkende Substanz geführt, sondern auf bloße Bestimmungsfunktionen des Denkens. Worin bestehen nun diese Funktionen des Selbstbewußtseins? Hier wäre unter Einbeziehung dessen, was wir oben bei der Skizzierung des transzendentalphilosophischen Gehaltes der Zweiquellentheorie ausgeführt haben, dreierlei hervorzuheben: 1. Sofern die Tätigkeit des Verstandes in der Verbindung des Mannigfaltigen der Anschauung besteht und jeder Akt der Verbindung auf der23 24

Aus diesem Grunde ist auch der von P. STRAWSON eingeführte Begriff der Selbstzuschreibung irreführend; vgl. P. STRAWSON: Die Grenzen des Sinns, 79ff.l42if. Vgl. dazu die treffende Beschreibung von H. HEIMSOETH: Transzendentale Dialektik, 82 mit Anm. 111.

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jenigen Vorstellung von Einheit beruht, welche allein durch die denkende Selbstvorstellung selbsttätig erzeugt wird, fungiert das Selbstbewußtsein in allem Verstandesgebrauch als "das beständige logische Subjekt des Denkens" (KdrV A 350). 2. Sofern die qualitative Einheit der denkenden Selbst Vorstellung die Bedingung der Möglichkeit der gemäß den Formen des Urteils vollzogenen Synthesis darstellt, fungiert das Selbstbewußtsein in allem Verstandesgebrauch als "die logische Einheit eines jeden Gedankens" (KdrV A 398). 3. Sofern alle anschaulich gegebenen Vorstellungen in der denkenden Selbstvorstellung nur dann zur Einheit eines Gedankens verknüpft werden können, wenn sie nicht numerisch verschiedenen epistemischen Instanzen angehören, ist die Selbstidentität des logischen Subjektes die notwendige Bedingung allen Verstandesgebrauches. "Es ist also die Identität des Bewußtseins Meiner selbst ... eine formale Bedingung meiner Gedanken" (KdrV A 363). Die kognitiv basalen Funktionen des Selbstbewußtseins bestehen sonach darin, daß das Selbstbewußtsein bezüglich aller Akte des Denkens als subsistierendes qualitativ Eines, mit sich identisches logisches Subjekt der darin erzeugten Gedanken fungiert. Allein aus diesem systematischen Kontext heraus darf der Gehalt derjenigen Ich-Vorstellung verstanden werden, um die es in der bei Kant gebräuchlichen Formel vom "Ich denke" geht. Dieses "Ich denke" ist für Kant äquivalent mit den erkenntnistheoretischen Elementarfunktionen des Selbstbewußtseins. Die im "Ich denke" enthaltene Ich-Vorstellung stellt nichts anderes vor, als was im Selbstbewußtsein eines logischen Subjektes rein als eines solchen vorgestellt wird. "Das Bewußtsein meiner selbst in der Vorstellung Ich ist ... eine bloß intellektuelle Vorstellung der Selbsttätigkeit eines denkenden Subjekts" (KdrV Β 278). Die Vorstellung "Ich" ist die "Vorstellung desjenigen, worauf alles Denken in Beziehung (relatione accidentis) steht" (Prol 334). Was in dieser Ich-Vorstellung vorgestellt wird, ist weder eine empirische noch eine metaphysische E n t i t ä t , sondern allein die logische Funktion des Subjektes von Gedanken. Das bedeutet, daß die hier vorliegende Art der Selbstreferenz weder mit dem Selbstbezüglichkeitserlebnis der Selbstempfindung noch mit dem objektivierten Selbstverhältnis begrifflicher Selbstthematisierung verwechselt werden darf. Dies gilt es kurz zu erläutern. 1. Weil die Ich-Vorstellung nichts anderes anzeigt als die epistemische Funktion des Subjekts von Gedanken, vermöge deren allererst die Bestimmtheit von Gedanken möglich ist, eben deshalb verbietet es sich, die Ich-Vorstellung auf eine Ebene mit solchen logischen Elementen zu stellen, in denen wir gedankliche Bestimmtheit fixieren. Von der Ich-Vorstellung

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eines d e n k e n d e n Wesens gilt deshalb, daß m a n von ihr "nicht einmal sagen kann, daß sie ein Begriff sei, sondern ein bloßes Bewußtsein, das alle Begriffe begleitet" ( K d r V A 3 4 6 / B 404). " W ä r e die Vorstellung der Apperzeption, das Ich, ein Begriff, wodurch irgendetwas gedacht würde, so w ü r d e es auch als P r ä d i k a t von anderen Dingen gebraucht werden können oder solche P r ä d i k a t e in sich e n t h a l t e n " (Prol 334). F ü r K a n t steht die Ich-Vorstellung nicht f ü r den Begriff des Ich von sich ein, sondern eher wie er sich ausdrückt - f ü r das "Gefühl eines Daseins" (Prol 334) desselben - wobei die Formulierung "... eines Daseins" streng im Horizont der 2. Auflage des Paralogismenkapitels der ersten Kritik zu lesen ist, wenn es nicht zu Mißverständnissen schwerwiegendster Art k o m m e n soll. 2. Weil die Ich-Vorstellung kein Begriff des Ich von sich ist, deshalb fehlt ihr auch alle sachhaltige B e s t i m m t h e i t , d.h. Realität. F ü r K a n t ist die Ich-Vorstellung "sowenig Anschauung, als Begriff von irgendeinem Gegenstande, sondern die bloße F o r m des Bewußtseins" ( K d r V A 382). Die Ich-Vorstellung im Sinne des Selbstbewußtseins eines logischen Subjekts ist eine "für sich selbst an Inhalt gänzlich leere Vorstellung" ( K d r V A 3 4 5 f / B 404). Sie darf also weder mit d e m intentionalen Gehalt des empirischen Identitätsbewußtseins im Sinne Lockes verwechselt werden, noch mit der internen Selbsterschlossenheit einer denkenden S u b s t a n z im Sinne der rationalen Psychologie der Schulphilosophie des 18. J a h r h u n d e r t s . 3. Weil das in der Ich-Vorstellung Vorgestellte Bedingung der Möglichkeit jedweder gegenständlicher Bestimmtheit ist, deshalb unterliegt jeder Versuch der prädikativen Einholung des in der Ich-Vorstellung Vorgestellt e n der Aporie, daß wir mit dem Versuch solcher P r ä d i k a t i o n e n dasjenige i m m e r schon in A n s p r u c h nehmen, u m dessen B e s t i m m u n g es uns allererst zu t u n ist. Das Ich erweist sich als ein solches, " u m welches wir uns ... in einem beständigen Zirkel herumdrehen, indem wir uns seiner Vorstellung jederzeit schon bedienen müssen, u m irgend etwas von i h m zu urteilen" ( K d r V A 3 4 6 / B 404). Es ist offenkundig, daß mit der von K a n t hier aufgewiesenen Zirkularität nicht diejenigen Aporien gemeint sind, die m a n bezüglich der Denkbarkeit einer absoluten Selbstsetzung oder im Hinblick auf die Möglichkeit von verbaler Selbstbeziehung geltend gemacht h a t . K a n t geht es nicht u m die Klärung der Möglichkeit der denkenden Selbstbeziehung. Er rechnet offenkundig von vornherein mit deren F a k t u m . Er will n u r darauf hinweisen, daß eine gegenständliche B e s t i m m u n g dessen, was Bedingung der Möglichkeit aller gegenständlichen B e s t i m m t h e i t ist, unmöglich ist. K a n t hielt es keineswegs f ü r prinzipientheoretisch ruinös, sondern vielmehr f ü r "sehr einleuchtend: daß ich dasjenige, was ich voraussetzen muß, u m ü b e r h a u p t ein O b j e k t zu erkennen, nicht selbst als O b j e k t erkennen könne" ( K d r V A 402).

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Was bedeutet dieser erkenntnistheoretische Befund nun für die Beantwortung der Frage nach der spezifisch transzendentalphilosophischen Begründung der These von der Nichterkennbarkeit der gemeinschaftlichen Wurzel von Sinnlichkeit und Verstand bzw. der Einheit der Subjektivität überhaupt? Kants Analyse des vorstellenden Selbstverhältnisses hatte auf ein zwiefaches Ergebnis geführt: In der sinnlich anschauenden Selbstvorstellung erfährt sich ein vorstellendes Wesen als bestimmbares Selbst, in der denkenden Selbstvorstellung setzt es sich als bestimmendes Selbst. Daß das bestimmbare Selbst nicht als Kandidat für die Funktion des in sich einigen Ursprungs des Selbstes in Frage kommen kann, dürfte auf der Hand liegen. Aber auch das bestimmende Selbst kann diese Rolle nicht übernehmen. Mit dem Aufweis der Notwendigkeit seiner kognitiven Funktionen ist nämlich lediglich ein erkenntnistheoretisches (letztes) Prinzip etabliert, aber noch keinerlei Erkenntnis - im strengen Sinne des Wortes - mit Bezug auf die Verfaßtheit des Selbstes erzielt. Kant hebt mehrfach hervor, daß "durch die Analysis des Bewußtseins meiner selbst im Denken überhaupt in Ansehung der Erkenntnis meiner selbst als Objekts nicht das mindeste gewonnen" (KdrV Β 409) ist. Dies liegt nicht etwa an irgendwelchen Mängeln des analytischen Zugriffs, sondern am thematisierten Sachverhalt selber. Das bestimmende Selbst bzw. das "Bewußtsein seiner selbst ist ... noch lange nicht ein Erkenntnis seiner selbst" (KdrV Β 158). Was für alle Arten der vorstellenden Bezugnahme auf Gegenstände gilt, nämlich die strikte Unterscheidung zwischen deren Erkanntsein und bloßem Gedachtsein, trifft auch für den Fall der Vorstellung seiner selbst zu. Was besagt dann aber jene Zwiefachheit von bestimmendem und bestimmbarem Selbst? Nichts anderes, als daß es ein "doppeltefs] Ich im Bewußtseyn meiner selbst, nämlich das der innern sinnlichen Anschauung und das des denkenden Subjects" (AA X X , 268) gibt. Muß es bei dieser Duplizität des Ich bleiben, oder können beide Gestalten der Selbstvorstellung noch einmal miteinander vereinigt werden? Wir wissen aus Kants Analyse der Zweistämmigkeit des Objektbewußtseins, daß Erkenntnis nur durch ein Zusammenwirken von Anschauen und Denken zustande kommen kann. Dieses Kooperationsverhältnis macht Kant nun auch für den Fall der Selbstvorstellung geltend. Selbsterkenntnis von sowohl mit Sinnlichkeit als auch mit Verstand begabten epistemischen Instanzen liegt genau dann vor, wenn beide Vermögen - nun allerdings zum Zwecke der Selbsterfassung jener Instanzen - zusammentreten. Selbst erkenntnis gibt es nur unter der Bedingung, daß "das Denken meiner selbst auf die empirische Anschauung ebendesselben Subjekts angewandt" (KdrV Β 430) wird.

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Diese Anwendung des Denkens auf die innere Anschauung z u m Zwecke der Hervorbringung von Selbsterkenntnis hat die Form der subjektsinternen Selbstaffektion. "Wenn das Vermögen sich bewußt zu werden, das, was im Gemüte liegt, aufsuchen (apprehendieren) soll, so muß es dasselbe affizieren" (KdrV Β 68). Damit haben wir einen Sachverhalt wieder aufgenommen, von dem bereits oben die Rede war. Handelte es sich beim Begriff der Selbstaffektion im Zusammenhang der Analyse der inneren sinnlichen Selbstanschauung aber u m die Denkbarkeit der Rezeptivität des inneren Sinns rein für sich genommen, so geht es hier u m die Selbstaffektion als eine Bedingung der Möglichkeit des Kooperationsverhältnisses zwischen Anschauen und Denken. "Das, was den inneren Sinn bestimmt, ist der Verstand" (KdrV Β 153). Von besonderer Bedeutung ist nun, daß der Verstand in diesem Selbstaffektionsvorgang zwischen ihm und der inneren Anschauung nur dann auf diese wirken kann, wenn er der formalen Beschaffenheit derselben entspricht: Der Verstand kann den inneren Sinn nur dessen Zeitform gemäß bestimmen und hat es sonach lediglich mit Erscheinungen zu t u n . Dies bedeutet: Auch das Zusammentreten von denkender und anschauender Selbstvorstellung zwecks Hervorbringung von Selbsterkenntnis macht das Selbst nicht nach dessen An-sich-Sein vorstellig, sondern lediglich als Erscheinung. Es ist "die befremdliche, obzwar unstreitige Behauptung der spekulativen Kritik, daß sogar das denkende Subjekt ihm selbst in der inneren Anschauung bloß Erscheinung sei" (KpV 9). Dadurch, daß das denkende Selbstbewußtsein - das bestimmende Selbst - sich auf die innere Selbst Wahrnehmung - das bestimmbare Selbst - bezieht, produziert ein Selbst zwar Kenntnisse von sich, aber von sich nur in seiner zeitlichen Erfahrungsgegebenheit. "Ich, als Intelligenz und denkend Subjekt, erkenne mich selbst als gedachtes Objekt, sofern ich mir noch über das in der Anschauung gegeben bin, nur, gleich anderen Phänomenen, nicht wie ich vor dem Verstände bin, sondern wie ich mir erscheine" (KdrV Β 155). Was bedeutet dies im Hinblick auf das Problem der Einheit der Subjektivität? Wir h a t t e n zunächst gesehen: In der Selbstvorstellung ebensowohl denkender wie sinnlich anschauender Wesen liegt ein Hiatus vor, nämlich die Differenz von bestimmendem und bestimmbarem Selbst. Nun zeigt sich: Auch das Ich weist eine Spaltung in sich auf, nämlich die Duplizität zwischen dem Ich als denkendem Selbstbewußtsein und Ich als erkannter Erscheinung. Das Ich als erkannte Erscheinung ist nun aber nichts anderes als die Anwendung des bestimmenden Selbst auf das bestimmbare Selbst. Die Gespaltenheit des Ichs ist sonach die Duplizität von bestimmendem Selbst und dessen Selbstanwendung auf das bestimmbare Selbst . In dieser Duplizität wiederholt sich obiger Hiatus der Selbstvorstellung lediglich auf

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einer anderen Stufe und in modifizierter Gestalt. Eben deshalb kann jene Ich-Spaltung auch durch keinen irgendgearteten Akt selbstreferentieller Vorstellungstätigkeit übersprungen werden. Aber trotz jenes Hiatus der Selbstvorstellung und der daraus resultierenden Duplizität des Ich darf man nach Kant von einer Selbstidentität des in jenen Selbstvorstellungsformen sich vorstellenden Ich reden. Seinem Verständnis von Subjektivität zufolge ist "das Ich, der ich denke, von dem Ich, das sich selbst anschaut, unterschieden ... und doch mit diesem letzteren als dasselbe Subjekt einerlei" (KdrV Β 155). Jene Differenzmomente im vorstellenden Selbstverhältnis wären also falsch verstanden, wenn m a n sie als Verhinderungsgründe der Selbstidentität des Ich auffassen wollte. Die Frage, wie jenes Zugleich von Identität und Nichtidentität zu denken sei, hat Kant sich durchaus vorgelegt und - überraschend einfach - beantwortet. Das aus dem Hiatus der Selbstvorstellung resultierende duplizitäre Ich ist "nicht ein doppeltes Ich aber doch ein doppeltes Bewußtseyn dieses Ich" (AA VII, 396). Die oben konstatierte Ich-Spaltung bedeutet demnach keine Gespaltenheit des Ich-Subjekts, sondern nur die Gespaltenheit der Selbstansicht desselben. Aus der Zwiefachheit der Form des sich Vorstellens resultiert notwendig die Zwiefachheit der Vorstellbarkeit seiner selbst. Diese Duplizität der Vorstellbarkeit seiner selbst ist mit der Identität der sich duplizitär vorstellenden Instanz durchaus kompatibel. Die Gespaltenheit der Selbstansicht eines Ich-Subjekts widerspricht also keineswegs dessen Selbstidentität. Der subjektivitätstheoretische Gehalt jener Ich-Spaltung kann demnach so zusammengefaßt werden: Alle Wesen, denen "das Vermögen, zu sich selbst Ich zu sagen" (AA XX, 270), zukommt, unterliegen unbeschadet ihrer Selbstidentität einer unhintergehbaren Opakheit ihrer Selbsterfassung in dem Sinne, daß sie als Selbste einer einheitlichen Selbstansicht prinzipiell nicht fähig sind. Jene Unterscheidung zwischen der Gespaltenheit der Selbstansicht des Ich einerseits und der Selbstidentität eines Ich-Subjektes andererseits wäre nun allerdings völlig falsch verstanden, wollte man Kant unterstellen, es werde durch sie am Ende doch wieder eine in und durch sich bestimmte Subjekts-Substanz etabliert. Uber die Natur jenes beiden Selbstansichten zugrundeliegenden selbstidentischen Ich-Subjektes kann nach Kant nämlich ü b e r h a u p t nichts ausgesagt werden. Weder als transzendentales Subjekt der Gedanken noch als transzendentales Subjekt der internen Selbstaffektion ist es einer realen Bestimmung fähig, und damit ist auch der Zusammenhang beider Funktionen des transzendentalen Subjektes keiner realen Bestimmung fähig. Die Annahme eines der duplizitären Selbstansicht zugrundeliegenden selbstidentischen Ich-Subjektes ist ein bloßer Grenzbegriff erkenntnistheoretischer Selbstreflexion. Damit ist zugleich aber auch gesagt, daß der Hiatus der Selbstvorstellung nicht

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nur die Gespaltenheit der Selbstansicht des Ich, sondern auch die reale Unbestimmbarkeit einer letzten Einheit des Ich impliziert. Der Hiatus der Selbst Vorstellung hat die Nichterkennbarkeit der Einheit der Subjektivität notwendig zur Folge. Fragt man nach dem Grund der Notwendigkeit der Zwiefachheit der Selbstvorstellung bzw. der Gespaltenheit der Selbstansicht des Ich, so gibt Kant darüber selber unmißverständlich Auskunft. Zwei Zitate mögen dies belegen. Kant sagt: "Nicht dadurch, daß ich bloß denke, erkenne ich irgendein Objekt, sondern nur dadurch, daß ich eine gegebene Anschauung in Absicht auf die Einheit des Bewußtseins, darin alles Denken besteht, bestimme, kann ich irgend einen Gegenstand erkennen. Also erkenne ich mich nicht selbst dadurch, daß ich mir meiner als denkend bewußt bin, sondern wenn ich mir der Anschauung meiner selbst, als in Ansehung der Funktion des Denkens bestimmt, bewußt bin" (KdrV Β 406; Hhg.v.Vf.). "5o wie zum Erkenntnisse eines von mir verschiedenen Objekts, außer dem Denken eines Objekts überhaupt ..., ich doch noch einer Anschauung bedarf, dadurch ich jenen allgemeinen Begriff bestimme, so bedarf ich auch zum Erkenntnisse meiner selbst außer dem Bewußtsein, oder außer dem, daß ich mich denke, noch einer Anschauung des Mannigfaltigen in mir, wodurch ich diesen Gedanken bestimme" (KdrV Β 158; Hhg.v.Vf.). Im "Also" des ersten Zitates wird aus der Zweistämmigkeit der Gegenstandserkenntnis die Zweistämmigkeit der Selbsterkenntnis gefolgert. Im "So wie, so auch" des zweiten Zitates wird von ersterem Sachverhalt als dem Analogans auf letzteren als das Analogat geschlossen. Das bedeutet: Kant hat die Struktur der Selbstvorstellung von Subjekten voll und ganz nach dem Modell der erkennenden Bezugnahme auf Objekte rekonstruiert. Die Zweistämmigkeit des Bewußtseins erweist sich für Kant eben dadurch, daß sie eine notwendige Bedingung von Objektbewußtsein darstellt, zugleich als die hinreichende Bedingung der Unmöglichkeit einer einheitlichen Ansicht des Ich von sich selbst. Genau darin dürfte die spezifisch transzendentalphilosophische Begründung der Nichterkennbarkeit der Einheit der Subjektivität liegen. Mit dieser Abkünftigkeit der subjektivitätstheoretischen Bestimmung des Ich-Bewußtseins aus der erkenntnistheoretischen Begründung von Objektivität gehen zwei Momente der letzteren in erstere ein, welche dem transzendentalphilosophischen Argument für die Nichterkennbarkeit der Einheit der Subjektivität ein über das bereits Gesagte hinausgehendes, noch deutlicheres Profil verleihen. Kant schreibt zur funktionalen Beschaffenheit der beiden Erkenntnisstämme folgendes: "Wie ... diese eigentümliche Eigenschaft unserer Sinnlichkeit selbst oder die unseres Verstandes und der ihm und allem Denken zum Grunde liegenden notwendigen Apperzeption möglich sei, läßt sich

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nicht weiter auflösen und beantworten, weil wir ihrer zu aller Beantwortung und zu allem Denken der Gegenstände immer wieder nötig haben" (Prol 318). Und ähnlich äußert sich Kant in einem Brief an Marcus Herz vom 26. Mai 1789: "Wie ... eine solche sinnliche Anschauung (als R a u m und Zeit) Form unserer Sinnlichkeit oder solche Functionen des Verstandes, als deren die Logik aus ihm entwickelt, selbst möglich sey, oder wie es zugehe, daß eine Form mit der Andern zu einem möglichen Erkenntnis zusammenstimme, das ist uns schlechterdings unmöglich weiter zu erklären, weil wir sonst noch eine andere Anschauungsart, als die uns eigen ist und einen anderen Verstand, mit dem wir unseren Verstand vergleichen könnten ..., haben müßten: wir können aber allen Verstand nur durch unseren Verstand und so auch alle Anschauung nur durch die unsrige beurtheilen" (AA XI, 51). Nicht nur die Aufhellung dessen, was das Ich bzw. das Ich-Bewußtsein sei, sondern auch der Versuch einer Begründung der eigentümlichen Bestimmtheit der beiden Erkenntnisstämme steht bereits unter den Bedingungen der Zweistämmigkeit des Bewußtseins. In beiderlei Hinsicht weist die Frage nach der Einheit von Sinnlichkeit und Verstand die formale Struktur der Selbstvoraussetzung auf. In den zuletzt angeführten Zitaten liegt aber noch ein anderes. Wenn jede Erklärung der Zweistämmigkeit des Bewußtseins - sowohl hinsichtlich der Einheit desselben als auch bezüglich der Verfaßtheit der beiden S t ä m m e - an der Selbstvoraussetzungsstruktur eines solchen theoretischen Unternehmens scheitert, dann scheint die Zweistämmigkeit des Bewußtseins offenbar auch ein Kontingenzphänomen menschlicher Erkenntnis zu sein. Daß dies tatsächlich Kants Überzeugung war, läßt sich leicht zeigen. Die transzendentale Deduktion der Kategorien - sowohl im ersten als auch im zweiten ihrer Beweisschritte - zeigt, daß "zwei ganz heterogene Stücke, Verstand für Begriffe und sinnliche Anschauung für Objekte" (KdU 340), zusammentreten müssen, wenn die objektive Bedeutung von Kategorien bzw. Objektbewußtsein überhaupt soll gewährleistet sein. Die Darlegung der Möglichkeit jenes Zusammentretens besteht im Nachweis der apriorischen Strukturverfaßtheit dieses Kooperationsverhältnisses - auf der Basis des Nachweises der apriorischen Beschaffenheit der zueinander in Beziehung tretenden Vermögen je für sich. Diese apriorische Bestimmtheit sowohl der Einzelvermögen als auch des zwischen ihnen bestehenden Kooperationsverhältnisses darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß - unbeschadet jener Apriorität - kontingente Elemente in den Aufbau des solchermaßen zweistämmig verfaßten Objektbewußtseins eingehen. Und dies betrifft beide Stämme des Bewußtseins, je für sich ebenso wie deren Verhältnis zueinander.

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Was zunächst den Verstand anbelangt, so liegt es nach Kant keineswegs im Begriff desselben, auf das Mannigfaltige einer nichtintellektuellen Anschauung als Stoff eigener gedanklicher Operationen notwendig angewiesen zu sein. "Derjenige Verstand, durch dessen Selbstbewußtsein zugleich das Mannigfaltige der Anschauung gegeben würde, ein Verstand, durch dessen Vorstellung zugleich die Objekte dieser Vorstellung existierten, würde einen besonderen Aktus der Synthesis des Mannigfaltigen zu der Einheit des Bewußtseins nicht bedürfen, deren der menschliche Verstand, der bloß denkt, nicht anschaut, bedarf" (KdrV Β 138f). Es ist eine kontingente Eigenschaft des menschlichen Verstandes, nur als Synthesisoperation mit Bezug auf gegebenes Mannigfaltiges sachhaltige Bestimmtheit erzeugen zu können. 2 6 Und Ähnliches gilt für die Anschauung. Es liegt keineswegs im Begriff einer nichtintellektuellen Anschauung, Gegenstände nur in der Weise des Affiziertseins der Sinne und jene selbst nur als in R a u m und Zeit erscheinende hinnehmen zu können. Letzteres ist vielmehr eine kontingente Eigenschaft der spezifisch menschlichen Anschauung. Beide Kontingenzen entziehen sich jedweder Erklärung. "Von der Eigentümlichkeit unseres Verstandes ..., nur vermittelst der Kategorien und nur gerade durch diese Art und Zahl derselben Einheit der Apperzeption a priori zustande zu bringen, läßt sich ebensowenig ... ein Grund angeben, als warum wir gerade diese und keine anderen Funktionen zu urteilen haben, oder warum Zeit und R a u m die einzigen Formen unserer möglichen Anschauung sind" (KdrV Β 145f). Aber trotz der kontingenten Beschaffenheit unserer Anschauung, Gegenstände nur in den Formen des Affiziertseins der Sinne vorstellen zu können, und trotz der kontingenten Beschaffenheit unseres Verstandes, Gegenstände nur vermittelst der Synthesis eines gegebenen Mannigfaltigen bestimmen zu können, lassen sich diese Synthesis und jene Formen nach ihren apriorischen Merkmalen und deren transzendentaler Funktion explizieren. Genau diese Verschränkung von Kontingenz und Apriorität scheint auch den Argumentationsgang der transzendentalen Deduktion zu bestimmen. Deren erster Beweisschritt legt dar, daß trotz der Kontingenz des Angewiesenseins unseres Verstandes auf gegebene Anschauung eine apriorische Bestimmungsfunktion desselben von objektiver Gültigkeit möglich ist. Als besonders intrikat stellen sich die Dinge nun allerdings im Falle 25

M. BAUM: Deduktion und Beweis in Kants Transzendentalphilosophie, 131, hat in Auseinandersetzung mit L. KRÜGER (Wollte Kant die Vollständigkeit seiner Urteilstafel beweisen?) gezeigt, daß aus jener Kontingenz des Verstandes nicht die Unmöglichkeit der Ableitung der Urteilsformen folgt. Zum Beweis der Vollständigkeit der Kategorientafel durch Ableitung der Urteilstafel aus der Verstandesfunktion vgl. K. REICH: Die Vollständigkeit der Kantischen Urteilstafel.

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des zweiten Beweisschritts dar. Er zeigt, wie trotz des Umstandes, daß aus der apriorischen Subsumierbarkeit aller Anschauungen unter die Kategorien nicht schon die Subsumierbarkeit unserer kontingenten Wahrnehmungsstruktur unter die Kategorien folgt, dennoch auch diese Wahrnehmungsstruktur a priori unter die Kategorien fällt. Daß dieses Anwendungsverhältnis in der zwiefachen Bestimmtheit des Raumbegriffs sowie in der Zwitterstellung der Einbildungskraft begründet ist, und daß jene Beziehung an beiden Orten die Struktur der Gemäßheit aufweist, haben wir oben gesehen. Es liegt nahe zu fragen, ob es nicht genau diese Gemäßheitsstruktur sowohl der formalen Anschauung als auch der produktiven Einbildungskraft ist, hinter der sich die für den zweiten Beweisschritt der transzendentalen Deduktion signifikante Art der Verschränkung von Kontingenz und Apriorität verbirgt. Dies scheint in der Tat der Fall zu sein. In beiden Fällen wird Vermittlung nicht als Verankertsein oder Entspringen des miteinander Vermittelten in bzw. aus einem gemeinsamen Ursprung gedacht, sondern als "Gemäßheit", d.h. als subjektsinterne Korrespondenz a priori. Sowohl die formale Anschauung mit ihrer Mittelstellung zwischen der Synthesis der Apprehension und der des Verstandes als auch die transzendentale Einbildungskraft in der ihr eigenen Zwitterfunktion zwischen Verstand und Sinnlichkeit überhaupt repräsentieren jeweils zwar apriorische Kooperationsverhältnisse, aber lediglich von der Beziehungsart der Entsprechung. Inwiefern liegt in dieser Gemäßheitsstruktur nun ein Kontingenzphänomen vor? Eine Antwort auf diese Frage gibt Kants Begriff der subjektsinternen Selbstaffektion. Die formale Anschauung verdankt ihre Gemäßheitsstruktur der transzendentalen Einbildungskraft, deren Produkt sie ist. Die transzendentale Einbildungskraft wiederum verdankt ihre Gemäßheitsstruktur dem Affiziertsein des inneren Sinnes durch den Verstand. Dieses Verhältnis zwischen Verstand und innerem Sinn hat aber - und dies ist nun das Entscheidende - den Status eines Einwirkungsverhältnisses des ersteren auf letzteren, welches lediglich von seinen Folgen her erschließbar bzw. erschlossen ist. Der in der subjektsinternen Selbstaffektion sich vollziehende synthetische Einfluß des Verstandes auf den inneren Sinn kann zwar der Apriorität seiner Konstitutionsfunktion nach expliziert werden, er selbst aber ist ein kontingenter Sachverhalt, der seiner Möglichkeit nach nicht weiter erklärt werden kann. Er ist ebenso kontingent wie der synthetische Charakter des Verstandes und die Raumzeitlichkeit der Anschauung, deren beider Vermittlung er dient. Es dürfte sonach dieses Zugleich von Kontingenz und Apriorität in der Einwirkung des Verstandes auf den inneren Sinn gewesen sein, welches Kant dazu veranlaßt hat, den zweiten Beweisschritt der Deduktion in Form des Aufweises von bloßen

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Gemäßheitsbeziehungen zu entfalten, für welche dann ebenfalls jenes Zugleich von Kontingenz und Apriorität signifikant wäre. So schürzt sich also im zweiten Beweisschritt der transzendentalen Deduktion auf eine nachgerade rasante Art die für Kants Zweiquellentheorie überhaupt charakteristische Verschränkung von Kontingenz und Apriorität zu einem bewußtseinstheoretischen Knoten. Der von Kant an dieser Stelle notorisch praktizierte Verzicht auf weitere Ableitungen und Erklärungen offenbart ein Wissen u m die Grenzen der erkenntnistheoretischen Erhellbarkeit des Bewußtseins, das von kaum einem seiner Nachfolger, Ausleger, Verbesserer oder Kritiker noch verstanden wurde. Jene Gemäßheitsstrukturen des zweiten Deduktionsschrittes können im Sinne Kants gleichwohl als nichts anderes aufgefaßt werden denn als Indikatoren für eine hochgradige Verdichtung des Ineinanders von Kontingenz und Apriorität, in der sich die Endlichkeit menschlicher Erkenntnis zur Geltung bringt. Kehren wir von der Kontingenzproblematik der Zweiquellenlehre zurück zur Duplizität der Selbstvorstellung bzw. zur Gespaltenheit der Selbstansicht des Ich. Kant sagt: "Wie es möglich sey, daß ich der ich denke, mir selber ein Gegenstand (der Anschauung) seyn, und so mich von mir selbst unterscheiden könne, ist schlechterdings unmöglich zu erklären, obwohl es ein unbezweifeltes Factum ist" (AA XX, 270). Wenn Kant hier von einem "Factum" der Fähigkeit des Ich zur Selbstunterscheidung von sich spricht, so wird die Faktizität dieses Faktums vor dem Hintergrund des gerade Ausgeführten wohl nur als ein Zusammenfallen von Kontingenz und Apriorität verstanden werden können. Die Zweistämmigkeit der Erkenntnis als notwendige Bedingung von Objektivität erwiese sich dann auch in dem Sinne als hinreichende Bedingung der Gespaltenheit der Selbstansicht des Ich, daß sich auch die Kontingenzmomente jener Zweistämmigkeit auf diese Gespaltenheit der Selbstansicht übertrügen. Das besagt nichts anderes, als daß das Auftreten von Kontingenzen in der Beschaffenheit beider Vermögen für sich wie im Verhältnis zueinander einerseits und das Auftreten von Kontingenzen in der Nichterkennbarkeit des Ursprungs der Zweistämmigkeit des Bewußtseins andererseits eng miteinander zusammenhängen. Der Selbstvoraussetzungsstruktur jeder Selbstthematisierung zweistämmig verfaßten Bewußtseins zufolge unterliegt die Selbstaufklärung einer epistemischen Instanz auch den kontingenten Strukturmerkmalen von deren erkennender Bezugnahme auf Objekte. Und umgekehrt treten diese kontingenten Merkmale allererst dort als solche zutage, wo eine epistemische Instanz in der Aufklärung der Struktur ihrer Objektivität konstituierenden mentalen Aktivität tatsächlich an ihre

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Grenzen stößt. Die Begrenztheit der Selbsterhellung des Bewußtseins 26 und das Auftreten von Kontingenzen in der Verfaßtheit desselben lassen sich nicht voneinander trennen. Zur Kontingenz der Verfaßtheit des Bewußtseins gehört es demnach auch, daß wir hinsichtlich der Nichterkennbarkeit der Einheit der Subjektivität keine über bloß kontingente Gründe hinausgehenden Gründe mehr benennen können. 27 Die aus der Selbstvoraussetzungsstruktur der Selbstthematisierung zweistämmig verfaßten Bewußtseins resultierende unhintergehbare Opakheit in der Selbsterfassung des Ich, derzufolge die Selbstaufklärung des Ich über das Faktum der Gespaltenheit der Selbstansicht nie hinauskommt, erweist sich so gesehen als ein Kontingenzphänomen von Subjektivität.

26 27

Vgl. D. HENRICH: Über die Einheit der Subjektivität. M. BAUM, a.a.O. 131: "Die Notwendigkeit des Zusammenwirkens von Denken und Sinnlichkeit in der Erkenntnis für unseren Verstand ist also etwas, was wir einsehen können. Einen Einblick in die Bedingungen der Möglichkeit eines solchen Denkvermögens selbst zu gewinnen, wäre gleichbedeutend mit der Erkenntnis der Gründe, aus denen unser Verstand endlich ist. Eine solche Erkenntnis ist unmöglich, weil der Verstand, um sich selbst zu ergründen, hinter sich selbst zurückgehen, zugleich aber selbst betätigt werden müßte".

Β. Hirschs wahrheitstheoretische Entfaltung des Gottesgedankens

1. D i e Z w e i s t ä m m i g k e i t der Erkenntnis u n d die D i a l e k t i k des Wahrheitsbewußtseins Uberblickt man die durch die Namen Locke, Leibniz und Kant repräsentierte Theorienkonstellation von Empirismus, Rationalismus und Transzendentalphilosophie, so wird man nicht umhin können, in ihr mit Hirsch eine erkenntnistheoretische "Schicksalsfrage" (Lf §45.A.) zu erblicken. So ist denn auch derjenige Paragraph, mit dem der "Leitfaden" seine Ausführungen zur erkenntnistheoretischen Grundlegung der Dogmatik beginnt, überschrieben mit dem Titel "Das Gegebene und die Vernunft" (Lf §45), also genau dem Thema gewidmet, welches zwischen jenen erkenntnistheoretischen Entwürfen eigentlich strittig ist. Hirsch bemerkt zu dieser Kontroverse: "das Verhältnis von Vernunft und Gegebnem ... hat sich als ein Rätsel erwiesen, an dem die Reflexion in zwei entgegengesetzte Tendenzen auseinandergegangen ist. Auf der einen Seite will uns das Gegebne das Geheimnisvolle werden, das im Erkanntwerden sich mit seinem eigentlichen Wesen dem Erkennen entzieht, und das führt dazu, die Vernunft zu denken als endliche, begrenzte Vernunft, als das dem Lebenskampf der Gattung Mensch dienende, über seinen Zweck hinaus aber nicht reichende Organ. Auf der andern Seite will uns die Vernunft das vollmächtige Organ einer königlichen, ja göttlichen Menschheit sein, das des Wesens aller Dinge mächtig ist, und das führt dazu, das Gegebne als einen bloßen Stoff für unsern durchdringenden und gestaltenden Geist zu denken, so daß das hin zunehmende Faktische eine echte Grenze der Erkenntnis nicht in sich birgt" (Lf §45.Α.). Liest man diese Ausführungen Hirschs vor dem Hintergrund des im ersten Teil dieses Kapitels Dargelegten, so erweisen sie sich als das knappe, präzise problemgeschichtliche Resümee der zwischen Empirismus, Rationalismus und Transzendentalphilosophie geführten erkenntnistheoretischen Debatte einschließlich ihrer im Idealismus und Positivismus erfolgten Zuspitzung. Auf der einen Seite wird die Endlichkeit der Vernunft betont, indem so bei Locke - die grundsätzliche Bezogenheit dieses Erkenntnisvermögens auf das Gegebene geltend gemacht wird. Der Verstand verfügt dann über

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keine anderen Inhalte als solche, die ihm in letzter Instanz durch Sensation und Reflexion vermittelt sind. Und dieses Gegebene stellt für die Vernunft zugleich eine undurchdringliche Schranke dar, sofern es von der Vernunft weder hervorgebracht noch hinsichtlich seines Gegebenseins in Frage gestellt werden kann, sondern als unhintergehbares Material ihrer Verknüpfungsoperationen hingenommen werden muß. Diese im klassischen Empirismus durch die Restriktion jedweder Erkenntnis auf den Bereich der Erfahrung zur Geltung gebrachte Endlichkeit menschlicher Vernunft ist im Positivismus des späten 19. Jahrhunderts dahingehend untermauert worden, daß paläontologische, völkerpsychologische und biologische Entwicklungstheorien die Vernunft als nichts anderes denn als ein zum Uberleben erforderliches und zu diesem Zweck vervollkommnetes Organ der G a t t u n g homo sapiens nachgewiesen haben. Bei der entgegengesetzten Grundrichtung neuzeitlicher Erkenntnistheorie fallen jene Argumente für die Endlichkeit menschlicher Vernunft kaum ins Gewicht. Für Leibniz ist das Gegebene keine echte Grenze des Erkennens, da es sich hierbei in Wahrheit nicht um einen passiv rezipierten und von der Vernunft hinsichtlich seiner Bestimmtheit deshalb schlechterdings hinzunehmenden Bewußtseinsinhalt handelt, sondern u m eine grundsätzlich aktiv erzeugte Perzeption, die lediglich aufgrund ihrer Undeutlichkeit und Unmerklichkeit in ihrem Erzeugtsein nicht apperzipiert wird. Die Vernunft erweist ihre wirklichkeitserschließende Kraft gerade darin, daß sie bei keiner verworrenen und darum als gegeben erscheinenden Perzeption stehen bleibt, sondern die Sphäre ihrer deutlichen Ideen mehr und mehr ausweitet. In dieser sukzessiven Annäherung des Wissens an ein System distinkter Individualbegriffe mit Bezug auf alle Gegenstände des Universums erweist die menschliche Vernunft ihre Verwandtschaft mit dem göttlichen Verstand. Diese im klassischen Rationalismus als Befähigung zur mathematisch exakten Erfassung des Universums artikulierte Göttlichkeit menschlicher Vernunft hat dann bekanntlich im Deutschen Idealismus des frühen 19. Jahrhunderts unter den verschiedensten Titeln wie Wissenschaftslehre, Identitätsphilosophie oder Philosophie des absoluten Geistes ihre spekulativ unüberbietbare systematische Ausgestaltung erfahren. Entscheidend an Hirschs Portrait der erkenntnistheoretischen Situation der Neuzeit ist nun nicht so sehr, daß es in gedanklich präziser Form und in darstellerisch bewundernswerter Knappheit die wesentlichen Grundstellungen zusammenfaßt, sondern vielmehr dies, daß es den alternativen Charakter zwischen beiden problemgeschichtlichen Entwicklungssträngen in seiner ganzen Fundamentalität und Schärfe herausstellt. "Am Rätsel des Verhältnisses von Vernunft und Gegebnem ... entzünden sich die Gegensätze von Rationalismus und Empirismus, von Idealismus

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und Positivismus, samt allen ihren Spielarten, Ableitungen, und Vermittlungen" (Lf §45.M.l.). Diese perspektivische Sichtung der neuzeitlichen Erkenntnistheorie a m Leitfaden der alternativen Stellungnahmen zur Frage der Zweistämmigkeit der Erkenntniskonstitution erweist sich sowohl problemgeschichtlich als auch sachlich als angemessen. Das wichtigste Ergebnis einer solchen schematisierenden Einteilung erkenntnistheoretischer Grundpositionen - in eine empiristisch-positivistische und eine rationalistisch-idealistische Richtung - besteht weniger im Aufweis der Pluralität möglicher Begründungsmodelle von Wahrheitserkenntnis als vielmehr darin, daß die Begriffe Vernunft und Gegebenes, welche einer Definition des Begriffs der Wahrheitserkenntnis immer schon zugrunde liegen, selber in ihrer Vieldeutigkeit zutage treten. Die Vernunft kann hinsichtlich der prinzipiellen Reichweite ihrer Wirklichkeitserschließenden Kraft ebensowohl als unbegrenztes wie als begrenztes Erkenntnisvermögen aufgefaßt werden. Und das empirisch Gegebene kann in Entsprechung dazu entweder als das grundsätzlich Unbestimmte und lediglich Bestimmbare oder als das der Bestimmung zwar Fähige, inhaltlich aber bereits an ihm selbst Qualifizierte angesehen werden. Eine Beseitigung dieser Uneindeutigkeit kann immer nur im Rahmen einer jeweils bestimmten erkenntnistheoretischen Option erfolgen. Aber gerade eine solche vermeintliche Lösung - und darin besteht nun die Pointe des Hirschschen Ansatzes - wird der tatsächlich vorhandenen Problemmannigfaltigkeit nicht im entferntesten gerecht. Entscheidend für Hirsch ist, daß die erkenntnistheoretische Vieldeutigkeit der Begriffe "Vernunft" und "Gegebenes" weit über den Umkreis der fachlich betriebenen erkenntnistheoretischen Reflexion hinausreicht und sowohl die Arbeitsweise als auch das Selbstverständnis neuzeitlicher Wissenschaft durchgängig bestimmt.

a) Die Dialektik der neuzeitlichen Wissenschaft Für den realen Vernunftgebrauch neuzeitlicher Wissenschaft ist zunächst charakteristisch, daß er nicht mehr wie die mittelalterliche Wissenschaft mit der begrifflichen Abstraktion einsetzt, u m sich in der schlußlogischen Darstellung und Ordnung so erzeugten Wissens gedanklich zu vollenden, sondern daß er sein Augenmerk vorrangig auf die Aufstellung überprüfbarer Regeln zur planmäßigen Gewinnung neuer Erkenntnisse richtet. "Die Vernunft der neuen abendländischen Wissenschaft ist nicht mehr syllogistisch, sondern methodisch, d.h. durch zweckmäßige Anpassung von Formen und Verfahren an das jeweils zu erkennende Wirklichkeitsgebiet die Wirklichkeitszusammenhänge in sich nachbildend und dadurch erfassend" ( C h R I, 164). Damit hängt zusammen, daß sich die neuzeitliche Vernunft in erster Linie als fachwissenschaftliche Vernunft ver-

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steht, die allen in sich vollendeten apriorischen Wissenssystemen skeptisch, mißtrauisch bis gleichgültig, gegenübersteht und das jenen Vernunftsystemen innewohnende Letztbegründungs- und Totalitätsinteresse eher als Motor eines in sich unendlichen Prozesses empirischen Wissenwollens zur Geltung bringt. Die Vernunft der neuzeitlichen positiven Wissenschaft ist gekennzeichnet durch den "unbedingten Entschluß zur Forschung über jede bestimmte Grenze vorhandener Erkenntnis hinaus" ( C h R I, 166). Beide Momente zusammengenommen, die anpassungsfähige Methodenrationalität und die vernunftmotivierte Forschungsprozessualität, sind in ihrer Anwendung - jedenfalls von vornherein - keineswegs auf bestimmte Wissensgebiete beschränkt, sondern verleihen vielmehr allen Bereichen neuzeitlichen Wirklichkeitsverständnisses eine Dynamik von kaum zu überschätzender Bedeutung. "Der Wille der forschenden Vernunft, das Gegebne zu erkennen, hat uns eine Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft errungen, die die Tatsachen der gegebnen Wirklichkeit in möglichst großem Umfang scharf und genau erfassen und in die sie bedingenden großen Zusammenhänge einordnen" ( C h R I, 164). Die "Entzauberung" subjektiver Wirklichkeitsdeutung und Sinnerfahrung ist die unvermeidliche Kehrseite dieses neuzeitlichen Ideals einer in sich unbegrenzten Forschungsrationalität. "Als Tatsachenzusammenhang, der erkannt und beherrscht wird, ist die Wirklichkeit so der Willkür wie des Geheimnisses entkleidet, aber auch von einer Unerbittlichkeit der in sich verketteten Wechselbedingtheit alles Einzelnen" (ebd.). Aber so erkenntnistheoretisch problemlos, wie sie sich gibt, ist diese als rein fachwissenschaftliche Forschungsrationalität auftretende und das Selbstverständnis der meisten Einzeldisziplinen prägende "sogenannte wissenschaftliche Weltanschauung" (ChR I, 166) keineswegs. Denn was ist "das Gegebene", worauf sich die empirischen Methoden neuzeitlicher Wissenschaft richten? Worin besteht "die Vernunft", deren sie sich als forschende bedient? "Das Gegebne ist zunächst das naiv Gegebne; aber der den Zweifel handhabende forschende Geist löst dies auf, u m zu dem wahrhaft Gegebnen, dem dem Zweifel und der Forschung sich zeigenden und standhaltenden Gegebnen vorzudringen. Die Vernunft ist zunächst das, was jeder so denkt, das Geltende, Anerkannte. Aber die Vernunft kann sich nicht als autonom verstehn, ohne daß sie durch es vordringt ... zu dem Giltigen, dem, was anerkannt werden soll, dem wahrhaft Vernünftigen" ( C h R I, 164). Bezüglich des faktischen Verfahrens des empirischen Verstandesgebrauchs in den positiven Wissenschaften zeigt sich also ein ähnliches Dilemma wie auf der grundsätzlichen Ebene der erkenntnistheoretischen Reflexion. "Die Worte 'Vernunft' und 'Gegebnes' erweisen sich beide als doppelsinnig" (ebd.). Das prinzipielle Gewicht dieser Aporetik

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wird von Hirsch anhand beider Begriffe näher erläutert, und zwar jeweils in zweifacher Hinsicht. Zunächst also zur Frage nach dem Sinn des Ausdrucks "Gegebenes" im Horizont neuzeitlicher Wissenschaftspraxis. Erkenntnis des Gegebenen im Bereich der empirischen Forschung "ist einerseits allein da vorhanden, wo der unersättliche Erforschungs- und Erkenntnisdrang auf das Gegebne sich richtet mit dem Willen zur Wahrheit; sie f ü h r t andrerseits unentrinnlich zu der Einsicht, daß das Gegebne das Hineinragen eines Geheimnisses in unser Dasein ist und wir wohl an und in diesem Geheimnis erkennen, nicht aber dies Geheimnis selbst. Diese Einsicht hat sich durchgesetzt im steten Zerbrechen von Versuchen, das Letzte a m Gegebnen zu bestimmen" ( C h R I, 164). Dies bedeutet aber, daß gerade unter Zugrundelegung des der empirischen Forschung selber innewohnenden Erkenntnisideals nämlich jedweden Zweifel erst dann zu verabschieden, wenn sich ein wiederholten Untersuchungen gegenüber standhaltendes wahrhaft Gegebenes zeigt - empirische Erkenntnis immer mit einer grundsätzlichen Opakheit behaftet bleibt, sofern sich nämlich die Bestimmung des Letzten am Gegebenen entweder als von den Fragehinsichten der Theorie oder von den Zugangsweisen der Datengewinnung abhängig erweist. W ü r d e aber eine Klärung des "Letzten" am Gegebenen von vornherein ausdrücklich als undurchführbar eingeräumt, dann h ä t t e sich empirische Forschung bereits vom Ansatz her von der Konzentration auf die Wahrnehmung und das Gegebene als Gegebenes suspendiert. Empirische Forschung befindet sich somit gerade aufgrund und bezüglich ihrer programmatischen Selbstverpflichtung auf das Gegebene in einer immanenten "Dialektik von Erkennbarkeit und Unerkennbarkeit" (ChR I, 164; Hhg.v.Vf.). Eine vergleichbare Opakheit in Bezug auf das Gegebene liegt vor im Falle der fachwissenschaftlichen Verstandeserkenntnis. "Deren Giltigkeit hängt daran, daß sie aus einem größeren Erfahrungskreis richtig ausgegrenzt worden ist als ein bedingt in sich abgeschlossenes Ganzes. In dem Augenblick, in welchem aus dem größeren Kreis Einwirkungen auf den ausgegrenzten Bereich geschehen, wird die auf diesen gehende einzelne Verstandeserkenntnis unbrauchbar. Die Aussagen ändern sich, werden zu bedingt giltigen Erkenntnissen" (HchR 8f). Das heißt, die Exaktheit positiver Verstandeserkenntnis beruht darauf, daß von dem Verweisungszusammenhang des untersuchten empirischen Phänomens abstrahiert werden kann; jedenfalls aber müssen die nicht abstrahierbaren Bezüge als unwesentlich und insofern vernachlässigbar eingestuft werden können. Die Steigerung der Exaktheit empirischer Erkenntnisse hat somit notwendigerweise die Ausblendung oder Verminderung des systematischen Wissens u m deren wechselseitiges Verhältnis zur Folge. "Je lichter die bestimmte Erkenntnis wird, u m so rätselhafter wird das Ganze. Das Geheimnis, das

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aus dem Einzelnen und Einzelzusammenhang weicht, schwebt als Wolke um das Ganze" ( C h R I, 164). Die Opakheit des empirischen Verstandesgebrauchs nach seiner Bezogenheit auf das Gegebene äußert sich also zum einen in der unhintergehbaren Dialektik von Erkennbarkeit und Nichterkennbarkeit des Letzten am Gegebenen und zum andern in der ebenso unvermeidbaren Dialektik von Exaktheit und Systematizität hinsichtlich der Bestimmtheit einer empirischen Einzelerkenntnis. Was bedeutet demgegenüber "Vernunft" im Horizont neuzeitlicher Wissenschaftspraxis? Die fachwissenschaftliche Vernunft vollstreckt die ihr eigene, in der Unendlichkeit des Forschungsprozesses zum Tragen kommende Unbedingtheit in der Weise, daß sie unter souveräner Handhabung des methodischen Zweifels die Methoden der Wirklichkeitserfassung in grundsätzlicher Unabhängigkeit von der Eigenbestimmtheit der Gegenstandssphäre ausschließlich nach Maßgabe ihrer Bewährung planmäßig zur Anwendung bringt. Es ist unter solchen Voraussetzungen nurmehr folgerichtig, daß sie in eben derselben Weise auch sich selbst zum Gegenstand ihrer Forschungsbemühungen gemacht hat. Für das Selbstverständnis der fachwissenschaftlichen Vernunft hat sich damit folgende Lage ergeben: "Sie ist sich in dieser ihrer Art einerseits ihrer besonderen Wahrheitsund Erkenntnismacht durch zahllose Leistungen bewußt geworden; sie hat andrerseits gelernt, sich in ihrer physiologischen und psychologischen Bedingtheit durch das Daseinsgesetz der mit der Wirklichkeit verflochtenen menschlichen G a t t u n g zu sehen, d.h. als rein menschliches Organ zu verstehn" ( C h R I, 164f). Das bedeutet aber, daß die "menschliche Vernunft ... sich ... selber ein Rätsel [wird]: sie hat kein Maß für sich". Der jenen Gegensatz artikulierende "Zwiespalt ... zwischen anthropologischer Erkenntnislehre und absoluter Erkenntnislehre" (ChR I, 165) ist die konsequente Folgeerscheinung der Einbeziehung der Selbstthematisierung und Selbstaufklärung in die Forschungsrationalität fachwissenschaftlicher Vern u n f t , welche sich nicht mehr auf das Feld erkenntnistheoretischer Geltungsreflexion eingrenzen lassen. Diese Opakheit im Selbstverhältnis der fachwissenschaftlichen Vernunft könnte man in strenger Parallele zur Dialektik von Erkennbarkeit und Unerkennbarkeit bezüglich des Gegebenen deshalb auch bezeichnen als eine Dialektik von Seinsmächtigkeit und Seinsbedingtheit der Vernunft. Aber dies ist nicht ihre einzige Opakheit. Oben war bereits davon die Rede, daß die Inanspruchnahme von Vernunft mehr beinhaltet als die Anerkennung des bloß konventionell Geltenden, nämlich den Verweis auf das unbedingt und wahrhaft Gültige, welches jedermann gegen das bloße Meinen angemutet werden kann. An dieser Stelle setzt nun Hirschs zweite Anfrage an das Selbstverständnis der sich ausschließlich im erfahrungsbezogenen Verstandesgebrauch wiedererkennenden fachwissenschaftlichen

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Vernunft an. "Unter welcher Voraussetzung ... kann von einer das Ganze der Erfahrungswelt umfassenden Verstandeserkenntnis gesagt werden, daß sie unbedingt giltig sei? Allein unter der, daß jenseits der Welt der Erfahrung das schlechthinnige Nichts sei, daß man also die gesamten Bedingungen, unter denen diese umfassende Verstandeserkenntnis stehe, in der Hand habe. ... Man setzt das vom Verstände durchdrungene Erfahrungsganze oder die das Erfahrungsganze umfassende Verstandeserkenntnis als selber das Unbedingte seiend" (HchR 9f). Damit vollzieht die auf die Welt der Erfahrung gerichtete und bezüglich ihrer sich ihrer unbedingten Gültigkeit vergewissernde wissenschaftliche Verstandeserkenntnis aber offenkundig eine "grenzüberschreitende Aussage, welche die Verstandeserkenntnis von einem höheren, nicht mehr ihr zugehörigen Gesichtspunkt aus umgreift" (HchR 9). Hirsch hebt dieses Problem deshalb hervor, um die Meinung zu destruieren, eine Überschreitung der Grenzen des Verstandesgebrauchs sei vermeidbar, wenn dieser sich nur strikt auf den Bereich der Erfahrung beschränke. Umgekehrt ist vielmehr gerade der Totalitätsanspruch rein erfahrungsbezogener, positiver Wissenschaftlichkeit ein "Zeugnis dafür, daß unserm Denken die Überschreitung der Grenzen der Verstandeserkenntnis unentrinnlich ist" (HchR 10). Der sich selbst verabsolutierende Empirismus stellt nicht weniger als der metaphysische Dogmatismus eine Grenzüberschreitung des Denkens dar. Man kann diese Opakheit im Selbstverständnis empirischer Verstandeserkenntnis in Parallele zur Dialektik von Exaktheit und systematischer Bestimmtheit am Gegebenen als Dialektik von Letztgültigkeit und Grenzüberschreitung der Vernunft bezeichnen. Fassen wir das bislang erzielte Ergebnis zusammen. Im Hinblick auf das methodische Selbstverständnis neuzeitlicher Wissenschaftspraxis zeigt sich, daß der empirische Verstandesgebrauch an forschungslogisch zentralen Strukturmomenten mit eigentümlichen Opakheiten behaftet ist. So fanden sich zunächst im Hinblick auf dessen Verankertsein im Gegebenen der kontingenten Wahrnehmung zwei dialektische Phänomene, die Dialektik von Erkennbarkeit und Nichterkennbarkeit der Letztheit am Gegebenen sowie die Dialektik von Exaktheit und Systematizität empirischer Bestimmtheit. Sodann wies dieselbe fachwissenschaftliche Forschungsrationalität, nun allerdings bezüglich ihres Vernunftgehaltes und ihrer methodischen Erschließungskraft, zwei weitere dialektische Phänomene auf, nämlich die Dialektik von Seinsmächtigkeit und Seinsgebundenheit und die Dialektik von Letztgültigkeit und Grenzüberschreitung. Beide Paare dialektischer Fundamentalmerkmale resultieren daraus, daß der methodische Zweifel und das empirische Forschen mit dem Gebrauch der Vernunft und dem Rekurs auf das Gegebene keine eindeutigen Instanzen für sich in Anspruch nehmen. Methodische Forschung realisiert sich allein im steti-

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gen Übergang vom naiv Gegebenen zum wahrhaft Gegebenen bzw. vom als geltend Anerkannten zum wahrhaft Gültigen. Hirsch kann das Ergebnis seiner Analyse nicht der Logik, sondern der Dialektik der Forschung deshalb in die These zusammenfassen, daß "das wissenschaftlich Erkannte" - im Sinne des empirischen Verstandesgebrauchs - "immer Tatsache oder Tatsachenzusammenhang nach der Dialektik von Vernunft und Gegebnem ist" (ChR I, 166). Auf die Forschungspraxis der positiven Wissenschaften trifft somit dasselbe zu, was bereits im Hinblick auf die erkenntnistheoretische Situation der Neuzeit im Ansatz deutlich wurde, nämlich daß "die Voraussetzungen, unter denen allein dem den Zweifel handhabenden autonomen Denken Wahrheit eigen sein kann, nämlich das Stillestehn des Zweifels vor dem echten Gegebnen und die Bindung der Autonomie in der echten Vernunft, nicht eindeutig sind, sondern Fragen und Schwierigkeiten in sich bergen" ( C h R I, 164). Die neuzeitlichen Fachwissenschaften haben es im sich Abarbeiten an den Folgephänomenen ihrer eigenen strukturellen Opakheiten gleichsam prozeßhaft und auf unbewußte Weise mit eben derjenigen Dialektik zu tun, die inhaltlich distinkt und methodisch reflektiert die gesamte erkenntnistheoretische Debatte der Neuzeit bestimmt und in der Alternative von Empirismus/Positivismus einerseits und Rationalismus/Idealismus andererseits exemplarisch ausformuliert worden sind. Die vier Gestalten der Dialektik empirischer Verstandeserkenntnis sind nichts anderes als die realwissenschaftlichen Varianten des erkenntnistheoretischen Grundproblems par excellence, nämlich der Zuordnung von Gegebenem und Vernunft. Das "Rätsel des Verhältnisses von Vernunft und Gegebnem" (Lf §45.M.l.) bildet das Zentrum aller erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten des neuzeitlichen Wahrheitsbewußtseins, sei es, daß es latent das Selbstverständnis fachwissenschaftlicher Rationalität reguliert, sei es, daß es durch die Philosophie ausdrücklich als solches thematisiert wird. Die "Unauflöslichkeit dieses Rätsels" selbst für letztere zeugt von der "Gewalt dieses Rätsels über unsre Reflexion" (Lf §45.B.).

b) Hirschs Deutung der Zweiquellentheorie Kants Hirschs Verhältnis zur Philosophie Kants ist getragen vom Bewußtsein der epochalen Stellung dieses Denkens innerhalb des Gesamtverlaufs der abendländischen Geistesgeschichte. "Noch heute unterscheiden wir in der Geschichte der neuern Wissenschaft und Philosophie die vorkantische und die nachkantische Zeit" (GneTh IV, 272). Die klassische Bedeutung Kants liegt für Hirsch bezüglich der praktischen Philosophie in der Entdeckung des Freiheitsproblems, bezüglich des Bereichs der theoretischen

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Philosophie in der E n t d e c k u n g des t r a n s z e n d e n t a l e n Gedankens. Im Hinblick auf letzteren urteilt Hirsch: " M a n kann an den B e o b a c h t u n g e n u n d Urteilen K a n t s da im Einzelnen gewiß viel verbessern, zugleich vorsichtiger u n d genauer in der B e s t i m m u n g der verknüpfenden F o r m e n u n d der letzten sie t r a g e n d e n Einheit sein, auch über die psychologisch-historische E n t s t e h u n g u n d A b w a n d l u n g dieser Erkenntisformen seine B e m e r k u n g e n m a c h e n . Das ändert nichts daran, daß die Grundeinsichten K a n t s in der t r a n s z e n d e n t a l e n Ästhetik u n d Analytik eine zwingende K r a f t ausüben, welcher selbst h e u t e der e r n s t h a f t e r Denkarbeit Fähige sich n u r schwer entziehen k a n n " ( G n e T h IV, 277). W o d u r c h Hirschs Verständnis der Erkenntnistheorie K a n t s b e s t i m m t ist, wird an einem k n a p p e n P o r t r a i t derselben bereits in den f r ü h e n Idealismus-Vorlesungen deutlich: "Kant h a t gezeigt, daß das, was wir Wirklichkeit nennen, schon ganz und gar d u r c h d r u n g e n ist von einer gewaltigen Leistung des Erkennens: alles, was an ihr Einheit, Gestalt u n d Gesetz ist, ist b e g r ü n d e t in ursprünglichen Akten geistiger V e r k n ü p f u n g , die zurückg e f ü h r t werden müssen auf eine letzte Einheit des erkennenden Geistes selbst. Der ' Gegenstand' ist nichts andres als gesetzlich notwendiger Zusammenhang, als Synthesis a priori, u n d h a t als solche seinen G r u n d in der ursprünglichen Einheit, die uns im Icherlebnis z u m Bewußtsein k o m m t " ( I C h 44; Hhg.v.Vf.). Diese Äußerung zeigt, daß K a n t s t r a n s z e n d e n t a l e Analytik f ü r Hirsch in erster Linie eine Theorie der O b j e k t i v i t ä t bzw. eine Theorie der K o n s t i t u t i o n von O b j e k t b e w u ß t s e i n darstellt. Die in der t r a n s z e n d e n t a l e n Ästhetik entfaltete u n d in der Analytik b e g r ü n d e t e Restriktionsthese bezüglich der Reichweite möglicher E r k e n n t nis, die d a n n in der t r a n s z e n d e n t a l e n Dialektik zu einer u m f a s s e n d e n Des t r u k t i o n der abendländischen Metaphysik f ü h r t , gehört f ü r Hirsch zu den großen Einsichten K a n t s . In einer A n m e r k u n g zu d e m 1922/23 erschienenen Aufsatz "Das Gericht Gottes" heißt es: "Daß mir die letzte Einheit immer n u r als in einem Grenz- oder Zielbegriff, nie als in einer geistigen A n s c h a u u n g faßlich gilt, darin liegt mein J a zu einer vom Idealismus weggestoßnen Seite der kantischen Erkenntnislehre" (SchS 130). Beide Grundeinsichten der theoretischen Philosophie K a n t s , die Beg r ü n d u n g von O b j e k t i v i t ä t ebenso wie deren Restriktion auf den Bereich möglicher E r f a h r u n g , h a b e n ihren systematischen U r s p r u n g in K a n t s Fassung der Zweiquellentheorie. In ihr sieht Hirsch die eigentliche Intention dieser Erkenntnistheorie z u m Ausdruck gebracht. Deren P o i n t e wird folgendermaßen b e s t i m m t : "Die Doppelheit von Vernunft u n d Gegebnem in ihrer In- u n d Aufeinanderbeziehung t r i t t in der Erkenntnisanalyse K a n t s allenthalben als ein in letzter Instanz nicht Auflösliches hervor". Diese kritizistische T h e s e bildet f ü r Hirsch das schlechterdings u n ü b e r b i e t b a r e K r i t e r i u m erkenntnistheoretischer P r o b l e m b e w u ß t h e i t . "Die Frage nach

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der Wahrheit kann nicht beantwortet werden, ohne daß sie diesem Fragmal steht" ( C h R I, 164). Damit ist zugleich gesagt, daß Hirsch in der Transzendentalphilosophie Kants die grundsätzlichste Behandlung der zwischen Rationalismus und Empirismus strittigen Frage des Verhältnisses von Vernunft und Gegebenem bzw. Verstand und Sinnlichkeit erblickt hat. Man wird Hirschs Aufweis der Dialektik des Wahrheitsbewußtseins und seinen Begriff der Antinomie kaum angemessen würdigen können, wenn m a n sich nicht vor Augen hält, für wie epochemachend Hirsch Kants Zuspitzung des Problems der Zweistämmigkeit der Erkenntniskonstitution - im Vergleich zur Locke-Leibniz-Kontroverse - erachtet hat. Hirsch sieht Kants These von der Nichtableitbarkeit der Einheit und Duplizität des Bewußtseins zwiefach begründet. Das erste Argument hegt für ihn in der von Kant dargelegten Notwendigkeit sowohl der Kooperation als auch der Diversität der beiden kognitiven Elementarfunktionen (vgl. ChR I, 165). Dieses Argument zerfällt in zwei Teilargumente. Deren erstes betrifft die Notwendigkeit des Kooperationsverhältnisses. "Für das Ineinander ist entscheidend der Nachweis Kants, daß der synthetische Charakter des erkannten Gegebnen auf eigentümlichen ursprünglichen Erkenntnisformen beruht: alle Synthesis ist im und durch das menschliche Erkenntnisvermögen" (ChR I, 165). Die synthetischapriorische Regelverknüpftheit von Vorstellungen, welche Objektbewußtsein konstituiert, verdankt sich den Kategorien. Diese basieren als Formen des Verbindens auf der Spontaneität des Verstandes. Das zweite Teilargument betrifft nach Hirsch die notwendige Diversität der beiden Stämme. "Das Auseinander ... geht daraus hervor, daß jede Erkenntnisanalyse auf die beiden äußersten Pole der reinen Faktizität und der reinen Synthesis stößt, deren Verschmelzung im Erkenntnisakt ein Undurchdringliches bleibt" (ebd.). Die Gegebenheit des Mannigfaltigen der Anschauung und die Verbindungsfunktion des Verstandes sind von prinzipieller Heterogenität. Letztere findet ihren komprimierten Ausdruck in Kants Begriff der objektiven Gültigkeit von Erkenntnis. Diese ist nicht schon dann gegeben, wenn die invarianten Strukturmerkmale von Sinnlichkeit und Verstand miteinander verschränkt werden, sondern allererst da, wo jene beiden in ihrer Verschränkung Anwendung finden auf kontingente Wahrnehmung. Ohne die Anwendung auf faktizitäre Erfahrung ist die reine Synthesis des Verstandes, selbst wenn deren Formen reine sinnliche Schemate unterlegt werden, ohne Sinn und Bedeutung, d.h. ohne gegenstandsbestimmende Relevanz. Gerade aber die diesem Anwendungsverhältnis zugrundehegende Gemäßheit von reiner und empirischer Synthesis sowie die hierbei vorausgesetzte Affektion des inneren Sinnes durch den Verstand können nicht mehr aus einem Einheitsgrund deduziert werden.

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In diesem Zugleich von notwendiger Kooperation und notwendiger Diversität der beiden Erkenntnisstämme zeigt sich aber noch ein weiteres. Und damit wären wir bei dem zweiten der von Hirsch herauspräparierten Argumente. "Das Gegebne ist so nur für die auffassende Vernunft .... Die Vernunft ist so nur kraft der Bedingtheit durch das Gegebne" (ChR I, 165; Hhg.v.Vf.). Die Bestimmtheit der Anschauung, bloßes Hinnehmen eines unverbundenen Mannigfaltigen sowie alleinige Instanz unmittelbaren Bezogenseins auf Erscheinungen zu sein, und die Bestimmtheit des Denkens, alleiniger Ursprung der Verbindung von Vorstellungen und nur durch solche Verbindung eines gegebenen Mannigfaltigen überhaupt auf Erscheinungen bezogen zu sein, bestimmen sich wechselseitig. Aus dem Nachweis sowohl der Notwendigkeit wie der Kontingenz der Kooperation im Hinblick auf die Konstitution von Objektivität folgt deren beider Wechselbestimmtheit als Elementarfunktionen des Bewußtseins. Hierin liegt für Hirsch auch die eigentliche Ursache der Nichterkennbarkeit der Einheit der Subjektivität. "Es ist unmöglich, aus diesem Zirkel der Wechselbestimmung herauszukommen auf einen nicht von ihm bedingten Grund" (ChR I, 165). Die Nichterkennbarkeit des einheitsstiftenden Grundes des Bewußtseins und die funktionale Wechselbestimmtheit der beiden kognitiven Elementarfunktionen des Bewußtseins korrespondieren miteinander. Wenn Hirsch die Doppelheit der beiden Erkenntnisstämme in ihrer In- und Aufeinanderbeziehung bei Kant als ein "in letzter Instanz nicht Auflösliches" (ChR I, 164) bezeichnet, so trifft er damit den genuin transzendentalphilosophischen Sinn der Zweiquellentheorie, wie er aus Kants transzendentaler Deduktion der Kategorien hervorgeht. Die Genauigkeit des Kantverständnisses Hirschs zeigt sich u.a. daran, daß er - gegen eine breite Tradition von Kantauslegern 2 8 die Pointe von Kants Zweiquellentheorie gerade in dieser Nichterkennbarkeit der Einheit und damit zugleich der Unhintergehbarkeit der Duplizität von Verstand und Sinnlichkeit liegen sah. Während man dort das von Kant erwähnte "vielleicht" (KdrV A 15/B 29) einer gemeinschaftlichen Wurzel jener beiden kognitiven Elementarfunktionen zum Anlaß einer Korrektur oder Uberbietung nahm, weist Hirsch - in exakter Übereinstimmung mit Kants Intention - darauf 28

Vgl. H. VAIHINGER: Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft I, 485-489. - Hirschs Vertrautheit mit der theoretischen Philosophie Kants kommt nicht von ungefähr. Sein philosophischer Lehrer an der Berliner Universität war A. Riehl, der Verfasser eines der bedeutendsten Kant-Bücher, nicht nur des Neukantianismus, sondern der Kant-Forschung überhaupt. Riehls pointiert gegenstandstheoretisches Kant-Verständnis bestimmte Hirsch über den bildungsgeschichtlich-biographischen Zusammenhang hinaus auch noch einmal mittelbar, nämlich in Gestalt der Kant-Deutung des Riehl-Schülers F. BRUNSTÄD (Die Idee der Religion, 90107), auf die Hirsch im Idealismus-Buch von 1926 explizit rekurriert (vgl. ICh 44 Anm. 1).

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hin, daß das Beweisziel der Transzendentalphilosophie nicht zuletzt im Nachweis der Unauflöslichkeit jenes bewußtseinstheoretischen Grundproblems liegt. Als Fazit des Durchgangs durch die erkenntnistheoretische Alternative Rationalismus/Empirismus, die immanente Dialektik neuzeitlicher Wissenschaftspraxis und die transzendentalphilosophische Begründung von Gegenstandsbewußtsein ergibt sich für Hirsch folgender Befund: "Die Frage nach der Wahrheitsmacht unserer Erkenntnis ist ... nicht durch eine Verhältnisbestimmung von Vernunft und Gegebnem zu lösen" ( C h R I, 165). Die problemgeschichtliche Sichtung der Modelle möglicher Zuordnung von Vernunft und Gegebenem endet in einer Aporie, aber in einer solchen - und das ist das Entscheidende deren Unvermeidlichkeit mit Gründen eingesehen ist. Von dieser Aporetik ist aber unweigerlich auch das an der Zweiquellentheorie orientierte Wahrheitskriterium betroffen. Besagt das Kriterium für das Vorliegen von Wahrheitserkenntnis, daß Wahrheit dort erkannt wird, wo Gegebenes der Vernunft erschlossen ist bzw. wo Vernunft Gegebenes durchdringt, dann leistet dieses Kriterium angesichts jener Opakheit der Zweistämmigkeit gerade das nicht, was es leisten soll, nämlich im Einzelfall eine Entscheidung über das Vorliegen oder Nichtvorliegen von Wahrheitserkenntnis zu ermöglichen. Wie verhält sich Hirsch zu dieser aporetischen Situation? Man würde zunächst vermuten, daß er sich genötigt sähe, eine eigene Erkenntnistheorie zu entfalten, welche den genannten Schwierigkeiten Rechnung trägt und die wichtigsten Fragen in Form eines selbständigen Theorieprogramms einer Beantwortung zuführt, also etwa in Gestalt einer Theorie der Gegenstandskonstitution oder einer Theorie der Erkenntniskonstitution. Hirsch hat dies nicht getan, weil er mit einem solchen Verhalten in krassen Gegensatz geraten wäre zu seiner geschichtsphilosophisch-theologischen Grundeinstellung, wonach die Theologie ihre Inhalte unter den unausweichlich gegebenen Bedingungen des Wahrheitsbewußtseins einer Epoche zu explizieren h a t . Jede Lösung an der Breite der tatsächlichen Problemlage und der Mannigfaltigkeit der ihr Rechnung tragenden Theoriemodelle vorbei - sei es in Form der konsequenten Problemreduktion, sei es in Form der generalisierenden Uberbietung - wäre für ihn möglicherweise als gedanklich überzeugende Leistung zu beurteilen, würde im Hinblick auf die gesellschaftlich-geschichtlichen Lebensbedingungen von Christent u m , Theologie und Kirche in der Neuzeit jedoch kaum mehr als eine private Angelegenheit darstellen. Anschlußfähigkeit an das Problemniveau des allgemeinen Wahrheitsbewußtseins bzw. vernünftige Allgemeinheit - Grundanliegen theologischer Apologetik seit ihren Anfängen - wäre damit noch keineswegs erreicht, auch wenn es solchen Theorieentwürfen gelänge, als Gruppenideologie eines intellektuell abgeschotteten Kirchen-

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turns zu reüssieren. Der Theologie bleibt nach Hirsch wie auf allen andern Feldern des Wissens so auch auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie keine andere Möglichkeit, als sich der schrankenlosen Allgemeinheit und vielfarbigen Pluralität des humanen Wahrheitsbewußtseins zu stellen. Da sich in dessen Horizont - bei aller Uneinheitlichkeit und Widersprüchlichkeit - die intellektuellen Standards für wissenschaftliche und lebensweltliche Plausibilität ausbilden, bildet es das Forum, vor dem auch die Diskursfähigkeit der Theologie zu bestehen hat. D a r u m ist die Aporetik der Zuordnung von Vernunft und Gegebenem, wie sie in der Alternative Empirismus/Rationalismus und in der Dialektik neuzeitlicher Forschungspraxis zutage getreten ist und von Kant ihrem Kern nach als unauflösbar nachgewiesen wurde, für Hirsch schlechterdings hinzunehmen: nicht im Sinne eines innertheologischen Axioms, welches theoretisch gesetzt wird, sondern im Sinne einer geschichtsphilosophischen Bedingung, als durch welche bestimmt gegenwärtiges Wahrheitsbewußtsein und somit auch das theologische Bewußtsein sich vorfindet. Die wahrheitstheoretische Grundlegung der Dogmatik hat d a r u m unmittelbar bei jenem erkenntnistheoretischen Dilemma einzusetzen. "Wahrheit ist in der unruhvollen, sich nicht erschöpfenden, alles durchdringenden Bewegung der menschlichen Erkenntnis insofern, als sich das letzte Geheimnis in ihr uns gegenwärtig macht" (ChrR I, 165). Besteht das Kriterium für das Vorliegen von Wahrheitserkenntnis im Sinne der Zweiquellentheorie darin, daß Wahrheit erkannt wird, wo Gegebenes der Vern u n f t erschlossen ist bzw. Vernunft Gegebenes durchdringt, und sind die beiden Terme "Vernunft" und "Gegebenes" selber erkenntnistheoretisch mehrdeutig, dann bleibt es in jedem einzelnen Fall des Erfülltseins des Kriteriums trotz seiner Erfülltheit strittig, welcher kognitiven Konstellation sich diese verdankt. Erkennen ist nur so der Wahrheit mächtig, daß es die sie konstituierenden kognitiven Funktionen in Anspruch nimmt, ohne daß diese bezüglich ihrer Konstitutionsleistung eindeutig bestimmbar wären. "Wo Gegebnes sich erschließt, wo Vernunft Erkenntnis erringt und gestaltet, da ist Wahrheit, aber es bleibt das Geheimnis ihrer eignen Hoheit, daß und wie sie darin gegenwärtig ist" (Lf §45.B.). Es ist genau dieser Sachverhalt der Nichtidentifizierbarkeit des exakten Konstitutionsbeitrags von "Vernunft" und "Gegebenem" hinsichtlich des Erschlossenseins von Wahrheit, den Hirsch mit dem Ausdruck "Dialektik des Wahrheitsbewußtseins" (Lf §45.M.l.) bezeichnet. Diese Dialektik des Wahrheitsbewußtseins ist für das Erkenntnisvermögen endlicher Vernunftwesen schlechterdings fundamental, in dem Sinne, daß "unser ganzes Verhältnis zur Wahrheit in diesem Geheimnis steht" (Lf §45.M.3.). Damit erweist sich das im Horizont der Zweiquellentheorie formulierte Kriterium von Wahrheitserkenntnis als Hinweis auf eine letzte Nichter-

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hellbarkeit des Bezogenseins der Erkenntnis auf Wahrheit bzw. als Indikator der Opakheit des Erscheinens von Wahrheit unter den Formen endlichen Erkennens. Dementsprechend sind auch die beiden oben erwähnten Näherbestimmungen dieses Kriteriums zu interpretieren. Bezüglich der Relation Zweifel/Gegebenes zeigt sich: "Daß Wahrheit nur da erkannt ist, wo Zweifel vor dem Gegebnen stille steht, bedeutet nach seinem eigentlichen Sinn, daß nur in ehrfürchtiger Beziehung auf dies Geheimnis das Erkannte ein Verhältnis zur Wahrheit hat". Und hinsichtlich des Verhältnisses von Autonomie und Vernunft ergibt sich: "daß Wahrheit nur da erkannt ist, wo Autonomie in Vernunft sich bindet, bedeutet nach seinem eigentlichen Sinn, daß nur als Empfangen eines Lebens aus verborgenen Tiefen das Erkennen ein Verhältnis zur Wahrheit hat" (ChR I, 165). Mit seinem im "Leitfaden" erbrachten Nachweis einer internen Dialektik des Wahrheitsbewußtseins hat Hirsch eingelöst, was ihm bereits in der Frühzeit vorschwebte, wenn er nämlich am Ende der Habilitationsschrift - über Fichte hinausgehend - ein "nicht starres, sondern dialektisches Verhältnis zur Wahrheit" (ChG 61 Anm. 10) von der Erkenntnistheorie einforderte. Die nun aufgefundene Dialektik des Wahrheitsbewußtseins besteht im Zugleich des Bezogenseins auf Wahrheit und der Nichterhellbarkeit dieses Verhältnisses. Die problemgeschichtlich durchgeführte Konstitutionsanalyse von Erkennen hat zum Ergebnis die prinzipielle Nichtidentifizierbarkeit des Gegenwärtigseins von Wahrheit unter den Bedingungen eines hinsichtlich seiner eigenen Zweistämmigkeit sich selber opaken Bewußtseins. Wahrheit ist nur in der Weise erschlossen, daß sie nach der Art ihres Erschlossenseins zugleich verborgen ist. Darin aber kommt nichts anderes zur Geltung als die Endlichkeit des humanen Wahrheitsbewußtseins.

2. D i e D i a l e k t i k d e s W a h r h e i t s b e w u ß t s e i n s u n d die A b s o l u t h e i t der W a h r h e i t

a) Die Endlichkeit des Wahrheitsbewußtseins Die Frage nach dem Kriterium der Wahrheitserkenntnis hat auf die Dialektik des Wahrheitsbewußtseins geführt. Nun geht es darum, zu klären, was diese für dessen Tätigwerden in der Hervorbringung einer bestimmten Erkenntnis bedeutet. Hirschs diesbezügliche These lautet: "es ist dem menschlichen Denken und Leben wesentlich, in jedem Augenblick des Sichvollziehens sich zur Wahrheit zu verhalten, in ihr zu erkennen,

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aus ihr geistig lebendig zu sein, - aber so, daß sie als der selber nie unmittelbar erscheinende Quell des Denkens und Lebens in keinem einzelnen Akt gefaßt und begriffen werden kann" (Lf §45.B.). Jeder Einzelakt des Erkennens unterliegt der Dialektik des Wahrheitsbewußtseins. In keinem einzelnen Erkenntnisakt wird Wahrheit unmittelbar ergriffen. Jeder Einzelakt des Erkennens restringiert als solcher die Erschlossenheit der Wahrheit. Diese These läßt sich in zweifacher Hinsicht erläutern: einerseits durch den Verweis auf die faktische Komplexität der Manifestation des Wahrheitsbewußtseins in Gestalt der neuzeitlichen Wissenschaften, andererseits im Hinblick auf dessen interne Ausdifferenzierung durch die neuzeitliche Erkenntnistheorie. Hirsch vertritt die Aufassung, daß spätestens seit den wissenschaftsgeschichtlichen Fortschritten des 19. J a h r h u n d e r t s eine echte Entscheidung zwischen den beiden erkenntnistheoretischen Grundpositionen, Rationalismus/Idealismus auf der einen und Empirismus/ Positivismus auf der anderen Seite, nicht mehr durchführbar ist. Die gewaltigen Leistungen auf dem Gebiet der empirisch forschenden, positiven Wissenschaften enthüllen alle Weltkonstruktionen rationalistisch-idealistischer Prägung als Flucht vor der Wirklichkeit. Die Verpflichtung, hypothetische Gedankenmodelle am Gegebenen zu bewähren, ist aus Natur-, Geschichte- und Gesellschaftswissenschaft nicht mehr wegzudenken. Aber das Umgekehrte gilt freilich auch: Durch keinen noch so erfolgreichen Empirismus der Fachwissenschaften ist die Frage der Objektivität von Erkenntnis jemals erweisbar. Der programmatische Rekurs auf das Gegebene ist niemals gegen den Vorwurf gefeit, es in aller Wahrnehmung immer nur mit subjektiven Phänomenen zu t u n zu haben. Es ist die bleibende Grundeinsicht des Rationalismus und Idealismus, die grundsätzliche Unbeantwortbarkeit des Gültigkeitsproblems auf Seiten des Empirismus und Positivismus als dessen prinzipiellen Mangel erkannt zu haben. Hirschs Fazit bezüglich der Komplexität des zwischen Rationalität und Kontingenz oszillierenden Wahrheitsbewußtseins lautet: "die ganze Erkenntnis weit schwebt mitten inne zwischen den beiden Möglichkeiten, das Reich der Wahrheit auf dem Gebiet des Weltbewußtseins und der Wissenschaft und das Reich der zufällig aus den Lebensbedingungen der Menschheit erwachsenen Vorstellungen zu sein. Vielmehr, sie ist die Wirklichkeit beider Möglichkeiten in einem" (ICh 77 Anm. 2). Die Faszination etwa Nietzsches, dessen Denken Hirsch wohl vertraut war, lag für ihn nicht zuletzt darin, daß er in geradezu exemplarischer Weise "Positivist war mit Heimweh nach dem Idealismus" (ICh 37). Man geht kaum fehl, wenn m a n den Dogmengeschichtler Hirsch, dessen lebenslange pedantische fachwissenschaftliche Arbeit von einer ebenso kontinuierlichen Auseinan-

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dersetzung mit dem Deutschen Idealismus, allen voran Fichte, begleitet ist, unter eben dasselbe Prädikat subsumiert. Die obige These von der prinzipiellen Unmöglichkeit, Wahrheit in einem einzelnen Erkenntnisakt zu ergreifen, wäre vor diesem wissenschaftsdiagnostischen Hintergrund dann so zu verstehen, daß die neuzeitliche Erkenntnissituation zu komplex verfaßt ist, als daß sie sich ohne unzulässige Verkürzungen auf rationalistisch-idealistische Vernunftsysteme oder eine rein empirisch-positivistisch verstandene Forschungsrationalität reduzieren ließe. Ein solcher Reduktionismus würde es von vornherein verhindern, der Vielfalt der Probleme nicht nur inhaltlich, sondern auch methodisch gerecht zu werden. Wahrheit ist deshalb in keinem Einzelakt erfaßbar, weil jeder Einzelakt aufgrund der methodischen Partikularität seiner kognitiven Funktion unvollständig ist. Und die Mittelbarkeit des Erscheinens der Wahrheit besteht darin, daß sowohl die fachwissenschaftlichen Strukturierungen des Gegebenen als auch die spekulativen Gedankenkonstruktionen der Vernunft immer nur perspektivische Teilansichten der Wahrheit darstellen. Die Begrenztheit jedes Einzelaktes des Erkennens samt der damit verbundenen Indirektheit aller Wahrheitserkenntnis äußert sich in einer durch die Zweistämmigkeit des Bewußtseins bestimmten, pluralistischen Erkenntnissituation. Hirschs These von der Mittelbarkeit des Erscheinens von Wahrheit und deren Nichterfaßbarkeit in einem einzelnen Erkenntnisakt läßt sich aber auch rein bewußtseinstheoretisch deuten. Hierfür erweist sich ein nochmaliger Rückblick auf die oben referierten Grundpositionen neuzeitlicher Erkenntnistheorie als sinnvoll. Als Beispiel sei die bewußtseinstheoretische Konstitution nichtanalytischer Wahrheit gewählt. Für Locke bestand die Funktion des Verstandes in der Bildung komplexer Ideen, und zwar durch Kombinieren und Zusammenstellen. In beiden Operationen, ebenso wie bei der Abstraktion, verhält sich der Geist aktiv. Die einfachen Ideen indes werden durch Sensation und Reflexion gebildet. Hierbei verhält sich der Geist passiv. Es ist nun entscheidend zu sehen, daß Locke trotz der nachhaltig betonten Passivität unserer Sinne bereits für den Fall der empirischen Wahrnehmung mit dem Hinzutreten eines aktiven Momentes rechnet, nämlich mit dem tätigen Aufmerksamwerden auf einen gegebenen Sinneseindruck. Jedes Wahrnehmungsurteil verdankt sich demnach - ganz abgesehen von der logischen Operation der Urteilsverknüpfung - einer aus Passivität und Aktivität zusammengesetzten Bewußtseinsleistung, die somit niemals einfach sein kann. Leibniz hatte dagegen die vermeintlich rein passiven Sinneseindrücke des Empirismus umgedeutet in verworrene Perzeptionen, hinsichtlich derer der produzierenden Substanz lediglich die eigene Aktivität verborgen bleibt. Ideal der Erkenntnis war für ihn die adäquate intuitive Vorstel-

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lung der Dinge, wie sie in deren jeweiligem Individuenbegriff enthalten ist. Der Weg dahin bestand für Leibniz im strebenden Ubergehen von Perzeption zu Perzeption unter Abnahme von Verworrenheit und gleichzeitiger Zunahme von Distinktheit. Dieses Übergehen der Monade von bereits erzeugter Perzeption zu noch hervorzubringender Perzeption aber weist notwendigerweise eine komplexe Struktur auf. Kant schließlich hat im Zusammenhang des Begriffs der objektiven Realität von Erkenntnis auf die prinzipielle UnVollständigkeit jeder Synthesis a priori hingewiesen, wenn sie sich nicht auf gegebene empirische Wahrnehmung anwenden lasse, aber umgekehrt zugleich hervorgehoben, daß auch die subjektive Synthesis der Wahrnehmung - es mag die ordnende Funktion des rein logischen Verstandes hinzutreten oder nicht - die Objektivität einer Erscheinung nicht zu verbürgen vermag. Apriorische u n d empirische Synthesis müssen zusammentreten, wenn eine Erkenntnis objektive Realität soll haben können. Das Ergebnis lautet also: Jeder nichtanalytische Erkenntnisvollzug, sei es Lockes Wahrnehmungsurteil, Leibniz' Ubergehen von verworreneren zu distinkteren Perzeptionen oder Kants programmatische Verschränkung von kategorialer Synthesis und empirischer Wahrnehmung, steht unter der strukturellen Voraussetzung einer irreduziblen Komplexität. Niemals ist es eine einzelne in sich einfache kognitive Funktion, welche Wahrheit erschließt. Die vom Empirismus/Positivismus als schlechthinnige Schranke aller Verstandesspontaneität geltend gemachte Gegebenheit des Gegebenen und die vom Rationalismus/Idealismus behauptete schlechthinnige Erschließungskraft der Vernunft bezüglich des Gegebenen sind extrapolierte Grenzfälle von funktional komplexen Operationen; im Falle Kants verkörpern sie reine Aufbauelemente eines synthetischen Begriffs des Bewußtseins. Das Wahrheitsbewußtsein in seiner Gegenstandsbestimmtheit konstituierenden Funktion ist nach allen drei Grundmodellen ein in sich notwendigerweise komplex verfaßtes. Es läßt sich kein einzelner in sich einfacher Bewußtseinsakt denken, der nicht hinsichtlich seiner wahrheitserschließenden Funktion strukturell auf komplementäre Operationen bezogen wäre. Jede in sich einfache Operation des Wahrheitsbewußtseins erschließt Wahrheit nur in der Weise, daß sie als Moment eines komplexen Strukturzusammenhangs fungiert. Nach beiden Betrachtungsweisen, der wissenschaftsdiagnostischen und vor allem der bewußtseinstheoretischen, erweist sich sonach die Zweistämmigkeit der Erkenntniskonstitution als ein Brechungsgesetz, welchem das Erscheinen von Wahrheit hinsichtlich seiner Identifizierbarkeit a m Ort ihres zur Erscheinung Kommens unterliegt. Kein Einzelakt des Wahrheitsbewußtseins ist als solcher ein unmittelbares zur Erscheinung Bringen von Wahrheit. Er läßt Wahrheit immer nur so zutage treten, daß er auf an-

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dere Einzelakte des Wahrheitsbewußtseins verweist. Selbstverständlich gibt es empirische und synthetisch-apriorische "Wahrheit"; beide bedingen sich - nach ihrer objektiven Realität betrachtet - jedoch wechselseitig, und dasselbe gilt für die ihnen zugrundehegenden Formen mentaler Aktivität. Aber auch mit Bezug auf den Gesamtzusammenhang jener komplementären Einzelfunktionen, der sich wohl als alleiniger Ermöglichungsgrund von gegenständlicher Bestimmtheit überhaupt nachweisen läßt, ist das Erscheinen von Wahrheit im strikten Sinne nicht identifizierbar, weil nämlich der gemeinsame Ursprung jener kooperierenden Funktionen selber sich begründeter Einsicht entzieht, wodurch der synthetische Ort des Erscheinens von Wahrheit - unbeschadet der strengen Notwendigkeit aller Strukturmomente - seiner letzten Einheit und inneren Ganzheit entbehrt. Aufgrund der Zweistämmigkeit der Erkenntniskonstitution ist jedes Erscheinen von Wahrheit unter den Bedingungen eines so verfaßten Bewußtseins in eine Mannigfaltigkeit von Erscheinungen gebrochen, die durch keinen möglichen Akt dieses Bewußtseins nach ihrem Verhältnis zu deren eigenem Ursprung durchdrungen werden können. Mit dieser aus der strukturellen Verfaßtheit des Wahrheitsbewußtseins resultierenden Unbestimmbarkeit des Verhältnisses zwischen dem Ursprung und den Manifestationen des Erscheinens von Wahrheit kehrt ein altes Problem der klassischen Wahrheitstheorie wieder, wenn auch auf einer höheren Ebene, nämlich das Problem der Adäquation. Stand in der traditionellen Korrespondenztheorie der Wahrheit das Verhältnis der Übereinstimmung zwischen Erkenntnis und Gegenstand zur Debatte, so geht es jetzt u m die Ubereinstimmung von Wahrheitsbewußtsein und Wahrheit. Während die Möglichkeit einer Korrespondenz oder Adäquatheit zwischen Aussage und Gegenstand sich erkenntnistheoretisch jedoch durchaus demonstrieren läßt, und zwar mit ganz unterschiedlichen gedanklichen Modellen, liegen die Dinge im Falle der problematischen Relation zwischen Wahrheitsbewußtsein und Wahrheit wesentlich komplizierter. Das Verhältnis zwischen dem Ursprung und den Manifestationen des Erscheinens von Wahrheit kann erkenntnistheoretisch nicht mehr eingeholt werden. Auf den Ursprung des Erscheinens von Wahrheit kann sich das Wahrheitsbewußtsein nur der Intention nach beziehen, sofern es das ihm als wahr Erscheinende als deren Erscheinung setzt, wobei auch dieses Setzen den epistemischen Gültigkeitsanspruch einer Intention nicht überschreitet. Die Dialektik des Wahrheitsbewußtseins besagt demnach, daß das Erscheinen von Wahrheit am Ort des Wahrheitsbewußtseins von diesem selber nicht verfügt werden kann. "Alles menschliche Wahrheitsbewußtsein hat seine Wahrheit in dem Akte des auf Wahrheit Zielens" und "kann ... nur als auf Wahrheit zielend verstanden werden" ( C h R I, 155). Die Erfülltheit des Wahrheitsanspruchs oder das faktische Vorlie-

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gen einer Korrespondenz zwischen Wahrheit und Wahrheitsbewußtsein ist intendiert, aber nicht herstellbar. Nimmt m a n beide Strukturmerkmale der Dialektik des Wahrheitsbewußtseins zusammen, die Gebrochenheit und Intentionalität seiner Bezogenheit auf Wahrheit, so folgt daraus, daß alle Einzelakte des Wahrheitsbewußtseins auf eine ihnen allen gemeinsam zugrundeliegende Wahrheit ü b e r h a u p t zielen. Der unruhige Prozeß des in sich vielspältigen Vollzugs des Wahrheitsbewußtseins vollzieht sich im Horizont der verborgenen Selbstvergegenwäxtigung von Wahrheit überhaupt. Das bedeutet nicht weniger, als daß "alles einzeln Erkannte ein Verhältnis zu diesem Geheimnis hat und durch dies Verhältnis einem Ganzheitssinn eingegliedert ist" ( C h R I, 165). Was auch immer sich dem Erkennen als wahr erweist, und jeder einzelne Akt desselben, in dem sich solches als wahr erweist, ist Ausdruck einer strukturellen Endlichkeit des Wahrheitsbewußtseins. Letztere besteht genau darin, daß sich in ihm Wahrheit überhaupt manifestiert, aber nur so, daß sie sich am Ort ihres zur Erscheinung Kommens in eine Mannigfaltigkeit bricht und damit als ganze zum Gegenstand einer unerfüllbaren Intention wird. Jeder gesonderte Akt des endlichen Wahrheitsbewußtseins, worin einzelnes Wahres erkannt wird, ist Moment des zur Erscheinung Kommens von Wahrheit überhaupt. Indem das Wahrheitsbewußtsein sich als endliches entdeckt, begreift es sich zugleich als in einen Totalitätshorizont einbezogen, und umgekehrt.

b) Die religionsphilosophische Dimension der Erkenntnistheorie Mit dem Zutagetreten der in der Dialektik des Wahrheitsbewußtseins enthaltenen Korrelation von Endlichkeit und Totalitätshorizont ist für Hirsch "der religiöse Grund alles menschlichen Wahrheitsbewußtseins" (Lf §45.B.) berührt. Das Wahrheitsbewußtsein, welches alles Wahre als Erscheinung der Einen Wahrheit begreift, verleiht damit zugleich aller Wirklichkeitserkenntnis eine verborgene religiöse Dimension. Und die Erkenntnistheorie, indem sie auf den "abstrakt-religiösen Sinn der Frage nach der Wahrheit" ( C h R I, 165) aufmerksam wird, empfängt dementsprechend eine religionsphilosophische Dimension. Beides ist für Hirsch in nichts anderem begründet als darin, daß "Wahrheit im strengsten Sinne" immer "unendliche" (HchR 16) oder "letzte, ewige" (ChR I, 166) Wahrheit ist. Sofern die Begriffe Letztheit, Ewigkeit und Unendlichkeit im Sinne der abendländischen Metaphysik Unbedingtheitsmerkmale repräsentieren, kann Wahrheit überhaupt als Eigenschaft des Unbedingten, nämlich als

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"die ewige Wahrheit des Absoluten" (Lf §46.M.4.), oder sogar als das "Ewige und Göttliche selbst" ( C h R I, 10) aufgefaßt werden. Wird aber eine Gleichsetzung von unbedingter Wahrheit und Unbedingtem schlechthin vollzogen, dann ist es nurmehr konsequent, Gott als den Inbegriff, den Ursprung, die Norm und die erhaltende Instanz von Wahrheit zu verstehen: Gott ist "aller Wahrheit G o t t " ( C h R I, 148), "Herr aller Wahrheit" (ChR I, 152) sowie "Hüter und Quell aller Wahrheit" (ChR I, 22). Diese Absolutheit der Wahrheit ist auch der innere Grund der Einheit der Wahrheit: Weil Gott "nur Einer" (HchR 70), und zwar "ein mit sich einiger Gott" (ChR I, 22) ist, und weil er allein als solcher "die ganze, die eine Wahrheit ist" (WuGl 76), deshalb kann Wahrheit überhaupt, nämlich nach ihrer Letztheit, Ewigkeit und Unendlichkeit verstanden, gleichfalls "nur eine" (ChR I, 155), "nur Eines" (WuGl 20) sein. Wird Wahrheit hinsichtlich ihrer Unbedingtheit mit Gott selbst identifiziert, dann muß sie wegen der Einheit Gottes auch als wesentlich Eine gedacht werden. "Wahrheit Gottes, ewige Wahrheit, kann nicht in sich zwiespältig oder gar vielspältig sein" (HchR 70). Die Zwiespältigkeit oder Vielspältigkeit fällt ausschließlich auf die Seite des Wahrheitsbewußtseins. Damit wird zugleich der rein abstrakte Charakter der erkenntnistheoretischen Interpretation der religiösen Valenz des Wahrheitsbewußtseins bzw. die Abstraktheit dieser religiösen Dimension selber deutlich. Wenn die Dialektik des Wahrheitsbewußtseins "unser Verhältnis zur letzten Wahrheit" (ChR I, 170) betrifft, und wenn jene Dialektik mit ihrer Korrelation von Endlichkeit und Totalitätshorizont alle einzelnen Akte des Wahrheitsbewußtseins umgreift, dann bedeutet dies, daß im Vollzug des Wahrheitsbewußtseins allein aufgrund dieses Vollzugs ein Verhältnis zum Absoluten enthalten ist, noch bevor dieses als solches - sei es hinsichtlich des Faktums seines Gegebenseins, sei es bezüglich seiner qualitativen Beschaffenheit - zum ausdrücklichen Inhalt des religiösen Bewußtseins wird. Diese dem dialektisch verfaßten Wahrheitsbewußtsein von Haus aus zukommende und an ihm selber eignende Form des Bezogenseins auf absolute Wahrheit bezeichnet Hirsch als das Mitgesetztsein des Absoluten im humanen Wahrheitsbewußtsein. Sie äußert sich ausschließlich in der Unhintergehbarkeit des Gegensatzes zwischen der Einen unbedingten Wahrheit Gottes und der Mannigfaltigkeit des von ihr bedingten, dem endlichen Wahrheitsbewußtsein zugänglichen Wahren. Die abstrakt religiöse These, welche das Resultat der erkenntnistheoretischen Ausdeutung des h u m a n e n Wahrheitsbewußtseins im Horizont seiner dialektischen Verfaßtheit bildet, besagt demnach, daß "in jedem auf die Wahrheit bezognen menschlichen Akte das Absolute mitgesetzt ist" (Lf § 46.Α.). Bezieht man diese These zurück auf die eingangs diskutierte Dialektik von Vernunft und Gegebenem, dann läßt sie sich dahingehend spezifizieren, daß "die

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Wahrheit als ein nicht bedingtes Unbedingtes, zu dem wir uns verhalten, in allem einzelnen Verhältnis von Vernunft und Gegebnen geheimnisvoll mitgesetzt ist" ( C h R I, 168). Weil die Relation zwischen dem Ursprung und den Manifestationen des Erscheinens der unbedingten Wahrheit für das Wahrheitsbewußtsein undurchdringlich ist, deshalb wird ihm selbst dieses Grundverhältnis nicht ausdrücklich. Die religiöse Valenz des Wahrheitsbewußtseins verbleibt in einer religiösen Opakheit. Jener religiöse Totalitätsaspekt ist in allen Akten des Wahrheitsbewußtseins und mit Bezug auf alles darin als wahr Anerkannte immer vorausgesetzt, ohne jedoch als solcher jemals symbolisiert zu werden. Die Verborgenheit der religiösen Tiefendimension des Wahrheitsbewußtseins für es selber resultiert aus der Art des Erschlossenseins der absoluten Wahrheit. Ist es die vom endlichen Wahrheitsbewußtsein vorausgesetzte Einheit der unbedingten Wahrheit, welche allem einzeln Erkannten einen verborgenen Ganzheitssinn zuteil werden läßt, dann wird unmittelbar einsichtig, daß es keinen Widerspruch bedeutet, wenn jene Wahrheit einerseits als ewiger, letzter, in sich einiger Grund des Wahrheitsbewußtseins, andererseits als Totalität alles vom Wahrheitsbewußtsein erschließbaren und insofern sich manifestierenden Wahren in Anspruch genommen wird. In religiöser Sprache ausgedrückt besagt dies: Gott, sofern er in verborgener Weise Ursprung, Inbegriff, erhaltende Instanz und Norm aller Wahrheit ist, "heiligt auch die des allgemeinen Wahrheitsbewußtseins" ( C h R I, 22). Der Begriff des Heiligen 29 , dem in Hirschs ethisch-religiösem Wirklichkeitsverständnis dann eine ebenso prinzipielle wie lebenspraktische Schlüsselstellung zukommt, hat in letztbegründungsmethodischer Hinsicht ein wahrheitstheoretisches Fundament. Wird Wahrheit überh a u p t oder unbedingte Wahrheit vom Wahrheitsbewußtsein als Grund alles von ihm als wahr Erkannten vorausgesetzt, dann bedeutet dies gerade nicht, daß jene als sie selbst in der Reinheit ihres Wesens manifest werden könnte. Sie ist vielmehr als eine solche in Ansatz gebracht, die immer nur in Verwobenheit mit den konkreten Inhalten eines in sich vielspältigen, je kontingent bestimmten Wahrheitsbewußtseins erscheint. Durch letzteres wird die Pointe der Grundthese, wonach "auch das menschliche Wahrheitsbewußtsein mit seiner formellen Geistigkeit ... von G o t t " (ChR I, 171) ist, in gar keiner Weise relativiert, sondern eher bestätigt. Seinen Aufweis einer zugleich prinzipiellen und unhintergehbaren Dialektik des Wahrheitsbewußtseins - wie wir ihn gerade rekonstruiert haben - hat Hirsch als eine Art gemeinsamen Nenner der erkenntnistheoreti29

Hirsch entnimmt diese religionsphilosophische Kategorie R. OTTOS 1917 erschienenem Buch "Das Heilige", rückt sie jedoch in einen völlig anderen systematischen Zusammenhang ein. Vgl. besonders Lf § 59; dazu D. LANGE: Der Begriff des Heiligen.

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sehen Debatte der Neuzeit betrachtet. Er erachtete ihn als einem Denken im Zeitalter zwischen Idealismus und Positivismus durchaus gemäß und insofern auch als zustimmungsfähig. Mehr als unter gegebenen Bedingungen gedankliche Rechenschaft geben kann auch eine erkenntnistheoretische Grundlegung der Theologie seiner Meinung nach nicht. Es steht nicht in ihrer kulturellen Macht und entspringt noch weniger dem Selbstverständnis des von ihr gedanklich verantworteten christlichen Glaubens, dem humanen Bewußtsein die Bedingungen der Aneignung ihrer Inhalte vorzuschreiben. Auch wenn sie die Dialektik des Wahrheitsbewußtseins als den Konvergenzpunkt neuzeitlicher erkenntnistheoretischer Reflexion nachzuweisen unternimmt, erhebt sie damit keineswegs den Anspruch, für den von ihr gewählten Ansatz die allgemeine Zustimmung des humanen Wahrheitsbewußtseins gedanklich zu erzwingen. Es ist nur beabsichtigt, die begrifflichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß von jeder einzelnen der verhandelten repräsentativen Positionen aus Einverständnis und damit ein Zugang zur Dogmatik als ganzer möglich wird. Die Möglichkeit einer Ablehnung jenes "die wissenschaftliche Reflexion von innen begrenzenden letzten Geheimnisses" (Lf §45.M.3.) hat Hirsch d a r u m ausdrücklich in seine Überlegungen miteinbezogen, und zwar mit Bezug auf beide erkenntnistheoretischen Grundpositionen. "Die Gefahr der empiristisch-positivistischen Bildungen ist die skeptische Ausschaltung des Wahrheitsbewußtseins aus dem menschlichen Dasein, das damit vom tierischen ununterscheidbar wird; die Gefahr der rationalistischidealistischen Bildungen ist die phantastische Ausschaltung des Unbegreiflichen aus dem menschlichen Wahrheitsbewußtsein, das damit in sich selbst abgeriegelt wird wider die Wirklichkeit des rätselumgrenzten menschlichen Daseins" (Lf §45.M.l.). Der Verzicht auf unbedingte Wahrheit oder der Verlust von Wirklichkeit bilden für Hirsch den Preis solcher erkenntnistheoretischen Verabsolutierungen. An allgemeiner Plausibilität wäre in beiden Fällen nichts gewonnen. Denn einseitig postulieren lassen sich solche erkenntnistheoretischen Radikalpositionen wohl. Aber keine dürfte sich je als geeignet erweisen, eine zusammenfassende erkenntnistheoretische Beschreibung der Mannigfaltigkeit und Unterschiedlichkeit des neuzeitlichen Wahrheitsbewußtseins abzugeben. Hirschs Aufweis der Dialektik des Wahrheitsbewußtseins darf somit als der Versuch gelten, in einem Zeitalter zwischen Positivismus und Idealismus - unter bewußtem Verzicht auf eine eigene, selbständig entfaltete Erkenntnistheorie - mit möglichst konsensfähigen Argumenten "die ursprüngliche" (Lf §45.M.3.), "echte Wahrheitsbeziehung des menschlichen Geistes" ( C h R I, 166) zur Geltung zu bringen. Dem unmittelbaren Anschluß der Gotteslehre an die Dialektik des Wahrheitsbewußtseins darf so gesehen erkenntnistheoretische Vermittlungsintention bescheinigt werden.

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Hirsch wußte sehr wohl, daß seine erkenntnistheoretische Grundlegung der Dogmatik sich in besonderer Kontinuität zu den Grundeinsichten neuzeitlicher Transzendentalphilosophie befand. "Der Begriff des Absoluten ist durch seine Verwendung in der kantisch-idealistischen Erkenntnis- und Religionslehre zum Exponenten des allgemein-religiösen Sinnes aller Fragen nach unserm Verhältnis zur Wahrheit geworden" (ChR I, 168). Sich diesem methodischen Ansatz verpflichtet zu wissen und dessen Reflexionspotential sich zu eigen zu machen, Schloß für ihn jedoch in gar keiner Weise die Option zugunsten einer der in metaphysischer Hinsicht programmatischen Thesen der idealistischen Erkenntnistheorie ein. Denn jene "Aufdeckung hat ... mit den Besonderheiten der idealistischen Erkenntnisanalyse nicht eine untrennliche Verbindung, sondern kann auch mit einer positivistischen sich verbinden" (ChR I, 165f). Gedankliche Voraussetzung von Hirschs Vermittlung zwischen Idealismus und Positivismus ist die innere Begrenzung des radikalen Konstitutionsidealismus durch eine realistische Deutung des Begriffs des Absoluten - realistisch aber nicht im real-ontologischen, sondern im wahrheitstheoretischen Sinne: Das Absolute ist nichts anderes als unbedingte Gültigkeit. So bestätigt denn auch der ausgereifte Ansatz der erkenntnistheoretischen Grundlegung des "Leitfadens", was bereits die frühe subjektivitätstheoretische Ortsbestimmung programmatisch formuliert hatte: "Die idealistische Erkenntnistheorie ist richtig, aber sie hat einen religiösen Realismus zur geheimen Voraussetzung" (Br 36).

c) Gott als absolute Wahrheit Im Vorigen h a t t e sich ergeben, daß die Beziehung des Wahrheitsbewußtseins auf Wahrheit überhaupt eine eigentümliche Spannung in sich aufweist: Auf der einen Seite handelt es sich bei allen Einzelakten des Wahrheitsbewußtseins u m ein bloßes Intendieren von Wahrheit oder Zielen auf Wahrheit. Auf der anderen Seite weiß sich das Wahrheitsbewußtsein gleichwohl als Ort des zur Erscheinung Gelangens von Wahrheit. Was folgt nun daraus für den Charakter des Setzens Gottes als der Einen, ewigen, unbedingten Wahrheit? Welches ist der epistemologische Status dieses Setzens? Wir versuchen, zu einer Antwort zu gelangen, indem wir an diejenigen Sachverhalte anknüpfen, welche ursprünglich auf die Dialektik des Wahrheitsbewußtseins geführt hatten, nämlich die oben skizzierten dialektischen Phänomene am Verhältnis von Vernunft und Gegebenem. Zunächst h a t t e sich hinsichtlich dessen, was in allem empirischen Verstandesgebrauch die Funktion des Gegebenen einnimmt, z u m einen gezeigt, daß

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in der Bestimmung des Letzten am Gegebenen diese Letztheit - bezogen auf den Prozeß der empirischen Forschung - offenkundig zwischen Erkennbarkeit und Nichterkennbarkeit schwankt, und zum anderen, daß alle empiriebezogene Rationalität die Exaktheit der Bestimmtheit des Gegebenen mit dem Verlust der systematischen Einordnung des so Bestimmten erkauft. Der empirische Verstandesgebrauch wird so durch seine eigene Praxis zu der Einsicht gedrängt, daß die konsequente methodische Ausrichtung am empirisch Gegebenen eben dieses zu einer von ihm selber nicht mehr durchschaubaren rätselhaften Größe macht. Hirsch bemerkt dazu: "Die Frage ist, ob diese Einsicht rein skeptisch, nihilistisch ist, oder Hinweis auf die Grenze, an der wir wesentlich in der Wahrheit hängen" ( C h R I, 164). Die dialektische Erfahrung, die der empirische Verstandesgebrauch in seinem Umgang mit dem Gegebenen macht, ist somit nach ihrer wahrheitstheoretischen Programmatik keineswegs eindeutig. Sie kann mit gleicher Berechtigung skeptisch-nihilistisch als Leugnung einer fundamentalen Wahrheitsbeziehung des Geistes verstanden werden wie umgekehrt religiös-ahndend als Hinweis auf sie. Im einen Fall stellt sich zwangsläufig die Verdrängung des formalen Gültigkeitsbewußtseins ein, im zweiten Fall werden jene dialektischen Phänomene als Ausdruck der Uberschwenglichkeit der unbedingten Wahrheit gegenüber allem endlichen Wahren aufgefaßt. Eine ähnliche Zwiespältigkeit der Wahrheitsoption ergibt sich nun auch im Hinblick auf die Funktion des Denkens, wenn sie aus der Dialektik von Vernunft und Gegebenem heraus verstanden wird. Oben h a t t e sich gezeigt, daß der fachwissenschaftliche Verstandesgebrauch zwei dialektische Momente umfaßt. Zum einen schwebt er in einer unentrinnlichen Polarität zwischen Seinsmächtigkeit und Seinsbedingtheit, sofern er in jeder empirischen Verstandeserkenntnis als epistemische Instanz in Anspruch genommen wird, zugleich aber auch zum Gegenstand einer solchen gemacht werden kann. Zum andern ist er der Notwendigkeit unterworfen, sich seiner Letztgültigkeit nur u m den Preis der Grenzüberschreitung versichern zu können, d.h. indem er die Reichweite seiner empirisch bewährten Gültigkeit verabsolutiert. Auch diese beiden Fassungen dialektischer Erfahrung sind in wahrheitstheoretischer Hinsicht vieldeutig. Jeder erkenntnistheoretische Versuch, bezüglich der grundsätzlichen Wahrheitsmacht der Vernunft Eindeutigkeit herzustellen, würde fehlgreifen: "eine idealistische (rationalistische) Erkenntnislehre sichert nicht das Ja, und eine positivistische (empiristische) Erkenntnislehre erzwingt nicht das Nein" (ChR I, 165). Jede einseitige erkenntnistheoretische Option käme einem Verdrängen oder Überspringen des dialektischen Gegenphänomens gleich. So kann auch die Dialektik von Vernunft und Gegebenem, wie sie an der Funktion des Denkens innerhalb des fachwissenschaftlichen Verstandesge-

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brauchs aufbricht, sowohl skeptisch-nihilistisch als auch religiös-ahndend interpretiert werden. Das aber bedeutet, daß "die Beziehung auf ein letztes Geheimnis an ihrer Grenze als wesentliche Grundlage der Wahrheitsmacht der menschlichen Vernunft unentrinnlich bleibt" (ChR I, 165). Worin hat nun die an all jenen dialektischen Phänomenen zutage getretene diskursive Unentscheidbarkeit der Frage der Wahrheitsbezogenheit des menschlichen Geistes ihren letzten Grund? Hirsch erblickt ihn in nichts anderem als in der spezifischen Beschaffenheit dieser Beziehung selber. "Es gehört zu des Geistes tiefstem Wesen, daß er frei ist, sich dem Wahren hinzugeben oder nicht. Innerhalb der von der Verstandeserkenntnis durchdrungenen Erfahrungswelt gibt es erzwingbare Aussagen. Das Erfahrungsdenken ist insofern nicht frei, sondern gebunden. ... Anders steht es in Beziehung auf das Unbedingte. ... Wir müssen ein Verhältnis zu ihm vollziehen, gewiß. Aber welches Verhältnis wir vollziehen, das sagt uns kein Denkzwang. ... wenn es wirklich Wahrheit im strengsten Sinne, d.h. ewige unendliche Wahrheit ist, die jenseits des Bereichs des Verstandes liegt, so hindert einen keine Denknotwendigkeit, sich ihr zu verschließen" (HchR 16). Das Stellungnehmen zur Wahrheit ist kein dingliches Bezogensein, sondern ein Sich-Beziehen auf diese. Es hat demnach seinen humanen Ort ausschließlich im bewußten Selbstverhältnis des Menschen. "Der Wahrheit gehört m a n nur, indem man sich ihr innerlich ergibt in einem geisthaften, personhaften Akt". Als Moment eines bewußten Selbstverhältnisses ist das Stellungnehmen zur Wahrheit kein n a t u r h a f t e r Vollzug des Menschseins, sondern eine "tathafte Entscheidung" (HchR 16). Weil es im Stellungnehmen zur Wahrheit nicht u m eine periphere Verhaltenssituation geht, sondern u m eine Entscheidung bezüglich der subjektiven und objektiven Gültigkeit des Absoluten, deshalb muß es verstanden werden als dasjenige "Wagnis, welches über das Grundverständnis unsers Wesens und Lebens entscheidet" (HchR 17). Damit kann nun die Frage beantwortet werden, welchen epistemologischen Status die aus der Dialektik des Wahrheitsbewußtseins hervorgehende Identifizierung des Inbegriffs und Ursprungs aller Wahrheit mit Gott oder dem Absoluten einnimmt. Für Hirsch handelt es sich hierbei u m "eine Setzung nach Art des religiösen Glaubens" (HchR 15), mithin u m einen epistemischen Akt, der "schlechthin thetisch" (ICh 78) erfolgt. Die Gleichsetzung von Wahrheit überhaupt und Gott hat demnach den epistemologischen Sinn einer absoluten Position. Der thetische Charakter dieser absoluten Position äußert sich hinsichtlich der Dialektik des Wahrheitsbewußtseins formal darin, daß die Einheit der Wahrheit, auf welche die mannigfaltigen Akte des Wahrheitsbewußtseins zielen, explizit als Einheit gesetzt wird. Eine solche absolute Position der Absolutheit der

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Wahrheit steht für Hirsch quer zu allen erkenntnistheoretischen Optionen, seien es Rationalismus, Empirismus, Idealismus oder Positivismus. "Von jedem der dabei eingenommenen Standpunkte aus gibt es einen Weg zum Sichverschließen menschlichen Denkens und Lebens gegen das tragende Geheimnis, und von jedem einen Weg hin zu der Tiefe, aus der der religiöse Grund menschlichen Denkens und Lebens emportaucht" (Lf §45.M.l.). Die in der Gleichsetzung von Wahrheit überhaupt und Gott enthaltene absolute Position darf nun aber keineswegs verwechselt werden mit solchen dogmatischen Anerkennungsakten, wie sie der methodische Fundamentalist bezüglich der von ihm für wesentlich erachteten Glaubenswahrheiten als intellektuelle Vorleistung fordert. Solcher "Prämissetheologie" ( C h R I, 13) gegenüber hat Hirsch zeitlebens zutiefst Abscheu empfunden. Der Unterschied zwischen beiden Formen eines unbedingten Gültigkeitsanspruchs liegt in einem Zwiefachen. Die Prämissetheologie stellt autoritative Sätze auf, denen gegenüber sie Anerkennung qua Unterwerfung abverlangt. Die euphemistische Umschreibung solcher Lehrgesetzlichkeit lautet dann: Denken bestehe wesentlich im Nach-Denken des anderwärts als gültig Statuierten. Hirschs Figur einer absoluten Position hingegen rechnet mit einer nichtautoritativen Mitteilbarkeit des in ihr beschlossenen propositionalen Gehaltes. "Die Vermittlung der Grundeinsicht [seil, von der formalen Beschaffenheit einer absoluten Position] ... geschieht durch einfache Beschreibung, die auf die Erinnerung oder die Selbsttätigkeit des Lernenden rechnet". Wer ihren Aussagen zustimmen will, m u ß dies freiwillig und in eigener Verantwortung tun. "Jeder muß es an sich erproben, ... ob er sie überzeugend finde" (ICh 78). Trotz dieser auf selbsttätiges Verstehen und freiwillige Zustimmung rechnenden Mitteilbarkeit des propositionalen Gehaltes jener Grundeinsicht behält diese gleichwohl den Charakter einer absoluten Position. Mit Bezug auf die Evidenz ihres Gültigkeitsstatus ist "eine vorbereitende Hinleitung nicht möglich". Dies hat explikationslogisch zur Folge, daß die aus jenem Grundsatz "entfalteten Gedanken leichter zugänglich [sind] als der Grundsatz selbst" (ebd.). Und dies trifft offensichtlich auch für den in Frage stehenden Fall der Gleichsetzung von Wahrheit überhaupt und Absolutem zu. Damit kommen wir zum zweiten Unterschied zwischen einer Prämissetheologie und Hirschs Denkfigur der absoluten Position. In der Prämissetheologie stellt die Aufrichtung diskursiv nicht ausweisbarer Zugangsbedingungen gewöhnlich eine Immunisierungsstrategie dar, welche supranaturalistische Theorieelemente gegen das Eindringen von Zweifel und Skepsis vorweggreifend bewahren will. Hirsch hat demgegenüber eine ganz andere Auffassung vom systematisch-theologischen Umgang mit dem Zweifel. "Die Theologie leistet zu viel, wenn sie den Zweifel erledigt. Eine solche Zauberin ist sie nicht" (ChR I, 13). Sie kann den Zweifel nicht

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nur faktisch nicht unterdrücken, sondern sie kann ihn noch nicht einmal beseitigen wollen. Denn der Zweifel ist dem religiösen Bewußtsein nötig und hilfreich, sofern er es zur Besinnung auf das Wesentliche der Glaubensgewißheit zwingt und ihm deren subjektive Nichtentlastbarkeit und innere Freiwilligkeit bewußt macht. Hirschs Denkfigur der absoluten Position hat offenbar zu t u n mit den methodischen Problemen einer Prinzipientheorie, welche mit dem Anspruch auf Letztbegründung soll auftreten können. "Die Grundeinsicht, in der ein in sich klares und folgerichtiges Denken r u h t , ist einer Ableitung nicht fähig. Sie ist ihrem eigenen Begriffe zufolge schlechthin thetisch" (ICh 78). Ein oberster Grundsatz erweist seine Letztbegründungsfunktion ausschließlich dadurch, daß sich alle anderen Axiome und Theoreme als seine Konsequenzenmenge dartun lassen. "Die Bewährung des so frei gesetzten Anfangs liegt allein im Ganzen des Systems, - d.h. darin, ob sich auf ihn ein streng zusammenhangendes und die Wirklichkeit ganz durchdringendes und in Wahrheit verstehendes Denken bauen lasse oder nicht" (ebd.). Darin liegt zweierlei: Zunächst, von der Letztbegründungsfunktion eines Prinzips kann man nur dort reden, wo dieses die Prinzipienbestimmtheit der Wirklichkeit im ganzen impliziert. Damit ist unmittelbar die weitere Frage nach dem logischen Gefalle des Prinzipiengefüges bezüglich jener Wirklichkeit im ganzen aufgeworfen. Die Annahme eines letzten Prinzips, das nicht zugleich Prinzip von allem bzw. letztbedingende Voraussetzung eines Gesamtprinzipiengefüges wäre, würde einen Widerspruch in sich darstellen. Damit hängt nun ein zweiter Gesichtspunkt eng zusammen. Die absolute Position riegelt den in ihr enthaltenen Systembegriff nicht ab gegen andere Systementwürfe, sondern liefert ihn umgekehrt solchen externen materialen Plausibilitätsstandards bewußt aus. Gedankliches Motiv dafür ist die Einsicht, daß ein letztbegründendes Prinzip seine Letztbegründungskompetenz auch unter Beweis zu stellen habe, sowie die Überzeugung, daß es diese Erklärungsleistung auch zu erbringen vermöge. Aus beiden P u n k t e n ergibt sich somit folgendes: Nur ein solches Prinzipienpostulat kann bezüglich seiner Wissensform mit unbedingter Gewißheit vertreten werden, welches seiner Wissensmaterie nach ein der Bewährung fähiges letztes Prinzip bzw. ein letztbegründendes Prinzip beinhaltet. Ein absolutes Setzen ist nur mit Bezug auf das Setzen des Absoluten möglich. Der Ausdruck "Setzen des Absoluten" ist dabei als dem Ausdruck "Setzen des absoluten Prinzips" intensional äquivalent zu verstehen. Da nun aber ein Prinzip immer ein Prinzip von etwas ist, ist auch ein absolutes Prinzip immer ein Prinzip von etwas. Das Setzen des Absoluten ist demnach das Setzen des Absoluten in seiner Letztbegründungsfunktion, und nicht etwa ein Setzen des Absoluten nach des-

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sen erst daraus durch Abstraktion zu gewinnender Ansichbestimmtheit. Wenn also ein absolutes Setzen nur im Falle des Setzens des Absoluten möglich ist, und wenn das Setzen des Absoluten ein Setzen desselben in seiner Letztbegründungsfunktion bedeutet, dann kann jener schlechthin thetische Akt - von dem oben die Rede war - nur das Setzen des Absoluten in einer Prinzipienfunktion zum Inhalt haben. Es handelt sich bei dieser epistemischen Operation sonach um nichts anderes als u m die absolute Position einer absoluten Voraussetzung. Damit ist die Frage nach dem epistemologischen Status der Identifizierung von Wahrheit überhaupt und Absolutem beantwortet. Diese Identifizierung hat die formale Beschaffenheit der absoluten Position einer absoluten Voraussetzung. Angesichts solcher Verfaßtheit des Setzens jener Identität darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, daß unbedingte Wahrheit immer nur so vom Wahrheitsbewußtsein vorausgesetzt werden kann, daß dieses sich selbst zugleich als Ort der Erscheinung jener Wahrheit begreift. Die absolute Setzung der ewig Einen Wahrheit als absoluter Voraussetzung des Wahrheitsbewußtseins vollzieht sich immer im Horizont des Selbstverhältnisses dieses Wahrheitsbewußtseins mit Bezug auf dessen eigene kognitive Aktivität. Hirschs Theologie hat ihr gedankliches Fundament in der absoluten Position einer absoluten Voraussetzung folgenden Inhaltes: Diejenige Wahrheit, mit und durch deren Erscheinen am Ort des Wahrheitsbewußtseins dasselbe konstituiert wird, und zwar als ein u m dieses Konstitutionsverhältnis selber wissendes konstituiert wird, ist für eben dieses Wahrheitsbewußtsein identisch mit dem Absoluten. Wahrheitsbewußtsein ist das Bewußtsein, durch das Verhältnis zur unbedingten Wahrheit als selbstreferentielle epistemische Instanz konstituiert zu sein. Explikationslogisch ist jedenfalls festzuhalten, daß die mit dem Absoluten identische ewige unbedingte Eine Wahrheit nur so als Prinzip eines systematisch-theologischen Lehrganzen exponiert werden kann, daß jene Identität Resultat der absoluten Position einer absoluten Voraussetzung ist.

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3. D a s a n t i n o m i s c h e Verhältnis des W a h r h e i t s b e w u ß t s e i n s zur absoluten Wahrheit Gottes

a) Die Duplizität von absolutem Denken und absolutem Sein Mit unseren Ausführungen zur Dialektik des Wahrheitsbewußtseins im Anschluß an §45 des "Leitfadens" - sind lediglich die Zugangsbedingungen zu Hirschs erkenntnistheoretischer Klärung des Gottesgedankens umrissen. Ihrer speziell hat sich Hirsch im §46 angenommen, der in formeller Hinsicht gewissermaßen das Achsenkapitel des gesamten "Leitfadens" darstellt. Dessen Argumentationsgang gilt es im folgenden gedanklich zu erhellen. Wenn - wie sich im Vorausgegangenen gezeigt h a t t e - alle Akte des Wahrheitsbewußtseins in der Mannigfaltigkeit ihres Setzens von Gültigkeit als Gestalten des zur Erscheinung Gelangens von Wahrheit überhaupt verstanden werden können, und wenn - wie gleichfalls gezeigt worden ist Wahrheit überhaupt qua absoluter Thesis als mit dem Absoluten identisch aufgefaßt werden kann, dann bedeutet beides zusammengenommen, daß "in jedem auf die Wahrheit bezognen menschlichen Akte das Absolute mitgesetzt ist" (Lf §46.Α.). Die im §46 angestellten Überlegungen betreffen nun nicht das Daß, sondern ausschließlich das Wie dieses Mitgesetztseins des Absoluten bzw. die Struktur seiner explikativen Erhellung. Eine Beantwortung dieser Frage hat folgenden Weg einzuschlagen: Wahrheit vermag nur unter den Bedingungen der formalen Struktur unseres Bewußtseins zu erscheinen. Bewußtsein nun ist wesentlich durch Zweistämmigkeit gekennzeichnet. Wenn Wahrheit somit nur dort gegenwärtig wird, wo entweder Gegebenes sich der Vernunft erschließt oder wo Vernunft das Gegebene durchdringt, dann kann auch die Bestimmtheit des Mitgesetztseins der Wahrheit als absoluter nur aus jener Zweistämmigkeit des Bewußtseins erklärt werden. Darin liegt zum einen: Wenn man das Wahrheitsbewußtsein nach seiner reinen Rekursfunktion mit Bezug auf ein ihm vorliegendes Gegebenes betrachtet - gleichgültig ob dieses realiter zum Gegenstand des bloß logischen oder des bestimmenden Verstandesgebrauchs wird - , absolute Wahrheit also ausschließlich im Wahrheitsbewußtsein als auf Gegebenes rekurrierendem zur Darstellung gelangt, dann erscheint jenes Absolute am Orte dieses Wahrheitsbewußtseins und für dasselbe in Form eines "Urgrunds alles Gegebnen" (ChR I, 168 f). Absolute Wahrheit wird, sofern sich das Wahrheitsbewußtsein auf sie allein in der Form des Rekurses auf Gegebenes bezieht, als absolutes Sein mitgesetzt. Die Gegebenheit des Gegebenen wird als Erscheinung des absoluten Seins aufgefaßt.

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U m g e k e h r t , wenn m a n das Wahrheitsbewußtsein n a c h seiner reinen V e r n u n f t f u n k t i o n b e t r a c h t e t - gleichgültig ob diese realiter in der F o r m des Durchdringens eines vorliegenden Gegebenen oder in der F o r m des reinen Denkens tätig wird - , absolute Wahrheit also ausschließlich im W a h r h e i t s b e w u ß t s e i n als s p o n t a n v e r k n ü p f e n d e m zur Darstellung gelangt, d a n n erscheint jenes Absolute a m O r t e dieses Wahrheitsbewußtseins u n d f ü r dasselbe als das "allem Denken zugrunde hegende U r d e n k e n " ( C h R I, 169). Absolute W a h r h e i t wird, sofern sich das Wahrheitsbewußtsein auf sie allein in der F o r m der V e r n u n f t f u n k t i o n bezieht, als absolutes Denken mitgesetzt. Die Tätigkeit der Vernunft wird als Erscheinung des absoluten Denkens aufgefaßt. Das Absolute erscheint a m O r t e des Wahrheitsbewußtseins u n d f ü r dasselbe also in einer zwiefachen Weise, "als absolutes Sein hinsichtlich des Gegebnen, als absolutes Denken hinsichtlich der V e r n u n f t " (Lf §46.Α.). D a m i t erweisen sich das absolute Sein u n d das absolute Denken als die beiden Gestalten des in allem Bezogensein von Bewußtsein auf W a h r heit mitgesetzten Absoluten. Diese materiale Diversität bringt auf einer höheren Reflexionsstufe z u m Ausdruck, was in u n m i t t e l b a r e r F o r m bereits den Vollzug der Dialektik des Wahrheitsbewußtseins charakterisierte, nämlich daß das Wahrheitsbewußtsein kein u n m i t t e l b a r e s zur Erscheinung K o m m e n von Wahrheit verkörpert. Absolute W a h r h e i t k o m m t a m Ort des Wahrheitsbewußtseins und für dasselbe nicht in seiner reinen Absolutheit zur Darstellung, sondern lediglich in einer der strukturellen Verfaßtheit des Wahrheitsbewußtseins gemäßen Erscheinungsform, d.h. als d u r c h die Zweistämmigkeit des Bewußtseins hindurchgegangenes u n d so zur sekundären Absolutheit gebrochenes. Jeder gedankliche Versuch, diese Vermitteltheit des Erscheinens des Absoluten vom Absoluten her zu begreifen - sei es als Selbstvermittlung Gottes im Sinne einer spekulativen U m f o r m u n g der altkirchlichen Trinitätslehre, sei es als Selbstdifferenzierung eines Prinzipiengefüges im Sinne einer zur Ontologie des Absoluten vertieften Kategorienlehre - vollzieht sich auf d e m Boden des durch Zweistämmigkeit gekennzeichneten Bewußtseins u n d kann deshalb nicht f ü r sich in Anspruch n e h m e n , die darin beschlossenen Grenzen des Wahrheitsbewußtseins zu unterlaufen. Der Ged a n k e einer Selbstvermittlung Gottes und der G e d a n k e einer Selbstdifferenzierung des Absoluten sind nichts weiter als Gedanken. Sie repräsentieren auch als notwendig zu denkende immer n u r Propositionen oder Begriffe von Sachverhalten, niemals das Bestehen dieser Sachverhalte selbst. W e n n der Intention nach das Absolute gedacht wird, wird tatsächlich nicht das Absolute gedacht, sondern allein der Begriff des Absoluten bzw. der Ged a n k e der Absolutheit. Wie j e d e gedankliche B e z u g n a h m e auf gedankliche Sachverhalte ist auch das Denken des Gedankens der Selbstvermittlung

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bzw. der Selbstdifferenzierung des Absoluten lediglich einer Teilfunktion des Wahrheitsbewußtseins zugehörig und damit dessen duplizitärer Verfaßtheit einschließlich der darin liegenden Gesetzmäßigkeit unterworfen. Die Zweiquellentheorie formuliert gewissermaßen das basale Brechungsgesetz der Bestimmbarkeit des Erscheinens der absoluten Wahrheit unter den Bedingungen eines endlichen Wahrheitsbewußtseins überhaupt. Um ein Brechungsgesetz handelt es sich aber nicht etwa in dem Sinne, als ob das Wie dieses Erscheinens gleichsam aus der Perspektive der absoluten Wahrheit selber festgestellt würde. Allein die Verfaßtheit des Wahrheitsbewußtseins, an dessen Ort und für welches die absolute Wahrheit erscheint, vermag Aufschluß darüber zu geben, auf welche Art und als was die Erscheinung desjenigen zu bestimmen ist, dessen reine Absolutheit gerade nicht mit seiner erscheinenden Absolutheit zusammenfällt. Dieses Brechungsgesetz kann demnach nur die elementare Regel vorschreiben, der gemäß die Absolutheit des erscheinenden Absoluten zu extrapolieren ist, wenn sein Erscheinen, dort wo es erscheint, in Bestimmtheit überführt werden soll. In diesem Sinne wären das absolute Sein und das absolute Denken aufzufassen als Extrapolationen des Wahrheitsbewußtseins bezüglich des in ihm erscheinenden und als solchem bestimmbaren Absoluten. Die Duplizität von absolutem Sein und absolutem Denken ist Ausdruck jener basalen Gesetzmäßigkeit, der das Wahrheitsbewußtsein generell und d a r u m auch hinsichtlich der Bestimmbarkeit des Erscheinens des Absoluten unterliegt, nämlich der Duplizität von Vernunft und Gegebenem. Doch was sind die Gründe dafür, von der Zweiquellentheorie im Hinblick auf die Bestimmbarkeit der Erscheinung des Absoluten als einem Brechungsgesetz zu sprechen? Wir unterscheiden am Wahrheitsbewußtsein - wie oben dargelegt - zwei Funktionen, einerseits den Rekurs auf das Gegebene, andererseits die Aktivität der Vernunft, und extrapolieren mit Bezug auf beide dann das absolute Sein und das absolute Denken, als deren endliche Repräsentanten jenes Gegebene und jene Vernunft figurieren. Das bedeutet: "Wir halten das absolute Sein und das Gegebne und ebenso das absolute Denken und die Vernunft je in ihrem Ineinander ausund gegeneinander" (Lf §46.Α.). Die Problematisierung der Zweiquellentheorie als eines Brechungsgesetzes der Bestimmbarkeit der Erscheinung des Absoluten ist demnach äquivalent der Frage, ob die Duplizität von absolutem Denken und absolutem Sein - die absolute Thesis der Identität von Wahrheit überhaupt und Absolutem vorausgesetzt - notwendig ist. Hirsch bejaht diese Frage, und zwar aus Gründen der formalen Struktur jener Extrapolation. Wenn das Absolute als absoluter Grund des Gegebenen ( = absolutes Sein) oder als absoluter Grund der Vernunfttätigkeit ( = absolutes Denken) extrapoliert wird, dann bleibt der jeweilige Rückbezug auf den jeweiligen logischen Terminus a quo der Extrapolation, die

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Vernunft oder das Gegebene, notwendigerweise erhalten. Die Resultate der Extrapolation stehen grundsätzlich unter den Bedingungen des Ausgangs derselben, nämlich deshalb, weil das Absolute, "eben indem es als das dem Kreis des Endlichen, Wechselbedingten nicht Zugehörige gedacht wird, als ein Begriff gebildet wird, von dem mit dem Setzen bestimmten Inhalts anderer Inhalt - das Wort Inhalt rein logisch vom Aussagbaren genommen - ausgeschlossen wird" (ChR I, 172). Wird diese formale Rückbedingtheit des Begriffs des Absoluten angewandt auf jene zwiefache Ausgangsbasis der Extrapolation, so ergibt sich: "vom Absoluten kann m a n nur in Beziehung auf nichtabsolutes Denken und Sein [seil. Vernunft und Gegebenes] sprechen" (ChR I, 173). Die doppelte Rückbedingtheit des absoluten Seins bezüglich des Gegebenen und des absoluten Denkens bezüglich der Vernunft impliziert aber ihrerseits zugleich eine Rückbedingtheit des absoluten Seins bezüglich der Vernunft und ebenso eine Rückbedingtheit des absoluten Denkens bezüglich des Gegebenen, und zwar deshalb, weil die beiden kognitiven Elementarfunktionen, Vernunft und Gegebenes, selber wechselseitig bestimmt sind. Dadurch überträgt sich die funktionale Wechselbestimmtheit der beiden kognitiven Funktionen auf die aus ihnen extrapolierten Gestalten des Absoluten. Die Notwendigkeit der Duplizität von absolutem Denken und absolut e m Sein - unter der Voraussetzung, daß absolute Wahrheit als am Ort des Wahrheitsbewußtseins überhaupt erscheinende gewußt wird - ist sonach darin begründet, daß sich die - in gegenstandstheoretischer Hinsicht notwendige - Zweistämmigkeit des Wahrheitsbewußtseins unweigerlich auf der höheren Ebene der Bestimmung des erscheinenden Absoluten wiederholt. Das Absolute kann aus der Perspektive des Wahrheitsbewußtseins nicht als absolutes Denken extrapoliert werden, ohne zugleich auch als absolutes Sein gesetzt zu werden und umgekehrt. Hinsichtlich der formalen Bestimmtheit des so gewonnenen Begriffs des Absoluten folgt daraus: das Absolute wird "nicht als das Ganze, sondern als Glied eines Beziehungsgegensatzes gefaßt" (Lf §46.Α.), obwohl es der Idee nach als ein in sich Ganzes intendiert wird. Die Zweistämmigkeit des Wahrheitsbewußtseins verhindert es, das am Orte eben dieses Wahrheitsbewußtseins erscheinende Absolute in seiner Ganzheit zu denken. Wenn das Absolute für das Wahrheitsbewußtsein in ein absolutes Sein und ein absolutes Denken zerfällt, dann resultiert dies aber nicht nur daraus, daß die Extrapolation des Absoluten unter der Bedingung ihres eigenen Ausgangs, der Zweistämmigkeit des Wahrheitsbewußtseins, steht, sondern auch aus der eigentümlichen Verfaßtbeit des Bedingungsverhältnisses selber, das zwischen dem Absoluten und dem Wahrheitsbewußtsein existiert. Es geht nun also nicht mehr u m den reinen Sachverhalt der

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Rückbedingtheit überhaupt, sondern u m deren Art, die dadurch gekennzeichnet ist, daß zwischen dem schlechthin Bedingenden und dem von ihm Bedingten keine in sich einfache oder kategorial einheitliche Grund-FolgeBeziehung vorliegt. Das absolute Sein bedingt das Gegebene in anderer Weise als das absolute Denken die Vernunft. Der obwaltende Gegensatz zwischen absolutem Sein und absolutem Denken hat nach dieser Seite seinen Grund darin, daß wir auch im Hinblick auf die Idee eines schlechthin bedingenden Absoluten "die beiden Arten des Bedingens, die wir kennen - gegenständliches Bedingen und Bedingtwerden, und geistiges Bedingen und Bedingtwerden - nicht wirklich in einem schlechthin beide umspannenden nur Bedingenden zusammenschauen können" (ChR I, 172f). Diese Mehrdeutigkeit des Grund-FolgeVerhältnisses im schlechthinnigen Bedingtsein des Wahrheitsbewußtseins durch das Absolute hat zum Resultat, daß das Absolute "nicht als das Eine, das mit sich einig und sich selber gleich ist, erschlossen" (Lf § 46.A.) ist. Das Absolute "erscheint" in dem von ihm Bedingten nicht in seiner Einheit, Identität und Einfachheit, weil es, obgleich es das Wahrheitsbewußtsein zur Gänze bedingt, dennoch dessen Momente, das Gegebene und die Vernunft, in spezifisch verschiedener Weise bedingt: das Gegebene nach seiner Faktizität, die Vernunft nach ihrer kategorialen Bestimmungsfunktion. Da also einerseits das Gegebensein des Gegebenen und die Bestimmungsfunktion der Vernunft wechselseitig irreduzibel sind, andererseits aber ein absoluter Grund des Gegebenen und ein absoluter Grund der Vernunft das jeweils von ihnen Gegründete auf strukturell verschiedene Weise bedingen, vermag der absolute Grund des Wahrheitsbewußtseins insgesamt nur in seiner duplizitären Grundfunktion bzw. "in den für uns nicht aufeinander zurückführbaren Gestalten des absoluten Denkens und des absoluten Seins" (ebd.) zu erscheinen. Aus der Duplizität des Grund-Folge-Verhältnisses in Anwendung auf die Grundbezogenheit von Vernunft und Gegebenem folgt notwendig die Duplizität des Bedingtseins des Wahrheitsbewußtseins von Seiten des Absoluten und daraus wiederum die Unmöglichkeit des Erscheinens des Absoluten am Ort des von ihm Begründeten in seiner reinen Identität, Einfachheit und Einheit. Verwies der erste Aspekt der prinzipientheoretischen Differenz von absolutem Denken und absolutem Sein auf den bloßen Sachverhalt der Wechselbedingtheit überhaupt implizierenden Rückbedingtheit der Bestimmtheit des Absoluten bezüglich des Begründeten, so ging es bei dem zweiten speziell darum, daß m a n den Gedanken des Absoluten "nur unter Rückbedingung durch die eine oder andere Art (oder beide) der Wechselbedingtheit vollziehn" (ChR I, 173) kann. Nach beiden Aspekten ist das Mitgesetztsein des Absoluten im Wahrheitsbewußtsein nicht in der Weise explizierbar, daß die daraus resultierenden Begriffe der ursprünglich in-

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tendierten Idee des Absoluten gemäß wären. Die erkenntnistheoretische Durchführung zeigt, daß der Begriff des Einen, ganzen Absoluten, wie er bei der Identifizierung von Gott und absoluter Wahrheit vorausgesetzt ist, gedanklich nicht eingelöst zu werden vermag.

b) Die Antinomie von Grund und Grenze Die Nichtdenkbarkeit der Ganzheit und Einheit des Absoluten, die in der Duplizität von absolutem Sein und absolutem Denken ihren Niederschlag findet, macht deutlich, daß es sich bei der Idee des Absoluten der gegenständlichen Bestimmtheit und systematischen Funktion nach u m einen "Grenzbegriff" ( C h R I, 170) handelt. Die Idee des Absoluten ist in erkenntnistheoretisch reflektierter Form nicht explizierbar. Das was tatsächlich gedacht wird, bleibt prinzipiell hinter dem zurück, was dem der Wortverwendung zugrundeliegenden intuitiven Bedeutungspostulat nach gedacht werden soll. Selbstverständlich kann man rein logisch einen Begriff des Absoluten bilden, welcher per definitionem jene Duplizität in sich schließt. Damit h ä t t e man den in ihr enthaltenen Widerspruch gewissermaßen auf rein definitorischem Wege sanktioniert. Nur m u ß man zugleich sehen, daß "die damit erstrebte Einheit von absolutem Sein und absolut e m Denken eine formelle Position bleibt" ( C h R I, 169). Denn solange der als generisches Merkmal fungierende Begriff der Absolutheit unexpliziert und die Vollständigkeit der Einteilung in die Begriffe des absoluten Seins und des absoluten Denkens nicht aufgezeigt ist - was sich in der Problemsphäre der erkenntnistheoretischen Struktur des Wahrheitsbewußtseins gleichsam von selbst ergab - , genau so lange wird die Bestimmung des Begriffs des Absoluten als der Einheit von absolutem Sein und absolutem Denken nurmehr den Status einer Nominaldefinition, keineswegs jedoch den einer Realdefinition für sich in Anspruch nehmen können. Aber trotz jener an der Duplizität von absolutem Sein und absolutem Denken zutage getretenen zweifachen Widersprüchlichkeit der Idee des Absoluten kann wiederum auf deren Setzung auch nicht verzichtet werden. Sofern sich Wahrheitsbewußtsein überhaupt als Erscheinung der absoluten Wahrheit begreift, ist in allen kontingenten Akten des endlichen Wahrheitsbewußtseins Wahrheit als das Absolute mitgesetzt. Und wenn absolute Wahrheit wesensnotwendig als Eine vorausgesetzt wird, dann ist in allen auf bestimmte Wahrheitswerte gerichteten Einzelakten des Wahrheitsbewußtseins Wahrheit als Eine mitgesetzt, nämlich als diejenige "Ureinheit, an der alle Gegensätze des Denkens und Lebens sich als von einem Urbedingenden bedingt erweisen" (Lf § 46.Α.). Die Idee des Absoluten erweist sich somit als "ein dem Denken ebenso unvermeidlicher

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wie unvollziehbarer Begriff" (ChR I, 168): Unvermeidlich deshalb, weil er die Explikation dessen ist, was in allen Akten des Wahrheitsbewußtseins von diesem selbst als das es Letztbegründende mitgesetzt wird; unvollziehbar hingegen, weil solche Explikation in einen widerspruchserfüllten Grenzbegriff von eben jenem letzten Grund f ü h r t . Damit ist diejenige Einsicht erreicht, in der Hirschs gesamte Analyse des neuzeitlichen Wahrheitsbewußtseins gipfelt: "Das menschliche Wahrheitsbewußtsein, wo es sich selbst bis ins Letzte versteht, hat sein Verhältnis zur Wahrheit allein in der Antinomie, daß es das Absolute zugleich als seinen Grund und seine Grenze weiß" (Lf §46.Α.). Das Verhältnis des Wahrheitsbewußtseins zur Wahrheit ist antinomisch verfaßt. Der interne Widerstreit dieser Beziehung besteht darin, daß das Wahrheitsbewußtsein seine Gegründetheit in der absoluten Wahrheit nur so explizieren kann, daß es sich dabei der kategorialen und bewußtseinstheoretischen Schranken seiner explikativen Möglichkeiten inne wird. Damit enthüllt sich die Idee des Absoluten als ein solches, "zu dem wir uns als dem Letzten unsrer Erkenntnis, d.h. als dem von uns zugleich stets Erkannten und nicht Erkannten, d.h. im Widerspruch verhalten" (ChR I, 170). Eben dieses Verhältnisses wegen kann man aus der Position des Wahrheitsbewußtseins auch "nie vom Absoluten als solchem reden, sondern immer nur von der Beziehung, in der unserm Denken das Absolute ein unvermeidlicher, letzter, grenzzersprengender Gedanke wird" ( C h R I, 173). Weil die Explikation der Idee des Absoluten den Gegensatz zwischen deren affirmativer Intention und in sich widersprüchlichen Bestimmtheitsform nicht zu überspringen vermag, deshalb muß jede sprachliche Mitteilung über das Absolute auf Aussagen über die so qualifizierte Beziehung zum Absoluten, und damit auf Verhältnisaussagen überhaupt zurückgenommen werden. Diese Restriktion resultiert allein aus der formalen Unmöglichkeit, von einer zugleich notwendigen und in sich widersprüchlichen gedanklichen Bezugnahme auf etwas zu dessen realer Ansichbestimmtheit überzugehen. Weil das Absolute vom Wahrheitsbewußtsein nur als das Zugleich seines Grundes und seiner Grenze gedacht werden kann, darum kann es keine "Theorie des Absoluten" sensu stricto geben. 3 0 Das antinomische Verhältnis zwischen unbedingter Wahrheit und endlichem Wahrheitsbewußtsein ist die notwendige und hinreichende Bedingung aller antithetischen "Bestimmungen" des Absoluten. Hirsch nimmt für jene Antinomie jedenfalls in Anspruch, daß sie "bei jeder beliebigen Weise der Beziehung auf das Absolute aufbricht" ( C h R I, 170). Ihre Allgemeinheit ist äquivalent der Allgemeinheit der Zweistämmigkeit des Wahr30

Bezüglich dieser Einsicht wußte sich Hirsch in inhaltlicher (vgl. Lf § 46.M.1.) Übereinstimmung mit der Idealismus-Kritik Kierkegaards (vgl. ChR I, 169f).

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heitsbewußtseins, in deren kategorialer Perspektive die Explikation des Mitgesetztseins der absoluten Wahrheit notwendig erfolgt. Als "echte Antinomie" ist das antinomische Verhältnis des Wahrheitsbewußtseins zur absoluten Wahrheit Gottes "nicht der bloße Widerspruch des Denkens zu sich selber beim Versuch naiver Gottesvergegenständlichung" ( C h R I, 170). Letzteres wäre - wie theologisch aufgeladen auch immer - rein prinzipientheoretisch als willkürlich bzw. nur als Scheinantinomie einzustufen. Jene ist aber auch keine - wie der strikt erkenntnistheoretische Zugang leicht, aber irrtümlich vermuten lassen könnte - lediglich methodische Antinomie, also nicht von der Art, daß sie "bloß an einer bestimmten Technik der Fragestellung hängt" (ebd.). Die Antinomie des Wahrheitsbewußtseins darf vielmehr als das "Form und Bewegung des menschlichen Denkens bestimmende unüberschreitbare und unbegreifbare Grundgesetz" (Lf §46.B.) gelten. Hirsch konnte die antinomische Bestimmtheit des Erscheines der absoluten Wahrheit unter den Bedingungen des endlichen Wahrheitsbewußtseins als dessen Grund und Grenze auch durch das Begriffspaar Immanenz/Transzendenz erläutern. Der Gedanke der Immanenz des Absoluten besagt, daß keiner der denkbaren Formen und Gestalten erkennender Bezugnahme auf Gegenständlichkeit Wahrheit zuzukommen vermag "außer vermöge dessen, daß die ewige Wahrheit des Absoluten in ihr als Bedingendes, Tragendes, Haltendes gegenwärtig ist" (Lf §46.M.4.). Die absolute Wahrheit ist Grund aller Erkenntnis, sofern ihre Anwesenheit in dieser das Wahrsein bzw. die Gültigkeit derselben bedingt, trägt und erhält. Der Begriff der Transzendenz des Absoluten hingegen beinhaltet, daß keiner Erkenntnis Wahrheit eignet "außer so, daß die ewige Wahrheit des Absoluten ihr als ein fernes Geheimnis sich entzieht" (ebd.). Die Wahrheit Gottes transzendiert alle möglichen Erkenntnisformen in dem Sinne, daß ihre Totalität, Einheit und Ewigkeit am Orte des endlichen, in sich mannigfaltigen und aktual vergänglichen Wahrheitsbewußtsein grundsätzlich nicht zur Darstellung gelangen kann. Aus beiden relativen Eigenschaften des Absoluten zusammen ergibt sich: "Die Idee des Absoluten steht zugleich immanent und transzendent zu allem, was wir innerhalb des Gegebnen mit unsrer Vernunft erkennen" (ebd.). Das letzte Zitat macht nun auch darauf aufmerksam, daß beide antithetischen Bestimmungen niemals für sich allein, sondern immer nur zusammen prädiziert werden können, daß also von der absoluten Wahrheit "zugleich Immanenz und Transzendenz" (ChR I, 170) ausgesagt werden muß. Dies ergibt sich aus dem bereits erörterten Sachverhalt, daß nämlich das Wahrheitsbewußtsein das Absolute nur dann als Grund oder Grenze seiner selbst erkennt, wenn es dieses beides "zugleich ... weiß" (Lf §46.Α.). Auch die Begriffe "Immanenz" und "Transzendenz" erfahren durch den

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Gedanken der zwischen ihnen bestehenden Gleichursprünglichkeit eine gegenüber ihrer jeweils einseitigen, abstrakten Verwendung grundlegende Korrektur. Transzendenz als Moment des Zugleichs von Transzendenz und Immanenz bedeutet nicht "beziehungslose Transzendenz des Absoluten gegen uns" (ChR I, 170), sie schließt als Transzendenz eines gründenden Grundes vielmehr eine Beziehung auf das Gegründete ein. Absolute Wahrheit transzendiert das Wahrheitsbewußtsein immer nur so, daß sie in ihm als verborgener Grund zugleich gegenwärtig ist. Und umgekehrt, Immanenz als Moment des Zugleichs von Immanenz und Transzendenz ist nicht "das keine dialektische Gebrochenheit kennende Eingehn des Absoluten ins endliche Dasein" (ebd.), sondern schließt als Immanenz des Erscheinens die kategoriale Differenz zwischen dem Ursprung und seiner Erscheinung ein. Absolute Wahrheit ist dem Wahrheitsbewußtsein immer nur so immanent, daß sie sich ihm als Inhalt eines Grenzbegriffs zugleich entzieht. Weil die das Verhältnis des Absoluten zur gesamten Erkenntnissphäre kennzeichnende Gleichursprünglichkeit von Immanenz und Transzendenz nurmehr eine Wiederholung der das Wahrheitsbewußtsein konstituierenden Spannungseinheit zwischen der Grund- und der Grenzfunktion des Absoluten darstellt, deshalb ist sie lediglich ein anderer Ausdruck für die Fundamentalaporetik des Wahrheitsbewußtseins. Letztere läßt sich in dem Grundsatz fassen, daß "das menschliche Wahrheitsbewußtsein in dem antinomischen Verhältnis zum Absoluten seine letzte unentrinnliche und unaufgebliche Grundlage hat" (Lf §46.M.5.). Die erkenntnistheoretische Allgemeinheit und Notwendigkeit der Antinomie des Wahrheitsbewußtseins betrifft nun aber keineswegs nur das Erkennen im engeren Sinn. "So gewiß ... das menschliche Wahrheitsbewußtsein seine Tiefe darin hat, Selbstverständnis des ganzen Menschen in seinem Verhältnis zur Wahrheit zu sein, so gewiß drückt diese Antinomie das Verhältnis nicht bloß des Denkens, sondern des ganzen menschlichen Wesens und Lebens zum Absoluten aus" (Lf §46.B.). Sofern auch das Wollen und Handeln und ebenso das die theoretische und praktische Einstellung begleitende Affektleben Formen des Sich-Verhaltens zur Wahrheit repräsentieren, weisen sie ebenfalls, je auf ihre Weise, antinomische Strukturmerkmale - im strikten Sinne - auf. Das antinomische Verhältnis zur absoluten Wahrheit ist dasjenige Prinzip, das vermöge seiner Letztgültigkeit alle Modifikationen von Wahrheitsbewußtsein bestimmt. Indem es deren Absolutheitsdimension aufdeckt, enthüllt es zugleich deren absolute Negativität. "Wir können und sollen die Idee des Absoluten ... wohl denkend postulieren; aber nur so, daß wir damit unsrer Denk- und Lebensvollmacht die Stelle bezeichnen, an der sie vergeht" (Lf §46.Α.). Mit der Struktur der Antinomie ist, wie bereits angedeutet, auch der prädikativen Bezugnahme auf das Absolute - sei es im Kontext religiöser

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Rede, sei es im Zusammenhang der Dogmatik - der erkenntnistheoretische Status zugewiesen. Er läßt sich an dem Wortsinn des Ausdrucks "das Absolute" selber exemplifizieren. Der intuitiven Bedeutung des Ausdrucks zufolge ist das Absolute "das schlechthin nur Bedingende, nicht Rückbedingte, aber als Bedingendes wohl mit der Welt in lebendiger Beziehung Stehende" (ChR I, 172). Dieser Begriff wird später in abgewandelter Form im Zusammenhang der Antinomie der Religion wieder auftauchen. Hier kommt es zunächst darauf an, seine formelle Problematik zu beleuchten. Sie besteht in folgender Aporie: "wir kennen Bedingendes nur im Kreis der Wechselbedingtheit; der Wechselbedingtheit entnommenes Bedingendes ist ein Unbegriff" (ebd.). Der Grund dafür ist ein logischer Sachverhalt: Die Beziehung "Bedingendes/Bedingtes" ist ein asymmetrisches Verhältnis. In der Asymmetrie dieser Beziehung kommt deren Gehalt nach ein einsinniges, nichtumkehrbares Gefälle zwischen Bedingendem und Bedingtem zum Ausdruck. Aber ein asymmetrisches Verhältnis gehört syntaktisch zur Klasse der Relationen. Es liegt nun im Wesen einer Relation, daß sich deren Relate formal wechselseitig fordern. Jedes Bedingende ist insofern notwendig durch das von ihm Bedingte rückbedingt - wenn es auch in anderer Weise bedingt als es rückbedingt ist. Der Begriff eines schlechthin Bedingenden, seinerseits nicht Rückbedingten, ist in der Syntax der Relationskategorie Bedingendes/Bedingtes nicht denkbar. "Dieser Begriff widerspricht... allem von unserm Denken Erfaßbaren" (ebd.). Hinsichtlich der Möglichkeit eines "Begriffs" des Absoluten ergibt sich folgendes Resultat: Wir können diesen Gedanken zwar "denkend postulieren" , aber niemals kategorial widerspruchsfrei explizieren. Die begriffliche Bestimmtheit des Gedankens des Absoluten steht immer "gegen das, was wir denken wollen". Der mit der Verwendung des Ausdrucks "das Absolute" gesetzte gedankliche Gehalt hat deshalb den begrifflichen Status einer intendierten "Idee" (Lf §46.Α.). Die die Erfüllung dieser intendierten Idee verhindernde formale Aporie besteht wiederum in der Diskrepanz zwischen dem in der Verwendung des Ausdrucks "das Absolute" vermeinten semantischen Gehalt und der kategorial zur Verfügung stehenden Bestimmtheitsform. Weil diese Diskrepanz prinzipiell nicht eliminierbar ist, stellt die Idee des Absoluten für das Denken eine "unvollziehbare, es mit sich selbst entzweiende Idee" (ebd.) dar. Hirsch kann deshalb sogar von dem "Unbegriff des Absoluten" ( C h R I, 173) reden. Diese auf den ersten Blick vielleicht etwas schockierende Redeweise ist kategorial durchaus sachgemäß, und zwar aus zwei Gründen: Jener Idee fehlt einerseits, was notwendige Bedingung eines jeden Begriffs ist, nämlich die Einheit des Begriffs, welch letztere die Widerspruchsfrei-

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heit seiner Merkmale voraussetzt; und in Ermangelung solcher Einheit fehlt ihr andererseits die Form der Bestimmtheit im prinzipiellen Sinne. Genau dieser formale Sachverhalt ist es dann aber auch, welcher den Aussagen der Gotteslehre in erkenntnistheoretischer Hinsicht einen - trotz des gegenteiligen semantischen Oberflächeneindrucks - lediglich quasiprädikativen Charakter verleiht. "Wer...vom Absoluten redet, Aussagen macht, wie wenn es sich um gewöhnliche Denkaussagen handelte, der ist naiv. Es ist das ABC geistiger Bildung zu sehn, daß das nicht geht" (ChR I, 173).

4. Die wahrheitstheoretische Entfaltung der Gotteslehre a) Die drei Modi des Wahrheitsbewußtseins Hirschs Aufklärung der Möglichkeit des Wahrheitsbezugs von Erkenntnis unter den Bedingungen der unhintergehbaren Zweistämmigkeit des Bewußtseins, wie sie in der neuzeitlichen Erkenntnistheorie alternativ problematisiert worden ist, hat ergeben, daß ein so verfaßtes Wahrheitsbewußtsein kein anderes Verhältnis zur unbedingten Wahrheit Gottes zu gewinnen vermag als ein antinomisches. Die dem Wahrheitsbewußtsein eigene Evidenz, sofern es sich nicht ein endliches Wahres, sondern auf absolute Wahrheit gerichtet bzw. sich selbst als Ort ihrer Erscheinung weiß, impliziert die Gewißheit eigener basaler Widersprüchlichkeit. Sie ist ebensowohl das Evidentwerden einer Aporie als auch in sich aporetische Evidenz. Das Vorliegen dieses Sachverhaltes ist nun aber keineswegs auf einen erkenntnistheoretischen Modellfall der Struktur von Wahrheitsbewußtsein begrenzt, sondern betrifft alle kognitiven Situationen, in denen das Wahrheitsbewußtsein als kognitive Instanz agiert, somit auch alle Formen des Wissens, in denen es um den Begriff, den Gedanken oder die Vorstellung des Absoluten geht, sei es in lebensweltlich-religiösen, in reflektiert-theologischen oder in prinzpientheoretisch-metaphysischen Kontexten. Darum hat die Antinomie als "die Grundform sämtlicher sowohl humaner wie christlicher Aussagen über Gott" (Lf §46.M.6.) zu gelten. Der Gehalt dieser These ist im folgenden in Erwägung zu ziehen. Den humanen Ort von Religion erblickt Hirsch in Übereinstimmung mit der Theologie Luthers - vor allem nach ihrer Deutung durch Karl Holl - im Gewissen. Wie ist diese theologische Ortsbestimmung in wahrheitstheoretischer Hinsicht aufzufassen? Zur Beantwortung dieser Frage ist es unumgänglich, die erkenntnistheoretische Stellung des Gewissensbegriffs zu umreißen.

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Hirsch unterscheidet drei Modi des Wahrheitsbewußtseins. Der erste liegt vor in allen Fällen der Erkenntnis von nicht menschlich-geschichtlicher Wirklichkeit. Erscheinungen der Natur werden erklärt, indem Beobachtungen durch das Experiment künstlich provoziert, die signifikanten Werte solcher Erfahrung gemessen und die darin enthaltenen Gesetzmäßigkeiten mathematisch dargestellt werden. Was sich in solchem Erklären erschließt, bezeichnet Hirsch als "Sachwahrheit". 3 1 Der zweite Modus des Wahrheitsbewußtseins betrifft die Sphäre der Erkenntnis der spezifisch menschlichen Wirklichkeit. Geschichte wird verstanden, indem durch Überlieferung zugängliche Ereignisse der Vergangenheit, die zunächst nur mundane Zustandsveränderungen darstellen, als Resultat menschlichen Handelns aufgefaßt werden. Was sich in solchem Verstehen erschließt nennt Hirsch "Sinnwahrheit". 3 2 Der dritte Modus des Wahrheitsbewußtseins schließlich gehört dem Bereich der Selbsterkenntnis des Menschen an. Ein Mensch vernimmt sich als ein Selbst, indem er sich sowohl seiner ethisch qualifizierten Intersubjektivitätsbeziehung als auch seiner religiösen Beziehung auf Gott, und zwar beider in ihrer Verschränktheit, bewußt wird. Was sich in solchem Vernehmen erschließt, ist nach Hirsch "Gewissenswahrheit". 3 3 Wie kommt es nun mit Bezug auf diese drei Arten von Wahrheit zur inneren Genese von Religion? Das religiöse Potential der natürlichen und geschichtlichen Bestimmtheit des Menschen kann in Anbetracht des bereits verhandelten Sachverhaltes, daß das Wahrheitsbewußtsein insgesamt in einem antinomischen Verhältnis zur unbedingten Wahrheit steht, nur dort zutage treten, wo die Naturerkenntnis und die Geschichtserkenntnis bei dem Versuch, letzte Erkenntnis bzw. Erkenntnis der Wirklichkeit im Ganzen sein zu wollen, auf unvermeidliche Antinomien stoßen. Für den Bereich der Naturerkenntnis macht Hirsch zwei Antinomien namhaft. Die erste betrifft die in der Unabschließbarkeit der Forschung zum Ausdruck gelangende Unauflöslichkeit des Gegensatzes zwischen der Begrenztheit ihres Fragens zum Zwecke der Exaktheit und der Unendlichkeit ihrer Aufgabe zwecks Gewinnung vollständiger Bestimmtheit. Die zweite Antinomie der Naturerkenntnis betrifft die Stellung des Menschen darin: Auf der einen Seite ist der Mensch epistemische Instanz, welche sich dazu befähigt weiß, Naturerkenntnis hervorzubringen, und mit Bezug auf welche diese allein als gültig bezeichnet und ausgewiesen werden kann; auf der anderen Seite kann diese epistemische Instanz selber zum Gegenstand der Naturerkenntnis gemacht und damit in den Naturprozeß hinein aufgelöst werden. In der einen Perspektive wird der Mensch als 31 32 33

Vgl. L f § 4 7 . Vgl. Lf § 48. Vgl. Lf § 49.

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formales Gültigkeitsbewußtsein, in der anderen als Glied des Naturzusammenhangs betrachtet. Auch dieser Gegensatz ist unauflöslich. Das in beiden Gegensätzen enthaltene religiöse Moment kann wahrheitstheoretisch formuliert so zusammengefaßt werden, daß "das menschliche Wahrheitsbewußtsein an der Antinomie seiner Naturerkenntnis fortgetrieben werde, Gott als den Mensch und Natur setzenden verborgnen Ursprung aller Dinge zu denken" (Lf § 47.M.2.). Die religiöse Valenz der Naturerkenntnis wäre demnach völlig mißverstanden, wenn man meinte, sie ergebe sich durch ein "Herumdoktern" ( C h R I, 178) a m wissenschaftstheoretischen Status des Naturgesetzes, etwa durch die Betonung seines bloß hypothetischen Charakters bzw. den Hinweis auf die bloß statistische Allgemeinheit seiner Gültigkeit oder durch ein Aufspüren von Lücken im Gesetzeszusammenhang. Sie tritt vielmehr ausschließlich dort zutage, wo die der Naturwissenschaft selber eigene Forschungsgesinnung unmittelbar und als solche zum Tragen kommt, nämlich in den oben genannten Antinomien der Sachwahrheit. "Naturerkenntnis will gleichsam Welterkenntnis, Erkenntnis des Universums sein und verwickelt sich dabei in Widersprüche, die zeigen, daß sie als Erkenntnis nichtmenschlicher Wirklichkeit einem andern Reich der Erkenntnis eingeordnet werden muß. Mit dieser Einordnung wiederum beugt sie aber die objektivierbaren, versachlichbaren Elemente dieses andern Reichs unter ihre Art, durchwebt also den Gesamtbereich unsers Erkennens nach einer bestimmten Seite hin" (ChR I, 179f). Damit sind wir aus dem Bereich der Sachwahrheit in den der Sinnwahrheit übergegangen. Auch auf dem Feld der Geschichtserkenntnis stößt das Wahrheitsbewußtsein auf eine konstitutive Antinomie. Wir h a t t e n bereits oben im Zusammenhang der Darlegung von Hirschs Geschichtsverständnis gesehen, daß menschliches Handeln dort noch nicht in seiner spezifischen Verfaßtheit hinreichend verstanden ist, wo es darin aufgeht, als Faktor im Wirkzusammenhang geschichtlicher Ereignisse aufgefaßt zu werden. Vielmehr dringt alle Geschichtserkenntnis auf einen Letztheitsaspekt des Handelns, demzufolge dieses ein Hineingerufenwerden in die Entscheidungssituation und ein darin für die tatsächlich gefällten Entscheidungen Verantwortlichgemachtwerden bedeutet. Beide Momente sind wesentlich religiöser Art, denn sie indizieren den Bezug auf ein Unbedingtes als das zur Entscheidung Rufende und in die Verantwortung Stellende. Dieser religiös-metaphysische Gehalt der Geschichte ist in jedem geschichtlichen Einzelakt repräsentiert, also nicht etwa erst im universalgeschichtlichen Gesamtzusammenhang als solchem - sei er mythologisch als Weltalterganzes, spekulativ-dialektisch als Entwicklungsprozeß oder teleologisch als Sinnkontinuum gedacht.

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Damit ergibt sich für die Sinnwahrheit der Interpretation vergangenen menschlichen Handelns aber folgender innerer Widerspruch: Geschichtserkenntnis "kann den sinnvollen vernünftigen Zusammenhang im menschlich-geschichtlichen Dasein nur verstehen, wenn sie die ihr nicht weiter durchdringliche innre Begrenzung des menschlich-geschichtlichen Willens im göttlichen Geheimnis als das der Geschichte Sinn, Leben und Halt Gebende erkennt; und sie wird die Begrenzung des menschlich-geschichtlichen Willens im göttlichen Geheimnis nur da als den selbst nicht mehr menschlich-geschichtlichen ... Ursprung des menschlich-geschichtlichen Daseins zu erkennen vermögen, wo sie das Ganze menschlich-geschichtlicher Wirklichkeit ihrem Willen zum Verstehen bis an die letzte Grenze unterwirft" (Lf § 48.B.). Alle Geschichtserkenntnis, die sich als letzter Interpretationshorizont des Menschlichen begreift - wie es für die konsequente Fassung des historischen Bewußtseins in der Tat signifikant ist - , vollzieht sich demnach in einer "widerspruchsvollen Doppelbewegung" (ebd.). Hirsch läßt den vom Historismus geltend gemachten Konflikt zwischen dem universellen Verstehensanspruch des historischen Bewußtseins und dem normativen Gültigkeitsanspruch der es prägenden ethisch-religiösen Wertsphäre nicht als einen zwangsläufig zur Relativierung der letzteren führenden stehen, sondern erklärt ihn handlungstheoretisch und deutet ihn umgekehrt nachgerade als Indikator des religiösen Gehaltes jeder echten Geschichtserkenntnis. Dieses in allem Verstehen von Geschichte enthaltene religiöse Moment läßt sich wahrheitstheoretisch dahingehend ausdrücken, "daß das menschliche Wahrheitsbewußtsein in der Sinnwahrheit auf das Geheimnis des das menschliche Wahrheitsbewußtsein begrenzenden Göttlichen stößt" (Lf § 48.M.1.). Beide Sphären erkennender Bezugnahme auf Wirklichkeit, sowohl Naturerkenntnis als auch Geschichtserkenntnis, enthalten demnach ein verdecktes religiöses Potential, indem sie nämlich beide, wenn auch auf unterschiedliche Weise, für ihren Bereich jeweils konstitutive Antinomien beinhalten. Beide Formen des Wahrheitsbewußtseins sind rein als solche nicht in der Lage, die in ihnen enthaltene Absolutheitsthematik explizit zur Darstellung zu bringen, umgekehrt können sie sich aber auch nicht vollständig davon dispensieren. An ihnen selber und mit Bezug auf ihre eigensten Intentionen bewährt sich der universelle religionsphilosophische Grundsatz: "Alles, was uns von der Nichtursprünglichkeit unsers Lebens und Erkennens überführt, ist Erkenntnis eines uns in unserm Dasein bedingenden Geheimnisses als Grenzerkenntnis" ( C h R I, 179). In der Naturerkenntnis haben wir es mit Ereignissen der nicht menschlich-geschichtlichen Wirklichkeit zu tun, die wir erklären. In der Geschichtserkenntnis nehmen wir ebenfalls auf raumzeitliche Zustandsveränderungen Bezug, verstehen sie aber als solche, die durch das menschliche

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Handeln herbeigeführt worden sind. Hier liegt demnach keine Sachwahrheit vor, sondern Sinn Wahrheit, aber auch nicht reine Sinn Wahrheit, sondern "Sinnwahrheit mit sachlichen Bezügen" (Lf §48.Α.). In der Selbsterkenntnis nun wird der ethisch-religiöse Gehalt des menschlichen Zusammenlebens aufgedeckt. Das Einzelsubjekt wird sich seiner Verflochtenheit in den Handlungszusammenhang der Geschichte als des Ortes der Verantwortung vor Gott bewußt. Dies bedeutet, daß die Selbsterkenntnis immer zurückverweist auf die Sphäre der Geschichtserkenntnis und damit auch auf die der Naturerkenntnis. Auf die Wahrheitsmodi übertragen besagt dies: Die "Gewissenswahrheit hat keinen andern Stoff als den der Sinnwahrheit, sie ist also immer nur in Verflechtung mit ihr, mittelbar also auch mit der Sachwahrheit, uns aufgehend" (ChR I, 192). Daraus ergibt sich für den Ansatz der Gotteslehre einerseits: Auch wenn die Gewissenswahrheit die eigentliche Dimension des humanen Gottesverhältnisses ist, so schließt diese Ortsbestimmung der Religion es nicht nur nicht aus, sondern fordert es umgekehrt geradezu, daß auch Elemente der natürlichen und geschichtlichen Bestimmtheit des Menschen in dessen religiöse Selbstwahrnehmung eingehen. Zum andern konstatiert Hirsch aber auch eine umgekehrte Abhängigkeit zwischen diesen drei Formen des Bezogenseins auf Wahrheit. Sie gipfelt in der These: "Alle Wahrheitsbeziehung sonst im menschlichen Leben ist getragen von der, die in dieser Selbsterkenntnis sich als wirklich erweist". In dem hier vorliegenden Verhältnis zur Wahrheit liegt "die letzte, die ursprüngliche Wurzel des Menschseins aus Gott" (Lf §49.Α.). In dieser Hinsicht ist also das Gewissen "Wurzel und Stätte aller Erschlossenheit und Verborgenheit Gottes im menschlichen Dasein" (Lf §53.Α.). Sachwahrheit und Sinnwahrheit sind jetzt "allein in ihr Elemente eines echten Gottesverhältnisses" (Lf §49.Α.). Wie ist diese Priorität der Gewissenswahrheit zu erklären? Daran, daß es jenen beiden ersteren Wahrheitsformen an einem Verhältnis zur unbedingten Wahrheit ermangle, kann es jedenfalls nicht liegen. Auch Sachwahrheit und Sinnwahrheit haben, wie zunächst festzustellen war, eine religiöse Dimension, sofern in ihnen fundamentale Antinomien enthalten sind, die in die Substanz des religiösen Bewußtseins eingehen. Das Problem liegt an einer ganz anderen Stelle. Es hat zu tun mit der strukturellen Verfaßtheit des Wahrheitsbewußtseins selber, noch ganz abgesehen davon, in welchen inhaltlich bestimmten Modi es, wenn es wirklich wird, jeweils auftritt. In dem alle Akte des Handelns, Fühlens und Erkennens umgreifenden Wahrheitsbewußtseins geht es um das "Selbstverständnis des ganzen Menschen in seinem Verhältnis zur Wahrheit" (Lf §46.B.; Hhg.v.Vf.). Das Wahrheitsbewußtsein kann als Grundform allen bewußten Umgangs mit der Wirklichkeit nur gelten, sofern es in ihm

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zu einem "inneren Erleben und Bejahen eines eckten Verhältnisses unsers Erkennens zur Wahrheit" ( C h R I, 166; Hhg.v.Vf.) kommt. Das Wahrheitsbewußtsein ist nicht lediglich ein Bezogensein auf Wahrheit, sondern ein Sich-Verhalten zur Wahrheit. Ein solches Sich-Verhalten zur Wahrheit unterscheidet sich von jenem bloßen Bezogensein dadurch, daß es dieses Bezogensein auf anderes ausdrücklich macht, d.h. daß es das andere als anderes und sich selbst als Sich-Verhaltendes bzw. als Selbstverhältnis setzt. Also nur sofern das Wahrheitsbewußtsein das in ihm enthaltene Selbst Verhältnis ausdrücklich macht, ergreift es sich sonach überhaupt als ein Sich-Verhalten zur unbedingten Wahrheit. Und umgekehrt, nur sofern das Wahrheitsbewußtsein sein Sich-Verhalten zur unbedingten Wahrheit ausdrücklich macht, ergreift es sich als ein Selbst Verhältnis. Nun macht es aber die Besonderheit des religiösen Bewußtseins in der Tat aus, auf das Absolute nicht nur - wie alle Wirklichkeit sonst - schlechtweg bezogen zu sein, sondern darin auch "sich zum Absoluten zu verhalten" ( C h R I, 169) bzw. sich als ein "zu Gott sich verhaltendes Selbst" (Lf § 4 9 . B . ) zu wissen. Das Absolute bzw. Gott ist aber nichts anderes als die unbedingte Wahrheit. In der vom religiösen Bewußtsein erfaßten Gewissenswahrheit wird sonach nur das explizit, was in allem Wahrheitsbewußtsein zwar enthalten ist, in den nichtreligiösen Formen desselben an deren eigenem Ort selber aber niemals unmittelbar thematisch werden kann, nämlich dies, daß sich in allem Wahrheitsbewußtsein ein Selbst zur unbedingten Wahrheit verhält. Dies kann in der anderen Form des Wahrheitsbewußtseins deshalb nicht thematisch werden, weil die Bereiche von Sachwahrheit und Sinnwahrheit die Selbstheit der zugrundeliegenden epistemischen Instanz überhaupt nicht in den Blick gelangen lassen. Eben deshalb verflüchtigt sich in ihnen auch das individuelle epistemische Subjekt des Wahrheitsbewußtseins, und deshalb kann die ihnen gleichfalls eignende religiöse Substanz nur durch einen mittelbaren Reflexionsakt, d.h. nachgängig und von außen, eingeholt bzw. auf den Begriff gebracht werden. "Gott ist uns sowohl durch Reflexion im Umkreis der Sach- und Sinnwahrheit....... als auch durch das persönliche Betroffensein im Gewissen da.... Ohne das Zweite wäre der Mensch nicht der sich zu Gott verhaltende Einzelne" ( C h R I, 212). Die Eigentümlichkeit der Gewissenswahrheit gegenüber der Sach- und Sinnwahrheit liegt eben darin, daß sie die Substanz des Wahrheitsbewußtseins, nämlich das Sichverhalten eines Selbstes zur unbedingten Wahrheit bzw. das Erscheinen dieser Wahrheit am Orte eines bewußten lebendigen Selbstverhältnisses, nicht nur verkörpert, sondern zugleich auch ausdrücklich macht. Das macht die Priorität bzw. konstitutive Bedeutung dieses speziellen Verhältnisses zur Wahrheit aus. "Es

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macht den Menschen zu dem in Person zur Wahrheit sich Verhaltenden, was in keiner andern Gestalt des Wahrheitsbewußtseins gegeben ist" (ChR I, 193). Sowohl in der Naturerkenntnis als auch in der Geschichtserkenntnis ist deren epistemische Instanz auf Wahrheit bezogen, und zwar, sofern jene jeweils konstitutive Antinomien enthalten, durchaus auf die unbedingte Wahrheit selber. Aber in diesen Gestalten der Wahrheitsbezogenheit des Bewußtseins, in denen Sachwahrheit oder Sinn Wahrheit erschlossen ist, wird weder die Instanz, welche auf die unbedingte Wahrheit bezogen ist, noch die darin bezogene unbedingte Wahrheit selber, noch die Beziehung zwischen beiden als solche ausdrücklich gesetzt, sondern ist lediglich gegeben. Damit liegt dort streng genommen nur eine Bezogenheit des Bewußtseins auf die unbedingte Wahrheit vor, nicht aber im eigentlichen Sinne ein Bewußtsein der unbedingten Wahrheit, sofern für Bewußtsein konstitutiv ist, daß sowohl Unterschied als auch Beziehung und ebensosehr Unabhängigkeit des Unterschiedenen und Bezogenen von dem Unterschied und Beziehung Setzenden nicht nur gegeben sind, sondern auch ausdrücklich als solche gewußt werden. Weil dies in der Natur- und Geschichtserkenntnis nicht der Fall ist, deshalb trägt der Wahrheitsbezug der Selbsterkenntnis auch noch den Wahrheitsbezug von Natur- und Geschichtserkenntnis. Allein in der Selbsterkenntnis ist das Verständnis der Wahrheit als Verhältnis gesetzt. Nicht also aus Gründen des Vorkommens oder Fehlens von religiöser Substanz oder aus Gründen etwaiger quantitativer Differenzen solchen Vorkommens - beides ist undenkbar im Hinblick auf das in allen drei Formen wirksame Erscheinen der unbedingten Wahrheit - erweisen sich Sachwahrheit und Sinnwahrheit als von der Gewissenswahrheit abhängig, sondern allein deshalb, weil ausschließlich in der Selbsterkenntnis des Gewissens ein Selbst sich zur unbedingten Wahrheit nicht nur verhält, sondern auch weiß, daß es dies t u t . D a r u m ist die "Gewissenswahrheit ... der eigentliche Ort der Religion sensu eminenti. Außerhalb dieser Sphäre ist Religion noch nicht zu sich selbst befreit" ( C h R I, 192). Für das Ergreifen der unbedingten Wahrheit in den Formen des Erschlossenseins von Sachwahrheit und Sinnwahrheit gilt hingegen: "Nur insofern die Gewissenswahrheit in sie eingegangen ist, ist eine Religion oder Religiosität etwas andres als die bloße Möglichkeit, daß es zur Religion und Religiosität kommt" (Lf § 49.Α.). Religion ist somit auch aus Gründen der Verfaßtheit von Wahrheitsbewußtsein zuallererst Gewissensreligion. Oder anders gesagt: Das religiöse Bewußtsein von der Form des Gewissens ist erkenntnistheoretisch geurteilt nichts anderes als das in das Bewußtsein seiner selbst vertiefte Wahrheitsbewußtsein.

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b) Der Ansatz der materialen Gotteslehre Der Gottesgedanke baut sich aus allen drei Gestalten des Wahrheitsbewußtseins auf, aber so, daß der in der Gewissenswahrheit gegebenen Beziehung auf die absolute Wahrheit gegenüber der in den Antinomien von Sach- und Sinnwahrheit vorliegenden die Trägerfunktion zukommt. Letztere ist darin begründet, daß allein von der ethisch-religiösen Selbsterkenntnis das Verhältnis zur absoluten Wahrheit auch als ein solches gewußt wird, Wahrheitsbewußtsein also ausschließlich in dieser Form seine Struktur des Sich-Beziehens-auf-Anderes reflexiv einholt. Damit gehen dann allerdings zwei völlig verschiedene Inhalte in die Bedeutung des Ausdrucks "Gott" ein. In der Perspektive der Antinomien von Sach- und Sinnwahrheit ist Gott Prinzip im Sinne einer auf Letztbegründung ausgerichteten Prinzipienreflexion. In ihrem Kontext bedeutet der Ausdruck "Gott" nichts anderes als: "das Letzte und Höchste in dem allgemeinen, die Wirklichkeit erklärenden und verstehenden Wahrheitsbewußtsein" (Lf §53.Α.). In der Perspektive der Gewissenswahrheit hingegen ist Gott das Gegenüber der mit ihm umgehenden Frömmigkeitspraxis. In ihrem Kontext bedeutet der Ausdruck "Gott" nichts anderes als: der ein persönliches Verhältnis im Menschen zu sich Setzende (vgl. ebd.). Das Gottesverhältnis hat demzufolge ebensosehr eine "reflexionsmäßige Seite" wie eine "unmittelbare Seite" (ChR I, 212). Das reflektierte Gottesbewußtsein expliziert den Gottesgedanken im Begriff des Allbedingenden, die Frömmigkeit stellt Gott als den Einen im Sinne eines persönlichen Gegenübers vor. "Daß Gott der Allbedingende und daß er der Eine ist, sind sich gegenseitig erklärende Wechselaussagen" (Lf §53.M.5.), nicht in dem Sinne, daß in beiden "Prädikationen" ein Prinzip als ein- und dasselbe, wenn auch auf unterschiedliche Weise, ausgesagt würde, so daß sie sich in dieser Weise wechselseitig gewissermaßen nur erläuterten. Beide "Prädikationen" sind vielmehr so aufeinander zu beziehen, daß sie sich wechselseitig tatsächlich erklären, d.h. Gesichtspunkte und Bedeutungsgehalte einbringen, die in der jeweils anderen so nicht enthalten sind. Die Unumgänglichkeit einer solchen wechselseitigen Interpretation resultiert daraus, daß beide je für sich einseitig wären. Und die Gründe dafür, daß dies so ist, liegen offensichtlich darin, daß das tatsächliche Verhältnis des Wahrheitsbewußtseins zur unbedingten Wahrheit Gottes nur durch alle drei Gestalten des Wahrheitsbewußtseins ausgeschöpft wird. Dementsprechend ergibt sich auch die volle Bedeutung des Ausdrucks "Gott" allein aus der Verschränkung der religiösen Sinnpotentiale aller drei Gestalten des Wahrheitsbewußtseins, wobei die ersten beiden - wie wir gerade gesehen haben - zusammengehen und der dritten gegenüber

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stehen. Weil also das Wahrheitsbewußtsein trotz der Triplizität seiner elementaren Funktionsweisen im Verhältnis zum Absoluten ein in sich einiges ist, deshalb ist die Bedeutung des Ausdrucks "Gott" allein dort angemessen expliziert, wo das Gottesbewußtsein den Allbedingenden als den Einen und den Einen als den Allbedingenden kennt. Bevor wir den Folgen dieses Sachverhaltes für den Aufbau der Gotteslehre 34 nachgehen, gilt es deshalb festzuhalten, daß jenes Wechselbestimmungsverhältnis im Gottesbewußtsein allein darin seinen Ursprung hat, daß die Aufhellung des für das Wahrheitsbewußtsein konstitutiven Bezogenseins auf das Absolute durch eben dieses Wahrheitsbewußtsein selber sich als in sich duplizitär erweist. Man kann mit Bezug auf diese Duplizität durchaus von einer Amphibolie der Selbstexplikation des Wahrheitsbewußtseins nach dessen Verhältnis zum Absoluten sprechen. Der strukturelle Gehalt dieser Amphibolie besteht dann darin, daß alles "sich wirklich vollziehende menschliche Denken und Leben ... zu dem in ihm als Grund und Grenze sich setzenden Gottesbewußtsein zugleich und ursprünglich ... als in zwiefacher Richtung bei der Bildung des Gottesbegriffs bestimmt sich findet" (Lf §53.Α.). Strenggenommen ist es diese Amphibolie der Selbstexplikation des Wahrheitsbewußtseins nach dessen Verhältnis zum Absoluten - und nur sie - , welche für den in den konkreten Gestaltungen des Gottesverhältnisses auftretenden Sachverhalt einer duplizitären Bestimmtheit des Gottesbegriffs verantwortlich ist. Das gerade Ausgeführte läßt sich am ersten Schritt der materialen Durchführung der Gotteslehre verdeutlichen. Die Frömmigkeit hat es im persönlichen Umgang mit dem Einen nur dann wirklich mit Gott zu tun, wenn sie ihn zugleich als den Allbedingenden weiß. Die dieser Fassung des Gottesbewußtseins eigene duplizitäre Bestimmtheit des Gottes begriffe ergibt sich daraus, daß mit Bezug auf diesen Einen Allbedingenden auf ein zwiefaches abgehoben werden kann, nämlich in dessen Eigenschaft, im Gegenüber des persönlichen Gottesverhältnisses der Eine zu sein. Zunächst, das Allbedingen dieses Einen Allbedingenden bedeutet, daß Gott für die Frömmigkeit "sowohl der Verborgne, der schlechthin unsrer Einsicht Entzogne ist, für dessen Fügen kein Gesetz, kein Warum aufgewiesen werden kann, als auch der Alleinwirkende, der sich und sein Fügen an jedem Endlichen und Bedingten und durch jedes Endlich-Bedingte vollzieht und so uns selbstherrlich im Kern unsers Seins bestimmt" (Lf § 54.B.). Und umgekehrt, das Sein dieses Einen Allbedingenden als des Einen bedeutet, daß Gott für die Frömmigkeit "der ist, dem wir innerlich verwandt sind, den wir da kennen, wo wir bei uns selbst und wir selbst sind, in dem und aus dem wir zur Freiheit verantwortlichen Menschseins entbunden sind, der 34

Die Gotteslehre umfaßt die §§53-61 des "Leitfadens".

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mit seinem unerbittlichen Fügen durch Zeichen an unsern Sinn und Geist sich wendet" (ebd.). Beiden Fassungen des Gottesbegriffs entspricht auch eine unterschiedliche Vorstellung bezüglich der Art des jeweils vorliegenden Gottesverhältnisses. Im ersten Fall, also mit Bezug auf das Bewußtsein Gottes als des Verborgenen und Alleinwirkenden, wird das darin vorgestellte Verhältnis zwischen dem Allbedingenden und dem allseitig Bedingten "von jedem uns erklärbaren und verstehbaren und jedem uns Bestimmung und Einwirkung gestattenden Gegenüber, das wir in menschlich-geschichtlicher Wirklichkeit erfahren, unterschieden" (Lf §54.B.). Und im zweiten Fall, hinsichtlich des Bewußtseins Gottes als des uns innerlich Verwandten, wird das darin vorgestellte Gottesverhältnis "von jedem Gegenüber eines Fremden, das an uns als an Gegenständen Macht und Gewalt ausübt, unterschieden" (ebd.). Beide Fassungen des Gottesbegriffs samt den ihnen korrespondierenden Vorstellungen von der Art des jeweiligen Gottesverhältnisses finden ihren vereinfachten Ausdruck deshalb in der These, daß Gott für alle in lebendigem Umgang mit ihm begriffene Frömmigkeit immer nur so der Allbedingende ist, daß er für sie zugleich der Herr und der Geist ist. Es ist trivial anzumerken, daß beide Bestimmungen ihrer formellen Herkunft nach sich wechselseitig fordern. Die inhaltliche Bedeutung dieser Verschränkung liegt ebenfalls klar am Tage: "der Herr ohne dieses Geistsein wäre ein sinnloser Dämon, ... und Geist ohne jenes Herrsein wäre der gottheitlichen Vollmacht leer" (Lf §54.B.). Wir brauchen den Folgebestimmungen dieses Begriffs des Allbedingenden Einen als des Herrn und des Geistes hier nicht weiter nachzugehen. Für den gedanklichen Ansatz der materialen Gotteslehre dürfte hinlänglich deutlich geworden sein, wie aus der Amphibolie der Selbstexplikation des Wahrheitsbewußtseins nach dem in ihm enthaltenen Verhältnis zum Absoluten zwangsläufig eine duplizitäre Fassung des Gottesbegriffs am Orte des sich als unmittelbare Frömmigkeit artikulierenden Gottesbewußtseins resultiert. Weil infolge der Struktur der Selbsterhellung des Wahrheitsbewußtseins bereits von Anfang an zwei ganz verschiedene Sinnkontexte in die Bedeutung des Ausdrucks "Gott" eingehen, nämlich das Merkmal des Allbedingenden und das Merkmal des Einen, kann die Explikation der Bedeutung des Ausdrucks "der Eine als der Allbedingende" am Ort der Frömmigkeit ihrerseits auch nur in einer wieder duplizitären Bestimmung ihren Niederschlag finden. Die Duplizität des Herr- und Geistseins Gottes, wie sie für das Gottesbewußtsein aller auf den Allbedingenden Einen bezogenen Frömmigkeit signifikant ist, hat so gesehen ihren Ursprung in der Verfaßtheit des Wahrheitsbewußtseins selber. Gleichwohl versteht Hirsch das Zugleich des Herr- und Geistseins Gottes keineswegs nur als Duplizität bzw. als duplizitäre Bestimmtheit, son-

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dern er spricht mit Bezug auf den so zustande gekommenen Gottesgedanken und dessen logische Struktur von einer "Antithese" (Lf §54.B.). Um dies zu verstehen, gilt es noch folgendes zu berücksichtigen: Überall dort, wo Gott nicht nur als Inhalt eines Gedankens, sondern darüber hinaus als Bezugspunkt der Frömmigkeitspraxis fungiert, enthält das Gottesbewußtsein die Vorstellung, daß Gott und der mit ihm religiös Verkehrende einander gegenüberstehen. Der allgemeine Gedanke des Bestehens einer Relation zwischen - mindestens zwei - Relaten ist zwar auch in allen reflektierten GottesbegrifFen enthalten, wie sie den unterschiedlichsten Fassungen des Letztbegründungsdenkens zugrunde liegen. Es erweist sich hier jedoch als unproblematisch: "wenn das Absolute oder Gott im Verhältnis zur natürlichen und geschichtlichen Wirklichkeit als allbedingend gedacht wird, [ist] es nur der begrifflichen Form nach als Glied einer Beziehung gegen diese Wirklichkeit gestellt: dem Inhalt des Gedankens nach ist ein eignes Sein dieser Wirklichkeit gegen Gott gerade verneint: das Gegenüber der begrifflichen Form ist nur Schein der Reflexion" (Lf §54.Α.). Wesentlich anders liegen die Dinge im Falle des für die gelebte Frömmigkeit konstitutiven Gegenübers zwischen Gott und dem mit ihm persönlich Verkehrenden. "Darin ist das für den Gedanken Unsinnige gesetzt, daß Gott und das menschliche Selbst, also der Allbedingende und ein Endliches, Bedingtes, als Glieder einer Beziehung, Partner eines Verhältnisses einander begegnen". Ein solches Verhältnis scheitert daran, daß "es kein echtes Sein des Selbst gegen den Allbedingenden gibt" (ebd.). Das Allbedingtsein des mit Gott Verkehrenden durch Gott hebt die für die Möglichkeit von Beziehung erforderliche Selbständigkeit seiner als eines Gott gegenüberstehenden Relates gerade auf. Vollständig durch Gott bedingt sein und Relat eines Verhältnisses zu ihm sein schließen einander aus. Deshalb kann m a n hier gar nicht anders als von einer Antinomie sprechen. Hirsch faßt diesen Antagonismus des lebendigen Gottesverhältnisses, wie er in dem von der Frömmigkeit gleichursprünglich vorausgesetzten Allbedingtsein durch Gott einerseits und dem ihm als Relat einer Beziehung Gegenüberstehen andererseits zutage tritt, denn auch unter den Begriff der "Antinomie der Religion" (Lf §54). Und sofern die oben erwähnte Zwiefältigkeit eines durch des Allbedingenden Herrsein und eines durch des Allbedingenden Geistsein gesetzten "Gegenüber[s] im Gottesverhältnis" (Lf §54.B.) gerade in ihrer Unhintergehbarkeit und inhaltlichen Widersprüchlichkeit nur als Ausdruck des unter den Begriff der Antinomie der Religion gefaßten formalen Antagonismus eines persönlichen Gottesverhältnisses überhaupt verstanden werden kann, muß m a n die Polarität des Herr- und Geistseins Gottes in der Tat als von der Form einer "Antithese" (ebd.), und nicht nur als duplizitäre Bestimmtheit ansprechen.

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c) Die Aporie der ethisch-religiösen Subjektivität Hirschs Theorie der Religion gipfelt formal in einem negativen Grundsatz: Religiöses Bewußtsein ist aporetisch verfaßt. "Jeder Versuch, ein lebendiges religiöses Verhältnis jenseits dieser Antinomie der Religion zu verwirklichen, endet mit der Zerstörung der Wirklichkeit der Religion" (Lf § 54.Α.). Damit sind wir wieder bei demjenigen Strukturbegriff angelangt, der bereits für die frühe Theologie Hirschs maßgebend war. Schon die Erstfassung der Studie "Der Sinn des Gebets" von 1921 und der Aufsatz über "Das Gericht Gottes" von 1922/23 hatten von der Antinomie der persönlichen Religion gehandelt, und die nur ein Jahr später veröffentlichten Vorträge über "Die idealistische Philosophie und das Christentum" hatten bereits jene Antinomie der persönlichen Religion durch die antithetische Bestimmung Gottes als des Herrn und Geistes näher erläutern können. Worin liegt demgegenüber - so ist dann aber zu fragen - der gedankliche Fortschritt speziell des Leitfadens? Er dürfte - von den begrifFstechnischen oder explikationslogischen Verbesserungen einmal abgesehen - vorrangig darin liegen, daß es nunmehr gelungen ist, die Antinomie der Religion samt den in ihr enthaltenen antithetischen Momenten aus der Struktur des Wahrheitsbewußtseins bzw. aus dem spezifisch wahrheitstheoretischen Potential des Antinomiebegriffs heraus zu entfalten. Was aber bedeutet eine solche wahrheitstheoretische Verortung bzw. Rekonstruktion der Antinomie der Religion für das Verständnis dieser Religion? Eine Beantwortung dieser Frage ist nur möglich, wenn man sich noch einmal kurz vergegenwärtigt, wie das religiöse Bewußtsein im Wahrheitsbewußtsein überhaupt verankert ist. Die religiöse Valenz im Wahrheitsbewußtsein besteht darin, daß es als Ort des Erscheinens von Wahrheit die Unbedingtheit dieser Wahrheit in Form von Antinomien zum Ausdruck bringt. Dies trifft für alle drei Gestalten des Wahrheitsbewußtseins zu. Allein dem Vernehmen der Gewissenswahrheit in Form der ethisch-religiösen Selbsterkenntnis ist es indes vorbehalten, das Bezogensein des Wahrheitsbewußtseins auf Wahrheit als ein sich zu ihr Verhalten und damit die epistemische Instanz dieses Wahrheitsbewußtseins als ein durch die Relation zur unbedingten Wahrheit konstituiertes Selbst zu kennen. Indem das Wahrheitsbewußtsein in Gestalt der ethisch-religiösen Selbsterkenntnis so ein reflektiertes Bewußtsein seiner selbst gewinnt, entdeckt es sich selber als das Andere der unbedingten Wahrheit Gottes. Es weiß, daß das Absolute in ihm ausschließlich als ein "unwahr zur Nichtabsolutheit Gebrochnes erscheint" (Lf §46.Α.). Und es weiß zugleich, daß "nicht Gott, sondern wir in unserm Wahrheitsbewußtsein ... die im Widerspruch mit uns Befindlichen sind" ( C h R I, 172). Die Gewissenswahrheit kann deshalb nur so vernommen werden, daß "die

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Wahrheit Gottes als das an der Unwahrheit der Subjektivität Mächtige empfangen" (Lf § 52.A.) wird. Für alle Gestalten ethisch-religiöser Selbsterkenntnis auf der Basis des antinomisch verfaßten Wahrheitsbewußtseins gilt: "Die Wahrheit Gottes ist Lebenswurzel des menschlichen Daseins in der Subjektivität, die an ihr, aus ihr als die Unwahrheit sich vernimmt" (Lf §49.B.). Dieser Grundsatz - und nur er - darf als der oberste Leitgesichtspunkt von Hirschs wahrheitstheoretischer Explikation des Prinzips Subjektivität gelten, wie es in der Durchführung des Leitfades dann im einzelnen zur Anwendung kommt. Alle weiteren Ausführungen zum Begriff des Gewissens und dem der Glaubensinnerlichkeit stehen in dieser wahrheitstheoretischen Klammer. Sie gilt nun auch für ein im Begriff der Gewissensreligion exponiertes Verständnis von Religion. Was aber besagt nun diese im wahrheitstheoretischen Sinne verstandene antinomische Verfaßtheit des religiösen Bewußtseins? Zunächst ergibt sich im Hinblick auf die Bestimmtheit des religiösen Aktes selber: Religion entsteht immer nur "als im Lebenswiderspruch nach der Wahrheit greifender lebendiger Akt und bezieht sich auf dies ihr nach der Wahrheit Greifen wiederum nur als im Lebenswiderspruch nach der Wahrheit greifender lebendiger Akt" (Lf §67.Α.). Daraus folgt unmittelbar, daß "jeder religiöse Akt ein formell unwahres Element enthält" ( C h R I, 216). In der Religion ist der Mensch nur in der Weise in die Wahrheit seiner selbst eingekehrt, daß er sich selbst zugleich als in der Unwahrheit existierend vernimmt. Das hat Konsequenzen auch auf der epistemischen Ebene, auf der das religiöse Bewußtsein übergeht in die gedankliche Rechenschaft von sich. Wie ist sie im Hinblick auf jene wahrheitstheoretische Bedeutung der Antinomie zu deuten? Wie alle anderen Gestalten des Wahrheitsbewußtseins basiert auch das religiöse Bewußtsein auf der absoluten Setzung einer absoluten Voraussetzung, derzufolge Gott und die unbedingte Wahrheit miteinander identisch sind. Und wie jene ist es in seinem Grunde antinomisch verfaßt; es kann "allein im Widerspruch seiner selbst zu seiner Wahrheit sich verhaltend" (Lf §69.B.) wirklich werden. Nimmt m a n beides zusammen, dann ergibt sich für die reflektierte deskriptive Erfassung der dem religiösen Bewußtsein eigentümlichen Sinnbestände, d.h. für die sprachliche Darstellung von Gewissenswahrheit, folgende Grundbestimmung: "Jede echte religiöse Aussage ist die Verknüpfung einer existentialdialektischen Bestimmung des Gottesverhältnisses mit einer unableitbaren Thesis über ein göttliches Tun an uns" (Lf §51.M.3.). Für die reflektierte sprachliche Darstellung des intentionalen Gehaltes des religiösen Bewußtseins folgt daraus, daß sie ebensowenig wie dieser selbst eines positiven Wahrheitserweises fähig ist, da beide gleichermaßen der substantiellen Unwahrheit des in sich widersprüchlich verfaßten

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religiösen Bewußtseins verhaftet sind. Die Wahrheitsantinomie des religiösen Bewußtseins erweist sich nicht nur für dieses selber, sondern auch für dessen lehrmäßige Explikationsgestalt als unhintergehbar. "Rechenschaft von der Erkenntnis, in der das Sein vor Gott steht, ist nur möglich als Rechenschaft von diesem Widerspruch" (Lf §52.Α.). Aber auch wenn diese gedankliche Rechenschaft der Unwahrheit und Widersprüchlichkeit dessen unterliegt, wovon sie Rechenschaft gibt, so hat sie gleichwohl eine Funktion. Denn es ist "Möglich und notwendig ..., auf dem Boden dieser gelebten Antinomie ihre Unwahrheit zur Geltung zu bringen, indem m a n zeigt, wie innerhalb ihrer die Wahrheit, daß es kein echtes Sein des Selbst gegen den Allbedingenden gibt, das Bewußtsein und damit die Aussagen des Menschen von Gott bestimmt" (Lf § 54.Α.). Dies bedeutet aber nichts geringeres, als daß die dogmatische Rekonstruktion des religiösen Bewußtseins in eben demselben Sinne wie dieses selber als aporetisch verfaßt zu gelten hat. Und so gelangt Hirschs wahrheitstheoretische Durchleuchtung der Struktur ethisch-religiöser Subjektivität zu dem Ergebnis: "Die Analyse des menschlichen Seins strandet in einer Aporie" (Lf §69.B.). Diese Aufdeckung der aporetischen Verfaßtheit der ethisch-religiösen Subjektivität schmälert aber keineswegs deren anthropologische Bedeutung, sondern läßt sie umgekehrt gerade als den eigentlichen "Schlüssel zu dem seltsamen Reiche menschlichen Seelentums" (Lf §69.B.) erscheinen. Den argumentativen Gesamtverlauf der Gotteslehre hat Hirsch in einer Erläuterung zu §60 folgendermaßen charakterisiert: "Es ist ein streng dialektisches Fortschreiten von Kapitel zu Kapitel. Aus der scharfen Erfassung Gottes als des Allbedingenden und Einen, der in der Doppelbewegung von Andacht und Gebet als der zugleich Verborgene und Offenbare erfahren wurde, wuchs die Fassung Gottes als des Ursprungs, der der Lebendige ist. Aus der Fassung des Lebendigen, der in der Doppelbewegung des Gott Erleidens und aus Gott Schaffens als der zugleich Unbegreifliche und Gnädige erfahren wurde, wächst hier die Fassung Gottes als des Heiligen, und wir sind wieder auf dem Wege, die Doppelbewegung zu finden, in der er zugleich als der sich Versagende und der sich Gewährende (als Richter und Erbarmer) erfahren wird. Es handelt sich dabei gleichsam um eine Spiralbewegung: es ist in immer größerer Vertiefung immer von dem Gleichen die Rede" (ChR I, 254). Dialektisch ist dieses Lehrgefüge insofern, als sich in ihm eine "Bewegung des Gedankens durch Satz und Gegensatz hin zur Klarheit des Begriffs" (GierA 62) vollzieht. Aus dieser gerade angeführten Bestimmung dessen, was für Hirsch "Dialektik" bedeutet, geht zugleich hervor, inwiefern das im vorvorigen Zitat erwähnte "streng dialektische Fortschreiten" der Gotteslehre eng mit Hirschs wahrheitstheoretischer Fassung des Antinomiebegriffs zusammenhängt.

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Nicht im Hinblick auf den positiven Gehalt aller Einzelbestimmungen des Gottesgedankens, wohl aber mit Bezug auf deren innere Einheit bei gleichzeitigem explikationslogischem Gefalle kann die antinomische Verfaßtheit des Wahrheitsbewußtseins als das generierende Prinzip von Hirschs ausgereifter Gotteslehre aufgefaßt werden. Die systematische Funktion der Antinomie des Wahrheitsbewußtseins für den Aufbau der Gotteslehre und für die Grundlegung der Dogmatik überhaupt besteht in der jener Antinomie eigenen "Doppelbedeutung, die angemessene Art zu sein, in der das Unendliche allein in unser Bewußtsein treten kann, ohne seine Unendlichkeit zu verleugnen, und zugleich damit die Stelle zu sein, an der das Humane dazu geöffnet ist, wartend, fragend vor G o t t hingebreitet zu sein und Gottes sich Geben als die einzige Art und Möglichkeit, ein Verhältnis zu ihm zu vollziehen, zu wissen" ( C h R I, 255). Der erste der beiden hier genannten Aspekte betrifft die Möglichkeit eines Gottesbegriffs überhaupt. Der zweite, nicht minder gewichtige, kann abschließend folgendermaßen zusammengefaßt werden: Indem das h u m a n e Wahrheitsbewußtsein - als Norm und Inbegriff des Humanen - im Lichte seines antinomischen Verhältnisses zur unbedingten Wahrheit der Dynamik seiner progredierenden aporetischen Verfaßtheit ansichtig wird, identifiziert es sich selber "als dem Christlichen zu bestimmt und vom Christlichen erst als in sich selber vollendet" (ebd.). So gesehen darf die Antinomie des Wahrheitsbewußtseins als die erkenntnistheoretische Gestalt des menschlichen Gottesverhältnisses gelten. Die Erläuterungen zu § 46 des "Leitfadens", dem Paragraphen, in dem Hirsch die formale Struktur der Antinomie entfaltet hat, schließen mit einem "Ausblick". Hirsch schreibt: "am Verhältnis zum Absoluten geht, wenn auch nur in Gestalt eines abstrakt-formellen Schemas, der Gedanke auf, daß das Denken und Leben, das in diesem Wahrheitsbewußtsein sich ausdrückt, nicht in sich freies und quellendes und insofern ursprüngliches sei, sondern ein in einem geheimnisvollen Gesetz des Lebens oder Daseins gebundenes. Doch das ist sehr weit vorgeschaut" ( C h R I, 172). Es wird die Funktion des Gesetzesbegriffes sein, auf der Ebene der Theologie den Sachverhalt zur Geltung zu bringen, für den auf der Ebene der Erkenntnistheorie der Begriff der Antinomie zu stehen kam (vgl. Kap. V.B.3.).

Grundlegung der Dogmatik

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5. S y s t e m a t i s c h e A s p e k t e der e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e n G r u n d l e g u n g der D o g m a t i k

Es gibt keinen dogmatischen Entwurf in der Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts, in welchem der Wahrheitsbegriff auf eine vergleichbare systematisch und problemgeschichtlich reflektierte Weise ausgearbeitet worden wäre wie in der Theologie Emanuel Hirschs. Denn wie kein anderer Entwurf arbeitet er sich an der Grundfrage neuzeitlicher Erkenntnistheorie ab, dem Problem der Zweistämmigkeit des Bewußtseins. Die von hier aus gewonnene erkenntnistheoretische Grundlegung der Dogmatik bestimmt Form und Gehalt aller dogmatischen Themen. Gotteslehre oder Christologie, Schöpfungslehre oder Soteriologie, Anthropologie oder Ethik machen je auf ihre Weise deutlich, daß der Begriff der Antinomie des Wahrheitsbewußtseins der theoretische Grundbegriff dieses systematischen Entwurfs ist. Keine Interpretation der ausgereiften Theologie Hirschs welche erst mit dem "Leitfaden" vorliegt - wird ohne die inhaltliche und methodische Berücksichtigung des Antinomiebegriffes den Anspruch erheben können, systematisch angemessen zu sein. Alle dogmatischen Abhandlungen Hirschs vor dem Erscheinen des "Leitfadens" haben, was ihren argumentativen Gehalt bzw. ihre theoretische Struktur betrifft, von daher gesehen als vorläufig zu gelten. Der Grund dafür ist ausschließlich darin zu sehen, daß der die Theologie Hirschs zwar von Anfang an bestimmende Gedanke der Antinomie des Gottesverhältnisses allererst im "Leitfaden" seine wahrheitstheoretische und erkenntnistheoretische Entfaltung, und das heißt: Letztbegründung, empfangen hat. Die einzelnen Topoi des "Leitfadens" in dieser Perspektive durchzugehen, ist im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht möglich. Stattdessen seien einige systematische Aspekte der wahrheitstheoretischen Letztbegründung der Dogmatik thesenartig zusammengestellt. 1.1 Das Verständnis Gottes als des Inbegriffs von Wahrheit bedeutet eine grundsätzliche Entlastung der Gotteslehre von den traditionellen Ausformulierungen des Kategorienproblems hinsichtlich der Prädizierbarkeit Gottes. 3 5 Kategorien sind semantisch betrachtet Fundamentalhinsichten des Ausgesagtseins von Sachverhalten, ontologisch betrachtet konstitutive Be35

Vgl. die Ausführungen Hirschs in Lf §§ 50-52: "Das Verhältnis der Wahrheitserkenntnis zu Aussage und Lehre".

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stimmtheitsformen von Gegenständlichkeit und erkenntnistheoretisch betrachtet invariante Formen des Verbindens von Vorstellungen durch den Verstand. "Wahrheit" bzw. "Wahres" ist nach allen drei Bedeutungen von "Kategorie" keine im strengen Sinne kategoriale Größe. Nun läßt sich wohl mit Bezug auf alle drei Bedeutungen von "Kategorie" der Begriff der Wahrheit bzw. der des Wahren näher präzisieren, sei es als Eigenschaft einer Proposition, sei es als transzendentale Bestimmtheit eines Seienden, sei es als objektive Gültigkeit einer Verstandessynthesis. In allen drei Fällen wird es sich aber immer nur u m Wahrheit bzw. Wahres im endlichen Sinne handeln, sofern der Inbegriff von Wahrheit qua Voraussetzung niemals als mit der Eigenschaft einer Proposition, oder mit der transzendentalen Bestimmtheit eines Seienden oder mit der objektiven Gültigkeit einer Verstandessynthesis zusammenfallend gedacht werden kann, obschon er als in solchen Bestimmtheitsformen der Wahrheit bzw. des Wahren erscheinend gesetzt wird. So sehr sich die Frage der kategorialen Denkbarkeit mit Bezug auf die Bestimmtheit etwa eines ersten Bewegers oder eines ens necessarium oder einer causa sui oder einer allesbestimmenden Wirklichkeit als unabweisbar aufdrängt, so wenig sinnvoll ist es, sie im Hinblick auf den Gedanken einer unbedingten Wahrheit ü b e r h a u p t zu stellen, und zwar nicht etwa deswegen, weil dieser Gedanke keiner Erläuterung bedürftig wäre, sondern ausschließlich darum, weil das Problem der Denkbarkeit dieses Gedankens konsequent den traditionellen Kategorienbegriff unterläuft und damit zugleich den Rahmen der herkömmlichen Problemstellungen und Problemlösungen auf diesem Gebiet sprengt. 3 6 Als einzig adäquate Problematisierung der "kategorialen" Denkbarkeit einer unbedingten Wahrheit erweist sich die Frage, wie eine solche unter der Bedingung der Zweistämmigkeit des Bewußtseins gedacht werden kann. Der Beantwortung genau dieser Frage dient der Antinomiebegriff. Die Lehre vom antinomischen Verhältnis des Bewußtseins zur unbedingten Wahrheit ist die Transformationsgestalt des traditionellen Kategorienproblems der Gotteslehre. 1.2 Das Verständnis Gottes als des Inbegriffs von Wahrheit ermöglicht es, das Gottesverhältnis als das Offenbarsein Gottes zu denken. 3 7 Offenbarung als lebensweltlich-religiöses Phänomen und als Inhalt eines theologisch-dogmatischen Begriffs ist das Erschlossensein Gottes. Ist Gott mit dem Inbegriff von Wahrheit identisch, so ist Offenbarung das Erschlossensein der unbedingten Wahrheit. Die Identifizierung von Gott und unbedingter Wahrheit erlaubt es somit, auf eine gedanklich völlig un36 37

Vgl. dazu die Würdigung und Kritik der Gottesbeweise in Lf § 47.M.2.; § 48.M.1.; § 49.M.3. bzw. ChRI, 171f.179.187f. Vgl. dazu besonders Hirschs Rekonstruktion des Offenbarungsbegriffs in Lf § 51.B.

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gekünstelte Weise, Gottesbegriff und Offenbarungsbegriff aneinander zu binden. Wie es einerseits der unbedingten Wahrheit wesentlich ist, sich am Orte des Bewußtseins zu manifestieren, d.h. sich zu offenbaren, so Hegt andererseits die reinste Form des Erschlossenseins oder Erschlossenheit im strengen Sinne fraglos dort vor, wo dasjenige, was da erschlossen ist, allein deshalb erschlossen ist, weil es sich von sich selbst her erschlossen, d.h. offenbart, hat. Ewige, unendliche, in sich Eine Wahrheit ist nun das einzige, von dem in einem strikten Sinne gesagt werden kann, daß es sich von sich selbst und nur von sich selbst her erschließt. Mit Bezug auf Gegenstände, Sachverhalte und alles endliche Wahre ist die epistemische Instanz, der jenes erschlossen ist, immer ursächlich an der Bedeutsamkeit des Erschlossenen beteiligt, insofern die kognitive Tätigkeit des epistemischen Subjekts als sinnkonstituierender Faktor in die Erschlossenheit eingeht. Weil es sich bei jenem Unbedingten, welches sich allein von sich selbst her erschließt, nun aber u m unbedingte Wahrheit oder Gültigkeit handelt, und u m "ontologisch" ausschließlich solches, bedeutet es keinen Widerspruch zu behaupten, daß jenes sich allein von sich selbst her erschließt und daß es zugleich von einer epistemischen Instanz nach der Absolutheit, mit der es sich in seinen Erscheinungen erschließt, als unbedingt wahr und gültig anerkannt wird. A m Sinn dessen, was im endlichen Sinne wahr ist oder gilt, ist die kognitive Tätigkeit des epistemischen Subjektes als konstituierend wirksame Instanz beteiligt und ebenso bei der Feststellung, ob etwas im endlichen Sinne wahr bzw. gültig ist oder nicht. Daraus folgt aber nicht, daß jener Subjekttätigkeit auch im Falle der Identifizierung von im endlichen Sinne Wahrem und Gültigem als Manifestationen oder Erscheinungen der unbedingten Wahrheit oder Gültigkeit allein aufgrund dieser Identifikationsleistung mit Bezug auf letztere bereits eine Konstitutionsfunktion zugesprochen werden müßte, jedenfalls dann nicht, wenn m a n die Konstitution realer Bestimmtheit nicht verwechselt mit der absoluten Position einer absoluten Voraussetzung - deren Uberführung in Bestimmtheit allerdings in konstitutiven Antithesen bzw. Antinomien endet. Die Aussagen, daß unbedingte Wahrheit sich allein von sich selbst her erschließt, und daß unbedingte Wahrheit als erscheinende bzw. sich erschließende gewußt wird - noch ganz abgesehen davon wie sie erscheint bzw. als was sie sich erschließt - , widersprechen sich demnach nicht. Offenbarung in einem wahrheitstheoretisch vertieften theologischen oder religionsphilosophischen - also nicht geschichtsphilosophischen 38 - Sinn besagt demnach, daß unbedingte Wahrheit als am Ort des in sich reflektierten Wahrheitsbewußtseins erscheinende und dieses Erscheinen als deren reine Selbsterschließung gewußt wird, und zwar von eben diesem Wahrheitsbe-

38

Vgl. Lf §48.M.3.

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wußtsein. Auf die Struktur des Gottesbewußtseins abgebildet heißt das: Offenbarung ist reflektiertes Gotterleiden. 3 9 1.3 Das Verständnis Gottes als des Inbegriffs von Wahrheit bedeutet eine wesentliche Entlastung der Begründungsfunktion und systematischen Relevanz des Religionsbegriffs. Religion ist diejenige Gestalt menschlicher Selbsterkenntnis, in der das Verhältnis zu Gott als zugleich notwendige und hinreichende Bedingung ihrerseits empirische Individualität konstituierender Ichheit gewußt wird. Religion liegt dort vor, wo ein Subjekt seiner Subjektivität in der Weise inne wird, daß es alle Akte seines je kontingenten konkreten Selbstverständnisses auf die Gültigkeitssphäre der ihm nach ihrer Unbedingtheit aufgegangenen Wahrheit bezieht und den Ursprung seines Selbstverständnisses als eines ganzen in dessen Geltungsbetroffenheit durch diese absolute Wahrheit erblickt. Religion als humanes Phänomen steht sonach nicht ein für die Wahrheitsbezogenheit menschlichen Bewußtseins überhaupt - denn diese hegt allen Gestalten von Wahrheitsbewußtsein zugrunde - , wohl aber für die Bewußtheit solcher Wahrheitsbezogenheit von Bewußtsein, einschließlich des darin enthaltenen und sich explizit werdenden Selbstverhältnisses des Wahrheitsbewußtseins. Nur in der Religion wird sich das Wahrheitsbewußtsein seiner selbst als eines selbstbezüglichen Sich-Beziehens auf unbedingte Wahrheit ansichtig. Religion repräsentiert nicht die Vielfalt der Formen und Gestalten von Wahrheitsbewußtsein, sondern nur die für dasselbe konstitutive Selbstreflexivität im Verhältnis zum Unbedingten. Weil der Religionsbegriff nicht den Aspekt der strukturellen Allgemeinheit des Wahrheitsbewußtseins, sondern dessen nur partiell zutagetretendes Selbstbezüglichkeitsmoment spezifisch indiziert, eben deshalb taugt er nicht als fundamentaler Beziehungs- und Unterscheidungsgrund derjenigen gedanklichen Zuordnungsmöglichkeiten, die sich im Hinblick auf die Mannigfaltigkeit der verschiedenen Ausprägungen von Wahrheitsbewußtsein denken lassen. Wenn Religion nur eine spezifische Provinz des Wahrheitsbewußtseins darstellt, dann kann deren Begriff nicht Gliederungsprinzip des letzteren nach dessen universeller Reichweite sein. Der Religionsbegriff bezeichnet demnach nicht die Vermittlungsinstanz, sondern lediglich die Nahtstelle zwischen christlichem und h u m a n e m Bewußtsein. Aber auch dieses Feld der Berührungen und Überschneidungen vermag die Religion bzw. das fromme Selbstbewußtsein nur dann zu verkörpern, wenn es zuvor tatsächlich gelingt, den Religionsbegriff wahrheitstheoretisch fundiert zu exponieren. 4 0 Genau dies ist der systematische

39 40

Vgl. ChR I, 202f. Vgl. die Stellung der dem Religionsbegriff gewidmeten Paragraphen innerhalb der Gotteslehre: Lf § 54: "Die Antinomie der Religion"; Lf § 57: "Die Antinomie des

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Grund dafür, die Religionsthematik über den Begriff der Gewissenswahrheit an die erkenntnistheoretische Beschreibung von Wahrheitsbewußtsein überhaupt anzuschließen. 1.4 Das Verständnis Gottes als des Inbegriffs von Wahrheit ermöglicht eine gegenüber den herkömmlichen Fassungen subjektivitätstheoretisch vertiefte Interpretation des transzendentalen Begriffs von Religion. Dem allgemeinen transzendentalen Begriff von Religion zufolge geht es in dieser um den reflektierten Umgang von Subjektivität mit dem sie ermöglichenden und insoweit in ihr zur Darstellung gelangenden Grund. Ort der Beschreibung dieses Gehaltes von Religion ist freilich nicht das religiöse Bewußtsein selber, sondern dessen transzendentaler Begriff. Das religiöse Bewußtsein ist diesem Theoriemodell zufolge zwar eine Gestalt von Selbstbewußtsein, was es an seinem eigenen lebensweltlichen Ort allerdings nicht weiß und nicht wissen kann, weil es sich dort in intentione recta auf eine religiöse Gegenstandswelt bezieht, welche Art der Bezugnahme die ihm eigene oblique Verfaßtheit und die daraus resultierende Pseudointentionalität seines Gegenstandsbezugs gerade verdeckt. So fällt es dem Dogmatiker zu, vermöge einer subjektivitätstheoretisch-funktionalen Rekonstruktion der dem religiösen Bewußtsein eigenen Vorstellungen diese als Selbstauslegungsphänomene und dessen Struktur als eine Art unbewußten Selbstbewußtseins nachzuweisen - wohlbemerkt auf der Reflexionsstufe des Dogmatikers. 4 1 Eine Theorie der Subjektivität darf aber allein dann als gelungen gelten, wenn nicht nur auf der Reflexionsstufe jener Theorie erklärt wird, wie Selbstbewußtsein verfaßt ist, sondern wenn darüber hinaus gezeigt werden kann, wie Selbstbewußtsein sich selbst als Selbstbewußtsein erfaßt. 42 Die herkömmlichen Fassungen des transzendentalen Religionsbegriffs erweisen sich sonach als subjektivitätstheoretisch nicht zu Ende gedacht. Nur wenn die Beziehung zwischen dem Absoluten und dem von ihm Konstituierten mehr ist als das bloße notwendige Bestehen eines BedingungsVerhältnisses, nämlich darüber hinaus noch die gleichfalls notwendige Erschlossenheit des Bedingenden in seiner Bedingungsfunktion für das Bedingte, ist auf der Seite des Bedingten gewährleistet, daß dieses nicht nur bedingt ist und von einem allgemeinen Bedingtsein irgendwie weiß, sondern darüber hinaus gerade seines eigenen Selbstverhältnisses als eines bedingten sich bewußt ist. Es ist die Funktion des Begriffs der Gewissenswahrheit, als welche Wahrheit dort erscheint, wo die Bezogenheit auf Wahrheit sich als Selbstverhältnis entdeckt, die Konstitutionsfunktion des Glaubens an den Schöpfer"; Lf § 60 "Die Antinomie der Ewigkeitsbeziehung". 41

Vgl. U. BARTH: C h r i s t e n t u m u n d Selbstbewußtsein, 76-83.

42

Vgl. die auf dieses Problem gemünzte Kritik Hirschs an Schleiermacher ChR I, 15f.

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Absoluten und dessen Selbsterschließung am Orte des von ihm Konstituierten so aufeinander zu beziehen, daß der religiös notwendig zu denkende, bewußtseinstheoretisch allerdings nur schwer einzulösende Gedanke nachvollziehbar wird, daß Subjektivität sich nur selber, und zwar in Relation zum Absoluten, als Subjektivität entdecken kann. Von dieser Selbstidentifizierung kann die Subjektivität durch nichts entlastet werden, auch nicht durch eine Theorie der Subjektivität, sei es in reiner oder angewandter (religionstheoretischer) Form. Genau im Sinne dieser Nichtentlastbarkeit vom Akt religiöser Selbstidentifizierung ist Gott das Geheimnis der Subjektivität. 4 3 1.5 Das Verständnis Gottes als des Inbegriffs von Wahrheit ermöglicht eine neuprotestantische Umformung der reformatorischen Theologie dergestalt, daß die in dieser enthaltene Grundeinsicht kategorial weitaus stringenter zur Darstellung gebracht werden kann, als es deren historischer Lehrgestalt zu Gebote stand. Die reformatorische Theologie ist der Versuch, einer neuen ethischreligiösen Erkenntnis mit den überkommenen begrifflichen Mitteln der vorgegebenen Lehrtradition gedanklich Ausdruck zu verschaffen. Fast kein Element reformatorischer Theologie ist von dieser Zwitterstellung des Ausdrucks frei. 4 4 Insofern impliziert jedes echte Verständnis der reformatorischen Grundeinsicht die Pflicht, über die Grenzen der historischen Begriffsgestalt, in der jene niedergelegt ist, hinauszugehen. 4 5 In besonderer Weise ist dadurch der reformatorische Begriff von Lehre betroffen, sofern er entweder als Wissens- bzw. Mitteilungsform des Wortes Gottes oder als Oberbegriff der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium fungiert. Wird demgegenüber im Rahmen einer kritizistischen Bewußtseinstheorie zunächst Gott als der unbedingte Grund des Wahrheitsbewußtseins und Offenbarung als das Erschlossensein der unbedingten Wahrheit am Ort des in sich reflektierten Wahrheitsbewußtseins entfaltet und werden sodann beide Begriffe als Interpretamente bzw. als methodische Rekonstruktionsmittel reformatorischer Theologie zur Anwendung gebracht, dann bedeutet dies ohne Frage eine neuprotestantische Entfernung vom historischen Wortlaut und zum Teil auch ein Abweichen von dem darin niedergelegten Sachgehalt. Zugleich gewährt es aber allererst die Chance, unter den Bedingungen eines neuzeitlichen erkenntnistheoretischen Problembewußt43

44 45

Die Nichtentlastbarkeit der Subjektiviät von der Selbstidentifizierung wird in der Gotteslehre religionstheoretisch eingeholt durch die Einführung von "Andacht und Gebet" als "dem Wesens- und dem Normbegriffe der Religion" (Lf § 55.M.3.). Vgl. Lf § 31 "Der Widerstreit alles kirchlichen Bekenntnisses" und § 32 "Die Eigenheit reformatorischen Bekennens". Dies ist von Hirsch im Hinblick auf die Urnformungskrise näher ausgeführt in Lf § 33 "Lage und Aufgabe im heutigen evangelischen Christentum".

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seins mit Bezug auf die reformatorische Theologie inhaltlich überhaupt etwas zu "verstehen". Die begriffliche Rekonstruktion der reformatorischen Grundeinsicht mit den Mitteln einer religionsphilosophisch und subjektivitätslogisch zugespitzten Wahrheitstheorie erweist sich als durchaus in der Lage, der religiösen Erfahrung des sich geschuldigt und gerechtfertigt Wissens durch Gott sowie der reformatorischen Beschreibung der humanen Rahmenbedingungen solcher Erfahrung einen kategorial hinreichend reflektierten Ausdruck zu verschaffen. Auf letzteres bezogen bedeutet das: Gott als Wahrheit verstanden und Wahrheit als Gewissenswahrheit exponiert - beide Begriffe erlauben es, die für die reformatorische Theologie grundlegende These von der Nichtentlastbarkeit der Subjektivität im Gottesverhältnis, wie sie im reformatorischen Gewissensbegriff klassisch festgehalten ist, unter den erkenntnistheoretischen Standards neuprotestantischer Theoriebildung methodisch kontrolliert zu erörtern. Oder anders ausgedrückt: Die wahrheitstheoretische Interpretation der lebensweltlichreligiösen Ausdrücke bzw. der theologisch-dogmatischen Termini " G o t t " und "Offenbarung" bietet eine Möglichkeit, das reformatorische Verständnis von Religion als Gewissensreligion im Problemhorizont neuzeitlicher Erkenntnistheorie zu entfalten. 4 6 1.6 Das Verständnis Gottes als des Inbegriffs von Wahrheit ermöglicht es, das christliche und das humane Bewußtsein in der Weise einander zuzuordnen, daß sowohl Anknüpfung und Übereinstimmung als auch Diskontinuität und Gegensatz deren wechselseitiges Verhältnis bestimmen. Im humanen Bewußtsein gelangt der leb ens weit liehe Außenaspekt des christlichen Glaubens zur Darstellung. Damit prägt es Form und Gehalt jedweden Aktes gedanklicher Selbstvergewisserung dieses Glaubens. Die weltanschauliche Signatur des humanen Bewußtseins kann dem christlichen Glauben infolgedessen nicht gleichgültig sein. Umgekehrt legt es sich angesichts der soziokulturellen Lebensbedingungen des neuzeitlichen Christentums aber auch nicht nahe, dem christlichen Glauben so Anerkennung verschaffen zu wollen, daß man das eigene christliche Wirklichkeitsverständnis dem humanen Bewußtsein auch für seinen Bereich als in jederlei Hinsicht unverzichtbar andemonstriert. Die christliche Theologie wird vielmehr der bestehenden geschichtlichen Situation einerseits und der dem christlichen Glauben eigentümlichen Gewißheit andererseits weit eher gerecht, wenn sie sich der spezifisch neuzeitlichen Duplizität von christlichem und humanem Bewußtsein in ihrer ganzen Schärfe wirklich stellt und 46

Zu den systematischen Implikationen der wahrheitstheoretischen Interpretation der lebensweltlich-religiösen Gewissensreflexivität gehört auch die Durchführung der "Homiletik als Meditationstheorie"; vgl. dazu W. GRAB: Predigt a b Mitteilung des Glaubens, 126-147.

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ihr eine Beschreibung zuteil werden läßt, welche von einem Leitgesichtspunkt bestimmt wird, der formell so beschaffen ist, daß er ebensowohl den Beziehungsgrund wie den Unterscheidungsgrund des zu bestimmenden Verhältnisses abzugeben vermag, und zwar so, daß es nicht nur in der Perspektive einer theoretischen Drittinstanz einleuchtet, sondern auch auf der Ebene der beiden Bewußtseinsgestalten selber. Beide Bedingungen sind im Fall des Begriffs des in sich duplizitär verfaßten Wahrheitsbewußtseins erfüllt. Christliches und humanes Wahrheitsbewußtsein konvergieren ihren eigenen Intentionen zufolge darin, durch das Verhalten zur Wahrheit konstituiert zu sein. Und beide wissen sich bezüglich der Art ihres Konstituiertseins durch die Wahrheit als fundamental verschiedene Gestalten von Wahrheitsbewußtsein. Der Beitrag der systematischen Theologie zur Zuordnung von christlichem und humanem Bewußtsein besteht darin, beide als distinkte und in sich konsequent realisierte Glieder einer dem Wahrheitsbewußtsein ureigenst möglichen Alternative zu artikulieren. Insofern ist ein plausibles leb ens weltliches Auftreten jenes Verhältnisses immer auch abhängig vom Zustandekommen einer gelungenen gedanklichen Darstellung desselben auf der Ebene des dogmatischen Begriffs. Die erste Voraussetzung solcher Reflexionsbemühungen insgesamt aber ist, daß Gott bzw. das Absolute seinem Grundwesen nach als Inbegriff von Wahrheit verstanden wird. 2.1 Die antinomische Verfaßtheit des Verhältnisses des Wahrheitsbewußtseins zur unbedingten Wahrheit Gottes enthüllt die Frage nach der Möglichkeit der analogen Prädikation mit Bezug auf Gott als ein theologisches S cheinproblem. Man kann den traditionellen theologischen Begriff der Analogie zwiefach einteilen. Zum einen bezüglich der logischen Form: dann erhält man die Unterscheidung von analogia attributionis und analogia proportionis. Zum andern bezüglich des Urteilsgrundes solcher Prädikation: dann ergibt sich die Unterscheidung von analogia entis und analogia fidei. In all jenen Fällen ist vorausgesetzt, daß mit Bezug auf Gott überhaupt Prädikation im strengen Sinne des Wortes, nämlich gegenständliches Bestimmen, möglich ist. Geht man aber davon aus, daß Aussagen über das Verhältnis zur unbedingten Wahrheit Gottes allein am Ort ihres prinzipiell gebrochenen Erscheinens möglich sind, 47 und das heißt erstens: nur unter der Bedingung der Unwahrheit der Selbsterkenntnis der epistemischen Instanz, und zweitens: nur in der Form des Widerspruchs, dann besagt letzteres, daß es sich bei sprachlichen Gebilden dieser Art streng genommen gar nicht um Sätze oder Satzgefüge vom Typus der gegenständlichen Prädikation handeln kann; denn wer einer beliebigen Entität zugleich und in einer 47

Vgl. Lf § 52 "Einheit und Vielgestalt der Erkenntnis Gottes".

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und derselben Hinsicht kontradiktorische Bestimmungen zuspricht, setzt eine Bestimmung und hebt sie in einem damit auf, d.h. er "sagt" nichts, er teilt nichts mit über die gegenständliche Bestimmtheit dessen, worüber er spricht. Der Scheinproblemcharakter der Frage nach der Möglichkeit der analogen Prädikation liegt also darin, daß sich die Frage zwar unausweichlich aufdrängt, wenn m a n unterstellt, daß im Falle theologischer Rede überhaupt die Form der gegenständlichen Prädikation gegeben sei (was nur der semantischen Oberflächenstruktur nach zutrifft - ganz ähnlich wie etwa im Falle des ästhetischen Geschmacksurteils). Diese Frage verliert aber ihr prinzipielles Gewicht, wenn mit dem wesensmäßig vorprädikativen und antithetischen Charakter religiöser oder theologischer Kontexte Ernst gemacht wird, welcher Einsicht Geltung zu verschaffen eine der Hauptfunktionen des Antinomiebegriffs darstellt. Mit der Analogiefrage ist dann selbstverständlich auch jeder Streit u m die Legitimität der anthropomorphen Rede von Gott als ein Scheinproblem verabschiedet. 4 8 2.2 Die antinomische Verfaßtheit des Verhältnisses des Wahrheitsbewußtseins zur unbedingten Wahrheit Gottes verleiht den intentionalen Akten des religiösen Bewußtseins die Struktur des Zugleichs von Konstruktion und Kritik bzw. von Produktion und Destruktion. Dieses Zugleich besagt hinsichtlich des intentionalen Bezogenseins des religiösen Bewußtseins auf religiöse Sinngehalte folgendes: Religiöses Bewußtsein muß sich in konstruktiven Akten der Produktion religiöser Sinngehalte auslegen, weil das ihm zugrundehegende Selbstverhältnis nicht in den leeren Akten der reinen Selbstbezüglichkeit einer formalen Ichfunktion aufgeht, sondern sich der Form realer Selbstbezüglichkeit bedient, u m darin Wahrheit zur Darstellung zu bringen, nämlich Gewissenswahrheit - unter Einschluß von Sach- und Sinnwahrheit. Das religiöse Bewußtsein muß sich in kritischen Akten der Sinndestruktion auslegen, weil das seiner Selbsterkenntnis zugrundehegende Verhältnis zur Wahrheit einer unmittelbaren Darstellung derselben nicht fähig ist, sondern diese nur in dialektischer Gebrochenheit zur Erscheinung zu bringen vermag. In der Produktion religiöser Sinngehalte durch das religiöse Bewußtsein 48

Vgl. die Würdigung und Kritik der traditionellen Lehre von den Eigenschaften Gottes in Lf §54.M.l. Dazu gehört auch die Zustimmung zu einem Motiv der Religionskritik Feuerbachs: "Feuerbach hat mit der Behauptung, dafi die Gottesanschauung der Theologen und Philosophen anthropomorphisch sei, in einem Umfange recht, den die Dogmatiker und Religionstheoretiker gewöhnlichen Schlages nicht ahnen.... Der größere Teil der vermittelnden und erst recht der konservativen dogmatischen Begriffsbildung ist an Feuerbach bloßgestellt als haltloses Schaukeln zwischen frei ihr Gottesverhältnis hindichtender Herzenseinfalt menschlicher Sehnsucht und kritischem wissenschaftlichen Erkenntnisstreben" (GneTh V, 582f).

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zunächst - manifestiert sich das dem Wahrheitsbewußtsein eigentümliche absolute Setzen einer absoluten Voraussetzung seiner selbst. In der Destruktion religiöser Sinngehalte durch das religiöse Bewußtsein - sodann - manifestiert sich die Antinomie aller Akte des Bestimmens dieser absoluten Voraussetzung. Im Zugleich der konstruktiven und kritischen Tätigkeit des religiösen Bewußtseins - schließlich - manifestiert sich die im Verhältnis zwischen absolutem Setzen und antinomischer Verfaßtheit beschlossene Opakheit des Wahrheitsbewußtseins, welche ebensosehr dessen Bezogensein auf Wahrheit wie das darin enthaltene Selbstverhältnis betrifft. Diese Duplizität der Opakheit des Wahrheitsbewußtseins hat zur Folge, daß das Wahrheitsbewußtsein einerseits seine Bezogenheit auf Wahrheit nur in Form der Selbsterhellung explizieren und andererseits seine Selbsterhellung nur an antithetischen Sinngehalten zur Darstellung bringen kann. Das Zugleich der Produktion und Destruktion religiöser Sinngehalte ist so gesehen deckungsgleich mit dem Zugleich von Selbstkonstruktion und Selbstkritik auf seiten der Selbsterhellung des Wahrheitsbewußtseins. Die Opakheit des Wahrheitsbewußtseins darf deshalb keineswegs als der Verhinderungsgrund der Möglichkeit von religiösem Bewußtsein aufgefaßt werden, sie darf umgekehrt vielmehr als der Motor aller intentionalen Aktivität desselben gelten. Während das Wahrheitsbewußtsein im Bereich von Sach- und Sinnwahrheit die in ihm obwaltende Dialektik entweder verdrängt oder gleichsam stumm hinnimmt, arbeitet es sich in der Sphäre der Gewissenswahrheit - konstruktiv und kritisch zugleich - unaufhaltsam an ihr ab. So übernimmt das religiöse Bewußtsein gleichsam eine Stellvertreterrolle für das gesamte Wahrheitsbewußtsein im Hinblick auf die Selbstaufklärung desselben bezüglich des in ihm beschlossenen Gehaltes. Infolge des Zugleichs von Konstruktion und Kritik ist die materiale Antithetik die einzig mögliche Form religiöser Sinnkontexte. Religiöses Bewußtsein artikuliert seine intentionalen Gehalte in der Spannungseinheit von Position und Kontraposition. Konstruktion und Kritik verhalten sich dabei nicht etwa wie Position zu Kontraposition oder Kontraposition zu Position und Kontraposition zusammen. Positive wie negative Sinnerfülltheit verdanken sich konstruktiven Akten des religiösen Bewußtseins und bedeuten jeweils für sich genommen deshalb keine Infragestellung der Sinnstiftungsfunktion des religiösen Bewußtseins. Erst wenn Lebenssituationen religiös zweideutig werden, weil sie religiös alternativ ausdeutbar sind, schlägt religiöse Sinnkonstruktion in religiöse Sinndestruktion um. Dieses Schweben in der religiösen Zweideutigkeit von Lebenssinn darf auf dem Boden der Antinomie des Wahrheitsbewußtseins aber nicht als das Abbrechen der Sinnerfahrung des religiösen Bewußtseins verstanden werden, sondern hat umgekehrt als deren innere Vollendung zu gelten. Religiöses Bewußtsein erreicht dort das Maximum seines re-

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flektierten Bezogenseins auf Gott, wo es sich - konstruktiv und kritisch zugleich - der durch und durch aporetischen Verfaßtheit seiner selbst ansichtig wird, wobei ihm allerdings die Einheit von Gottesbewußtsein und Selbstbewußtsein in der bloßen Möglichkeitsform vorschwebt. 4 9 2.3 Die antinomische Verfaßtheit des Verhältnisses des Wahrheitsbewußtseins zur unbedingten Wahrheit Gottes verleiht dem religiösen Bewußtsein als dem Ort und der Instanz der Explikation jenes Verhältnisses den Charakter einer radikalen Selbstproblematisierung, welche alle Infragestellungen von selten einer ideologiekritisch motivierten Religionskritik schlechterdings überbietet, ohne ihrerseits einen für das Wahrheitsbewußtsein gleichsam von außen kommenden Machtspruch offenbarungspositivistischer Manier für sich reklamieren zu müssen. 5 0 Als Ideologie erzeugende Faktoren gelten der klassischen Ideologiekritik gemeinhin biologisch, anthropologisch, soziologisch oder sozialgeschichtlich bedingte Bedürfnisse oder Interessen. Eben diese werden als Verhinderungsgründe dafür angesehen, daß das Bewußtsein die wahre Bedeutung seiner Inhalte erkennt und sich selber als falsches Bewußtsein durchschaut. Ideologiekritische Aufklärung setzt diesem Verständnis der Ursachen von Ideologiebildung zufolge damit ein, die vermeintlich authentischen Inhalte des ideologischen Bewußtseins als Epiphänomene eigentlicherer Sachverhalte zu enthüllen, und zielt zugleich darauf ab, es selber in wahres Bewußtsein bzw. in wahre Praxis zu überführen. Das wahre Bewußtsein im Sinne der Ideologiekritik ist das durch sol49

50

Vgl. dazu die den Antinomien gewidmeten Paragraphen der Gotteslehre, Lf §§ 54.57.60. Sie zielen auf die gedankliche Integration des Aporetischen zum Moment des lebendigen Gottesverhältnisses. In der religiösen Kontingenzbewältigung wird "die Negativität zur Lebensmöglichkeit" (ChR I, 186). Die Religionskritik Feuerbachs hat immer im Horizont des Denkens Hirschs gestanden: "In dem Kreis von Freunden, in dem ich stand, war man sich darüber einig, daß keiner der Theologen, der in eine Auseinandersetzung mit dem geistigen Bewußtsein der Zeit getreten war, Feuerbach überwunden habe" (GGL 82). Die radikale Selbstproblematisierung, die die antinomische Verfaßtheit des Verhältnisses des Wahrheitsbewußtseins zur unbedingten Wahrheit Gottes für das religiöse Bewußtsein impliziert, erlaubt hinsichtlich der Kritik Feuerbachs an einseitig an der Affirmation von Lebenssinn ausgerichteten Religionssystemen das Urteil: "es ist schwer zu leugnen, daß etwas daran ist, wenn Feuerbach den Glauben an Gebetserhörung, Erlösung und Unsterblichkeit als illusionäre Wunschbefriedigung erklärt, ja, die Gottheit überhaupt für ein Wunschwesen hält" (GneTh V, 582). "Die Theologie des Bedürfnisses und der praktischen Wirkung und die Philosophie der religösen Werte sind für den, der Feuerbach verstanden hat, lediglich Theorien über die Lebensnotwendigkeit der religösen Illusion" (ebd.). Hirsch kommt zu der abschließenden Bewertung: "Feuerbach gehört zu denjenigen Religions- und Christentumsgegnern, denen ein ritterlich empfindender Theolog schwer feind sein kann" (a.a.O. 576).

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che Aufklärung zustande gekommene gültige Wissen von der eigentlichen Funktion der ideologischen Bewußtseinsinhalte, welches Wissen sich fortan in der Verblüffungsfestigkeit und Skepsis gegenüber den mit Bezug auf jene weiterhin namhaft gemachten Geltungsansprüche nunmehr selber kritisch bewährt. Voraussetzung jeder ideologiekritischen Aufklärung ist somit einerseits eine als schlechterdings gültig anerkannte Reduktionsebene, von der her sich die ideologischen Gehalte, indem sie auf jene abgebildet werden, zwingend als bloße Epiphänomene von etwas ganz anderem aufdecken lassen, und andererseits eine trotz aller ideologischer Verzerrtheit des Bewußtseins intakt gebliebene Region desselben, welche die Aufstellung oder Aneignung der ideologiekritischen Einsichten betreibt und damit dem Ubergang vom falschen zum wahren Bewußtsein den Charakter der Selbstaufklärung verleiht. Auf diesen Voraussetzungen beruhen alle Formen herkömmlicher Religionskritik. Ihnen gegenüber bedeutet der Antinomiebegriff eine Problemverschärfung, und zwar in zweifacher Hinsicht. a) Die traditionellen Formen der Ideologiekritik greifen erkenntnistheoretisch zu kurz, wenn sie ontologisch gesehen regionale Sachverhalte, nämlich partielle Abhängigkeiten des Bewußtseins von ganz bestimmten Bedürfnissen und Interessen ihrer Träger, zu schlechterdings allgemein relevanten ideologiebildenden Faktoren erheben. Solchermaßen als universell ideologieträchtig veranschlagte Instanzen können denn auch mit den Erkenntnissen der jeweils in Frage kommenden Fachwissenschaften allein nicht mehr gerechtfertigt werden, sondern bedürfen zum Erweis der Reichweite ihrer Gültigkeit darüber hinaus in aller Regel zusätzlicher metaphysischer Hintergrundskonstruktionen. Alle so fundierten Gestalten der Religionskritik können die prätendierte universelle Gültigkeit ihres Kritikpotentials deshalb nur unter Zuhilfenahme als universell gültig behaupteter, ihrerseits darum selber wiederum der Begründung bedürftiger Annahmen in Anschlag bringen. Der Nachweis der Antinomie des Wahrheitsbewußtseins hingegen deckt eine Unwahrheit bzw. Schein erzeugendes Prinzip von schlechterdings universeller Reichweite auf, und zwar deshalb, weil er die Notwendigkeit der Erzeugung von Unwahrheit oder Schein aus der allen Inhalten gegenüber invarianten, erkenntnistheoretischen Struktur der Zweistämmigkeit von Wahrheitsbewußtsein begründet. Die partielle Relevanz der ideologiekritisch formulierten Religionskritik steht und fällt mit der inhaltlichen Plausibilität der dieser zugrundeliegenden biologischen, anthropologischen, soziologischen oder geschichtsphilosophischen Annahmen, die aus der Antinomie des Wahrheitsbewußtseins resultierende universelle Unwahrheit des religiösen Bewußtseins indes ist von abstrakter Gültigkeit. b) Wahrheitsbewußtsein ist überall dort, wo es um Fragen der Letztgültigkeit geht, an ihm selber widersprüchlich. Es gibt keine Widerspruchs-

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freie letzte Reduktionsbasis, mit Bezug auf die ein Übergang von falschem in wahres Bewußtsein möglich wäre. Das ideologiekritische Postulat eines wahren Bewußtseins, auf das hin das falsche Bewußtsein der Religion zu befreien wäre, stellt, wenn es mit einem Letztbegründungsanspruch vertreten wird, in Wahrheit die sich selbst nicht durchschauende programmatische Aufforderung zur Verdrängung und Neutralisierung des eigentlichen Dilemmas des Wahrheitsbewußtseins, nämlich der antinomischen Beschaffenheit desselben dar, welchem Dilemma gerade auch das ideologiekritische Bewußtsein selber unterliegt. Jede in diesem Sinne ideologiekritische Religionskritik, welche das religiöse Bewußtsein über dessen wahren Gehalt aufzuklären vorgibt, erzeugt damit tatsächlich ein falsches Bewußtsein bezüglich der strukturellen Verfaßtheit des Wahrheitsbewußtseins. Der Antinomie des Wahrheitsbewußtseins zufolge erzeugt das religiöse Bewußtsein notwendigerweise religiösen Schein, weil es, wenn es sich in ein gegenständlich vorstellendes Verhältnis zur unbedingten Wahrheit setzt, diese nur unter der Form der Antinomie und sich selber als in der Unwahrheit stehend denken kann. Dieser Schein entspringt nicht dem Absoluten, sondern der antinomischen Struktur des Sich-Verhaltens zum Absoluten. Der religiöse Schein ist ein Produkt desjenigen Wahrheitsbewußtseins, das sich als Ort der zur Unwahrheit gebrochenen Erscheinung der Wahrheit weiß. Insofern ist der reügiöse Schein ein Phänomen der Selbsttäuschung des Wahrheitsbewußtseins. Ein falsches Bewußtsein läßt sich nur als das kontradiktorische Gegenteil von wahrem Bewußtsein denken. Wenn es aber im Hinblick auf die Form der Denkbarkeit des Absoluten jener Antinomie zufolge kein real wahres Bewußtsein geben kann, dann wird auch der Begriff des falschen Bewußtseins hinsichtlich des Verhältnisses zum Absoluten hinfällig, es sei denn, man dächte an ein solches falsches Bewußtsein, das prinzipiell in kein wahres Bewußtsein überführbar wäre. Letzteres hegt in der Tat im Sinne des Selbstverständnisses des antinomischen Wahrheitsbewußtseins, widerspricht aber zugleich jeder Enthüllungs- oder Entlarvungsintention ideologiekritisch motivierter Aufklärung. Bezüglich des Seins in der Unwahrheit, als welches das antinomische Wahrheitsbewußtsein sein Dasein versteht, gibt es für dieses infolgedessen auch keine Ent-täuschung, etwa von der Art, daß es von einer Instanz jenseits dieser Aporetik eben dieser enthoben werden könnte. Das antinomisch verfaßte Wahrheitsbewußtsein vollzieht den Prozeß seines Sichdurchsichtigwerdens vielmehr allein so, daß es die Erfahrung mit sich selbst, Ort letzter ethisch-religiöser Sinnantagonismen zu sein, nicht scheut. Dieses Sichdurchsichtigwerden hat den einzigen Maßstab seiner "Wahrheit" in dem negativen Kriterium, ethisch-religiösen Lebenssinn nur unter der Form der Zweideutigkeit des Scheins zu kennen. Die spezifische Klarheit dieses Sichdurchsichtigwer-

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dens des W a h r h e i t s b e w u ß t s e i n s b e s t e h t darin, m i t B e z u g auf j e n e n A n t a g o n i s m u s u n d diesen Schein den inneren Z u s a m m e n h a n g z w i s c h e n ihrer U n w a h r h e i t u n d Unvermeidbarkeit selbst n o c h e i n m a l als G e s e t z seiner eig e n e n D a s e i n s v e r h a f t e t h e i t religiös h i n n e h m e n zu k ö n n e n . D i e eigentliche Ü b erbiet u n g s l e i s t u n g der a n t i n o m i s c h e n S e l b s t v e r t i e f u n g des W a h r h e i t s b e w u ß t s e i n s in F o r m des religiösen B e w u ß t s e i n s g e g e n ü b e r j e d w e d e r ideologiekritisch m o t i v i e r t e n E n t h ü l l u n g v o n U n w a h r h e i t b e s t e h t s o m i t darin, daß es der A b g r ü n d i g k e i t des Seins in der U n w a h r h e i t , die z u g l e i c h die A b g r ü n d i g k e i t der Wirklichkeit ü b e r h a u p t ist, nicht nur a n keiner Stelle a u s w e i c h t , s o n d e r n darüber hinaus das Sein in der U n w a h r h e i t als die einz i g e D a s e i n s m ö g l i c h k e i t begreift. D e r der Idee n a c h intendierbaxe, aber als Inhalt eines realen B e w u ß t s e i n s nicht vollziehbare G e d a n k e G o t t e s als des G r u n d e s allen W a h r h e i t s b e w u ß t s e i n s ist d e s h a l b w e g e n des in i h m bes c h l o s s e n e n a n t i n o m i s c h e n M o m e n t s - u n d zwar ausschließlich d a r u m - die a b g r ü n d i g s t e R e d u k t i o n s b a s i s bzw. die u m f a s s e n d s t e E n t l a r v u n g s i n s t a n z aller S e l b s t t ä u s c h u n g s p h ä n o m e n e , die sich i m Hinblick auf W a h r h e i t s b e w u ß t s e i n ü b e r h a u p t d e n k e n läßt. 5 1 51

Das Gewicht der ideologiekritischen Implikationen der Denkform der Antinomie wird am eindrücklichsten illustriert durch Hirschs Umgang mit der Größe "Volk", die in seiner Ethik als "Lebensmacht" bzw. als Grundgegebenheit der Wirklichkeit eingeführt wird (vgl. Lf § 113) und dann in seiner politischen Theologie eine tragende Rolle spielt. Besonders in der Retrospektive wurde sie zum Anlaß heftigster Kritik an Hirsch und hat für manchen seine Theologie überhaupt diskreditiert. Ubereinstimmend kommen J.H. SCHJ0RRING: Theologische Gewissensethik, 134 und G. SCHNEIDER-FLUME: Die politische Theologie Emanuel Hirschs, 46f.l24 zu dem Schluß, daß Hirschs politische Theologie in einem dezisionistischen Irrational lismus gründe. Ganz ähnlich ist jüngst in diesem Zusammenhang behauptet worden, daß mit der These "es ist sowohl unmenschlich wie unchristlich, zu leugnen, daß das Volk heilig ist" (Lf § 59 M.) "ein breiter irrationaler Strom" (W. HÄRLE: Hirsch, Emanuel, 113) in das Denken Hirschs eindringe. Man wird dieses Urteil als ebenso richtig - Hirsch war zeitlebens der Ansicht, daß zwischen den Grundformen des rechtlich-politischen Zusammenlebens, der patriarchalischen, der bürgerlichliberalen, der sozialistischen und der "organisch-idealistische[n]" (WrCH 230), eine diskursiv überprüfbare Entscheidung nicht möglich sei - wie vordergründig bezeichnen müssen. Im Anhang derjenigen Schrift, die wohl das wichtigste Dokument für Hirschs Bekenntnis zum Nationalsozialismus darstellt, fällt eine interessante Äußerung, die einordnen und interpretieren zu können geradezu als das Kriterium des Verständnisses von Hirschs politischer Theologie gelten könnte: "Alles, was ein Fichte, ein Kleist, ein Heinrich von Treitschke konkret über das Verhältnis zu Volk und Vaterland aussagen, ist mir wie ins Herz gebrannt. Ich weiß mit ihnen, daß durch Volkstum und Vaterland Gott mir begegnet, Gott mich umfängt mit einer bindenden und segnenden und spannenden Wirklichkeit, die von ursprünglichen Tiefen her mein Leben trägt und meine Selbstmacht zerbricht.... Aber ich weiß alles dies nur so im von Gott geheiligten und bestätigten Lebensgefühl, daß ich zugleich mein Volk und Land als etwas Vergängliches, Sterbliches weiß, an dem die heilige Grenze des Ursprungs auch verzehrend mächtig ist, und ich sehe

Grundlegung der Dogmatik

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2.4 Die antinomische Verfaßtheit des Verhältnisses des Wahrheitsbewußtseins zur unbedingten Wahrheit Gottes ermöglicht eine unüberbietbare Wirklichkeitsgesättigtheit religiöser Anthropologie. 5 2 Auf dem Boden eines prinzipiell aporetischen Gottesverhältnisses verbietet es sich, religiöse Sinnmuster einseitig oder vorrangig auf die Steigerung von Selbstidentität oder das Gelingen von Selbsterhaltung hin zu programmieren und die humanen Gegenerfahrungen nur als deren defiziente Modi zuzulassen. Die Abgründigkeit und Zweideutigkeit des Lebens ist vielmehr von gleicher religiöser Dignität wie jene Gestalten eines in empirischer Hinsicht lebensförderlichen Kontinuitätsbewußtseins. Die religiöse Ausdeutung von Lebenssinn kann die Widersprüchlichkeit der Lebenstatsächlichkeit in ihrer schicksalhaften Gegebenheit und in ihrer existenzbedrohenden Tatsächlichkeit weder wegerklären noch neutralisieren wollen. Sie darf sie selbstverständlich auch nicht überhöhen. Im Lichte eines religiösen Lebenssinn ebenso konstruierenden wie destruierenden, seine Aporetik nach beiden Seiten artikulierenden religiösen Bewußtseins erweisen sich beide, die zynische Demaskierung ebensosehr wie die schönfärbende Verbrämung, als ideologische Verzerrungen des ethischreligiösen Sinnes der Lebenswirklichkeit. Die Antinomie des Wahrheitsbewußtseins wehrt jedweder Form des Wirklichkeitsverlustes von Religion. 2.5 Die antinomische Verfaßtheit des Verhältnisses des Wahrheitsbewußtseins zur unbedingten Wahrheit Gottes beraubt das menschliche Handeln jeder ethischen Kompetenz im strengen Sinne des Wortes. In genauer Analogie zur Antithetik des Gottesbewußtseins ist auch die ethisch-religiöse Subjektivität durch eine unhintergehbare dialektische Struktur gekennzeichnet, und zwar deshalb, weil beide Gestalten von Wahrheitsbewußtsein ein und derselben Antinomie entspringen, nämlich der der Gewissenswahrheit. Das ethische Bewußtsein ist nicht u m das mindeste aporienärmer als das religiöse Bewußtsein (im engeren Sinne des Wortes verstanden), wenngleich die Antinomien des Ethos materialiter betrachtet andere als die der Religion sind. Das von Gott gebotene unbedingte Sollen läßt sich immer nur in einem endlichen Sollen realisieren. 5 3 demgemäß im Mythos vom 'ewigen' Volkstum einen Mangel an absoluter religiöser Reflexion" (GGL 161f). Im Hinblick auf die meisten Äußerungen zur politischen Theologie Hirschs wird nach wie vor der Satz Klaus Scholders zu gelten haben: "Emanuel Hirsch ... gehört zweifellos zu den am schwersten zu deutenden Figuren der neueren Theologiegeschichte" (K. SCHOLDER: Die Kirchen und das Dritte Reich I, 127). 52 53

"In der Gestaltung der Lehre vom Menschen fällt die Entscheidung über die Gegenwartsnähe der christlichen Lehre" (ChR I, 266f). Vgl. zu der grundlegenden Unterscheidung von unendlich und endlich Gutem vor allem Lf § 102.B.: "Das unendliche Ethos ist zugleich die Tiefe und die Gefahr des

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Erkenntnistheoretische Grundlegung

Das im unbedingten Sollen gebotene unendliche Gute ist grundsätzlich empirisch unkenntlich. 54 Nicht nur alle ethischen Begriffe, sondern auch alle Handlungssituationen empfangen durch diese Duplizität von unendlichem und endlichem Ethos eine prinzipielle Zweideutigkeit.55 Man kann strenggenommen bestenfalls von einer technisch-praktischen Kompetenz des Handelnden sprechen, aber niemals von einer ethischen Kompetenz im Sinne einer Fähigkeit zum eindeutigen Treffen des unbedingt Guten. Alles ethisch-religiös verantwortete menschliche Handeln hat seiner antinomischen Grundstruktur zufolge den Charakter eines Wagnisses. 56 Gerade auch für das Handeln trifft die Grundeinsicht des religiösen Umgangs mit Gott zu, nämlich auf die unbedingte Wahrheit nur zu zielen, und zwar aus der Position der Unwahrheit herkommend.57 Die Opakheit des praktischen Selbstbewußtseins steht der des Gottesbewußtseins in nichts nach, und zwar deshalb, weil beide Ausdruck ein und derselben Opakheit des Wahrheitsbewußtseins sind, sei es nach dessen Bezogenheit auf die Wahrheit, sei es nach dem darin enthaltenen Selbstverständnis. 3.1 Die absolute Thesis der Identifizierung von Gott und unbedingter Wahrheit in Verbindung mit der antinomischen Verfaßtheit allen Bezogenseins des Wahrheitsbewußtseins auf diese Wahrheit stellt im Gesamtzusammenhang der Geschichte der Erkenntnistheorie einen Mittelweg zwischen christlichem Piatonismus und transzendentalem Kritizismus dar. Mit dem christlichen Piatonismus verbindet jenen erkenntnistheoretischen Ansatz die Überzeugung, daß Gott als unbedingte Wahrheit Ursprung aller Erkenntnis und damit Grund unseres gesamten Wirklichkeitsverständnisses sei. Der Konstitutionsidealismus der Transzendentalphilosophie, wonach die Struktur unserer Erfahrung das alleinige Sinnkrite-

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menschlichen Seins. Es wird dadurch, daß es das Sein für andre ins Unbedingte erhebt, zu einer aufstörenden Macht der Idee und Kritik am endlichen Ethos und gibt doch mit seiner Verankerung von Verantwortung, Ehre und Bestimmung dem Leben in Gemeinschaft erst die Menschlichkeit" (Hhg.v.Vf.). Zur Gewissensdialektik bezüglich des Guten vgl. Lf § 103. Vgl. dazu Lf § 105.A. "Daß es für keinen Menschen Hingabe an das Gute gibt außer im Dienst am gemeinsamen Leben, das Widerspruchseinheit von Schöpfung und Sündigkeit ist, das prägt seiner Daseinsgestalt die ethische Unkenntlichkeit auf". "Die Hingabe an ein uns zum Dienst rufendes, Vergängliches, Sterbliches, sie wird mir von dem ewigen Gotte im Gottesverhältnis nach ihrer Vergänglichkeit und Sterblichkeit, nach ihrer abgründlichen Zweideutigkeit enthüllt und dennoch von ihm so zur Pflicht gemacht, daß nur in ihr mein ewigkeitsentsprungener, ewigkeitsverlangender Glaube eine Wirklichkeit wird" (GGL 160; Hhg.v.Vf.). "Wagen und Leiden sind die beiden fruchtbaren geschichtlichen Akte" (ChR I, 186); vgl. auch ChR II, 335f. Lf § 104.B.: "endlich gut ist lebenbewahrende Lebensgestaltung innerhalb der Einheit von Schöpfung und Sündigkeit mit innrer Öffnung der Richtung au/Scheidung der Schöpfung von der Sündigkeit" (Hhg.v.Vf.).

Grundlegung der Dogmatik

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rium eines legitimen Gebrauchs des Wahrheitsbegriffs abgebe, ist damit verneint bzw. jenes Kriterium ist auf die Sphäre endlicher Gültigkeit und Gewißheit eingeschränkt. Mit dem Kritizismus der Transzendentalphilosophie hingegen verbindet ihn die Überzeugung, daß Gott oder das Absolute kein möglicher Gegenstand von Erkenntnis sei. Mit der These, daß die Idee des Absoluten noch nicht einmal widerspruchsfrei gedacht werden könne, hat die Restriktionsthese des Kritizismus sogar noch eine Verschärfung erfahren. Der im christlichen Piatonismus konzipierte Gedanke Gottes als des Inbegriffs durch geistige Schau zugänglicher intelligibler Prinzipien, kann unter den Bedingungen neuzeitlicher Erkenntnistheorie so nicht mehr gedacht werden. Der Begriff der Antinomie hat demgemäß die Funktion, eine Vermittlung zu stiften zwischen einem programmatisch theologischen Wahrheitsbegriff einerseits und der kritizistischen Erkenntnistheorie andererseits. Motiviert ist diese Vermittlungsanstrengung durch das christologische Wahrheitsverständnis des vierten Evangeliums, wonach Jesus gerade mit seinem Gang in den Tod ein Bild vom wahren Willen und Wesen Gottes dargetan und sich selber in diesem Tun als die Wahrheit verstanden hat. 3.2 Die absolute Thesis der Identifizierung von Gott und unbedingter Wahrheit in Verbindung mit der antinomischen Verfaßtheit allen Bezogenseins des Wahrheitsbewußtseins auf diese Wahrheit hat in theologischer Hinsicht die Funktion, den im reformatorischen Christentumsverständnis enthaltenen fundamentalen Dualismen erkenntnistheoretisch gerecht werden zu können. Daß Gott als ein zugleich richtender und gnädiger Gott offenbar wird, daß sein Wort zugleich als Gesetz und Evangelium vernommen wird, daß sein Regiment zugleich als Reich der Welt und als Reich Christi erfahren wird, und daß der Mensch sich im Gottesverhältnis zugleich als geschuldigt und gerechtfertigt weiß, eben diese Sachverhalte machen es erforderlich, im Begriff des Absoluten Differenz zu denken, und zwar so, daß einerseits jene Dualismen gedacht werden können, ohne daß andererseits das Absolute selber als jener bloß gedachten Diiferenz unterliegend gedacht werden müßte. Wie Einheit und Unterschied sowie deren Verhältnis im Hinblick auf jene dualen Strukturen zu bestimmen sind, kann erst im Kontext der Christologie erörtert werden. Die philosophische Theologie mit ihrer wahrheitstheoretischen Verankerung des Gottesgedankens kann dafür nur einen Baustein zur Verfügung stellen, allerdings einen systematisch wie inhaltlich zentralen. Mit der erkenntnistheoretischen Explikation der Gleichsetzung von Gott und unbedingter Wahrheit als absoluter Thesis und mit der gleichfalls erkenntnistheoretischen Explikation des Verhältnisses zwischen dem Wahrheitsbewußtsein und jener Wahrheit als eines

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Erkenntnistheoretische Grundlegung

antinomischen liefert diese wahrheitstheoretische Grundlegung der Gotteslehre immerhin eine wichtige, wenn auch nur notwendige Bedingung dafür, den Glauben an den durch Jesus von Nazareth nach seinem wahren Wesen erschlossenen Gott als ein Sein in der Wahrheit Gottes zu denken.

V . Die späte Christologie Emanuel Hirschs

Einleitung: Der "Leitfaden zur christlichen Lehre" und sein dogmatisches Programm Im J a h r e 1936 wechselte Hirsch von der kirchenhistorischen auf die systematische Professur. In den vier folgenden Semestern, W S 1936/37 bis SS 1938, las er über Prolegomena, Dogmatik I, Dogmatik II und Ethik. Daraus ist der 1938 erschienene "Leitfaden zur christlichen Lehre" hervorgegangen. Vom Wintersemester 1938/39 bis z u m 1. Trimester 1940 wiederholte Hirsch diesen Zyklus; hierzu Heß er sich ein durchschossenes Handexemplar des "Leitfadens" anfertigen, in das er die in der Vorlesung behandelten "Erläuterungen" zu seinem Lehrbuch eintrug. In einem weiteren solchen Exemplar finden sich "Ergänzungen" aus der Zeit zwischen Februar 1940 und September 1945 (vgl. ChR I, 1). Erläuterungen und Ergänzungen sind - einschließlich des Grundtextes - abgedruckt in der von Hayo Gerdes herausgegebenen und 1978 zweibändig erschienenen "Christlichen Rechenschaft". Beide Publikationen bilden die Textgrundlage der folgenden Rekonstruktion der ausgereiften Christologie Hirschs. Die einschlägigen Ausführungen des Alterswerkes 1 sind berücksichtigt worden. Die Grundkonzeption des "Leitfadens" kommt vor allem in der dreifachen Aufgabe zum Ausdruck, die sein Autor der systematischen Theologie gestellt sieht. Deren Hauptaufgabe erblickt Hirsch darin, "dem Erkennen der christlichen Wahrheit einen eigen verantworteten, gegenwärtigen Ausdruck in Begriff und Wort zu geben" (Lf §8.B.). Eine der beiden Voraufgaben, ohne deren Berücksichtigung jenes Ziel nicht erreicht werden kann, besteht in der "Klärung des Verhältnisses zum allgemeinen menschlichen Wahrheitsbewußtsein" (Lf §5). Um die bereits zwischen diesen beiden Aufgaben vorhandene Spannung ebenso wie deren Einheit zu verstehen, ist es erforderlich, den äußeren Aufbau des "Leitfadens" und die darin enthaltene Logik der Einteilung in die Betrachtung mit einzubeziehen. In einem knappen Anhang zum ersten Teil der Prolegomena (Lf Anh. zu §§ 2-13) kommt Hirsch selber auf dieses T h e m a zu sprechen. Der "Leitfaden" zerfällt in vier Hauptteile: Prolegomena (§§ 1-42), Dogmatik I (§§ 43-71), Dogmatik II (§§ 72-100) und Ethik (§§ 101-130). Die Prolegomena sind in diesem Aufriß als "dogmatische Propädeutik" (Lf S. III) konzipiert; es obliegt ihnen also keineswegs, etwa durch philosophische Analysen inhaltlicher oder methodischer Art, die Grundlagen und die Reichweite material dogmatischer Aussagen erkenntnistheoretisch zu bestimmen; all 1

Zum theologischen Alterswerk Hirschs vgl. H.M. MÜLLER: Pectus facit theologum.

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Die späte Christologie

dies gehört vielmehr in den Bereich der Dogmatik selbst. Den Prolegomena weist Hirsch vielmehr - den Ausdruck ganz wörtlich genommen - die Aufgabe einer "echten Einleitungswissenschaft" (Lf Anh. zu §§ 2-13) zu. Demgemäß haben sie eine dreifache Funktion: Erstens die Einführung in Aufgabe und Verfahren des systematisch-theologischen Denkens (§§ 2-13), zweitens das Vertrautmachen mit den wesentlichen Inhalten des neutestamentlichen Zeugnisses (§§ 14-29) und drittens die Orientierung über die Schwerpunkte der kirchlichen Bekenntnisbildung und deren Bedeutung (§§ 30-41). Mit dieser bewußten Verschränkung von auf argumentative Rechtfertigung bewußt verzichtender Vorverständigung über die systematischtheologische Methode einerseits und historisch-kritischer Belehrung über die als wesentlich erachteten traditionellen Lehrgrundlagen der nachfolgenden dogmatischen Hauptteile andererseits wollen die Prolegomena in erster Linie "zu richtigem Verständnis und Gebrauch der überlieferten Lehrformung anleiten" (Lf Anh. §§ 2-13). Daß Hirsch bereits mit eben dieser Bestimmung der Funktion der Prolegomena noch vor jeder eigenen Reformulierung der einzelnen dogmatischen Lehrtopoi eine traditionskritische Maxime zur Geltung bringen will, hält er in der zweiten Voraufgabe fest, wonach die der Dogmatik zugrundeliegende "Arbeit an der überlieferten Lehrformung" (Lf § 7) ebenso durch "Aneignung" wie durch "Abstoßung" traditioneller Sinngehalte gekennzeichnet ist. Die Kombination der beiden Voraufgaben der systematischen Theologie, d.h. die Bestimmung des eigenen Verhältnisses zur Lehrtradition im Horizont ihrer ideengeschichtlichen Rekonstruktion nach Maßgabe der durch das humane Wahrheitsbewußtsein entwickelten Methoden, hat dann aber zur Folge, daß das Moment der Abstoßung der überlieferten Lehrbildung, qualitativ und quantitativ gesehen, weit überwiegt und Hirsch sich deshalb in den Hauptteilen seiner Dogmatik mit innerer Freiheit der Aufgabe der Umformung des Entscheidenden und Wesentlichen widmen kann. Adolf von Harnack hat darauf aufmerksam gemacht, daß in der Geistesgeschichte zwischen den "Genies der Summation" und den "Genies der Reduktion" (LD I, 652) unterschieden werden könne. Will man diese Unterscheidung auf Emanuel Hirsch anwenden, so gehört er unzweifelhaft zur zweiten Gruppe. Hirschs Leitfaden ist vielleicht die reduktionistischste Dogmatik, die je im Neuprotestantismus geschrieben wurde.2 Diesen Willen zur Reduktion der überlieferten BegrifFskonstruktionen auf das unumgänglich Wichtige, gerade auch in der Christologie, hat Hirsch einmal am Beispiel der Versöhnungslehre selbst erläutert. Hirsch 2

So richtet sich die Hirsch-Kritik von P. ALTHAUS denn auch in erster Linie gegen die "so weitgehende[n] Zumutungen des Abbaus und Neubaus" (Die Wahrheit des kirchlichen Osterglaubens, 5).

Das dogmatische Progamm

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steht bei der Behandlung einiger traditioneller Topoi dieses Lehrstücks vor der Alternative, ob er sie modifizieren und integrieren oder in ihrer überkommenen Bedeutung belassen und ausscheiden soll. Er gelangt zu folgendem Ergebnis: "Es wäre dialektischer Gewandtheit eine Kleinigkeit, die Begriffe der Sühne, des Opfers und des Stellvertreters so zu bestimmen, daß sie ein echter Ausdruck des hier entwickelten Verständnisses der Versöhnung würden. Nur wäre das ein theologisches Kunststück, das nur wenige Menschen noch verstehen. Liebe muß freiwillig arm sein können - das vergessen die Dogmatiker so leicht" (Lf § 77.M.4.). Das heißt: Das Motiv zur Reduktion des dogmatischen Materials entspringt nicht zuletzt der selbstkritischen Besinnung auf die Grenzen der hermeneutischen Leistungskraft der systematischen Theologie, was deren Fähigkeit anbelangt, die von ihr in ihrer überkommenen Gestalt nicht mehr zu integrierenden Traditionsbestände durch Uminterpretation einem fachtheologisch nichtgebildeten zeitgenössischen Bewußtsein noch verständlich zu machen. Hirschs besondere Entschlossenheit zur Reduktion mit der für ihn charakteristischen traditionskritischen Schärfe ergibt sich nun lediglich aus der sowohl religiös als auch wissenschaftlich verantworteten Zuspitzung einer Aporie, die für jedes neuzeitlich reflektierte Traditionsbewußtsein signifikant ist, nämlich der, das bejahte Herein wirkenlassen überkommener Sinnbestände in die je eigene Gegenwart nur in Kombination mit einem eben diese Traditionsaneignung restringierenden Diskontinuitätsbewußtsein vollziehen zu können. Dieses Diskontinuitätsbewußtsein ist ebenso ein immer schon gegebenes lebensweltliches F a k t u m der kulturellen Situation, wie es zugleich der kunstmäßigen Diagnose und wissenschaftlichen Formulierung bedarf. Das gilt in besonderem Maß auch für die neuzeitliche Lage des Christentums und dessen Verhältnis zur eigenen Tradition. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Durchführung der theologischen Dogmatik? Hinsichtlich des Kontextualitätsbewußtseins der Theologie als ganzer hat dies zunächst zur Folge, daß nach Auffassung Hirschs eine gedankliche Rechenschaft vom christlichen Glauben - und das betrifft keineswegs nur einige wenige Glaubensinhalte, etwa als besonders anstößig empfundene Lehrartikel, sondern das Leben und die Grundüberzeugungen des Christentums im ganzen - nur unter der Bedingung sinnvoll ist, daß die Rechenschaft gebende theologische Existenz selber u m ihren eigenen geschichtlichen Ort weiß, d.h. ein klares Problembewußtsein davon besitzt, in was für einer kulturellen Situation zu existieren ihr aufgegeben ist. Hirsch hat diesen epochalen Rahmen gegenwärtigen Bewußtseins als die Umformungskrise des Christentums in der Neuzeit diagnostiziert. F ü r das Selbstverständnis der Dogmatik als einer theologischen Teildisziplin folgt daraus, daß das in ihr praktizierte systematische Denken

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Die späte Christologie

sich nur im Horizont einer geschichtsphilosophischen Gesamtdeutung der Neuzeit sowie auf der Basis eines neuzeitlichen Standards genügenden religionsgeschichtlichen Gesamtverständnisses des Wesens des Christentums gedanklich produktiv bewegen kann, wenn zugleich vermieden werden soll, daß das theologische Bewußtsein - in Verkennung seiner Aufgabe, Ort begrifflicher Vermittlung zu sein - unfreiwillig zum Motiv der Entfremdung von christlichem Glauben und neuzeitlichem Selbst Verständnis wird. Der scheinbar unauflösliche Widerstreit von zwei zwecks Selbstprofilierung einander ebenso formal fordernden wie inhaltlich ausschließenden kulturellen Positionen - ein Gegensatz, wie er in der Moderne für das Verhältnis von kirchlichem Positivismus und ethisch-religiösem Agnostizismus signifikant ist eben dieser für das neuzeitliche Christentum und die neuzeitliche Humanität in gleicher Weise ruinöse kulturelle Antagonismus ist es, den Hirsch ideengeschichtlich und gedanklich konstruktiv zu unterlaufen sucht, weil er ihn als Folge eines Mißverständnisses sowohl des eigentlichen Gehalts des christlichen Glaubens als auch des wahren Kerns des Selbstverständnisses der Neuzeit erachtet. Die ganze Anstrengung der systematischen Theologie, wie sie Hirsch im Zusammenhang mit der Gewinnung der endgültigen Fassung seiner Neuzeittheorie ausgearbeitet hat, ist darauf gerichtet, den christlichen Glauben und das Selbstverständnis der Neuzeit als einander wahlverwandt zu erweisen. Hirschs These ist die, daß beide erst dort zu ihrer Erfüllung gelangen, wo sie sich wechselseitig fördern und miteinander kooperieren. Beziehungs- und Unterscheidungsgrund ihrer Zuordnung ist der Begriff des Wahrheitsbewußtseins, und zwar in seiner denkbar größten Reichweite und Allgemeinheit. Nicht der Religionsbegriff, sondern das Verhältnis von christlichem und humanem Wahrheitsbewußtsein bildet die Nahtstelle zwischen Christentum und Neuzeit. 3 Hirsch teilt die Zeitdiagnose der Theologengeneration nach dem Ersten Weltkrieg, daß der Allgemeinheitsanspruch des christlichen Gottesgedankens weiter reicht, als es der neuzeitliche Religionsbegriff auszudrücken vermag, und fundamentaler in Frage gestellt ist, als es in der Problematik dieses Begriffes zutage tritt. Die Erscheinung der Wahrheit Gottes am Ort des Wahrheitsbewußtseins kann weder auf das Phänomen Religion beschränkt noch durch dessen Kritik ernsthaft tangiert werden. Um dieser Allgemeinheit des Gottesgedankens auch im Wirklichkeitsverständnis gedanklichen Ausdruck zu verleihen, erhebt der "Leitfaden" den Begriff der unbedingten Wahrheit Gottes, den Begriff des Wahrheitsbewußtseins und die Unterscheidung

3

Vgl. dazu auch die Dissertation von F. BÖBEL: Menschliche und christliche Wahrheit bei Emanuel Hirsch.

Das dogmatische Progamm

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von christlichem und h u m a n e m Wahrheitsbewußtsein zu den tragenden Prinzipien seiner Systematik. An jenem Wahrheitsbewußtsein lassen sich Elemente unterscheiden und aufeinander beziehen, die ebenso den Gegensatz von kirchlichem Positivismus und ethisch-religiösem Agnostizismus übergreifen wie positiv eine Einigung von christlichem Glauben und neuzeitlichem Bewußtsein ermöglichen. Eine wesentliche Aufgabe der systematischen Theologie besteht deshalb in der unbefangenen Analyse des ebenso durch die christliche Tradition wie durch die spezifisch neuzeitliche kulturelle Situation geprägten Wahrheitsbewußtseins nach den es bestimmenden Grundzügen. Die neuzeitliche kulturelle Rahmensituation des abendländischen Christentums ist für Hirsch bestimmt durch einen mit der Aufklärung einsetzenden, über deren geschichtliche Gestalt jedoch weit hinausweisenden Bewußtwerdungsprozeß einer sich zunehmend ihrer inneren und äußeren Selbständigkeit innewerdenden Humanität. Der Ausdruck "Humanit ä t " meint im vorliegenden Zusammenhang nichts anderes als "das Recht des Menschlichen, sich unabhängig von christlichen Voraussetzungen über seine Gottes- und Selbsterkenntnis zu besinnen und das Christliche von dem Ergebnis dieser Besinnung aus zu verstehen und zu beurteilen" (Lf §43.M.l.). Hirsch versteht den seinem Neuzeitverständnis zugrundeliegenden Humanitätsbegriff demnach nicht qualitativ, sondern methodisch und limitativ. Der alle weiteren Differenzierungen übergreifende oberste Unterscheidungsgesichtspunkt in der Analyse des neuzeitlichen Wahrheitsbewußtseins ist in diesem Sinne der von humanem und christlichem Bewußtsein. Auf dieser geschichtsphilosophisch begründeten Anerkennung des neuzeitlichen h u m a n e n Wahrheitsbewußtseins beruht das aufklärerische Wahrheitspathos der systematischen Theologie Hirschs. "Kein christlich Glaubender, der zugleich dem abendländischen Menschentum angehört, kann sich ohne Brandmal im Gewissen der Forderung an seine Wahrhaftigkeit entziehen, daß er, dem menschlichen Wahrheitsbewußtsein hingegeben, es an ihm selbst seine selbständige Rechenschaft über das menschliche Leben nach den es tragenden und bestimmenden letzten Bedingungen vollziehen läßt und dabei zusieht, wie die ihm so aufgehende menschliche Wahrheit sich zu dem christlichen Verständnis menschlichen Lebens verhält" (Lf §43.B.). Hirschs theologiegeschichtliche und gedanklich konstruktive Anstrengung des Nachweises einer Wahlverwandtschaft zwischen christlichem Glauben und neuzeitlichem Bewußtsein, von der eingangs die Rede war, wurzelt also in der tiefer hegenden Uberzeugung von einer letzten Affinität zwischen christlichem und humanem Wahrheitsbewußtsein. Hirschs Dogmatik ist Ausdruck "des Vertrauens, daß menschliches und christliches Wahrheitsbewußtsein sich jedes auf seine Weise als von Gott und

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seiner Wahrheit getragen erweisen werden und somit in Einem Gewissen, Einem Denken sich einigen lassen; daß also ein dem Christlichen geöffnetes menschliches Wahrheitsbewußtsein erst wahrhaft menschlich und ein dem Menschlichen erschlossenes christliches Wahrheitsbewußtsein erst wahrhaft christlich sein werde" (Lf §43.B.). Damit ist zugleich gesagt, daß es letztlich die Annahme einer Identität von Gott und Wahrheit ist - eine Überzeugung, in der sich ein ganz bestimmtes Verständnis des christlichen Glaubens, ein ebenso pointierter erkenntnistheoretischer Standpunkt und eine gleichermaßen prägnante Zeitdiagnose miteinander verbinden - , die Hirsch dazu veranlaßt, dem systematisch-theologischen Denken die Aufgabe zuzuweisen, "eine echte Klärung des Verhältnisses von christlichem und humanem Wahrheitsbewußtsein" (ebd.) zu erbringen. Von daher wird nun auch die Zusammengehörigkeit der beiden Hauptteile des Leitfadens verständlich. Dogmatik I beschreibt das "Selbstverständnis des abendländischen Menschen an der Grenze der christlichen Wahrheit" (Lf S. V), Dogmatik II hingegen entfaltet die "im Glauben an das Evangelium empfangene Erkenntnis der christlichen Wahrheit" (Lf S. VII). Die aus der Analyse der kulturellen Situation des Christentums in der Neuzeit erwachsene und zu ihrer Beschreibung entwickelte Unterscheidung von christlichem und humanem Bewußtsein gibt zusammen mit der sie tragenden, ihrerseits sowohl religiös als auch erkenntnistheoretisch begründeten Überzeugung von der Duplizität der Erscheinung der Wahrheit Gottes den einheitlichen Grundgesichtspunkt der Hirschschen Dogmatik ab: Gott ist in der Weise Inbegriff der Wahrheit, daß beide, das neuzeitliche, humane Wahrheitsbewußtsein und das durch die neuzeitliche Christentumsgeschichte geprägte christliche Wahrheitsbewußtsein in dem in sich duplizitären Wahrheitsbezug des Bewußtseins überhaupt ebenso als differente konvergieren wie als konvergente differieren. Näher betrachtet enthält die in Dogmatik I vorgelegte Deutung des humanen Wahrheitsbewußtseins zunächst eine in sich geschlossene Theorie der Wahrheit (§§ 44-52). Diese entfaltet die die gesamte Dogmatik betreffenden erkenntnistheoretischen Probleme und verleiht speziell der sich unmittelbar daran anschließenden Gotteslehre (§§ 53-61) eine wahrheitstheoretische Grundlegung. In inhaltlich enger Korrespondenz, nur gleichsam unter einem anderen Blickwinkel, nimmt dann die Anthropologie (§§ 62-70) die bereits in der Gotteslehre in Angriff genommene Beschreibung des allgemein menschlichen Gottesverhältnisses auf und konkretisiert sie in der Weise, daß sie die anthropologisch relevanten Merkmale des dem ganzen Entwurf zugrundeliegenden ethisch-religiösen Wirklichkeitsverständnisses gesondert hervorhebt. Die Gesamtintention von Dogmatik I besteht, zusammenfassend formuliert, also darin, daß sie "aus zugleich christlich

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vertiefter und christlich begrenzter Humanität heraus die grundlegenden Aussagen über das menschliche Gottesverhältnis entwickelt" (Lf Anh. zu §§ 2-13).

Α. Die Genese der Neuzeittheorie Hirschs in ihrer Bedeutung für das Programm des "Leitfadens" 1. Der frühe Streit um Luther Hirschs Neuzeittheorie nimmt ihren Ausgang von der Luther-Deutung Holls.4 Hirsch faßt Holls Sicht des Verhältnisses Luthers zur Neuzeit in der Rezension von dessen Luther-Buch folgendermaßen zusammen: "Luther ist der die gesamte Neuzeit beherrschende schöpferische Geist. Auf allen Gebieten des höheren menschlichen Lebens stößt man, wenn man nach dem letzten Ursprung der lebendig wirkenden Ideen fragt, zuletzt auf ihn und seine Gedanken. Nirgends hat er die Anschauungen des Mittelalters einfach übernommen, überall hat er die Sache von sich aus durchdacht, und das, was er sich so erwarb, schließt allemal eine grundsätzliche Wendung in sich. Der Quellort aber aller seiner neuen Gedanken ist seine in persönlichem Kampfe errungene Wiederentdeckung des Evangeliums und des in ihm beschlossenen Gottesgedankens" (ThLZ 46 (1921), Sp. 318). Damit will Hirsch sich nicht nur zur Luther-Deutung seines Lehrers bekennen, sondern diesen zugleich zum eigentlichen Antipoden Ernst Troeltschs hochstilisieren. Holls nur in Anmerkungen geäußerte Kritik hat für Hirsch den Charakter einer "Auseinandersetzung mit Troeltsch, die eingreifender ist als alles bisher zu Troeltsch Gesagte" (ebd.). Holls Luther-Buch wird verstanden als ein "Beitrag zur abendländischen Geistesgeschichte ..., der an Fülle der Gesichtspunkte und Universalität der Betrachtung neben Troeltsch's Soziallehren sich stellt" (ebd.). Was Hirsch in methodischer Hinsicht fasziniert, ist die bei Holl vorliegende und seiner Meinung nach bei Troeltsch fehlende begriffliche, historische und philologische Genauigkeit, wodurch Holl "durch die Tat den Beweis erbringt, daß auch die Geistesgeschichte sich exakt behandeln läßt. ...[D]urch einfache Darlegung der Tatbestände wird den Sätzen Troeltschs im ernsten zergliedernden Nachdenken ein Fundament nach dem andern weggezogen" (ebd.). Hinsichtlich des Verständnisses der Beziehung Luthers zur Neuzeit zieht Hirsch daraus folgenden Schluß: "Inbesondre wird es nach Holl's Buch nötig sein, die Konstruktionen Troeltsch's zur Geistesgeschichte der 4

Die Ausführungen der nachfolgenden Abschnitte gehen zurück auf ein Referat, das ich im Systematischen Seminar von Prof. Dr. T. Rendtorff (München) am 28.1.1985, gehalten habe; für die Anregungen der nachfolgenden Diskussion bin ich allen Seminarteilnehmern zu Dank verpflichtet.

Streit u m Luther

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Neuzeit in allem Wesentlichen preiszugeben.... Troeltsch selbst wird nun seine Darstellung Luthers nicht mehr aufrecht erhalten mögen" (ebd.). Troeltsch seinerseits ließ es im Hinblick auf Hirsch aber auch nicht an deutlichen Worten fehlen. Man muß sich vergegenwärtigen, daß sich das Problem der Adäquatheit des Lutherverständnisses spätestens seit 1917 nicht mehr nur auf der abstrakten Ebene philologischer und geschichtsphilosophischer Fragen zum Beitrag Luthers für die Entstehung der Neuzeit bewegt hat, sondern unmittelbar ideenpolitische Relevanz besaß, indem es auf den Gegensatz der von den damaligen Kriegsgegnern vertretenen "westlichen Ideen" einerseits und der durch das konservative Preußen favorisierten "lutherischen Ethik" andererseits bezogen wurde. Nach 1918 wurde es vollends in den Streit u m die aus der Kriegsniederlage resultierende innenpolitische Neuorientierung des Weimarer Staates und dessen ideologische Legitimität hineingezogen. Hirsch h a t t e 1921, also ein Jahr nach der Veröffentlichung seines geschichtsphilosophischen Manifests "Deutschlands Schicksal", eine Abhandlung über "Die Reich-Gottes-Begriffe des neueren europäischen Denkens" verfaßt, in der er die These vertrat, daß die modernen Staats- und Gesellschaftsbegriffe jeweils unterschiedliche Gestalten der Säkularisation der christlichen Reich-Gottes-Idee darstellten. Hirsch selbst gibt dem von Leibniz, Kant und Fichte repräsentierten politischen Denken gegenüber den in der englischen und französischen Aufklärung entwickelten und für ihn auf die Identifikation von Reich Gottes und humaner Gesellschaft hinauslaufenden Modellen eindeutig den Vorzug. Er entscheidet sich für den ersteren Typus nicht zuletzt deswegen, weil er darin Grundintentionen der Ethik Luthers gewahrt sieht. Bereits in dieser frühen Abhandlung Hirschs kann man die für ihn charakteristische und von ihm auch später nicht selten hergestellte Verbindung von brillanter geistesgeschichtlicher Analyse und aktueller ideenpolitischer Abzweckung erkennen. Troeltsch selbst hat diese Studie Hirschs rezensiert. Er gibt neben tiefgreifender inhaltlicher Kritik den von Hirsch zuvor gegen ihn erhobenen Vorwurf mangelnder Exaktheit in voller Schärfe zurück: "Für jemand, der die unendliche Kompliziertheit, reale Lebensbedingung und geistige Mischung der modernen Völker einigermaßen kennt, ist mit derartigen Generalisationen nun freilich gar nicht zu diskutieren. Das Körnchen Wahrheit in der Sache ist allbekannt. Im Einzelnen sind die Konstruktionen und Zusammenstellungen für mich krasse Unmöglichkeiten. Belegt aus den Quellen sind nur allbekannte Sachen. Die mehr als kühnen Sonderauffassungen des Verf. sind nicht belegt" (ThLZ 48 (1923), Sp. 23). Hinsichtlich der politisch-ideologischen Funktion jener Schrift urteilt Troeltsch: "das Buch ist ein Nachzügler der Kriegs- und Propaganda-Literatur, eine Kampfschrift gegen die 'westlichen Ideen', mögen sie außerhalb oder innerhalb

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Deutschlands vertreten werden.... Es ist ... eine Apologie dessen, was die 'Westler' den preußischen Militarismus zu nennen pflegen" (ebd.). Es ist interessant, Hirschs Notiz zu lesen, die er - mittlerweile zum Schriftleiter der Theologischen Literaturzeitung avanciert - als Mitteilung in eigener Sache Troeltschs Rezension beigegeben hat. "Meine in dieser Nummer besprochene Schrift ... ist von mir gerade deshalb, weil sie einen scharfen Angriff auf Troeltsch's Soziallehren darstellt, an Troeltsch in Erwartung einer scharfen, aber die Sache fördernden Antikritik - zur Besprechung überlassen worden. Die Aufnahme der Besprechung durch den Schriftleiter bedeutet nicht, daß der Autor seine Ansichten für richtig wiedergegeben hielte" (a.a.O. Sp. 24). Dieser Mitteilung ist zu entnehmen, daß Hirsch seine Abhandlung zumindest partiell - anscheinend als eine Art Gegenentwurf zu Troeltschs Neuzeitverständnis betrachtet 5 und eine öffentliche gelehrte Auseinandersetzung mit ihm gesucht hat, 6 offenbar im Vertrauen auf die wissenschaftliche Entscheidbaxkeit des zwischen ihnen strittigen Punktes. Da also einerseits Hirschs Essay über die modernen Reich-Gottes-Begriffe seinen eigenen Worten zufolge kritisch auf Troeltsch zielt, andererseits dieses Thema inhaltlich jedoch unmittelbar mit dem Verhältnis Reformation/Neuzeit zu tun hat, wird man Hirschs spätere Erörterungen zur geschichtsphilosophischen Stellung Luthers immer auch zugleich als implizite Auseinandersetzung mit Troeltsch zu lesen haben.

2. Die neuzeitliche Situation des Christentums Unsere Analyse der zeitdiagnostischen Überlegungen Hirschs zur Lage des Christentums in der Neuzeit setzt ein bei der im Jahre 1929 erschienenen Abhandlung über "Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert". Hirsch knüpft mit dieser Studie an seine beiden früheren Schriften "Deutschlands Schicksal" und "Die Reich-Gottes-Begriffe des neueren europäischen Denkens" an, und zwar sowohl hinsichtlich der Verbindung von ideengeschichtlicher, realhistorischer und geschichtsphilosophischer Betrachtung als auch bezüglich der politisch-ideologischen Abzweckung. Gegenüber den Arbeiten von 1920/21 hebt Hirsch "die viel schärfere und wohl auch düsterere Erfassung der gegenwärtigen Lage" sowie die veränderte Fragestellung hervor: "Nicht die Verantwortung um den 5 6

Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt auch K. TANNER: Die fromme Verstaatlichung des Gewissens, 210. Vgl. RGB 2. 29 Anm. 1.

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Staat, sondern die u m den Glauben und den Geist hat mir diesmal die Feder in die Hand gelegt, und nicht die besondern deutschen Verhältnisse, sondern die allgemeinen in allen durch ihre Geschichte mit den christlichen Kirchen verflochtenen Völkern sind das Feld meiner Betrachtung" (StK 3). Wir haben es hier - von der expliziten Themenstellung her also mit den ersten Ansätzen Hirschs zu einer allgemeinen Theorie des neuzeitlichen europäischen Christentums zu tun. Hirschs Darstellung zerfällt - unter methodischen Gesichtspunkten betrachtet - in vier Teile: Erstens, die historische Beschreibung der allgemeinen Wandlung im Verhältnis von Staat und Kirche in Form einer Gegenüberstellung der Lage um 1789 und 1914; zweitens, eine Erklärung dieses allgemeinen Tatbestandes durch die Veränderungen im Verständnis der Eigenart und Funktion des Staates; drittens, die genaue Diagnose der gegenwärtigen Lage im Lichte der dem Gesamtprozeß zugrundeliegenden Gesamttendenz; viertens, therapeutische Vorschläge zur Überwindung der Situation. Aus der Fülle der einzelnen Beobachtungen und Deutungen kann in unserem Zusammenhang nur dasjenige in Betracht kommen, was mit dem Entstehen einer Theorie der Neuzeit unmittelbar zusammenhängt. Zunächst zum ersten P u n k t . Das Charakteristische an der durch die Französische Revolution geschaffenen Lage ist die Veränderung des Verhältnisses von Staat und Kirche: Ihre enge Verbindung im konfessionellchristlichen Staatskirchentum ist aufgehoben; der Staat setzt seine Selbständigkeit durch, die Kirche lernt in der ihr aufgezwungenen Lage, ihr Eigenleben zu behaupten. Trotz der Unabgeschlossenheit dieses Prozesses steht für Hirsch die Zeit zwischen 1789 und 1914 als die für das Verhältnis von Staat und Kirche entscheidende Epoche der Neuzeit fest. Das 19. J a h r h u n d e r t ist infolge der herausragenden Bedeutung jenes Verhältnisses für den Gesamtbereich der Kultur das eigentliche Jahrhundert der Krise. Was nun zweitens die Ursachen dieses Umbruchs anbelangt, so liegen sie für Hirsch ausschließlich in dem mit der französischen Revolution allgemein werdenden neuen Verständnis der Eigenart und Funktion des Staates. Im wesentlichen handelt es sich dabei u m die Verwirklichung der demokratischen Idee. Die innere Zerrissenheit von Staat und Gesellschaft, wie sie seit dem 19. Jahrhundert für alle europäischen Völker mehr oder weniger charakteristisch ist, ist von daher gesehen keineswegs zufällig, sondern ergibt sich zwangsläufig aus dem dem Ganzen zugrundeliegenden Freiheitsbegriff. Was drittens die genauere Diagnose der dadurch entstandenen gegenwärtigen Lage betrifft, so gilt das Hauptinteresse der veränderten Stellung des Individuums in der Gesellschaft. Die Verfügbarkeit der Masse, zur Beherrschung von Markt und Öffentlichkeit unabdingbar, führt im

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ökonomischen Bereich nicht anders als im politischen und kulturellen zur Entsubjektivierung des Menschen. Als Kompensation dazu entsteht ein forciertes Individualitätsbewußtsein, dessen Äußerlichkeit ebenso zwanghaft ist wie seine erstrebte Originalität illusionär. Damit sind wir viertens bei der Frage der angesichts der bestehenden Situation zu ergreifenden Maßnahmen. Hirschs Vorschläge lassen sich zusammenfassen in der Forderung nach Realisation des christlichen Freiheitsverständnisses in Opposition zu der in Staat und Gesellschaft herrschenden Auffassung von Freiheit qua "Emanzipation". Das christlich bestimmte Ethos und die christlich bestimmte ethische Subjektivität treten zu der sie umschließenden und durchdringenden Lebenswirklichkeit in das Verhältnis teils leidenschaftlichen Widerstandes, teils schicksalshafter Ergebung. An dieser Stelle können wir die Analyse der Schrift aus dem Jahre 1929 abbrechen. 7 Für die uns hier interessierende Frage nach Hirschs Ansatz zu einer Theorie der Neuzeit sind in erster Linie drei Punkte wichtig: Erstens, Hirsch hat mit seiner Studie über "Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert" den Ansatz zu einer Theorie der Neuzeit und des Christentums im ganzen vorgelegt, die im wesentlichen auf eine Krisentheorie hinausläuft. Darin besteht das eigentliche Neue gegenüber der Sichtweise von "Deutschlands Schicksal". Der spätere Begriff der Umformungskrise bahnt sich an. Zweitens, auffallend an Hirschs Darstellung ist die Bewertung des Deutschen Idealismus bezüglich der Harmonisierung von Staatsverständnis und Christentumsauffassung: positive Würdigung der synthetischen Konstruktionsleistung und religiöse Kritik im Horizont reformatorischer Theologie - die wichtigsten Kriterien der späteren Neuzeittheorie in ihrer programmatischen Ambivalenz - sind bereits benannt. Drittens, der entscheidende Punkt dürfte wohl in der Frage liegen, wie sich das Christentum zum neuzeitlichen Freiheitsverständnis zu verhalten habe. Rundweg abgelehnt wird die römisch-katholische Position, die Hirsch durch ein "grundsätzliches Nein zum neuen Freiheitsgedanken sowie zur neuen Art der Bildung des Staatswillens" (StK 32) charakterisiert sieht. "Auf allen Saiten der Leier wird es uns heut von Rom gesungen., dies Lied von der rettenden Auktorität.... [Es] ist von der Papstkirche mit dem Bankrott der neuen Freiheit in absehbarer Zeit von Anfang an gerechnet worden. Heute, wo die Gefahr eines solchen Bankrotts uns allen vor Augen steht, scheint die Erntezeit für diese kluge Politik vielen gekommen" (StK 33). In diese Hoffnung auf eine "Postmoderne" will Hirsch nicht 7

Vgl. die Würdigung ihres Bildes von der sozialgeschichtlichen Gesamtentwicklung Westeuropas bei E. HERMS, a.a.O. 115.

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mit einstimmen. In Opposition zur römisch-katholischen Kirche nimmt Hirsch sogar die in seinen Augen entstellte Fassung neuzeitlicher Freiheit in Schutz: "mag die gewissenlose Willkür des einzelnen mit diesem Königsrecht noch so sehr ihr arges Spiel getrieben haben, ... es bleibt dennoch wahr: die katholische Auktorität hat Unrecht, sogar gegen den verzerrten Freiheitsgedanken des 19. Jahrhunderts" ( S t K 34). Obwohl Hirsch die konsequente Realisation individueller Freiheit als für das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft letztlich desaströs ablehnt, kann er sich diesem Freiheitsverständnis doch nicht vollständig verschließen, jedenfalls solange nicht, als die Alternative dazu Autoritätshörigkeit heißen soll. Worin bestehen nun die positiven Momente des neuzeitlichen Freiheitsgedankens, die selbst in dessen defizienten Modi noch wirksam und als solche zu achten sind? Hirsch nennt deren zwei. Vor allem das erste 8 ist in unserem Zusammenhang wichtig. "Es gibt ein ewiges Recht des einzelnen Gewissens, nicht nur seiner Erkenntnis zu leben, sondern auch nichts anzuerkennen, das nicht innerlich ganz sein eigen geworden ist, und nur in solcher Wahrhaftigkeit kann und will die Wahrheit unser werden" (ebd.). Hirsch erläutert diesen Punkt nicht näher. Doch kann man darin unschwer die Vorform dessen erkennen, was für ihn später den substantiellen Gehalt der Aufklärung ausmacht, nämlich die Autonomie des Wahrheitsbewußtseins, nur das als wahr und gültig zu respektieren, was sich im Durchgang durch den Zweifel erschlossen und bewährt hat. 9 Wir können an dieser Stelle jedenfalls festhalten, daß Hirschs scharfe Kritik am neuzeitlichen politischen Freiheitsverständnis, wie es durch die Französische Revolution zur allgemeinen Geschichtsmacht geworden ist und im 19. Jahrhundert speziell das Verhältnis von Kirche und Staat bestimmt hat, durchaus eine partielle Anerkennung dieses Prozesses einschließen konnte. Die Krise des 19. Jahrhunderts ist für Hirsch nicht der totale Niedergang, und die Repristination der vorrevolutionären Verhältnisse stellt keine sinnvolle Alternative dar. In dieser Sicht der Lage deutet sich der interne Antagonismus der späteren "Umformungskrise" an, auch als destruktive bereits konstruktiv zu sein. Die Arbeiten, welche der Abfassungszeit nach unmittelbar folgen, sind - abgesehen von den "Kierkegaard-Studien", die wegen ihres sachlichen 8

9

Das zweite Wahrheitsmoment der liberalen Idee besteht für Hirsch darin, daß es eine religiös begründete Gewissenspflicht des Individuums zum wagenden "Gebrauch dieser seiner Freiheit" (StK 34) gibt. Hirsch konstatiert denn auch, daß im modernen Protestantismus "das einfache J a oder Nein zu dem neuen Freiheitsgedanken ... die Ausnahme gewesen" (ebd.) ist. Von daher dürfte das Urteil von K . TANNER ein wenig überspitzt sein, Hirschs theologische Kulturdiagnostik unter ein "gemeinsames Credo" der "Denunziation von Aufklärung, Liberalismus, Rationalismus" (a.a.O. 67) zu subsumieren. Vgl. dazu oben K a p . IV. Einleitung.

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Eigengewichts hier keine Berücksichtigung finden können 10 - für die Ausbildung von Hirschs Neuzeittheorie nicht sonderlich ergiebig. Hirschs Interesse ist weitgehend auf die politischen Vorgänge des Jahres 1933 und die damit verbundenen kirchenpolitischen Vorgänge konzentriert, denen er sowohl mit geschichtsphilosophischen Betrachtungen allergrößter Emphase als auch mit zum Teil durchaus nüchternen theologischen Erwägungen auf seine Weise gerecht zu werden sucht. So enthält die 1934 erschienene Schrift "Die gegenwärtige geistige Lage im Spiegel philosophischer und theologischer Besinnung" - mit dem Untertitel "Akademische Vorlesungen zum Verständnis des deutschen Jahrs 1933" - u.a. zwar interessante Gesichtspunkte zur Geistesgeschichte der Zeit zwischen 1900 und 1930 11 , speziell auch zur Theologiegeschichte 12 , ist aber hinsichtlich der Entstehung der Neuzeittheorie Hirschs von untergeordneter Bedeutung. Immerhin spricht Hirsch von der in Frage stehenden Periode als der "für uns eben jetzt als ein einziges großes Geschichtsalter kenntlich werdenden Zeit vom dreißigjährigen Kriege bis zum Weltkriege" ( G G L 16). Die als "Zeitenwende" ( G G L 102) eingestuften Jahre von 1914 bis 1932 werden offenbar als so starke Zäsur empfunden, daß nicht nur die Zeit danach als Neuanfang erscheint, sondern auch die davor nach ihrem epochalen Sinn begriffen zu werden drängt. Hirsch betrachtet die Epoche von 1648 bis 1914 als das abgelaufene Zeitalter (vgl. G G L 38) der "Reflexionskultur" und sieht die Ursachen seiner Entstehung "vor allem in dem zwiespältigen Ausgange des Ringens zwischen Reformation und Gegenreformation" ( G G L 7). Daß die Aufklärung aus dem unentschiedenen Ausgang der Glaubenskriege hervorgegangen ist, hatte bereits Karl Holl einleuchtend gemacht. 1 3 Hirsch hat diese These dann in seiner fünfbändigen Theologiegeschichte nach ihrer ideengeschichtlichen Seite detailliert entfaltet. Die Ereignisse des Jahres 1933 samt ihren Auswirkungen auf die kulturelle Situation im allgemeinen sowie Kirche und Theologie im besonderen werden für Hirsch ungefähr ab 1936 im Spiegel der Rückbesinnung und Bewertung mittelbar zum Anlaß, das Wesen der Neuzeit im ganzen erneut zu durchdenken. Hirsch war wegen seiner theologischen wie

10

11 12 13

Die Bedeutung der Auseinandersetzung mit Kierkegaard besteht in systematischer Hinsicht vor allem darin, daß dessen Wahrheitsbegriff Hirsch auf das Problem der Zuordnung von christlichem und humanem Bewußtsein geführt hat. Vgl. etwa die Charakteristik der modernen "Existentialphilosophie" ( G G L 45). Vgl. G G L 78-123. Dieser Sicht hat sich neuerdings auch W. PANNENBERG: Reformation und Neuzeit, angeschlossen.

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kirchenpolitischen Haltung 1 4 wiederholt zur Rechtfertigung seines Standpunktes herausgefordert worden. So sah er sich gezwungen, sich über das Verhältnis des christlichen Glaubens zu dessen zeitbedingten weltanschaulichen Voraussetzungen prinzipiell klar zu werden. Hinzu kam, daß ihm auf Seiten seiner kirchenpolitischen Gegner, vor allem bei den Vertretern der Barmer Theologischen Erklärung, aber auch bei Repräsentanten des konservativen Luthertums, Argumentations weisen und Denkvoraussetzungen begegneten, die für ihn auf nichts anderes als auf eine Repristination der altprotestantischen Lehrschemata hinausliefen. Vor diesem Hintergrund gelangt Hirsch ab 1936 zu seiner für ihn dann verbindlich gewordenen Sicht des Verhältnisses von christlichem Glauben und neuzeitlichem Wahrheitsbewußtsein im Gesamtzusammenhang einer umfassenden Theorie der Neuzeit. Betrachten wir den Gang der Dinge im einzelnen. Rückblickend stellt Hirsch 1936 fest: "Die Unwahrheit an der Unterscheidung von Weltanschauung und Evangelium, wie die Theologie sie vor 1933 weithin zu machen pflegte, lag darin, daß sie dem natürlich-geschichtlichen Menschen, wenn er wahrhaftig sein wollte, nur eine der ethischen und religiösen Idealität leere Weltanschauung im Sinne des sich zersetzenden modernen Säkularismus zugestand. ... Man hat also gewissermaßen die Gottlosigkeit und Bindungslosigkeit als Agenten für die Firma Kirche angestellt" ( W d T h 25f). Demgegenüber begrüßt Hirsch die vom Nationalsozialismus 1933 an den Tag gelegte Aufgeschlossenheit für die christliche Religion, die für kurze Zeit auch tatsächlich zu einer deutlichen Hinwendung zur Kirche von seiten ihr weitgehend entfremdeter Bevölkerungsschichten geführt hatte. Hinsichtlich der darin beschlossenen weltanschaulichen Vereinheitlichungsintention urteilt Hirsch: "Zum ersten Male seit der Auflösung der alten kirchlich gebundnen deutschen Kultur hat der deutsche politische Wille die innere Einigung des deutschen Volks in der Zucht einer auf den Gottesglauben sich gründenden deutschen Weltanschauung von selbstverständlicher Gültigkeit sich z u m Ziele gesetzt" ( W d T h 23). Hirsch begreift den Nationalsozialismus, soweit dieser gemäß seiner in der Anfangszeit wiederholt geäußerten Absichtserklärung das Christentum mitumgreifen wollte, als eine der kirchlichen Einheitskultur des konfessionellen Zeitalters durchaus ebenbürtige Gestalt gelungener Kultursynthese. Uber die Reaktion auf diese vom Nationalsozialismus - wie wir wissen - vorgetäuschte Zielsetzung sagt Hirsch: "Es ist den Theologen und Kirchenleuten zunächst eine erfreuliche Kunde gewesen, von diesem Ziele des politischen Willens zu hören. Ich kenne aus den Jahren vor 1933 eine 14

Vgl. dazu K. SCHOLDER: Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 1, 402-404.409. 417.424.428.430.440.449.459.

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Reihe solcher, die allein dadurch zur Bewegung hinübergeführt worden sind" (ebd.). Hirsch fährt fort - und kommt damit auf das uns eigentlich interessierende Thema zu sprechen: "Aber, die Freude ist dann bei den meisten Kirchenleuten bald der Sorge gewichen. Sie entdeckten (was sie im voraus hätten wissen können, wenn sie ein wenig nachgedacht hätten), daß der politische Wille bei dem Aufbau der neuen deutschen geistigen Heimat gar nicht daran dachte, die großen Umwälzungen in der Weltanschauung, die vom 18. und 19. Jahrhundert gebracht waren, wieder auszustreichen und in die Zeiten kirchlich gebundner Kultur zurückzulenken, daß er vielmehr die neue deutsche Weltanschauung in rückhaltloser Aufnahme aller weltanschaulich wichtigen Erkenntnisse moderner wissenschaftlicher Wahrhaftigkeit aufzubauen trachtete" (WhTh 23f). Die Ereignisse des Jahres 1933, die für Hirsch zunächst nur Gegenstand politischer Zustimmung und punktueller geschichtsphilosophischer Überhöhung waren, sind in der Rückschau zum Exponenten jenes globalen soziokulturellen Prozesses geworden, der in der Aufklärung seinen Ursprung hat und im 19. Jahrhundert Realität geworden ist. Bezüglich der hier deutlich hervortretenden Umorientierung im Verständnis der Neuzeit einschließlich der damit verbundenen Probleme für Kirche und Theologie lesen wir weiter: "Der deutsche Umbruch von 1933 hat diese Krisenlage nicht geschaffen. ... Dennoch kann unser Umbruch nicht unter Abstraktion von dieser Krisenlage sich vollbringen. ... Daher wird der Umbruch bei uns mittelbar Vollstrecker des Schicksals, das langsam aber unausweichlich sich an der überlieferten Gestalt von Theologie und Kirche, auch evangelischer Theologie und Kirche, vollzieht" (WdTh 28). Die nationalsozialistische "Revolution" 15 ist für Hirsch Exponent der Neuzeit nicht nur in dem Sinne, daß sie deren positive Errungenschaften zur Geltung bringt, sondern auch darin, daß sie die Krisenhaftigkeit jenes Prozesses verkörpert. Aus dem gerade angeführten Zitat geht aber auch hervor - und dies ist für das Werden der Neuzeittheorie Hirschs wesentlich wichtiger-, daß die Krise, in welche Aufklärung und 19. Jahrhundert das Christentum geführt haben, von solcher Allgemeinheit ist, daß sie nicht verwechselt werden darf mit den spezifischen Erschütterungen, die das Jahr 1933 in Deutschland gebracht hat. In eine ähnliche Richtung weisen - allerdings erst gegen Ende der 30er Jahre niedergeschriebene - Notizen im durchschossenen Handexemplar des "Leitfadens". Blicken wir noch einmal zurück auf das Grundprogramm dieser Dogmatik. Wie wir in der Einleitung unseres Kapitels gesehen haben, empfängt Hirschs dogmatischer Entwurf seine markanteste Prägung durch die alle Themenbereiche gleichermaßen strukturierende Unterschei15

GGL 29.

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dung und Beziehung von christlichem und humanem Bewußtsein. Das christliche Bewußtsein weiß sich sowohl in anknüpfender Vertiefung wie in diskontinuierlicher Uberbietung auf das humane Bewußtsein bezogen. Dieses humane Bewußtsein ist näher bestimmt als das allem Denken und Sprechen immer schon in vorreflexiver Selbstverständlichkeit zugrundeliegende allgemeine Wahrheitsbewußtsein. Vor dem Hintergrund dieses Programms formuliert Hirsch nun einen Selbsteinwand, wie er ihm in ähnlicher Weise von Seiten radikaler deutschchristlicher Kreise begegnet sein mag, und diskutiert ihn in einer für unser Thema höchst aufschlußreichen Weise durch. Diese - tatsächliche oder fikt i v e - Kritik an seiner Dogmatikkonzeption lautet: "Dein Einsatz schon ist falsch und überholt. Statt beim Verhältnis des Humanen und des Christlichen vom abendländischen Wahrheitsbewußtsein her (sei es auch in deutscher Perspektive) gesehen, solltest du einsetzen beim Volk und fragen, wie sich von völkischer Weltanschauung her das Verhältnis zum Christlichen stelle" ( C h R I, 151; Hhg.i.O.). Hirsch selbst widerlegt diesen Einwand mit drei Argumenten. Erstens: "Es ist nicht richtig, daß wir mit dem Wort völkische Weltanschauung eine Totalbestimmung des heutigen Wahrheitsbewußtseins (auch nur in Deutschland) hätten". Das Wahrheitsbewußtsein wird heute im wesentlichen geprägt von der "rein sachgebundenen Wissenschaft der Tatsachen und Tatsachenzusammenhänge" mit ihrer "eigentümliche[n] Macht, Denken und Leben zu bestimmen". Zweitens: "Nicht das sich Wiederbesinnen auf das Volk erzeugt die Frage, sondern der Zwiespalt des Christentums mit den für eine gemeinsame völkische Weltanschauung notwendig gegebenen Voraussetzungen des allgemeinen Wahrheitsbewußtseins". Drittens: "Es gibt demgemäß ein menschliches Wahrheitsbewußtsein, das ein allgemeineres und formaleres Prinzip ist als die völkische Weltanschauung, und von diesem her müssen wir die Frage durchdenken in der Dogmat i l (ebd.). Dieser Selbsteinwand und seine Widerlegung zeigen, daß Hirsch vollständig darüber ins reine gelangt war, daß das deutsch-christliche Selbstverständnis der nationalsozialistischen Epoche, dem er selber leidenschaftlich und konsequent zu intellektuellem Ausdruck verhelfen wollte, und die Bestimmtheit eben desselben Zeitbewußtseins im Horizont des Modernisierungsprozesses der Neuzeit nicht deckungsgleich sind, sondern sich verhalten wie eine unter konkreten historischen Randbedingungen stehende Teilerscheinung zu einem epochalen Gesamtsyndrom. Nah- und Fernoptik müssen also, auch wenn sie sich in ihrem Gegenstand überschneiden, zumindest methodisch sauber getrennt werden. Doch kehren wir zurück in die Zeit des Werdens von Hirschs Neuzeittheorie. Wie beschreibt Hirsch im Jahre 1936 den von der Neuzeit

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heraufgeführten Umbruch der allgemeinen Christentumsgeschichte? Um Hirschs eigentümliches Pathos gerade auch in der Darstellung seiner Sicht dieser Krisensituation vor Augen zu haben, ist es sinnvoll, einen längeren Abschnitt seiner Ausführungen im Zusammenhang wiederzugeben: "Das Schicksal, das Theologie und Kirche aus der abendländischen Umformung von Weltbild und Wirklichkeitsempfinden erwächst, ist von ungeheuerlicher Schwere. Wir hängen nun schon seit langem gleichsam nackt und bloß zwischen der Gestalt des christlichen Glaubens, die für uns vergangen ist, und der neuen, die noch nicht da ist. Die wenigen Theologen, die diese Lage wirklich mit Ehrlichkeit bis in den Grund durchleiden - ohne Romantik dem Alten gegenüber, ohne Verklärung ihrer eigenen Notbehelfe, als ob die das Neue wären - , sie wissen, daß alles, aber auch restlos alles, was Theologie und Kirche sich in jahrtausendlanger Geschichte aufgebaut haben, in den Schmelztigel, in den Hochofen geschoben ist. Für sie selber ist die alte christliche und kirchliche Welt noch voll tiefen Sinns, ist die altevangelische Gestalt der Lehre und der Kirche noch Gefäß des evangelischen Glaubens. Aber das ist nur deshalb so, weil sie mit leidenschaftlicher Forschungs- und Denkarbeit in dieser Welt sich heimisch gemacht haben. F ü r die Nichttheologen, die das nicht können, m u ß es eine unverstandene und fremde Welt bleiben. Und für alle, die sich darin noch zurecht finden, ist vieles, was für die Vorväter noch schlichte Wirklichkeit war und sachgemäße Rede, nun bloß mythisches Gleichnis und kunstvolle oder künstliche Bildrede geworden. Das ist alles so klar a m Tage, daß m a n gerade als Theolog und Christ von einem Entsetzen gepackt wird, wenn m a n die Ahnungslosigkeit unzähliger Theologen und Kirchenleute über das in dieser Lage Gebotene sieht. Sie wollen die alten Kleider, in die die Motten gekommen sind, nicht fahren lassen. Sie haben sich noch nie klar gemacht, daß wahrhaftige Menschen wohl auf dem Boden der modernen Aufklärung vorwärts zu neuer christlicher Gestalt, aber nimmermehr über sie rückwärts zur alten denken und wollen können. Sie belasten den Glauben an Jesus Christus mit dem mythischen und lehrmäßigen Ballast einer untergegangnen christlichen Epoche und werden so zu Scheidewänden zwischen unserm Volk und dem Evangelium. Es gibt nur eine Entschuldigung für sie: daß es wirklich hart ist, die Nacktheit und A r m u t auszuhalten, in der sich der Theologe und Christ findet, der die Lage sieht und ahnt, welche lange mühselige theologische Denkarbeit dazugehören wird, in ihr neu zu bauen. Wer aber wirklich glaubt, der sollte wissen, daß auf dieser Nacktheit und Armut die größte Verheißung hegt, die Gott einer Generation von theologischen und kirchlichen Arbeitern geben kann, die Verheißung eines Jungwerdens von Grund auf für Christentum, Kirche und Theologie. Das ist die Gesamtlage der Theologie" ( W d T h 28f).

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In der im J a h r e 1937 erschienenen Schrift "Zweifel und Glaube" gewinnt Hirschs Deutung der Neuzeit dann ihr endgültiges Profil. Die durch die Neuzeit geschaffene Bewußtseinskonstellation ist dadurch charakterisiert, daß der Zweifel allen woher auch immer erhobenen Geltungsansprüchen gegenüber kritisch prüfend Abstand hält und nur das zu akzeptieren bereit ist, was ihm einleuchtet, d.h. was von ihm in freier Zustimmung angeeignet werden kann. In religionsgeschichtlicher Hinsicht bedeutet dies: Das Christentum ist in der Neuzeit unter die "Geschichtsmacht des Zweifels" (ZuG 10) getreten. Der christliche Glaube hat aufgehört, Inhalt eines Vorwissens zu sein, welches den Angehörigen des durch das Christentum bestimmten Kulturkreises bereits als solchen eignet. Und die Kirche hat das gesellschaftskybernetische Privileg eingebüßt, mit fragloser Selbstverständlichkeit das allgemeine Leben durchzubilden. Die neue Epoche unterscheidet sich von der vergangenen sonach im wesentlichen dadurch, daß das humane Bewußtsein es als sein ihm unveräußerliches Recht betrachtet, die Inhalte seines Wissens und die Ziele seines Handelns unabhängig von christlichen Voraussetzungen zu bestimmen. Die im Jahre 1939 veröffentlichten Vorlesungen über "Das Wesen des Christentums" bringen jenen Sachverhalt auf den Begriff der "Umformungskrise" ( W C h 131) des Christentums in der Neuzeit, und die zwischen 1949 und 1954 erschienene "Geschichte der neuern evangelischen Theologie" belegt das neue geschichtsphilosophische Modell dann in Form der Darstellung der einzelnen Stationen dieses geistesgeschichtlichen Prozesses. Hirsch unterscheidet innerhalb der Umformungskrise zwei Phasen, eine den Altprotestantismus auflösende, die im wesentlichen Aufklärung und Pietismus umfaßt, und eine den Neuprotestantismus positiv aufbauende, deren Schwerpunkt einerseits im Umkreis des Christentumsverständnisses des Deutschen Idealismus, andererseits in der Ausbildung der historischkritischen Theologie liegt. Mit Bezug auf beide Phasen der Umformungskrise kann Hirsch nun von einem Zu-sich-Selbst-Kommen des Wesens des Christentums sprechen. Das Zeitalter der Aufklärung gewinnt sein Profil nicht mehr vom emanzipatorischen Freiheitsbegriff der Französischen Revolution her, sondern ist in erster Linie die Geschichte der Selbstentdeckung des humanen Wahrheitsbewußtseins nach der ihm wesenseigenen kritischen Autonomie. Und das 19. Jahrhundert ist jetzt nicht mehr Vollstrecker des Krisenpotentials der Französischen Revolution, sondern die Epoche der großen philosophischen, theologischen und historiographischen Entwürfe, in denen sich eine der neuzeitlichen Situation gemäße kritische Vermittlung von christlichem und humanem Bewußtsein anbahnt.

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3. D i e W a n d l u n g der g e s c h i c h t s p h i l o s o p h i s c h e n E i n o r d n u n g der R e f o r m a t i o n u n d ihre t h e o l o g i s c h e K o n s e q u e n z

Vor dem Hintergrund des veränderten Neuzeitverständnisses mußte die entscheidende Frage für Hirsch lauten: Wie verhält sich Luthers reformatorische Einsicht zu der Entstehung jenes humanen Wahrheitsbewußtseins, welches der Umformungskrise des neuzeitlichen Christentums zugrunde liegt? Hirschs Ortsbestimmung der Reformation setzt zunächst ein mit der Grundthese: Luther ist der Ursprung der Neuzeit. Das Reformationskapitel des "Wesens des Christentums" beginnt mit folgenden, geradezu pathetischen Worten: "Als Luther am 18. April 1521 vor Kaiser und Reich in Worms die Erklärung abgab, er könne und wolle nicht widerrufen, weil wider das Gewissen zu handeln weder fahrlos noch lauter sei, da begann eine neue Zeit in der Geschichte des Abendlands. Die selbstverständliche Herrschaft des am Papst, sein Oberhaupt habenden alten Kirchentums über die Menschen und Völker und Staaten war nun zum Zusammenbruch verurteilt, und eine Ordnung gemeinsamen Lebens, die nicht mehr in Christentum und Kirche Grund und Lebensform hatte, kündigte sich mit Wetterleuchten an" (WCh 110). Bereits in "Zweifel und Glaube" hatte es geheißen: "Es ist eine sichere geistesgeschichtliche Erkenntnis, daß Luther mit seiner Verneinung des mittelalterlichen Begriffs der Christenheit, mit seiner Entdeckung, daß die politische Ordnung ihre eigene Hoheit aus Gott und ihre eigene Unmittelbarkeit zu Gott hat, etwas getan hat, das von unübersehbaren Auswirkungen ist" (ZuG 16). Beide Zitate machen deutlich, worin für Hirsch Luthers Neuzeit stiftende Tat besteht, nämlich in der Entdeckung der Selbständigkeit der politisch-sozialen Ordnung. "Er sieht sie nicht mehr als Teil einer christlichen Weltordnung, sondern als etwas, das dem natürlich-menschlichen Leben nach Gottes Willen seine Art und seinen Bestand erhält. Sie hat, ganz unabhängig von der christlichen Offenbarung und ganz unabhängig davon, ob sie von Christen oder Unchristen wahrgenommen wird, ihr unmittelbares Recht von Gott. Die Menschen könnten nicht in Heil und Frieden miteinander leben, es gäbe gar keine Gemeinschaft zwischen ihnen, wenn nicht Gott die weltliche Obrigkeit gestiftet hätte, d.h. gewollt hätte, daß das gemeinsame Leben unter Herrschaft und Befehl verfaßt sei. Luther ist auf diese seine Entdeckung des unmittelbaren in Gott geheiligten Rechts der weltlichen Obrigkeit immer besonders stolz gewesen. Und das mit Recht: es ist der Anfang unsers neuern unbefangen weltlichen Begriffs von menschlicher Gemeinschaft. Keine Säkularisation hat so viel bedeutet wie diese Säkularisation der Idee" (WCh 111).

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Die beiden vorletzten Zitate weisen aber auch darauf hin, worin Hirsch Luthers Entdeckung der Selbständigkeit des politisch sozialen Lebens begründet sieht, nämlich in der Destruktion der dogmatischen Grundlagen der mittelalterlichen Papstkirche. "Die Reformation versteht die Kirche als die verborgne geistliche Christenheit, d.i. als die innerliche Gemeinschaft der im wahren Glauben an Christus Verbundnen, die nicht leiblich oder sichtbar ist, aber überall da vorhanden geglaubt werden soll, wo echte Predigt des Evangeliums und Taufe und Abendmahl nach der Einsetzung Christi sind. Von da her wird die Polemik geführt gegen jeden Versuch, die wahre Christenheit oder Kirche mit äußerlich verfaßter und geordneter Gemeinschaft, die stets Menschenwerk ist, in eins zu setzen oder zu vermengen. In dieser Polemik wird die Freiheit des Christenmenschen von Gesetz, von menschengemachtem Gottesdienst, selbstgewähltem frommen Werk und äußerlicher Heiligkeit gewendet zum Nein wider alles Kirchent u m , das die Gewissen im Namen Gottes an sich binden will. Diese Polemik mit ihrem Umsturz aller Begriffe von Christenheit und Kirche ist der eigentliche Anfang der Neuzeit" (Lf §41.Α.). Die Destruktion der dogmatischen Grundlagen der mittelalterlichen Papstkirche umfaßt des näheren sechs Punkte: 1 6 a) die Entgegensetzung von geistlich-innerer und leiblich-äußerer Christenheit; b) die Bestreitung der geistlichen Wirksamkeit des Bannes der äußeren Kirche; c) die Bestreitung der Stiftung des P a p s t t u m s durch Christus; d) die Bestreitung des Rechtes der Kirche zur Einschränkung oder Beseitigung der von Gott geschenkten Gewissensfreiheit; e) die Bestreitung eines geistlichen Unterschiedes zwischen Priestern und Laien; f) die Aufhebung der Beichtpflicht. Ebenso wichtig wie die inhaltliche Seite dieser theologischen Kirchenkritik ist für Hirsch aber deren formale Gestalt. Aus Luthers Verständnis der Kirche als der verborgenen geistlichen Christenheit folgt mit Notwendigkeit "die Polemik gegen alles, was sich an seine Stelle setzen will ... . Ohne diese polemische Seite würde Luthers Lehre von der christlichen Freiheit nicht vollständig sein" (ChR I, 140). Dieser polemische Aspekt des reformatorischen Kirchenbegriffs ist nach Auffassung Hirschs kein zufälliges Moment, sondern steht in einem inneren Zusammenhang mit Luthers Verständnis des Rechtfertigungsglaubens, der ohne seine polemische Komponente gleichermaßen nicht gedacht werden kann. Im Glauben an das Evangelium sind für Luther "die Gewissen frei geworden von der Nötigung, a) ihr Gottesverhältnis durch Priestert u m und Sakrament tragen und heiligen zu lassen, ferner b) sich ohne ihre Einsicht und Überzeugung von irgendwelchen Stellen im Namen Gottes 16

Vgl. HStD 192-201; sie alle sind für Hirsch Ausdruck von Luthers "in positiver christlicher Erkenntnis sich gründende[r] Polemik" (a.a.O. 192).

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Satzungen und Gebote auflegen zu lassen, endlich c) sich durch besondre fromme Werke, mit denen sie das Leben im natürlich-bürgerlichen Stande überhöhen, Gnade von Gott zu verdienen" (Lf § 38.A.). Alle drei Aspekte der reformatorischen Gewissensfreiheit weisen, formal betrachtet, strukturelle Negationen auf. Die sachliche Geschlossenheit und die gedankliche Konsistenz der reformatorischen Grundeinsicht verflüchtigen sich, wenn man jene - sei es ekklesiologische, sei es rechtfertigungstheologische - destruktiv-polemische Komponente aus ihr tilgt. Daß im Sinne Luthers dem Glauben an das Evangelium letzten Endes eine positive, konstituierende Funktion zukommt, widerspricht für Hirsch in gar keiner Weise jener antithetischen Struktur. Damit können wir uns dem Verhältnis zwischen Hirschs ausgereifter Neuzeitdeutung und Troeltschs geschichtsphilosophischer Einordnung der Reformation zuwenden.17 Troeltsch hat Luthers Beitrag zur Entstehung der Moderne vor allem in der Entdeckung neuzeitlicher Grundwerte und Leitideen gesucht: Glaubensreligion, religiöser Individualismus, Gesinnungsethik, Welt Offenheit, paradoxe Fassung des Gottesgedankens und anderes mehr. Eine diesbezügliche Kontinuität wird von ihm anerkannt, aber zugleich inhaltlich so stark relativiert, daß im Endergebnis der Abstand zu Luther größer ist als die Gemeinsamkeit mit ihm. Komplizierter liegen die Dinge im Falle von Troeltschs Beurteilung des Verhältnisses Reformation/Mittelalter. Hier dominiert - jedenfalls im Hinblick auf Luther - ganz der Gesichtspunkt des Sichdurchhaltens des Typus "kirchliche Einheitskultur". Diese vor allem in den "Soziallehren" vorgetragene Einschätzung resultiert aus der Anwendung der soziologischen Betrachtungsweise auf die Kirchengeschichte, und zwar so, daß diese auf drei elementare Formen christlicher Sozialgestaltung hin befragt wird, nämlich Kirche, Sekte und Mystik. Die Gemeinsamkeit und historische Kontinuität des soziologischen Typus "Kirche" im Hinblick auf Luthers Verhältnis zum Mittelalter ergibt sich in dieser Perspektive nahezu von selbst. Diese Dominanz des soziologischen oder kulturmorphologischen Aspektes bringt es jedoch mit sich, daß ein so fundamentaler kirchen- und theologiegeschichtlicher Sachverhalt wie die Funktion des Papsttums ganz in den Hintergrund gedrängt wird. Troeltschs Bezugnahmen auf die Geschichte des Papsttums im Mittelalterkapitel der "Soziallehren" sind denn auch eher marginaler Art. Eine unmittelbare Folge davon ist, daß auch Luthers Bruch mit der Papstkirche - eines der augenfälligsten Ergebnisse der Reformation - von Troeltsch nicht hinreichend gewürdigt werden kann und somit fast den Charakter des Beiherspielenden annimmt. 17

Vgl. dazu jetzt H. FISCHER: Luther und seine Reformation in der Sicht Ernst Troeltschs; ders.: Die Ambivalenz der Moderne. Zu Troeltschs Verhältnisbestimmung von Reformation und Neuzeit.

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Johannes Haller, der Geschichtsschreiber der Genese des P a p s t t u m s , hat bereits 1917 im Hinblick auf Troeltschs Verständnis der geschichtsphilosophischen Stellung der Reformation angemerkt: "Wer wird denn leugnen, daß an Luther und seiner Zeit vieles ist, was uns fremd erscheint, und daß wir vom Zeitalter der Reformation durch tiefe Wandlungen sowohl der Lebensformen wie des Bewußtseins geschieden sind? Aber unendlich viel tiefer ist doch der Einschnitt, den die Reformation in beidem gemacht hat, indem sie die Einheit und Alleinherrschaft der Priesterkirche zerstörte und für einen großen Teil der Welt das Priestertum überhaupt beseitigte. Dies ist das entscheidende Ereignis Von einer Geschichtsbetrachtung, die gerade diese entscheidende Tatsache übersehen kann, darf m a n wohl sagen, daß sie den Wald vor Bäumen nicht sieht". 1 8 Der Einwand dürfte kaum zu bestreiten sein. Man wird mit der Kritik an dieser Stelle aber noch weiter gehen können. Es handelt sich bei Troeltsch tatsächlich nicht nur u m ein "Ubersehen", sondern u m ein grundsätzliches, methodisches Problem. Es betrifft weder die Frage der inhaltlichen Adäquatheit der oben genannten Wertideen, noch die Frage der Leistungskraft der soziologischen Betrachtung der Kirchen- und Dogmengeschichte im allgemeinen. Troeltschs methodisches Defizit - aus der Sicht Hirschs - liegt vielmehr an anderer Stelle. Es läßt sich anhand eines Vergleichs des Verfahrens beider deutlich machen. Hirsch hat in seinem "Wesen des Christentums" die Geschichte des Mittelalters unter den Titel "Das P a p s t t u m " (vgl. W C h 97-109) gerückt und Luthers Entdeckung der für die Neuzeit konstitutiven Selbständigkeit des politisch-sozialen Lebens auf die Destruktion der dogmatischen Grundlagen der Papstkirche zurückgeführt. In der Perspektive dieses Ansatzes kann das methodische Defizit Troeltschs folgendermaßen beschrieben werden: 1. Weil für Troeltsch aufgrund der von ihm gewählten Sicht die Identität oder Kontinuität des soziologischen Typus Kirche das Verhältnis von Mittelalter und Reformation bestimmt, kann das negative Gewicht von Luthers Bruch mit der Papstkirche samt der Bestreitung der Christlichkeit ihrer Kirchenverfassung nicht hinreichend gewürdigt werden. 2. Weil Troeltsch vorwiegend nach positiven ideellen Verbindungslinien zwischen Luther und der Neuzeit fragt, gerät aus dem Blick, daß Luthers Entdeckung der Selbständigkeit des politisch-sozialen Lebens zunächst einmal negativ gefaßt und begründet ist, nämlich in der Absage an die im römisch-katholischen KirchenbegrifF vollzogene Gleichsetzung von Christenheit und äußerlich verfaßter und geordneter Gemeinschaft.

18

J. HALLER: Die Ursachen der Reformation, 33.

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Troeltschs methodisches Defizit liegt - von Hirschs Reformationsdeutung her beurteilt - also im Verkennen des prinzipiellen Gewichts der negativen bzw. destruktiven Komponente von Luthers Neuzeit stiftender Tat. Die Differenz zwischen Hirschs und Troeltschs Sicht des Verhältnisses von Reformation und Neuzeit ist nicht nur theologisch, dogmengeschichtlich, geschichtsphilosophisch oder ideenpolitsch, sondern auch historiographisch-methodisch begründet. Hirsch hat einmal von sich bemerkt: "... gerade an dem irrenden Troeltsch habe ich manches Wertvolle gelernt" (ThLZ 49 (1924), Sp. 423). Man geht vermutlich nicht zu weit, wenn m a n dieses Diktum auch auf Troeltschs methodische Ortsbestimm u n g der Reformation bezieht. Daß die Reformation den Ursprung der Neuzeit bildet, besagt für Hirsch, daß Luther von der im Rechtfertigungsglauben geschenkten Gewissensfreiheit her zu einem Kirchenbegriff geführt wurde, der die Selbständigkeit des politisch-sozialen Lebens zur Folge hatte. Damit ist aber erst die eine Seite von Hirschs geschichtsphilosophischer Einordnung der Reformation zur Geltung gebracht. Die andere hängt mit der aufbauenden Seite jenes Vorgangs zusammen: "Luther hat da, wo sein Wort eine Stätte fand, das ganze alte Kirchentum zerschlagen. Aber er wollte nicht Kirche zerstören, er wollte rechte Kirche bauen. Er hat die ganze alte Gestalt christlichen Denkens und Lebens entwurzelt. Aber er wollte nicht christliche Lehre und Leben in Gottesfurcht vernichten, er wollte zur rechten christlichen Lehre und zu echtem Leben in Gottesfurcht führen. So ist er denn nicht bloß der Stürmer und Dränger, der eine neue Zeit einleitet, dessen Wort u n d Geschichte durch die Jahrhunderte in unübersehbare Fernen hinein sich auswirken. Er ist auch der Theologieprofessor, Prediger und Kirchenmann des 16. Jahrhunderts, der unter den Bedingungen seiner Lage und seiner Zeit dem Evangelium eine dem Gesetz des Daseins gemäße kirchliche Denk- und Lebensform erarbeitet.... Es ist unerbittliches Gesetz der Geschichte, daß das Neue, das aus einem Umbruch hervorgeht, seine erste Gestalt sich aus den Elementen des von ihm zerbrochnen Alten erbauen muß" ( W C h 122f). Diese prinzipielle Zeitbedingtheit der Entstehung von Neuem kann Hirsch im Hinblick auf das Verhältnis Reformation/Neuzeit etwa a m Beispiel der Genese des modernen Toleranzgedankens erläutern, wie er von der europäischen Aufklärung entwickelt worden ist. Unbestreitbar setzt er die reformatorische Kritik an der Ketzerverfolgung voraus, ebenso offenkundig jedoch weist er an Reichweite und Begründung weit über sie hinaus. "Das kann füglich niemand bezweifeln, daß der tiefe in Glaubenserkenntnis gegründete reformatorische Begriff von Gewissensfreiheit für sich allein nicht imstande gewesen wäre, die Verknüpfung zu lösen, die die auf ein einheitliches Kirchenwesen gerichtete Staatsraison mit dem Eifer

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der der Einzigkeit ihrer Wahrheit bewußten Kirchentümer, hier so, dort so, eingegangen war" (ZuG 12). Ahnliches ließe sich für das Verhältnis zwischen dem reformatorischen Verständnis von weltlicher Obrigkeit und der Begründung des modernen Staatsbegriffs bei Grotius, Hobbes und Locke geltend machen. 1 9 Verallgemeinert m a n diesen Sachverhalt, dann erfährt jene erste These von Luthers Hervorbringung der Neuzeit eine grundlegende Relativierung: Luthers Bedeutung für die Entstehung der Neuzeit ist durchaus ambivalent. "Er hat das ganze Leben des abendländischen ... Kultur- und Völkerkreises verändert: das Verhältnis des Humanen und des Christlichen ist in seine neue Epoche getreten. Luther selber ist auch nach der Weise seiner Existenz als Prediger und Reformator ... ein echter Vertreter dieses neuen Verhältnisses des Humanen und Christlichen. ... Aber in seinem Denken selber hat er das neue Verhältnis natürlich nicht durchreflektieren können bis in alle Folgen: die Verwandlung fängt mit ihm an und kann erst langsam in der Kette der Geschlechter sich in ihren Auswirkungen künden. ... Erst die geschichtliche Macht des Zweifels am Christlichen vollstreckt die neue Erkenntnis" (ZuG 16f). Die Aufklärung ist d a r u m die sachlich legitime Fortsetzung des Werkes des Reformators Luther, auch und gerade dort, wo sie die Grundlagen des von dem Kirchenmann Luther gegründeten altprotestantischen Kirchenwesens kritisiert und überwindet. Hirschs geschichtsphilosophische Einordnung Luthers und seiner Reformation läßt sich sonach folgendermaßen zusammenfassen: Mit der Bestreitung der dogmatischen Grundlagen der Papstkirche auf der Basis eines neuen, in der reformatorischen Grundeinsicht gegründeten Kirchenbegriffs hat Luther die Selbständigkeit des politisch-sozialen Lebens entdeckt; damit hat er die Entstehung der Neuzeit eingeleitet. Mit der Hervorbringung des altevangelischen Kirchentums und Lehrbegriffs steht er in seiner Zeit und verweist damit zugleich zurück in die Frömmigkeits- und Kulturformen des Mittelalters; diesbezüglich bedeutet die Entstehung der Neuzeit einen Bruch in der Geschichte des Protestantismus. Daraus ergeben sich wichtige Folgerungen für den Begriff der Umformungskrise: 1. Die Neuzeit führt nur fort, was mit der Reformation begonnen hat, selbst da, wo sie sich gegen deren vorneuzeitliche Komponenten richtet. 2. Die Umformungskrise des Christentums in der Neuzeit ist nicht nur historisch unvermeidlich, sondern sie dient letzten Endes auch der kulturellen Überlebensfähigkeit des reformatorischen Christentumsverständnisses selbst. 19

Vgl. dazu GneTh I, 13-30.30-45.49-56.

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3. Das Ziel der Umformung ist die innere Verträglichkeit und wechselseitige Ergänzung von neuzeitlich reformuliertem reformatorischem Christentum und neuzeitlich reflektiertem humanem Wahrheitsbewußtsein. 4. Träger jenes Umformungsprozesses und Erscheinung dieser Synthese ist der Neuprotestantismus. Mit dieser geschichtsphilosophischen Verortung der Reformation ist zugleich auch das generelle Urteil gewonnen hinsichtlich der Bedeutung von Luthers Theologie für die Gegenwart. "Luthers Theologie ist zweigesichtig. Sie ist zunächst einmal Lösung der theologischen Aufgabe jener Anfangszeit. Aber an zahllosen blitzartig aufleuchtenden Gedanken, die sie zu zersprengen drohen und von seinen Mitarbeitern bei der Prägung einer brauchbaren Schulform ausgemerzt oder umgebogen wurden, wird klar, daß die ihn umtreibende Erkenntnis in einer Theologie, wie sie damals allein möglich war, nicht den ihr gemäßen Ausdruck finden konnte. Nichts kennzeichnet heute einen Theologen mehr als die Art, wie er Luther sieht und braucht. Ein Geltendmachen Luthers, welches, statt an dem eine neue Gestalt christlichen Denkens und Lebens einleitenden Durchbrecher für einen eignen neuen Weg zu lernen, den Theologen des 16. Jahrhunderts uns zu repetieren empfiehlt, ist nichts als theologisch unfruchtbarer Totenkult" (Lf §38.M.2.). Als wie bedrängend Hirsch dieses Janus-Gesicht der Theologie Luthers empfunden hat, geht vielleicht am deutlichsten hervor aus einem Brief an seinen Freund Hans Lietzmann vom 12. September 1940. "Das Schwierige ist: ein Buch über 'Luthers Theologie' ist unmöglich. Luther ist eben Zweierlei. Einmal der Vorläufer und Wegbereiter eines neuen Christentums, das selbst über unsern Horizont noch z.T. hinausgeht, über den des 16. Jahrhunderts allemal. Dies kann man nur so darstellen wie Holl, in geistes- und religionsgeschichtlichen Einzel-Studien, die von Luther bis zu uns hingehen. Dann der Theolog und Kirchenmann des 16. Jahrhunderts. Wenn man dessen Gedanken systematisch entwickelt, dann kommt etwa das heraus, was herauskäme, wenn ich die Lutherzitate meines Hilfsbuchs als Anmerkungen und Belege zu einer eignen Darstellung verwendete.... Das ist dann aber nicht Luther, sondern nur der sich selbst zum Pädagogen und Kirchenmann begrenzende Luther, und das Beste und Größte kommt nicht zu seinem Rechte. Ich habe niemals einen Ausweg aus diesem Dilemma gesehen. Das Erste ist nicht Luthers Theologie, und das Zweite ist nicht Luther. Darum hab ich das Buch nie schreiben können" (GluN 1006f). Für seinen theologischen Umgang mit Luther hat Hirsch daraus die Konsequenz gezogen, methodisch streng zu unterscheiden zwischen reformatorischem Ansatz einerseits und theologischer Lehrgestalt

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andererseits - ein Verfahren, welches bekanntlich Albrecht Ritsehl entwickelt hat und das erstmals in Adolf von Harnacks Dogmengeschichte zur Anwendung gelangt ist. 2 0 Das Uberraschende ist, daß von eben dieser Lutherdarstellung Harnacks auch Troeltsch bekannt hat, daß sie für ihn in methodischer Hinsicht nahezu mustergültig sei. 21 Nimmt m a n sämtliche Aspekte des von Hirsch zum Verhältnis Reformation/Neuzeit Ausgeführten zusammen, so wird man seine ausgereifte Lutherdeutung kaum anders denn als einen mittleren Weg zwischen Holl und Troeltsch bzw. als deren Synthese bezeichnen können. Mit Holl teilt Hirsch die Uberzeugung von der exemplarischen Bedeutung von Luthers Gottesgedanken, dessen Bibelauslegung, Religionsverständnis, Kirchenbegriff, Sozialphilosophie, Ethik und manch anderem mehr. Mit Troeltsch ist Hirsch der Meinung, daß die geschichtsphilosophische Stellung der Reformation eine innere Ambivalenz aufweist, daß das Verhältnis der Gegenwart zu Luther gebrochen ist durch die Aufklärung, den Deutschen Idealismus und die Entstehung des historischen Bewußtseins. Die programmatische Vermittlung von Holls und Troeltschs Deutung der Reformation hat sich in Hirschs ausgereifter Theologie dahingehend ausgewirkt, daß er den pointiert neuprotestantischen Umgang mit Luther zur Grundlage seiner Dogmatik und seines Christentumsverständnisses ü b e r h a u p t machte. Damit nähern wir uns der eigentlichen Aufgabe dieses Kapitels, nämlich der systematischen Entfaltung der späten Christologie Hirschs in der reformatorischen Dialektik von Gesetz und Evangelium. Das wichtigste Resultat der sich ab Mitte der 30er Jahre abzeichnenden, neuen geschichtsphilosophischen Einordnung der Reformation für den vorliegenden Zusam menhang besteht darin, daß Hirsch Luthers Rechtfertigungs/e/ire - also die begriffliche Fassung des Rechtfertigungsglaubens, nicht diesen selbst - als den vorneuzeitlichen Elementen Luthers zugehörig eingestuft hat. "Die begriffs- und lehrmäßige Durchbildung, die das Zeugnis vom gerecht und freimachenden Glauben in der reformatorischen Theologie bekommen hat, kann uns nur als Anfangsgestalt der in Luther wieder durchgebrochnen Erkenntnis des Evangeliums gelten. Sie mußte geschehen mit den Denkmitteln, die die vorgefundne, am Augustinismus ihre größte Tiefe habende christliche Geistigkeit darbot, und unter ständigem polemischen Sichbeziehen auf Fragestellung und Begrifflichkeit der zu überwindenden alten Gestalt christlichen Glaubens und Dienstes. Sie mußte sich naturgemäß auch begrenzen auf den von dem Durchbruch unmittelbar betroffnen Be-

20 21

Vgl. oben Kap. I Anm. 34f. Vgl. dazu E. TROELTSCH: Luther und die moderne Welt, 161.

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reich. Sie ist also nicht abgestimmt auf das neue Zeitalter, das durch die Reformation selber allmählich heraufgeführt worden ist. Diesem Zeitalter ist die Befreiung von Priester, Sakrament, Beichtbuße, religiöser Satzung und frommem Werk selbstverständlich geworden .... Es ist nötig, das neue menschliche Selbstverständnis und das neue aus ihm erwachsende Wahrheits- und Wirklichkeitsbewußtsein in die theologische Reflexion einzuführen und auf diesem Boden dem Glauben an das vom Gesetz freimachende Evangelium einen neuen Ausdruck in Begriff und Wort zu finden" (Lf § 38.B.). Soll Luthers Theologie nach ihrem genuinen Ansatz vergegenwärtigt werden, dann kann dies für Hirsch nicht in der Weise geschehen, daß die historische Gestalt der Rechtfertigungslehre wiederholt, erneuert oder perfektioniert wird, sondern allein so, daß die in ihr enthaltene Grundeinsicht zur Geltung gebracht wird. Die ursprüngliche Funktion der Rechtfertigungslehre Luthers besteht für Hirsch aber darin, "Ausdruck des Verhältnisses von Gesetz und Evangelium" (ChR I, 128) zu sein. Hirschs geschichtsphilosophische Neubestimmung Luthers, die sich aus dem Wandel seines Neuzeitverständnisses zwangsläufig ergeben mußte, endet mit dem theologischen Ergebnis, daß die Antithetik von Gesetz und Evangelium den wahren Gehalt der reformatorischen Rechtfertigungslehre verkörpert. Die aus dem veränderten Ansatz der Neuzeittheorie resultierende Konzentration der reformatorischen Grundeinsicht auf die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium ist deshalb so bedeutsam, weil sie überlagert wird von einer Wandlung im Verständnis des theologischen Gesetzesbegriffs. In Hirschs Frühzeit beschränkte sich die Verwendung des GesetzesbegrifFs noch weitgehend auf die Funktion eines dogmengeschichtlichen Mitteilungsausdrucks (vgl. ThAO 85-94; LG 14; ZPE 56f). Welch geringe systematische Bedeutung Hirsch ihm zuerkannt hat, wird schlaglichtartig daran erkennbar, daß die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium etwa in "Jesus Christus der Herr" von 1926 nicht auftaucht; 22 das vom jungen Luther entwickelte Schema vom duplex officium Evangelii nimmt vielmehr deren Stelle ein. Hirsch selbst gibt denn auch 1934 rückblickend zu erkennen, daß er in seinen theologischen Anfängen "die lutherische Lehre vom Gesetz noch nicht bis auf den Grund verstanden hatte" (ChFpB 19). Hirschs Umdenken beginnt im Jahre 1927, als er sich veranlaßt sieht, zur Revision der Luther-Bibel Stellung zu nehmen. Hirsch begnügt sich nicht mit philologischen oder theologischen Einzelbeobachtungen und Detailkorrekturen, sondern versucht, die Problematik grundsätzlich anzugehen. Dabei stößt er auf das Problem von Luthers Geschichtsverständnis. Für Luther verbirgt sich - so Hirsch - hinter der Mannigfaltigkeit des 22

Ein Anklang daran findet sich in JChH 18.

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Werdens und Vergehens eine "tiefe Einheit, die das geschichtliche Leben durch seine Gottesbeziehung hat" ( L D B 42f). Luthers theistische Geschichtsanschauung schließt die Geschichte der unter dem Gesetz stehenden heidnischen Völker mit ein. Die Einheit der Geschichte ist keineswegs auf die Sphäre der biblischen Religion begrenzt, sondern umgreift die allgemeine Religionsgeschichte. Die Anwendung des GesetzesbegrifFs auf die allgemeine Religionsgeschichte bedeutet nicht nur eine Ausweitung des Geltungsbereichs des theologisch konzipierten GeschichtsbegrifFs, sondern darüber hinaus ermöglicht sie allererst ein christliches Verstehen derselben. Denn nun "gibt es für den, dem Gott im Evangelium sich offenbart und die Freiheit vom Gesetze geschenkt hat, auch nichts in der Religionsgeschichte, das er nicht innerlich aus eigner Erfahrung verstehen könnte" ( L D B 43). Damit wird die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium zur Deutekategorie der Universalgeschichte. Für Luther ist Geschichte "im tiefsten bestimmt durch den einen großen, durch alles durchgehenden Gegensatz, an dem sich alles geschichtliche Leben entzündet, des das Gesetz mißbrauchenden und das Evangelium verneinenden bösen menschlichen Willens" ( L D B 44). Geht man von diesem Geschichtsverständnis Luthers aus, dann läßt sich seine Bibelübersetzung nur verstehen unter Berücksichtigung der Unterscheidung von "Gesetz und Evangelium als der Einsatzstelle und der Voraussetzung alles Deutens und Dolmetschens" ( L D B 42). Für unseren Zusammenhang sind nicht die geschichtstheologischen Prämissen von Luthers Bibelübersetzung von Belang, sondern der Sachverhalt, daß die Stellungnahme zur Bibelrevision Hirsch zum genaueren Verständnis von Luthers Gesetzesbegriff geführt hat. Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium ist nicht nur eine rechtfertigungstheologische Kategorie, sondern sie ist darüber hinaus der hermeneutische Universalschlüssel des WirklichkeitsVerständnisses, vermöge dessen sich allein die Einheit der Geschichte zu erschließen vermag. Der reformatorische Gesetzesbegriff bezeichnet die allgemeine ethisch-religiöse Verfaßtheit von Wirklichkeit. Die endgültige Klärung des Hirschschen Gesetzesbegriffs 2 3 erfolgt Mitte des Jahres 1934 (vgl. WdTh 38). Anlaß dazu ist die grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Barmer Theologischen Erklärung. Das neue Gesetzesverständnis ist am präzisesten entfaltet in der Abhandlung "Die Offenbarung und das menschlich-geschichtliche Leben" (Offgl 26-45) sowie in der Thesenreihe "Gottes Offenbarung in Gesetz und Evangelium" ( C h F p B 76-82). Es bestimmt auch sämtliche kirchenpolitischen Stellungnahmen Hirschs in diesem Zeitraum. 2 4 Die erste breit angelegte systematische 23 24

Vgl. dazu auch W. TLLGNER: Volksnomostheologie und Schöpfungsglaube, 136ff; zu Tilgner kritisch G. SCHNEIDER-FLUME, a.a.O. 63. 66f Anm. 7. Hirschs theologische Kritik an Barmen gründet in der Sorge um die "Verkehrung

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Entfaltung der Dialektik von Gesetz und Evangelium bietet dann der 1936 erschienene theologische Kommentar "Das vierte Evangelium". Einen besonderen Anwendungsfall dieses allgemeinen Sachverhaltes repräsentiert die Studie über "Das Alte Testament und die Predigt des Evangeliums", ebenfalls von 1936. Auf der Grundlage dieses Klärungsprozesses setzt 1938 der "Leitfaden" ein. Nimmt man Hirschs veränderte Sicht des Verhältnisses von Reformation und Neuzeit sowie die Neuorientierung im Wirklichkeitsverständnis zusammen, dann wird einsehbar, warum die Christologie des "Leitfadens" die Explikation des Verhältnisses von Gesetz und Evangelium in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen stellen mußte.

des Evangeliums zu einem neuen Gesetz" (Offgl 45).

Β. D i e Christologie im R a h m e n der Dialektik von Gesetz und Evangelium 1. Das christologische Lehrstück a) Der systematische Ort Nachdem wir uns das Programm des Hirschschen Leitfadens und die Genese des ihm zugrundeliegenden Neuzeitverständnisses vergegenwärtigt haben, stellt sich nun die Aufgabe, den Ort der Christologie innerhalb dieses dogmatischen Lehrgebäudes genauer zu bestimmen. Die verblüffende Beobachtung, die m a n macht, ist die: Es gibt offenbar gar kein spezielles Lehrstück, das mit "Christologie" oder mit einem anderen sinnäquivalenten Ausdruck der theologischen Lehrtradition überschrieben wäre. Wohl findet sich dagegen eine Fülle von christologisch relevanten Aussagen, und zwar in den unterschiedlichsten Zusammenhängen. So werden bereits in den überwiegend dem Begriff und der Funktion der systematischen Theologie gewidmeten einleitenden Überlegungen der Prolegomena "Grundform und Grundgesetz der Erkenntnis der christlichen Wahrheit" (Lf §9) in der Weise exponiert, daß sämtliche Aussagen über das menschliche Gottesverhältnis im allgemeinen und das christliche im besonderen sowohl methodisch als auch inhaltlich in der Beziehung auf Jesus von Nazareth ihre sie bestimmende Mitte haben. Ebenfalls noch in den Prolegomena legt Hirsch sodann unter der Uberschrift "Jesus im Zeugnis der ersten Gemeinde" (§§ 18-21) eine religionsgeschichtliche Skizze des historischen Jesus vor. Erörtert werden außerdem methodische Grundfragen einer Hermeneutik des religiösen wie historischen Verhältnisses des Glaubens zu seiner Person (§§ 10.15-17). In dem mit "Das Wort" betitelten ersten Lehrstück von D o g m a t i k l l finden sich dann jeweils im zweiten Abschnitt des zweiten Paragraphen eines jeden Kapitels christologische Spezialabhandlungen: über den "Sohn Gottes" (§ 74.B.) im Rahmen der Lehre von der Offenbarung, über den "Menschensohn" (§ 77.B.) im Rahmen der Lehre von der Versöhnung, über den "Herrn" (§ 80.B.) im Rahmen der Lehre von der Neuschöpfung. Die daran anschließenden Paragraphen handeln von der "Erkenntnis Jes" (§75), der "Gemeinschaft mit Jesus" (§78) und vom "Geist Jesu" (§81). In den Lehrstücken "Der Glaube" und "Die christliche Gemeinschaft" fol-

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gen schließlich noch Ausführungen zu den Stichworten "Sterben und Auferstehen mit Jesus" (§89) bzw. "Gemeinschaft in Christus" (§91). Darüber hinaus gibt es - auf den gesamten Themenbestand der Dogmatik verteilt - noch eine Fülle systematisch mehr oder weniger relevanter, expliziter christologischer Aussagen oder auch bloßer Voraussetzungen bzw. Implikationen der Christologie. Aber dies alles ändert nichts an dem Sachverhalt, daß rein schulmäßig geurteilt ein spezieller Locus "De Christo" offenkundig fehlt. Hirsch selbst bestätigt diesen ersten Eindruck: "Die Christologie hört bei mir auf, ein eignes Lehrstück zu sein" (ChRII, 24). Damit stehen wir aber vor einer merkwürdigen Diskrepanz: Auf der einen Seite kommt es in Hirschs systematisch-theologischem Hauptwerk, dem "Leitfaden zur christlichen Lehre", dem es erklärtermaßen um die umfassende gedankliche Verantwortung eines pointiert reformatorischen Christentumsverständnisses geht, zu keiner formellen Ausbildung eines eigenen christologischen Lehrstücks. Auf der anderen Seite weist nicht nur die Tatsache, daß Hirschs erste selbständig erschienene theologischdogmatische Abhandlung der Christologie gilt und daß ein großer Teil der späteren Veröffentlichungen ebenfalls in besonderer Weise der Deutung der Person Jesu gewidmet ist, darauf hin, daß die Christologie die inhaltliche Mitte der Theologie Hirschs bildet 25 , sondern auch die Prolegomena des "Leitfadens" selbst bekennen sich - wie bereits erwähnt - programmatisch zu einer christologischen Konzentration der gesamten Dogmatik: "Die mit dem Glauben empfangene Erkenntnis der christlichen Wahrheit ist die im Verhältnis des Glaubens zum Menschen Jesus aufgeschlossene Gottes- und Selbsterkenntnis" (Lf §9.Α.). Wie aber kann die Christologie Mitte eines theologischen Denkens sein, ohne in dessen lehrmäßiger Entfaltung als in sich geschlossenes, besonderes Lehrstück zu erscheinen? Hirsch begründet sein eigenwilliges dogmatisches Verfahren zunächst mit dem Hinweis auf eine formelle Besonderheit, die der Christologie bereits bei Luther und Schleiermacher zukommt. Für Luthers Christusglauben, sowohl was dessen Zusammenhang mit der Rechtfertigungslehre angeht als auch was die daraus resultierende Aneignung des altkirchlichen Dogmas betrifft, ist charakteristisch, daß alle christologischen Aussagen auf einem ganz bestimmten Verständnis der soteriologischen Bedeutung Jesu Christi aufbauen, das Luther unter dem Stichwort "Amt Christi" zum Ausdruck bringt. Diesen Grundgedanken der Christologie Luthers umreißt Hirsch folgendermaßen: "Es gehört zu den durch Luther begründeten Eigenheiten der reformatorischen Theologie, daß nicht das Werk Christi, sondern das Amt Christi der Leitbegriff ist, unter dem sie von Erlöser 25

Zur theologischen Zentralkritik von Herms an seinem Lehrer Hirsch (vgl. E. HERMS: Emanuel Hirsch - zu Unrecht vergessen?, 44) ist das Richtige bemerkt bei D. LANGE: Der Begriff des Heiligen, 201 Anm. 52.

Das Lehrstück

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u n d Erlösung zusammenfassend redet. Diesem Leitbegriff ist auch die bei L u t h e r seltnere Rede vom Werk Christi eingeordnet .... D a n e b e n gibt es noch, insbesondere beim f r ü h e n Luther, einen Sprachgebrauch, n a c h welchem Christi Tod u n d Auferstehung, oder auch kurz Christus, Werk Gottes, verstehe Werk Gottes an uns, heißen" (HStD 50). Dieser rechtfertigungstheologische Ansatz der Christologie Luthers h a t n a c h Hirsch zur Folge, daß letztere einen ganz neuen logischen S t a t u s b e k o m m t : "Alle Aussagen ü b e r Jesus sind Beschreibungen seines A m t s an uns" ( C h R I I , 24). Sowohl die soteriologische Akzentuierung als auch die m e t h o d i s c h e Folgerung daraus ermöglichen es Hirsch, die Christologie Luthers u n d Schleiermachers zumindest formell weitgehend einander a n z u n ä h e r n . 2 6 Schleiermachers Christologie h a t ihre Besonderheit gegenüber der altprot e s t a n t i s c h e n Orthodoxie bekanntlich nicht zuletzt in der p r o g r a m m a t i schen Verschränkung der beiden Loci "De persona Christi" u n d "De officio Christi", welche die "Glaubenslehre" auf die F o r m einer christologischen Grundregel bringt: "Die eigentümliche Tätigkeit u n d die ausschließliche W ü r d e des Erlösers weisen aufeinander zurück, u n d sind im Selbstbewußtsein der Gläubigen unzertrennlich eines" ( C G 2 §92). W e n n Schleie r m a c h e r die D u r c h f ü h r u n g der Verschränkung dieser beiden christologischen F u n d a m e n t a l b e s t i m m u n g e n d a n n gleichwohl in die äußere F o r m der Zweiteilung kleidet, so hat dies weniger inhaltliche als vielmehr darstellungstechnische G r ü n d e u n d bedeutet keineswegs eine Z u r ü c k n a h m e jener christologischen Grundeinsicht. In einer methodischen Reflexion auf j e n e V e r s c h r ä n k u n g s m a x i m e heißt es: "Halten wir n u n diese Regel fest: so k ö n n t e n wir die ganze Lehre von Christo behandeln, entweder n u r als die von seiner W i r k s a m k e i t , denn die W ü r d e m ü ß t e d a r a u s von selbst folgen, oder auch nur als die von seiner W ü r d e , denn die Wirksamkeit m ü ß t e sich d a n n von selbst ergeben.... Dennoch ist es nicht r a t s a m , zwischen einer von beiden Behandlungsweisen zu wählen, wenn wir nicht zugleich die kirchliche Sprache verlassen, und die Vergleichung unserer Aussagen mit a n d e r n Behandlungen der Glaubenslehre erschweren wollen.... Das H a u p t s t ü c k zerfällt uns d e m n a c h in zwei Lehrstücke, das von der Person Christi u n d das von seinem Geschäft" ( C G 2 §92.3). Hirsch n i m m t den Gesichtspunkt der Verschränkung der beiden Aussagenreihen ü b e r die Tätigkeit u n d die W ü r d e der Person Jesu auf u n d stellt sich d a m i t ausdrücklich in die Tradition Schleiermachers: "Er h a t m i c h f o r m a l die christologische Grundregel gelehrt, daß die Aussagen ü b e r das, was Jesus ist, u n d das, was er mir gibt, in strenger Korrespondenz stehen müssen" ( C h R II, 24). Aber f ü r Hirsch k o m m t es n u n gerade darauf 26

Hirschs bleibender inhaltlicher Abstand zur Christologie Schleiermachers gründet in dessen konsequenter Ausschaltung der Theologia crucis aus dem Bild Jesu.

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an, Schleiermachers darstellungstechnisch bedingten Rückfall hinter jene methodische Grundeinsicht zu vermeiden: Form und Inhalt der Christologie müssen sich als einander kommensurabel erweisen. Hirsch charakterisiert die im "Leitfaden" eingeschlagene methodische Weiterentwicklung sowohl gegenüber Luther als auch gegenüber Schleiermacher folgendermaßen: "Ich gehe ... über beide hinaus, indem ich Aussagen über Jesus an sich ü b e r h a u p t nicht tue" (ebd.). Dieser methodische Grundsatz findet nun insbesondere bei denjenigen dogmatischen Grundbegriffen seine Anwendung, in deren Umkreis das christologische Denken sich hauptsächlich vollzieht, nämlich bei den Begriffen Offenbarung, Versöhnung und Neuschöpfung. Zunächst betont Hirsch hinsichtlich des Offenbarungsbegriffs: "Auch Jesus ist oder gibt keine Offenbarung Gottes an sich" (Lf § 73.M.5.). Denselben Gesichtspunkt bringt er dann in der Versöhnungslehre konsequent zur Geltung: "Es gibt ebensowenig eine in der Geschichte einst geschehne Versöhnung an sich, wie es eine solche Offenbarung an sich gibt" (Lf §76.M.3.). Und auch im Rahmen der Bestimmung des Begriffs der Neuschöpfung bekennt er sich noch einmal zu dieser "Verneinung des ' A n s i c h ' " (ChR II, 53). Was Hirsch mit der Verneinung jeglicher An-sich-Bestimmtheit des "Gegenstandes" christologischer Prädikation vor Augen hat, wird an der Art u n d Weise greifbar, in der er - bezogen auf den Offenbarungsbegriff - die Funktion des Evangeliums für die christliche Frömmigkeit im Unterschied zu dessen Wahrnehmung aus der Position religiöser Distanz erläutert. F ü r letztere ist das Evangelium "nichts als ein geschichtlicher Versuch, das Geheimnis des Göttlichen nach dem, was es dem menschlichen Dasein bedeutet, auszulegen" (Lf § I.M.I.). F ü r den Glauben hingegen ist das in der Begegnung mit dem Menschen Jesus sich erschließende Evangelium letzte Offenbarung des Wesens und Willens Gottes. Hinsichtlich der prädikativen Verwendung des Offenbarungsbegriffs in der Christologie folgt daraus: "Jesus ist weder an sich noch a priori Offenbarung Gottes. Indem er mir gegenwärtig wird und mir mit überwindender Hoheit Gotteserkenntnis gibt, d.h. in Relation zu mir und sehr a posteriori ist er Offenbarung Gottes. An sich und a priori ist er nichts als merkwürdiges menschlich-geschichtliches Phänomen" ( C h R II, 12). Es ist somit das Bedürfnis des sich klar verstehenden Christusglaubens selber, auf der Ebene der gedanklichen Rechenschaft An-sich-Bestimmungen zu vermeiden. "Nur indem uns der lebendige Gott die Begegnung mit ihm zu seinem eignen gegenwärtig göttlichen, unsre menschliche Subjektivität bestimmenden Worte macht, wird es wahr, daß Gott in Jesus, seinem Wort und seiner Geschichte, offenbar ist" (Lf §73.M.5.). Die zuletzt gegebene Begründung für die Verneinung von An-sich-Bestimmungen hinsichtlich der Person Jesu macht aber zugleich deutlich,

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warum Hirsch diese formal negative Seite seiner Neugestaltung der Christologie so stark betonen muß bzw. warum er jene trotz der daraus resultierenden, weitreichenden Folgen für die methodische Durchführung der Christologie nachgerade als unumgänglich erachtet. Theologischer Grund dafür ist das von Karl Holl herausgearbeitete und von Hirsch selbst erkenntniskritisch u n d subjektivitätstheoretisch präzisierte reformatorische "Prinzip der Gewissensreligion" (ChR II, 51). Diesem Verständnis der reformatorischen Rechtfertigungslehre zufolge impliziert die Gewissensbestimmtheit oder Subjektivität von Glaubensaussagen notwendig die "innere Vermittlung im Zusammenhang des einer Rechenschaft in sich geöffneten menschlichen Herzens und Geistes" (ebd.). F ü r den OffenbarungsbegrifF, den wichtigsten der drei christologischen Grundbegriffe, folgt daraus: Offenbarung "faßt das geistige sich Vermitteln in sich" ( C h R II, 53). Für das Verhältnis zwischen dem Urheber und dem Adressaten der Offenbarung besagt dies: Der Offenbarungsglaube erfährt das Offenbarwerden Gottes immer nur in Form einer "geistigen Vermittlung Gottes an uns" (ChR II, 55). Damit ist zugleich in methodischer Hinsicht die Richtung gewiesen: Sämtliche im Horizont des Offenbarungsbegriffs vorgenommenen christologischen Bestimmungen entspringen der subjektiven Rechenschaft des Glaubens. Jeder Vollzug christologischer Prädikation ist "vermittelt im Vernehmen des Herzens und Gewissens" (ChR II, 54). Die Außerkraftsetzung bzw. Vermeidung von An-sich-Bestimmungen hinsichtlich der religiösen Bedeutung der Person Jesu verdankt sich sonach dem pointierten Verständnis und der ebenso konsequenten Anwendung des reformatorischen Prinzips der Gewissensreligion. Daß Schleiermachers Rücksichtnahme auf die kirchliche Lehrtradition, d.h. die A u f n a h m e der vorgegebenen religiösen Sprache, die Anknüpfung an die überlieferten Bekenntnisschriften und der Konsens mit anderen Dogmatiken, für Hirsch noch keinen hinreichenden Grund abgeben konnte, eine Inkongruenz zwischen jener christologischen Grundregel und der äußeren Durchführung des christologischen Lehrstücks in Kauf zu nehmen, mag einleuchten. Aber damit allein ist noch keineswegs erklärt, w a r u m Hirsch unter Berufung auf Luthers Gewissensreligion das methodische Problem der Christologie in einem solchen Maße "idealistisch" zuspitzt, daß er mit der Verneinung jedweder An-sich-Bestimmtheit schließlich zur vollständigen Auflösung des christologischen Lehrstücks gelangt. Lassen sich dafür vielleicht noch andere Gründe benennen? In einer Anmerkung des Offenbarungskapitels gibt Hirsch einen Wink, der Aufschluß geben kann über die Motive seiner radikalen Umgestaltung des herkömmlichen, im wesentlichen an der altprotestantischen Dogmatik orientierten formalen Aufbaus der Christologie: "Das Lehrstück von Chri-

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sti Person und Werk löst sich in dieser Rechenschaft von der christlichen Wahrheit auf. Dafür werden die vernachlässigten christologischen Beziehungen, die jedes echte Lehrstück der Dogmatik II hat, u m so schärfer hervortreten" (Lf § 74.M.5.). Wenn Hirsch also der Selbständigkeit und äußeren Einheit des christologischen Lehrstücks das Ende bereitet, so t u t er dies nur zu dem Zweck, es in die Form eines Geflechtes relationaler Lehrmomente zu überführen. Damit wird aber zugleich die Beantwortung einer doppelten Frage dringlich, nämlich zum einen, warum eine solche formelle Umgestaltung des christologischen Lehrstücks dessen Gehalt in entscheidendem Maße adäquater sein soll als jene herkömmliche Lehrform, und zum anderen, worin dieses christologische Beziehungsgefüge sowohl seinen Einheit stiftenden letzten Beziehungsgrund als auch seinen Differenziertheit ermöglichenden letzten Unterscheidungsgrund finden soll. Es wird sich zeigen, daß beide Fragen in und vermöge der eigentümlichen Bestimmtheit der dem christologischen Beziehungsgefüge zugrundeliegenden, konstitutiven Relation ihre Antwort finden. Wenden wir uns dem erstgenannten Problem zu. Betrachtet m a n zunächst die der zusammenfassenden Kennzeichnung des ersten und des zweiten Lehrstücks von Dogmatik II dienende Unterscheidung, "Das Wort" (Lf §§73-81) und "Der Glaube" (Lf §§82-90), so legt sich bereits rein äußerlich die Vermutung nahe, daß es wiederum eine - wenn nicht gar die - Grundeinsicht der Theologie Luthers war, die Hirsch zu seiner radikalen Absage an die traditionelle Anlage des christologischen Lehrstücks motiviert hat. In der Tat bildet die reformatorische Korrelation von Wort und Glaube für Hirsch das verbindliche architektonische Prinzip zur Neugestaltung der Christologie. Nach Maßgabe jener Relation werden die christologisch zentralen Begriffe von Offenbarung, Versöhnung und Neuschöpfung einschließlich ihrer Hauptmomente - formal definiert und inhaltlich expliziert. Diese am Leitfaden der Relation von Wort und Glaube konzipierten christologischen Zentralbegriffe bilden dann ihrerseits den Reflexionshorizont, in dem sich das christologische Denken bewegt. Sie fungieren also nicht als christologische Prädikate im unmittelbaren Sinne, sondern als Leitbegriffe christologischer Rechenschaft. Mit dieser Verankerung der christologischen Zentralbegriffe in der für die reformatorische Theologie konstitutiven Relation von Wort und Glaube hat die negative Seite der Auflösung des Artikels 'De Christo' ihr positives Gegenüber erhalten, nämlich ihre inhaltliche Begründung wie ihre methodische Zielrichtung. Hirsch sagt: "Ich mache nur solche Aussagen über Jesus, welche in der Beziehung W o r t / G l a u b e sich ergeben" ( C h R II, 24). Daß die zu den bereits geltend gemachten Gesichtspunkten noch hinzukommende konsequente Orientierung an der reformatorischen Grundbezie-

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hung den Abstand zur überlieferten und weithin respektierten Lehreinteilung nur noch mehr vergrößert, ist Hirsch wohl bewußt, spricht aber seiner Meinung nach weniger gegen das eigene P r o g r a m m als vielmehr gegen jene Tradition. "Die heute in der evangelischen Dogmatik üblichen Gliederungen sind kein Ehrentitel evangelischer Theologie. Vierhundert Jahre nach der Reformation haben die evangelischen Dogmatiker noch nicht entdeckt, daß die reformatorische Lehre von Wort und Glaube lehrmäßig erst da zu ihrem Rechte kommt, wo sie das bestimmende Prinzip zu einer radikal neuen Lehrform wird. Sie haben sich damit begnügt, den in der altevangelischen Zeit geschichtlich gebotnen Weg einer vorsichtigen Reform des überlieferten Lehraufbaus immer von neuem zu versuchen und höchstens künstlerisch oder technisch an dem so entstandnen Lehraufbau zu modellieren" (Lf Vorbemerkung zu §§ 73-99). Wegen ihrer konsequenten Transformation der traditionellen Fassung des christologischen Lehrstücks in die neuprotestantisch reformulierte Gestalt der reformatorischen Korrelation von Wort und Glaube gilt für die ausgereifte Christologie Hirschs, was man nur von wenigen großen dogmatischen Entwürfen sagen kann, nämlich, daß das ihr zugrundeliegende Materialprinzip auch "das bestimmende Prinzip zu einer radikal neuen Lehrform wird" (ebd.). Man kann bei Hirsch infolgedessen von einem "christologischen Lehrstück" nur noch im übertragenen Sinne sprechen. In dieser Weise ist der Ausdruck im folgenden gebraucht.

b) Der formale Aufbau Das christologisch zentrale Lehrstück "Das Wort" (§§ 73-81), das untergliedert ist in die drei Kapitel "Das Wort als Offenbarung" (§§ 73-75), "Das Wort als Versöhnung" (§§ 76-78) und "Das Wort als Neuschöpfung" (§§ 79-81), zeugt mit der streng parallelen Anordnung sämtlicher Paragraphen innerhalb dieser Kapitel nicht nur von hoher architektonischer Klarheit bezüglich der Systematik des gesamten Lehrstücks, sondern weist nicht selten bis in die Gedankenführung und begriffliche Formulierung der einzelnen Paragraphen hinein weitgehende Entsprechungen auf. Die auf Anhieb vielleicht am stärksten in die Augen fallende äußere Übereinstimmung der §§ 73, 76 und 79, also jeweils der Einleitungsparagraphen der drei Kapitel, kann nach dem ihnen gemeinsam zugrundeliegenden Aufbauprinzip zugleich als methodische Orientierung für das Gesamtverständnis der Christologie des "Leitfadens" dienen. § 73 handelt von der "Offenbarung als Licht im Gewissen", §76 von "Versöhnung als Friede im Gewissen" und § 79 von "Neuschöpfung als Berufung im Gewissen". Die A-Abschnitte dieser Paragraphen entfalten zunächst die in

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Frage stehenden Grundbegriffe und thematisieren im Anschluß daran deren Realisationsbedingungen. Die B-Abschnitte beziehen nun die Realisierung dieser Grundbegriffe auf die "Begegnung mit dem Menschen Jesus" (§§ 73.B.; 76.B.) bzw. auf die "Gemeinschaft mit Jesu Leben" (§ 79.B.) und erörtern in diesem Zusammenhang je auf ihre Weise die genetische Struktur des sich in der Beziehung jener Grundbegriffe auf die Person Jesu von Nazareth auslegenden christlichen Bewußtseins. Die in jedem dieser christologischen Grundbegriffe hinsichtlich der Genesis ihrer Realisierung enthaltenen polaren Spannungen werden sodann jeweils im ersten Abschnitt des zweiten Paragraphen eines jeden Kapitels aufgegriffen und konkretisiert: So erläutert § 74.A. den Offenbarungsbegriff durch die Unterscheidung von "Gesetz und Evangelium", § 77.A. den Versöhnungsbegriff durch die Unterscheidung von "Gericht und Gnade" und § 80.A. den Begriff der Neuschöpfung durch die Unterscheidung von "Tod und Leben". Die B-Abschnitte stellen daraufhin den Zusammenhang her zwischen den bereits entfalteten Grundbegriffen "Offenbarung", "Versöhnung" , "Neuschöpfung" und den von hier aus konzipierten christologischen Hoheitstiteln "Sohn Gottes" (§ 74.B.), "Menschensohn" (§ 77.B.), "Herr" (§80.B.). Der Gehalt dieser christologischen Hoheitstitel bestimmt dann maßgeblich den materialen Begriff des christlichen Glaubens (§§ 88-90). Die in jenen christologischen Grundbegriffen - einschließlich der Hoheitstitel - enthaltenen soteriologischen Momente stehen schließlich jeweils im dritten Paragraphen eines jeden Kapitels im Vordergrund. Folgende Themen werden verhandelt: § 75 "Die Erkenntnis Jesu als Sein in der Wahrheit Gottes", § 78 "Die Gemeinschaft mit Jesus als Sein in der Freiheit Gottes" und §81 "Der Geist Jesu als Sein in dem Geheimnis Gottes". Auf die primär soteriologisch orientierten Ausführungen des ersten Lehrstücks von Dogmatik II über das Wort beziehen sich schließlich auch die drei Grundbestimmungen über den Glauben im ersten Kapitel des zweiten Lehrstücks, und zwar in genauer Entsprechung zur Reihenfolge der christologischen Grundbegriffe: der Glaube als Implikat der Offenbarung ist "echte Gotteserkenntnis" (§82), als Implikat der Versöhnung "Gotteskindschaft" (§83), als Implikat der Neuschöpfung "Herzensreinheit" (§84). Überblickt man die Gedankenführung des christologischen Lehrstücks im ganzen, dann fällt auf, daß Hirsch keineswegs bei der Definition und Explikation der christologischen Grundbegriffe stehen bleibt, sondern in eins damit deren Applikation auf die Person Jesu von Nazareth vornimmt. Dieser Ubergang von der christologischen Reflexion zur christologischen Prädikation vollzieht sich - des näheren betrachtet - in zwei Stufen, wobei der zweite Schritt der Sache nach auf dem ersten aufbaut. Im engeren Sinn christologische Aussagen ergeben sich zunächst bereits in den ersten

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Paragraphen der drei Kapitel bei der Einführung des betreffenden christologischen Grundbegriffs, sofern - in kategorial angemessener Weise jeweils die Konstruktion des Begriffs von der Frage der Wirklichkeit des Begriffs unterschieden und von der ersteren zur letzteren fortgeschritten wird, so in § 73.Α.: "Christlich verstanden ist Offenbarung .... Geschehen kann Offenbarung ...", in §76.Α.: "Christlich verstanden ist Versöhnung ... . Geschehen kann Versöhnung ..." und in §79.Α.: "Christlich verstanden ist Neuschöpfung .... Geschehen kann Neuschöpfung ...". Die Wirklichkeit der in den christologischen Grundbegriffen Offenbarung, Versöhnung und Neuschöpfung vorgestellten Sachverhalte ist nach Hirsch, selbst wenn jene ihrer Vollendungsgestalt nach und nicht nur in ihrer religionsgeschichtlichen Durchschnittlichkeit bestimmt sind, niemals schon durch diese Begriffe selbst, sondern allein in der Begegnung mit dem Menschen Jesus von Nazareth, auf die sie Anwendung finden, erschlossen. Davon zu unterscheiden ist nun aber die zweite Stufe christologischer Aussagen im engeren Sinn. An die Näherbestimmung der christologischen Grundbegriffe vermittelst der drei Grundunterscheidungen Gesetz und Evangelium, Gericht und Gnade, Tod und Leben schließt Hirsch unmittelbar die dogmatische Behandlung der Hoheitstitel Jesu an. So thematisiert § 74.B. das Prädikat "Sohn Gottes", § 77.B. das Prädikat "Menschensohn" und §80.B. das Prädikat "Herr". Sofern sich auch diese Gestalt christologischer Aussagen ganz im Rahmen der Reflexionsstruktur der drei Grundbegriffe bewegt, ist allerdings von vornherein sichergestellt, daß selbst die prädikative Verwendung der Hoheitstitel Jesu in keine Sphäre christologischer An-sich-Bestimmtheiten führt.

2. D i e materiale D u r c h f ü h r u n g der Christologie a) Die christologischen Leitbegriffe Der innere Zusammenhang der christologischen Reflexion wird gebildet durch das Verhältnis der Begriffe Offenbarung, Versöhnung und Neuschöpfung. Wir wenden uns nun Hirschs Deutung dieser Leitbegriffe im einzelnen zu. Dabei wird es darauf ankommen, sowohl der hochgradigen Symmetrie der jeweiligen Explikationsschritte als auch den jeweils spezifischen Funktionszuweisungen gerecht zu werden. Gerade das Ineinandergreifen dieser beiden formalen Aspekte ist ein Indikator für die besondere Art der Einheit der christologischen Reflexion: das Ineinander von generischer Einheit unter dem Begriff der Worthaftigkeit und diskursiv-sukzessiver

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Einheit in Gestalt des Durchgangs durch die jeweils besonderen Bestimmungen. Beginnen wir mit der die generische Einheit besonders deutlich hervorhebenden Formulierung, die in allen drei Paragraphen parallel wiederkehrt: 1. "Christlich verstanden ist Offenbarung ein mich in meinem persönlichen mich Vernehmen vor Gott bestimmendes und mir darin Gott erschließendes gegenwärtiges Handeln Gottes an mir" (Lf § 73.Α.; Hhg.v.Vf.). 2. "Christlich verstanden ist Versöhnung ein mich in meinem persönlichen mich Vernehmen vor Gott bestimmendes und mir darin Gott erschließendes gegenwärtiges Handeln Gottes an mir" (Lf §76.Α.; Hhg.v.Vf.). 3. "Christlich verstanden ist Neuschöpfung ein mich in meinem persönlichen mich Vernehmen vor Gott neu bestimmendes Gegenwärtigwerden Gottes in meinem Sinn, Herz und Gewissen" (Lf § 79.Α.; Hhg.v.Vf.). Offenbarung, Versöhnung und Neuschöpfung sind alle drei Ausdruck der aktualen Innerlichkeit Gottes am Ort des Gewissens. Die Funktion "Erschließen", "Sichgegenwärtigmachen" ist also keineswegs eine Eigentümlichkeit von Offenbarung, sondern eignet bereits dem generisch Allgemeinen der drei Begriffe Offenbarung, Versöhnung, Neuschöpfung, nämlich deren gemeinsamem Merkmal der Worthaftigkeit. Strenggenommen ist jedoch das Sichgegenwärtigmachen und Erschließen des Wortes nicht eine absolute Eigenschaft des Wortes an sich, sondern eine relative Eigenschaft bezüglich des Gewissens, als dessen Bestimmungsgrund es sich zur Geltung bringt. Diese ursprüngliche Korrelation von Wort und Gewissen ist ein wesentliches Moment der christologischen Durchführung des Prinzips Gewissensreligion, welche zugleich über dessen Fundamentalität und Reichweite entscheidet. Ein gemeinsames Merkmal jener Begriffe bezeichnen aber auch schon die Anfangssätze jener drei Paragraphen. Sie setzen jedesmal ein mit einer religionsgeschichtlichen Abgrenzung sogenannter unterchristlicher Fassungen der Grundbegriffe von deren eigentümlich christlicher Gestalt, der als Maßstab die Worthaftigkeit göttlichen Handelns zugrunde liegt. 1. "Der zuletzt auf Orakel und Mantik zurückgehende Begriff einer durch A m t , Priestertum oder heiliges Buch vermittelten Offenbarung widerspricht dem recht verstandnen Glauben, daß Gott als Wort an uns handelt, und ist somit unterchristlich" (Lf § 73.Α.). 2. "Der in zahlreichen Sühne- und Opferhandlungen heidnischer und alttestamentlich-jüdischer Religion lebendige Begriff einer Versöhnung, die den a m Heiligen sich schuldig wissenden oder es wegen seiner Unheimlichkeit scheuenden Menschen vor der Rache oder dem Zorn der Gottheit bedeckt oder schützt, indem sie dieser eine Genugtuung oder Gabe bietet und

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sie so dem Menschen gnädig macht, widerspricht dem recht verstandnen Glauben, daß Gott als Wort zu uns kommt, als Wort von uns empfangen sein will, und ist somit unterchristlich" (Lf §76.Α.). 3. "Am Begriff der Neuschöpfung des Menschen in der Gnade Jesu Christi, so wie er in der überlieferten christlichen Theologie verstanden wird, haftet noch die Vorstellung außerchristlicher Religion von einer wunderhaften Verwandlung oder Steigerung menschlichen Lebens, die durch Einwirkung eines Willens oder einer Kraft von heilig geheimnisvoller Ubermächtigkeit zuwege gebracht wird. Sowohl die römische Anschauung von der Gnadenmitteilung wie die evangelische von der durch Gott souverän gewirkten Wiedergeburt sind damit verunreinigt. Alles dieser Art widerspricht dem recht verstandnen Glauben, daß Gott als Wort an uns handelt, und ist somit unterchristlich" (Lf § 79.Α.). Die Worthaftigkeit des Konstituiertseins des christlichen Glaubens fungiert hier nachgerade als religionskritische Norm. Das Kriterium der Worthaftigkeit wird so strikt angewandt, daß nicht nur heidnische oder alttestamentlich-jüdische, sondern auch römisch-katholische und altprotestantische Vorstellungsformen davon negativ betroffen sind. Versucht man, das Gemeinsame der durch jenen Maßstab ausgeschlossenen Merkmale zu benennen, dann sind im wesentlichen Elemente äußerlicher oder dinglicher Vermittlung gemeint. Das Kriterium der Worthaftigkeit des Handelns Gottes fungiert für Hirsch somit als ein Entpositivierungsprinzip, das jedoch nicht von außen an den christlichen Glauben herangetragen wird, sondern diesem selber e n t s t a m m t . Durch den Charakter des worthaften Konstituiertseins ist dem christlichen Glauben eine interne religionskritische Komponente eigen. Konkret betroffen sind durch diese religionskritisch entpositivierende Norm Elemente wie Amt, Priestertum, heiliges Buch, Sühne und Opfer, Versöhnungs- und Genugtuungsriten und supranaturale Gnadenmitteilungs- und Wiedergeburtsvorstellungen. Alle diese selbst dem älteren Protestantismus noch geläufigen religiösen Vorstellungsformen haben für Hirsch die Tendenz, das genuin christliche Profil jener Grundbegriffe zu entstellen, wenn nicht gar zu verfälschen. 2 7 D a r u m interpretiert Hirsch die Struktur der Offenbarung, Versöhnung und Neuschöpfung konsequent von der Gewissensbestimmtheit des Glaubens her, wie sie sich ihrerseits aus dessen worthaftem Konstituiertsein ergibt. Die innerchristliche, religionskritisch entpositivierende Komponente eignet dem christlichen Glauben qua Gewissensrehgion und kommt in dem Maße religiös und dogmatisch zum Tragen, als er sich als Gewissensreligion darstellt und artikuliert. Das durch das Wort Gottes bestimmte Gewissen 27

Hirsch stimmt hierin mit Schleiermachers Kritik an den "magischen" Komponenten der christlichen Lehrtradition überein.

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selber ist der eigentliche Akteur der Abstoßung "unterchristlicher" Elemente, wie sie in die christliche Lehrtradition und Frömmigkeitsgeschichte eingegangen sind. Wenn nun aber die Funktion des Sichgegenwärtigmachens und Erschließens bereits dem Wort qua Wort in Korrelation zum Gewissen eignet, worin besteht dann die jeweils eigentümliche Qualität dieses Sichgegenwärtigmachens und Erschließens in den drei Gestalten des Wortes? Hirsch entfaltet zunächst den Offenbarungsbegriff. Worthafte Offenbarung ist ein Handeln Gottes - und "zwar ein solches, das Dunkel in mir mit Licht durchdringt, d.i. dadurch Unwahrheit, die mich in Sinn, Herz und Gewissen gefangen hält, in Wahrheit hinein überwunden wird" (Lf § 73.Α.). Der erste Teil dieser Erklärung ist nurmehr eine metaphorische Beschreibung: das Wort durchdringt Dunkel mit Licht. Rein traditionsgeschichtlich nimmt Hirsch damit die klassische Lichtmetaphorik auf, wie sie vor allem durch den christlichen Piatonismus zur Geltung gelangt ist. Wichtiger als jene metaphorische Beschreibung ist jedoch deren funktionale Interpretation, wonach der Offenbarungsbegriff wesensmäßig auf den Gegensatz von Wahrheit und Unwahrheit bezogen ist. Es ist für Hirschs Christologie kennzeichnend, daß sie den Offenbarungsbegriff vom Wahrheitsbegriff her denkt - und nicht etwa umgekehrt. Systematisch betrachtet wird damit zugleich der Anschluß der Christologie an die wahrheitstheoretische Entfaltung der Gotteslehre im ersten Hauptteil der Dogmatik hergestellt. Eine Passage aus dem kurz vor Erscheinen des "Leitfadens" verfaßten "Nachwort zu meinem Buche über das Alte Testament" - sie findet sich im Kontext der Kritik des Begriffs der besonderen Offenbarung - ist geeignet, jenen Vorrang des Wahrheits- vor dem Offenbarungsbegriff näher zu erläutern. Hirsch sagt an der betreffenden Stelle: "Ich möchte ... bei dem Kanon bleiben, daß der Begriff der Offenbarung in strenger innerer Einheit mit dem der Wahrheit zu denken ist. Nur indem eine Mitteilung über das Gottesverhältnis mir wahr wird, wird sie mir eine von Gott mir gegebene, d.i. Offenbarung. (Nicht umgekehrt: indem sie mir als Offenbarung feststeht, wird sie mir wahr; denn abgesehen davon, daß etwas mir wahr wird im Glauben, habe ich kein Zeugnis dafür, daß Gott darin redet.) Das heißt aber: jede im Gottesverhältnis bestimmte menschliche Wirklichkeit, sie sei Rede oder Leben, ist mir insofern Offenbarung, als sie mir wahr wird, und insofern Menschenwahn, als sie mir unwahr wird oder ist" (NAT 139). Die inhaltliche Bedingung nun dafür, daß Offenbarung die Umwandlung von Unwahrheit in Wahrheit bewirkt, liegt darin, daß Gott selbst als die unbedingte Wahrheit vorausgesetzt wird, die sich dem Gewissen als solche vernehmlich macht. Aber warum spricht Hirsch in §73.A. von

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einer Überwindung der Unwahrheit in Wahrheit und nicht schlechthin von einem Offenbarwerden der Wahrheit? Eine endgültige Klärung dieser Frage ist erst vor dem Hintergrund der (in Abschnitt 3 zu erörternden) theoretischen Struktur des Offenbarungsbegriffs möglich. D a r u m kann an der jetzigen Stelle nur eine vorläufige Antwort gegeben werden: Die Offenbarung der unbedingten Wahrheit erfolgt nicht in einem einzigen Akt, sondern nur so, daß sie Wahrheit erschließt, die mit Unwahrheit behaftet ist, u m diese hernach als solche aufzudecken und wiederum in Wahrheit zu verwandeln. Da das wahrhafte Erscheinen der unbedingten Wahrheit nicht mit deren unmittelbarem Auftreten zusammenfällt, sondern erst aus der Korrektur der darin mitgesetzten Unwahrheit hervorgeht, erscheint Wahrheit nur als die Überwindung von Unwahrheit. Mit dem Sachverhalt der Überwindung von Unwahrheit in Wahrheit ist allerdings erst ein Vorbegriff von Offenbarung umschrieben. Es ist noch nicht der voll aus differenzierte Begriff, der Vollbegriff von Offenbarung, erreicht. Wenn zwischen einem Vorbegriff und einem Vollbegriff unterschieden wird, dann kann das methodische Verhältnis zwischen beiden so bestimmt werden, daß der Vollbegriff die Bedeutung des Vorbegriffs nach ihrer theoretischen Struktur im Horizont der Gesamtsystematik auslegt und damit jenen in diese integriert. Wir werden sehen, daß sich diese explikationslogische Stufung bei den anderen Leitbegriffen parallel wiederholt . Wie ist nun der gesuchte Vollbegriff von Offenbarung bestimmt? Oder anders gefragt: Wie wird die Verwandlung von Unwahrheit in Wahrheit durch den Vollbegriff von Offenbarung näher qualifiziert? Der "Leitfaden" gibt diesbezüglich folgende Teildefinition: "Solche Offenbarung kann letzte (entscheidende, vollkommne) Offenbarung heißen, wenn sie mir, indem sie mich Gottes Herz gegen mich erkennen läßt, mein Leben mit der vollendeten Durchsichtigkeit der Selbsterkenntnis ewig in Gottes Leben gründet" (Lf § 73.Α.). Hirsch bestimmt den Vollbegriff der Offenbarung als das Zugleich von vollendeter Durchsichtigkeit und ewiger Gegründetheit in Gott. Wie verhalten sich nun die einzelnen Momente dieser Bestimmung z u m Begriff der Offenbarung als Selbsterschließung der Wahrheit Gottes? Diese Frage kann nur beantwortet werden unter Zugrundelegung der Duplizität der Offenbarung als Gesetz und Evangelium. Die vollendete Durchsichtigkeit wird bereits durch die Gesetzesoffenbarung erwirkt, sofern dem Gesetz die Funktion der Hervorbringung und Vertiefung der Selbsterkenntnis im Gewissen zukommt. Absolute Durchsichtigkeit schließt es rein als solche aber keineswegs ein, daß das sich-durchsichtiggewordene Subjekt sich auch als absolut gegründet erfährt. Gesetzesoffenbarung ist mit Unwahrheit behaftete Wahrheit, das besagt: Sofern die Gesetzesoffenbarung das menschliche Selbst des aporetischen Charakters

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seiner ethisch-religiösen Selbstauslegung und damit der Grundlosigkeit seines Daseins mit vollendeter Durchsichtigkeit überführt, bewirkt es in ihm zugleich eine jene Aporien zu überwinden trachtende Selbstrechtfertigung und damit seine Entzweiung von Gott. Die Unwahrheit des Daseins unter dem Gesetz besteht darin, die Inkompatibilität von Selbst-sein und Aus— Gott-sein auf Gott selbst zurückzuführen und damit ein letztlich unwahres Gottesbild zu etablieren. Erst die im Glauben an das Evangelium gewährte Erkenntnis Gottes als Liebe, welche die Fremdheit gegen Gott als den Unwahrheitsaspekt des Gesetzes aufdeckt und überwindet, verschafft die Möglichkeit eines mit vollendeter Selbsterkenntnis geeinten Gegründetseins in der unbedingten Wahrheit Gottes. Aber damit ist der gedankliche Gehalt des VollbegrifFs der Offenbarung noch keineswegs hinreichend entfaltet. Es wird sich zeigen, daß er an der Fortbestimmung der zu seiner Explikation herangezogenen beiden anderen Leitbegriffe sowohl im einzelnen als auch hinsichtlich des so entstehenden Reflexionsganzen maßgeblich beteiligt ist und allererst hier voll z u m Tragen kommt. Damit gelangen wir zu Hirschs Fassung des Versöhnungsbegriffs. Wie erschließt sich Gott in seinem Versöhnungshandeln a m Gewissen? Der "Leitfaden" bestimmt den Vorbegriff von Versöhnung als ein Gegenwärtigwerden Gottes, "das in und wider Entzweiung Gemeinschaft herstellt, d.i. dadurch Widerstreit mit Gott, welcher an meinem Sinn, Herz und Gewissen mächtig ist, in den Frieden mit Gott hinein überwunden wird" (Lf § 76.Α.). Da die Evangeliumsoffenbarung an die Gesetzesoffenbarung anknüpft, indem sie deren Wahrheit ebenso bestätigt wie deren Unwahrheit überwindet, gerät das durch beide Gestalten der Offenbarung betroffene Gewissen in eine Zwitterstellung gegenüber der es bestimmenden Wahrheit Gottes: Als Ort des Sichdurchsichtigwerdens wird es bestätigt, als Akteur der Selbstrechtfertigung, der Entzweiung von Gott und der Erzeugung eines unwahren Gottesbegriffs wird es der Unwahrheit überführt. Nicht das Gewissen schlechthin, sondern der im Gewissen gesetzte Widerstreit mit Gott wird überwunden. Im Versöhnungshandeln Gottes wird die Überwindung von Unwahrheit in Wahrheit näher qualifiziert als Überwindung der Entzweiung von Gott durch Gemeinschaft mit ihm. Der Friede des Versöhnungsglaubens besteht in der von Gott geschenkten Überwindung der Fremdheit Gottes, wie sie sich aus der aporetischen ethischreligiösen Lebenssituation und dem wiederum daraus resultierenden Versuch der Selbstrechtfertigung gegenüber Gott notwendig ergeben mußte. Der Vollbegriff von Offenbarung beinhaltete das Zugleich von absoluter Durchsichtigkeit und ewiger Gegründetheit. Es ist die Funktion des Vollbegriffs der Versöhnung, den Gründungscharakter jenes absoluten Gegründetseins näher zu beleuchten. Der Versöhnungsbegriff vollzieht also

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lediglich die vertiefende K l ä r u n g eines bereits im Offenbarungsbegriff enthaltenen, aber dort lediglich in wahrheitsperspektivischer Hinsicht t h e m a tisierten Momentes: "Solche Versöhnung kann echt oder vollendet heißen, wenn sie mir, i n d e m sie Gottes G ü t e mir im Glauben n a h e sein läßt, den Frieden mit G o t t unabhängig von den Urteilen, L a u n e n u n d Anfechtungen meines Gewissens ewig in Gottes Wahrheit g r ü n d e t " (Lf § 76.Α.). Der spezifische G r ü n d u n g s c h a r a k t e r des absoluten Gegründetseins in G o t t b e s t e h t darin, daß im Glauben der Widerstreit mit G o t t ü b e r w u n den wird, obwohl im Gewissen der Widerstreit weiterhin existiert. Das Gegründetsein des Glaubens hebt somit über alle aporetischen E r f a h r u n gen des Gewissens hinaus. Der Versöhnungsglaube h a t seinen Frieden bei G o t t i n m i t t e n aller Anfechtungen des Gewissens. Mit anderen W o r t e n : Der Versöhnungsbegriff entfaltet die G r ü n d u n g in G o t t als die Stiftung von Einheit u n t e r den Bedingungen von Entzweiung, als Frieden im Glauben t r o t z W i d e r s t r e i t s im Gewissen. Der Friede des Versöhnungsglaubens ist das Zuteilwerden einer Gegründetheit in G o t t , welche ebensowohl Einheit mit G o t t als auch Einheit mit sich selbst b e d e u t e t . Im Hinblick auf den Vollbegriff von Offenbarung u n d Versöhnung war n u n bezeichnenderweise nicht n u r von absoluter Gegründetheit in G o t t die Rede, sondern von ewiger Gegründetheit. "Ewig" bezeichnet f ü r Hirsch eine Eigenschaft des göttlichen Lebens, derzufolge es sich von allem kreatürlichen Leben d a d u r c h unterscheidet, daß es "den Tod nicht k e n n t " (vgl. Lf §48.M.2.) Angesichts des im Versöhnungsglauben gewährten ewigen Gegründetseins im Frieden mit G o t t t r o t z gleichzeitigen Seins im Widerstreit des Gewissens, stellt sich die Frage, wie das Gegründetsein in einem Leben, das den Tod nicht k e n n t , verträglich sein soll mit d e m Sein u n t e r d e m Tod, das d e m Menschen mit d e m Unterworfensein des Gewissens u n t e r das Gesetz des Daseins z u k o m m t . Die Antwort auf diese Frage gibt das Kapitel über die Neuschöpfung. Auch dieses Kapitel bietet wiederum n u r eine weitere vertiefende Klärung, n u n m e h r eines im Versöhnungsbegriff e n t h a l t e n e n , aber dort noch offen gebliebenen Problems. Der K e r n des Lehrstücks über die Neuschöpfung hegt in der B e a n t w o r t u n g der Frage nach der Art des ewigen Gegründetseins. B e t r a c h t e n wir wieder zunächst die B e s t i m m u n g des Vorbegriffs. Danach ist die Neuschöpfung dasjenige Handeln Gottes a m Gewissen, "dadurch Verfangenheit oder Ziellosigkeit, die mich in m e i n e m Menschsein verfestigen oder v e r k ü m m e r n , ü b e r w u n d e n werden d u r c h die B e r u f u n g , mein Leben aus G o t t zu leben" (Lf §79.Α.). Hirschs Vorbegriff der Neuschöpfung betrifft ganz allgemein das P r o b l e m der K o n s t i t u t i o n der religiös b e g r ü n d e t e n ethischen S u b j e k t i v i t ä t . U m es an den einzelnen Elem e n t e n der Formulierung auszuweisen: "Aus Gott leben" heißt: religiöse

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Begründung, "Berufung zum Leben" heißt: Konstitution von Subjektivität, "Überwindung von Verfangenheit oder Ziellosigkeit" heißt: Konstitution der ethisch-religiösen Subjektivität unabhängig von der Fixiertheit oder Unbestimmtheit des Handelns der empirischen Subjektivität. Der Vollbegriff von Neuschöpfung lautet dann: "Solche Neuschöpfung kann ganze oder ewige heißen, wenn sie mir, indem sie mir meine Gemeinschaft mit den andern als die Stätte meines Lebens aus G o t t zeigt, mein Personsein unabhängig von den wechselnden Schickungen und Aufgaben meines irdischen Daseins in Gottes Freiheit gründet" (Lf § 79.Α.). Der Vollbegriff präzisiert die ethische Dimension der Gründung des Personseins in Gott, so zwar, daß sie einerseits befreit von den Grenzen des irdischen Daseins, aber andererseits das Sein mit den Mitmenschen zum Ort des Personseins macht. Der Vollbegriff erläutert somit die Art der "Überwindung", von der im Vorbegriff die Rede war, indem er die bloß negative Beschreibung des durch die Überwindung Gesetzten durch eine positive ersetzt: Die durch die Neuschöpfung konstituierte Subjektivität begreift die Sphäre der Intersubjektivität als den Ort des Lebens aus Gott, gleichwohl geht sie nicht in den empirischen Sinnbezügen des daraus resultierenden Selbstverständnisses auf. Der unendliche Sinn des Selbstseins ist auf den ethischen Sinn des Mitseins als seinen Realisierungszusammenhang bezogen, ohne mit ihm jemals inhaltlich zur Deckung zu gelangen. Die ewige Gründung der Neuschöpfung ist die Berufung des Menschen zu einem Leben aus Gott in Form eines unbedingten Sollens. Dieses die ethische Subjektivität konstituierende unendliche Sollen vereinigt sich im empirischen Subjekt mit dem endlichen Sollen seiner konkreten ethischen Pflichten 2 8 , aber weder in der Weise, daß es mit ihm identisch wird und dadurch seine Absolutheit verliert, noch so, daß es seine Absolutheit gegen das endliche Sollen ausspielt und letzteres damit praktisch beseitigt. Dieser normativen Neuschöpfung des Menschen durch Gott eignet wesensnotwendig eine Unvollendbarkeit oder Unerfüllbarkeit, die aber nicht etwa daraus resultiert, daß jene durch die faktische Bestimmtheit des empirischen Subjektes eingeschränkt würde, sie gründet vielmehr ausschließlich in ihrer ethischen Struktur, d.h. in der Form der Vereinigung von endlichem u n d unendlichem Sollen. Die mit dem unendlichen Sollen mitgesetzte und d a r u m unausweichliche Aufgabe seiner Vereinigung mit dem endlichen Sollen ist der Grund dafür, daß die Neuschöpfung immer der Gefahr ausgesetzt ist, in ihren defizienten Modus abzugleiten, nämlich in ein Hin- und Herschwanken zwischen dem Aufgehen des absoluten Sollens im endlichen und einem Überfliegen des endlichen Sollens. Das Aufgehen im endlichen Sollen besagt: das absolute Sollen mißversteht seine Realisie28

Vgl. Lf § 102; ChR II, 186f.

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rung in der Weise, daß es sich auf eine rein irdische Zielsetzung reduziert. Das Überfliegen des endlichen Sollens besagt: das absolute Sollen mißversteht seine Absolutheit bezüglich des endlichen Sollens, indem es die für das endliche Sollen konstitutive Bestimmtheit der Zwecksetzung u m der Gestaltlosigkeit eines ewigen Zieles willen vergleichgültigt. Ganze ewige Neuschöpfung heißt, daß sich das intersubjektiv verantwortliche tätige Leben eines Subjekts mit Ewigkeit erfüllt. Dieses Gestaltwerden der Ewigkeit in der Zeitlichkeit kann immer nur so erfolgen, daß ethisch-religiöse Subjektivität, welche jenes unbedingte Sollen unter den Bedingungen des endlichen Sollens realisiert, sich einerseits der prinzipiell aporetischen Verfaßtheit und damit der prinzipiellen ethischen Unkenntlichkeit 2 9 ihrer Synthesen bewußt bleibt, andererseits aber gerade als reiner Ewigkeitsglaube sich nach dieser kreatürlichen Endlichkeit gerechtfertigt weiß.

b) Die Anknüpfung an die reformatorischen Grundbegriffe Wie im Falle des ersten bereits sichtbar geworden, enthalten alle drei christologischen Leitbegriffe unter sich jeweils ein reformatorisch bestimmtes Begriffspaar. So zerfällt "Offenbarung" in "lex/Euangelium", "Versöhnung" in "iudicium/gratia", "Neuschöpfung" in "mortificatio/vivificatio". Wie "Versöhnung" und "Neuschöpfung" Näherbestimmungen von "Offenbarung" sind, so sind auch "iudicium/gratia" und "mortificatio/vivificatio" Näherbestimmungen von "lex/Euangelium". Wenden wir uns den jeweils mittleren Paragraphen der drei Kapitel über "Das Wort" zu, in denen die genannten polaren Begriffspaare entfaltet werden. § 74.A. handelt von dem reformatorischen Begriffspaar lex/Euangelium. Während Luthers Theologie Gesetz und Evangelium in aller Regel als zwei Arten von Predigt oder Wort Gottes versteht, subsumiert Hirsch beide Begriffe unmittelbar unter "Offenbarung". Darin drückt sich die Tendenz der neueren evangelischen Theologie aus, dem Begriff der Offenbarung ein prinzipielleres Gewicht zu verleihen, als es formell in der Theologie Luthers der Fall ist. Der Sache nach ist diese Zuordnung allerdings durchaus zutreffend. Wie das "Wort" überhaupt, so sind auch "Offenbarung" und "lex/Euangelium" zu verstehen als "auf Vernehmen und Verstehen zielendes innres Sichmitteilen Gottes" (Vorbem. zu §§ 73-99). Mit dieser pointierten Gewissensbestimmtheit des Offenbarungsbegriffs ist jedes lehrhafte Mißverständnis - etwa im Sinne der altprotestantischen doctrina sacra - von vornherein strikt ausgeschlossen. 29

Vgl. Lf §105; C h R I I , 203f.

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Hirsch verschärft den von der reformatorischen Theologie geltend gem a c h t e n G e d a n k e n der Duplizität des Wortes Gottes in formeller Hinsicht, i n d e m er - erkenntnistheoretisch zugespitzt - von einer antithetischen Zweigestalt spricht. Es ist offenkundig, daß er dabei materialiter in erster Linie den Gegensatz zwischen d e m geistlichen G e b r a u c h des Gesetzes einerseits u n d d e m Evangelium andererseits vor Augen h a t . Was n u n den Inhalt des Gesetzes betrifft, so s t i m m t Hirsch darin mit L u t h e r überein, daß das Gesetz nicht mit der im Dekalog ausgesprochenen göttlichen Forderung identisch ist, sondern daß alle elementaren Regeln menschlichen Zusammenlebens mit in den Begriff des Gesetzes hineingehören. E r unterscheidet sich aber von der a l t p r o t e s t a n t i s c h e n Tradition hinsichtlich der Stellung zur lex n a t u r a e ; auch der Begriff des N a t u r r e c h t s ist viel zu einseitig u n d eng, u m die ganze Breite des ethisch-religiösen U m g a n g s mit der Wirklichkeit zu erschließen. Das Gesetz ist f ü r Hirsch vielmehr der ethisch-religiös reflektierte U m g a n g mit Wirklichkeit überh a u p t . Vermöge des Gesetzes wird die Lebenswirklichkeit als ganze in die Perspektive des Gottesverhältnisses gerückt. Das Insgesamt der Normen, Rollen u n d Verhaltensmuster, die zur Regulierung des menschlichen Zusammenlebens erforderlich sind, kann als lex simplex bezeichnet werden. Deren Unbedingtheitsdimension, das alles endliche Sollen konstituierende u n b e d i n g t e Sollen, bildet gewissermaßen die lex in lege. 3 0 Gesetzesoff e n b a r u n g ist die ethisch-religiöse Reflexion auf den Unbedingtheitssinn des Gesetzes des Daseins. "Indem wir die lex in lege entdecken, wird die lex simplex mit ihrer irdischen Hoheit u n d Gewalt uns zur S t ä t t e der göttlichen Hoheit u n d Gewalt. Alle Bewegung göttlichen Sichoffenbarens durchs Gesetz liegt in der Bewegung zwischen lex simplex u n d lex in lege" ( C h F p B 77). Das Sichverstehen u n t e r der Duplizität von Gesetzes- u n d Evangeliumsoffenbarung setzt von vornherein bei der Reflexion auf Wirklichkeit ein. Sosehr darin die Möglichkeit auch von Abwegen der ethisch-religiösen Wirklichkeitsdeutung angelegt ist - nämlich sofern die kategoriale Differenz von endlichem u n d unendlichem E t h o s bzw. von lex simplex u n d lex in lege kassiert wird - , ebensosehr werden auf der anderen Seite Frömmigkeit u n d Theologie d a d u r c h von vornherein vor d e m Wirklichkeitsverlust, d.h. vor A b s t r a k t h e i t oder Vergleichgültigung des Ethischen, b e w a h r t . Die Selbsterkenntnis vor G o t t im Gewissen vollzieht sich i m m e r u n t e r den geschichtlichen Bedingungen der ethisch-religiösen Lebensverfaßtheit, nie in Gestalt schematischer Selbstwahrnehmung n a c h formalen Normen. D a m i t 30

Zu Hirschs Aufnahme dieser scholastischen Unterscheidung vgl. ChFpB 77f; DfdR 120. TlLGNER deutet die lex simplex als "natürliches Gesetz" und die lex in lege als das darin "eingebettete Christus-Gesetz" (a.a.O. 152). Gründlicher kann man Hirschs Umprägung des scholastischen Begriffspaares kaum mißverstehen.

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ist keineswegs Autonomie negiert 31 , sondern lediglich dem prinzipiellen Charakter der Konkretheit ihrer Realisierung Rechnung getragen. Das entscheidende Merkmal an Hirschs Gesetzesbegriff besteht nun darin, daß die Selbstbestimmung vor Gott im Gewissen unter der Bedingung des Gesetzes des Lebens aporetisch verfaßt ist. Systematisch betrachtet wird hiermit die in Dogmatik I entfaltete Theorie der antinomischen Struktur des humanen Wahrheitsbewußtseins in die Christologie eingeholt. Humane Subjekte können sich ethisch-religiös überhaupt nicht in einem letzten Sinne "selbst verwirklichen". Die Selbstidentität vor Gott ist keine ihm von ihm selber her zukommende Möglichkeit des Menschen. Die aporetische Verfaßtheit der ethisch-religiösen Selbstbestimmung ist darin begründet, daß sich Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis in jeder konkreten Handlungssituation - bezüglich der zu findenden Rolle, interpersonalen Verpflichtung, Stellung in der Gesellschaft etc. - nicht zur Deckung bringen lassen. Das Subjekt gerät auf dem ihm angemuteten Weg der Selbstfindung vor Gott und zugleich unter den Bedingungen des realen Lebens in eine zunehmende innere Krisensituation. Das ethischreligiöse Bewußtsein verfällt dem für es selbst ruinösen Prozeß einer immer spannungsreicher werdenden Gottesbeziehung: Andacht - Gebet, Gott erleiden - aus Gott schaffen, Schuldgefühl - Vertrauen. 3 2 Die Gesetzesoffenbarung bewirkt somit das Sichdurchsichtigwerden nach der aporetischen Verfaßtheit des Daseins vor Gott. Die eigentliche Existenzkrise des Menschen unter dem Gesetz besteht nicht in einem abstrakten Verkennen seiner Geschöpflichkeit oder in dem formellen Verstoß gegen unbedingt gültige Gebote, sondern in der Selbstverstrickung in die vermeintliche Möglichkeit einer in sich widerspruchsfreien ethisch-religiösen Selbstidentifizierung. Wirklichkeitsbezogene ethisch-religiöse Selbstreflexion führt auf kein intaktes bündiges oder in sich glatt aufgehendes Gottesverhältnis, sondern auf das aporetische Zugleich von Geschöpflichkeit und Sündigkeit. Es kennzeichnet Hirschs Bestimmung des Gesetzesbegriffs als ganze, daß dessen inhaltliche Bestimmtheit immer unter dem Blickwinkel der Verschränkung seiner beiden Gebrauchsweisen (im reformatorischen Sinne) gesehen wird. Der erste Brauch teilt dem zweiten seine unmittelbare Wirklichkeitsbezogenheit mit, der zweite Brauch teilt dem ersten seine aporetische Grundstruktur mit. So ist das Leben unter der Gesetzesoffenbarung gekennzeichnet durch eine ebenso fundamentale Realitätsbezogenheit wie Widersprüchlichkeit. 31 32

Gegen F.W. GRAF, T R E XIII, 124 Z. 50-52; zu Hirschs Verständnis neuzeitlicher Autonomie vgl. Lf §44; ChR I, 157-161. Vgl. Lf§§ 55.58.61.

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Während Hirsch also das protestantisch-traditionelle Verständnis von "Gesetz" einer starken Modifikation unterzieht, folgt er in der Bestimm u n g des Begriffs des Evangeliums ohne nennenswerte Differenzen den Grundeinsichten der reformatorischen Theologie. Gott ist die sich grundlos mitteilende und unverdient zuteilwerdende Liebe - darin besteht der Gehalt des Evangeliums. Als solchermaßen tatsächlich gewährte Gemeinschaft mit Gott sprengt das Gottesverhältnis unter dem Evangelium das Gottesverhältnis unter dem Gesetz. Diese Überwindung des Gesetzes kann Hirsch auch als die Aufhebung des Gesetzes in das Evangelium bestimmen. Wir werden darauf in Abschnitt 3 zurückkommen. Wie die Uberwindung des Gesetzes durch das Evangelium offenbarungstheologisch zu verstehen ist, erläutert Hirsch mit Hilfe der Begriffe Wahrheit und Unwahrheit der Gesetzesoffenbarung. Die Funktion der Gesetzesoffenbarung besteht in der Vertiefung der Selbsterkenntnis in die Durchsichtigkeit seiner selbst vor Gott. Dabei wird die unter den Bedingungen des Daseins stehende ethisch-religiöse Subjektivität als in sich aporetisch verfaßte erkannt. Sofern die Gesetzesoffenbarung eben diesen Sachverhalt aufdeckt, eignet ihr Wahrheit. Die Wahrheitsmacht der Gesetzesoffenbarung besteht sonach in deren Vermögen der Enthüllung des unentrinnlichen Zugleichs von Geschöpflichkeit und Sündigkeit. Sosehr der Gesetzesoffenbarung als Aufdeckung der aporetischen Verfaßtheit ethisch-religiöser Subjektivität Wahrheit eignet, sosehr verkehrt sie jedoch ihre Wahrheit in Unwahrheit, indem sie dem an und in sich scheiternden Gewissen weiterhin die Aufgabe der ethisch-religiösen Selbstfindung anmutet und in eins damit das Bild eines sein Recht einklagenden und strafenden Gottes entstehen läßt. In der Wahrheitsfunktion des Gesetzes, der Hervorbringung von Durchsichtigkeit mit Bezug auf die Aporetik des Daseins, ist seine Unentbehrlichkeit begründet - auch und gerade für den Glauben an das Evangelium. Seine Unwahrheit, nämlich die Erzeugung des Bildes eines richtenden und strafenden Gottes, womit es bewirkt, daß das in ihm befangene Gewissen sich mehr und mehr in die Situation des Selbstrechtfertigungszwangs verstrickt, läßt die Notwendigkeit seiner Uberwindung durch das Evangelium zutage treten. Die Evangeliumsoffenbarung knüpft an die Wahrheit der Gesetzesoffenbarung unmittelbar an. Hinsichtlich des Unwahrheitsaspektes derselben bedeutet sie jedoch etwas schlechterdings Neues, sofern sie nämlich Wahrheit als in Unwahrheit gefangen enthüllt. Das Gesetz ist nun nach seinem eigentlichen Sinn festgestellt, den zu entdecken es selbst und für sich allein nicht in der Lage ist. Damit revidiert das Evangelium die in der Wahrheitsmacht der Gesetzesoffenbarung mit gesetzte Unwahrheit: es korrigiert alle unter der Unwahrheit der Gesetzesoffenbarung entstandenen Bestimmungen Got-

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tes und des Menschen. Zwar macht sie sich das Wahrheitsmoment der Gesetzesoffenbarung, deren Funktion der Vertiefung des Gottes Verhältnisses zur vollendeten Durchsichtigkeit, zu eigen. Aber sie setzt an die Stelle der unwahren Vorstellung eines richtenden und strafenden Gottes sowie der unwahren Verpflichtung zur - in sich aporetischen - Selbstrechtfertigung des Gewissens das Bild des allein von sich aus Gemeinschaft mit dem Menschen suchenden Gottes und die Gewißheit des ohne eigenes Zutun in Gott Gegründetseins. Gehen wir nun über zur Behandlung des zweiten reformatorischen Begriffspaars iudicium/gratia in § 77.A. Hirsch exponiert es in unmittelbarer Anknüpfung an das zuvor Ausgeführte: Das Gericht vollzieht sich in und mit der Gesetzesoffenbarung. Worin ist dieser Zusammenhang begründet? Er beruht auf dem Doppelaspekt der Gesetzesoffenbarung, derzufolge Wahrheit immer nur als unter Unwahrheit verborgene erschlossen ist. Die Wahrheit des Gesetzes besteht in der Aufdeckung der aporetischen Verfaßtheit ethisch-religiöser Subjektivität. Die Unwahrheit des Gesetzes besteht in der Produktion des Bildes vom richtenden und strafenden Gott, welches das Gewissen in die Position der ethisch-religiösen Selbstrechtfertigung treibt. Das Gericht Gottes ist nun gewissermaßen die Synthesis des Wahrheits- und des - von der Evangeliumsoffenbarung her eingesehenen - Unwahrheitsaspektes des Gesetzes oder die Anwendung des Wahrheitsmomentes auf die aus dem Unwahrheitsmoment resultierende Situation. Der Wahrheitsaspekt des Gesetzes, nämlich die Konstitution vollendeter Durchsichtigkeit, angewandt auf den Unwahrheitsaspekt des Gesetzes, die Erzeugung eines falschen Gottesbildes und eines falschen Selbstrechtfertigungszwangs, hat die absolute Negativität des Gottesverhältnisses, das Bewußtsein unter dem richtenden Nein Gottes zu stehen, zur Folge. Das Gericht Gottes ist das aus der Verschränkung von Wahrheits- und Unwahrheitsaspekt des Gesetzes folgende Urteil über die Situation der Entzweiung von Gott als schlechterdings widergöttlicher Daseinsverfaßtheit. Schuld ist das aus der Erfahrung des göttlichen Nein über die eigene Person entspringende Bewußtsein der Gottesferne. Schuldbewußtsein ist keine in interpersonalen oder sozialen Relationen aufgehende endliche Negativitätserfahrung, sondern die Selbsterkenntnis des Menschen im Gericht Gottes. Die aporetische Verfaßtheit des Daseins der ethisch-religiösen Subjektivität wird vom Gesetz aufgedeckt. Das Nein zur Selbstrechtfertigung, welches aus dem damit verbundenen Gottesbild resultiert, wird im Gericht ausgesprochen. Schuldbewußtsein ist das aus dem Gericht hervorgehende Bewußtsein der absoluten Negativität des Gottesverhältnisses als des eigenen Lebensstandes. Schuldbewußtsein ist die Konvergenz der Entzweiung von Gott und der Entzweiung

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des Menschen mit sich selbst. Gottesferne und Selbstentfremdung fallen zusammen. Es fällt auf, daß Hirsch auf der einen Seite sehr genau die reformatorische Unterscheidung von Gesetz und Evangelium und ebensowohl den in ihr enthaltenen Gerichtsgedanken zum Tragen bringt, daß er sich andererseits aber des beiden Momenten korrespondierenden reformatorischen Sünden- und Bußbegriifes gerade in diesem Kontext nur mit äußerster Behutsamkeit bedient. Dies ist keineswegs Zufall. Hirsch ist der Meinung, daß die gesamte reformatorische Tradition reflektierter Darstellung des Gottesverhältnisses in Gestalt der Sündenbuße den Formen der Erfahrung von Gottesferne und Selbstentfremdung im Zeitalter der Umformungskrise des Christentums deskriptiv nicht mehr gerecht wird und d a r u m kaum noch Ausdruck eines lebendigen Selbstverständnisses zu sein vermag. Die als Gottesferne und Selbstentfremdung erlebte absolute Negativität des Gottesverhältnisses findet unter den soziokulturellen Bedingungen des neuzeitlichen Christentums kaum mehr die Ausdrucksform eines u m sich wissenden und solchermaßen sich artikulierenden Sündenbewußtseins. Von daher betrachtet stellt sich das Problem, jene religiösen Negativitätserfahrungen, die von der reformatorischen Theologie als reflektierte Gewissenserlebnisse beschrieben wurden, unter Wahrung ihres anthropologischen und theologischen Gehaltes in einer tief gewandelten Gegenwart angemessen zur Darstellung zu bringen. Im ersten Merksatz zu dem gerade verhandelten Paragraphen finden sich Formulierungen Hirschs, die dieses Problem mit eindrücklicher Wahrhaftigkeit konstatieren: "Die Beschreibung der Versöhnung im ersten Teil des Paragraphen stößt auf die Schwierigkeit, daß dem Menschen heute die Interpretation des im Nein stehenden Gottesverhältnisses als Gericht nicht mehr unmittelbar anschaulich ist: wir erleben eher die Auslöschung des Gottesverhältnisses und die Nacktheit und Stummheit der Seele als wie einst den unendlichen Schmerz u n d die unendliche Angst der in der Entzweiung mit Gott umgetriebnen schuldvollen Seele. Wir haben daher für uns selbst und für andre es nötig, uns klarzumachen, daß Gott das Geheimnis im Verhältnis zum andern ist, daß also die Verschlossenheit und Härte im letzten Verhältnis zum andern ein echtes Erfahren des Gerichts ist. Ungezählte lebenstüchtige Menschen liegen innerlich in einer Einsamkeit und Verlassenheit gefangen, aus der und in die kein lebendiges Wort dringt: sie sind der unendlichen Liebe, in der Mensch und Mensch einander zur gnadenhaften Gottesbegegnung werden, indem sie füreinander da sind, wie erstorben" (Lf §77.M.l.). Ganz ähnlich urteilt Hirsch im Zusammenhang der parallelen Problematik des Verhältnisses von Glaube und Buße: "Das sich selbst Vernehmen im Ge-

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wissen ist bei uns allen durch das an uns mächtige innere Gebot bestimmt, sich in resignierter Kühle mit sich selber abzufinden und nicht nur vor andern, sondern auch bei sich selbst das Gesicht zu wahren" (Lf §86.B.). Die moderne psychologische Gestalt der Gewissenserfahrung unter dem göttlichen Gericht besteht für Hirsch darin, daß "wir die Unendlichkeit des Gefordertseins zur Liebe gegeneinander und die Unwiderruflichkeit des einander nicht Genügens und einander zum schicksalhaften Gesetz Werdens vor uns selber verstummend durchleben" (ebd.). Die religiöse Negativitätserfahrung des modernen Menschen äußert sich eher in Stummheit, Einsamkeit, Kühle und Resignation des Nebeneinanderherlebens als in artikulierten Formen ethisch-religiöser Selbstreflexion, wie sie in den klassischen Krisenlehren von Sünde und Buße aufbewahrt sind. Obwohl eine diesem Sachverhalt nicht nur inhaltlich, sondern auch theologischkategorial Rechnung tragende Neuinterpretation des in der Negativität stehenden Gottesverhältnisses zweifellos einen gravierenden Eingriff in die Kontinuität der christlichen Lehrtradition bedeutet, die er darum auch nur ansatzweise durchführt, hält Hirsch sie für alles andere als theologisch illegitim. "An sich ist diese Gestalt des sich Vernehmens dem Evangelium nicht ferner und nicht näher als die einstige Bereitschaft, sich als Büßenden zu verstehen, die j a auch nicht von selber echte Tiefe des Schuldgefühls und noch weniger ein echtes Offenstehen für das Evangelium war. Aber die neue Gestalt der Innerlichkeit harrt noch der innern Durchformung und Durchgeistigung durch lebendigen Glauben an das Evangelium" (ebd.). Dem Erleben des göttlichen Gerichts konträr entgegen steht die Erfahrung der Gnade. Wie die Gesetzesoffenbarung das Gericht impliziert, so ist die Gnade ein Implikat der Evangeliumsoffenbarung. Gnade ist das unverdiente Empfangen der im Evangelium zugesagten Vergebung. Sie ist mit dem Begriff Gottes als Liebe wesensnotwendig verbunden. Als Überwindung der Entzweiung mit Gott ist Gnade zugleich die Überwindung der Entzweiung des Menschen mit sich selbst. Gnade ist darum das Zuteilwerden des sich durchsichtig in Gott Gegründetseins. Diese innerliche Gegründetheit in Gott wird dem Glauben zum verborgenen Lebensgrund inmitten aller Aporien und Anfechtungen des Gewissens. Da die Evangeliumsoffenbarung die Gesetzesoffenbarung nicht vollständig beseitigt, sondern nur deren Unwahrheitsaspekt, kann auch das von der Gesetzesoffenbarung bewirkte Gericht von der durch die Evangeliumsoffenbarung zuteil werdenden Gnade nicht schlechterdings außer Kraft gesetzt werden. Es wird vielmehr bestätigt, aber zugleich in seinem Sinn neu bestimmt: Das Gericht erweist sich retrospektiv als heimliche Gnade. Es erscheint aus der Perspektive des Versöhnungsglaubens als unter dem Widerspruch verborgene, heimliche Güte. Das Nein des Gerichtes ist in

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das J a der Gnade hineingenommen. Das Gericht ist kein todbringendes, sondern ein dem Leben den Weg bereitendes Ereignis. Weil das Gericht durch die Gnade nicht beseitigt, sondern anerkannt, aber zugleich mit einem neuen Sinn versehen wird, d a r u m kann auch die im Gericht diagnostizierte Schuldsituation des Menschen nicht einfach übersprungen werden, sie kann nur vergeben werden. Wenn Vergebung bedeutet, daß Entzweiung von Gott durch Geborgenheit bei Gott überwunden wird, dann besagt dies: Es gibt ein Sein in der Gnade immer nur als Herkunft aus der Entzweiung. Die Gnadenerfahrung hat den Charakter eines Durchbruchserlebnisses. Weil Entzweiung nicht verdrängt, sondern anerkannt, aber vergeben wird, darum verweist die Gnade immer auf das Gericht zurück. Die im Glauben an das Evangelium gewährte Versöhnung mit Gott ist ein immerwährendes Geschehen des Ubergangs von Schuld in Vergebung. Sofern jedoch das Gericht selbst seinen eigentlichen Sinn allererst von Seiten der Evangeliumsoffenbarung her empfängt, m u ß die komplexe Übergangsstruktur des Versöhnungsglaubens strenggenommen aufgefaßt werden als eine "Bewegung von der Gnade Gottes durch das Gericht Gottes hindurch zur Gnade Gottes" (Lf § 77.Α.). Es ist offenkundig, daß Hirschs Gnadenverständnis sich ganz in den Bahnen der reformatorischen Theologie bewegt. Wie der in die Evangeliumsoffenbarung integrierte Gerichtsgedanke zurückverweist auf Luthers Verschränkung von opus proprium und opus alienum im Begriff der theologia crucis, so schließt die Deutung der Vergebung als eines permanenten Ubergangsgeschehens an Luthers Fassung der Rechtfertigungslehre an. §80.A. schließlich handelt von dem dritten der genannten reformatorischen Begriffspaare: mortificatio/vivificatio. In der im Glauben an das Evangelium gewährten Vergebung ist als positives Moment die Berufung zu einem neuen verborgenen Leben gesetzt. Diese Berufung ist - entsprechend dem permanenten Transitus des Versöhnungsgeschehens - ein tägliches Rufen, ein stets neues Erfahren von Gottes Töten und Lebendigmachen. Dieser Sachverhalt wird von Hirsch auf den biblisch-traditionellen Begriff der Neuschöpfung gebracht. Sosehr nun die Vorstellung der stets neuen Erfahrung von Gottes Töten und Lebendigmachen ein konstitutives Moment des reformatorischen Rechtfertigungsglaubens bildet, so wenig folgt Hirsch jedoch in der gedanklichen Explikation seines Begriffes der ewigen Neuschöpfung der nachreformatorischen Lehrbildung. Als Grund dafür verweist Hirsch auf die seiner Meinung nach völlige Unzulänglichkeit der Durchführung dieses Lehrstückes in der gesamten altprotestantischen Orthodoxie. Der gedankliche Mangel dieser Lehrtradition Hegt für Hirsch darin, daß es ihr nicht gelungen ist, die beiden Momente, die Luthers überlehrmäßiges

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Verständnis der Wiedergeburt beinhaltete, zusammenzudenken: nämlich einerseits die Schlechthinnigkeit des personalen Neuanfangs und andererseits die Worthaftigkeit seines Konstituiertseins. Die reformierte Lehrbildung hat den Neuanfang prädestinatianisch als creatio ex nihilo interpretiert, die lutherische Lehrbildung hat ihn psychologisch als Kraftmitteilung aufgefaßt. Bei beiden machen sich darum magische Elemente geltend, welche der Worthaftigkeit jenes Geschehens entgegenstehen. D a r u m geht Hirsch in der lehrmäßigen Entfaltung des Begriffs der Neuschöpfung bewußt ganz eigene Wege. Er deutet sie als das in und mit der Vergebung sich vollziehende Geschehen der normativen Konstitution der ethisch-religiösen Subjektivität. Mit der Gründung des Glaubens in Gott trotz der Entzweiung des Gewissens von ihm empfängt dieses seine Berufung zur ewigen Gemeinschaft mit Gott. Der Ewigkeitscharakter des in Gott Gegründetseins impliziert angesichts der Aporetik der realen Verfaßtheit des Gewissens den prinzipiell kontrafaktischen Charakter solcher Neukonstitution. Im Zuteilwerden der Gnade Gottes wird sich der Glaube seiner unbedingten Verpflichtung zu einem neuen Leben aus G o t t bewußt. Das Dasein der ethisch-religiösen Subjektivität oder das endliche Ethos ist dann nichts anderes als das Material jener Pflicht bzw. die Sphäre der Anwendung des unbedingten Sollens auf das in den empirischen Aufgaben und Pflichten repräsentierte endliche Sollen. Es liegt auf der Hand, daß Hirschs Deutung der Neuschöpfung bzw. Wiedergeburt ihr Vorbild hat in Holls Verständnis der Rechtfertigungslehre Luthers als einer Theorie der normativen Konstitution ethisch-religiöser Subjektivität. Ihr kategoriales Gerüst e n t s t a m m t der praktischen Philosophie Kants 3 3 und Fichtes.

c) Der Wirklichkeitsbezug der christologischen Leitbegriffe Nachdem wir Hirschs Explikation der christologischen LeitbegrifFe verfolgt haben, ist nun der weitere Fortgang der Reflexion in Richtung auf die christologische Prädikation im engeren Sinne zu betrachten. Der Übergang von den christologischen Leitbegriffen zur christologischen Beschreibung der Person Jesus von Nazareth vollzieht sich - wie wiederum der formelle 33

Vgl. dazu oben Kap. I.B.2.e). Soweit Hirsch Kant kritisiert (vgl. etwa LSt II, 104-121), liegt in aller Regel - wie bereits bei Holl - ein Überbietungsanspruch vor. Eben dieser schließt es nicht aus, daß Grundstrukturen Kantischen Denkens übernommen werden. Dies genau hegt vor im Fall des Begriffs des "unbedingten Sollens". Die Kritik an der Kantischen Tradition (vgl. Lf § 102.M.2.) zielt auf ihre "tiefere" (ChR II, 187) Fassung. Leitbild solcher Vertiefung oder Überbietung ist die Ethik des theologischen Neukantianers W. Herrmann (vgl. Lf § 102.M.1.).

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Vergleich der entsprechenden Ausführungen der drei Paragraphen zeigt in der Weise, daß im Hinblick auf die christologischen Leitbegriffe strikt unterschieden wird zwischen ihrem Begriffsstatus bzw. der Bedeutung der Begriffe einerseits und der Frage ihrer Realisierung bzw. der Frage, unter welchen Bedingungen das durch sie Bezeichnete der Verwirklichung fähig ist, andererseits. Die Formulierungen Hirschs an dieser Stelle sind wieder streng parallel gewählt: 1. "Christlich verstanden ist Offenbarung .... Geschehen kann Offenbarung nur so, daß eine menschlich-geschichtliche Wirklichkeit mir zur Begegnung mit Gott in Sinn, Herz und Gewissen wird" (Lf §73.Α.). 2. "Christlich verstanden ist Versöhnung ... . Geschehen kann Versöhnung nur so, daß eine menschlich-geschichtliche Wirklichkeit mir zum Träger und Künder der göttlichen Güte in Sinn, Herz und Gewissen wird" (Lf § 76.A.). 3. "Christlich verstanden ist Neuschöpfung .... Geschehen kann Neuschöpfung nur so, daß in einer Begegnung mit menschlich-geschichtlicher Wirklichkeit mir ein neuer, im Rufen des allzeit schaffenden Gottes geheiligter Lebenssinn aufgeht" (§79.Α.). Wenn in dieser Deutlichkeit zwischen den beiden Frageebenen unterschieden wird, so ist damit nicht nur einer formal-semantischen Sorgfaltspflicht genügt. Es gibt auch sachliche Gründe, den Übergang vom Begriffsinhalt zur Realisierung jener Begriffe zu problematisieren, und zwar von deren Bedeutung selbst her. Vom generischen Merkmal der christologischen Leitbegriffe her handelt es sich nämlich bei ihnen u m Sachverhalte, die unter die Kategorie der Gewissens Wahrheit fallen. Gewissens Wahrheit aber baut - erkenntnistheoretisch betrachtet - auf Sinnwahrheit auf, die ihrerseits in Sachwahrheit fußt. Die Tatsache, daß Gewissenswahrheit nur unter Einschluß von Sinn- und Sachwahrheit erkannt werden kann, bedeutet nicht, daß Sach- und Sinnwahrheit bereits für sich den Status von Gewissenswahrheit einnehmen könnten. Aber es besagt, daß Gewissenswahrheit sich nur dort erschließt, wo anhand einer geschichtlich gegebenen, Sinn- wie Sachwahrheit repräsentierenden Intersubjektivitätsbeziehung sich die Frage der Selbsterkenntnis vor Gott stellt. Offenbarung, Versöhnung und Neuschöpfung können also nur in der Weise wirklich werden, wie Gewissenswahrheit überhaupt sich erschließt, nämlich unter Einschluß von Sinn- und Sachwahrheit. Das bedeutet: Die Realisierung der christologischen Leitbegriffe, also das Geschehen von Offenbarung, Versöhnung und Neuschöpfung, liegt immer nur dort vor, wo die unmittelbare Erfahrung oder das historisch vermittelte Erlebnis einer Intersubjektivitätsbeziehung Anlaß zur Selbsterkenntnis vor Gott wird. Damit rückt die Begegnung mit dem Menschen Jesus als ein exemplari-

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scher Fall des gerade beschriebenen Intersubjektivitätsverhältnisses ein in den Umkreis der christologischen Leitbegriffe, nämlich im Zusammenhang des Problems ihrer Realisierung. Die in nachverstehender Gleichzeitigkeit erlebte Begegnung mit Jesus von Nazareth, seinem Wort und seiner Geschichte, ist so gesehen ein möglicher Fall dessen, daß eine Intersubjektivitätserfahrung im Gewissen zur Gottesfrage wird. Der gedankliche Schritt nun von der Frage nach den strukturellen Bedingungen des Wirklichwerdens der christologischen Leitbegriffe zur Aussage ihrer tatsächlichen Verwirklichung in der Begegnung mit Jesus von Nazareth geschieht jeweils im zweiten Abschnitt der von uns betrachteten Paragraphen: 1. "Christlichem Glauben ist die der Gottes- und Selbsterkenntnis des Menschen zum Schicksal werdende Begegnung mit dem Menschen Jesus der Ort dessen, das wir die letzte oder entscheidende Offenbarung genannt haben" ( L f § 7 3 . B . ) . 2. Versöhnung wird wirklich in der "Begegnung mit dem Menschen Jesus, so daß dem Menschen in ihr die Gottes- und Selbsterkenntnis unter den Frieden mit Gott gestellt wird" (Lf §76.B.). 3. Neuschöpfung geschieht als "Gemeinschaft mit Jesu Leben" (Lf § 79.B.). Mit solcher Form der Einbeziehung der Person Jesu von Nazareth in die Christologie - nämlich im Zusammenhang der Frage: wie werden Offenbarung, Versöhnung, Neuschöpfung wirklich? - ist zugleich gesetzt, daß die Bedeutung dieser Begriffe - wohlgemerkt: der Vollbegriffe - keineswegs dadurch konstituiert oder modifiziert wird, daß jene in der Begegnung mit Jesus von Nazareth ihre reale Entsprechung finden. Auch wenn die Ausdifferenzierung der christologischen Leitbegriffe durch Abgrenzung von "unterchristlichen" Vorstellungen, Angabe des generischen Merkmals sowie Unterscheidung von Vor- und Vollbegriff unzweifelhaft ein inhaltliches Gefälle zur christlichen Fassung aufweist, gilt es doch festzuhalten, daß sich die Einbeziehung dessen, wofür die Person Jesus von Nazareth steht, nicht im Rahmen dieser fortschreitenden Differenzierung der Leitbegriffe vollzieht, sondern ausschließlich im Zusammenhang des Wirklichwerdens des in den Begriffen beschriebenen Sachverhalts. Die Begriffe Offenbarung, Versöhnung und Neuschöpfung rein als Begriffe können gedanklich bestimmt werden unter Absehung davon, daß es die Begegnung mit dem Menschen Jesus ist, welche die darin ausgedrückten Sachverhalte für den Glauben wirklich macht. Die paradoxe Form der Verwirklichung von Offenbarung, Versöhnung und Neuschöpfung - bezieht m a n die eingangs erörterte Verneinung jeglicher An-sich-Bestimmtheit in das gerade Ausgeführte mit ein - besteht sonach darin, daß jene sich nur mit Bezug auf eine menschlich-geschichtliche

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Wirklichkeit zu realisieren vermögen, ohne in dieser als solcher sich j e repräsentieren zu können. Die eigentliche Sprengkraft des Begriffs der "Begegnung mit dem Menschen Jesus" liegt in der durch ihn zur Geltung gebrachten Struktur des Glaubens, allein in der unvollendbaren Schwebe von geschichtlicher Wahrnehmung und innerlicher Gewissenswahrheit sich vollziehen zu können. Wort und Geschichte Jesu sind nicht die Offenbarung Gottes, sondern der Ort des Offenbarwerdens Gottes für den Glauben. "Auch Jesus ist oder gibt keine Offenbarung Gottes an sich. Nur indem uns der lebendige Gott die Begegnung mit ihm zu seinem eignen gegenwärtig göttlichen, unsre menschliche Subjektivität bestimmenden Worte macht, wird es wahr, daß Gott in Jesus, seinem Wort und seiner Geschichte, offenbar ist" (Lf § 73.M.5.). Ahnliches gilt - wie ebenfalls bereits angeklungen - vom Versöhnungsbegriff (vgl. §76.M.3.). Da die christologischen Leitbegriffe streng auf ihre begriffliche Bestimmtheit hin konzipiert sind und als bloße Begriffe keinen Rekurs auf ihre mögliche Realisierung enthalten, liefern sie der Reflexion über die Bedeutung Jesu für den Glauben nur die Kategorien, ohne weder im engeren noch im weiteren Sinne unmittelbar christologische Prädikate zu sein. Die Einbeziehung der Person Jesus von Nazareth in die Thematik der christologischen Leitbegriffe erfolgt in der Weise, daß die Begegnung mit ihm als Menschen als der exemplarische Fall derjenigen Wirklichkeit verstanden wird, deren Denkbarkeit - ihrem Vollbegriff nach - zunächst ganz allgemein erörtert und problematisiert wurde. Also nicht nur der eigentümliche Status von Gewissens Wahrheit, sondern auch die Struktur der Begegnung verhindert jedwede Hypostasierung der christologischen Grundbegriffe: Sie finden ihre Anwendung auf eine bestimmte Form der Wahrnehmung von Wirklichkeit, nicht unmittelbar auf diese Wirklichkeit selbst. Ohne Zweifel wird dem Menschen Jesus, indem er zum Vehikel der Realisierung von Offenbarung, Versöhnung und Neuschöpfung wird, vom christlichen Glauben her eine nur im Glauben gekannte Exklusivität zuteil. Aber diese Exklusivität gründet nicht in der Unvergleichlichkeit der qualitativen Merkmale jener Leitbegriffe als solcher, sondern ausschließlich in deren Zuordnung zum Ort ihrer Realisierung. In der Begegnung mit Jesus werden sie zur erfahrbaren Wirklichkeit. Die religiöse Sonderstellung Jesu als des Mediums der Offenbarung, Versöhnung und Neuschöpfung Gottes verweist zurück auf den existentiellen Charakter geschichtlicher Begegnung und an ihr aufgehender Gewissens Wahrheit. Der rein gedankliche Gehalt jener Vollbegriffe verdankt sich ausschließlich der Analyse des Gottesverhältnisses nach den dabei in Frage kommenden strukturellen Gesichtspunkten. Insofern handelt es sich bei den christologischen Leitbegriffen ausschließlich um Leitbegriffe der christo-

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logischen Reflexion, keineswegs etwa u m dogmatische Abstraktionen aus vermeintlich objektiven Hoheitstiteln Jesu. Ihre Verwendung nach Analogie der Form gegenständlicher Prädikation würde im Hinblick auf die Bedeutung Jesu für den Glauben gerade den Sachverhalt zum Verschwinden bringen, daß es sich bei ihnen um Strukturbeschreibungen des je eigenen Gottesverhältnisses handelt, deren qualitativer Gehalt nur in der je eigenen Begegnung mit der menschlich-geschichtlichen Wirklichkeit seiner Person als Offenbarung, Versöhnung und Neuschöpfung als wirklich in Erscheinung tritt: an Jesu Wort und Geschichte geht mir ein neuer Sinn meines Gottesverhältnisses auf. Diese veränderte Bestimmtheit meines Gottesverhältnisses enthüllt sich nur vermittelst und in der Begegnung mit dem Menschen Jesus - und umgekehrt: der Gehalt dieser Begegnung geht auf in seiner Bestimmungsgrundfunktion hinsichtlich der Bestimmtheit meines Gottesverhältnisses. Damit entsteht aber das den weiteren Fortgang der christologischen Reflexion betreffende Problem: Wie verhalten sich die vom Glauben der Person Jesu übereigneten Hoheitstitel zu den Leitbegriffen der christologischen Reflexion?

d) Das Verhältnis zu den christologischen Hoheitstiteln Bevor die Frage der Konstruktion der Hoheitstitel beantwortet werden kann, ist in Erinnerung zu rufen, daß die christologischen Leitbegriffe - wie gezeigt - in sich eine Explikationskette darstellen: Was im Begriff der Offenbarung enthalten ist, wird in den Begriffen der Versöhnung und Neuschöpfung nurmehr näher entfaltet. Die interne Struktur dieses christologischen Reflexionszusammenhangs wird am Ende dieses Kapitels noch zu erörtern sein. Bereits hier jedoch ergibt sich, daß die einzelnen Hoheitstitel, die den Begriffen Offenbarung, Versöhnung und Neuschöpfung zugeordnet werden, ebenfalls eine Explikationskette darstellen müssen. Die drei Abschnitte über die Hoheitstitel Jesu sind somit keine koordinierten Lehrstücke. In der Abfolge "Sohn Gottes" - "Menschensohn" - "Herr" wird der im Begriff "Sohn Gottes" enthaltene Gehalt nur dialektisch fortbestimmt. Die Nahtstelle zwischen der Leitbegriffsproblematik und der Hoheitstitelproblematik bildet somit die Behandlung des Begriffs "Sohn Gottes" in § 74.B. Im Hinblick auf diesen Abschnitt stellen sich die beiden folgenden Fragen: 1. Kann der Hoheitstitel "Sohn Gottes" der Evangeliumsoffenbarung so zugeordnet werden, daß er mit innerer Folgerichtigkeit aus dem Kontext der Frage des Wirklichwerdens von Offenbarung hervorgeht?

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2. Kann der Hoheitstitel "Sohn Gottes" vom Begriff der Evangeliumsoffenbarung her so expliziert werden, daß in ihm die beiden anderen Hoheitstitel als Implikate mitgesetzt sind? Gehen wir zunächst der ersten Frage nach. Achtet m a n streng auf den Unterschied von Begriffsinhalt und Geschehen des durch den Begriff bezeichneten Sachverhalts und berücksichtigt man, daß Gewissenswahrheit sich nur auf der Grundlage von Sach- und Sinnwahrheit zu erschließen vermag, dann ergibt sich das Wirklichwerden von Offenbarung nur in der Weise, daß die Begegnung mit einer menschlich-geschichtlichen Lebenswirklichkeit im Vollzug ethisch-religiöser Selbsterkenntnis zur Gottesfrage wird. Gott wird in der Weise offenbar, daß in der geschichtlichen Begegnung eines Menschen mit einem anderen Menschen dessen Gottesverhältnis jenem z u m Bestimmungsgrund seines Gewissens wird. Wie beschreibt Hirsch nun die Begegnung mit dem Menschen Jesus und das Erkennen des göttlichen Wesens und Willens in dieser Begegnung? Hirsch sagt: "Wir lernen Jesus menschlich kennen ... : als den Lehrer des Evangeliums ... und als den Zeugen des Evangeliums" (Lf § 74.B.). Auf diese beiden Momente noch rein geschichtlich nachverstehenden Gewahrwerdens b a u t die eigentliche Begegnung auf, welche sich dann ereignet, "wenn wir seine Art des Menschseins in und vor Gott erkennen als eine uns sich schenkende neue Lebenswirklichkeit" (ebd.). Dieses innere Getroffensein im Grundverhältnis des Gewissens ist dadurch gekennzeichnet, daß es "uns ewig in Gottes Liebe birgt" (ebd.). Die Erfahrung des Zuteilwerdens seiner Gemeinschaft mit Gott ist es, die allein den Glauben veranlaßt, Jesus den Sohn Gottes zu nennen. Dieses Prädikat ist, bezieht man es auf das religionsgeschichtlich Wesentliche seines Gottesverhältnisses, Ausdruck dafür, daß er, "indem er ganz Mensch wie wir war, anders als wir mit Ursprünglichkeit als der vom Gesetze Freie, ganz von Gottes Liebe Umfangne das Menschsein unter dem Gesetz des Lebens erfuhr" (ebd.). Jesu Gottessohnschaft ist unmittelbare, d.h. von der Vergesetzlichung des Gottesverhältnisses vollkommen freie, Gemeinschaft mit Gott. "Es ist von Jesus ausgesagt, daß sein ihm mit uns gemeinsames Menschsein unter dem Gesetz des Lebens mit Ursprünglichkeit in einem Sein in der Liebe Gottes geborgen gewesen sei, welches das mit diesem Gesetz gegebne Gottesverhältnis aufhebt" (Lf § 74.M.6.). Diese Paradoxie der Bestimmtheit der Person Jesu, das Zugleich von Dasein unter dem Gesetz und Freiheit vom Gesetz, ist für Hirsch dem Kernproblem der traditionellen Zwei-Naturen-Lehre, nämlich der Denkbarkeit der wahren Menschheit Christi, systematisch durchaus äquivalent. 3 4 Sie ist d a r u m zugleich die Grundparadoxie des Hoheitstitels "Sohn Gottes". 34

Vgl. Lf S 7 4 . M . 6 .

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Was sind nun die Gründe dafür, jene Antinomie gerade vermittelst des Hoheitstitels "Sohn Gottes" zu identifizieren? Jesus ist Lehrer und Zeuge des Evangeliums in dem Sinne, daß er den Inhalt seiner Verkündigung durch sein eigenes Leben bestätigt. Mit beidem wird er aber dem Glauben noch nicht zur Evangeliumsoffenbarung. Zu einer solchen, das Gewissen verwandelnden Offenbarung wird die Bekanntschaft mit ihm allererst dort, wo jene zunächst rein "geschichtliche Begegnung zur existentiellen werden will" (ChR II, 23). Denn damit geht das Sinnverstehen von Jesu Wort und Geschichte über in ein "Betroffenwerden im eignen sich Vernehmen vor Gott". Die zunächst erfolgende bloße Vertiefung des eigenen Gottesverhältnisses, das "Ahnen des Evangeliums", wird genau dann zur "verwandelnden Offenbarung", wenn ein Mensch "Jesu Erkenntnis des Vaters zum eignen Lebensgrund empfängt". Nur sofern sich solche das Gewissen verwandelnde Offenbarung 3 5 tatsächlich ereignet, wird "Jesus der Lehrer und Zeuge als Jesus der Sohn Gottes erkannt" (ebd.). Damit ist zugleich der Zusammenhang dieses Hoheitstitels mit der Evangeliumsoffenbarung gegeben: In der Prädikation Jesu als "Sohn Gottes" vollzieht sich die in je eigener Gewissenserkenntnis gegründete Anerkennung der Hoheit des Menschen Jesus, aus seinem Gottesverhältnis heraus anderen Menschen Gott so vernehmlich zu machen, wie er ihn kannte. Der Begriff der Gottessohnschaft Jesu ist dem ihm "in Gleichzeitigkeit Begegnenden" ein "Ausdruck der eigentümlichen, von ihm im Glauben erfahrenen Vollmacht" (ebd.). Wenden wir uns nun der zweiten Frage zu, inwiefern in diesem ersten Hoheitstitel auch die den beiden anderen Leitbegriffen korrespondierenden Hoheitstitel impliziert sind. Was zunächst die christologische Kennzeichnung "Menschensohn" angeht, so entwickelt Hirsch sie unter expliziter Voraussetzung des ersten Hoheitstitels, nämlich als Bezeichnung eines Momentes am Gottesverhältnis Jesu, welches dem Glauben durch die Begegnung mit ihm als Menschen in der Weise gegenwärtig wird, daß es das eigene Sichvernehmen vor Gott von Grund auf bestimmt. Der dem Leitbegriff "Versöhnung" korrespondierende Menschensohntitel drückt genau diejenige Erfahrung des Glaubens aus, daß in der Person Jesu ein Mensch begegnet, "der die Gewalt des richtenden göttlichen Nein ... bis in den Grund zu schmecken bekommt", der aber gleichwohl "eben d e m Gotte, der ihm dies als sein Leben gibt, als der ihn kennenden und tra35

Der Begriff der "verwandelnden Offenbarung" ist dem der "vertiefenden Offenbarung" entgegengesetzt (vgl. Lf § 73.B.; § 74.A.; ChR II, 20f). Hirsch hat das Stufenverhältnis zwischen "Vertiefung" durch das Gesetz und "Verwandlung" durch das Evangelium nach Analogie von Kierkegaards subjektivitätstheoretischem Modell der "Lebensstadien" gebildet (vgl. ChR II, 14).

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genden Vatergüte in Anbetung und Gehorsam übergeben" ist und ganz "in der Verborgenheit göttlicher Gnade" (Lf § 77.B.) lebt. Mit einem solchen Leben im Frieden des Versöhnungsglaubens kommt es ihm zugleich zu, diesen auch "den vielen aufzuschließen" (ebd.). "Er steht mit seinem in Frieden dem Vater Ubergebensein den andern so offen, daß er ihnen zur Speise wird" (ebd.). Vermöge der Gemeinsamkeit des Erlebens des göttlichen " J a unter dem Nein" entsteht dem, der diese Erfahrung m a c h t , eine unbegreifliche "Nähe des Menschen Jesus zu seinem eignen sich vor und in Gott Finden" (ebd.). Im Bekenntnis zu Jesus als dem Menschensohn artikuliert sich die Erfahrung seiner Person als des Urhebers und Modells 3 6 des eigenen Versöhnungsglaubens. "Wenn wir Jesus den Menschensohn nennen, so denken wir dabei daran, wie sich im Geheimnis seines Verhältnisses zum Vater vollkommen wehrlose, in echter menschlicher Bedürftigkeit geschehende Hingegebenheit an Gott unter Anfechtung und Tod und die Gnade des ganzen Einsseins mit dem sich den Menschen zur Gemeinschaft aufschließenden göttlichen Friedenswillen zu einem einzigen Akte des Glaubens und der Anbetung verbinden; und wir erkennen damit in ihm das mit lebendiger Vollmacht vor uns stehende Bild jenes wahrhaftigen und vollendeten Menschseins in Gott, dazu wir selber bestimmt sind" (Lf §77.B.). Der Hoheitstitel "Menschensohn" wird sonach in eben demselben Sinne aus dem Hoheitstitel "Sohn Gottes" entwickelt, wie der Versöhnungsbegriff aus dem Offenbarungsbegriff hervorgeht. Indem der Glaube schließlich Jesus als den "Herrn" bekennt, spricht er aus, was ihm durch Gottes Neuschöpfung zuteil wird: "ganze und ewige" Neuschöpfung besteht darin, daß dem Glauben ein verborgenes Leben eröffnet wird, "das Gotte in seinem Töten als dem Lebendigmachenden geöffnet ist" (Lf §80.Α.). Dieses Geheimnis erkennt der Glaube im Menschen Jesus: Seine Sohnschaft, die innere Übereinstimmung seines Willens mit Gott, lebt er gerade in seinem irdischen Dasein. Als Menschensohn, in der Hingabe seines Friedens mit Gott an die vielen, erweist er sich als schlechthin gut. "Das Unausdenkliche darin ist, daß hier die das allgemein menschliche Dasein zwingende Koppelung zersprengt ist" (Lf §80.B.), nämlich die "Koppelung des Gegensatzes von Gut u n d Böse mit dem Lebenswillen" (Lf §80.Α.). In diesem Sinne bezeichnet der Glaube Jesus als den "Herrn über Leben und Tod" (Lf §80.B.). Als "Herr unsrer Innerlichkeit" wird Jesus erfahren, sofern Gottes sich Offenbaren, mit sich Versöhnen und Erschaffen des neuen Menschen in der gläubigen Begegnung mit ihm und nicht in der "Selbstmächtigkeit" des Gewissens seinen Ursprung hat. Im Glauben an Jesus als den Herrn 36

Vgl. ChR I, 59: "Urbild" und "Spender". Dieses auf Schleiermacher zurückgehende Schema kann geradezu als das klassische Strukturprinzip neuzeitlicher Christologie verstanden werden.

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vollzieht sich die ewige Bestimmung des Menschen: "indem der ewige Gott selbst uns in unserm Gewissen zu diesem Menschsein beruft, macht er den Menschen Jesus zu unserm Herrn, der mit seiner Lebenswirklichkeit als das vollmächtig in der Innerlichkeit uns bestimmende Urbild des Menschseins unser Leben bei Gott und mit den andern formt und hält" (ebd.). In der Erfahrung Jesu als des Herrn der Innerlichkeit tritt in besonderer Weise zutage, was auch für die beiden anderen Bestimmungen gilt, daß nämlich alle Hoheitstitel Jesu nichts anderes sind als unvollkommene Versuche, der Einheit seiner Tätigkeit und Würde - wie Schleiermacher sich ausdrückte - einen begrifflichen Ausdruck zu verleihen. Die Ubereignung sämtlicher Hoheitstitel an Jesus entspringt offenkundig der Ostererfahrung des Glaubens. Sie sind Ausdruck des Bewußtseins der ewigen Gegenwart seiner Person. Aber ebenso offenkundig geworden ist, daß keiner der drei Hoheitstitel christologisch gedacht werden kann ohne Rekurs auf die eigentümliche Bestimmtheit des Gottesverhältnisses des Menschen Jesus, wie es in seinem Wort und seiner Geschichte zutage tritt.

e) Die gnadenhafte Gleichzeitigkeit des Glaubens mit Jesus Wenn die Begegnung mit dem Menschen Jesus von Nazareth Ort der Offenbarung Gottes für den Glauben ist und diese als vollendete Offenbarung inhaltlich die Überwindung der Gesetzesoffenbarung bedeutet, dann ergibt sich im Hinblick auf die durch Jesus vermittelte Erkenntnis der Offenbarung Gottes folgende Paradoxie: Sofern jene Begegnung mit Jesus Begegnung mit menschlich-geschichtlicher Wirklichkeit ist, steht sie unter den allgemeinen Bedingungen der Wirklichkeit von Leben, und damit auch unter der Gesetzesoffenbarung. Ihrem Gehalt nach ist sie aber Evangeliumsoffenbarung, und das heißt: Befreiung vom Gesetz. Die Frage muß darum lauten: Wie kann die Evangeliumsoffenbarung, die ihrem Gehalt nach Überwindung von Gesetzesoffenbarung darstellt, zugleich an einem geschichtlichen Ort manifest werden? Das Offenbarwerden Gottes in Jesus kann nur in Form einer Begegnung mit dem Menschen Jesus geschehen, in der sich Gottes Wesen und Wille erschließt, und diese Begegnung vollzieht sich unter den hermeneutischen Bedingungen geschichtlichen Verstehens. Diese geschichtliche Begegnung wird von Hirsch - wie Kap. II.B.5 gezeigt hat - als ein Gleichzeitigwerden mit Jesus expliziert. Daneben gibt es für Hirsch aber auch noch eine gnadenhafte Gleichzeitigkeit mit Jesus. Sie ist wohlbemerkt "kein Ersatz, keine Korrektur dieses menschlichen Kennens, sondern allein ein in diesem menschlichen Kennen und Gegenwärtighaben von Gott her aufleuch-

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tender ewiger Sinn" (Lf § 16.Μ.1). Diese gnadenhafte Gleichzeitigkeit bedeutet eine inhaltliche Qualifizierung der humanen Gleichzeitigkeitserfahrung. Gemäß der letzteren verbleibt Jesus in völliger Unkenntlichkeit hinsichtlich seiner allein im Glauben erkannten Vollmacht, das Gottesverhältnis der ihn Vernehmenden zu bestimmen. Immerhin bringt jene h u m a n e Gleichzeitigkeit "uns ein Vergangenes als ein geheimnisvoll Personhaftes nahe, und so wird der geschichtliche Jesus uns mit dem Letzten, Innersten in ihm durch alles Befremden hindurch Medium der die Glaubensfrage erweckenden Gegenwart des Ewigen und Heiligen selber" (WG1 122). Die auf dem Wege der hermeneutischen Gleichzeitigkeit zuteil werdende Erfahrung der gnadenhaften Gleichzeitigkeit besteht nun darin, daß "Jesus uns in der verborgenen Sinntiefe seiner persönlichen Geschichte mit Gott gegenwärtig wird und dadurch die Gewißheit der göttlichen Vaterliebe zum Grunde unsere Personseins macht" (WG1 121; Hhg.v.Vf.). Die gnadenhafte Gleichzeitigkeit geht über die menschlich-geschichtliche also insofern hinaus, als unter der Form der Begegnung mit dem Gottesverhältnis eines andern Menschen die eigene Gegründetheit in Gott erfahren wird. In der Begegnung mit dem Menschen Jesus wird Gott dann offenbar, wenn "man Jesu Erkenntnis des Vaters zum eignen Lebensgrund empfängt" (ChR II, 23; Hhg.v.Vf.). Das qualitative Spezifikum der gnadenhaften Gleichzeitigkeit besteht sonach in dem je eigenen Gewißwerden des In-Gott-Gegründetseins im Durchgang durch die geschichtliche Begegnung mit dem Gottesverhältnis eines anderen Menschen. Bedingung der Möglichkeit solchen gnadenhaften Gleichzeitigwerdens - und damit tritt eine zirkuläre Struktur in den Begriff - ist der bereits erörterte Sachverhalt, daß im Offenbarsein Gottes Wahrheit erschlossen ist. Dieser Zusammenhang ist folgendermaßen zu denken: Wahrheit ist immer nur als je gegenwärtige erschlossen. Dies gilt auch für die Selbstoffenbarung Gottes, in der sich unbedingte Wahrheit erschließt. "Daß Gott sich offenbart, das heißt, daß er gegenwärtig da ist und redet. Offenbarung ist also ein schlechthin präsentischer Begriff" (Offgl 26). Das Merkmal eines schlechthin präsentischen Begriffs kommt dem Offenbarungsbegriff also nur d a r u m zu, weil, erstens, Offenbarung ihrem Begriff nach als Erschlossenheit von Wahrheit bestimmt ist und, zweitens, Wahrheit immer nur je aktuell evident zu werden vermag. Unter diesen präsentischen Offenbarungsbegriff fällt nun auch die in der geschichtlichen Begegnung mit dem Menschen Jesus sich vollziehende Mitteilung seines Gottesverhältnisses: "Geschichtliche Offenbarung Gottes in Jesus Christus, - das bezeichnet das Unerhörte, daß ein geschichtlicher Vergangenheit zugehöriger Mensch mir das an mich ergehende lebendige Gotteswort wird" (Offgl 26f). Die gnadenhafte Gleichzeitigkeit

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mit Jesus hat ihren Ermöglichungsgrund sonach darin, daß im Gewahrwerden des Gottesverhältnisses Jesu unbedingte Wahrheit aktuell evident zu werden vermag. Wendet man diesen Begriff der gnadenhaften Gleichzeitigkeit nun auf die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium an, dann ergibt sich: Indem einem Menschen in Form der Begegnung mit der Person Jesu von Nazareth dessen ewige Gegründetheit in Gott als die wahre Bestimmtheit nicht nur seines, sondern auch des eigenen Gottesverhältnisses aktuell evident wird, entsteht eine von den allgemeinen Bedingungen der Lebenswirklichkeit, die ihrer aporetischen Struktur wegen eine solche Gegründetheit gerade ausschließen, nicht tangierte "Nähe des Menschen Jesus zu seinem eignen sich vor und in Gott Finden" (Lf §77.B.). Und umgekehrt: Indem mir an Jesus mein Gottesverhältnis als durch die Evangeliumsoffenbarung bestimmtes aufgeht, wird die Erfahrung der gnadenhaften Gleichzeitigkeit mit ihm zugleich zur Befreiung vom Gesetz. Durch die gnadenhafte Gleichzeitigkeit des Glaubens mit Jesus wird also nicht nur das eigene Gottesverhältnis der alles unter die Bedingungen des geschichtlichen Daseins zwingenden Gewalt des Gesetzes entzogen. Diese Freiheit betrifft vielmehr auch die geschichtliche Vermittlung der sie konstituierenden Offenbarung selber: "jede dabei entstehende Knechtung unter ein Irdisches, als wäre es das Ewige und Göttliche selbst, wäre Verdunklung und Grenze der Offenbarung" (Lf §73.Α.). Und dies bedeutet zweierlei: Erstens, das religiöse Verhältnis zu Jesus tritt in und mit der Erfahrung seines Herr-Seins unter die Freiheit des Evangeliumsglaubens. Die Begegnung mit Jesus ist "nicht knechtisch gemeint: mit welcher Gewalt sie auch einen Menschen bestimme, sie will dem Menschen nichts als der Weg sein, dem Vater mit dem eignen Herzen und in dem eignen Leben zu gehören" (WCh 37). Wie das Gottesverhältnis unter der Evangeliumsoffenbarung überhaupt schließt auch die Herrschaft Jesu über das Gewissen jede Vergesetzlichung aus. Die in der gnadenhaften Gleichzeitigkeit zuteilwerdende Befreiung betrifft, zweitens, aber auch die historisch kontingente Gestalt, in der das Evangelium in Wort und Geschichte Jesu erschienen ist. Sie erstreckt sich auf alles an ihm, was den Bedingungen allgemein-menschlicher Verfaßtheit unterliegt und insofern Gesetz ist. Ist Jesus dem christlichen Glauben der schlechthinnige Zerbrecher jeder Form von Gesetzesreligion, so impliziert dies "die Freiheit sowohl von dem an Jesus selbst, was als Satzung verstanden werden kann, wie von dem, was Satzung in der religiösen Gemeinschaft ist, die sich auf Jesu Namen beruft" (WCh 38). "Wer ihn ... selber zu einem Gesetze macht, schließt sich gegen das ab, was er ist" ( W C h 37). Der Rückgang auf den historischen Jesus als Norm der Christusfrömmigkeit

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und Christologie bedeutet somit alles andere als die Aufrichtung einer gesetzlichen Jesulogie, und zwar deshalb, weil das sich hier erschließende und mitteilende Gottesverhältnis seinem eigensten Wesen nach jede endliche Verdinglichung ausschließt. Das der geschichtlichen Begegnung mit dem Menschen Jesus entspringende gnadenhafte Gleichzeitigwerden mit ihm bringt Hirsch schließlich auf den Begriff der Teilhabe am Gottesverhältnis Jesu. 3 7 Jene Gleichzeitigkeit mit ihm stellt insofern eine Mitteilung seines Gottesverhältnisses dar, als dieses nun zum realen Bestimmungsgrund des je eigenen, sich durchsichtigen in Gott Gegründetseins wird. Die Teilhabe an Jesu Gottesverhältnis ist ein "Sein in dem Geheimnis Gottes" (Lf §81), sofern sie den Ewigkeitsgrund menschlichen Lebens gegenwärtig macht. Sie ist sodann ein "Sein in der Wahrheit Gottes" (Lf § 75), sofern sie die vollendete Wahrhaftigkeit des Menschseins bewirkt. Und sie ist schließlich ein "Sein in der Freiheit Gottes" (Lf § 78), sofern die Uberwindung von Gottesferne und Zwiespalt mit sich ein von Selbstbehauptung befreites Mitsein heraufführt.

3. Die theoretische S t r u k t u r der Christologie a) Gesetz und Evangelium in der Luther-Deutung Hirschs Wie Hirschs frühe Entfaltung der Christologie hat auch deren reife Durchführung ihren exklusiven Orientierungsrahmen in der Theologie Luthers. War für jene - im Gegensatz zur Luther-Deutung Holls - ein strikt christologisches Verständnis der Rechtfertigungslehre leitend, so ist für die Spätfassung die Anwendung der Rechtfertigungslehre in Gestalt der schlechterdings normativen Unterscheidung von Gesetz und Evangelium signifikant. Angesichts der kategorialen Bestimmungsfunktion dieses Begriffspaares für die Christologie des "Leitfadens" ist es unumgänglich, Hirschs späte Luther-Deutung als problemgeschichtlichen Hintergrund heranzuziehen. In der Theologiegeschichte unseres Jahrhunderts ist der Vorschlag gemacht worden, Luthers Unterscheidung von Gesetz und Evangelium umzukehren.38 Man hat gemeint, diese Unterscheidung zweier Weisen des 37 38

Zu Hirschs christologischem Begriff der Teilhabe vgl. Lf § 74.B; § 78.A. Vgl. auch den Begriff des Zuteilwerdens Lf § 75.A.; § 80.B. und den Begriff des Teilgewinnens Lf § 77.B. Vgl. dazu den 1935 erschienenen Aufsatz von K. BARTH: Evangelium und Gesetz; vgl. auch KD 11,2 §36.1 (S. 564-603).

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Offenbarseins Gottes ermangle ihres zureichenden Grundes, weil weder das Einheitsprinzip noch das Differenzprinzip jener Duplizität - aber vor allem letzteres - als sachlich notwendig ausgewiesen sei. 39 Diese Korrekturen oder Einwände wurden als "christologische" Uberbietung Luthers vorgebracht. Wie ist nach Hirsch das Verhältnis von Gesetz und Evangelium bei Luther bestimmt? Hirsch h a t t e in seinem frühen Aufsatz "Initium theologiae Lutheri" (1920) daraufhingewiesen, daß Ps 4,4 "Scitote quoniam mirificavit dominus Sanctum suum" von Luthers zweiter Erklärung dieses Verses an "ihm der Schlüssel zur Theologia crucis geworden ist" (LSt II, 24 Anm. 2). Diesem Hinweis ist Erich Vogelsang in seiner Dissertation nachgegangen. 4 0 Das Ergebnis dieser Nachforschungen läßt sich in seiner Bedeutung für das Gesamtverständnis der Theologie Luthers kaum überschätzen. Vogelsang unterscheidet innerhalb der ersten Psalmenvorlesung bezüglich der Deutung des "mirificavit" (bzw. "mirabilis") in Ps 4,4 mehrere Auslegungsschichten. 4 1 Deren ausgereifte Gestalt zeichnet sich dadurch aus, daß zur tropologischen Deutung jenes Begriffs die für Luther schlechterdings grundlegend gewordene, aus Jes 28,21 gewonnene Unterscheidung des opus Dei in ein opus proprium und ein opus alienum herangezogen wird, wobei dieser hermeneutische Schlüssel durch den Verweis auf den leidenden und gekreuzigten Christus gerechtfertigt wird. Luther hat den Sachverhalt, daß Gottes wahrer Wille nur als ein heimliches J a hinter dem erscheinenden Nein offenbar werden will, daß seine Barmherzigkeit somit nur durch sein Strafgericht hindurch als in ihm konträr verborgen, aber final intendiert erkannt werden kann, am Kreuz Jesu selber abgelesen. Die Bedeutung dieser christologischen Begründung des opus alienum faßt Vogelsang folgendermaßen zusammen: "Die tiefste, wundersame Einheit von Gottes heiligem Zorn und heiligender Liebe wird im Kreuz Christi offenbar. Das Wunder der unbedingten göttlichen Liebe verbirgt sich unter dem wahrhaftigen Ernst des Gerichtes. ... Liebe und Zorn widersprechen sich nicht, schwächen nicht einander ab, wirken nicht neben oder nacheinander, sondern der strafende Zorn des Vaters steht im Dienst der Liebe.... Dieses 'opus alienum', dieses wunderliche Werk Gottes ist allein in Christi Kreuz offenbar und wird allein durch das Wort vom Kreuz, durch den Glauben an den Gekreuzigten an dem einzelnen Menschen Wirklichkeit....

39

40 41

Auf diese logische Form hat H.-G. GEYER das Problem gebracht in seinem brillianten Vortrag auf der Leuenberger Barth-Tagung 1983 über "Recht und Frieden - Anfragen Barths an Luther". Uber Hirschs Verhältnis zu Vogelsang vgl. oben Kap. I.A.3. E. VOGELSANG: Die Anfange von Luthers Christologie, 100-103.

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Der Gekreuzigte selbst ist die Quelle der Gewißheit und Wahrheit des Gerichtes zur Gerechtigkeit, des Todes z u m Leben". 4 2 Vogelsang konnte zeigen, daß diese christologische Begründung des opus alienum bei Luther keineswegs auf die erste Psalmenvorlesung beschränkt ist, sondern daß sie auch für dessen weitere theologische Entwicklung grundlegend geblieben ist. Sie begegnet wieder in der Römerbriefvorlesung, in der Predigt am Thomastag 1516, in der Hebräerbriefvorlesung, in der Heidelberger Disputation, in den Resolutionen zu den Ablaßthesen, in den Operationes in psalmos und in der Jesajavorlesung von 1527-1530. 43 Man geht nun kaum zu weit, wenn m a n behauptet, daß jene durch die Verschränkung von opus proprium und opus alienum geprägte Christusanschauung Luthers und das von daher sich abzeichnende Gesamtbild von Wort und Geschichte Jesu den zentralen Orientierungspunkt der Christologie Hirschs bilden. Das nachfolgende - bereits oben anläßlich der Darstellung des Menschensohn-Titels im Kontext des Versöhnungsbegriffs herangezogene - Zitat belegt, daß Hirschs Christusbild bestimmt ist von der Einsicht, daß kein Geringeres als Jesu Gottesverhältnis selber die Einheit und Differenz und damit den Gültigkeitsgrund der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium repräsentiert. Jesus ist derjenige Mensch, "der die Gewalt des richtenden göttlichen Nein in seinem sich Vernehmen vor Gott bis in den Grund zu schmecken bekommt, dem ein Tod im Geschuldigt- und Angefochtensein bereitet ist; aber dieser Mensch ist eben dem Gotte, der ihm dies als sein Leben gibt, als der ihn kennenden und tragenden Vatergüte in Anbetung und Gehorsam übergeben: er lebt u n d atmet in der Verborgenheit göttlicher Gnade" (Lf §77.B.). Vor dem Hintergrund dieser christologischen Begründung des Gedankens des opus alienum ist auch Hirschs Deutung des Verhältnisses von Gesetz und Evangelium zu sehen, wie er sie im Zusammenhang der Klärung des Verhältnisses von Glauben und Gewissen vorgelegt hat. Die "Lutherstudien" führen hierzu aus: "Besonders der GalKomm. von 1531 hat durch die Energie, mit der er in der Dialektik von Glaube und Gewissen die Seite des contra conscientiam (nämlich contra conscientiam soweit dies Herold des Gesetzes ist) zur Geltung bringt, in der neueren Theologie gelegentlich zu Mißdeutungen Luthers in der Richtung geführt, als ob Glaube im Sinne Luthers Zerstörung der Gewissensreligion wäre. Allen solchen Mißdeutungen könnten viele hunderte von Stellen auch aus Luthers späterer Zeit entgegengehalten werden. Der eigentliche Fehler ist aber nicht der, daß diese Theologen Luther nicht hinreichend gelesen haben, sondern der, 42 43

A.a.O. 98-100. Vgl. E. VOGELSANG: Der angefochtene Christus bei Luther, 60 Anm. 33.

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daß sie die Dialektik des Gewissens bei Luther nicht tief und umfassend genug durchdacht haben" (LSt I, 157 Anm. 2). Wie beurteilt nun Hirsch selbst diesen Sachverhalt? Seine These lautet: Die Erfahrung des Gewissens mit Gott kann nur verstanden werden im Horizont einer in sich dialektischen Einheit von Glauben und Gewissen, deren Bestimmtheit durch die Duplizität des Wortes Gottes konstituiert wird. Das Wort Gottes legt sich nach Luther aus in der Zwiefachheit von Gesetz und Evangelium. Diese Duplizität stellt - von ihrer christologischen Begründung her betrachtet - keinen Dualismus dar, sondern eine dialektische Einheit. Genau diese Struktur ist es, welche jene konträren Erfahrungen des Gewissens, wie sie dem Vernehmen des duplizitären Wortes entspringen, vermittelt: "der antithetischen Durchspannung, die die Gewissenserfahrung aus dem Verhältnis beider zueinander gewinnt, liegt ein zugleich wunderlicher wie in sich klarer und zielgerechter lebendiger göttlicher Wille zugrunde" (LSt I, 157). Wie sich aus dieser Verankerung der konträren Gewissenserfahrungen in der dialektischen Einheit des Wortes eine gleichfalls dialektische Einheit von Glauben und Gewissen ergibt, zeigt Hirsch nun in der Weise, daß er beide Klassen von Gewissenserfahrung dem der Relation von geistlichem Brauch des Gesetzes und Evangelium korrespondierenden Verhältnis von opus alienum und opus proprium zuordnet. "Das Erste, was Gott an diesem Gewissen t u t , ist, daß er es bereitet zur ganzen wahrhaftigen Klarheit über den Widerspruch zu Gottes Leben, darin der Mensch nach seiner mitgebornen Art gefangenliegt, und über die Unmacht, sich selbst das Leben nach göttlicher Art in Wahrheit und Gerechtigkeit und G ü t e zu geben oder zu machen.... Wenn er einen Menschen diese tiefe Erschütterung erfahren läßt ..., dann hat er ihm heimlich schon vergeben .... Es ist also in dieser Erschütterung Wahrheit und Unwahrheit zugleich: der wahrhaftige Grund alles im Gewissen stehenden Gottesverhältnisses ist gefunden, aber Gottes wahre Meinung und letzter Wille mit dem Menschen sind verkannt. Die gehen dem Menschen erst dann auf, wenn Gott sein zweites ... Werk t u t , d.h. den Menschen das Evangelium durch seinen Geist so vernehmen und ergreifen läßt, daß das in sich erschütterte, in sich keinen Lebensgrund mehr habende Gewissen im Glauben den Frieden und damit neue Lebensmöglichkeiten empfängt Die entscheidende Wendung, die das Gewissen unter eine andre neue, es befreiende Macht stellt, ist danach die, daß es im Glauben an das Evangelium Gottes Handeln mit ihm wahrer und tiefer verstehen lernt, als es das zuvor unter dem Gesetze t a t " (LSt I, 158-160). Im Durchgang des Gewissens durch solche Kontrasterfahrung erweist sich das Wort Gottes als alleiniger Vermittlungsgrund jener und damit zu-

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gleich als Einheitsgrund seiner selbst. "Die letzte sinngebende Einheit des menschlichen Herzens enthüllt sich im Glauben als außerhalb der menschlich einsichtigen Selbstbestimmung, als im verborgnen göttlichen Lebensgrunde liegend". Für den formalen Stellenwert des Gewissens als des Ortes dieser Erfahrung folgt daraus: Es "verliert in der Tiefenschicht ganz den Charakter eines Urmaßes, einer Norm" (LSt I, 161). Von hier aus gesehen ist die Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis von Glauben und Gewissen grundsätzlich davon abhängig, ob entweder von dem unter dem Gesetz stehenden Gewissen die Rede ist, oder von der Funktion des Gewissens im Lichte der Evangeliumsoffenbarung. Wenn die Einheit der Gewissenserfahrung ausschließlich im Gottesbild des Evangeliums gründet und wenn dieses allein vom Glauben erkannt wird, dann "kann es nicht anders sein, als daß von dem unter dem Gesetz stehenden Gewissen her diese Einheit beider Gewissenserfahrungen nicht gesehen und nicht verstanden wird" (LSt I, 162). Umgekehrt, sofern das Gesetz "erst da zu seinem wahren Sinn und seiner wahren Ehre kommt, wo es durch das Evangelium seiner Herrschgewalt über das Gewissen entsetzt wird" (LSt I, 163), bedeutet der Glaube an das Evangelium keine völlige Beseitigung jener Gewissenserfahrung unter dem Gesetz; "in diesem Glauben ist Gottes Handeln unter dem Gesetze nicht verneint, sondern mitumfaßt als Wegbereitung des Evangeliums" (LSt I, 160). Der Glaube als das Vernehmen des Evangeliums im Gewissen umgreift sonach auch die Gewissenserfahrung unter dem Gesetz. Im Glauben an das Evangelium ist das unter dem Gesetz stehende Gewissen mitgesetzt. "Daher stellt sich im Glauben eine Einheit des Gewissens unter beiden Erfahrungen her, die Einheit des Erleidens des Umgangs mit einem wunderlichen und geheimnisvollen, aber gütigen lebendigen Herrn, der sich dem Gewissen nur durch eine spannungsschwere Geschichte hindurch nach seinem wahren Wesen und Wollen erschließen kann und will" (LSt I, 160). Die Einheit der Gewissenserfahrung mit Gott gründet in der dialektischen Synthesis des Glaubens. Diese Einheitsstiftungsfunktion des Glaubens resultiert aber keineswegs aus dessen epistemischer Verfaßtheit, sondern vielmehr aus seiner inhaltlichen Bezogenheit auf die Evangeliumsoffenbarung. Hirsch faßt die in Luthers Theologie vorliegende dialektische Einheit von Glaube und Gewissen darum folgendermaßen zusammen: Legt man die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium zugrunde, dann "ist es allein das dem Gewissen aufgehende Gottesbild des Evangeliums, von dem aus sich die Einheit von Glaube und Gewissen herstellt. In ihr ist das Gewissen der empfangende Teil: es wird über den Kreisgang hinausgehoben, in dem es sich ohne den Glauben abtreiben muß. Aber eben damit, daß ihm dies geschieht, ist es das in Wahrhaftigkeit zu sich selbst befreite, in sich selbst einkehrende" (LSt I, 164).

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Im Glauben an das Evangelium ist das Gewissen als humaner Ort der Gottesbeziehung immer schon vorausgesetzt; denn der Glaube an das Evangelium vermag nicht unmittelbar aufzutreten. Er bedarf dieser "Auffangform", u m wirklich zu werden. Auf der anderen Seite ist aber das Gewissen kein gegenüber dem Vernehmen des Wortes indifferentes, transzendentales Vermögen; denn es wird, obzwar in der Gesetzesoffenbarung als epistemische Instanz der Gottes- und Selbsterkenntnis vorausgesetzt, durch den zweiten Brauch des Gesetzes in sich vollständig zerrieben und nur in dieser negativen Gestalt von der Evangeliumsoffenbarung bestätigt. Wie die Gesetzesoffenbarung durch die Evangeliumsoffenbarung nicht vollständig negiert wird, sondern nur nach ihrer Unwahrheit, so wird auch das unter dem Gesetz gefangene Gewissen durch den Glauben an das Evangelium nicht vollständig beseitigt, sondern nur nach seiner von Gott entzweienden Unwahrheit. Der dialektischen Einheit von Gesetz und Evangelium korrespondiert die dialektische Einheit von Gewissen und Glauben. Beiden gemeinsam ist die Struktur der Aufhebung. Wie das Gesetz in das Evangelium aufgehoben ist, so das Gewissen in den Glauben. Zwischen beiden Aufhebungsformen besteht aber offenkundig ein argumentatives Gefalle: Die Aufhebung des Gesetzes in das Evangelium geht der Aufhebung des Gewissens in den Glauben sachlich voraus und bedingt sie insofern auch formal. Der oben referierte Einwand gegen Luthers Unterscheidung von Gesetz und Evangelium erweist sich aus der Perspektive der Luther-Deutung Hirschs somit als abgründiges Mißverständnis der Christologie und Rechtfertigungslehre Luthers. Denn die christologische Begründung des Gedankens des opus alienum besagt, daß die Art und Weise, in der Jesus das göttliche Handeln an seiner Person erfahren hat, der dialektischen Duplizität des Offenbarseins Gottes schlechterdings äquivalent ist. Das Gottesverhältnis des Menschen Jesus selbst war für Luther das Prinzip sowohl der Einheit als auch der Differenz von Gesetz und Evangelium. Und die zwischen Gesetz und Evangelium sowie Gewissen und Glaube waltende Aufhebungsstruktur bedeutet gerade keine Gleichrangigkeit, noch viel weniger eine Vorordnung des Gesetzes bzw. des Gewissens im Vergleich zu ihren Gegenmomenten. Letztverbindliche Offenbarung vollzog sich für Luther allein im Glauben an das Evangelium. Beide Grundeinsichten Luthers sind für Hirschs Christologie verbindlich geworden.

b) Der kategoriale Status der Evangeliumsoffenbarung Offenbarung ist zunächst in wahrheitstheoretischer Hinsicht definiert als das Erschlossensein der Wahrheit Gottes. Offenbarung ist sodann re-

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formatorisch verstanden Aufhebung des Gesetzes in das Evangelium. Offenbarung ist schließlich subjektivitätstheoretisch aufgefaßt das Zugleich von absoluter Sich-Durchsichtigkeit und ewiger Gegründetheit. Im folgenden ist der systematische Zusammenhang dieser drei Bestimmungen von Offenbarung gedanklich zu durchdringen. Es ist also erstens die Wahrheitsdimension von Offenbarung auf die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium zu beziehen. Es ist zweitens die Wahrheitswertigkeit von Gesetz und Evangelium im Lichte der Aufhebungsstruktur zu erläutern. Und es ist drittens die subjektivitätstheoretische Bedeutung der Aufhebung des Gesetzes in das Evangelium zu analysieren. Zunächst zur Wahrheitsdimension der Gesetzes- und Evangeliumsoffenbarung. Unter der veritativen Kraft der Offenbarung soll im folgenden deren Wahrheitserschließungsfunktion verstanden werden. Der Zusammenhang von Wahrheit und Gesetzes- und Evangeliumsoffenbarung läßt sich in folgendem Syllogismus ausdrücken: Offenbarung Gottes ist das Erschlossensein unbedingter Wahrheit. Gesetz und Evangelium nun sind die Weisen des Offenbarseins Gottes. Also sind Gesetz und Evangelium Formen des Erschlossenseins unbedingter Wahrheit. Gesetzes- und Evangeliumsoffenbarung verfügen sonach wesensnotwendig über veritative Kraft. Die Offenbarung des Gesetzes bedeutet gegenüber der bloßen Erfahrung der Gesetzesverfaßtheit des Daseins das Zuteilwerden der Einsicht, daß diese Unbedingtheitsmomente an sich trägt. Sie lassen sich erfassen im Begriff der antinomischen Struktur der ethisch-religiösen Reflexivität. Die Gesetzesoffenbarung ist die Aufdeckung der Unbedingtheitsdimension jener Lebensverfaßtheit. Nicht schon das Durchleben und Durchleiden von Aporien, sondern erst die Enthüllung der aporetischen Lebenssituation als grundsätzlicher Daseinsform macht das Spezifische der Gesetzesoffenbarung aus. In dieser Erschließungsleistung äußert sich ihre veritative Kraft. Die veritative Kraft der Evangeliumsoffenbarung nun - rein für sich genommen - erweist sich in der Aufdeckung eines dazu gegensätzlichen Sachverhaltes: Trotz der prinzipiellen aporetischen Verfaßtheit des ethischreligiösen Reflexivwerdens von Lebenswirklichkeit ist eine aller empirischen Selbstwahrnehmung vorausliegende und diese transzendierende Einheit der Gewissenserfahrung möglich, dergestalt, daß der reale Widerstreit von Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis sowie deren jeweilige internen Antagonismen durch das Bewußtsein eines ewig in Gott Gegründetseins überwunden werden. Damit zeigt sich aber ein Widerspruch im Verhältnis von Gesetzesund Evangeliumsoffenbarung hinsichtlich ihrer veritativen Kraft:

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1. Gesetzes- und Evangeliumsoffenbarung sind qua göttlicher Offenbarung Weisen des Erschlossenseins von Wahrheit. 2. Gesetzes- und Evangeliumsoffenbarung schließen sich hinsichtlich der Bestimmtheit ihres Offenbarungsgehaltes, nämlich des Verhältnisses von Selbst und Gotteserkenntnis, wechselseitig aus. Negativ wäre zunächst geltend zu machen, daß der Gegensatz von Gesetzes- und Evangeliumsoffenbarung weder im Sinne einer Alternative nach Art einer vollständigen Disjunktion gedacht werden kann, noch als ein Zugleich zweier gleichursprünglicher kontradiktorischer Funktionen. Weder die veritative Kraft, noch die vom Evangelium her festgestellte Unwahrheit der Gesetzesoffenbarung darf eingezogen werden. Geht man davon aus, daß die Evangeliumsoffenbarung ihrer Materie nach letzte und entscheidende Wahrheitserschließung Gottes ist, dann stellt sich bezüglich der Form der Gesetzesoffenbarung die Frage: Wie kann diese zugleich als Wahrheit erschließende und als ihr übergeordneter Wahrheitserschließung widersprechende gedacht werden? Wie ist es möglich, daß die Gesetzesoffenbarung Wahrheit aufdeckt, welche von der Evangeliumsoffenbarung her unwahr wird? Es ist also zweierlei zu zeigen: Einerseits muß im Hinblick auf die Gesetzesoffenbarung jener Widerspruch selbst erklärt werden; andererseits muß im Hinblick auf das Auftreten von Widerspruch im Ereignis von Offenbarung überhaupt gezeigt werden, daß ein solcher nur unter der Voraussetzung denkbar ist, daß eine ganz bestimmte Gestalt von Offenbarung, nämlich Evangeliumsoffenbarung, als letzte und entscheidende Offenbarung zu stehen kommt. Hirsch löst beide Aufgaben in einem, indem er - sachlich mit Luther übereinstimmend - den aus Hegels Philosophie geläufigen Begriff der Aufhebung übernimmt, ihn aber zugleich eigentümlich modifiziert. Die Uberwindung des Gesetzes durch das Evangelium hat die Struktur der "Aufhebung". 4 4 Damit sind wir beim zweiten der oben genannten Probleme angelangt. Hegel definiert in seiner "Wissenschaft der Logik" (ed. Lasson, Bd. 1, 94) "Aufhebung" als die Synthese von "aufbewahren" und "aufhören lassen". Was im dialektischen Sinne des Wortes "aufgehoben" wird, ist dadurch nicht schlechthin vernichtet, sondern nur seiner unmittelbaren Gültigkeit bzw. seiner strikten Prinzipienfunktion beraubt. Aufhebung bedeutet die Herabsetzung eines Prinzips zum Moment. 44

Vgl. §74.A. "Aufliebung des Gesetzes hinein ins Evangelium"; §74.M.6. "Sein in der Liebe Gottes ..., welches das mit diesem Gesetz gegebne Gottesverhältnis aufliebt" ·, §86.A. "Aufhebung der Gesetzesoffenbarung in die Evangeliumsoffenbarung". Vgl. a u c h L f § 7 7 . A . "hineingenommen"; C h R I I , 91 "in sich aufzunehmen".

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Wie verhalten sich nun zwei zunächst auf gleicher Ebene stehende entgegengesetzte Prinzipien nach Durchlaufen des Aufhebungsvorgangs zueinander? An dieser Stelle differiert Hirschs AufhebungsbegrifF von demjenigen Hegels in einem grundlegenden Sinn. Wenn nicht - wie bei Hegel aus den beiden ursprünglichen Prinzipien ein drittes hervorgeht, sondern wenn eines der beiden Prinzipien im Durchgang durch den Aufhebungsprozeß seine Letztgültigkeit behaupten soll, dann muß sich zwangsläufig eine veränderte Fassung der Aufhebungsstruktur ergeben. Aus dem theologischen Sachverhalt, u m dessen kategoriale Klärung es geht, wird eine solche Umdeutung der Aufhebungsstruktur dadurch notwendig gemacht, daß das Evangelium im Glauben als letzte und entscheidende Offenbarung erkannt ist. Die modifizierte Aufhebungsstruktur besagt: Aufhebung ist die Herabsetzung eines Prinzips zum Moment eines anderen Prinzips. Das eine der beiden ursprünglichen Prinzipien ist bloß noch Moment, das andere, nämlich das, welches sich im Aufhebungsvorgang als Prinzip b e h a u p t e t hat, fungiert nunmehr uneingeschränkt als Prinzip. Gleichwohl bleibt aber letzteres auf der reduzierten Gültigkeitsebene des anderen, zum Moment herabgesetzten Prinzips weiterhin diesem entgegengesetzt. Die im Aufhebungsvorgang sich durchsetzende Bestimmung fungiert sonach ebensowohl als Prinzip wie als Moment. Der scheinbar unvermeidliche kontradiktatorische Widerspruch jener beiden Prinzipien, von dem der Aufhebungsvorgang seinen Ausgang nahm, ist verwandelt in ein wechselseitiges Sich-Fordern zweier konträrer Bestimmungen auf der Gültigkeitsebene der Momente, und zugleich fungiert eine dieser beiden Bestimmungen auf der übergeordneten Gültigkeitsebene noch immer als letztgültiges Prinzip. Ubertragen wir diese rein formale Struktur der Aufhebung, d.h. die Herabsetzung eines Prinzips zum Moment eines anderen Prinzips sowie die Duplizität von Moment- und Prinzipienfunktion auf Seiten der letztgültigen Bestimmung, auf das Verhältnis von Gesetzes- und Evangeliumsoffenbarung, dann ergeben sich zwei Fragen: 1. Wie muß der Begriff der Gesetzesoffenbarung bestimmt werden, wenn diese als ein zum Moment herabgesetztes Prinzip eingeordnet wird? 2. Wie m u ß der Begriff der Evangeliumsoffenbarung bestimmt werden, wenn diese als Prinzip und Moment in Einem zu stehen kommt? Beide Fragen sind mit Bezug auf die Wahrheitserschließungsfunktion von Offenbarung zu beantworten. Zu 1.: Wie muß die Bedeutung der Gesetzesoffenbarung in veritativer Hinsicht bestimmt werden, wenn sie im Gesamtzusammenhang von Offenbarung nichts anderes darstellt als eine zum "Moment" (ChR II, 70.89) herabgesetzte Gestalt der Offenbarung? Käme der Gesetzesoffenbarung strikte Prinzipienfunktion zu, dann stünde ihre veritative Kraft unter keinerlei Einschränkungen, d.h. ihre Erschließungsfunktion wäre zu-

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gleich Aufdeckung von Wahrheit und Vermittlung des Seins in der Wahrheit. Ist sie jedoch lediglich zum Moment herabgesetztes Prinzip, dann wird ihre Wahrheitserschließende Kraft durch das auf der Momentebene konträr entgegenstehende Gegenmoment begrenzt. Die veritative Kraft der Gesetzesoffenbarung wird durch die veritative Kraft der Evangeliumsoffenbarung in der Weise limitiert, daß der Gesetzesoffenbarung Wahrheit teils zugesprochen, teils abgesprochen wird. Die eingeschränkte veritative Kraft der Gesetzesoffenbarung auf der Momentebene besteht darin, daß sie das aporetisch verfaßte ethisch-religiöse Reflexivwerden von Lebenswirklichkeit aufdeckt als ein Sein in der Unwahrheit. Die Vermittlung des Seins in der Wahrheit jedoch liegt nicht mehr in der Reichweite ihrer veritativen Kraft. Jene fällt allein der veritativen Kraft der Evangeliumsoffenbarung zu. Die veritative Kraft des Gesetzes ist begrenzt auf die bloße Aufdeckung des Seins in der Unwahrheit. Zu 2.: Wie muß die Bedeutung der Evangeliumsoffenbarung in veritativer Hinsicht bestimmt werden, wenn sie zugleich als Prinzip und Moment soll fungieren können? Als Prinzip eignet ihr uneingeschränkte veritative Kraft. Letztere besteht in einem solchen Erschließen von Wahrheit, welches zugleich ein Vermitteln des Seins in der Wahrheit ist. Davon zu unterscheiden ist aber ihre Momentfunktion. Sofern sie Moment ist, ist sie Gegenglied der Gesetzesoffenbarung. Als solches ist sie das Begrenzende der Gesetzesoffenbarung und bestimmt auf diese Weise allererst den wahren Sinn derselben. Als limitatives Gegenmoment deckt die Evangeliumsoffenbarung den Unwahrheitsaspekt der Gesetzesoffenbarung auf, wodurch sie deren veritative Kraft zugleich der Fähigkeit beraubt, auch das Sein in der Wahrheit zu vermitteln. In dieser Begrenzungsfunktion erfährt die als Moment agierende Evangeliumsoffenbarung jedoch zugleich eine Rückwirkung von Seiten ihres Gegenmomentes, der Gesetzesoffenbarung, nämlich von deren Wahrheitsaspekt. Eine solche Rückwirkung muß erfolgen, da beide einander entgegengesetzten Momente als Formen von Wahrheitsoffenbaxung überhaupt koordinierte Glieder einer Einteilung darstellen und sich insofern wechselseitig fordern. Die Rückwirkungsfunktion des Wahrheitsaspektes der Gesetzesoffenbarung auf die Evangeliumsoffenbarung als Moment äußert sich darin, daß die Evangeliumsoffenbarung ihre Prinzipienfunktion, nämlich die des Aufdeckens von Wahrheit und des Vermitteins des Seins in der Wahrheit, nur so ausüben kann, daß sie sich zugleich auf die Momentebene der Gesetzesoffenbarung hinabbegibt. Die Evangeliumsoffenbarung kann Wahrheit nur so erschließen, daß sie zugleich den Wahrheitsaspekt der Gesetzesoffenbarung anerkennt. Daß die dem Glauben zuteil werdende Evangeliumsoffenbarung nicht unmittelbar auftreten kann, sondern u m ihrer eigenen Realisierung willen immer auf die der allgemeinen Gewissens-

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erfahrung zugängliche Gesetzesoffenbarung zurückverwiesen ist, gründet somit im wahrheitstheoretischen Grundverhältnis von Gesetz und Evangelium selber. Aus beiden zusammen folgt: Die Evangeliumsoffenbarung ist nur dann ein Sich-Erschließen von Wahrheit, wenn sie zugleich die Aufdeckung der Unwahrheit und die Anerkennung der Wahrheit der Gesetzesoffenbarung impliziert. Die Doppelfunktion der Evangeliumsoffenbarung als eines Prinzips und Moments, genauer gesagt: als eines strikten Prinzips und eines zum Moment herabgesetzten Prinzips, ermöglicht die dialektische Einheit von Gesetz und Evangelium, nämlich die Vermittlung zwischen der vorläufigen und der endgültigen Erschlossenheit der unbedingten Wahrheit Gottes. Damit hat sich aber die zwischen der Gesetzes- und der Evangeliumsoffenbarung bestehende Aufhebungsstruktur in Wahrheit als Vermittlungsstruktur herausgestellt. Was in ihr zur Vermittlung ansteht, ist genau diejenige Struktur, welche sowohl den Wahrheitsaspekt als auch den Unwahrheitsaspekt jener vorläufigen Wahrheitserschließung konstituiert, nämlich die antinomische Verfaßtheit des humanen Wahrheitsbewußtseins hinsichtlich seiner Bezogenheit auf die unbedingte Wahrheit Gottes. Wenn also die Aufhebungsstruktur der Evangeliumsoffenbarung als Vermittlungsstruktur zu interpretieren ist, dann besagt dies nichts anderes, als daß die Antinomie der Gesetzesoffenbarung das Negativitätsmoment der Evangeliumsoffenbarung darstellt. Und a fortiori folgt, daß die antinomische Verfaßtheit des unter dem Gesetz stehenden Gewissens das Negativitätsmoment des im Glauben an das Evangelium zuteil werdenden Seins in der Wahrheit Gottes bildet. Die Aufhebung der Gesetzesaporetik in das Evangelium bzw. die Aufhebung der Gewissensantinomie in den Glauben bedeutet das Zugleich von absoluter Negativität und absoluter Vermittlung am Orte des Gottesverhältnisses. 45 Der dogmatische Locus, an dem dieser Sachverhalt seine Erörterung findet, ist die Versöhnungslehre. Der christliche Versöhnungsglaube zeich-

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Mit dieser Aufhebungsstruktur zwischen Gesetz und Evangelium ist zugleich die abschließende Bestimmung des Grundverhältnisses erreicht, das Hirschs gesamtes Dogmatikprogramm - wie oben ausgeführt - theologisch trägt. Was das Verhältnis von christlichem und humanem Wahrheitsbewußtsein betrifft, ist im Lichte des Christusglaubens weder eine reine Diastase noch eine reine Synthese denkbar, sondern allein eine dialektische Beziehung, nämlich "das J a und das Nein des Christlichen zum Humanen" (Lf § 74.1.). Weder Kulturseligkeit noch Kulturfeindlichkeit sind nach Hirsch gangbare Formen christlichen In-der-Welt-Seins. Die reformatorische Formel Gesetz/Evangelium steht für ein grundsätzlich dialektisches Verhältnis zur Wirklichkeit, weil sie selber eine "dialektische Beziehung" ( A T P E 83) ist.

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net sich - kategorial betrachtet - durch die Grundstruktur aus, "die verneinende Gottes- und Selbsterkenntnis ... in sich aufzunehmen" (Lf §76.B.) bzw. dadurch, daß er "Negativität ... in sich aufnimmt" ( C h R II, 35). D a r u m erscheint ihm die Erfahrung des Gerichtes Gottes retrospektiv als "heimliche Gnade" ( C h F p B 78) bzw. "heimliche Güte" (Lf §77.A.). Daß Gottes barmherziges J a nur unter seinem richtenden Nein in Erscheinung tritt, besagt, daß die Gründung der Subjektivität in der Wahrheit Gottes die Negativität des Gottesverhältnisses ebensowohl als konträre voraussetzt wie als vermittelte in sich birgt. Als Prinzip vollzieht die Evangeliumsoffenbarung die Gründung in der Wahrheit Gottes, als Moment erkennt sie die von der Gesetzesoffenbarung bewirkte Durchsichtigkeit des Gewissens hinsichtlich seiner aporetischen Verfaßtheit an und n i m m t sie ihrerseits als Moment in sich auf. Als Einheit von Prinzip und Moment bedeutet die Evangeliumsoffenbarung sonach "das Zugleich absoluter Durchsichtigkeit in sich selbst und absoluter Gründung des Lebens in Gott" ( C h R II, 15). Damit sind wir bei der subjektivitätstheoretischen Fassung des Offenbarungsbegriffs angelangt. Absolute Durchsichtigkeit und absolute Gegründetheit implizieren sich wechselseitig, sofern sie Momente des in sich einigen Seins in der Wahrheit Gottes darstellen. Gerade h a t t e sich nun aber gezeigt, daß das Sein in der Wahrheit Gottes vermöge seiner Vermittlungsstruktur auch absolute Negativität in sich aufnimmt. Die Frage muß d a r u m lauten: Läßt das Zugleich von absoluter Durchsichtigkeit und Gegründetheit sich subjektivst ätstheoretisch als eine solche Vermittlungsstruktur explizieren, die das antinomische Selbstverhältnis des Gewissens als Negativitätsmoment in sich enthält? Die Hirschs Christologie tragende Struktur des Zugleichs von absoluter Sichdurchsichtigkeit und ewiger Gegründetheit verweist zunächst an die Philosophie S0ren Kierkegaards. Hirsch selbst hat diesen Bezug hergestellt (vgl. GlerA 113.117; C h R II, 70). Kierkegaard bezeichnet in "Entweder/Oder" (1843) die Struktur der ethischen Subjektivität als GJENNEMSIGTIGHED d.h. Durchsichtigkeit (Abt. 2/3., T.2, 270). In der Wahl seiner selbst durch das Ergreifen einer konkreten Existenzmöglichkeit erkennt das ethische Individuum sich selbst und erlangt so Durchsichtigkeit (a.a.O. 275), nicht allein für sich selbst, sondern auch vor Gott (a.a.O. 264). Auf diesen Begriff der Existenz-Durchsichtigkeit hat Kierkegaard dann in der "Unwissenschaftlichen Nachschrift" (1846) sein Modell eines existierenden Denkens gebaut (Abt. 16., T.2, 249). Vor diesem Hintergrund ist auch die b e r ü h m t e Definition des Glaubensbegriffs zu sehen, die Kierkegaard schließlich in "Die Krankheit zum Tode" (1849) aufgestellt hat: "Glaube ist: daß das Selbst, in dem es es selbst ist und es selbst

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sein will, durchsichtig sich gründet in Gott" (Abt. 24/25., 81; vgl. auch 10.26). 4 6

Ein wissenschaftlicher Nachweis, wem Kierkegaard den Ausdruck "Durchsichtigkeit" entnommen hat, ist m.W. noch nicht erbracht. Es ist aber höchst wahrscheinlich, daß er ihn bei Fichte kennengelernt hat. Unbestritten ist, daß Kierkegaard Fichte mit Interesse rezipiert hat. Dessen nachgelassene Werke, herausgegeben von Immanuel Hermann Fichte, erschienen im Jahre 1834/35. Gerade dem überwiegend hier publizierten Spätwerk ist jener Ausdruck geläufig. So findet sich beispielsweise in der Wissenschaftslehre von 1813 folgende charakteristische Bestimmung: "was ist die Ichheit am Ich? Es ist absolute Durchsichtigkeit" (SW X, 43; Hhg.i.O.). 47 Bei Fichte ist der Begriff der Durchsichtigkeit allerdings wesentlich weiter gefaßt als bei Kierkegaard. Er beschreibt nicht die spezifische Verfaßtheit allein der ethischen Subjektivität, sondern Innerlichkeit bzw. die Struktur sich selbst erfassender Selbstbezüglichkeit überhaupt. Auch die oben aus "Die Krankheit zum Tode" (1849) angeführte Definition des Glaubensbegriffs könnte von Fichte inspiriert sein. 1845/46 erschienen dessen "Sämmtliche Werke", gleichfalls in der Ausgabe des Sohnes. Im zweiten Band derselben ist erstmals die Wissenschaftslehre von 1801 zugänglich gemacht. Auch dieser Entwurf kennt bereits den Begriff der Durchsichtigkeit als Bezeichnung der Struktur von Ichheit. Interessant ist aber vor allem der systematische Kontext, worin die Verwendung dieses Begriffs ihren explikationslogischen Höhepunkt erreicht: Es ist die Beschreibung der im Wissen sich vollziehenden Vermittlung von absoluter Durchsichtigkeit und Selbstvernichtung am Absoluten. "Es [seil, das Wissen] findet in sich und durch sich sein absolutes Ende und seine Begrenzung: - in sich und durch sich, sage ich; es dringt wissend zu seinem absoluten Ursprünge (aus dem Nichtwissen) vor, und kommt so durch sich selbst (d.i. in Folge seiner absoluten Durchsichtigkeit und Selbsterkenntniss) an sein Ende" (SW II, 63). Diejenige Durchsichtigkeit, um die es Fichte an dieser Stelle geht, ist die "Innerlichkeit des Ursprunges"; was dem Wissen seine innere Grenze setzt, ist der ihm nach seinem Verhältnis zum Absoluten innewohnende und als solcher eingesehene "Widerspruch", der hier "in seiner Spitze zusammengedrängt ist" (ebd.). Die Antinomie bildet ein Moment der sich durchsichtigen Bezogenheit des Wissens auf seinen absoluten Grund.

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Zu Kierkegaards Begriff der Sich-Durchsichtigkeit vgl. H. FAHRENBACH: Kierkegaards existentialdialektische Ethik, 113fF; zu Fahrenbach kritisch J . RINGLEBEN: Aneignung, 485ff. Zum systematischen Rahmen von Fichtes Begriff der Durchsichtigkeit vgl. oben Kap. III.A.l.

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Wie auch immer es sich mit der Herkunft von Kierkegaards Begriff GJENNEMSIGTIGHED verhalten mag, wahrscheinlich ist, daß jedenfalls Hirsch das Kierkegaardsche Zugleich von Durchsichtigkeit und Gegründetheit in einer Fichteschen Perspektive 4 8 gelesen hat. Dafür spricht nicht nur der Umstand, daß die gerade erwähnte Stelle aus der Wissenschaftslehre von 1801/02 bereits von der Dissertation an - also lange vor der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Kierkegaard - im Zentrum der Fichte-Deutung Hirschs steht (vgl. F R 82; C h F p B 18) 49 , sondern vor allem ein systematischer Gesichtspunkt. Fichtes Konzeption des Zugleichs von absoluter Durchsichtigkeit und absoluter Gegründetheit zeichnet sich vor allem dadurch aus, daß in ihr das komplexe Antinomieproblem seine ausdrückliche Formulierung und systematische Letztbegründung empfängt. Auch für Kierkegaard birgt die Struktur von Subjektivität in sich ein paradoxes Verhältnis, welches das Selbst in die Verzweiflung treibt. Aber das Selbst erlangt schließlich vermöge des Durchgangs durch die Verzweiflung im Glauben ein durchsichtiges ewiges Gegründetsein in Gott, welches als solches gerade keine paradoxe Beziehung auf seinen Grund mehr enthält - und erst recht keine Aufhebungs- oder Vermittlungsstruktur in der oben skizzierten Bedeutung. Fichte hingegen vermag in der Wissenschaftslehre von 1801/02 das Verhältnis des Selbstbewußtseins zum Absoluten als ein solches zu denken, worin eine strukturelle Antinomie enthalten ist, ohne daß dadurch allerdings jenes Verhältnis außer Kraft gesetzt würde. Im Gegenteil, indem das Wissen sich am Absoluten vernichtet, gelangt es allererst in einem letzten Sinne zu sich selbst. Nur sofern es zu seinem Ende vordringt, erblickt es seine Beziehung auf seinen Ursprung. Das Absolute erweist sich als Grund und Grenze des Wissens. Die Selbstvernichtung des Wissens a m Absoluten bedeutet darum nicht den schlechthinnigen Tod des Wissens, sondern die Vollendung seiner Durchsichtigkeit. Absolute Negativität erweist sich als notwendiges Moment des Für-sich-Seins des Wissens. Die Antinomie ist eine formale Bedingung der Selbstaufklärung des Wissens hinsichtlich seines Verhältnisses zum Absoluten. Das Selbstvernichtungstheorem der Wissenschaftslehre 1801/02 beschreibt somit in Wahrheit eine Vermittlungsstruktur, und zwar die für Wissen schlechterdings basale. Damit hat aber die Antinomie zugleich aufgehört, das die Beziehung auf das Absolute lediglich restriktiv charakterisierende Prinzip zu sein, als welches sie im rein erkenntnistheoretischen Zusammenhang der Frage nach den Konstitutionsbedingungen von Wahrheitsbewußtsein erschien 48 49

Zu Hirschs Verständnis des Fichteschen Begriffs der Durchsichtigkeit vgl. ICh 269f. Eine Deutung von Fichte: SW II, 63 gibt Hirsch in ICh 270.

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und durchaus erscheinen mußte (vgl. oben Kap. IV.B.). Ihrem Vollbegriff nach ist die Antinomie das die absolute Negativität repräsentierende Moment einer umfassenden Vermittlungsstruktur im Verhältnis von absoluter Wahrheit und Wahrheitsbewußtsein überhaupt. Solche Vermittlung gelangt nicht in einem positiven Dritten zur Darstellung, sondern in der Aufhebungsstruktur desjenigen Prinzips, welches, indem es sein Gegenprinzip zum Moment seiner selbst herabsetzt, sich als das letztbestimmende Prinzip erweist. Daß Hirsch die Wissenschaftslehre von 1801/02 unter der gerade skizzierten Problemperspektive gelesen hat, bezeugt der Schluß des IdealismusBuches von 1926. Hier heißt es: "Wenn m a n ... sieht, wie Fichte mit dem Denken dieses [seil, durch die Merkmale der Uberschwenglichkeit, Verborgenheit und M a j e s t ä t bestimmten] Gottesgedankens es zu synthetisieren wußte, daß die Freiheitswelt (Wissenswelt) das Reich der ewig aus Gott schöpfenden, immer sich aufklärenden, immer werdenden Wahrheit ist, dann ahnt man, daß er in die Abgründe und Tiefen einer Theorie des religiösen Erkennens tiefer hineingedrungen ist, als jeder andre philosophische und theologische Denker.... Es ist das Tiefmerkwürdige an Fichte, daß er beides zugleich zu denken versuchte, die Wahrheit, daß unser Innerlichstes, unsre wahre Gewißheit, ein Ruhen in Gott und alles, was in dieser Gewißheit ist, aus Gott geschöpft sei, und die andre Wahrheit, daß wir gerade an dem synthetischen Charakter unsrer das Wahre ergreifenden Lebendigkeit die Erinnerung an den hiatus besitzen, der da klafft zwischen Gott und uns. Man meint ihn oft nahe daran, die Antinomie als die notwendige Form einer philosophischen Aussage über Gott in seinem Verhältnis zu uns aufzustellen" (ICh 289f). Genau darin erweist sich aber für Hirsch die Affinität dieser philosophischen Theologie "zu dem Gottesbegriff des Manns, dem tatsächlich die sinnhafte Antinomie die notwendige Form der theologischen Aussage war, - zum Gottesbegriffe Luthers" (a.a.O. 290). Die tiefe Kluft zwischen Luther und Fichte - vor allem hinsichtlich der Konzeption und Verortung des Freiheitsgedankens - ist damit keineswegs z u m Verschwinden gebracht. Hirsch hat auf diese Differenz nachhaltig hingewiesen (vgl. a.a.O. VII. 290). Dennoch wird m a n kaum fehlgehen, wenn m a n behauptet, daß nicht nur Hirschs kategoriale Rekonstruktion der reformatorischen Gewissensantinomie, sondern auch seine Deutung des darin beschlossenen Begriffs der absoluten Negativität als des Momentes einer Aufhebungs- oder Vermittlungsstruktur sich dem begrifflichen Ins t r u m e n t a r i u m der Philosophie Fichtes verdankt. Hirsch hat den in der Wissenschaftslehre 1801/02 entfalteten Gedanken des Zugleichs von absoluter Durchsichtigkeit und Gegründetheit im Sinne eines Sich-Setzens und Sich-Vernichtens am Absoluten offenkun-

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dig deshalb aufgegriffen, weil er darin ein theoretisches Modell derjenigen Aufhebungs- oder Vermittlungsstruktur erblickte, die es im Hinblick auf die reformatorische Zuordnung von Gesetz und Evangelium zu klären galt. Das für Fichtes Selbstvernichtungstheorem signifikante Verständnis von Antinomie als absoluter, aber zugleich momenthafter Negativität ließ sich ohne weiteres anwenden auf die Explikation des Momentcharakters derjenigen Antinomie, die für die Gesetzesoffenbarung konstitutiv ist und die eben nur als ihrer Letztgültigkeit beraubte Eingang in die Evangeliumsoffenbarung finden kann und muß. Was die philosophische Theologie des mittleren Fichte und Hirschs subjektivitätstheoretische Deutung des christologischen Offenbarungsbegriffs in systematischer Hinsicht miteinander verbindet, ist die gedankliche Integration von Antinomie in das Strukturgefüge des Zugleichs von absoluter Durchsichtigkeit und Gegründetheit. Hirschs Christologie bildet d a r u m das systematische Zentrum seiner Theologie, weil sie die konsequente subjektivitätslogische Fassung einer Theorie absoluter Negativität und Vermittlung darstellt, die ihre religiöse Entsprechung im Jesus-Bild der theologia crucis findet. Damit wird zugleich deutlich, wie sich die - oben in Kap. IV.B. entfaltete - Wahrheitstheorie Hirschs und die ausgereifte Gestalt der Christologie zueinander verhalten: Die Wahrheitstheorie als die methodische Basisdisziplin der Dogmatik formuliert das der Erkenntnis nach Erste; die Christologie als materiale Teildisziplin und sachlicher Höhepunkt der Dogmatik formuliert das der Sache nach Erste. Ermöglicht wird diese Zuordnung durch die Explikation des christologischen Offenbarungsbegriffs als einer fundamentalen Vermittlungsstruktur, welche die wahrheitstheoretische Antinomie als wesentliches Moment in sich enthält. Dieser wissenschaftstheoretischen Zuordnung von Wahrheitstheorie und Christologie kongruiert die interne Struktur des christlichen Bewußtseins. Auch das durch den Glauben an das Evangelium gewährte Sein in der Wahrheit Gottes enthält antinomische Bestimmungen. Die Antinomie ist die Grundform nicht nur aller humanen, sondern auch aller christlichen Aussagen über Gott (vgl. Lf §46.M.6.). Aber im Unterschied zum h u m a n e n Bewußtsein ist im Falle des christlichen Bewußtseins die Antinomie nur noch Moment des Gottesverhältnisses, sie dominiert es nicht mehr als letztgültiges Prinzip: Sie vermag nun weder die Selbsterkenntnis noch das Gottesbewußtsein in die absolute Ausweglosigkeit und Selbstauflösung zu versetzen. Als Moment des Seins in der Wahrheit Gottes ist die Antinomie nurmehr Ausdruck der Endlichkeit gläubiger Realexistenz und insofern konträre Manifestation des reinen Ewigkeitscharakters des Glaubens selbst. Der antinomische Charakter des Gottesverhältnisses als bloßes Moment der Evangeliumsoffenbarung schließt es nicht aus, sondern vielmehr ein, daß unter der Form der Erfahrung antinomischer Verfaßt-

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heit zugleich die Gewißheit absoluten Gegründetseins zuteil wird. Damit ist zugleich ein solches Innewerden der Wahrheit Gottes negiert, welches diese unter Absehung von Antinomien als reine Evangeliumsoffenbarung ergreifen zu können meint. Erst vor dem Hintergrund der christologischen Vermittlungsstruktur wird deutlich, warum Hirsch im "Leitfaden" die gemeinsame bewußtseinstheoretische Verfaßtheit allgemeiner ethisch-religiöser Subjektivität und christlicher Glaubensinnerlichkeit als "Durchsichtigkeit" expliziert hat. Der in "Jesus Christus der Herr" vorliegende erste christologische Entwurf konnte - wie wir in Kap. I.B. gesehen haben - die Erfahrungen des praktischen und moralischen Selbstbewußtseins, des Schuld- und Sündenbewußtseins, der Vergebungsgewißheit und des Heiligungsgehorsams, des Osterglaubens und der Geistesmitteilung noch gleichmäßig unter die Kategorie der Gewissenserfahrung subsumieren. Dies war Hirsch nicht mehr möglich, sobald er die dialektische Einheit von Gesetz und Evangelium und deren Auswirkung auf die Verhältnisbestimmung von Gewissen u n d Glauben entdeckt hatte. Die beiden Relationen eigentümliche Aufhebungsstruktur verhindert es nun, das Gewissen als einheitliche Grundverfaßtheit jenes Gesamtprozesses ethisch-religiöser Reflexivität zu etablieren. Das Gewissen kommt jetzt nur noch als "humane Auffangform" des Glaubens zu stehen, welche, sobald dieser selbst auftritt, herabgesetzt wird zu dessen bloßem Moment. Die Christologie des "Leitfadens" f ü h r t d a r u m zur Bezeichnung der sowohl die Aporetik des Gewissens als auch das Grundverhältnis des Glaubens übergreifenden isomorphen Bewußtseinsstruktur den Begriff der Durchsichtigkeit ein. Dieser Begriff bezeichnet bei Hirsch das Erschlossensein von unbedingter Wahrheit unter der Form der Ichheit. Unter diese Struktur fällt ebensowohl die von der Gesetzesoffenbarung bestimmte antinomische Reflexivität des Gewissens als die durch die Evangeliumsoffenbarung wahrhaft in Gott gegründete Reflexivität des Glaubens. Das im "Leitfaden" geradezu terminologische Vorkommen des Begriffs "Durchsichtigkeit" markiert den entscheidenden subjektivitätstheoretischen Explikationsfortschritt der ausgereiften Christologie Hirschs gegenüber ihrer Frühform von 1926.

c) Die innere Genese des christlichen Bewußtseins

Erst die nunmehr erreichte Klärung des Verhältnisses von Gesetz und Evangelium als einer Vermittlungsstruktur, derzufolge die Antinomie als Moment in das Zugleich von absoluter Durchsichtigkeit und Gegründetheit integriert ist, macht es möglich, die innere Genese des christlichen

Die theoretische Struktur

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Bewußtseins im Zusammenhang zu überschauen. Sie stellt sich folgendermaßen dar: Der Glaube nimmt seinen Ausgangspunkt von der geschichtlich vermittelten Begegnung mit dem Menschen Jesus von Nazareth. Sein Wort und seine Geschichte machen einen eigentümlichen Umgang mit Gott kund, welcher das Ende jedweder Form der Vergesetzlichung des Gottesverhältnisses bedeuten muß. Infolge dieses konstitutiven negativen Bezogenseins auf das von ihm Überwundene besitzt der Gottesgedanke Jesu einen in sich antithetischen Charakter. Auch Jesus selbst wurde der Liebe Gottes nur als einer unter dem göttlichen Gericht verborgenen gewiß. Die Anfechtung und Bewährung seines Sohnesgehorsams im Gang an das Kreuz sind die eindrucksvolle lebensgeschichtliche Manifestation jenes inneren Konfliktes. Aber dieses geschichtliche Kennen Jesu nach den allgemeinen Grundsätzen menschlichen Verstehens ist noch nicht Glaube. Von "Glaube" im christlichen Sinne kann man erst dann sprechen, wenn das Gottesverhältnis Jesu den ihm in gnadenhafter Gleichzeitigkeit Begegnenden zum Bestimmungsgrund ihres je eigenen Gottesverhältnisses wird. Wo dies geschieht, geht die Betrachtung von Jesu Wort und Geschichte über in die Teilhabe an seinem inwendigen Lebensstand. An Jesus als den Sohn Gottes, Menschensohn und lebendigen Herrn glauben, heißt: in der Erfahrung seiner verborgenen Gegenwart zu vollendeter Durchsichtigkeit und Gegründetheit in Gott gelangen. Christlicher Glaube ist reiner Ewigkeitsglaube. Diese Glaubenserfahrung ist ebensowenig wie das Sohnesbewußtsein Jesu frei von Antithesen. Letztere sind keineswegs nur Ausdruck einer religionsgeschichtlich bedingten Dialektik, sondern haben einen prinzipiellen Sinn. Wie alle Gestalten auf unbedingte Wahrheit bezogenen Erlebens und Denkens unterliegt auch das religiöse Bewußtsein der Grundform der Antinomie. Christliches Bewußtsein gelangt erst dort zur Klarheit seiner selbst, wo es sich seiner Herkunft aus der antinomischen Verfaßtheit humaner Gewissenserfahrung inne wird. Auch die aus der Betrachtung von Wort und Geschichte Jesu hervorgehende Glaubensgewißheit beseitigt nicht die Antinomie der Religion, sondern nimmt sie vielmehr in sich auf. Am Gottesverhältnis Jesu geht ihr ein Bild von Gottes Wesen und Willen auf, das für sie ebenso spannungsreich ist, wie für Jesus selbst. Uber die innere Einheit dieser in sich widersprüchlichen Gottesanschauung vermag sie selbst keine gedankliche Rechenschaft zu geben. Die Glaubensgewißheit hat die Struktur der Synthesis per hiatum irrationalem. Christlichem Glauben erschließt sich die Wahrheit Gottes immer nur so, daß die Aporetik humaner Gewissenserfahrung darin ebensowohl erhal-

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ten bleibt wie ihrer Letztgültigkeit beraubt wird. Die prinzipielle Fassung dieser Aufhebungsstruktur ist die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. Der antinomische Charakter ethisch-religiöser Reflexivität unter der Gesetzesoffenbarung wird im Zuteilwerden der Evangeliumsoffenbarung herabgesetzt zu einem bloßen Moment: Die Wahrheit der Gesetzesoffenbarung, vollendete Klarheit der Selbsterkenntnis des Menschen vor Gott zu erwirken, wird bestätigt; ihre Unwahrheit, den Menschen von Gott und sich selbst zu entzweien, wird überwunden. Weil der christliche Glaube seine fundamentale Bestimmtheit von jener Aufhebung des Gesetzes in das Evangelium her empfängt, ist es grundsätzlich unmöglich, christliche Gewißheit bewußtseinstheoretisch als Evidenzgefühl nach Art eines Überzeugungsstandpunktes aufzufassen. Analog zur dialektischen Vermittlungsstruktur der Evangeliumsoffenbarung weist die christliche Glaubenserfahrung die Form eines Durchbruchserlebnisses auf. Die Einheit der konträren Elemente dieses Durchbruchserlebnisses hat ihren Geltungsgrund nicht in der Erlebbarkeit der Kontinuität der in ihm enthaltenen Teilerlebnisse, sondern allein darin, daß jenes Durchbruchserlebnis den subjektiven Reflex jener Aufhebung des Gesetzes in das Evangelium darstellt. Die Einheit der Genese des christlichen Bewußtseins ist die prozessuale Ganzheit eines ausschließlich durch die Widerspruchseinheit von Gesetz und Evangelium bestimmten ethisch-religiösen Reflexionsgeschehens. Christlicher Glaube ist die dialektische Erscheinung der Wahrheit Gottes unter der Form der Ichheit.

4. Die E i n h e i t von G l a u b e u n d c h r i s t o l o g i s c h e r Reflexion Hirschs frühe Entfaltung der Christologie hatte ihren methodologischen Höhepunkt in einer kritischen Auseinandersetzung mit Schleiermachers spezifischer Fassung einer subjektivitätstheoretischen Rekonstruktion der christlichen Dogmatik. 50 Gerade im Hinblick auf eine abschließende methodologische Ortsbestimmung der Christologie des "Leitfadens" erweist es sich als sinnvoll, jene frühen Einwände gegen Schleiermacher noch einmal aufzugreifen, und zwar so, daß die Methodenreflexion nunmehr eingebunden wird in die formalen Probleme des Aufbaus des christologischen Lehrstücks selber. Es wird sich zeigen, daß die methodische Differenz von Hirschs und Schleiermachers subjektivitätstheoretischer Rekonstruktion der Christologie nicht zuletzt mit Hirschs methodischer Orientierung an der Fichteschen Wissenschaftslehre zusammenhängt. 50

Vgl. dazu oben Kap. I.B.I.e.

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Die Notwendigkeit der Frage nach der systematischen Kohärenz der christologischen Leitbegriffe ist für Hirsch nicht nur methodisch, sondern zunächst einmal religionsgeschichtlich-inhaltlich begründet. "Offenbarung, Versöhnung und Neuschöpfung sind im Urchristentum alle drei Bezeichnungen der einen und gleichen Gottestat. Als die urchristliche eschatologische Anschauung, daß mit Jesu Kreuz und Auferstehung der neue ewige Äon dem alten ein Ende gesetzt habe, sich auflöste, wurden Offenbarung und Versöhnung in falscher Weise objektiviert und so zu Tatsachen der Vergangenheit. Die Vorstellung der Neuschöpfung dagegen wurde zu der wunderhaften Wiedergeburt, die jedem Christen mit der im rechten Glauben empfangnen Taufe zuteil wird". Indem das christologische Lehrstück des "Leitfadens" jene drei Begriffe ins Zentrum der Überlegungen stellt, begreift es sich als eine "unter neuen Voraussetzungen" erfolgende "Wiederherstellung ihrer ursprünglichen Gleichartigkeit" (Lf §79.M.2.). Eine innere Zusammengehörigkeit der christologischen Leitbegriffe liegt zunächst in deren gemeinsamem Fundiertsein in der Relation Wort / Glaube vor, das, logisch betrachtet, die Form des Vereinigtseins unter einem gemeinsamen Gattungsbegriff hat. Die wesentlichen Momente der Relation W o r t / G l a u b e konstituieren die generische Einheit der Begriffe "Offenbarung" , "Versöhnung" und "Neuschöpfung". Es ist nun aber nicht zu verkennen, daß Hirschs Rede von der "einen und gleichen" Gottestat und von der "ursprünglichen Gleichartigkeit" des durch die christologischen Leitbegriffe Bezeichneten ganz offensichtlich mehr beinhaltet als eine bloß generische, ausschließlich klassifikatorische Einheit. In der Tat läßt Hirsch die Begriffe Offenbarung, Versöhnung und Neuschöpfung enger zusammenrücken, als es durch deren gemeinsame Unterordnung unter "Das Wort" zum Ausdruck kommt. Das Mehr an Einheit, welches die christologischen Leitbegriffe über ihre Gattungszusammengehörigkeit hinaus verbindet, ist für Hirsch in dem Gedanken der Erlösung bezeichnet. Dieser - insbesondere von Schleiermacher favorisierte - christologische Begriff ist das "das Offenbarung, Versöhnung und Neuschöpfung in sich zusammenfassende Wort" (Lf § 73.M.1.). Auch den Erlösungsbegriff versteht Hirsch ganz von der reformatorischen Glaubensdialektik her: Seinem primären Wortsinn nach will er nichts anderes besagen, als daß "Gottes Handeln an uns nur in der antithetischen Bestimmung der Befreiung aus Gebundenheit verstanden werden" (Lf § 73.M.1.) darf. Wegen der schlechterdings fundamentalen Bedeutung dieser Antithetik erhebt Hirsch den Erlösungsbegriff nicht lediglich in den Rang eines mit den anderen christologischen Leitbegriffen koordinierten Begriffs, sozusagen als vierten christologischen Grundbegriff, sondern er führt stattdessen jene antithetische Struktur an jedem einzelnen der drei christologischen Leitbegriffe gesondert durch. Hirsch will umgekehrt den Erlösungsbegriff

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aber auch nicht als mittleren Begriff zwischen Gattungsbegriff und Artbegriffen einfügen, so daß Erlösung als spezielle Art worthaften göttlichen Handelns die nächst höhere Gattung zu Offenbarung, Versöhnung und Neuschöpfung daxstellte und diese ihrerseits Unterarten von Erlösung wären. Dafür enthält nach Hirsch die Erlösungsvorstellung nämlich zuwenig selbständige begriffliche Substanz. Was in ihr über das antithetische Moment hinausgeht, ist "nicht mehr als ein Bild unbestimmt-allgemeinen Inhalts" (Lf § 73.M.1.). Wir stehen also hinsichtlich des Zusammenhanges der christologischen Leitbegriffe und damit bezüglich der Einheit der christologischen Reflexion überhaupt vor folgender methodischer Aporie: Auf der einen Seite hängen Offenbarung, Versöhnung und Neuschöpfung enger miteinander zusammen als es ihre gemeinsame Gattungszugehörigkeit unter den Begriff des worthaften göttlichen Handelns zu artikulieren vermag. Auf der anderen Seite läßt sich das den drei Leitbegriffen der Christologie gemeinsame, aber im Gattungsbegriff noch nicht enthaltene Merkmal, nämlich die antithetische Struktur von Erlösung, nicht über dieses Merkmal hinaus zu einem vollständigen Begriff erweitern, so daß sich von da aus, sei es eine positive innere Einheit, sei es eine bloße wechselseitige Verweisung der artspezifischen Merkmale der drei Grundbegriffe untereinander entfalten ließe. Die Frage bleibt sonach bestehen, ob überhaupt und, wenn ja, auf welche Weise die Kohärenz der christologischen Leitbegriffe formal überprüfbar gedanklich zur Darstellung gebracht werden kann. Hirschs Antwort ist ebenso überraschend wie methodisch folgenreich. Zweimal kommt Hirsch auf das Problem des Zusammenhangs der drei Kapitel über Offenbarung, Versöhnung und Neuschöpfung ausdrücklich zu sprechen. So heißt es zunächst in einer Anmerkung zum ersten Paragraphen des Versöhnungs-Kapitels: "Der letzte Gehalt des über die Versöhnung zu Sagenden ist mit dem des über die Offenbarung Gesagten gleich: es geht bei dem Handeln Gottes als Wort an uns immer um das Eine. Aber die gedankliche Durchdringung ist tiefer. In gewissem Sinne ist das über die Versöhnung zu Sagende Entfaltung und Bestimmung des Gedankens, in dem das Kapitel über die Offenbarung sich abschloß" (Lf § 76.M.1.). Und ganz ähnlich äußert sich Hirsch im ersten Paragraphen des Neuschöpfungs-Kapitels: "Neuschöpfung ist hier dialektisch im Verhältnis zu Versöhnung ebenso bestimmt, wie diese zu Offenbarung. D.h. der Schlußgedanke des über Versöhnung Gesagten wird näher entfaltet und durchdrungen; der wesentliche Gehalt des über Neuschöpfung Gesagten aber ist mit dem über Versöhnung Gesagten und also auch mit dem über Offenbarung Gesagten gleich" (Lf §79.M.l.). An die Stelle der formalen Einheit eines Prädikatensystems setzt Hirsch also die Einheit des Vollzugs der christologischen Reflexion, wie er aus deren Bezogenheit auf die we-

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sentliche Selbstidentität des worthaften Handelns Gottes hervorgeht. Wie aber läßt sich die Einheit des Vollzuges der christologischen Reflexion, die mehr sein soll als die gemeinsame Gattungszugehörigkeit der drei Grundbegriffe und mehr als deren formale Kongruenz mit Bezug auf ein einziges weiteres Merkmal, explikationslogisch festmachen? Wenn der innere Zusammenhang der spezifischen Merkmale der christologischen Leitbegriffe nicht auf die äußere Form eines Prädikatensystems gebracht werden kann, dann vermag er gleichwohl in Gestalt eines Reflexionsganzen in Erscheinung zu treten. Eine solche Ganzheit oder Insich-Geschlossenheit einer Mannigfaltigkeit von Reflexionsvollzügen liegt nun vor im Falle der Struktur von Selbstexplikation. Expükandum und Explikat sind hier in der Weise aufeinander bezogen, daß jeder Explikationsvollzug immer nur die reflexive Einholung von prinzipiell immer schon Gehabtem darstellt. Für ein Bewußtsein, welches die Stufenkette eines solchen Reflexionsprozesses durchläuft, gilt beides, sowohl, daß es auf jeder Stufe eine unverwechselbar neue, eigentümliche Wissensbestimmtheit hervorbringt, als auch, daß es auf jeder Stufe trotz der untereinander differenten Wissensansichten auf ein und dieselbe "Sache" bezogen ist - nämlich das allen Reflexionsakten einerseits zugrundeliegende, andererseits sich allererst durch den Ubergang in jene aufbauende Wissen von Sich bzw. das sich thematisierende Selbst. Diese Selbstexplikationsstruktur ist aber keineswegs auf das reine Für-sich-Sein von Wissen beschränkt, sondern läßt sich ebensowohl auf die Sich-Durchsichtigkeit des Gottesverhältnisses übertragen, wie sie für den Begriff der Gewissensreligion und eine von hier aus konzipierte Christologie konstitutiv ist. Es ist offenkundig, daß Hirsch an einen solchen Explikationszusammenhang gestufter Reflexivität denkt, wenn er den beiden zuletzt zitierten Textstellen zufolge die innere Zuordnung der drei Kapitel über Offenbarung, Versöhnung und Neuschöpfung so vornimmt, daß sie zusammengenommen einen einzigen Gedankengang darstellen, dessen Voranschreiten eigentlich nur dem immer genaueren Erfassen eines und desselben Themas dient, nämlich dem Gehalt des Christusglaubens. Das Mehr an Einheit, das die christologischen Leitbegriffe über ihre bloß generische Zusammengehörigkeit und formale Isomorphic hinaus verbindet, verschafft sich in der Weise Geltung, daß die reflexive Erfassung des in seiner Definition noch nicht vollständig zum Ausdruck gekommenen Gehaltes des ersten Begriffes weitertreibt zum zweiten Begriff und von da aus dann zum dritten. Der eigentliche Gehalt des Offenbarungsbegriffs impliziert Momente, die erst vermittelst des Versöhnungsbegriffs und vermittelst des Begriffs der Neuschöpfung hinreichend expliziert werden können. Was so mit Hilfe des Versöhnungsbegriffs und vermittelst des Gedankens der Neuschöpfung in den Blick gerät, ist zwar der Erkenntnis, nicht aber der Sache nach neu;

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auf eine unentfaltete Weise ist es bereits im Offenbarungsbegriff enthalten. Alle drei christologischen Grundbegriffe lassen sich sonach auffassen als Stationen eines in sich geschlossenen Explikationszusammenhanges von in sich gestufter Reflexivität. Damit bewährt sich die oben vorgeschlagene Deutung jener Termini als Leitbegriffe der christologischen Reflexion auch im Hinblick auf die Struktur ihrer inneren Kohärenz. Damit ist nun allerdings zugleich gesagt, daß der Offenbarungsbegriff sich gegenüber den beiden anderen Leitbegriffen dadurch auszeichnet, daß er diejenige Bestimmtheit enthält, die explikativ auszuschöpfen wohl den Übergang zu den beiden anderen Begriffen erforderlich macht, die ihrem Gehalt nach jedoch die In-sich-Geschlossenheit der christologischen Reflexion verbürgt. Die dem Offenbarungsbegriff eigentümliche Bestimmtheit fungiert methodisch betrachtet sonach als das Vollständigkeitsprinzip der Christologie. Traten zunächst Offenbarung, Versöhnung und Neuschöpfung als koordinierte Arten des mit sich selbst identischen worthaften, göttlichen Handelns auf, so n i m m t nun zufolge der Strukturbestimmtheit der Christologie als eines in sich geschlossenen, linear fortschreitenden, reflexiven Explikationszusammenhanges der Offenbarungsbegriff eine systematisch privilegierte Stellung ein. Die Punktion eines Vollständigkeitsprinzips der Christologie vermag der Vollbegriff von Offenbarung aber nur einzunehmen, sofern er auch als ihr Reflexionsprinzip zu stehen kommt. D.h. die eigentümliche Bestimmtheit von Offenbarung kann den Einheitsgrund der christologischen Reflexion nur so in sich enthalten, daß dieser selbst sowohl die Notwendigkeit des Aus-sich-Herausgehens als auch die Notwendigkeit des In-sich-Zurücklaufens der Reflexion impliziert. Genau d a r u m definiert Hirsch "Offenbarung" als in sich reflektiertes Grundverhältnis, nämlich als "das Zugleich absoluter Durchsichtigkeit in sich selbst und absoluter Gründung des Lebens in G o t t " ( C h R II, 15). Die für den Glauben an das Evangelium konstitutive Bikonditionalität von absoluter Durchsichtigkeit u n d ewiger Gegründetheit stiftet die Einheit der christologischen Reflexion. Die in der absoluten Durchsichtigkeit enthaltene Notwendigkeit der Selbstexplikation ewiger Gegründetheit bewirkt das Aus-sich-Herausgehen der Reflexion aus jenem Grundverhältnis. Die schlechthinnige Innerlichkeit des in Gott Gegründetseins schließlich verleiht allen Reflexionsbestimmungen den Charakter der Selbsterfassung bzw. des In-sich-Zurücklaufens. Die Einheit der christologischen Reflexion bzw. die Koinzidenz ihres Aus-sichHerausgehens und In-sich-Zurücklaufens setzt allerdings voraus, daß die epistemische Instanz, welche die christologische Reflexion vollzieht, niem a n d anders ist als der von sich Rechenschaft gebende christliche Glaube selbst. Christlicher Glaube geht darum in christologische Reflexion über,

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weil der Glaube an das Evangelium die Vollendung des "sich gegenwärtig Sein[s] in Selbsterkenntnis" (Lf §71.A.) einschließt. Von dieser "ursprünglichen Reflexion" des Glaubens, welche dem christologischen Lehrstück den Charakter eines in sich einigen und zugleich sich ausdifferenzierenden Reflexionsganzen verleiht, ist wohl zu unterscheiden die "wache Reflexion" (ebd.), vermöge deren jenes Reflexionsganze seinen Niederschlag findet in Aussage und Begriff. Christologie vollzieht sich wie jedes andere Lehrstück der Dogmatik dem logischen Status nach auf der Ebene der "wachen" Reflexion. Aber solche dogmatische Konstruktion hebt den Glauben nicht auf eine neue Reflexionsebene. Christologie ist keine Metastufe des Glaubens. Wenn der Glaube an das Evangelium selbst die absolute Durchsichtigkeit des In-Gott-Gegründetseins darstellt, dann kann es keine darüber hegende höhere Gestalt theologischer Reflexivität geben. Christologische Begriffskonstruktion bringt nur insoweit etwas Neues zur Glaubensreflexion hinzu, als sie das methodische Handwerkszeug gedanklicher Bestimmtheit bereitstellt. Christologie ist kunstmäßige Darstellung der dem christlichen Glauben eigenen Reflexivität. Das von der Christologie her begründete Verständnis dogmatischer Konstruktion hat es Hirsch ermöglicht, zwei subjektivitätstheoretische Mängel der Theologie Schleiermachers zu vermeiden, nämlich daß 1. das Konstituiertsein des Subjekts im Absoluten auf einer dem Konstituierten selbst methodisch äußerlichen Ebene gedacht und bestimmt wird; dies hat zur Folge, daß 2. die Selbstdarstellung des christlichen Bewußtseins und die funktionale Rekonstruktion der dargestellten Inhalte im Horizont einer Theorie des Selbstbewußtseins auf verschiedenen Reflexionsstufen stehen. Die begriffliche Reflexion auf das Konstitutionsverhältnis zwischen dem Absoluten und dem von ihm Konstituierten wird nur dann dem Selbstverhältnis des letzteren wahrhaft gerecht, wenn sie sich selbst als Ausdruck seiner Reflexionsstruktur begreift. Der Glaube an das Evangelium fällt für Hirsch mit dem Vollzug christologischer Reflexion insoweit zusammen, als die Glaubensreflexivität selber die Notwendigkeit der Rechenschaft von sich impliziert. Das Auseinandertreten von Glaube und dogmatischer Konstruktion hinsichtlich der Reflexionsstufenzugehörigkeit ist nur dann beseitigt, wenn die begriffliche Reflexion auf die logische Deutlichkeit der Reflexivität des Glaubens begrenzt bleibt. Die dogmatische Konstruktion bedarf nicht mehr der Funktionalisierung der ihr vom religiösen Bewußtsein vorgelegten Inhalte auf einer von diesem verschiedenen Reflexionsstufe, weil sie an die Durchsichtigkeit des Glaubens anknüpfen kann, von der auch ihr eigener Reflexionscharakter herrührt.

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Zu dieser subjektivitätstheoretischen Überbietung Schleiermachers war Hirsch befähigt durch die Anwendung des Fichteschen Philosophiebegriffs auf das reformatorische Programm eines im Gewissen verankerten Gottesverhältnisses. Fichtes Nachweis der schlechthinnigen Durchsichtigkeit und Selbstvernichtung des Wissens am Absoluten als des Mittelpunktes des Wissens und die von hier aus begründete methodische Unterordnung der philosophischen Konstruktion unter die Selbstexplikation der internen Reflexivität von Wissen kehren in Hirschs Selbstbegrenzung dogmatischer Konstruktion gegenüber der in der Durchsichtigkeit des Glaubens ursprünglich enthaltenen Reflexivität unmittelbar wieder. Auch in subjektivitätstheoretisch-methodischer Hinsicht erweist sich Hirschs Christologie als eine innerneuprotestantische Alternative zur Theologie Schleiermachers.

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SCHÜTTE,

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Namenregister

Aland, Κ. 15 Althaus, P. 54, 141, 142, 550 Andreas, W. 175 Aristoteles 193, 388, 420, 425, 434 Arndt, H.W. 414 Athanasius 1, 57, 59 Augustin 46, 575 Bach, J.S. 135 Backs, S. 173 Bammel, E. 110, 271 Barth, K. 5, 25, 37, 60, 93, 136, 148152,154, 162,164, 368,401, 614, 615 Barth, U. 57, 63, 68, 88, 533 Baum, M. 131, 444, 445, 472, 475 Baur, F.Ch. 4, 136, 143, 159, 212, 227, 228, 231, 232 Baylor, M.G. 51 Bennett, J. 444 Berding, H. 171, 173, 176 Biel, G. 46 Birkner, H.-J. 3, 8, 212 Black, M. 272 Bodenstein, W. 19, 293 Böbel, F. 142, 552 Bohlin, T. 48 Bonhoeffer, D. 355 Bornkamm, G. 277 Bornkamm, H. 35, 48 Bousset, W. 4, 105-107, 110, 151, 270, 272 Braun, H. 277 Bretschneider, K.G. 3 Brunner, E. 25 Brunstäd, F. 486 Bubner, R. 445

Bultmann, R. 5-7, 54, 76-78, 136, 137,147-152,154, 168, 226, 228, 234, 239, 249, 257, 259, 277, 290, 402 Burckhardt, J. 193 Burger, Th. 194 Burkhardt, H. 424

114, 156, 241401,

Calvin, J. 22 Campenhausen, H.v. 138 Cassirer, E. 424 Cramer, Κ. 285, 444, 447, 449 Cramer, W. 298, 338, 449 Crusius, Ch.A. 442 Dahl, N.A. 111 Daub, Κ. 170 Dibelius, Μ. 239-242, 244, 247, 249 Dilthey, W. 5, 22, 193, 203, 205208, 211, 212, 223-225, 288, 405 Drechsler, J. 391 Droysen, J.G. 6, 193-203, 212, 217219,221,223-225,259,264, 288, 291 Ebbinghaus, J. 444 Ebner, F. 361 Ehrenberg, H. 361 Ericksen, R.P. 10 Fahrenbach,H. 626 Fascher, E. 242 Feuerbach, L. 361, 537, 539 Fichte, J.G. 8, 41, 67, 87, 177, 191, 194,198,214,217,220,252,

666 301, 309-315, 317-320, 323, 324, 326,329-335,337-340, 342, 343, 347, 348, 350-353, 355-358, 360-362, 366-371, 375, 378-383, 385, 386, 388390, 392, 396, 397,404,405, 489,491, 542, 557, 603, 626629, 632, 638 Ficker, J. 21 Finegan, J. 142 Fischer, H. 40, 61, 281, 570 Fuchs, Ε. 137, 277 Fuchs, W.P. 172, 179-181, 184, 186, 188, 193 Gadamer, H.-G. 170, 193, 200, 206 Geismar, Ε. 87, 382 Gerdes, Η. 3, 8, 236, 281, 549 Gericke, W. 59 Gestrich, Ch. 25 Geyer, H.-G. 615 Goethe, J.W. 177 Gogarten, F. 5, 35, 48, 60, 401 Grab, W. 10, 535 Graf, F.W. 89, 143, 597 Grillmeier, A. 59, 159 Grönbech, W. 154 Grotius, H. 573 Gumbrecht, H.U. 291 Guzzoni, U. 294 Gyllenkrok, A. 46 Haenchen, E. 228, 236 Haering, Th. 142 Härle, W. 542 Hahn, F. 236 Haller, J. 571 Harnack, A.v. 4, 8, 15, 16, 39, 41, 51, 56-60,105,114,148,150, 151,154,155,159, 261, 270, 279, 550, 575 Hartmann, N. 424 Hegel, G.F.W. 2, 8, 59, 168, 175, 184,187,191,193,198, 216, 217, 260, 261, 294, 318, 332,

Register 339, 375, 380, 381, 398, 404, 449, 621, 622 Heidegger, M. 5, 445 Heimsoeth, H. 464 Heitmüller, W. 151 Helbling, H. 173 Hengel, M. 131 Henrich, D. 101, 102, 311, 378, 383, 390, 440, 445, 450, 475 Herder, J.G. 193, 214 Herms, E. 87, 88, 290, 355, 560, 580 Herrmann, W. 52, 98, 149, 170, 603 Herz, Μ. 443, 444, 450, 471 Heuss, Th. 172 Hinrichs, C. 177 Hitler, A. 9, 10 Hobbes, Th. 22, 573 Hogrebe, W. 457 Holl, Κ. 8, 15-45, 47-49, 52, 53, 56, 79, 84, 87, 90, 93, 114, 122, 143, 160, 212, 292, 310, 368, 375, 381, 382, 514, 556, 562, 574, 575, 583, 603, 614 Holtzmann, H.J. 239 Hübner, R. 203 Hume, D. 227, 420, 434 Iggers, G.G. 173, 186, 204, 206 Jacob, H. 390 Jahnson, H. 458 Janke, W. 310, 311, 313, 338, 378, 379, 383, 390, 424 Jaspers, K. 281 Jülicher, A. 15 Kaehler, M. 142, 170 Käsemann, Ε. 136, 277 Kaftan, J. 46, 47, 50 Kant, I. 8, 23, 37, 69, 87, 92, 100, 101, 314, 317, 322, 329, 331333, 339, 353, 356, 378, 380, 381,388, 389,407,413,414, 417, 418, 423, 424, 433-437, 439-444, 446, 447, 449-453,

Register 455-467, 469-474, 476, 483486, 488, 492, 557, 603 Karpp, Η. 15 Kattenbusch, Fr. 48 Kelsos, 252 Kierkegaard, S. 1, 3, 8, 55, 60, 61, 66, 86, 87, 124, 170, 280, 281, 310, 367, 368, 373, 404, 510, 561, 562, 609, 625-627 Klein, G. 141 Kleist, H.v. 542 Knutzen, M. 434 Koch, H. 2 Koch, T. 4 Koch, H.W. 174 Kocka, J. 6 Köpf, U. 298 Kohlstrunk, I. 194 Korsch, D. 19, 23 Koselleck, R. 6 Krausser, P. 451 Krieger, L. 173 Krockow, Ch.v. 89 Kroner, R. 381 Krüger, L. 414, 472 Lange, D. 3, 151, 152, 236, 280, 290, 496, 580 Lehmann, Μ. 236 Leibniz, G.W. 413, 414, 423-440, 457, 458,464, 476,477,485, 491, 492, 557 Leipold, Η. 25 Lessing, G.E. 169 Leyh, P. 194 Lietzmann, H. 15, 16, 19, 54, 151, 412, 574 Locke, J. 413-426, 428-131, 433-440, 449,456,464,466,476,485, 491, 492, 573 Lohse, B. 35, 46 Loofs, F. 46, 56, 59 Lorenz, R. 57 Lüdemann, G. 154, 236, 270

667 Luther, Μ. 1, 3, 8, 11, 15-19, 21, 22, 24, 25, 29-36, 38-18, 50-53, 58, 65-67,79-81,84, 87, 90, 94, 100, 122, 160, 177, 188, 219,292,307,310,320,365, 375, 381, 382, 389, 392, 395, 514, 556-558, 563, 568-574, 576, 577, 580-584, 595, 596, 602, 603, 614-619, 621, 628 Maclean, M.J. 194 Maxcell v. Ancyra, 59 Martin, G. 424 Meckenstock, G. 390, 391 Meier, Ch. 6 Meinecke, F. 171, 176, 183, 190 Melanchthon, Ph. 31, 45, 50 Meyer, E. 236, 270, 272 Millar, F. 272 Moltmann, J. 60 Mommsen, W.J. 6 Müller, H.-J. 390 Müller, Η.Μ. 549 Müller, Η.Μ. 48 Münzer, Th. 22 Nabrings, Α. 173 Neuenschwander, U. 10 Newton, I. 388, 434 Niebuhr, B.G. 173 Nietzsche, F. 8, 211, 216, 405, 490 Nizolius, 428 Novalis, 20 Ohst, M. 56 Origenes, 2, 59, 252 Oslander, A. 8, 44, 45, 49 Otto, R. 371, 496 Pannenberg, W. 93, 146, 147, 169, 562 Patzig, G. 101 Pesch, R. 141 Petrus Lombardus, 46 Piaton, 57, 193, 323, 388, 397, 416, 434, 544, 545, 590

668 Pölitz, K.H.L. 441 Prauss, G. 451, 457, 459 Prenter, R. 48 Rade, Μ. 41, 352, 385 Radermacher, Η. 352, 385 Ranke, Η. 177, 192 Ranke, L.v. 6, 169, 171-185, 187194, 202, 203, 212, 213, 217219, 228, 229, 264, 268, 287 Ranke, 0 . 181, 192 Reich, K. 438, 472 Rendtorff, T. 556 Repgen, K. 172 Rickert, H. 6, 204, 206-212, 223, 225, 226, 237, 253, 287 Riehl, A. 414, 434, 443, 486 Ringleben, J. 626 Ritsehl, A. 36, 41, 51, 56, 58, 79, 118, 143, 575 Ritsehl, D. 57 Rothacker, 178 Rüsen, J. 6, 194 Sanders, E.P. 272, 273 Schattenmann, P. 15 Scheidweiler, F. 59 Schj0rring, J.H. 87, 213, 542 Schlatter, A. 15, 68, 79 Schleiermacher, F.D.E. 2, 3, 5, 8, 21, 55, 59, 60, 62-65, 67, 68, 79, 105, 119, 162, 167, 168, 177, 203, 214, 252, 262, 280, 296, 332, 401, 533, 580-583, 589,610,611,632,633,637, 638 Schmidt, K.L. 247 Schnädelbach, H. 204 Schneider-Flume, G. 89, 213, 542, 577 Schniewind, J. 250 Schönrich, G. 457 Scholder, K. 543, 563 Schottroff, W. 280 Schrempf, Ch. 31

Register Schürer, E. 270, 272 Schütte, H.-W. 9, 11, 17, 35, 41, 357, 382, 390 Schulte, G. 391 Schwartz, Ε. 235 Schwarz, R. 49, 51, 81, 160 Schweitzer, A. 4, 117, 118, 239, 259 Seeberg, E. 10 Seeberg, R. 56 Siegele-Wenschkewitz, L. 15 Silberman, L.H. 271 Smend, R. 271 Spieler, K.-H. 194 Spinoza, B. 378, 388 Stegemann, W. 226 Stegmüller, W. 444 Stephan, H. 17, 36 Stolzenberg, J. 311, 338, 379, 383 Strauß, D.F. 4 Strawson, P.F. 464 Streisand, J. 194 Stupperich, R. 15 Süskind, H. 262 Tanner, K. 39, 213, 355, 558, 561 Tetz, M. 59 Thieme, K. 48 Thomas von Aquin 1 Tillich, P. 60, 93, 309, 357-359, 369, 375,377, 384,386,398,401, 404 Treitschke, H.v. 542 Trillhaas, W. 8 Troeltsch, E. 2, 40, 143, 171, 175, 191, 208, 258, 261-264, 268, 366, 369, 556-558, 570-572, 575 Tuschling, B. 445 Übelhack, R. 180, 194, 206 Vaihinger, H. 486 Vermes, G. 272 Vierhaus, R. 180 Vogelsang, E. 50, 51, 94, 615, 616

Register Wagner, Η. 445 Wallmann, J. 15, 18, 19 Walther, W. 17, 48 Weber, Μ. 208 Weinrich, Μ. 355 Weiß, J. 117, 143, 144, 145, 146, 147, 151 Weizsäcker, C. 143, 144, 146 Wellhausen, J. 4, 110-112, 114, 118, 119, 133, 229, 236, 238, 239, 255, 257, 258, 270-272, 274 Wernle, P. 79, 256, 270 Widmann, J. 390 Wieland, W. 296

669 Windelband, W. 204-208, 210, 223, 226, 237 Wolf, E. 10 Wolff, Ch. 439, 442 Wolff, 0 . 35 Wolff, R.P. 445 Wright, G.H.v. 225 Wünsch, G. 40 Wundt, M. 338, 390 Wundt, W. 144, 215 Zahn, Th. 59 Zemlin, M.-J. 172, 173

EMANUEL HIRSCH Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik Die Dogmatik der Reformatoren und der altevangelischen Lehrer quellenmäßig belegt und verdeutscht 4. Auflage. Oktav. XII, 446 Seiten. 1964. Broschiert DM 52,ISBN 3110012421

Das Wesen des reformatorischen Christentums Oktav. VI, 270 Seiten. 1963. Ganzleinen DM 26,ISBN 3 11009262 X

Predigerfibel Oktav. XII, 514 Seiten. 1964. Ganzleinen DM 5 2 ISBN 311009260 3

Hauptfragen christlicher Religionsphilosophie Oktav. VIII, 405 Seiten. 1964. Broschiert DM 44,50 ISBN 3110092611 (Die kleinen de Gruyter-Bände 5)

Ethos und Evangelium Oktav. X, 443 Seiten. 1966. Ganzleinen DM 84,ISBN 3110063115

Weltbewußtsein und Glaubensgeheimnis Oktav. VI, 270 Seiten. 1967. Broschiert DM 46,ISBN 311001275 8

Betrachtungen zu Wort und Geschichte Jesu Oktav. VI, 241 Seiten. 1969. Ganzleinen DM 33,50 ISBN 3110011921

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Christentumsgeschichte und Wahrheitsbewußtsein Studien zur Theologie Emanuel Hirschs Herausgegeben von Joachim Ringleben Oktav. VII, 254 Seiten. 1991. Ganzleinen DM 1 1 2 , - ISBN 3 11 012700 8 (Theologische Bibliothek Töpelmann, Band 50) Untersuchungen zu Emanuel Hirschs kritischer Rekonstruktion der Geschichte des frühen Christentums und der neueren evangelischen Theologie und zu seiner Rezeption neuzeitlichen Denkens in der Theologie und Philosophie (Schleiermacher, Hegel) sowie zum Gegenwartsbezug seines Denkens (das Heilige, christliche Predigt).

A R N U L F VON S C H E L I H A

Emanuel Hirsch als Dogmatiker Zum Programm der „christlichen Rechenschaft" im „Leitfaden zur christlichen Lehre" Oktav. XVII, 528 Seiten. 1991. DM 1 8 6 , - ISBN 3 11 012789 X (Theologische Bibliothek Töpelmann, Band 53) Die Untersuchung befaßt sich mit einem vergessenen Teil von Hirschs Oeuvre. Auf die genetische Erschließung von Hirschs Theologieverständnis bis 1934 folgt die Entfaltung des Programms einer ,christlichen Rechenschaft' im ,Leitfaden zur christlichen Lehre' von 1938, die als organisierendes Zentrum von Hirschs Schaffen hervortritt und im Zusammenhang mit Hirschs Deutung der neueren Theologiegeschichte zur Geltung gebracht wird.

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