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German Pages 313 Year 1997
SYBILLE BRÜNING
Die Beachtlichkeit des fremden ordre public
Schriften zum Internationalen Recht
Band 89
Die Beachtlichkeit des fremden ordre public
Von
Sybille Brüning
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Brüning, Sybille: Die Beachtlichkeit des fremden ordre public I von Sybille Brüning. Berlin : Duncker und Humblot, 1997 (Schriften zum internationalen Recht ; Bd. 89) Zugl.: Passau, Univ., Diss., 1996 ISBN 3-428-09045-4
Alle Rechte vorbehalten
© 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7646 ISBN 3-428-09045-4
Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@
Vorwort Die nachfolgende Schrift zum ordre public, die der Juristischen Fakultät der Universität Passau im Wintersemester 1995/96 als Dissertation vorlag, befaßt sich mit einem der schillerndsten und meistdiskutierten Begriffe des Internationalen Privatrechts. Dies war mir über die Jahre der Entstehung stets Herausforderung und Freude zugleich. Das Thema sowie umfassende Hilfestellung verdanke ich meinem verehrten Lehrer, Herrn Professor Klaus Schurig, der nach der Anregung zur Beschäftigung mit dem fremden ordre public fortwährend mit Rat und Tat zur Seite stand. Danken möchte ich ihm nicht nur für die vielen wertvollen sachlichen Hinweise, sondern auch und vor allem für die hervorragende Betreuung und den menschlichen Zuspruch, die ich über die Jahre von seiner Seite erfahren durfte. Dankenswerterweise übernahm Herr Professor Dr. Hans-Joachim Musielak die Erstellung des Zweitgutachtens. Besonderer Dank gebührt darüber hinaus dem Institut für Internationales Recht der Freien Universität Berlin und seinen Mitarbeitern, ohne deren Unterstützung die Durchsicht der umfangreichen Literatur nur schwer zu bewältigen gewesen wäre, bot doch die gut geführte Institutsbibliothek einen überreichen Quell an Material. Schließlich gilt der Dank meinem Mann für seine Unterstützung und sein gleichbleibendes Vertrauen in den erfolgreichen Abschluß der Arbeit. Ich widme diese Arbeit meinen Eltern. Lahore (Pakistan), im Februar 1997
Sybille BTÜning
Inhaltsverzeichnis
Einleitung ......................................................................................................................... 13
Erster Teil Rechtspolitische Diskussion
A. Beispiele für die (Nicht-) Beachtung des fremden ordre public ............................... 17 I.
.. Argentinier-Scheidung" ................................................................................ 17
11.
..Ehelichkeitsanfechtung eines Kanadiers" .................................................... 19
111.
..Französischer Erblasser" .............................................................................. 20
IV.
..Legitimationsfälle" ....................................................................................... 22
V.
..Spanierheirat" ............................................................................................... 25
VI.
..Russische Jüdin aus Odessa ... " .................................................................... 28
VII.
..Zyprerheirat" ................................................................................................ 30 1. Ausgangsfall ............................................................................................ 30 2. ..Deutsche Variante" ................................................................................ 31 3. ..Abwandlung des AusgangsfaJls" ........................................................... 33
VIII. ..Mehrehe" ...................................................................................................... 35 IX.
..Trauung durch den Sohn des Standesbeamten" ........................................... .35
X.
..Helene Böhlau" ............................................................................................ 37
XI.
..Mexikoscheidung" ....................................................................................... .40
XII.
..Verstoßung einer Deutschen" ...................................................................... .43
XIII. ..Verstoßung einer Französin" ...................................................................... ..45 XIV. "Thailänderscheidung in Deutschland" ......................................................... .46 XV.
Fazit ............................................................................................................... .47
8
Inhaltsverzeichnis
B. Rechtspolitische Bedenken gegen die Beachtlichkeit .............................................. .49 I.
Mangelndes rechts politisches Bedürfnis ........................................................ 49
11.
Souveränitätsverlust ........................................................................................ 55
III.
Schwierigkeit der Feststellung ........................................................................ 59
IV.
Verlust des inneren Entscheidungseinklangs ................................................. 62
V.
Rechtsunsicherheit und Komplizierung des IPR ............................................ 69
C. Rechtspolitische Gründe für die Beachtlichkeit.. ...................................................... 74
I.
Gleichheitsgrundsatz ...................................................................................... 74 1. Aspekte der Gleichheit ............................................................................ 77 2. Gleichheit durch Selbstbeschränkung ...................................................... 86
11.
Gerechtigkeitsgebot ........................................................................................ 87
III.
Äußerer bzw. internationaler Entscheidungseinklang .................................... 92 1. Bedeutung als allgemeiner Rechtsgrundsatz ........................................... 94 2.
Äußerer Entscheidungseinklang und Renvoi ........................................... 96
3. Entscheidungseinklang und drittstaatIicher ordre public ......................... 98 4. Verschiedene Wege zum Entscheidungseinklang ................................ 101 5. Entscheidungseinklang und Anerkennung ............................................ 102 IV.
V.
Schutz "wohlerworbener Rechte" ............................................................... 104 1.
Der Grundsatz des wohlerworbenen Rechts im IPR ............................. 104
2.
Kritik ..................................................................................................... 106
Durchsetzbarkeit. ......................................................................................... 110 1. Die Theorie der "Näherberechtigung" .................................................. 110 2.
Kritik ..................................................................................................... 111
3. Das Durchsetzbarkeitsinteresse als legitimes Ordnungsinteresse der lex fori ............................................................................................. 114 VI.
Verhinderung von Umgehungsgeschäften .................................................. 116 1. Der Begriff der "Gesetzesumgehung" im IPR ..................................... 117 2. Lösung für das Umgehungsproblem ..................................................... 119 3. Zusammentreffen von Umgehung und ordre public ............................. 120
VII.
Comitas ........................................................................................................ 122
Inhaltsverzeichnis
9
VIII. Fazit ............................................................................................................. 124
Zweiter Teil
Strukturelle Erwägungen A. Beispiele für die Berücksichtigung fremder Eingriffsnormen ............................... 126 I.
"Amerikanisches Borax-Embargo" ............................................................. 126
11.
"Nigeria-Kulturgut"-Entscheidung ............................................................. 127
III.
"Schmiergeld" - Entscheidung .................................................................... 129
IV
,,Englischer Walfischtran" ........................................................................... 130
V.
"Englisches Handelsverbot" ........................................................................ 131
VI.
"Verweigertes Bankakzept" ........................................................................ 133
VII.
"Iranischer Bierliefervertrag" ...................................................................... 133
VIII. "Russische Schuldverschreibung" ("Rubel fall I") ...................................... 134 IX.
"Rubel fall 11" ............................................................................................... 136
X.
"Österreichisches Roulette" ......................................................................... 137
XI.
"Forderungs abtretung" ................................................................................ 139
XII.
"Alexander Solschenizyn" .......................................................................... 141
B. Theoretische Grundlagen der Berücksichtigung fremder Eingriffsnormen ........... 143 I.
Sachrechtliche Lösungsansätze ................................................................... 144 1. Die Berücksichtigung über die Sittenwidrigkeitsklausel des § 138 BGB ............................................................................................ 146 2.
11.
Die Berücksichtigung als dauerndes Leistungshindernis i. S. d. Unmöglichkeitsregeln ........................................................................... 152
Kollisionsrechtliche Lösungswege .............................................................. 156 1.
Die Schuldstatutstheorie ....................................................................... 157
2.
"Positiver ordre public" ........................................................................ 162
3.
Die sog. "Sonderanknüpfung" .............................................................. 165
4.
Die "Besondere Anknüpfung" .............................................................. 174
10
Inhaltsverzeichnis IH.
Fazit ................................................... .......................................................... 181
C. Die Struktur des ordre public ................................................................................. 183
1.
Positive oder negative Funktion? ................................................................ 184
H.
Struktur und Aufbau der selbständigen Kollisionsnorm ............................. 189
III.
Tatbestand der ordre-public-Klausel ........................................................... 193 1.
Natur und Bedeutung der "wesentlichen Grundsätze des deutschen Rechts .................................................................................................... 193
2.
Bedeutung der "Inlandsbeziehung" ...................................................... 201
IV.
Methodisches Vorgehen .............................................................................. 208
V.
Rechtsfolge .................................................................................................. 213
VI.
"Durchgangsfunktion"? ............................................................................... 220
D. Wertungswiderspruch ............................................................................................. 228
Dritter Teil Voraussetzungen und Grenzen der BeachtIichkeit
A. Die Voraussetzungen ............................................................................................. 236 1.
Die Berücksichtigung bei der Anwendung ausländischen Kollisionsrechts - "Renvoi" ......................................................................................... 236
H.
Die Voraussetzungen für die Berücksichtigung eines drittstaatlichen ordre public ................................................................................................. 244
B. Die Grenzen ........................................................................................................... 252 1.
Die öffentlichrechtlichen Inhalte des fremden ordre public? ...................... 252
II.
Der politische Charakter? ............................................................................ 261
III.
Die fehlende "Austauschbarkeit"? .............................................................. 266
IV.
Der eigene ordre-public-Vorbehalt ............................................................. 272
C. Praktische Umsetzung anhand der Beispielsfälle .................................................. 278
1.
Ordre public des Renvoi-Staates ................................................................. 278
Inhaltsverzeichnis
11
1. "Argentinierscheidung" ........................................................................ 278
11.
2.
"Ehelichkeitsanfechtung eines Kanadiers" ...................................... ..... 279
3.
"Französischer Erblasser" ..................................................................... 280
4.
Legitimationsfälle ................................................................................. 281
5.
"Spanierheirat I" ................................................................................... 282
6.
"Russische Jüdin aus Odessa" .............................................................. 282
Drittstaatlicher ordre public ......................................................................... 283 1.
,,Zyprerheirat" - Ausgangsfall .............................................................. 284
2.
"Zyprerheirat" - Abwandlung des Ausgangsfalles ............................... 286
3. "Mehrehe" ............................................................................................. 287 4.
"Trauung durch den Sohn des Standesbeamten" .................................. 288
5.
"Verstoßung einer Französin" .............................................................. 289
6.
"Thailänderscheidung in einem Drittstaat" .......................................... 290
7.
"Spanierheirat 11" .................................................................................. 290
8.
"Iranischer Bierliefervertrag" ............................................................... 292
D. Ergebnis ................................................................................................................. 294
Literaturverzeichnis ...................................................................................................... 297 Sachverzeichnis ............................................................................................................. 309
Einleitung
Die durch die Kollisionsnormen ausgesprochene Verweisung auf ausländisches Recht kann zu Ergebnissen führen, die aus deutscher Sicht unerträglich erscheinen bzw. dem Wortlaut des Art. 6 EGBGB (n.F.)1 zufolge "mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar" sind. 2 Für diesen Fall ennöglicht die ordre-public-Klausel Abhilfe dadurch, daß die entsprechende fremde Norm von der Anwendung ausgeschlossen wird. 3 Der viel zitierte "Sprung ins Dunkle"4 erfolgt zumindest nicht ohne Netz. Bei "aller programmierten Unbestimmtheit der Anwendung im einzelnen" erfolgt das Eingreifen des inländischen ordre public heute - im Ergebnis - nach einigen "im großen und ganzen übereinstimmenden Grundsätzen".5 Insgesamt kann man von einer "wissenschaftlich ziemlich fest umrissenen kollisionsrechtlichen Erscheinung sprechen".6 - Ähnliche Sicherheit fehlt dagegen im Umgang mit der Frage, ob der Forumrichter unter Umständen auch den ordre public einer fremden Rechtsordnung zu beachten hat. Hier ist - zu Lasten der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit - noch Vieles im Grundsatz streitig.? I Trotz des veränderten Wortlauts erfüllt Art. 6 (n.F.) die gleiche Funktion wie Art. 30 (a.F.); dazu MK-Sonnenberger, zu Art. 6 EGBGB (n.F.), Rz. I, m.w.N. 2 Vgl. Raape, IPR, S. 62: (ausländische) "Sachnormen, deren Anwendung uns widerstrebt, Normen, die unsere Gefühle verletzen oder wichtige Zwecke unserer Rechtsordnung durchkreuzen". 3 Zur "Rechtsfolge" der ordre-public-Anwendung s. Zweiter Teil, C.V. 4 Raape, aaO, S. 62: "Die Verweisung auf das ausländische Recht ist ein Sprung ins Dunkle." 5 Mit Worten übernommen von Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, S. 249 f., dem zufolge dieser Konsens zumindest in Bezug auf die sog. Abwehrfunktion ("negative" Funktion) des ordre public existiert. Ähnlich Spickhoff, ordre public, S. 134, der u.a. deshalb an den praktischen Konsequenzen einer Auseinandersetzung um die dogmatische Einordnung des ordre public zweifelt. - Zu den Anwendungsvoraussetzungen im einzelnen vgl. im Zweiten Teil, C. 6 Schurig, aaO. 7 Zum Aspekt der fehlenden Rechtssicherheit vgl. insbesondere im Ersten Teil, B.l. Ähnlich auch Meise, Relativität, S. 26, über die Rechtsprechung: "Die Untersuchung der deutschen Rechtsprechung ergibt, daß eine einheitliche Linie nicht besteht."
14
Einleitung
Üblicherweise wird in Abhandlungen zur ordre-public-Klausel zwischen der Frage der Beachtlichkeit des fremden ordre public im Rahmen einer Rück- oder Weiterverweisung (Renvoi) und der Frage der Beachtlichkeit eines sog. drittstaatlichen ordre public, d.h. dem Fall, daß der fragliche fremde ordre public weder der lex fori noch der lex causae angehört, differenziert. 8 Die Tendenz geht heute dahin, den fremden ordre public dann anzuerkennen, wenn das fremde Kollisionsrecht zu berücksichtigen ist, also im Rahmen des Renvoi 9 ; dagegen soll der drittstaatliche ordre public weitgehend unberücksichtigt bleiben. lo - Diese üblich gewordene Zweiteilung der Problematik tritt in der nachfolgenden Darstellung in den Hintergrund 11, weil die Frage nach der Beachtlichkeit des fremden ordre public nach Möglichkeit allgemeingültig, d.h. theoretisch-abstrakt, beantwortet werden soll, also unabhängig von etablierten Fallgruppen. Zu diesem Zweck orientiert sich der Gang der Darstellung an den beiden folgenden Fragen: Die eine ist rechtspolitischer Natur: Ist es überhaupt wünschenswert, den fremden ordre public zu beachten, und wenn ja, in weIchem Umfang? (Erster Teil) - Untersucht werden einerseits die Gründe, die für eine Beachtlichkeit des fremden ordre public sprechen. 12 Beispielsweise hinterläßt die Nichtberücksichtigung der fremden ordre-public-Klausel dann ein unbefriedigendes Gefühl, wenn die fremden ordre-public-Grundsätze mit den inländischen übereinstimmen und auch die kollisionsrechtliche Interessenlage vergleichbar ist. 13 Sollte man nicht "aus Gründen der Kongruenz, der Gleichbehandlung gleicher intemationalpri vatrechtlicher Interessen" die gleichlautenden Grundsätze einer
8 Zu dieser Differenzierung: Melchior, Grundlagen, S. 371; Wolff, IPR, S. 46; Neuhaus, Grundbegriffe, S. 387; Kegel, IPR, S. 336; KellerlSiehr, Allgemeine Lehren, S. 547; Marti, Vorbehalt, S. 53; Jagmetti, Fremdes Kollisionsrecht, S. 231 ff.; MK-Sonnenberger, aaO, Rz. 62; Jaenicke, BerGesVR 7, S. 231 (236); Meise, aaO, S. 14 ff.; Spickhoff, Ordre public, S. 93. - Ebenso die Rechtsprechung, vgl. Erster Teil, A. Grundsätzlich gegen die Beachtlichkeit eines ausländischen ordre public jedoch: K. Müller, Dt. Scheidungsurteil, S. 68; ValJindas, Vorbehalt, S. 7; Frankenstein, IPR I, S. 228. - Vereinzelt wird auch zwischen Rück- und Weiterverweisung unterschieden: Dälle, IPR, S. 86 f.; Niederer, Einführung, S. 301-305. 9 Vgl. die Nachweise in Fn.8. 10 Ausdrücklich ablehnend Raape/Sturrn, IPR, S. 220. 11 Mit Einschränkung im Ersten Teil, C.III. zum Grundsatz des internationalen Entscheidungseinklangs; vgl. außerdem zu den Voraussetzungen der Beachtlichkeit im Dritten Teil, A. 12 Erster Teil, C. 13 Vgl. unten Erster Teil, c.1., zum "Gleichheitssatz".
Einleitung
15
fremden Rechtsordnung zur Anwendung heranziehen?14 Andererseits löst die Vorstellung, ordre-public-bewehrte fremdstaatliche Rechtsprinzipien, u.U. wenig konkretisierte Wertvorstellungen einer fremden Gesellschaftsordnung, zu beachten und gegebenenfalls gegen die eigentlich berufene lex causae oder gar die lex fori "durchschlagen" zu lassen, Bedenken und Einwände l5 aus, die es gleichfalls zu untersuchen und zu bewerten gilt. Eine Reihe von Beispielsfällen aus Rechtsprechung und Literatur l6 , die der Argumentation vorangestellt ist, soll den Einstieg in die rechtspolitische Diskussion erleichtern. Die zweite Frage betrifft die rechtstheoretische Ebene: Auf welcher systematischen Grundlage könnte die Berücksichtigung der fremden ordre-publicKlausel erfolgen? Läßt sich die Beachtlichkeit - soweit sie sich als rechtspolitisch wünschenswert erweist - dogmatisch-theoretisch begründen? - Im Mittelpunkt dieses Zweiten Teils steht der Gedanke, ob nicht aus dem Vergleich mit der ähnlich gelagerten Problematik der Anwendbarkeit fremder "Eingriffsnormen " Hinweise für die dogmatische Einordnung des fremden ordre public zu erlangen sind. Zu diesem Zweck werden zunächst die wesentlichen der zu den "Eingriffsnormen" vertretenen Lösungsvorschläge systematisiert und auf ihre methodischen Grundlagen hin überprüft. 17 - Denn auch in Bezug auf die Anwendung "fremder zwingender Rechtssätze" ist Vieles umstritten. Allerdings geht aus den auch dem Zweiten Teil vorangestellten Rechtsprechungsbeispielen l8 hervor, daß bei aller Uneinigkeit über den methodischen Ansatz im Ergebnis übereinstimmend fremde, auch drittstaatliche Eingriffsnormen von Fall zu Fall Beachtung finden. - Sodann sind zum Vergleich die Struktur und die dogmatische Einordnung der ordre-public-Klausel, deren "Besonderheiten"19 u.a. für die Nichtanerkennung des fremden ordre public verantwortlich gemacht werden 20 , Gegenstand der Darstellung. 21
Mit Worten übernommen von Schurig, aaO, S. 262. Erster Teil, B. 16 Erster Teil, A. 17 Zweiter Teil, B. 18 Zweiter Teil, A. 19 Schurig, aaO, S. 253. 20 Vgl. K. Müller, Dt. Scheidungsurteil, S. 66 ff. (68), der die Berücksichtigung des ordre public der rückverweisenden Rechtsordnung mit Hinweis auf die andersartige "Konstruktion" und den besonderen "systematischen Standort" der ordre-public-Klausel ablehnt; ähnlich Lagarde, Recherches, S. 221 f. 21 Zweiter Teil, C. 14
15
16
Einleitung
Rückschlüsse von den systematischen Grundlagen der Anwendung fremder "Eingriffsnormen" auf die Frage der Beachtlichkeit des fremden ordre public setzen voraus, daß Klarheit über den Charakter der ordre-public-Anwendung besteht. Daher können Strukturfragen hier nicht offenbleiben 22 , wenngleich es an "praktischen" Auswirkungen für die Anwendung des eigenen ordre public fehlen mag. Diese Strukturfragen rühren, da der ordre public "ein Rechtsinstitut ist, das in gewissem Ausmaß sämtliche Institute des internationalen Privatrechts überspannt"23, an die Grundlagen des kollisionsrechtlichen Systems. Es geht um die Frage, worin der besondere Charakter des ordre public einerseits und des sog. "Eingriffsrechts" andererseits besteht und ob in deren Behandlung Unterschiede zum "klassischen" kollisionsrechtlichen System zu erkennen sind. Sofern sich die kollisionsrechtliche Behandlung des fremden "Eingriffsrechts" von der fremder ordre-public-Klauseln unterscheidet, wird schließlich zu überlegen sein, ob diese Ungleichbehandlung sich auf strukturelle Unterschiede stützen kann oder aber in Anbetracht weitgehender dogmatisch-struktureller Übereinstimmungen ungerechtfertigt und daher abzulehnen ist. 24
In einem Dritten Teil werden schließlich die Voraussetzungen genauer untersucht, unter denen ein fremder ordre public anzuerkennen ist. 25 Da der Forumrichter jedoch den fremden ordre public vermutlich nicht in jedem Fall berücksichtigen kann, ist hier auch nach den Grenzen der Beachtlichkeit zu fragen. 26 Es bleibt zu hoffen - nicht nur aus der Sicht der Verfasserin -, daß diese Arbeit einen Beitrag dazu leisten kann, mehr Klarheit und Berechenbarkeit im Umgang mit dem fremden ordre public zu schaffen.
Anders jedoch Spickhoff, aaO, S. 135; ähnlich K. Müller, aaO, S. 66 f. Mit Worten übernommen von Scheucher, ordre public, S. 16; vgl. hierzu Wiethölters (lnt. o.p., S. 134) häufig zitierten Ausspruch über die Bedeutung des ordre public: ..... das IPR in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im allgemeinen und in allen Besonderheiten. " 24 Zweiter Teil, D. 25 Dritter Teil, A. 26 Dritter Teil, B. 22 23
Erster Teil
Rechtspolitische Diskussion A. Beispiele für die (Nicht-) Beachtung des fremden ordre public I. "Argentinier-Scheidung" Im Jahre 1909 hatte das OLG Karlsruhe folgenden FaHl zu entscheiden: Argentinische Staatsangehörige hatten in ihrem Heimatland geheiratet. Bald nach der Eheschließung übersiedelte das Paar nach Deutschland, wo es seinen Wohnsitz nahm. Das OLG Karlsruhe war mit der Scheidungsklage der Eheleute befaßt. Das Gericht nahm in der Frage des anwendbaren Rechts eine Rückverweisung des gern. Art. 17 Abs.l EGBGB (a.F.) an sich berufenen argentinischen Rechts auf das deutsche Wohnsitzrecht an mit der Begründung, das argentinische KoHisionsrecht sei in statusrechtlichen Fragen vom Domizilprinzip beherrscht; diesem Renvoi habe das Gericht gern. Art. 27 EGBGB (a.F.) Folge zu leisten. 2 Die Richter standen dabei vor der Frage, inwieweit trotz der Anwendung des deutschen Scheidungsrechts die argentinische Rechtsauffassung zu beachten war, wonach die Scheidung von Ehen, die in Argentinien selbst geschlossen worden waren, verboten war. 3 Da das Scheidungsverbot in Argentinien so schwer wog, daß es zum dortigen ordre public zu rechnen war4, ging es - mit anderen Worten - um die Beachtlichkeit des argentinischen ordre public.
I Dargestellt in NZ (Niemeyers Zeitschrift) 19 (1909), 454 ff. mit Anm. Dietz.; ausführlich zitiert auch bei Frankenstein, IPR I, S. 70-72. 2 aaO. 3 Zum Nachweis des argentinischen Scheidungsverbots: Dietz, Domizilprinzip, S. 448 ff. - Mittlerweile ist die Scheidung auch der in Argentinien geschlossenen Ehen gesetzlich anerkannt, vgl. Bergmann/Ferid, Int. Ehe- und Kindschaftsrecht, Bd. I: Argentinien, S. 19 u. 25. 4 Dietz, aaO. 2 Brüning
18
Erster Teil: Rechtspolitische Diskussion
Das OLG Karlsruhe schied die Ehe der bei den Argentinier in Kenntnis und dennoch ungeachtet der Tatsache, daß der Heimatstaat diese Scheidung nicht anerkennen würde. Hierzu führte das Gericht aus: "Die Tatsache, daß die Auflösung der Ehe durch ein ausländisches Gericht den geschiedenen Ehegatten nicht das Recht gibt, eine neue Ehe in Argentinien eingehen zu können, ist nicht geeignet, eine andere Auffassung zu begründen, da grundSätzlich das argentinische Recht die Rechte und Pflichten der Ehegatten nach den Gesetzen des Wohnsitzes geregelt wissen will und keinerlei Beschränkung der Anwendung fremder Gesetze im fremden Lande gegenüber argentinischen Bürgern kennt."- Über die Tragweite dieser Entscheidung besteht Uneinigkeit; man streitet sich, inwieweit dieses Urteil des OLG Karlsruhe als generelle Zurückweisung des fremden ordre public zu werten ist 5 : In älteren Stellungnahmen 6 wird in Abrede gestellt, daß das argentinische Recht in diesem Fall tatsächlich auf die deutschen Gesetze - im Sinne des Art. 27 EGBGB (a.F.) - "zurückverweisen" wollte. Das OLG Karlsruhe habe die Tragweite des Domizilprinzips verkannt. 7 Frankenstein distanziert sich ausdrücklich, von der Beachtlichkeit des ordre public des "rückverweisenden" Rechts zu sprechen. 8 - Nach dieser Ansicht hätte es bei der Anknüpfung des Art. 17 EGBGB (a.F.) an das Heimatrecht verbleiben müssen mit der Folge, daß sich die Frage der Rücksichtnahme auf den fremden (argentinischen) ordre public gar nicht stellte. Der Ansatz Frankensteins, wonach von der Verweisung, auch einer Rückverweisung, diejenigen Rechtssätze nicht erfaßt werden, welche gegen den ordre public des verweisenden Rechts verstoßen 9, vermeidet das Problem jedoch nur scheinbar: Wenn die Rückverweisung des argentinischen Rechts auf das 5 Meise, Relativität, S. 22: keine ,,kategorische Ablehnung der Berücksichtigung des ausländischen ordre public"; a.A. wohl aber Jagmeui, Fremdes Kollisionsrecht, S. 240, Fn.29. 6 Dietz, aaO; Frankenstein, aaO. 7 Dietz, aaO: Seiner Ansicht nach führt das Domizilprinzip nicht zwingend dazu, das Nationalitätsprinzip den eigenen Staatsangehörigen gegenüber (teilweise) aufzugeben, sondern zielt eher darauf ab, die im Staatsgebiet ansässigen Ausländer der eigenen Gesetzgebung zu unterwerfen. Daß der argentinische Staat das Scheidungsverbot gerade auch auf die im Ausland wohnenden Staatsangehörigen angewandt wissen wolle, zeige die Vorschrift, wonach den dennoch Geschiedenen bei einer Rückkehr die Wiederverheiratung verboten sei. 8 Frankenstein, aaO, S. 72, Fn. 37. 9 Ders., aaO, S. 70 untenl71; statt von "Verweisung" spricht Frankenstein von "Unterwerfung" unter ein fremdes Recht.
A. Beispiele für die (Nicht-) Beachtung des fremden ordre public
19
deutsche Wohnsitzrecht nur so weit reichen soll, wie dies das argentinische Scheidungsverbot zuläßt, es ansonsten bei der ursprünglichen Verweisung auf argentinisches Recht verbleiben soll, findet der argentinische ordre public (in Gestalt des Scheidungsverbots) lediglich auf einer früheren Stufe Beachtung. Auch wenn Frankenstein hierin ausdrücklich "keine Berücksichtigung des fremden ordre public" sehen will 10, ist es letztlich nur eine Frage der Perspektive, ob die Rückverweisung auf das eigene Recht mit Rücksicht auf den fremden ordre public nicht befolgt ll oder aber die Verweisung auf die lex fori als durch den fremden ordre public beschränkt angesehen wird. In beiden Fällen wird bei der Frage des anwendbaren Rechts letzten Endes maßgeblich auf den argentinischen Standpunkt abgestellt. 12 Auch Meise wertet die Entscheidung des OLG Karlsruhe im ,,Argentinierfall" nicht als grundsätzliche Stellungnahme zu der Frage der Beachtlichkeit des fremden ordre public 13 ; viel eher habe das Gericht - wenn auch zu Unrecht - in diesem Fall "keine ausreichende Beziehung zu Argentinien" gesehen. 14 Einer solchen Auffassung wäre jedoch nicht nur der argentinische Standpunkt entgegenzuhalten - danach genügte die Staatsangehörigkeit als Inlandsbeziehung jedenfalls, was bereits daraus hervorgeht, daß das argentinische Recht die ausländische Scheidung von Inländern nicht anerkannte und ihre Wiederverheiratung nicht zuließ -, sondern insbesondere auch die Wertung unseres eigenen Kollisionsrechts, hier des Art. 17 EGBGB (a.F.), der bis 1985 15 schon die Staatsangehörigkeit des Ehemannes allein als Regelanknüpfung genügen ließ. 11. "Ehelichkeitsanfechtung eines Kanadiers" Unbeachtet blieb der fremde ordre public auch in einer Entscheidung des OLG Düsseldorf aus dem Jahre 1937: 16 Dem Gericht lag die Klage eines kanadischen Staatsangehörigen vor, der die nichteheliche Abstammung des in seiner
10 " .•• sondern Auslegung der durch die primäre Rechtsordnung ausgesprochenen Unterwerfung", ders., aaO, S. 72. 11 Z.B. Levis, Einwirkung, S. 85 ff. 12 So im Ergebnis auch Dietz, aaO. 13 So aber Jagmetti, Fremdes Kollisionsrecht, S. 240, Fn. 29. 14 Meise, Relativität, S. 22. 15 Mit Beschluß vom 8.1.1985 erklärte das BVerfG Art. 17 Abs.l (a.F.) wegen Ulivereinbarkeit mit Art. 3 Abs.2 GG für nichtig. 160LG Düsseldorf HRR 1937, Nr. 1321.
20
Erster Teil: Rechtspolitische Diskussion
Ehe mit einer Deutschen geborenen Kindes festgestellt wissen wollte. Die Eheleute und das betroffene Kind hatten ihren Wohnsitz in Deutschland. Das Gericht entnahm für die Frage der ehelichen Abstammung des Kindes dem einseitig formulierten Art. 18 Abs.l EGBGB (a.F.) in einem "Analogieschluß" die Verweisung auf das kanadische Recht. Bei der Verweisung auf das ausländische Recht handelte es sich nach Ansicht des OLG Düsseldorf um eine Kollisionsnormverweisung; die von der Verweisung miterfaßten Kollisionsregeln des kanadischen Rechts erklärten ihrerseits deutsches Recht als Wohnsitzrecht für anwendbar. Das Gericht leistete dieser Rückverweisung Folge und wandte in der Frage der ehelichen Abstammung deutsches Sachrecht an. Die Richter nahmen dabei zu der Frage Stellung, ob ein Verstoß der anzuwendenden deutschen Sachnormen gegen den kanadischen "Ordre publique" die Rückverweisung auf deutsches Recht beeinflussen könnte. Das Gericht lehnte jedoch jede Rücksichtnahme auf den fremden ordre public ab. 17
III. "Französischer Erblasser" Anders beurteilte das OLG Saarbrücken l8 im Jahr 1967 die Frage der Beachtlichkeit des fremden ordre public: Ein französischer Staatsangehöriger testierte im Jahre 1965 in Frankreich zugunsten seiner deutschen Ehefrau, mit der er in zweiter Ehe lebte. Unter anderem ließ er von einem französischen Notar in deutscher Sprache folgendes beurkunden: "Unter Widerruf all meiner früheren Verfügungen von Todes wegen ... gebe und vermache ich hiermit meiner hier anwesenden und dies annehmenden Ehefrau Emilie, geb. H., für den Fall, daß sie mich überleben sollte, den durch das an meinem Todestage geltende Gesetz erlaubten verfügbaren Teil zu vollem Eigentum." Nach dem Tode des Erblassers beantragte die Witwe beim zuständigen Amtsgericht einen Erbschein des Inhalts, daß sie Alleinerbin hinsichtlich des in der Bundesrepublik belegenen Grundbesitzes geworden sei. Als Beschwerdegericht war zu-
17 OLG Düsseldorf, aaO: "Diese Rückverweisung ist unabhängig davon, ob England (Kanada) die Urteile Deutscher Gerichte anerkennt, und ob das infolge der Rückverweisung anzuwendende Deutsche Gesetz den Ordre publique des englischen (kanadischen) Rechts verletzt." (Da es sich um die Veröffentlichung einer lediglich "stichwortartigen" Zusammenfassung der Urteils gründe handelt, erfährt der Leser leider nichts über die Gründe, die das Gericht zu dieser Entscheidung veranlaßten.) 18 OLG Saarbrücken NJW 1967,732.
A. Beispiele für die (Nicht-) Beachtung des fremden ordre public
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letzt das OLG Saarbrücken mit der Frage der Verteilung des unbeweglichen Nachlasses zwischen der Tochter des Erblassers aus erster Ehe und der (zweiten) Ehefrau befaßt. In der Frage des maßgebenden Erbstatuts folgte das Gericht der sich aus Art. 24,25 EGBGB (a.F.) ergebenden Verweisung auf französisches Recht, wobei -
nach Ansicht des Gerichts - die französischen Kollisionsregeln von der Verweisung mitumfaßt wurden. Das Gericht stellte fest, daß das französische IPR für das in Deutschland belegene unbewegliche Vermögen auf deutsches Recht zurückverwies, und diese Rückverweisung gern. Art. 27 EGBGB (a.F.) zu befolgen war. Die Richter vertraten die Auffassung, daß die beurkundete Erklärung des Erblassers auch aus der Sicht des deutschen Rechts eine wirksame Verfügung von Todes wegen zugunsten der (zweiten) Ehefrau darstelle. Das Gericht hatte nun zu prüfen, ob die französischen Erbrechtsvorschriften, wonach der Erblasser beim Vorhandensein von Kindern zugunsten seines Ehegatten nur in beschränktem Umfang über sein Vermögen von Todes wegen verfügen kann 19, Anlaß gaben, - unter dem Gesichtspunkt der Rücksichtnahme auf den französischen ordre public - die Rückverweisung auf deutsches Erbrecht nicht zu befolgen. Den Ausführungen des OLG Saarbrücken zu dieser Frage ist zu entnehmen, daß das Gericht offensichtlich - wenn auch nicht ausdrücklich - davon ausging, daß der französische ordre public im Fall der Rückverweisung grundsätzlich zu beachten wäre. Jedoch verneinte das Gericht eine dem Vorbehalt des französischen Erbrechts entsprechende "Einschränkung" der Rückverweisung20 im Ergebnis mit der Begründung, daß "auch das deutsche Erbrecht, wenn auch in der abgeschwächten Form des Pflichtteilsanspruches", dem Erblasser "das Erbrecht seiner Kinder sichernde, seine Testierfreiheit begrenzende Verfügungsbeschränkungen" auferlege. Obwohl die deutsche Regelung in ihrer Schutzwirkung hinter den französischen Bestimmungen über das Noterbrecht der Kinder zurückbleibe, könne dies nicht ausreichen, das Eingreifen der französischen Vorbehaltsklausel zu bejahen. (Das Gericht beurteilte daher im folgenden auf der Grundlage des deutschen Erbrechts, ob die Verfügung des Erblassers dahingehend zu verstehen war, daß die Ehefrau bezüglich des in Deutschland belegenen Grundbesitzes Alleinerbin sein sollte.)
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Art. 913, 1098 Code Civil. der "Rechtsfolge" der ordre-public-Anwendung s. unten Zweiter Teil, C.V.
20 Zu
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Erster Teil: Rechtspolitische Diskussion
IV. "Legitimationsfälle"
Mehrfach befaßt waren deutsche Gerichte mit der Frage der Legitimation eines nichtehelich geborenen Kindes durch die nachträgliche Eheschließung der deutschen Mutter und des algerischen bzw. marokkanischen Vaters. 21 Abgesehen von kleineren Abweichungen lag den Entscheidungen folgender Sachverhalt zugrunde: Eine ledige Deutsche mit Wohnsitz in Deutschland brachte ein nichteheliches Kind zur Welt. Der Vater des Kindes war algerischer (marokkanischer) Staatsangehöriger und bekannte sich zum islamischen Glauben. In der Mehrzahl der Fälle erkannte er die Vaterschaft an. In einigen Fällen erteilte die Mutter bzw. das Jugendamt als Amtsvormund ausdrücklich die Zustimmung dazu. Später schlossen die Eltern des Kindes die Ehe. Die Familie lebte weiterhin in Deutschland; eine Übersiedelung nach Algerien (Marokko) war nicht beabsichtigt. Zum Gerichtsverfahren kam es, weil dem Wunsch der Eltern nach Feststellung und Beischreibung der Legitimation im Geburtenbuch nicht entsprochen wurde, obwohl die Voraussetzungen, Nichtehelichkeit des Kindes und nachfolgende (wirksame) Eheschließung der Eltern, an sich erfüllt waren. In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BGH22 legten die Gerichte Art. 22 Abs.l EGBGB (a.F.) allseitig aus und bejahten eine Verweisung auf das Heimatrecht des Kindesvaters zur Zeit der Legitimation, demnach algerisches bzw. marokkanisches Recht, mit der Maßgabe, daß es sich um eine Kollisionsrechtsverweisung handele, die algerischen (marokkanischen) Kollisionsregeln also zunächst berufen seien. Von den Gerichten eingeholte Gutachten kamen zu dem Ergebnis, daß in Algerien trotz der staatlichen Unabhängigkeit von Frankreich französisches Kollisionsrecht fortgelte, das in Fragen des Personalstatuts auf das Heimatrecht des Kindes, hier: deutsches Recht, zurückverweise. Eine ebensolche Rückverweisung wurde vom marokkanischen Recht angenommen. Den Gerichten stellte sich nun die Frage, ob angesichts der Rückverweisung auf deutsches Recht § 1719 S.I BGB anwendbar war oder ob die Rückverweisung an der Beachtlichkeit des algerischen (marokkanischen) ordre public,
21 AG Bochum IPRspr. 1977, Nr. 92; AG Duisburg IPRspr. 1980, NT. 110; LG Hannover FamRZ 1969, 668; OLG Köln IPRspr. 1976, Nr. 106 und 108; OLG Karlsruhe FamRZ 1970, S. 251. 22 Vgl. BGH IPRspr. 1971, Nr. 101.
A. Beispiele für die (Nicht-) Beachtung des fremden ordre public
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demzufolge ein nichteheliches Kind niemals ehelich werden kann, und auch ein Vaterschaftsanerkenntnis ohne Wirkung bleibt23 , scheitern mußte. Das AG Bochum24 begnügte sich mit dem Hinweis, es sei "allgemein anerkannt, daß im Falle einer Rückverweisung auch die öffentliche Ordnung des verweisenden Landes zu berücksichtigen sei".25 Dem folgen Ausführungen dazu, daß der algerische ordre public durch eine Anwendung des § 1719 S.1 BGB, der der nachträglichen Eheschließung zugunsten des nichtehelich geborenen Kindes legitimierende Wirkung beimißt, tatsächlich verletzt würde. Am Ende bejahte das Gericht dennoch die Anwendung des deutschen Rechts, sprach sich also für die Legitimation des Kindes aus, weil es in der Anwendung algerischen Rechts einen Verstoß gegen den Zweck eines deutschen Gesetzes, § 1719 BGB, mithin eine Verletzung des eigenen ordre public sah (Art. 30 EGBGB a.F.). Das AG Duisburg 26 zitierte die Vorbehaltsklausel des algerischen Rechts und stellte ohne weitere Einschränkung fest, "diesen Grundsatz habe auch ein deutscher Richter zu beachten". Daß das Gericht mit dieser Formulierung jedoch lediglich die Beachtlichkeit im Rahmen einer Rückverweisung im Auge hatte, zeigt der nächste Absatz, demzufolge "das Gericht bei solcher Lage nicht das deutsche Recht aufgrund einer Rückverweisung durch das algerische IPR anwenden könne". - Weitergehende Ausführungen zum Problem der Beachtlichkeit eines fremden ordre public fehlen. - Nachdem das AG Duisburg folgerichtig den Eintritt der Legitimation durch nachfolgende Ehe verneint hatte, bejahte es allerdings im folgenden die legitimierende Wirkung eines wirksam erklärten Vaterschaftsanerkenntnisses. Wenn das Anerkenntnis keinen Hinweis darauf enthalte, daß das Kind außerehelich gezeugt sei, und die Einwilligung von Mutter und Kind sowie die Genehmigung des Vormundschaftsgerichts vorlägen, sei eine "Legitimation" nach algerisch-malekitischem Recht durchaus möglich.27 Es bestünde insoweit keine Notwendigkeit, den eigenen (deutschen) ordre public eingreifen zu lassen (mit der Folge einer "hinkenden Legitimation"), um dem Kind zu einem legitimen Status zu verhelfen.
23 Nachweise hierzu in den angegebenen Entscheidungen. 24 AG Bochum IPRspr. 1977, Nr. 92. 25 Als Nachweis wird Soergel-Kegel, 10. Aufl., zu Art. 27 EGBGB a.F., Rz. 37 m.w.N., zitiert. 26 AG Duisburg IPRspr. 1980, Nr. 110. 27 Um eine Legitimation Le.S. handelt es sich dabei allerdings nicht.
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Erster Teil: Rechtspolitische Diskussion
Ebenso stellte das OLG Karlsruhe 28 unter Verweis auf die überwiegende Ansicht in der Lehre 29 fest, " in einem solchen Falle habe der deutsche Richter nach heute herrschender Meinung den ausländischen ordre public zu beachten." Entgegenstehende Bedenken, die ausländische Staatsangehörigkeit eines Beteiligten sei möglicherweise als "Auslandsbeziehung" nicht ausreichend für die Berücksichtigung des ausländischen ordre public durch den deutschen Richter, ließ das Gericht dahinstehen, weil es in der Anwendung des algerischen Rechts seinerseits im Ergebnis einen Verstoß gegen den deutschen ordre public (Art. 30 EGBGB a.F.) sah. In den Entscheidungsgründen des LG Hannover 30 findet sich zwar keine ausdrückliche Stellungnahme zur Frage der Beachtlichkeit des fremden ordre public. Dennoch ergibt sich aus den Ausführungen, daß das Gericht den algerischen ordre public berücksichtigte und dementsprechend dessen Verletzung durch die deutschen Vorschriften über die Legitimation zunächst mit der Ablehnung der Rückverweisung beantwortete. Allerdings kam auch das LG Hannover zu dem Ergebnis, daß die Anwendung algerischer Vorschriften wiederum gegen den deutschen ordre public (Art. 30 EGBGB a.F.) verstoße, und daher am Ende doch deutsches Recht, § 1719 BGB, anzuwenden sei. Im Gegensatz zum AG Duisburg sah das LG in der Anerkennung der Vaterschaft nach algerisehern Recht keine Möglichkeit, dem nichtehelichen Kind auch ohne Eingreifen der deutschen Vorbehaltsklausel zur Legitimität zu verhelfen. Da diese Vaterschaftsanerkennung voraussetze, daß das Kind nicht aus einem unerlaubten Verkehr hervorgegangen sei, sei der Schutz des nichtehelichen Kindes und die Sicherung seiner Stellung in der Gesellschaft nicht in jedem Fall gewährleistet. Auch das OLG Köln 31 ging von der Beachtlichkeit des ordre public der rückverweisenden lex causae aus, lehnte also zunächst die Legitimation des Kindes durch die nachfolgende Eheschließung der Eltern ab. Gleichwohl wandte auch das OLG im Ergebnis deutsches materielles Recht an. Zur Begründung gab das Gericht an, die Anwendung marokkanisch-malekitischen Rechts, das keine Legitimation durch nachfolgende Ehe kenne und das ein Vaterschaftsanerkenntnis ohne Wirkung lasse, verstoße, wenn es sich wie hier um
OLG Karlsruhe FamRZ 1970, 251. Zu den Nachweisen vgl. aaO. 30 LG Hannover FamRZ 1969, 668. 31 OLG Köln IPRspr. 1976, Nr. 106 und 108.
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A. Beispiele für die (Nicht-) Beachtung des fremden ordre public
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ein nachweislich nichtehelich geborenes Kind handele, gegen den deutschen ordre public (Art. 30 EGBGB a.F.).
V. "Spanierheirat" Großen Bekanntheitsgrad 32 erlangte in den 60er und 70er Jahren folgender Fall: Ein spanischer Staatsangehöriger katholischen Glaubens mit Wohnsitz in Deutschland und seine deutsche Verlobte wollten heiraten. 33 Die deutsche Verlobte, die sich zum evangelischen Glauben bekannte, war in erster standesamtlich geschlossener Ehe mit einem Deutschen nicht-katholischen Bekenntnisses verheiratet gewesen. Diese Ehe war von einem deutschen Gericht rechtskräftig geschieden worden. Der BGH war im Jahre 1964 aufgrund einer Vorlage gern. § 29 Abs.l, Satz 2 EGGVG mit diesem Fall und der Frage befaßt, ob dem spanischen Verlobten gern. § 10 Abs.2 EheG Befreiung von der Beibringung des Ehefähigkeitszeugnisses zu erteilen war, weil die spanischen Behörden Zeugnisse dieser Art grundsätzlich nicht ausstellten. 34 Eine solche Befreiung, so der Hinweis des BGH, sei grundsätzlich nur dann zu gewähren, wenn durch die Eheschließung in den Heimatstaaten beider Verlobter eine vollgültige Ehe entstehe, wenn der ausländische Verlobte mithin auch nach seinem Heimatrecht die Ehe eingehen könne. Zu diesem Zweck prüfte der BGH gern. Art. 13 Abs.l EGBGB (a.F.) für den spanischen Verlobten nach den Gesetzen seines Heimatstaates, ob danach der beabsichtigten Eheschließung ein Ehehindernis entgegenstand. Dabei ging das Gericht zu Recht davon aus, daß für die Frage der Ehefähigkeit des einen Verlobten nicht nur auf dessen eigene Person, sondern auch darauf abzustellen sei, ob in der Person des anderen Verlobten ein Ehehindernis (zweiseitiges Ehehindernis) vorliege. 35
32 Vgl. nur die Beiträge in RabelsZ 36 (1972) m. zahlreichen weiteren Nachweisen; die durch das "Spanier-Urteil" des BVerfG - E 31, 58 - angefachte verfassungsrechtliche Diskussion kann an dieser Stelle allerdings unberücksichtigt bleiben. S. dazu Zweiter Teil, C.III.I. 33 BGH Z 41, 136. 34 Vgl. dazu BergmannlFerid, Int. Ehe- und Kindschaftsrecht, Bd. 3: Spanien, S. 7. 35 BGH, aaO, S. 142
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Erster Teil: Rechtspolitische Diskussion
Nach den Vorschriften des spanischen Rechts 36 war der spanische Verlobte als Angehöriger der katholischen Kirche in Fragen der Eheschließung dem kanonischen Recht unterworfen. Das kanonische Recht verbot die Auflösung einer gültig geschlossenen und vollzogenen Ehe.37 Daher stellte sich die Frage, ob in der Person der deutschen Verlobten aufgrund ihrer geschiedenen ersten Ehe ein der beabsichtigten Eheschließung entgegenstehendes Ehehindernis begründet war (sog. "passive" Eheunfähigkeit), das die in Frage stehende Ehefähigkeit des spanischen Verlobten ausgeschlossen hätte. Dies bejahte der BGH im Ergebnis und versagte dementsprechend die beantragte Befreiung mit der Begründung, dem Antragsteller sei die beabsichtigte Eheschließung mit einer geschiedenen Deutschen nach dem gern. Art. 13 Abs.l EGBGB (a.F.) anzuwendenden spanischen (kanonischen) Recht verwehrt. 38 Nach Ansicht des BGH war in diesem Fall eine Befreiung nach § 10 Abs.2 EheG auch nicht im Hinblick auf das rechtskräftige deutsche Scheidungsurteil auszusprechen. Dabei wertete der BGH die Frage des impedimentum legaminis, ob nämlich die deutsche Verlobte noch in einer bestehenden Ehe lebte, als eine unselbständig anzuknüpfende Vorfrage 39 , die dem nach Art. 13 maßgebenden (spanischen) Recht zu unterwerfen sei. Dies bewahre den deutschen Staatsangehörigen davor, eine Ehe einzugehen, die im Heimatland des anderen keine Anerkennung finden und ihm dadurch zum Nachteil gereichen könne. Nach Ansicht des BGH stand dem auch nicht der deutsche ordre public (im Hinblick auf die grundrechtlieh garantierte Eheschließungsfreiheit) entgegen. 40 Folgt man der Lösung des BGH und unterstellt die Frage nach dem Vorliegen eines impedimentum ligaminis in der Person der deutschen Verlobten dem von Art. 13 Abs.l EGBGB (a.F.) berufenen spanischen Recht, gelangt man über eine Rückverweisung der spanischen Kollisionsregeln für die Frage der Gültigkeit der früheren Ehe bzw. der Scheidung zurück zum deutschen Recht. 41 Hier 36 Das spanische Kollisionsrecht verwies trotz des deutschen Wohnsitzes nicht auf deutsches Recht zurück, sondern berief in dieser Frage seine eigenen Sachnormen. 37 Art. 42, 51 C6digo Civil i.V.m. den Vorschriften des Codex iuris canonici; BGH, aaO, S. 141 f. 38 aaO, S. 144 f. 39 Zur Vorfragenproblematik vgl. unten B.IV. 40 aaO, S. 147 ff.; ebenso: OLG Hamm FamRZ 1963,566 (568); vgl. hierzu jedoch BVerfG E 31, 58. 41 Neumayer, Zivilehe, S. 85 ff.; so auch K. Müller, Dt. Scheidungsurteil, S. 65; ausdrücklich abgelehnt von OLG Hamm, aaO: " ... so läßt sich ... die Frage nach der Bedeutung einer Scheidung dieser Ehe nicht als Vorfrage herauslösen .... "; "ein nicht zu verselbständigender Teil der Hauptfrage"; kritisch zum letzten: Sturm, Scheidung und Wie-
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stellt sich nun die Frage der Beachtlichkeit des fremden (hier: spanischen) ordre public 42 , um deren willen der Fall der "Spanierheirat" hier erneut angesprochen wurde: Der BGH hatte darüber zu befinden, ob die Vorschriften des spanischen Rechts, die das Bestehen des impedimentum ligaminis mit Rücksicht auf eine vormalige Ehe, also trotz deren Scheidung, bejahen, zu beachten sind; mit anderen Worten: ob der aus der Sicht des spanischen Rechts in der Anerkennung des deutschen Scheidungsurteils liegende Verstoß gegen den spanischen ordre public beachtlich ist. Indem der BGH die "ausländischen Gesetze, die eine Scheidung der Ehe dem Bande nach grundsätzlich nicht zulassen", für maßgeblich erklärte43 , bejahte er die Beachtlichkeit der spanischen Vorbehaltsklausel, ließ also die Scheidung nicht wirken. - Dagegen lehnen Neumayer und Müller, die beide den Weg über die Rückverweisung des spanischen zum deutschen Recht vorschlagen 44 , die Beachtlichkeit der Vorbehaltsklausel des rückverweisenden (spanischen) Rechts im Ergebnis ab. 45 Neben der grundsätzlichen Ablehnung einer Rücksichtnahme auf den fremden ordre public "gegen" das eigene Recht46 betont Neumayer, im FaIl der ,,spanierheirat" bestünde außerdem "jene Binnenbeziehung zum spanischen Staate nicht effektiv", die den spanischen ordre public erst maßgeblich werden lasse. 47 Die "personalen Beziehungen zum spanischen Recht" seien "nur indirekt", da "der den ordre public Spaniens etwa verletzende Umstand nicht in der Person des spanischen Staatsangehörigen, sondern bei dessen deutscher, in Deutschland lebender Partnerin" liege. 48 Nur einen Monat nach dem OLG Hamm legte das OLG Braunschweig dem BGH einen ParallelfaIl vor. 49 Im Vorlagebeschluß vertraten die Richter die derheirat, S. 65 f. - Zur Rückverweisung kommt auch derjenige, der nach selbständiger Anknüpfung der Vorfrage der Eheauflösung eine Verweisung des deutschen Kollisionsrechts - Art. 13 - auf spanisches Recht bejaht, das seinerseits wieder auf deutsches Recht zurückverweist. - Meise, Relativität, S. 46, betont, daß die These der Rückverweisung im "Spanierurteil" die einzige Grundlage dafür sei, die Beachtlichkeit des spanischen ordre public zu erwägen. 42 Der BGH spricht an keiner Stelle expressis verbis von der Beachtlichkeit des fremden (spanischen) ordre public. 43 aaO, S. 148. 44 Beide aaO. 45 Neumayer, aaO, S. 87 ff.; K. Müller, aaO, S. 66 ff. 46 S. dazu ausführlicher unten B. 47 Neumayer, aaO, S. 88. 48 Ders., aaO, Fn. 65. 49 OLG Braunschweig FamRZ 1963,569; erwogen auch von K. Müller, aaO, S. 61 ff.
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Ansicht, bei der Frage, ob der deutsche Verlobte noch in gültiger Ehe lebe, also in seiner Person ein trennendes Ehehindernis vorliege, handle es sich "um eine sog. Vorfrage, die selbständig nach deutschem Recht zu beurteilen" sei. so Da das Gericht davon ausging, daß das deutsche Kollisionsrecht in dieser Frage nur die eigenen (deutschen) Sachnormen berufe und nicht auf spanisches Recht verweise, sah es keinen Anlaß für ein Eingreifen der spanischen Vorbehaltsklausel. - Jedoch könnte man bei dieser Konstellation die Berücksichtigung des spanischen ordre public als sog. drittstaatlichen Vorbehalts I erwägen. VI. "Russische Jüdin aus Odessa .••" Ein österreichischer Unteroffizier evangelischer Konfession und eine russische Jüdin schlossen im Jahre 1918 in Odessa vor einem protestantischen Pastor die Ehe. Kurz darauf ließ sich das Ehepaar in der österreichischen Heimatstadt des Ehemannes nieder, wo dieser seine frühere berufliche Tätigkeit wiederaufnahm. Einige Jahre später zogen beide nach Italien und erwarben 1922 die italienische Staatsangehörigkeit. Von 1927 an wohnten die Ehegatten in Deutschland, wo der Mann auf Feststellung der Nichtigkeit der Ehe klagte mit der Begründung, gern. § 64 des österreichischen ABGB könne eine Ehe zwischen Christen und Nichtchristen nicht gültig eingegangen werden. Das RG war im Jahre 1931 mit der Revision des Klägers befaßt52 , dessen Klage in den Vorinstanzen jeweils abgewiesen worden war. Anders als das Berufungsgericht hielt das RG überraschend s3 nicht das Eheschließungsstatut, in Ansehung des seinerzeit österreichischen Verlobten also österreichisches Recht, für berufen, über die Wirksamkeit der Ehe zu entscheiden. Vielmehr gelangte es unter entsprechender Anwendung des Art. 17 EGBGB (a.F.) für die vom Kläger angestrengte Ehenichtigkeitsklage zu einer Verweisung auf italienisches Recht; die Frage der Gültigkeit der Ehe sei in diesem Fall nicht dem Eheschließungs-, sondern dem Ehescheidungsstatut zuzurechnen. 54 Zur Zeit
50 aaO.; so auch KegeIlLüderitz, Hindernis, S. 59 f.; zur Problematik der (selbständigen oder abhängigen) Vorfragenanknüpfung vgl. unten B. IV. 51 Zur Terminologie vgl. in der Einleitung. 52 RG Z 132,416. 53 Urteilsanmerkung von Frankenstein JW 1932,2272 ff.; ähnlich Meise, Relativität, S.24. 54 RG, aaO., S. 419: In Anbetracht des Umstandes, "daß eine dem äußeren Anschein nach zu Recht bestehende Ehe so lange als gültig zu behandeln" sei, "bis ihre Nichtigkeit durch Klage im besonderen Verfahren mit Erfolg geltend gemacht worden" sei, ent-
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der Klageerhebung sei der Ehemann und Kläger jedoch italienischer Staatsangehöriger gewesen. Ob das RG im folgenden eine Weiterverweisung der italienischen Kollisionsnormen auf das österreichische Sachrecht annahm, geht aus der Entscheidung nicht eindeutig hervor. Entgegen sonstiger Praxis fand Art. 27 EGBGB (a.F.) in den Urteilsgründen keine Erwähnung. Unklar in ihrer Tragweite bleibt daher auch die Stellungnahme des RG zur Frage der Beachtlichkeit des italienischen ordre public. - Nach italienischem Standpunkt verbot sich die Berücksichtigung von Ehehindernissen wie dem der Religionsverschiedenheit. 55 - Kegel ist der Ansicht, daß sich das RG zwar zu Unrecht für eine Anwendung des italienischen Kollisionsrechts ausgesprochen habe 56 ; den weiteren Entscheidungsgründen entnimmt er aber eine unmißverständliche Weiterverweisung auf österreichisches Recht, die jedoch - so die Entscheidung des RG - am Eingreifen des italienischen ordre public scheitere. 57 - So gesehen könnte man der Entscheidung des RG ein Votum für die generelle Beachtlichkeit der ordre-public-Klausel des weiterverweisenden Staates entnehmen. 58 Dahingehend wird die Entscheidung auch meist gedeutet. 59
spreche die Ehenichtigkeitsklage nach Sinn und Zweck der Ehescheidungsklage ... ; kritisch dazu vor allem Frankenstein, aaO. 55 Urteilsanmerkung von Bergmann StAZ 1931, 226 f.: " ... nach Art. 12 der einleitenden Bestimmungen zum italienischen C.Civ." 56 Kegel, IPR, S. 251 und - zum Problem des Statutenwechsels - S. 510 f. 57 Ders., aaO.; ähnlich Jagmetti, Fremdes Kollisionsrecht, S. 239, Fn. 27; ebenso Dölle, IPR, S. 87. 58 Ebenso will Bergmann, aaO, das RG-Urteil verstanden wissen; er selbst lehnt jedoch die Berücksichtigung einer ausländischen Vorbehaltsklausel ab, weil Art. 30 EGBGB (a.F.) dafür ,,keinen Raum" lasse. 59 Kegel, aaO.; Jagmetti, aaO.; Dölle, aaO.; Melchior, Grundlagen, S. 213; zurückhaltend dagegen Meise, aaO, S. 26: keine "generelle" Bedeutung. (Nach Meises Ansicht hatten die Richter des RG bei ihrer Entscheidung weniger die Frage der generellen Beachtlichkeit eines fremden ordre public im Bereich der Weiterverweisung im Blick. Vielmehr habe das Gericht zwischen der Anwendung des ordre public eines RenvoiStaates und der Nichtanwendung des ordre public eines sonstigen Drittstaates trotz Näherberechtigung bzw. Effektivität differenzieren wollen. Aus diesem Grund seien die Richter auch der Revision darin beigetreten, daß ein Wechsel des Heimatrechts nicht per se dazu führen könne, eine bislang ungültige Ehe durch Beachtung des ordre public der neuen Rechtsordnung gültig werden zu lassen.)
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VII. "Zyprerheirat"
1. Ausgangs/all Folgender erdachter Fall findet sich in ähnlicher Form bei mehreren Autoren 60 : Zwei orthodoxe Zyprer 61 heiraten in Frankreich nur vor einem Vertreter ihrer Kirche, weil das zyprische Recht für Angehörige der griechisch-orthodoxen Kirche lediglich die kirchliche Eheschließung kennt. 62 Nach französischem Recht, das auf der Zivilehe besteht63 , ist die Eheschließung wegen Verstoßes gegen den französischen ordre public nichtig. 64 Später übersiedeln die Zyprer nach Deutschland, wo Anlaß entsteht, die Wirksamkeit der Eheschließung zu überprüfen. In der Frage der Ehegültigkeit verweist Art.11 Abs.l Alt.1 i.V.m. Art.13 Abs.l EGBGB (n.F.) auf das zyprische Heimatrecht des Paares. Die von Art. I I Abs.l vorgesehene alternative Anknüpfung an das (französische) Ortsrecht aktualisiert sich in diesem Fall nicht; bei "alternativer" Anknüpfung zweier Rechtsordnungen ist stets nur diejenige anzuwenden, "die der Formgültigkeit des Geschäfts günstiger ist."65 Danach entscheidet im vorliegenden Fall das zyprische Geschäftsrecht, nach dem die Eheschließung form gültig war. Die Frage ist, ob der deutsche Richter in diesem Fall das Gebot der Zivilehe des französischen Ortsrechts nicht ausnahmsweise als fremden ordre public zu berücksichtigen hat. - Anders als in den bisherigen Beispielsfällen geht es hier um die Beachtlichkeit eines drittstaatlichen ordre public, außerhalb des von uns kollisionsrechtlich berufenen fremden (hier: zyprischen) Kollisionsrechts. Die Autoren des Beispielfalles lehnen eine Berücksichtigung einhellig ab. 66 Der deutsche Richter habe diese Ehe für gültig zu betrachten, da sie nach zypri-
Wolff, IPR, S. 46; Dölle, IPR, S. 86; Raape/Sturm, IPR I, S. 220. Wolff, aaO, bildet das Beispiel mit bulgarischen Staatsangehörigen. Bulgarien kennt jedoch im Gegensatz zu Zypern heute die Zivilehe. - Dölle, aaO, schildert den Fall mit griechischen Staatsangehörigen. Ebenso Kegel, IPR, S. 403. Doch sieht auch das griechische Recht heutzutage die zivile Eheschließung vor. - Raape/Sturrn, aaO, schließlich sprechen von katholischen Polen aus Warschau. 62 BergmannlFerid, Int. Ehe- und Kindschaftsrecht, Bd. 10: Zypern, S. 23 f., m.w.N. 63 BergmannlFerid, aaO, Bd. 3: Frankreich, S. 20, m.w.N. 64 aaO. 65 Kegel, IPR, S. 403; Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, S. 101. 66 Wolff, aaO, S. 46; Dölle, aaO, S. 86; Raape/Sturrn, aaO, S. 220. 60 61
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schem Recht, das die kirchliche Eheschließung auch für Auslandsehen vorschreibe, gültig sei, Art. 11 Abs.l Alt.1 i.V.m. Art. 13 Abs.l EGBGB (a.F.). Den Widerspruch, daß eine in Deutschland nur kirchlich geschlossene Ehe nach Art. 13 Abs.3 EGBGB (a.F. und n.F.) ebenso wie vom französischen Standpunkt aus nichtig wäre, während die Eheschließung in der Konstellation des Beispielsfalls wirksam sein soll, führt Wolff darauf zurück, daß die obligatorische Zivilehe zu Unrecht zu einem Institut des ordre public gemacht worden sei. 67 Er sieht darin kein Problem des Geltungsbereichs des ordre public, den er grundsätzlich auf die Landesgrenzen (mit Ausnahmen beim Renvoi) beschränken will. 68 Sieht man einmal von der Forderung Wolffs, sich selbst Zurückhaltung bei der Anwendung der eigenen Vorbehaltsklausel aufzuerlegen 69 , ab, zeigt sich die Diskrepanz zwischen der Anwendung des eigenen ordre public und der Nichtanwendung des fremden ordre public auch anhand des folgenden Falles, den das AG Bielefeld im Jahre 1964 entschieden hat70 : 2. "Deutsche Variante" Zwei katholische Spanier71 ließen sich im Dom zu Minden von einem spanischen Geistlichen trauen. Die Eheschließung wurde in das Zivilregister des spanischen Konsulats in Bremen eingetragen und vom Standesbeamten aufgrund dieser ihm mitgeteilten Beurkundung in das Heiratsbuch des Standesamts Minden eingetragen. Als die Eltern ein Jahr später die Geburt einer Tochter auf dem Standesamt anzeigten, beurkundete der Standesbeamte diese Geburt jedoch als unehelich, weil die Eltern seiner Auffassung zufolge nicht in gültiger Ehe lebten. Daraufhin wandte sich der Vater mit dem Antrag an das Gericht, die Geburt als ehelich zu beurkunden.
67 Wolff, aaO.; ebenso Meise, aaO, S. 40; ähnlich auch Wuppermann, Rechtsprechung, S. 113-115. 68 Wolff., aaO. 69 S. dazu ausführlicher C.1. 70 AG Bielefeld FamRZ 1964, 566. 71 Anfang der 60er Jahre ließ das spanische Recht die standesamtliche Trauung noch nicht zu.
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Das AG Bielefeld hielt analog Art.18 Abs.l EGBGB (a.F.), den es mit Hinweis auf die herrschende Lehre allseitig auslegten, das (spanische) Heimatrecht des Vaters für berufen, in der Frage der ehelichen Abstammung zu entscheiden. Als selbständige Vorfrage untersuchte das Gericht vor Anwendung der spanischen Abstammungsregeln die Rechtsgültigkeit der nur kirchlichen Eheschließung.7 3 Nach dem gern. Art. 13 Abs.l EGBGB (a.F.) anzuwendenden spanischen Heimatrecht sei die elterliche Ehe zwar formgültig geschlossen worden. Gern. Art.l3 Abs.3 EGBGB (a.F.) sei in Deutschland jedoch die Zivilehe die einzig zulässige Eheschließungsform. Gern. § 11 EheG müsse die von Ausländern im Inland beabsichtigte Eheschließung vor dem Standesbeamten erfolgen. Davon mache lediglich § 15a EheG (heute Art. 13 Abs.3, S.2 EGBGB n.P.) eine Ausnahme, wenn keiner der Verlobten die deutsche Staatsangehörigkeit besitze. Die Ehe der Kindeseltern sei jedoch nicht vor einer im Sinne des § 15 a EheG ordnungsgemäß ermächtigten Person geschlossen worden. Die Eheschließung sei demzufolge nach deutschem Recht ungültig, das Kind folglich nichtehelich. Das Gericht führte im folgenden zum Charakter des zur Anwendung gelangten Art.13 Abs.3 EGBGB a.F. aus, es handle sich dabei um eine (besondere) ordre-public-Vorschrift. Als solche sei deren Anwendung an die allgemein zum ordre public entwickelten Grundsätze gebunden. Insbesondere sei eine genügend enge Inlandsbeziehung des Sachverhalts zur deutschen Rechtsordnung zu verlangen, die hier allerdings gegeben sei, da die Eheschließung im Inland stattgefunden habe, und die Eheleute hier wohnen bleiben wollten. Abgesehen davon, daß das Gericht mit seiner Entscheidung nicht nur ein sog. hinkendes Rechtsverhältnis 74 - denn in Spanien wäre die Eheschließung als gültig erachtet worden -, sondern auch die Nichtehelichkeit des Kindes in Kauf nahm, mutet das Urteil angesichts der Diskrepanz zwischen der Anwendung des deutschen ordre public in Gestalt des Art. 13 Abs.3 EGBGB und der Nichtbeachtung eines entsprechenden ausländischen Gebots (s. 1.) in rechtspolitischer Hinsicht fragwürdig an.
72 Zitiert wird Palandt-Lauterbach, zu Art. 18 EGBGB a.F., Anm 2, m.w.N.; ebenso in einem Parallelfall OLG Celle FamRZ 1964,209. 73 So auch OLG Celle, aaO, mit zahlreichen Nachweisen. 74 Zum Begriff des "hinkenden Rechtsverhältnisses" Kegel, IPR, S. 86; ausführlicher dazu C.III.
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3. "Abwandlung des Ausgangs/alls" Der Fall der ,,zyprerheirat" findet sich darüber hinaus in der Literatur75 in folgender (oder ähnlicher) abgewandelter Gestalt: Zwei Zyprer, denen ihr Heimatrecht die kirchliche Eheschließung vorschreibt (s.o.), wollen sich in Belgien (nur) standesamtlich trauen lassen. Der belgische Standesbeamte nimmt auf entsprechende richterliche Weisung die Eheschließung vor. - Später übersiedelt das zyprische Paar nach Deutschland, wo im Zusammenhang mit einem Erbfall Anlaß entsteht, die Wirksamkeit der Eheschließung zu überprüfen. Die Anknüpfung an das gemeinsame Heimatrecht der Betroffenen gern. Art. 11 Abs.l Alt.l i.V.m. Art. 13 Abs.l EGBGB (a.F. wie n.F.) hätte mangels kirchlicher Trauung die Nichtigkeit der Ehe zur Folge. Der deutsche Richter steht nunmehr vor der Frage, ob er nicht zu berücksichtigen hat, daß aus der Sicht des belgischen Ortsrechts die Ehe durch die standesamtliche Trauung wirksam zustandegekommen ist. Nach deutschem Kollisionsrecht führt allerdings bereits die alternative Ausgestaltung des Formstatuts (Art. 11 Abs.l EGBGB a.F. und n.F) zu einer Entscheidung "in favorem matrimonii".76 In die ordre-public-Problematik gelangt man allerdings unmittelbar in den Fällen, in denen das gemeinsame bzw. ein Heimatrecht der Betroffenen die Eheschließung nicht wegen mangelnder Berücksichtigung der jeweils vorgeschriebenen Eheschließungs/arm für unwirksam erachtet, sondern wegen materieller Ehehindernisse (z.B. wegen Religionsverschiedenheit der Verlobten ... 77) die Ehe überhaupt untersagt. In diesen Fällen stellt sich die Frage, ob der Forumrichter gegebenenfalls den gegen Ehehindernisse solcher Art gerichteten fremden ordre public des jeweiligen Ortsrechts zu beachten hat; denn die Anwendung des möglicherweise ebenfalls betroffenen eigenen (deutschen) ordre public wird regelmäßig am fehlenden Inlandsbezug scheitern. - Im geschilderten Fall wäre - gäbe es nicht Art. 11 Abs. 1 EGBGB - entsprechend zu fragen, ob nicht der belgische Grundsatz, daß die standesamtliche Form der Eheschließung allen Heiratswilligen zugänglich sein muß, als fremder ordre public78 zu berück75 Für Polen unterschiedlicher Konfession: Jagmetti, Fremdes Kollisionsrecht, S. 244; Meise, aaO, S. 37 ff., 39: "griechische Brautleute"; allgemeiner bei Niederer, Einführung, S. 302 m.w.N.; allgemein formuliert auch bei Lagarde, Recherches, S. 219 ff. m.w.N. 76 Kegel, IPR, S. 402 ff. mit umfassenden Nachweisen. 77 So das Beispiel bei Jagmetti, aaO. 78 Inhalt des ordre public der meisten Staaten ist zwar lediglich ein Verbot der religiösen Eheschließungsform; das Zur-Verfügung-Stellen der standesamtlichen Form kann jedoch insoweit als Bestandteil der jeweiligen ordre-public-Vorbehalte angesehen 3 Brtlning
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sichtigen ist mit der Folge, daß die Zyprer auch aus Sicht des Forums als gültig verheiratet anzusehen wären. Um aber mit den Erörterungen nicht in den Regelungsbereich des Art. 11 Abs.l AIt.2 zu geraten, (der dem Fall seine ordre-public-Problematik nehmen würde), sei die Frage dahingehend gestellt, ob ein Gericht im Beurteilungsstaat X (in Ermangelung einer dem Art. 11 vergleichbaren Vorschrift) den beIgisehen ordre public zu berücksichtigen und damit die Ehe für gültig zu erachten hätte, wenn dort Anlaß zur Prüfung der Ehegültigkeit entstünde. Das wird teilweise mit dem Hinweis auf den Grundsatz des Schutzes "wohlerworbener Rechte" bejaht. 79 Der fremde ordre public könne auf diese Weise "mittelbar wirksam" werden.B 0 In Frankreich wird die Frage unter dem Begriff "ordre public reflexe"81 bzw. "effet reflexe de I'ordre public"82 behandelt, wobei keine Einigkeit darüber besteht, ob der ordre public "reflexe" anzuerkennen ist, und wenn ja, ob dies ein Anwendungsfall der eigenen oder aber der fremden VorbehaItsklausel wäre. 83 Mit dem Hinweis, daß in Deutschland die Theorie der "wohlerworbenen Rechte" nicht anerkannt sei und ein sonstiger "Rechtsgrund für die Anwendung des ausländischen ordre public" in diesen Fällen nicht bestehe, lehnt Meise als deutscher Vertreter eine Berücksichtigung des fremden ordre public im Beurteilungsstaat ab. 84
werden, als es sich um das notwendige Gegenstück zum Verbot der religiösen Eheschließung handelt. 79 Niederer, aaO, S. 302 f.; Jagmetti, aaO, S. 244 f.: " ... dies natürlich immer nur unter der Bedingung, daß auch sonst die Voraussetzungen für die Anwendung der Theorie über den Schutz wohlerworbener Rechte erfüllt sind"; Wichser, Wohlerworbenes Recht, S. 146. - Vgl. zu dieser Argumentation ausführlich C.lV. 80 Niederer, aaO. 81 Vgl. Darstellung bei Meise, aaO, S. 38 ff. 82 Lagarde, aaO, S. 223. 83 Überblick über den Meinungsstand in Frankreich bei Lagarde, aaO.; vgl. dazu auch Meise, aaO. - Lagarde, aaO, selbst will den "belgischen" ordre public nur für den Fall beachten, daß das "belgische" KolIisionsrecht über die Frage der Ehegültigkeit zu befinden hat. 84 Meise, aaO, S. 39. - Zur Disskussion, ob man den fremden ordre public unter dem Gesichtspunkt des Schutzes bereits entstandener Rechte bzw. Rechtsverhältnisse beachten sollte, vgl. unten C.lV.
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VIII. "Mehrehe" Um die Beachtlichkeit des dritt staatlichen ordre public geht es auch im folgenden fiktiven Fa1l 8S : Ein Mohammedaner nimmt in Frankreich eine Mohammedanerin zu seiner zweiten Ehefrau, was das Heimatrecht der beiden zuläßt. Nach der Übersiedelung der Eheleute nach Deutschland hat nun ein deutsches Gericht über die Wirksamkeit der Eheschließung zu befinden. Hat der deutsche Richter gegen das Heimatrecht der Betroffenen den französischen ordre public, soweit er sich gegen bigamische Eheschließungen wendet, zu beachten mit der Folge der Ehenichtigkeit? Zitelmann sieht in diesem Fall gar den Anwendungsbereich des eigenen ordre public eröffnet: Er läßt es genügen, daß eine ausreichende tatsächliche Beziehung (Binnenbeziehung) des Sachverhaltes zum Gebiet eines Staates besteht, in dem "dieselben ethischen Anschauungen herrschen" wie im Inland, um die eigene (!) Vorbehaltsklausel eingreifen zu lassen. Er sieht bei Übereinstimmung der Vorbehalts klauseln in ethischer Hinsicht die betreffenden Staaten in einer Art "Interessengemeinschaft", die es rechtfertige, den eigenen ordre public auch dann anzuwenden, wenn die "tatsächliche Beziehung zu unserem Gebiet" dafür an sich nicht ausreichen würde.8 6 Die Frage, ob eine nicht ausreichende Binnenbeziehung zur deutschen Rechtsordnung durch die (enge) Beziehung des Sachverhalts zu einem fremden Recht quasi "ersetzt" und das Eingreifen des eigenen ordre public darauf und auf die inhaltliche Übereinstimmung mit dem fremden ordre-public-Vorbehalt gestützt werden kann, wird in der Literatur außerdem an hand des folgenden Falles 87 diskutiert:
IX. "Trauung durch den Sohn des Standesbeamten" Ein Österreicher mit Wohnsitz in Deutschland heiratet im Heimatdorf seiner französischen Braut. Weil der bäuerliche Standesbeamte erkrankt ist, wird das Paar von dessen Sohn, den die Brautleute für berechtigt halten, getraut. Die Ehe wird vorschriftsmäßig registriert. Ein deutsches Gericht hat später über die Gültigkeit der Ehe zu entscheiden. Dargestellt bei Zitelmann, IPR I, S. 350 ff., insb. S. 357. Ders., aaO.; ähnlich Habicht, IPR, S. 236 ff.; zur Kritik Meise, aaO, S. 35 ff. 87 Beispiel von Raape, IPR, S. 96 f.; Raape/Sturm, IPR I, S. 212 f.; übernommen von Meise, aaO, S. 35 f. 85
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Nach französischem Ortsrecht wäre die Ehe nichtig (Art. 191 Code civil); nach Ansicht mancher französischer Autoren läge sogar eine ,,Nichtehe" vor.B s Die alternative Verweisung des Art. 11 Abs.l EGBGB auf das Geschäftsrecht führt gern. Art. 13 Abs.l EGBGB für die französische Verlobte erneut zum französischen Recht, für den österreichischen Verlobten zu dessen österreichischem Heimatrecht. Hier setzt sich das schwächere, d.h. das dem Rechtsgeschäft ungünstigere französische Recht durch 89 , ungeachtet der Tatsache, daß nach österreichischem Recht die Ehe trotz des Formmangels als gültig zu betrachten wäre. 90 - Gemäß § 15 Abs.2 des dortigen Ehegesetzes gilt auch derjenige als Standesbeamter, wer, ohne es zu sein, das Amt eines Standesbeamten öffentlich ausgeübt hat ("Scheinstandesbeamter").9\ - Es ist also entsprechend den französischen Regeln von einer Nichtehe, zumindest aber von einer nichtigen Ehe auszugehen. - Anders hätte das Gericht nur dann zu entscheiden, wenn es zu dem Ergebnis käme, daß die Anwendung des französischen Rechts im konkreten Fall gegen den deutschen oder den österreichischen ordre public verstößt. Von den Autoren dieses Beispielfalls wird allerdings nicht die Berücksichtigung des fremden (österreichischen) ordre public in Gestalt des § 15 Abs. 2 des dortigen EheG erwogen, sondern vielmehr ein Eingreifen unserer eigenen Vorbehaltsklausel vertreten. 92 Nach Ansicht von Sturm setzt sich der dem § 15 Abs.2 des österreichischen Ehegesetzes entsprechende § 11 Abs.2 (dt.) EheG "stets gegen fremdes Recht durch, das einen entsprechenden Satz nicht kennt".93 Zur Begründung führt er an, § 11 Abs. 2 EheG schütze nicht nur das
88 Nachweise bei Meise, aaO, S. 35 u. Raape/Sturm, aaO, S. 212, Fn. 149: Danach geht die französische Lehre einheitlich von einer Nichtehe aus, wohingegen die Rechtsprechung schwankt und z.T. von einer "mariage inexistant", teilweise aber lediglich von einer vemichtbaren Ehe ausgeht. - Allerdings schützt das französische Recht die gutgläubigen Ehegatten wenigstens über das Institut der "Putativehe". 89 Kegel, IPR, S. 403 und 514. 90 Meise, aaO, S. 35 m.w.N. 91 BergmannlFerid, Int. Ehe- und Kindschaftsrecht: Österreich, S. 141: Danach lautet § 15 Abs. 2 Österr. EheG zum "Scheinstandesbeamten": "Als Standesbeamter im Sinne des Absatzes 1 gilt auch, wer, ohne Standesbeamter zu sein, das Amt eines Standesbeamten öffentlich ausgeübt und die Ehe in das Ehebuch eingetragen hat." 92 Raape/Sturm, aaO., für den Fall, daß zumindest ein Verlobter die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. 93 Raape/Sturm, aaO. - Soweit die französische Rechtsprechung die Betroffenen allerdings über die "Putativehe" schützt, was wir nicht tun, erscheint es freilich selbst im Hinblick auf Art. 6 GG zweifelhaft, einen ordre-public-Verstoß deshalb anzunehmen,
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Vertrauen der Verlobten, sondern die Ehe als Institution (Art. 6 Abs. I GG). Dabei genügt ihm als Inlandsbezug, daß nur eine der Parteien, der österreichische Verlobte, ihren Wohnsitz in Deutschland hat. 94 Dagegen bezweifelt Meise, daß der Wohnsitz des österreichischen Verlobten im Inland als Binnenbeziehung für das Eingreifen des eigenen ordre public genügt. 95 Ebenso lehnt er es jedoch ab, "die Beziehung zu Österreich" und den österreichischen ordre public (§ 15 des dortigen EheG) zu beachten, d.h. in einer von ihm so genannten "gegenseitigen Hilfe" die fremde Vorbehaltsklausel zu berücksichtigen. Da es dem deutschen Richter in Wirklichkeit nur um die Durchsetzung des eigenen ordre public gehe, käme die Rücksichtnahme auf den inhaltsgleichen fremden ordre public einer regelwidrigen Ausdehnung des Geltungsbereichs unserer Vorbehaltsklausel gleich und sei daher abzulehnen.96
x. "Helene Böhlau" Um Gesetzesumgehung geht es auch in folgendem Fall, der nacheinander das OLG München 97 , das BayObLG98 und schließlich wieder das OLG München99 beschäftigt hat: Ein in Petersburg geborener Staatenloser heiratete 1863 auf Helgoland (danach englisch) die Klägerin, eine ebenfalls in Petersburg geborene Angehörige des Königreichs Sachsen. Die Trauung wurde von einem protestantischen Geistlichen in Gegenwart zweier Zeugen vorgenommen. Die Eheleute ließen sich in Deutschland nieder und wohnten im Jahre 1886 in Berlin. In diesem Jahr reiste der beklagte Ehemann nach Konstantinopel, während die Klägerin mit den Kindern in Berlin zurückblieb. Der Beklagte trat in Konstantinopel zum islamischen Glauben über und erwarb die ottomanische Staatsangehörigkeit. Er erwirkte beim Schechülislamat, der höchsten geistlichen Richterbehörde, ein Gutachten (Fetwa), daß er das Recht habe, die Scheidung auszusprechen, und schickte Ende 1886 seiner Frau einen Scheidebrief weil die französische Rechtsordnung keine dem § ll Abs. 2 EheG vergleichbare Regelung hat. 94 Anders noch Raape in der Vorauflage. 95 Meise, aaO. 96 Ders., aaO, S. 35 f. - Eine Ausnahme will Meise nur für den Fall zulassen, daß die "Interessengemeinschaft" zwischen dem ausländischen und dem Forumstaat sich in besonderen rechtlichen Bindungen manifestiere... 97 OLG München NZ 16,34. 98 BayObLG NZ 16, 286. 990LG München NZ 20, 529.
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nach Berlin. 1887 heiratete er in Konstantinopel nach islamischem Ritus die deutsche Schriftstellerin Helene Böhlau, die den Beklagten von Anfang an auf seiner Reise nach Konstantinopel begleitet hatte. Beide kehrten noch im seI ben Jahr nach Deutschland zurück und lebten von da an zusammen in München. Die Klägerin - mittlerweile im Besitz der preußischen Staatsangehörigkeit klagte Jahre später auf Feststellung des Fortbestandes ihrer Ehe. Das OLG München 100 hatte über die Berufung des Beklagten zu befinden, der in erster Instanz unterlegen war, (weil das LG München I in dem behaupteten Scheidungsakt einen Verstoß gegen die "Sittlichkeit" gesehen hatte). Nach Meinung des OLG handelte es sich nicht um eine Frage der Anerkennung i.S.d. § 328 ZPO, da kein "Urteil" eines ausländischen Gerichts vorliege. 101 In der sog. Fetwa, dem Richterspruch der höchsten geistlichen Instanz zur Zulässigkeit des Scheidungsbriefes, sah das Gericht zu Recht eine Art "Rechtsgutachten" und nicht eine den Rechtsstreit erledigende Entscheidung. Das Gericht wandte sich daher einer Beurteilung nach den Regeln des Internationalen Privatrechts zu, stieß hier allerdings auf die Schwierigkeit, daß die das Internationale Privatrecht betreffenden Vorschriften des neu in Kraft getretenen EGBGB für die bereits vor dem 1.1.1900 vollzogene Scheidung nicht heranzuziehen waren. - Den älteren Kollisionsnormen zufolge richte sich - so das Gericht - die Wirksamkeit einer durch Privatakt vollzogenen Scheidung nach dem Domizilrecht des Ehemannes. 102 Der Wohnsitz des Beklagten zum fraglichen Zeitpunkt sei Konstantinopel gewesen. Daß das türkische Domizilrecht die Scheidung durch Scheidebrief als zulässig anerkenne, sei unzweifelhaft. Das OLG sah sich nun vor der Frage, ob dennoch der ausländischen Privatscheidung die Anerkennung im Inland zu versagen sei, weil eine solche Scheidung gegen die inländischen Rechts- und Sittlichkeitsgrundsätze verstieße. 103
OLG München NZ 16, 34. Kegel, IPR, S. 308: Um "Anerkennung" Le.S. geht es Kegel zufolge nur dann, wenn die Ehe durch gerichtliches Urteil geschieden wurde; nur in diesem Fall werde die Anknüpfung nicht neu überprüft, sondern Tatbestand und Entscheidungsgründe der ausländischen Entscheidung hingenommen. Im Fall einer rechtsgeschäftlichen Scheidung wie der Verstoßungsscheidung sei der Sachverhalt dagegen nach den allgemeinen Regeln des IPR von uns neu zu beurteilen. - Eingehend dazu auch Basedow, Anerkennung, S. 14 ff. und 41 ff. 102 So auch Kegel, aaO, S. 306. 103 Das OLG München hielt in dieser Frage Art. 30 EGBGB (a.F.) für einschlägig, obwohl es den Sachverhalt an sich nach altem Recht beurteilte. Das Gericht hielt dies 100 101
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Dies bejahten die Richter und verneinten im Ergebnis eine wirksame Eheauflösung. Das Gericht war der Auffassung, daß jede Ehescheidung durch Scheidebrief, ungeachtet eines (hier nicht erteilten) Einverständnisses des verstoßenen Eheteils, gegen die deutsche Anschauung von dem sittlichen Wesen der Ehe verstoße. Die Wirksamkeit einer Ehe zur privaten Disposition zu stellen, sei mit hiesigen sittlichen Vorstellungen nicht vereinbar. Darüber hinaus verletze jedenfalls die Tatsache, daß es an einem Scheidungsgrulld gefehlt habe, den deutschen ordre public. An der notwendigen engen territorialen Beziehung des Sachverhalts zur inländischen Rechtsordnung hatte das OLG München keinen Zweifel, da sich die betroffene Ehefrau zum fraglichen Zeitpunkt im Inland aufgehalten, und da sich mit dem Zugang des Scheidebriefs ein Teilakt der in Frage stehenden Handlung im Inland vollzogen habe. Das BayObLGI04, an das sich der Beklagte mit der Revision wandte, hielt im Gegensatz zum OLG München nicht den neu in Kraft getretenen Art. 30 EGBGB (a.F.), sondern die ordre-public-Klausel des Allgemeinen Preußischen Landrechts für einschlägig, da die Klägerin in Berlin ihren Wohnsitz gehabt habe und der fragliche Scheidebrief auch dort zugegangen sei. Im Ergebnis hielt das BayObLG es jedoch keineswegs für erwiesen, daß der behaupteten Scheidung vom Standpunkte des preußischen Landrechtes aus die Wirksamkeit in dessen Gebiete zu versagen war. I 05 Aufgrund dessen verwies das Gericht die Sache zur endgültigen Entscheidung an das OLG zurück. - Dennoch zeigt das Urteil, daß die Richter den aus ihrer Sichtfremden (preußischen) ordre public grundSätzlich für beachtlich hielten. Freilich handelte es sich hier um interlokale Beziehungen und insoweit um ein Sonderproblem. Die Bemerkung am Ende des Urteils - S. 292: "Wie fremde Staaten die behauptete Scheidung beurteilen, ist für die Anwendung des inländischen Rechtes belanglos ... " - deutet
nicht zuletzt deswegen für zulässig, weil den Vorschriften des früheren Rechtes vermutlich gleiche Grundsätze zu entnehmen seien. 104 BayObLG NZ 16,286. \05 Im Gegenteil verwies das BayObLG darauf. daß das preußische Landrecht - wie auch andere deutsche Rechtsordnungen - durchaus die Form der "Willkürscheidung" kenne. und daß eine Privatscheidung nicht bereits als solche gegen das Gebot der Sittlichkeit verstoße. Nach preußischem Landrecht setze die Zulässigkeit einer Ehescheidung auf Grund gegenseitiger Einwillung freilich regelmäßig die Kinderlosigkeit der Ehe voraus. Solche Einschränkung der Zulassung habe ihren Grund jedoch nicht in der Auffassung des Gesetzgebers von dem sittlichen Wesen der Ehe. sondern sei von anderen Erwägungen getragen.
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unmißverständlich darauf hin, daß das Gericht einen außerdeutschen ordre public keineswegs ähnlich bereitwillig berücksichtigt hätte 106 . Nach der Zurückverweisung verneinte das OLG München 107 einen ordre-public-Verstoß. Über die Bindung an die revisionsgerichtliche Auffassung (s.o.) hinaus kam das OLG bei nochmaliger Prüfung zum Ergebnis, daß für die Zulassung einer einverständlichen Scheidung im preußischen Rechtsgebiet die Kinderlosigkeit dann nicht zwingende Voraussetzung sei, wenn auch bei Fortbestand der Ehe kaum Aussicht auf weitere Nachkommenschaft bestünde. So läge der Fall hier. Das Vorhandensein von Kindern hindere hier nicht die Anerkennung einer einverständlichen Scheidung durch Privatakt. Obwohl sich weder das OLG München noch das BayObLG ausdrücklich auf die Frage der Gesetzesumgehung einließ, wird bei der Entscheidung, den preußischen ordre public zu berücksichtigen, nicht zuletzt der Gedanke an die Umgehung des preußischen Rechts (durch Wohnsitzwechsel nach Konstantinopel und Übertritt zum moslemischen Glauben) eine Rolle gespielt haben. lOS
XI. "Mexikoscheidung" In der folgenden erheblich jüngeren Entscheidung 109 ging es u.a. um die Frage - die im Fall der "Helene Böhlau" wegen der Besonderheiten der interlokalen Rechtsbeziehungen einerseits und dem Gutachtencharakter der Fetwa andererseits nicht einschlägig war - der Beachtlichkeit des fremden ordre public im Rahmen der Anerkennung ausländischer Gerichtsurteile: Die Ehe eines US-amerikanischen Ehepaares wurde im Jahre 1961 durch Urteil in Juarez (Staat Chihuahua), Mexiko, auf Antrag der Ehefrau wegen Unverträglichkeit der Charaktere geschieden. Heimatstaat der Ehegatten und letzter gemeinsamer gewöhnlicher Aufenthalt war zu der Zeit New Jersey (USA); die Ehefrau hatte dort noch immer ihr "domicil". Der Ehemann und Antragsteller hatte sich während der Dauer der Ehescheidung in Juarez polizeilich gemeldet. Der Ehemann beabsichtigte, in der Bundesrepublik Deutschland eine zweite Ehe einzugehen, und beantragte aus diesem Grund die Anerkennung des mexi-
106 Das bezweifelt auch Meise, aaO, S. 21.
OLG München NZ 20, 529. Meise, aaO, S. 21 f.; nach Ansicht Kegels, aaO, S. 301-307, hätten die Gerichte die Frage der Gesetzesumgehung prüfen und ihr unabhängig vom preußischen ordre public den Erfolg versagen müssen. - Vgl. unten C. VI. 109 OLG München IPRspr. 1962/63, S. 627 ff. (631 f.). 107 lOS
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kanischen Ehescheidungsurteils, die ihm vom Bayerischen Staatsministerium der Justiz 1962 versagt wurde. Daraufuin beantragte er gerichtliche Entscheidung und legte eine Bescheinigung vor, wonach er und seine geschiedene Ehefrau nach den Gesetzen des Staates New Jersey im Hinblick auf das genannte mexikanische Scheidungsurteil berechtigt seien, eine neue Ehe einzugehen. Das nach Art. 7 § 1 FamRÄndG zuständige OLG München prüfte zunächst, ob das mexikanische Gericht i.S.d. § 328 Abs.l Nr.} ZPO für das ergangene Scheidungsurteil international zuständig war. Unter Hinweis auf die hierzu ergangene Leitentscheidung des RGIIO legte das Gericht den Maßstab der deutschen Gesetze an und prüfte, ob nach den Regeln der deutschen internationalen Zuständigkeit, wenn sie im Entscheidungsstaat anwendbar wären, irgendein Gericht dieses Staates zuständig wäre. Dies bejahten die Richter mit folgender Begründung: Der Antragsteller als Beklagter im damaligen Ehescheidungsrechtsstreit erfülle die Voraussetzungen des § 606 a ZPO (a.F.): wegen seiner fremden (amerikanischen) Staatsangehörigkeit sei § 606 a Nr. } ZPO (a.F.), im Hinblick auf die AntragsteIlung im gegenwärtigen Verfahren auch die Nr. 3 des § 606 a ZPO (a.F.) einschlägig. Da die geschiedenen Ehegatten ihren gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt zuletzt im Ausland, nämlich in Princeton (New Jersey) hatten, sei außerdem Nr. 2 Halbsatz 2 des § 606 a ZPO (a.F.) erfüllt. Unter diesen Voraussetzungen sei die Anerkennung einer ausländischen Entscheidung in Ehesachen von den deutschen Zuständigkeitsvorschriften nicht mehr abhängig, d.h. eine aus § 606 in Verbindung mit § 328 Abs. } Nr. } sonst etwa zu folgernde ausschließliche Zuständigkeit deutscher Gerichte hindere die Anerkennung nicht, es müßten also die Behörden des Entscheidungsstaates nach dem deutschen internationalen Prozeßrecht, wenn dieses in jenem Staate Geltung besäße, nicht zuständig sein. 111 Zuständigkeitsvorschriften stünden der Anerkennung nicht entgegen. Einen Verstoß der ausländischen Entscheidung gegen den deutschen ordre public verneinte das OLG München unter Hinweis auf die mangelnde Inlandsbeziehung. Das Eingreifen der deutschen Vorbehalts klausel wurde von den Richtern darüber hinaus im Hinblick auf eine mögliche Umgehung l12 , nämlich einer ,,Ausschaltung amerikanischer Gerichte", erwogen, jedoch u.a. deshalb
IIORGZ51,135. 111 OLG München, aaO, S. 629. 112 Mexiko gilt als sog. Scheidungsparadies, wo Scheidungswillige schneller und ein-
facher die Ehescheidung erreichen als in ihrem Heimat- bzw. Wohnsitzstaat.
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verneint, weil der angeführte Scheidungsgrund im Eherecht einzelner Bundesstaaten der USA zugelassen sei. 113 Als zusätzliche Voraussetzung der Anerkennung prüfte das OLG München im folgenden außerdem, ob der Heimatstaat der Eheleute seinerseits das ausländische Scheidungsuneil anerkennen werde. Denn die Anerkennung eines in einem dritten Staat ergangenen Urteils könne nur dann erfolgen, wenn das nach Art. 17 Abs.l EGBGB (a.F.) maßgebliche Scheidungsstatut keine Einwände dagegen erhebe. - Folglich war auch der ordre public des Heimatstaates zu berücksichtigen. Zur Begründung der Prüfung des Art. 17 EGBGB neben der des § 328 ZPO führte das Gericht aus, daß nur auf diese Weise Rechtssicherheit und EntscheidUllgseinklang zu erreichen seien. Andernfalls bestünde die Gefahr sog. hinkender Ehen, weil die Ehegatten im Anerkennungsstaat als Geschiedene eine neue Ehe eingehen könnten, während ihnen im Heimatstaat das Eheverbot der Doppelehe entgegengehalten würde. I 14 Da jedoch der Heimatstaat der Ehegatten das mexikanische Scheidungsurteil offenbar anerkannte 115, hielt das Gericht im Ergebnis die Voraussetzungen der Anerkennung - auch unter Berücksichtigung des Art. 17 EGBGB - für gegeben. Diese Entscheidung des OLG München steht im Gegensatz zu der (stärker vertretenen) sog. prozessualen Anerkennungstheorie, derzufolge § 328 ZPO "die ausschließliche Rechtsgrundlage für die Anerkennung und Wirkungserstreckung ausländischer Entscheidungen ist, gleichgültig nach welchem Sachstatut sie zu beurteilen sind ... " 116 Eine Kumulierung von § 328 ZPO und
OLG München, aaO, S. 631. Ebenso: OLG Frankfurt OLGZ 1989, S. 406-408: "Erkennt der gemeinsame Heimatstaat aber die Ehescheidung (in Guam) nicht an, ist auch deshalb die Anerkennung in Deutschland ausgeschlossen." - Zur Bedeutung des Entscheidungseinklangs im Rahmen der Anerkennung vgl. unten C.UI. 115 Ausweislich einer Bescheinigung vom Februar 1963 erkannte das für die Erteilung von Heirats-Lizenzen zuständige Gesundheitsministerium des Heimatstaates New Jersey (USA) das mexikanische Scheidungsurteil an und bestätigte, daß die geschiedenen Eheleute berechtigt seien. eine Heiratsgenehmigung zu beantragen. 116 Formulierung von KleinrahmlPartikel. Anerkennung, S. 25 f. mit umfangreichen Nachweisen; KleinrahmIPartikel bezeichnen diese "international-zivilprozeßrechtliche" Auffassung als die "in der Praxis der Rechtsprechung und der Landesjustizverwaltungen herrschende"; weitere Nachweise bei Basedow. Anerkennung. S. 46 ff.; in der Literatur insbesondere vertreten von Frankenstein. IPR I, S. 347, und Raape, IPR, S. 314. 113 114
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Art.17 EGBGB 117 wird danach mit der Begründung abgelehnt, die Ehescheidung sei im System der gerichtlichen Eheauflösung eine ausschließliche Angelegenheit des Prozeßrechts, weshalb die Anerkennung von Auslandsscheidungen allein dem internationalen Zivilprozeßrecht überlassen sei. 118 Gleichwohl hat der deutsche Gesetzgeber mit § 328 Abs.l Nr.4 ZPO dafür Sorge getragen, daß auch in der dem Prozeßrecht unterfallenden Frage der Anerkennung ausländischer Urteile ein Verstoß des zur Anwendung gelangten materiellen Scheidungsrechts gegen wesentliche deutsche Rechtsgrundsätze das Eingreifen des deutschen ordre public auslöst 119, wie folgender Fall zeigt:
XII. "Verstoßung einer Deutschen" Zur Anwendung des § 328 Abs.l NrA ZPO gelangte z.B. das OLG Stuttgart bei folgendem Sachverhalt l20 : Eine in Ostpreußen geborene deutsche Staatsangehörige schloß im Jahre 1956 vor dem Standesbeamten in Stuttgart die Ehe mit einem ägyptischen Staatsangehörigen islamischer Religionszugehörigkeit. Nach der Eheschließung verzog das Ehepaar nach Ägypten, wo der Ehemann als Arzt tätig war. Im Jahre 1959 sprach der Ehemann vor dem Notariatsamt Kairo im Beisein zweier Zeugen und seiner Frau die erstmalige Verstoßung seiner Ehefrau aus, nachdem die Ehefrau selbst die Verstoßung "beantragt" hatte. Sie erklärte sich mit der "Scheidung" einverstanden und verzichtete im Beisein aller Genannten auf alle ehelichen Ansprüche sowie den Restbetrag ihrer Mitgift. Es wurde eine Urkunde entsprechenden Inhalts abgefaßt und die Ehe geschieden.
117 .•. bzw. das alleinige Abstellen auf Art. 17 EGBGB, das von der sog. internationalprivatrechtlichen Lehre vertreten wird, .... ; zu dieser dritten Ansicht vgl. Überblick und Kritik bei Basedow, aaO., KleinrahmlPartikel, aaO. 118 K. Müller, Anerkennung, S. 223; vgl. auch Kegel, IPR, S. 559 ff.; allerdings will Kegel die internationale Zuständigkeit des ausländischen Scheidungsstaats - und damit die Anerkennungsfahigkeit - analog § 606 a Abs.l, S.I Nr.4 ZPO (n.F.) beschränken, soweit danach die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte zur Scheidung ausländischer Eheleute davon abhängig gemacht wird, daß nicht offensichtlich alle Heimatstaaten beider Gatten die Anerkennung der beantragten Entscheidung ablehnen. 119 Beispiele für das Eingreifen des § 328 Abs.1 Nr.4 bei Kegel, aaO, S. 560 f.; Thomas-Putzo, zu § 328 ZPO, Rz. 18 ff. 120 OLG Stuttgart IPRspr. 60/61, 604 ff.
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Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland beantragte die Frau festzustellen, daß die gesetzlichen Voraussetzungen für die Anerkennung der ägyptischen Ehescheidung vorlägen. Das OLG Stuttgart stellte zunächst fest, daß die Ehe der Antragstellerin nach ägyptischem Recht (genauer: dem Gesetzbuch über das Personenrecht und die Erbfolge nach dem hanefitischen Ritus) dem Bande nach aufgelöst war. Jedoch hatte das Gericht Zweifel daran, ob diese Scheidung im bundesdeutschen Rechtsraum anzuerkennen sei. Das Gericht prüfte einen Verstoß gegen wichtige Grundsätze der inländischen Rechtsordnung. Obwohl es sich in diesem Fall um eine sog. Privatscheidung rechtsgeschäftlicher Natur handelte, maß das Gericht die Anerkennungsfähigkeit an § 328 ZPO.121 Das Gericht versagte der ägyptischen Scheidung gern. Abs.l Nr.4 die Anerkennung, weil sie - der Fall spielte etliche Jahre vor dem Inkrafttreten des neuen Scheidungsrechts zum 1. 1. 1977 (!) - gegen das Prinzip des deutschen Eherechts, die grundsätzliche Unauflöslichkeit der Ehe verstoße. Im Gegensatz zum deutschen Ehe- und Scheidungsrecht habe die Scheidung erfolgen können, ohne daß ein wichtiger Grund hierfür behauptet oder von einer Behörde nachgeprüft worden sei. Des weiteren würde die Anerkennung der Scheidung in eklatanter Weise gegen das Gleichbehandlungsgebot in Art. 3 Abs.2 GG verstoßen: Denn das Recht zur Verstoßung des Ehegatten stünde nach ägyptischem Recht ausschließlich dem Ehemann zu. 122 An der Wertung des Gerichts vermochte auch der Umstand nichts zu ändern, daß sich die Ehefrau in diesem Fall mit der Verstoßung einverstanden erklärt hatte. 123 Für das OLG Stuttgart ergab sich die Unvereinbarkeit mit inländischen Rechts- und Moralvorstellun121 Offensichtlich sahen sich die Richter angesichts der behördlichen Mitwirkung durch das Notariatsamtes in Kairo veranlaßt, den eigentlich auf "Urteile ausländischer Gerichte" beschränkten Anwendungsbereich des § 328 ZPO auf diesen Fall auszudehnen. - Kritisch dazu KleinrahmlPartikel, S. 66 und 99: Der überwiegenden Meinung zufolge sei im Fall einer durch privates Rechtsgeschäft vollzogenen Scheidung die "Anerkennungsfähigkeit" an hand der allgemeinen kollisionsrechtlichen Grundsätze zu überprüfen. Ebenso: Kegel, aaO, S. 561; dagegen schlägt Wuppermann, Rechtsprechung, S. 152 ff. vor, de lege ferenda auch die Eheauflösungen rechtsgeschäftlicher Natur als ,,Entscheidungen" LS.d. § 328 ZPO zu betrachten und großzügig anzuerkennen. 122 Kritik am Eingreifen der eigenen ordre-public-Klausel üben trotz der Beteiligung deutscher Staatsangehöriger Wuppermann, aaO, S. 146 ff. ("Kreuzzugsreminiszenzen"); Basedow, aaO, S. 9; KleinrahmlPartikel, aaO, S. 163. 123 Dagegen beinhaltet das seit dem l. l. 1977 geltende (neue) Scheidungsrecht neben dem Zerrüttungsprinzip durchaus eine gewisse Anerkennung der Konventionalscheidung.
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gen bereits aus dem privaten und rechtsgeschäftlichen Charakter des Scheidungsaktes an sich. Mit wenigen Worten streifte das Gericht auch die Frage der für das Eingreifen des ordre public erforderlichen Binnenbeziehung: Die deutsche Staatsangehörigkeit der verstoßenen Frau erachtete das Gericht insoweit für ausreichend. Während deutsche Gerichte die in einem Drittstaat erfolgte Ehescheidung ausländischer Staatsangehöriger mit dem Hinweis auf den prozessualen Charakter der Anerkennung tendenziell auch gegen den ordre public des Heimatstaates anerkennen 124, wird bei Beteiligung deutscher Staatsangehöriger dem Interesse an der Durchsetzung inländischer Rechts- und Sittlichkeitsanschauungenen durch § 328 Abs. 1 Nr. 4 ZPO stärker Rechnung getragen.
XIII. "Verstoßung einer Französin" Angenommen, es sei nicht eine Deutsche in Kairo von ihrem ägyptischen Ehemann, sondern eine in Algerien mit einem Algerier verheiratete Französin von ihrem Mann "verstoßen" worden. Nach ihrer Übersiedlung nach Deutschland will sie sich hier mit einem Deutschen neu verheiraten und in der Bundesrepublik wohnen. In Abweichung von der eben zitierten Entscheidung des OLG Stuttgart beurteilt sich ein solcher Fall einer rechtsgeschäftlichen Scheidung nach rein internationalprivatrechtlichen Regeln. Dabei scheint fraglich, ob deutsche Gerichte ungeachtet der gegenteiligen Wertung bei ausreichendem Bezug zum deutschen Recht - diese rechtsgeschäftliche Scheidung nicht unter Verweis auf das gern. Art. 17 EGBGB (n.F.) berufene algerische Recht "anerkennen" würden, ungeachtet des französischen Heimatrechts der Ehefrau, das zumindest im Falle der gegen den Willen der Frau 125 und ohne ihr Gehör ausgesprochenen Verstoßung die Ehescheidung als unwirksam ansehen würde. 126 Vgl. die Nachweise bei KleinrahmIPartikel, Anerkennung, S. 25 f. Der Umstand, daß sich die Frau jetzt in Deutschland neu verheiraten möchte, bedeutet nicht ohne weiteres, daß die Scheidung nun auch von ihrem Willen getragen wird; denn es ist nicht ausgeschlossen, daß sie die neue Ehe nur aus einer Art "Realitätssinn" heraus eingeht, d.h. die Scheidung als irrevisibel hinnimmt. 126 Fadlallah, reconnaissance, S. 17-29: Nach der Darstellung Fadlallahs läßt sich von der französischen Rechtsprechung in diesem Punkt zwar kein einheitliches, klares Bild zeichnen. Von einem ordre-public-Verstoß gehen französische Gerichte aber wohl nach wie vor bei sog. "schlechten" Verstoßungen aus, bei denen die Frau auch nachträglich nicht einwilligt und nicht angehört wurde. 124 125
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Erster Teil: Rechtspolitische Diskussion
XIV. "Thailänderscheidung in Deutschland" Der BGH hatte im Jahre 1982 folgenden Fall zu entscheiden l27 : Zwei Thailänder heirateten in ihrer Heimat. Später zogen sie nach Deutschland. Knapp fünf Jahre nach der Heirat erklärten sie vor ihrer Botschaft in Bad Godesberg einverständlich die Scheidung. Diese wurde auf dem Standesamt der Botschaft registriert. Der Mann heiratete in Kopenhagen erneut. Die Frau wollte in Deutschland ebenfalls wieder heiraten und beantragte, die Scheidung vor der Botschaft anzuerkennen. "Antwort: keine Wiederheirat,"128 Der BGH bejahte im Einklang mit der herrschenden Meinung ein "Scheidungsmonopol" der deutschen Gerichte. Was seit der IPR-Reform in Art.17 Abs.2 EGBGB (n.F.) gesetzlich festgeschrieben ist, leitete der BGH damals aus der Formulierung des § 1564 BGB und des Art.l7 AbsA EGBGB (a.F.) her. Gegen diese Rechtsprechung gab es im Schrifttum zahlreiche kritische Stimmen. 129 Auf die BGH-Entscheidung reagierte insbesondere Kegel mit Zweifeln an der rechtspolitischen Notwendigkeit eines gerichtlichen "Scheidungsmonopols" für inländische Scheidungen. 130 Er will es den Eheleuten selbst überlassen, bei Bedarf die Gültigkeit der Scheidung überprüfen zu lassen, z.B. durch Erheben einer entsprechenden Feststellungsklage. Kegel argumentiert u.a. damit, daß scheidungswillige ausländische Eheleute angesichts eines gerichtlichen "Scheidungsmonopols" zur Umgehung "genötigt" würden. Denn eine Wiederholung der Botschaftsscheidung vor der Botschaft ihres Heimatsstaats "in Brüssel oder Paris" würde von Seiten der deutschen Behörden anerkannt. 131 - Das bedeutet aber, daß nach Ansicht Kegels ein drittstaatliches gerichtliches "Scheidungsmonopol" für uns nicht beachtlich wäre. 132 Der Wertungswiderspruch, der darin besteht, in Deutschland auf dem gerichtlichen Scheidungsmonopol zu bestehen, eine privatrechtliche Scheidung in einem Drittstaat - unabhängig von einem "Scheidungsmonopol" der dortigen Gerichte
BGH Z 82, 34; kommentiert von Kegel, Scheidung, S. 22 ff. Mit Worten übernommen von Kegel, aaO. 129 Bereits vor BGH Z 82, 34 Wuppermann, aaO, S. 153 f.; zahlreiche Nachweise bei KleinrahmIPartikel, aaO, S. 150 ff. 130 Kegel, Scheidung, S. 22 ff. 131 Ders., aaO. 132 Ders., IPR, S. 561: "Die rechtsgeschäftliche Scheidung ist wirksam, wenn sie nach dem Recht, das die Scheidung beherrscht, wirksam ist, mag auch das Recht des Vornahmeortes Scheidung in einem Verfahren fordern." Ebenso: KleinrahmIPartikel, aaO, S. 161 m.w.N. 127
128
A. Beispiele für die (Nicht-) Beachtung des fremden ordre public
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- jedoch anzuerkennen, war Kegel durchaus bewußt. Er wollte dem jedoch durch eigene "Zurückhaltung" abhelfen, d.h. privatrechtliche Scheidungen auch im Inland zulassen. - Mit der Neufassung des Art.l7 EGBGB wurde vom Gesetzgeber allerdings der gegenteilige Weg beschritten, und als gesetzlich konkretisierte Vorbehaltsklausel Art. 17 Abs.2 EGBGB (n.F.) neu aufgenommen.
xv. Fazit Daß die Beispielsfälle ausschließlich aus dem Bereich des Familien- und Erbrechts stammen, ist zwar nicht zufällig, weil familienrechtliche Fälle über 90 % der ordre-public-Anwendungen ausmachen I33 , heißt aber nicht, daß in anderen Bereichen mit dem fremden ordre public grundlegend anders verfahren würde. Die Fallbetrachtung liefert Hinweise dafür, daß zwischen der Anwendung des eigenen ordre public und der Beachtung eines fremden ordre-public-Vorbehalts gewisse Unterschiede gemacht werden. Es gibt u.a. Anhaltspunkte dafür, daß das Anwendungskriterium der Inlandsbeziehung l34 unterschiedlich beurteilt wird jeweils abhängig davon, ob es sich um den eigenen oder einen fremden ordre public handelt: Dahin geht beispielsweise die Urteilsanalyse von Meise im Fall der "Argentinierscheidung"135; seiner Ansicht zufolge hat das OLG Karlsruhe das Eingreifen des argentinischen ordre public mangels ausreichender Binnenbeziehung des Falles zu Argentinien verneint l36 , wohingegen man wohl davon ausgehen kann, daß in dem "umgekehrten" Fall, daß es um die Wirksamkeit einer Scheidung deutscher Eheleute im Ausland gegangen wäre, deutsche Gerichte die deutsche Staatsangehörigkeit der Betroffenen für das Eingreifen des eigenen ordre public gegebenenfalls für ausreichend erachtet hätten. Im Fall der ,,spanierheirat"137 gab es ungeachtet der spanischen Herkunft des Verlobten gegen die vom BGH vertretene Berücksichtigung des spanischen ordre public den Einwand, es fehle jene Binnenbeziehung zum spanischen Staat, die den spanischen ordre public erst maßgeblich werden lasse. 138
133 MK-Sonnenberger, zu Art.6 EGBGB (n.F.), Rz.14; ebenso: Weitz, Inlandsbeziehung,S.l. 134 Grundsätzlich zum Erfordernis der Inlandsbeziehung im zweiten Teil, C.II.3. l3S A.I. 136 Meise, Relativität, S. 22. 137 A.V. 138 Neumayer, Zivilehe, S. 88.
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Erster Teil: Rechtspolitische Diskussion
Darüber hinaus vermittelt der Fall des "Französischen Erblassers"139 den Anschein, als ob deutsche Gerichte, soweit sie einen fremden ordre public überhaupt für anwendbar halten, die Voraussetzungen für eine tatsächliche Verletzung der fremden Rechtsgrundsätze weniger schnell erfüllt sehen. Das OLG Saarbrücken ging davon aus, daß der französische erbrechtliche Grundsatz der "portion reservee" durch die Anwendung des - weniger weitreichenden - deutschen Pflichtteilsrechts nicht verletzt werde. Man hat außerdem gesehen 140, daß deutsche Gerichte die Anerkennung einer ausländischen Entscheidung nicht zuletzt davon abhängig machen, daß die fragliche Entscheidung unseren ordre public nicht verletzt. Ob aber die ausländische Entscheidung gegen wesentliche Grundsätze der (drittstaatlichen) lex causae verstößt, ist nach der herrschenden prozessualen Anerkennungstheorie für die Frage der Anerkennung nicht relevant. Unterschiede im Umgang mit dem eigenen und dem fremden ordre public zeigen sich auf eindrucksvolle Weise schließlich im Beispielsfall der "Zyprerheirat" und deren "deutscher Variante"141, wo einerseits der deutsche ordre public über Art. 13 Abs. 3 EGBGB (n.F.) zur Anwendung kommen, die gleichlautende französische Vorbehalts klausel im Ausgangsfall trotz identischer Binnenbeziehung und inhaltlicher Übereinstimmung mit dem inländischen ordre public unbeachtlich sein soll. Vergleichbar ist die Situation in den Fällen der "Verstoßungsscheidung"142, deren "Anerkennung" bei Beteiligung einer deutschen Staatsangehörigen das OLG Stuttgart verneint hat, wohingegen eine Französin in gleicher Lage von deutschen Gerichten ungeachtet des entgegenstehenden französischen ordre public wohl als wirksam geschieden angesehen würde. Um die Beachtlichkeit eines mit dem inländischen ordre public inhaltlich übereinstimmenden drittstaatlichen ordre-public-Vorbehalt geht es drittens auch in den Fällen des staatlichen Scheidungsmonopols, das wir nur dann beachten, wenn es sich um das eigene handelt. 143 Die nachfolgende rechtspolitische Diskussion soll zeigen, ob die unterschiedliche Behandlung des fremden ordre public wünschenswert und gerechtfertigt ist oder ob nicht einiges dafür spricht, unter Umständen auch den fremden ordre public stärker zu beachten. 139
A.I1I.
140
A.X. "Mexikoscheidung". A.VII.l. und 2. A.XII. und A.XIII. Vgl. A.XIII. "Thailänderscheidung in Deutschland".
141 142 143
B. Rechtspolitische Bedenken gegen die Beachtlichkeit
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B. RechtspoUtische Bedenken gegen die Beachtlichkeit J. Mangelndes rechtspolitisches Bedürfnis Auf den Einwand, für eine Berücksichtigung des fremden ordre public bestünde kein - oder nur ein eingeschränktes - Bedürfnis, trifft man zumeist nur unterschwellig 144; dennoch sind Zweifel dieser Art verbreitet. Sie liegen unausgesprochen zugrunde, wenn trotz eines Verstoßes gegen ausländische elementare Rechtsgrundsätze unter bestimmten Voraussetzungen das Eingreifen des eigenen ordre public bejaht wird, ohne daß die Beachtlichkeit des tatsächlich betroffenen fremden ordre public in Betracht gezogen wird. 145 In der Sache (faktisch) erfährt der ausländische ordre public dadurch zwar durchaus Beachtung; er wird jedoch nicht als solcher anerkannt, sondern in Gestalt des eigenen ordre public, was teilweise zu der Schlußfolgerung verleiten mag, einer Berücksichtigung des fremden ordre public bedürfe es nicht: So wird in dem Beispielsfall der "Mehrehe"146 von Zitelmann vertreten, nicht der ordre public des französischen Ortsrechts, sondern der eigene ordrepublic-Vorbehalt sei durch die bigamische Eheschließung berührt (Verstoß gegen die guten Sitten).147 Seiner Auffassung nach genügt es, daß eine ausreichende tatsächliche Beziehung des Sachverhaltes zum Gebiet eines Staates besteht, in dem "dieselben ethischen Anschauungen herrschen" wie bei uns, um unsere eigene Vorbehaltsklausel eingreifen zu lassen, wo eigentlich fremde Rechtssätze verletzt sind.l 48 Bei Übereinstimmung der Vorbehaltsklauseln in ethischer Hinsicht befanden sich die betreffenden Staaten in einer Art "Interessengemeinschaft", die es rechtfertige, den eigenen ordre public auch dann anzuwenden, wenn die "tatsächliche Beziehung zu unserem Gebiet" dafür an sich nicht ausreiche. 149 - Auf diese Weise werden die Fälle, in denen es uns aufgrund inhaltlicher Übereinstimmung mit dem fremden Recht nach einer irAusdrücklich aber Meise, Relativität, S. 44 ff.; Mann, FS Beitzke, S. 609. Zitelmann, IPR, S. 351 und 363; vgl. den Fall der "Mehrehe". - Wäre diese erweiterte Anwendung der eigenen Vorbehaltsklausel berechtigt, bestünde insoweit kein Bedarf, bei der Rechtsfindung auch den ausländischen ordre public zu beachten. 146 Zum Sachverhalt s. A.VIII. 147 Zitelmann, aaO. 148 Ders., aaO.; ebenso Habicht, IPR, S. 238; dargestellt bei Meise, Relativität, S. 35 144
145
ff. 149
Dieselben, aaO.
4 BrUning
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Erster Teil: Rechtspolitische Diskussion
gendwie gearteten "Beachtung" der fremden Grundprinzipien drängt, im Ergebnis "zufriedenstellend" gelöst, ohne den fremden ordre public als solchen für beachtlich erklären zu müssen. Zitelmann vollzieht gerade nicht den Schritt, in Anbetracht der inhaltlichen Vergleichbarkeit die Beachtung des fremden Vorbehalts in Betracht zu ziehen. Teilweise wird versucht, dieses "Rechtsgefühl", wonach wir die mit den eigenen übereinstimmenden ausländischen Grundanschauungen gern zur Wirkung kommen lassen würden, mit der Existenz eines vorgegebenen gesellschaftsübergreifenden Naturrechts zu erklären. 150 Mit Hilfe eines "internationalen ordre public" soll- ohne Bindung an eine bestimmte Staatlichkeit - dieser höheren, universalen Ordnung Geltung verschafft und damit den gleichgelagerten Interessen einer Vielzahl von Staaten zur Durchsetzung verholfen werden. 151 Andere wiederum argumentieren bezüglich der bereitwilligen Berücksichtigung inhaltsgleicher fremder Grundsätze mit völkerrechtlicher Grundlegung. 152 Tatsächlich sind z.B. der Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder der Arten- und Kulturgüterschutz als überstaatliche Interessen in zahlreichen internationalen Vertragswerken garantiert ... Bei aller internationaler Übereinstimmung wendet der Richter jedoch nur solche Rechtsgrundsätze an, die auch zu den Prinzipien seines eigenen Rechts zählen 153; er tut es nicht um einer abstrakten höheren Ordnung willen, die in der eigenen Rechtsordnung keinen Niederschlag gefunden hat. Auch allgemein anerkannte Grundsätze bestehen nicht als eigene Kategorie des Rechts fort, wenn sie sich in nationalen Rechtsordnungen konkretisiert haben. Sie werden mit der Positivierung Teil der nationalen Gesetze. 154 Insb. Stöcker, Int. ordre public, S. 79 ff.; Roth, Vorbehalt, S. 78 ff. Stöcker, aaO., S. 87 ff. 152 ZiteImann, IPR I, S. 379 f.; Neuhaus, Grundbegriffe, S. 372; mit Einschränkungen auch Vallindas, Vorbehalt, S. 9; Jaenicke, BerGesVR Bd. 7, S. 77 ff.; s. auch MK-Sonnenberger, zu Art. 6 EGBGB, Rz. 69, der von "grundlegenden Gemeinschaftsinteressen der Völkerrechtsordnung" spricht. - Kritisch dagegen Simitis, Vorbehaltsklausel, S. 272: "Gerade weil die Intervention des ordre public unablässig zur absoluten Ausnahme erklärt wird, liegt es nahe, sie mit dem Hinweis zu verteidigen, daß Grundsätze, die weit über die eigene Rechtsordnung hinaus Geltung beanspruchen, auf dem Spiel stehen. Das inländische Recht erscheint dann nur als der mehr oder weniger zufallige Ort, an dem ein Kodex unverzichtbarer, universell geltender Regeln zum Ausdruck gelangt." 153 Voraussetzung ist außerdem, daß der Sachverhalt eine ausreichende Binnenbeziehung zur eigenen Rechtsordnung aufweist. Dazu noch im folgenden sowie eingehender im zweiten Teil, C.II.3. 154 Vallindas, Vorbehalt, S. 6 f.; Schütz, Int. o.p., S. 149 f.; Siehr, Wirtschaftskollisionsrecht, S. 64; Frankenstein, IPR I, S. 221; Neuhaus, Grundbegriffe, S. 74; vgl. auch 150
151
B. Rechtspolitische Bedenken gegen die Beachtlichkeit
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Ein vorgegebener internationaler Standard - ob Ausfluß eines gesellschaftsübergreifenden Naturrechts oder Ergebnis völkerrechtlicher Vereinbarungen - besteht dagegen nicht! 155
Jede Gesellschaft hat demnach "ihre eigenen sittlichen und rechtlichen Grundvorstellungen und ihre eigenen rechtspolitischen Ziele"IS6; sie können mit denen anderer Staaten übereinstimmen oder mehr oder weniger davon abweichen. Der ordre public ist zum Schutz dieser Rechtsgrundsätze berufen und ist daher von Rechtsordnung zu Rechtsordnung zwangsläufig verschieden. 157 Der eigene ordre public kann nur inländische Werte schützen. ISS Diese aber sind nur dann gefährdet, wenn der in Frage stehende Rechtsvorgang eine gewisse Beziehung zum Inland ("Inlands- oder Binnenbeziehung") aufweist. IS9 Die bigamische Eheschließung zweier iranischer Staatsangehöriger im Iran berührt uns nicht. Daraus ergibt sich, daß das Eingreifen unseres eigenen ordre public "eine hinreichend starke örtliche Beziehung des zu entscheidenden Sachverhalts zur deutschen Rechtsordnung im Urteilszeitpunkt" voraussetzt l60 und das Fehlen dieser Inlandsbeziehung nicht etwa dadurch ausgeglichen werden kann, daß eine entsprechende Beziehung zu einer fremden Rechtsordnung besteht, deren Grundsätze verletzt sind und den inländischen inhaltlich entsprechen!161 Wer aus einem bestimmten "Rechtsgefühl" oder aber aus rechtspolitischen Erwägungen heraus dem Umstand des Verstoßes gegen einen inhaltsgleichen fremden ordre public Beachtung schenken möchte, kann dies nur auf dem Weg der Berücksichtigung des fremden ordre public als solchem tun. Eine lediglich Horn, intern. o.p., S. 451 f.: danach kann der internationale ordre public nur dort Beachtung finden, wo ihn "der nationale ordre public sanktioniert"; ebenso Schnyder, Anwendung, § 4 I. 155 Wäre das Eingreifen des eigenen ordre public Folge eines Verstoßes gegen Rechtsprinzipien von "universaler Rationalität", bestünde außerdem die Gefahr der Diskriminierung des von der Anwendung ausgeschlossenen fremden Rechts. Darauf weist zu Recht Simitis, aaO., S. 273, hin. 156 Meise, aaO, S. 11. 157 Ders., aaO.; daran ändert auch eine zufällige Übereinstimmung mit anderen nationalen Vorbehaltsklauseln nichts. 158 Bucher, Anknüpfungsgerechtigkeit, S. 226 f. 159 Zur Inlandsbeziehung ausführlich und m.w.N. Meise, aaO, S. 84 ff.; s. auch Zweiter Teil, C.II.3. 160 Für die ganz überwiegende Auffassung MK-Sonnenberger, zu Art. 6, Rz. 72 m.w.N. 161 Meise, aaO, S. 36. 4'
52
Erster Teil: Rechtspolitische Diskussion
"mittelbare" Beachtung mit Hilfe einer erweiterten Anwendung des eigenen ordre public scheitert an der räumlichen Gebundenheit der VorbehaltsklauseI. 162 Mit der "örtlichen Relativität"163 kollidiert ebenso derjenige, der den fremden ordre-public-Vorbehalt u.U. zwar - wie er sagt - "beachten" will, jedoch gleichzeitig einräumt, daß es dem Richter in Wirklichkeit um die verdeckte Anwendung des eigenen ordre public gehe. 164 Ein Bedürfnis, den ausländischen ordre public zu beachten, wird daneben mit der Begründung angezweifelt, in vielen Fällen handle es sich nur "scheinbar " darum, den ordre public einer ausländischen Rechtsordnung als solchen zu beachten; in Wahrheit werde die Rechtsfolge "von der kraft Normalverweisung maßgeblichen Rechtsordnung ausgesprochen." 165 Tatsächlich besteht in dem Fall, daß das fremde Sachrecht bereits aufgrund der "gewöhnlichen" Verweisung anwendbar ist, keine Veranlassung, über die Beachtlichkeit des ordre public der berufenen Rechtsordnung zu diskutieren. Wer im Fall der "Spanierheirat"166 - sei es infolge abhängiger Vorfragenanknüpfung oder wegen Verneinens einer Vorfrage l67 - die Frage der wirksamen Eheauflösung im Ergebnis dem spanischen materiellen Recht unterstellte, stand in der Tat nicht vor der Frage, das spanische Scheidungsverbot über den spanischen ordre public durchzusetzen; diese Rechtsfolge wurde bereits vom berufenen (spanischen) Sachrecht selbst ausgesprochen. 168 Als "von der kraft Normalverweisung maßgeblichen Rechtsordnung" ausgesprochene Sanktion beurteilt Meise aber auch den Fall, daß die lex causae zwar an sich auf die lex fori zurück- oder auf ein Drittrecht weiterverweist, diesem Renvoi jedoch ihren ordre public entgegenstellt. Hier handle es sich zwar um die Beachtlichkeit eines ausländischen ordre public. Dessen Beachtung sei jedoch durch die Anwendung der von unserem Kollisionsrecht "kraft Normalverweisung" berufenen fremden lex causae und deren Kollisionsnormen veran-
162 Vgl. Bucher, aaO, S. 226 f.: " ... nur eine Fiktion, hier von einem Durchbruch der ordre-public-Normen des Forums zu sprechen." 163 So bezeichnet bei Meise, aaO. 164 Vgl. z.B. Dölle im Fall des "Französischen Erblassers 11", A.X. 165 Meise, aaO., S. 44. 166 Zum Sachverhalt und zur Fragestellung vgl. A.V. 167 Zu den unterschiedlichen Lösungsansätzen vgl. oben; eingehend Meise, aaO. 168 Vgl. Meise, aaO; s. auch die Ausführungen oben A.V.
B. Rechtspolitische Bedenken gegen die Beachtlichkeit
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laßt. 169 Da der fremde ordre public in diesem Fall bereits als Teil des berufenen fremden Kollisionsrechts Beachtung finde 170, hält Meise die Diskussion um die Beachtlichkeit des fremden ordre public in diesem Zusammenhang für überflüssig. 171 - Die Beispielsfälle haben allerdings gezeigt, daß die Berücksichtigung des fremden ordre public selbst im Rahmen des Renvoi nicht unbestritten ist. 172 Und selbst wenn Meise darin Recht hat, daß die Beachtlichkeit eines fremden ordre public im Rahmen eines Renvoi zu befürworten ist, weil es sich bei der fremden Vorbehaltsklausel um einen Teil des berufenen fremden Kollisionsrechts handelt, und daß in diesen Fällen eine andere Grundlage für die Beachtlichkeit nicht in Betracht kommt l73 , macht dies die Diskussion um die Beachtlichkeit des fremden ordre public nicht generell überflüssig. Das beweist die Existenz von Fällen wie der "Zyprerheirat"174, in denen sich die Frage nach der Berücksichtigung eines ordre public nicht im Rahmen eines Renvoi stellt, sondern über die Beachtlichkeit eines drittstaatlichen ordre public zu entscheiden ist. Um das mögliche Eingreifen eines drittstaatlichen ordre public hätte es sich auch gehandelt, wenn im "Spanier-Fall" die Frage der Wirksamkeit der Eheauflösung mit dem Argument, es habe sich um eine reine Inlandsscheidung gehandelt, ausschließlich deutschem Sachrecht 175 unterstellt worden wäre. Entgegen Meises Ansicht 176 wäre auch bei diesem Lösungsansatz möglicherweise Grund vorhanden gewesen, "das spanische Ehehindernis doch noch über den spanischen ordre public heranzuziehen." - Jedenfalls ist nicht von vornherein auszuschließen, daß es Gründe gibt, in Ausnahmefällen auch den ordre public einer fremden Rechtsordnung, der unser Kollisionsrecht den Sachverhalt nicht un-
169 Ders., aaO, S. 46, über den Ansatz einer Vorfragenrückverweisung auf deutsches Recht im "Spanierurteil"; s. dazu oben A.V. 170 Ders., aaO, S. 14 ff. 171 So wird verständlich, daß Meise, aaO, S. 46, derart um den Nachweis bemüht ist, daß im "Spanierfall" eine Grundlage dafür, den spanischen ordre public "aus einem bisher nicht bekannten Grunde zu beachten", nicht ersichtlich ist. I72 Zu den Nachweisen vgl. C.III. 173 Vgl. dazu die Ausführungen in C.I11. zum Entscheidungseinklang, im Zweiten Teil zur kollisionsrechtlichen Struktur des ordre public sowie im Dritten Teil, A.1. 174 A.VII. 175 bzw. deutschem Prozeßrecht, wenn man darin primär eine Frage der Anerkennung einer inländischen gerichtlichen Entscheidung sieht; vgl. dazu K. Müller, Dt. Scheidungsurteil, S. 61 ff. 176 Meise, aaO., S. 46.
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Erster Teil: Rechtspolitische Diskussion
terstellt, zu beachten. Dieses Bedürfnis kann nicht ohne weiteres, d.h. ohne entsprechende Prüfung, negiert werden. 177 Nur "scheinbar" um eine Frage der Berücksichtigung des ausländischen ordre public soll es sich auch handeln, "wenn Verstöße gegen ausländische zwingende Rechtsnormen zu beurteilen sind, die auf öffentlichrechtlicher Grundlage beruhen".l1 8 Angesprochen ist hier das Problem der Beachtlichkeit sog. fremder ,,Eingriffsnormen"179, das - unabhängig von der Meinung, die man in diesem Punkt vertritt, - nicht mit der Frage der Beachtlichkeit des fremden ordre public zu vermengen seL180 Da die bisherige Rechtspraxis die fremden ,,Eingriffsnormen" bereits mit dem vorhandenen Instrumentarium "in wohl verstandenem Umfang" berücksichtige, sei kein Grund vorhanden, in diesem Zusammenhang die Berücksichtigung des fremden ordre public zu propagieren. 181 Ob die Differenzierung zwischen der Anwendung fremder "Eingriffsnormen" und der Berücksichtigung fremder ordre-public-Klauseln tatsächlich berechtigt ist, und es also bei der Frage der Beachtlichkeit der "Eingriffsnormen" nicht gleichzeitig um die Beachtlichkeit des fremden ordre public geht, kann nicht ohne eingehenden strukturellen Vergleich von ordre public und Eingriffsnormen beantwortet werden, wie er im Zweiten Teil erfolgen soll. Schließlich wird vielfach angezweifelt, daß die Grundsätze des ordre public zur Abwehr kollisionsrechtlicher Gesetzesumgehungen heranzuziehen, und folglich der fremde ordre public zum Zwecke der Bekämpfung der Umgehung fremden Rechts zu beachten sei. 182 Dieser Ansicht zu folge ist der ordre public grundsätzlich nicht das geeignete Mittel, "das Wesen der Umgehung zu erklä-
177 Vgl. dazu im folgenden - C. - die rechtspolitischen Argumente, die möglicherweise für eine Beachtlichkeit sprechen. 178 Mit Worten übernommen von Meise, aaO, S. 49; ebenso Mann, FS Beitzke, S.
609. Dazu eingehend im Zweiten Teil, B. Meise, aaO; Mann, aaO; eingeschränkt MK-Sonnenberger, zu Art. 6 EGBGB, Rz. 65, der darin immerhin eine "mittelbare Berücksichtigung" des ausländischen ordre public sieht; noch weitergehend und also a.A. als Meise jedoch Siehr, Wirtschaftskollisionsrecht, S. 93; ebenso Keller/Siehr, IPR, S. 547 ff.; dagegen Schulze, Öff. Recht, S. 177 ff., der unter den dort genannten Voraussetzungen die Anwendung entprechender fremder Rechtssätze vom eigenen ("aktiven") ordre public gefordert sieht; wie letzterer RaapeiSturm, IPR, S. 211; - weitere Nachweise vgl. unten im Zweiten Teil. 181 Mann, aaO, S. 618 f. 182 Nachweise bei Römer, Gesetzesumgehung im IPR, insb. S. 90 Fn.6; grundlegend zum Begriff der Gesetzesumgehung im IPR: ders., aaO. 179
180
B. Rechtspolitische Bedenken gegen die Beachtlichkeit
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ren und ihre Bekämpfung sicherzustellen."183 - Auch hier wird erst die weitere Darstellung l84 zeigen, ob die Umgehung nur scheinbar ein Unterfall des ordre public und die Diskussion um die Beachtlichkeit des fremden ordre public diesbezüglich fehl am Platze ist. Zusammenfassend läßt sich jedoch bereits jetzt sagen, daß es trotz aller Einwände Fälle gibt, in denen sich die Frage nach der Beachtlichkeit des ausländischen ordre public - nicht nur "scheinbar" - stellt und seine Berücksichtigung nicht ausgeschlossen scheint. Wenn auch nicht auszuschließen ist, daß in manchen Fallgestaltungen die Beachtung des fremden ordre public zu Unrecht diskutiert wird (z.B. weil bereits das jeweilige fremde Sachrecht zur Anwendung berufen ist, s.o.), berechtigt die Existenz solcher "Scheinfälle" nicht dazu, ein rechtspolitisches Bedürfnis nach der Berücksichtigung fremder Vorbehaltsklauseln insgesamt abzulehnen. 11. Souveränitätsverlust Aus mancher Darstellung l85 spricht das Bedenken, mit der Beachtung des fremden ordre public sei eine Beeinträchtigung der eigenen Souveränität verbunden. Unter dem völkerrechtlichen Begriff der "Souveränität" ist in diesem Kontext die "Autonomie (eines Staates) in Gesetzgebung, Rechtspflege, Verwaltung innerhalb des dem Staate zustehenden Machtkreises"186 zu verstehen. Aus dieser Autonomie ergibt sich im Rückschluß "die Pflicht aller übrigen Staaten, sich jedes Eingriffs in den völkerrechtlich abgegrenzten Machtbereich eines jeden der übrigen Mitglieder der Völkergemeinschaft zu enthalten". 187 183 Ders .• aaO. 184 Vgl. unten die Ausftihrungen in C.VI. 185 Niederer, Einftihrung, S. 304; Vallindas, Vorbehalt, S. 6; Graue, in: Zweigert, IPR und ÖffR, S. 144 f.: "Gefahr des Abbaus der Souveränität"; von solchem Bedenken berichten Keller/Siehr, Allgemeine Lehren, S. 548: der ordre public als "Einfallstor" ftir staatliche Interessen; "Import von ausländischem Recht ohne Anwendungsberechtigung"; dargestellt auch bei Jagmetti, Fremdes Kollisionsrecht, S. 242; Meise, aaO, S. 15. - In den Augen von Vallindas, aaO, gentigt die Tatsache allein, daß der Richter der fremdveranlaßten Ausschaltung der eigenen Rechtsordnung Folge leisten soll, um der Theorie der Beachtlichkeit des fremden ordre public im Rahmen der Rtickverweisung " den Gnadenstoß zu versetzen". Ebenso Niederer, aaO. 186 Liszt, Völkerrecht, S. 74; Etter, Souveränitätsgedanke, S. 51 spricht von der "inneren" Souveränität". 187 Etter, aaO, S. 52; vgl. auch Neumeyer,lnt. Verwaltungsrecht, S. 115 unten.
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Erster Teil: Rechtspolitische Diskussion
Anders als die kollisionsnormvermittelte "gewöhnliche" Anwendung fremden Rechts 188 wird die Rücksichtnahme auf fremde Wertprinzipen und grundlegende Rechtsgrundsätze im Rahmen eines fremden ordre public augenscheinlich als Eingriff in die eigene "exclusive territorial jurisdiction" 189 empfunden. Besonders drastisch spiegelt sich dies in dem Begriff "ausländischer Dirigismus" wider, der in ähnlichem Zusammenhang, bezogen auf die Beachtlichkeit fremder ,,Eingriffsnormen", gelegentlich fallt .190 Darüber hinaus gibt es Mindermeinungen, die in der Anwendung eines fremden materiellen Rechts überhaupt - also auch der ensprechenden ordre-public-Inhalte - einen Eingriff in fremde Souveränität sehen 191 und zur Vermeidung solcher Verstöße auf einseitige KoIIisionsnormen zurückgreifen. - Ohne hier auf die Systeme einseitiger KoIIisionsnormen näher eingehen zu können, sind Zweifel angebracht, ob "eine Anwendung ausländischen Rechts auch in Fällen, in denen dies in dem betreffenden Ausland nicht angewandt worden wäre"192, einen Eingriff in die fremde Souveränität darstellt; eigentlich vergrößert sie noch den Anwendungsbereich dieses Rechts "in einem Maße, das zwar nicht vorgesehen, das aber auch nicht mißbilligt werden kann". 193 Andere 194 wiederum lehnen dagegen im Bereich des IPR solche Verquickung von privaten und staatlichen Interessen gänzlich ab. Kegel prägte dazu den Satz: "Souveränitätsinteressen haben im IPR nichts zu suchen: es geht um die Gerechtigkeit von Einzelnen."195 Zumindest "verwirre" das Argument vom
188 Die Anwendung ausländischen Rechts Wird nach Einschätzung Wiethölters, Einseitige KoIIisionsnormen, S. 92, heute erfreulicherweise nicht mehr grundsätzlich als Eingriff in die eigene Souveränität verstanden ... ; ebenso FIessner, Fakultatives KoIIisionsrecht, S. 555; vgI. auch ehr. v. Bar, IPR I, Rz. 473: " ... Die Anwendung fremden Rechts durch inländische Gerichte hört also schon für Savigny auf, ein Souveränitätsproblem zu sein." 189 Begriff bei Etter, aaO, S. 52 f., der den Ausdruck mit "Staatstätigkeit" übersetzt. 190 Mann, aaO, S. 620; Kratz, Eingriffsnormen; S. 108; Pentzlin, universeller o.p., S. 119 f. 191 Nachgewiesen bei Wiethölter, aaO, S. 90. Die Vertreter dieser Auffassung befürchten, daß allseitige KoIIisionsnormen zur Anwendung eines Rechts führen können, das selbst die eigene Anwendung nicht vorsieht, und auf diese Weise in fremde Souveränität eingreifen. Ihre These besteht darin, daß kein fremdes Recht ohne den Willen der zugehörigen KoIIisionsvorschriften zur Anwendung berufen werden sollte. 192 Ders., aaO, S. 93. 193 Ders., aaO. 194 Kegel, IPR, S. 194; Yntema, FS Rabel I, S. 531 m.w.N.; ähnlich Pentzlin, aaO, S. 121. 195 aaO.
B. Rechtspolitische Bedenken gegen die Beachtlichkeit
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Souveränitätskonflikt die Problematik des IPR, die nicht vom Machtbereich des Politischen herkomme, sondern Suche nach dem gerechten Ausgleich "individueller Interessen" bedeute. 196 Doch so sehr die Verknüpfung des Kollisionsrechts mit Souveränitätsinteressen und Zuständigkeitsabgrenzungen mittlerweile auf Kritik stößt, so ist sie dennoch auch heute noch nicht gänzlich überwunden. 197 Bezeichnenderweise äußert sich Etter dazu wie folgt: "Es ist sehr schwierig, die kollisionsrechtliche Theorie von der Idee der Souveränität so weit zu befreien, daß sie schließlich nur noch nach der gerechtesten Lösung der internationalprivatrechtlichen Fälle strebt."198 Etter erkennt zwar die Notwendigkeit, die Abwägung von Kompetenzinteressen durch das Bemühen um eine angemessene Anknüpfung und auf diese Weise um die gerechteste Lösung zu ersetzen; dennoch räumt er der "gerechten Verteilung der Souveränitäten" in der kollisionsrechtlichen Theorie nach wie vor den überwiegenden Stellenwert ein. 199 Dies gelte um so mehr, als die langanhaltende Auseinandersetzung zwischen der internationalistischen und der nationalistischen Schule 200 heute zugunsten der letzteren entschieden sei. Der Umstand, daß nach heutiger Auffassung das IPR staatliches Recht ist und keiner internationalen - übergeordneten - Rechtsquelle entspringt 201 , ist für Etter Ausfluß einer überstarken Betonung der einzelstaatlichen Souveränität. 202 Dieselbe Übersteigerung eigener Souveränitätsansprüche unterstellt er dem sog. autonomistischen Ansatz, wonach "jeder Staat die internationalprivatrechtlichen Fragen in eigener Verantwortung und nach eigener rechtspolitischer Wertung, also autonom, beantwortet,,203. Die Ablehnung einer höheren Instanz, "die als übergeordneter Schiedsrichter zwischen den kollidierenden Rechtsordnungen der Staaten zu schlichten hätte"204, diesen "absoluten Ausschluß des völkerrechtlichen Einflusses" setzt Etter gleich mit einer "extrem starken Beto196 Yntema, aaO. 197 Einschätzung von Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, S. 117 ff.; ebenso Flessner, aaO, S. 559. 198 Etter, aaO, S. 85. 199 Ders., aaO. u. S. 86: In der Anwendung fremden Rechts sieht Etter die freiwillige Beschränkung der eigenen Souveränität. 200 Zur Benennung und zu den Inhalten: Schurig, aaO, S. 121. 201 Nachweise bei Etter, aaO, S. 119 f.; Schurig, aaO, S. 65 f.; Wiethölter, aaO, S. 88 ff.; Kegel, IPR, S. 86. 202 Etter, aaO, S. 117. 203 Schurig, aaO, S. 124 u. S. 67 mit ausführlicher Darstellung und Nachweisen. 204 Ders., aaO.
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Erster Teil: Rechtspolitische Diskussion
nung der staatlichen Souveränität".205 So gesehen stelle sich das Internationale Privatrecht heute mehr denn je als ein Bereich aufeinandertreffender Souveränitäten und konkurrierender Zuständigkeiten dar. 206 Jedoch läßt weder der Umstand, daß das Kollisionsrecht nach richtiger Ansicht staatlichen Ursprungs ist, noch die Auffassung, daß jeder Staat in der Beurteilung internationalprivatrechtlicher Sachverhalte autonom ist, zwingend den Schluß auf (überzogene) Souveränitätsansprüche zu. "Es geht allein darum, einen privaten Rechtsfall angemessen zu entscheiden; Teil dieser Entscheidung ist die Wahl der "richtigen" Rechtsordnung unter den zur Verfügung stehenden. Hier zeigt sich, daß internationales Privatrecht Privatrecht ist, weil (und soweit) es seinen Teil dazu beiträgt, Rechtsverhältnisse zwischen einzelnen zu regeln. ,,207 Auch bei autonomer Wertung können international übliche Kriterien wie Entscheidungseinklang und Zusammenarbeit etc. beachtet werden. Autonomie bedeutet nicht zwingend ungebührliche Bevorzugung des eigenen Rechts. 20S Genausowenig beinhaltet jedoch die autonom bestimmte Anwendung fremden Rechts einen Verlust eigener Souveränität. Im Gegenteil! Denn die eigene Rechtsordnung gibt durch ihre Kollisionsnorm den Anwendungsbefehl. Der Forumrichter leistet keiner fremden Anordnung Folge, sondern befolgt die Regeln seines eigenen Rechts.2 09 Nichts anderes kann letztlich für die Frage der Rücksichtnahme auf den fremden ordre public gelten. Zwar wird dem entgegengehalten (s.o.), daß die ordre-public-Klausel geradezu ein "Einfallstor" für die staatspolitischen Interessen des jeweiligen Landes sei 210 , weshalb der Souveränitätsgedanke in der Lehre vom ordre public eine ganz besondere Rolle spielen müsse. 211 EntspreEtter, aaO, S. 134. Ders., aaO. 207 Schurig, aaO, S. 66; ebenso Meise, Relativität, S. 15 f. 208 Schurig, aaO, S. 67; ebenso Bucher, Anknüpfungsgerechtigkeit, S. 205. 209 Schnitzer, L 'egalite, S. 36: "Tout au contraire, c'est I 'ordre juridique de son propre pays, qui, par sa norme de conflit, lui ordonne d'appliquer la loi etrangere. Si I'organe d'un pays determine applique la loi etrangere, il ne suit donc pas le commandement d'une souverainete etrangere, mais il obeit a une norme emanant de son propre ordre juridique." 210 Vgl. oben Fn. 41; zudem: Keller/Siehr, aaO, S. 278; Pentzlin, aaO, S. 127: " ... im öffentlichen Recht wird in erster Linie eine Ausprägung staatlicher Machtinteressen gesehen." 211 Konsequenz bei Etter, aaO, S. 199. 205
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chend wird die Beachtlichkeit des fremden ordre public u.a. mit dem Argument abgelehnt, fremden staatspolitischen Zielsetzungen sei der Einfluß auf private Rechtsverhältnisse zu verwehren. 212 - Nach neuerer richtiger Auffassung dient der ordre public jedoch nicht nur dem Schutz typisch staatlicher und öffentlicher Interessen, sondern zumindest auch der Verwirklichung von Einzelfallgerechtigkeit im Privatrechtsverkehr. 213 Wie im gesamten Kollisionsrecht tritt der Souveränitätsgedanke auch im Bereich des ordre-public-Vorbehalts mehr und mehr zugunsten von materiellrechtlichen Gerechtigkeitserwägungen in den Hintergrund. Inwieweit sich der Gedanke Schnitzers, die autonom, mit Hilfe eigener kollisionsrechtlicher Regeln entschiedene Anwendung fremden Rechts könne unsere Souveränität gar nicht beeinträchtigen (s.o.), unmittelbar auf die Beachtung des fremden ordre public übertragen läßt, wird allerdings nicht zuletzt entscheidend davon abhängen, inwieweit man der ordre-public-Anwendung kollisionsrechtlichen Charakter zusprechen kann. 214 Vor "politischen Übergriffen" eines fremden Gesetzgebers schützt aber jedenfalls der eigene ordre public, der eine wirksame Schranke für die Beachtlichkeit einer fremden Vorbehalts klausel darstellt. 215
III. Schwierigkeit der Feststellung Bereits die Anwendung fremden Rechts im allgemeinen stellt den Richter nicht selten vor erhebliche Probleme216 : Dies gilt zunächst für die Ermittlung des ausländischen Rechts, die im deutschen Recht nach dem Grundsatz "iura 212 Vgl. oben Fn. 41; vgl. auch die Darstellung bei Jagmetti, Fremdes Kollisions recht, S. 235, m.w.N. 213 Schwander, Lois d'application immediate, S. 56; Kegel, IPR, S. 325 und S. 90; MK-Sonnenberger, zu Art. 6 EGBGB, Rz.l; Keller/Siehr, aaO.; Bucher, aaO, S. 52. Vgl. hierzu auch die Überlegungen, den ordre public als "privatrechtliche Härteklausel" zu deuten, MK-Sonnenberger, aaO, RZ.II. 214 Dazu ausführlich im Zweiten Teil, C. 215 Niederer, Einführung, S. 303: "Wird dieser Vorbehalt (der eigene ordre public) beachtet, so ist die Auffassung (der Beklagten) unbegründet, daß in der Anwendung des ordre public eines fremden Staates eine Preisgabe der Souveränität des eigenen zugunsten der des fremden Staates liege." Ebenso: Jagmetti, aaO, S. 242. - Pentzlin, aaO, S. 95 f., für die von ihr propagierte Berücksichtigung "übernationaler Belange": Grenze bleibt der nationale ordre public. - Ebenso: Meise, aaO, S. 15. - S. i.ü. die Ausführungen im Dritten Teil zu den "Grenzen der Beachtlichkeit". 216 Vgl. Kegel, IPR, S. 317 ff.; Heiz, Fremdes öff. Recht, S. 63 f.
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novit curia" dem Gericht obliegt. 217 Freilich wird man vom Richter regelmäßig nur fordern können, daß er das inländische Recht kennt; hinsichtlich des ausländischen Rechts trifft ihn jedoch die Pflicht, dies aus eigener Kraft festzustellen 218 , was sich mangels Ausbildung und Erfahrung des Richters im Auslandsrecht sowie in Anbetracht kaum vollständiger Bibliotheken bzw. sonstiger Hilfsmittel schwierig gestalten kann. 219 Dies gilt um so mehr, als sich die Rechtsfindung nicht allein auf den einschlägigen (ausländischen) Gesetzestext stützen darf, der zumeist zur Verfügung stehen wird; vielmehr sind die ausländischen Regeln über die Auslegung und Fortbildung des Rechts, die Rechtsprechung und das Schrifttum in demselben Umfang zu beachten wie von den Gerichten des entsprechenden Auslands selbst. 220 Zwar hat das Gericht in Deutschland die Möglichkeit, sich entweder von den Parteien helfen zu lassen 221 oder aber von einem der Institute für internationales und ausländisches Privatrecht ein Gutachten einzuholen. 222 Im ersten Fall bietet dies jedoch kaum größere Richtigkeitsgewähr; im anderen Fall ist die Hilfe mit einem gewissen Aufwand an Zeit und Kosten verbunden. Hinzu kommt, daß jede Rechtsanwendung gewisse Formen des Denkens voraussetzt, die geschichtlich und gesellschaftlich bedingt sind, und dem fremden Richter, wenn er nicht in ihnen erzogen ist, nur schwer zugänglich sind. 223 Eigene Anschauungen, das eigene Rechtsgefühl, die gewohnte Methode, können ihm um so weniger helfen, je entfernter der Rechtskreis ist, dem die fremde Rechtsordnung angehört. Zu Recht wird der Richter daher zurückhaltender und konservativer vorgehen als bei der Anwendung eigenen Rechts. 224 Bei der Feststellung eines ausländischen ordre public sieht sich das Gericht aber neben den genannten noch zusätzlichen Schwierigkeiten gegenüber: Erschwert wird die Feststel1ung des fremden ordre public u.a. durch die Tatsache, daß in den Fällen mit ordre-public-Berührung stets die konkreten Fallumstände 217 218 219
Kegel, aaO, S. 315: "da mihi factum, dabo ti bi ius". Ders., aaO; Heiz, aaO; Raape, IPR, S. 119. Flessner, Fakultatives Kollisionsrecht, S. 550; Müller, Wohlerworbenes Recht, S.
332. Kegel, aaO, S. 318 f. Heiz, aaO, S. 64; vgl. § 293 ZPO. 222 Kegel, aaO; Flessner, aaO. 223 Müller, aaO. 224 Kegel, aaO; Flessner, aaO, spricht sogar von "Ängstlichkeit" und hält das Interesse der Rechtssuchenden an "qualitativ hochwertiger Justiz" nicht zuletzt wegen dieser Zurückhaltung bei der Rechtsfindung für gefährdet. 220 221
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eine hervorragende Rolle spielen. Angesichts der Bedeutung der Einzelfallgestaltung erscheint es noch schwieriger, sich mit Hilfe von fremder Rechtsprechung und Schrifttum zuverlässige Kenntnisse über die eventuell verletzten (fremden) Grundsätze zu verschaffen. 225 Größere Schwierigkeiten als bei der Feststellung fremden Rechts im allgemeinen bereitet auch der Umstand, daß der Richter - mehr als sonst - ein wertendes Urteil zu fällen hat und seine Entscheidung nicht nach rein logischen Gesichtspunkten treffen kann. 226 "Der inländische Richter muß also eine Wertung vornehmen, wie sie der ausländische Richter vornehmen würde. ,,227 Eine solche Wertung erfordert "erst recht" beste Kenntnisse der gesamten Grundlagen der betreffenden Rechtsordnung, die nur schwer zu erlangen sind. Schließlich gilt für den fremden ordre public wie für den eigenen, daß es sich häufig nicht um den Schutz positiver Normen, sondern um teilweise unausgeformte Rechtsgrundsätze und unbestimmte Prinzipien handelt, die erst noch konkretisiert werden müssen und deren Feststellung bereits aus diesem Grund erschwert sein dürfte 228 , um so mehr, wenn es um ordre-public-Grundsätze eines völlig anderen Kulturkreise geht. Für manchen sind diese besonderen Schwierigkeiten, die die Feststellung des fremden ordre public über das allgemeine Maß hinaus verursacht, ausreichender Anlaß, die Beachtlichkeit des ausländischen ordre public insgesamt ab zulehnen 229 bzw. einer Berücksichtigung zumindest kritisch gegenüberzustehen. 230 - Es wird damit mehr oder weniger bewußt dem Interesse der Gerichte nachgegeben, eigenes Recht anzuwenden, weil die Anwendung fremden Rechts
Meise, Relativität, S. 28. Jagmetti, Fremdes Kollisionsrecht, S. 247 f.; vgl. auch die Ausführungen zum ordre public im Zweiten Teil, C.; ähnlich, aber relativierend: Neuhaus, Grundbegriffe, S. 388. 227 Jagmetti, aaO. 228 Ferid, FS Dölle 11, S. 145-147, ausländisches Verfassungsrecht betreffend; für den eigenen ordre public: Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, S. 256 ff.; Spickhoff, ordre public, S. 134. 229 Vallindas, Vorbehalt, S. 7; Staudinger-Raape, zu Art. 27 EGBGB, E 11: "Niemand kann mit fremden Augen sehen. Was unter den italienischen ordine pubblico fällt, fühlt - denn es ist mehr ein Fühlen als ein Erkennen - nur ein italienischer Jurist." Ebenso: Scheucher, ordre public, S. 23 unten. 230 Meise, aaO, S. 27 ff. 225
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oft schwer und mühsam und auch unsicher ist. 231 Dieses Interesse ist angesichts der aufgezeigten Schwierigkeiten naheliegend und aus pragmatischer Sicht sogar legitim. Dennoch ist dem "Heimwärtsstreben"der Gerichte in der Frage der Beachtlichkeit des fremden ordre public nicht mehr Raum zu geben als bei der Anwendung fremden Rechts im allgemeinen. 232 Es "schlägt bei der Rechtswahl schwerlich durch. ,,233 Denn die Schwierigkeiten bei der Feststellung des fremden ordre public sind nicht grundsätzlich anderer Art als bei der Feststellung ausländischen Rechts im allgemeinen, sondern weisen höchstens graduelle Unterschiede auf. Ebensowenig wie die Anwendung fremden Rechts im allgemeinen sollte die Berücksichtigung der ausländischen Vorbehaltsklausel wegen der Schwierigkeit der Feststellung abgelehnt werden. In manchen anderen Fragen wie z.B. der der Siuenwidrigkeit eines Rechtsgeschäfts nach ausländischem Recht ist das Interesse an einer authentischen Interpretation des fremden Rechts kaum geringer 234 , ohne daß deswegen die Anwendung fremden Rechts insgesamt abgelehnt würde.
IV. Verlust des inneren Entscheidungseinklangs Infolge der Beachtung des ausländischen ordre public könnte es insoweit zu Widersprüchlichkeiten in der materiellrechtlichen Bewertung kommen, als dadurch inhaltlich zusammenhängende Rechtsfragen trotz des sie verbindenden einheitlichen Lebenssachverhalts nicht einem einzigen Recht, sondern mehreren Rechtsordnungen unterstellt würden.235 Wenn diese Rechtsordnungen in
231 Zum "Heimwärtsstreben" der Gerichte z.B. Kegel, IPR, S. 88; nach Ansicht Flessners, aaO, S. 550 ff. (561 f.) handelt es sich sogar um ein im Einzelfall vorhandenes Interesse der Parteien an "qualitativ hochwertiger Justiz", das die Gerichte veran· lassen sollte, ihr eigenes Recht anzuwenden; Lüderitz, FS Kegel, S. 31 ff. spricht in diesem Zusammenhang von "Errnittlungsinteressen". - Kritisch dazu Schurig, aaO, S. 344; Kegel, aaO, S. 89. 232 Pentzlin, Universeller o.p., S. 94 f. 233 Kegel, aaO. 234 Meise, aaO, S. 29, Fn.l. 235 Vgl. den Fall der "Zyprerheirat", A.VII.: Die u.U. im Zusammenhang mit der Frage der Ehelichkeit eines Kindes aufkommende Frage nach der Gültigkeit der Eheschließung würde bei Berücksichtigung des französischen ordre public dem französischen Ortsrecht unterstellt mit dem Ergebnis der Ehenichtigkeit; i.ü. wäre zyprisches Heimatrecht zur Anwendung berufen, das die Eheschließung für gültig erachten würde ... ; zur Frage der Vorfragenanknüpfung, die sich in diesem Zusammenhang stellt, im
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materiell rechtlicher Hinsicht nicht übereinstimmen. wird man bei der rechtlichen Beurteilung des Gesamtkomplexes nicht selten auf Normwidersprüche stoßen. Man spricht von einer Beeinträchtigung des "inneren Entscheidungseinklangs"236 oder der "internen Harmonie"237. Die inhaltliche Abstimmung der Rechtssätze ist regelmäßig nur innerhalb derselben Rechtsordnung gewährleistet; hier kann Widerspruchsfreiheit in der Regel unterstellt werden. 238 Um des inneren Entscheidungseinklangs willen sollte das Recht. das wir anwenden. also nach Möglichkeit in sich geschlossen sein. Das führt zu der Forderung. möglichst große Sachverhaltskomplexe einer einzigen Rechtsordnung zuzuweisen. 239 Dieser Forderung entspricht das IPR jedoch nicht immer. 240 Das Kollisionsrecht zerstört die Geschlossenheit ("Harmonie") dann. wenn es verschiedene Teile eines zusammengehörigen Sachverhaltes (z.B. die mit dem Tod eines Vermögensinhabers zusammenhängenden Rechtsfragen) verschiedenem Recht unterstellt. Diese "Mißhelligkeit" nimmt in dem Maße zu. in dem das Anknüpfungssystem weiter differenziert und im Hinblick auf Teilfragen noch weiter verästelt wird. mag dies auch im Sinne der Anknüpfungsgerechtigkeit geboten
folgenden. - Zum Problem der .. Zersplitterung" infolge des Eingreifens des (deutschen) ordre public: v. Schwind. Zersplitterung. S. 455 ff. 236 Kegel. IPR. S. 87. 237 WengIer. IPR I. S. 70; grundsätzlich zum inneren Entscheidungseinklang: ders .• Allg. Rechtsgrundsätze. S. 473 ff.; Zweigert. Dritte Schule. S. 50; Kegel. FS Lewald. S. 276; vgl. Neuhaus. Grundbegriffe. S. \06. mit der Forderung. daß das gleiche Rechtsverhältnis vom deutschen Richter bei jeder von ihm zu fällenden Entscheidung gleich beurteilt werde; Serick. Teilfragen. S. 633 ff. (S. 635). 238 Kegel. IPR. S. 87 .. 239 WengIer. aaO; ähnlich Schurig. Lois. S. 73: .. Interesse an einheitlicher. ungebrochener Beurteilung des Sachverhaltes. - Zu dem Verhältnis zwischen äußerem und innerem Entscheidungseinklang s. unten C.II1. 240 Schulte. Int. Vertragsrecht. S. 81: ...... weil im IPR eine ganze Reihe von Sonderanknüpfungen anerkannt sind. z.B. für die Geschäftsfähigkeit oder für die Form des Rechtsgeschäfts. "
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sein. 241 Dagegen profitiert der innere Entscheidungseinklang, "wenn man die Kollisionsnormen weit faßt und nicht zu sehr verästelt".242 Das EGBGB ist der Forderung nach innerer Entscheidungsharmonie beispielsweise dadurch nachgekommen, daß für den Bereich der Ehe und Kindschaft grundsätzlich ein einziges Recht für maßgeblich erklärt wird. (V gl. Art. 14, 17, 19 n.F. EGBGB.) Damit entspricht das Gesetz dem "Prinzip der Familieneinheit", dem zufolge "alle zwischen den Mitgliedern einer Familie bestehenden ehe- und kindschaftsrechtlichen Beziehungen mit Hilfe derselben Verknüpfung einem einzigen Recht unterstellt werden sollen"243, um so Normenwidersprüche in diesem Bereich zu vermeiden.244 Gegen das "Prinzip der Familieneinheit" und der "inneren Entscheidungsharmonie" verstößt es aber möglicherweise, wenn im Fall der "Zyprerheirat"(Ausgangsfall)245 hinsichtlich der Eheschließungsvoraussetzungen mit dem französischen ordre public ausnahmsweise französisches Ortsrecht anstelle des im (deutschen) internationalen Ehe- und Kindschaftsrecht üblichen Staatsange241 Die Frage, ob und wann eine solche kollisionsrechtliche Abspaltung einzelner Rechtsfragen erforderlich ist, soll hier nicht vertieft werden. - Vgl. dazu grundlegend u.a. v. Schwind, aaO, S. 449 ff.; Serick, aaO. - Allgemein läßt sich so viel sagen, daß die Verweisung auf eine nationale Rechtsordnung nicht immer dem internationalen Charakter eines Sachverhaltes mit Auslandsberührung zu mehreren Staaten gerecht wird. 242 Kegel, aaO, S. 88; mit ergänzendem Vorschlag Serick, aaO, S. 637: danach sollte zumindest jede gesetzliche "Sonderanknüpfung" eng ausgelegt werden; ,,zurückhaltung mit kollisionsrechtlichen Abspaltungen" empfiehlt auch Bär, Kartellrecht, S. 186 f.: "Die differenzierteste Lösung ist nicht immer die beste." Seiner Ansicht nach nimmt das Bedürfnis nach noch "sachgerechteren" Anknüpfungen in dem Maße ab, in dem die Gefahr von Normwidersprüchen infolge von Teilfragenabspaltungen größer wird. 243 Wengier, aaO. 244 Ein Beispiel für einen Normwiderspruch, wie er zustandekommen kann, wenn Verlobte im Ausland unter Mißachtung der Vorschriften ihres gemeinsamen Heimatrechts heiraten und später u.U. beide die Staatsangehörigkeit wechseln: Nach dem Recht des Staates A, dem die Frage der Ehelichkeit des Kindes unterstellt wird, gelten die Eltern als nicht gültig verheiratet; nach dem Recht des Staates B, das für die Scheidung maßgebend sein soll, ist die Ehe ebenfalls unwirksam; die Ehegültigkeit als "Hauptfrage" dagegen untersteht nach Art.13 mit Art.lI EGBGB dem Recht des Staates C, wonach die Ehe gültig geschlossen wurde. (Vgl. A.VII.3. sowie im folgenden)· Zur Art des Normwiderspruchs eingehend Kegel, aaO, S. 231 f.: "Je nachdem, ob die Gültigkeit der Ehe für sich allein betrachtet zu bejahen oder zu verneinen wäre, hätten wir bei den Ehefolgen Normenmangel oder Normenhäufung: Normenmangel z.B., wenn trotz gültiger Ehe keine persönlichen Ehewirkungen einträten; Normenhäufung, wenn trotz ungültiger Ehe persönliche Ehewirkungen anzunehmen wären." 245 Zum Sachverhalt vgl. oben A. VII.
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hörigkeitsrechts (vgl. Art. 13 Abs.1 EGBGB n.F.) berufen wird. Hätte ein deutsches Gericht später über eine Rechtsfolge der Ehe, z.B. über Ehegüterrecht, eheliche Kindschaft oder gesetzliches Ehegattenerbrecht usw. zu entscheiden und würde das Gericht, wie dies die Anhänger einer "nichtselbständigen" bzw. "abhängigen"246 Vorfragenanknüpfung fordern 247 , die Vorfrage der Ehegültigkeit dem IPR der jeweiligen Hauptfrage (Ehegüterrecht, Abstammungsrecht, Erbrecht) unterwerfen, wäre der "innere Entscheidungseinklang" tatsächlich in Gefahr. Bei "abhängiger" Vorfragenanknüpfung wäre nicht nur die Hauptfrage (nach der ehelichen Abstammung des Kindes) gern. Art.l9 Abs.l i.V.m. 14 Abs.l EGBGB (n.F.) zyprischem Recht zu unterstellen, sondern das zyprische Kollisionsrecht hätte auch über die Vorfrage der Ehegültigkeit zu befinden. Wer dieser Auffassung folgt, bejaht die eheliche Abstammung, weil die Vorfrage der Ehegültigkeit vom zyprischen Recht - entgegen dem französischen ordre public - positiv beurteilt wird, betrachtet die Ehe jedoch248 als ungültig, soweit die Ehegültigkeit die Hauptfrage darstellt und isoliert zu beurteilen ist. 249 - Gebot der inneren Entscheidungsharmonie wäre es dagegen, "die Vorfrage stets ebenso zu beantworten, wie sie als Hauptfrage in einem inländischen Verfahren zu beantworten wäre; die Gerichte eines Landes sollten logischerweise ein und dieselbe Rechtsfrage (z.B. die Gültigkeit einer Ehe) stets gleichmäßig beantworten und nicht etwa als Hauptfrage gemäß dem Kollisionsrecht des Forums so und als Vorfrage gemäß dem Kollisionsrecht der lex causae anders."250 Gerade in Fällen, in denen es sich bei der Vorfrage typischerweise um die Begründung von Statusverhältnissen wie Ehe, Eigentum etc. handelt, die insofern "zentral" zu nennen sind, als sie Quelle zahlreicher Rechtswirkungen sind
246 So prägnanter Schurig. FS Kegel, S. 553. 247 Melchior, Grundlagen. S. 245-265; Wengier, Vorfrage, S. 188-251; Neuhaus, Grundbegriffe. S. 344-353; KellerlSiehr, Allgemeine Lehren, S. 507-515; weitere Nachweise bei Schurig, aaO. S. 554, Fn.ll. 248 ... immer unter der Prämisse, daß der fremde (französische) ordre public Beachtung findet ... 249 Hier ist zu Recht von ,juristischer Schizophrenie" die Rede, W. Goldschmidt, zitiert nach Kegel. aaO, S. 232; dagegen Neuhaus. aaO, S. 347: nur "scheinbarer" logischer Widerspruch; "die unterschiedliche Beuteilung desselben Vorgangs vom Standpunkt verschiedener Rechtsordnungen" sei "nichts Ungewöhnliches". 250 Neuhaus. aaO. S. 347. der die Vorfrage aber dennoch unselbständig anknüpfen will. S BrUning
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Erster Teil: Rechtspolitische Diskussion
und bei "natürlicher Betrachtungsweise" eigentlich die "Hauptfrage" darstellen 251 , ist solcher Widerspruch besonders mißlich! Anders verhält es sich jedoch, wenn man die Vorfrage der Ehegültigkeit entsprechend der "allgemeinen Regel"252 - "selbständig", d.h. nach dem eigenen IPR, anknüpft. 253 In diesem Fall entscheiden wir über die Ehegültigkeit als Vorfrage genau so, wie wir über die Ehegültigkeit entscheiden würden, wäre sie Hauptfrage; der ausländische (französische) ordre public würde in heiden Fällen Berücksichtigung finden, die Ehe wäre demnach nichtig. 254 - Ein Widerspruch entsteht hier nicht, da nun die Beurteilung der Ehegültigkeit unabhängig von Vor- oder Hauptfrage stets gleich ausfällt und daher mit der Entscheidung über die jeweilige eheliche Rechtswirkung nicht in Widerspruch stehen kann. 255 Die "selbständige" Vorfragenanknüpfung ist grundsätzlich, nicht nur für den Fall, daß die Vorfrage in der Gültigkeit einer Ehe besteht256 , vorzuziehen. 257 Die "abhängige" Vorfragenanknüpfung stellt eine Abweichung von der allgemeinen Regel, Rechtsfragen ohne Rücksicht auf ihren sachlichen Zusammenhang nach dem IPR
251 Schurig, aaO, S. 579 f.: "Das Wesentliche ist, daß man verheiratet ist, alles andere folgt daraus." 252 Ders., aaO, S. 553. 253 Ders., aaO, S. 549 ff., grundlegend zur "selbständigen" Vorfragenanknüpfung. 254 Zur umstrittenen Beurteilung der ehelichen Abstammung bei fehlerhafter Eheschließung, die bei Beurteilung nach deutschem Kollisionsrecht eine Nichtehe darstellt: MK-Siehr, zu Art. 19 EGBGB (n.F.), Rz. 32; Neuhaus, aaO, S. 348 f. - Tendenz: Ehelichkeit der Kinder, wenn "die Nichtehe bloß wegen Art. 13 Abs.3 EGBGB besteht" (MK-Siehr, aaO.); ebenso Neuhaus, aaO: Verstoß gegen Art. 13 Abs.3 soll nicht an den Kindern "geahndet" werden. 255 Vgl. OLG Braunschweig in seinem Voriegungsbeschluß im "Spanierfall" - s. oben A.V.: "Der Senat hält es grundsätzlich für richtig, die Vorfrage selbständig zu beurteilen. Er verkennt dabei nicht, daß dabei trotz der Anwendung des ausländischen Rechts gelegentlich - wie im vorliegenden Falle - eine Rechtsfrage anders entschieden wird, als es durch das ausländische Recht geschähe, daß also die internationale Entscheidungsharmonie gestört wird. Demgegenüber wird aber durch die selbständige Anknüpfung für die Vorfrage die nationale Entscheidungsharmonie oder der innere Entscheidungseinklang gewahrt, indem nämlich vermieden wird, daß deutsche Gerichte ein- und dieselbe Rechtsfrage verschieden beurteilen müssen." 256 Dazu Kegel, aaO, S. 231 f. und S. 581. 257 Ausführliche und überzeugende Kritik bei Schurig, aaO; nach Einschätzung Schurigs, aaO, S. 554, ist dennoch die abhängige Vorfragenanknüpfung heute wieder im Vordringen begriffen.
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der lex fori anzuknüpfen, dar. Es gelingt den Vertretern der abhängigen Vorfragenanknüpfung jedoch nicht, diese Abweichung, die immerhin "die Nichtanwendung positiv vorhandener - und damit doch wohl grundsätzlich bindender - Kollisionsnormen verlangt", als dogmatisch zwingend oder doch erforderlich bzw. rechtspolitisch wünschenswert darzustellen. 258 Der systematisch-dogmatischen Begründung des Inhalts, daß es nach der Zuweisung des Sachverhalts an eine Rechtsordnung allein Sache dieser Rechtsordnung sei, die Voraussetzungen der entsprechenden Rechtsfolge - sei es auch durch Verweisung auf ein anderes Recht - zu bestimmen 259 , ist entgegenzuhalten, daß sie zu sehr in "räumlich-zeitlichen Kategorien" befangen ist. 260 Tatsächlich handelt es sich bei der kollisionsrechtlichen Entscheidungsfindung nicht um einen glatten, streng logisch geordneten Vorgang. Wie Schurig an anderer Stelle261 eindrucksvoll darstellt, besteht der Entscheidungsvorgang oft in einem gedanklichen "Hin- und Herspringen", im Verlauf dessen versuchsweise Lösungen entweder schließlich bestätigt oder aber endgültig verworfen werden. Außerdem zeigt Schurig auf, daß zwischen abhängiger Vorfragenanknüpfung und (selbständiger) Teilfragenanknüpfung kein struktureller Unterschied besteht 262 : Die auf die "Vorfrage" passende Kollisionsnorm soll der abhängigen Vorfragenanknüpfung zufolge ignoriert werden. Gleichwohl ist, da auch die Anwendung einer Kollisionsnorm des die Hauptfrage beherrschenden Rechts durch unser Kollisionsrecht veranlaßt sein muß, eine neue Kollisionsnorm zu bilden, parallel zu der, die uns in der Hauptfrage zum fremden Recht verweist. - Diese "Neubildung" ist jedoch auch rechtspolitisch nicht geboten: Die mittels der abhängigen Vorfragenanknüpfung erhoffte Förderung des äußeren Entscheidungseinklangs ist höchstens relativ, da sich ein Einklang nur mit dem Recht der Hauptfrage einstellt; die Übereinstimmung mit diesem Recht ist aber nicht zwingend wünschenswerter als der Einklang mit dem eigentlich von unserem Kollisionsrecht für die "Vorfrage" berufenen Recht. 263 Abgesehen davon bestünde der äußere Entscheidungseinklang auf Kosten der inneren Entscheidungsharmonie, die nicht selten in unerträglicher Weise gestört würde. 264
553 ff. 95 f. und S. 102: alles andere widerspreche der ,,Logik
258 Für das Vorstehende wie Nachfolgende: Schurig, aaO, S. 259 Neumayer, Vorfrage, S.
der Gedankenfolge". 260 Schurig, aaO, S. 566. 261 Ders., Kollisionsnorm und Sachrecht, S. 117-184. 262 Ders., FS Kegel, S. 561 ff. 263 Ders., aaO, S. 575. 264 Ders., aaO, S. 578 ff.; ebenso OLG Braunschweig, aaO. S·
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Erster Teil: Rechtspolitische Diskussion
Nicht zuletzt wegen der zahlreichen "Ausnahme"-Erwägungen, die in Anerkennung rechtspolitischer Defizite angestellt wurden, erscheint die abhängige Vorfragenanknüpfung wenig überzeugend und nur sehr schwer handhabbar. 265
Zu einer tatsächlichen Störung des inneren Entscheidungseinklangs infolge der Beachtung des fremden ordre public kommt es jedoch möglicherweise in Fällen wie dem des "Französischen Erblassers"266: Entgegen der Auffassung des damals erkennenden OLG Saarbrücken 267 soll hier im Hinblick auf das "Noterbrecht" der enterbten Töchter das Eingreifen des französischen ordre public unterstellt werden. Bei Beachtung der französischen Vorschriften über die zugunsten der Abkömmlinge des Erblassers wären die entsprechenden französischen Erbrechtsvorschriften neben deutschen Erbrechtsnormen "anzuwenden"268; denn der französische ordre public kann die Rückverweisung auf das deutsche Recht nur so weit "einschränken", wie der Verstoß des deutschen Rechts gegen französische Erbrechtsgrundsätze tatsächlich reicht. 269 Darüber hinaus bleibt deutsches Recht über den Renvoi anwendbar. Es läßt sich leicht vorstellen, daß sich aus dem Aufeinandertreffen der beiden Rechtsordnungen in materiellrechtlicher Hinsicht Widersprüche ergeben können, weil die Erbrechtsvorschriften zweier unterschiedlicher Rechtsordnungen nicht aufeinander abgestimmt sind. 270 In dem Fall aber, daß die Rücksichtnahme auf den fremden ordre public tatsächlich zu einer Beeinträchtigung der inneren Entscheidungsharmonie
Schurig, aaO, S. 581 ff. Vgl. oben A.lII. 267 OLG Saarbrücken NJW 1967,732. 268 Was genau an die Stelle der verdrängten deutschen Regeln tritt, soll später untersucht werden; im vorliegenden Zusammenhang ist nur die Tatsache entscheidend, daß die französischen Grundsätze sich "irgendwie" durchsetzen. 269 S. dazu mit Nachweisen im Zweiten Teil zur Struktur des ordre public. 270 Genau genommen wird der innere Entscheidungseinklang bereits ein erstes Mal dadurch gestört, daß das von uns gemäß Art. 25 Abs. I EGBGB (n.F.) berufene französische Erbstatut nach der sog. internationalprivatrechtlichen Nachlaßspaltung verfährt (s. dazu Kegel, IPR, S. 648 0, d.h. wegen der hinterlassenen Grundstücke auf die (deutsche) lex rei sitae zurückverweist; der Nachlaß wird nach den französischen Kollisionsregeln nicht insgesamt nach einer einheitlichen Rechtsordnung abgewickelt, sondern der unbewegliche Nachlaß wird anders als bewegliches Vermögen regelmäßig der lex rei sitae unterworfen. - V. Schwind, aaO, behandelt das Problem der "Zersplitterung" in dem Fall, daß unser Kollisionsrecht zwar ausländisches Recht grundsätzlich für anwendbar erklärt, dessen konkrete einschlägige Vorschriften aber dem inländischen ordre public widersprechen. 265
266
B. Rechtspolitische Bedenken gegen die Beachtlichkeit
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führt, spricht dies noch nicht zwingend gegen eine Beachtung des ausländischen ordre public. Das Interesse an einheitlicher, ungebrochener Beurteilung des Sachverhalts durch eine einzige Rechtsordnung ist zwar ein gewichtiges Ordnungsinteresse das mittelbar auch die Parteien und den Rechtsverkehr schützt271 ; "es handelt sich aber auch nur um ein kollisionsrechtliches Interesse, das darum grundsätzlich auch von anderen verdrängt werden kann. "272 Ohne nicht die Interessen untersucht zu haben, die möglicherweise für eine Beachtlichkeit des fremden ordre public sprechen, kann dessen Berücksichtigung nicht bereits wegen einer daraus resultierenden Beeinträchtigung des inneren Entscheidungseinklangs abgelehnt werden. Wie gesehen, wird das IPR der Aufgabe, materiellrechtliche Widersprüche dieser Art durch Anwendung einer in sich geschlossenen Rechtsordnung zu vermeiden, auch außerhalb der Frage nach der Beachtlichkeit des fremden ordre public nicht immer gerecht, wenn und weil andere wichtige Interessen dagegen sprechen. - Im übrigen geht es beim inneren Entscheidungseinklang primär darum, ein und dieselbe Rechtsfrage (z.B. die Gültigkeit einer Ehe) stets gleichmäßig zu beantworten 273 , und nicht darum, daß die angewandten Sachnormen problemlos zueinander passen. Entscheidend ist demnach, daß der fremde ordre public - soweit man ihn für beachtlich hält - unabhängig davon, ob es sich bei der zu beurteilenden Rechtsfrage um die Hauptfrage oder um eine Vorfrage handelt, stets gleichbleibend berücksichtigt wird. Bei der selbständigen Vorfragenanknüpfung ist dies regelmäßig gewährleistet. V. Rechtsunsicherheit und Komplizierung des IPR Auf Ablehnung stößt die Forderung nach Beachtung des ausländischen ordre public schließlich deshalb, weil man eine erhebliche Beeinträchtigung der Rechtssicherheit und eine Komplizierung der kollisionsrechtlichen Rechtsan271 Kegel, IPR, S. 86.
272 Schurig, Lois, S. 73, Fn. 75; a.A. anscheinend Heini, Staatsinteressen, S. 78 und S.
82, der in der Zuweisung eines Sachverhaltes zu einer einzigen Rechtsordnung die "Aufgabe des IPR" sieht; in diese Richtung auch v. Schwind, aaO, S. 461 f., der es als "oberstes Ziel" bezeichnet, den Gegenstand der Anknüpfung so abzugrenzen, daß er möglichst einem einzigen Recht unterstellt werden kann. - Vgl. die Ausführungen unten C. zur "intemationalprivatrechtlichen Gerechtigkeit". 273 Neuhaus, Grundbegriffe, S. 347 (vgl. bereits oben); ebenso WengIer, Allg. Rechtsgrundsätze, S. 477: "die Rechtsfrage so zu entscheiden, daß die Entscheidung mit anderen, tatsächlich oder möglicherweise innerhalb desselben Staates zu treffenden Entscheidungen inhaltlich in Einklang steht".
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Erster Teil: Rechtspolitische Diskussion
wendung befürchtet. 274 Mehr als sonst bei der Anwendung der ordre-publicKlausel mangle es an der nötigen "Vorhersehbarkeit", wenn der ordre public "aller Rechtsordnungen, die überhaupt ins Gewicht fallende Beziehungen zum Sachverhalt haben", zu berücksichtigen wäre. 275 Dem ist zuzugeben, daß das Interesse an Leichtigkeit und Sicherheit der Rechtsanwendung, an Rechtsklarheit und an der Vorhersehbarkeit des Anwendungsergebnisses berechtigt ist und des Schutzes bedarf. "Regeln der Rechtsanwendung - seien sie materieller, seien sie methodischer Natur - müssen so überschaubar und einfach anwendbar wie möglich sein."276 Radbruch zufolge ist die Forderung nach Rechtssicherheit, daß das Recht "nicht heute und hier so, morgen und dort anders angewandt werde", ein Postulat der Gerechtigkeit selbst. 277 Die Anwendung einer ordre-public-Klausel- auch der eigenen - gefährdet jedoch dadurch, daß ihr Eingreifen an eine Einzelfallbetrachtung und Bewertung der konkreten Fallumstände geknüpft ist, in gewisser Hinsicht die Vorhersehbarkeit des Anwendungsergebnisses. 278 Man könnte annehmen, die Vorhersehbarkeit sei im Falle der Beachtlichkeit des fremden ordre public noch erheblich stärker gefährdet: Bereits die Schwierigkeiten, die mit seiner Feststellung durch den Forumrichter verbunden sein
274 Bezogen auf den drittstaatlichen ordre public: Meise, Relativität, S. 33 u. 37; Neumayer, Zivilehe, S. 88, im Zusammenhang mit der Frage der Beachtlichkeit im Rahmen des Renvoi; gegen die Beachtlichkeit des "zwingenden Rechts eines Drittstaates": Mann, FS Beitzke, S. 623; vgl. auch die Darstellung bei Keller/Siehr, Allgemeine Lehren, S. 548 f., m. w.N., bezogen auf die Anwendung drittstaatlicher Eingriffsnormen, die als "Unterfall" des ausländischen ordre public dargestellt werden; gegen die "Sonderanknüpfung" drittstaatlicher Eingriffsnormen Heini, Staatsinteressen, S. 78 und S. 83: "unabsehbare Gefährdung der Rechtssicherheit"; Lehmann, Zwingendes Recht, S. 205 ff. m.w.N. mit dem Hinweis, Art. 7 Abs.l EVÜ sei hauptsächlich wegen der befürchteten Rechtsunsicherheit nicht in das EGBGB aufgenommen worden. - Vielfach wird die Furcht vor einer Komplizierung der Rechtsanwendung unterschwellig bestehen, und die Beachtlichkeit des fremden ordre public letztlich aus anderen Gründen abgelehnt werden. 275 Meise, aaO. 276 Schurig, FS Kegel, S. 585. 277 Radbruch, Süddt. Juristenzeitung 1946, 105, zitiert bei: Pentzlin, universeller o.p., S.93. 278 Zur Abwägung von Einzelfallgerechtigkeit und sog. Kontinuitätsinteresse vgl. Lüderitz, FS Kegel, S. 31 ff. (38 ff.); vgl. auch Dietzi, Ausweichklausel, S. 54 ff., zum Spannungsverhältnis zwischen Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit.
B. Rechtspolitische Bedenken gegen die Beachtlichkeit
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können 279 , bedeuten eine Einbuße an Berechenbarkeit und Handhabbarkeit. 280 Abgesehen davon soll der ausländische ordre public, was auf den ersten Blick eine weitere Komplizierung darstellt, nur in bestimmten Fällen Beachtung finden. 281 Schließlich muß insbesondere die Vorstellung, einen fremden ordre public u.U. auch außerhalb der von uns kollisionsrechtlich berufenen lex causae zu beachten, unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit insoweit schwerfallen, als die betreffende ausländische Rechtsordnung, der der fremde ordre-public-Vorbehalt angehört, (zunächst) nicht durch unser Kollisionsrecht bezeichnet wird. 282 Diese Bedenken treffen in gewisser Hinsicht zu. Wer die Beachtlichkeit des fremden ordre public fordert, wird einfache und sichere Kriterien dafür entwickeln müssen, wann dieser zu beachten ist und wann nicht. Die Rechtslage ist jedoch - auch nach dem augenblicklichen Meinungsstand - für die Parteien bereits unübersichtlich: Nach h.M. findet der ausländische ordre public nur ausnahmsweise unter der Voraussetzung Berücksichtigung, daß er Teil des von uns berufenen fremden Kollisionsrechts ist 283 , wohingegen der drittstaatliche ordre public grundSätzlich nichtbeachtlich sein so1l284. Soweit teilweise noch weiter innerhalb des Renvoi zwischen der Beachtlichkeit des fremden ordre public im Rahmen der Weiterverweisung und dessen Nichtbeachtlichkeit bei der Rückverweisung differenziert wird 285 , richtet sich der Vorwurf mangelnder Klarheit zwar nur gegen die entsprechenden Mindermeinungen; ähnlich verhält es sich mit der teilweise vertretenen Auffassung, die dem Bedürfnis nach Beachtiichkeit inhalts gleicher fremder Rechtsgrundsätze durch die "überdehnte"
Vgl. oben B.III. "Schwierigkeit der Feststellung". Insb. Neumayer, aaO. 281 Denn niemand wird behaupten, daß der fremde ordre public immer beachtlich ist. Vgl. dazu im Dritten Teil zu den Voraussetzungen und den Grenzen der Beachtlichkeit. 282 Vgl. Meise, aaO: "aller Rechtsordnungen, die überhaupt ins Gewicht fallende Beziehungen zum Sachverhalt haben"; Meise bezweifelt, daß die (fremde) Rechtsordnung, deren ordre public wir u.U. beachten sollen, auf kollisionsrechtlichem Wege zu bestimmen sei. 283 So die h.M. in der Literatur; z.B. Melchior, Grundlagen, S. 371 ff.; Wolff, IPR, S. 46; Neuhaus, aaO, S. 387; Kegel, IPR, S. 336; KellerlSiehr, aaO, S. 547; Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, S. 262; Marti, Vorbehalt, S. 53; Meise, aaO, S. 14 ff.; Spickhoff, ordre public, S. 93. - Insoweit handle es sich um einen dogmatisch-theoretisch und auch rechtspolitisch klar begrenzten Ausnahmefall. - Weitere Nachweise unten C. 111. 284 Ausdrücklich ablehnend z.B.: Raape/Sturm, IPR, S. 220; MK-Sonnenberger, zu Art. 6 EGBGB, Rz. 62 m.w.N. 285 Z.B. Dölle, IPR, S. 86 f.; Niederer, Einführung, S. 301-305. 279
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Erster Teil: Rechtspolitische Diskussion
Anwendung der eigenen ordre-public-Klausel gerecht zu werden hofft. 286 Insgesamt tragen jedoch diese Mindermeinungen, überhaupt die zur Frage der Beachtlichkeit des fremden ordre public bestehende Meinungsvielfalt, dazu bei, daß man ungeachtet der von der Mehrheit vertretenen grundsätzlichen Nichtbeachtlichkeit des fremden ordre public von einer klaren, überschaubaren und berechenbaren Lösung (noch) nicht sprechen kann, insbesondere weil dem offenbar existierenden rechtspolitischen Bedürfnis nach Berücksichtigung von einigen dann auf versteckte Weise, unter Umgehung bestehender Regeln, nachgegeben wird. 287 Umgekehrt muß die Beachtlichkeit des ausländischen ordre public (über den Fall des Renvoi hinaus) nicht zwingend zu einem größeren Verlust der Rechtssicherheit führen, als er durch die bestehende Praxis sowieso schon eingetreten ist: Wenn es gelänge, für die Berücksichtigung auch des drittstaatlichen ordre public einfache und gut handhabbare Kriterien zu finden, dann muß die Rechtsanwendung nicht unbedingt unklarer und komplizierter werden, als sie jetzt bereits ist. 288 Schließlich gilt für die Rechtssicherheit, was bereits über die innere Entscheidungsharmonie gesagt wurde: Die Vorhersehbarkeit und Klarheit der Rechtsanwendung stellt ein relevantes kollisionsrechtliches Interesse dar; das bedeutet
286 Vgl. das Beispiel der "Mehrehe", A.VIII., sowie oben B.I. - Eine Rechtsanwendung, die sich über bestehende Anwendungsvoraussetzungen (z.B. ausreichende Binnenbeziehung für das Eingreifen des eigenen ordre public) mehr oder weniger bewußt hin wegsetzt und dadurch fremden ordre-public-Vorschriften gewissermaßen "unkontrolliert" bzw. "verdeckt" zur Durchsetzung verhilft, wird zunehmend unberechenbar. 287 So erwidern Keller/Siehr, aaO, S. 549 f., auf die Bedenken gegen eine Anwendung drittstaatlicher Eingriffsnormen: Es "wird auch ohne eine Sonderanknüpfung weiterhin versucht werden, ausländischen Eingriffsnormen über die lex causae oder die lex fori Wirkung zu verleihen; eine fehlende Sonderanknüpfung beschert also keinen Rechtsfrieden und die stets ersehnte Rechtssicherheit. " - Die ungerechtfertigte Ausdehnung des eigenen ordre public ist lediglich ein ,,symptom", dessen Bekämpfung allein noch keinen zufriedenstelIenden Zustand herzustellen vermag. 288 In diesem Zusammenhang steht das Bemühen, die Struktur des eigenen ordre public näher zu beleuchten, und seine Anwendung ggf. dem "gewöhnlichen" Anknüpfungsvorgang anzunähern. - Vgl. dazu Zweiter Teil, C. - Ließe sich die Problematik "verallseitigen", wäre u.U. ein Weg gefunden, die Berücksichtigung des fremden ordre public für den Rechtsanwender und die Parteien überschaubar zu gestalten; dazu im Dritten Teil.
B. Rechtspolitische Bedenken gegen die Beachtlichkeit
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jedoch nicht, daß das Bedürfnis der Beteiligten nach Rechtssicherheit "zu Lasten eines gerechten Ergebnisses strapaziert werden darf'.289 Die Einwände, die gegen die Beachtlichkeit des fremden ordre public in rechtspolitischer Hinsicht290 erhoben werden, sind zwar in Teilen berechtigt, reichen jedoch für eine generelle Zurückweisung des fremden ordre public noch nicht aus. Ob dagegen die Gründe, die dafür sprechen, u.U. auch den fremden ordre public zu beachten, die Beachtlichkeit überzeugender begründen (und gegenüber berechtigten Bedenken überwiegen), soll im folgenden untersucht werden.
289 Weitz, Inlandsbeziehung, S. 29, Fn.l; vgl. auch Lüderitz, FS Kegel, S. 38-40: "Auf kollisionsrechtlicher Ebene kreuzen sich Anpassungs- und Kontinuitätsinteresse; bei der erforderlichen Abwägung können materiell-rechtliche Erfolgsinteressen den Ausschlag geben. " 290 Daneben existieren Bedenken im Zusammenhang mit der - angeblich besonderen Struktur des ordre public; vgl. dazu den Zweiten und Dritten Teil.
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Erster Teil: Rechtspolitische Diskussion
C. Rechtspolitische Gründe für die Beachtlichkeit I. Gleichheitsgrundsatz Zwischen der Anwendung des eigenen ordre public und der Nichtanwendung des fremden ordre public besteht - das haben die Beispielsfälle gezeigt - eine gewisse Diskrepanz, die unter dem Gesichtspunkt eines allgemeinen, sich auch auf das Kollisionsrecht erstreckenden Gleichbehandlungsgrundsatzes Bedenken weckt. "Gleichbehandlung gehört zum Wesen des Rechts"291; entsprechende Prinzipien haben auch auf dem Gebiet des Internationalen Privatrechts Gültigkeit. 292 Dabei geht es zwar nicht primär um die Gleichbehandlung oder besser: Gleichwertigkeit von Staaten oder Rechtsordnungen. Im Vordergrund steht vielmehr die gleiche (wie gerechte) Behandlung von Personen.293 Dennoch ist die generelle Gleichwertigkeit der Rechtsordnungen ein Grundaxiom des Internationalen Privatrechts. 294 Erst durch "gleichmäßige"295, d.h. weitgehend allseitige Anknüpfung der den einzelnen betreffenden - in den verschiedenen Rechtsordnungen angesiedelten - Lebenssachverhalte wird die Gleichbehandlung von Privatpersonen ermöglicht; "die Gleichbehandlung der nationalen Rechtsordnungen ist ... ein Mittel zu diesem Zweck. "296 - Danach zu urteilen
Schurig, Interessenjurisprudenz im IPR, S. 241 f. So ausdrücklich Makarov, Gleichbehandlungsgrundsatz, S. 231; Ferid, FS Dölle 11, S. 137. 293 Mit Worten übernommen von Schurig, aaO; ähnlich Anderegg, Eingriffsnormen, S.160 294 Schurig, aaO; eingehend dazu: ders., KolIisionsnorm und Sachrecht, S. SI-57; ebenso Kegel, IPR, S. 194: "Gerechterweise muß er {der Staat} eigenes und fremdes Recht gleich behandeln, d.h. allseitige Kollisionsnormen entwickeln." - Flessner, Interessenjurisprudenz, S. 114, stellt es als "Standpunkt der traditionellen kontinentaleuropäischen Theorie" dar, "die lex fori nur als eine Rechtsordnung unter gleichen anzusehen". 295 Formulierung bei Anderegg, aaO. 296 Mit Worten übernommen von Anderegg, aaO; Schurig, Interessenjurisprudenz im IPR, S. 242, spricht in diesem Zusammenhang von einem "Ordnungsinteresse an Kongruenz der Kollisionsnormen". - Ablehnend insoweit Flessner, aaO, S. 115, für den die These der Gleichberechtigung aller Rechtsordnungen interessenjuristisch "nicht nur untauglich, sondern innerlich widersprüchlich" ist. Seiner Ansicht nach "scheitert die traditionelle kontinentaleuropäische Lehre schon daran, daß es für die Gleichberechtigung der Rechtsordnungen, die sie anstrebt, keinen realen Interessenten gibt." Die Anwendung der lex fori erscheint ihm stattdessen als "natürliche, rationale und selbstverständliche Lösung" (S. 116). 291
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c. Rechtspolitische Gründe für die Beachtlichkeit
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bedarf die abweichende Behandlung des fremden ordre-public-Vorbehalts eines sachlichen Grundes, der z.B. in der wesensmäßigen Andersartigkeit des fremden Vorbehalts oder in einer abweichenden Interessenlage bestehen könnte. Denn grundsätzlich sind vergleichbare Tatbestände gleich zu behandeln; deren ungleiche Behandlung muß begründet sein. 297 Gleicht aber die Situation, in der wir den eigenen ordre public anwenden, maßgeblich derjenigen, in der die Anwendung des fremden ordre public in Betracht kommt, dann bedeutet die Nichtberücksichtigung des fremden Vorbehalts unter Umständen einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz in seiner auch im Kollisionsrecht geltenden Ausprägung, daß Menschen und die sie betreffenden Rechtsfragen gleich zu behandeln sind. Es hat im Schrifttum vereinzelt Ansätze gegeben, den Gleichheitsgedanken über solche allgemeinen Erwägungen hinaus stärker "in kollisionsrechtliches Licht zu rücken,,298: WengIer mißt ihm eine speziell internationalprivatrechtliche Bedeutung zu, indem er aus dem allgemeinen Gleichheitssatz für das Kollisionsrecht die Forderung ableitet, "daß den verschiedenen Rechtsordnungen ... gleiche Anwendungsbereiche zugewiesen werden.',299 Von diesem Standpunkt aus betrachtet erweitert der ordre public durch sein Eingreifen den Anwendungsbereich der lex fori zu Lasten der eigentlich berufenen Rechtsordnung. 300 - WengIer selbst läßt die Frage offen, ob sich daraus Folgerungen für die Beachtlichkeit des fremden ordre public ableiten lassen. Vorstellbar wäre dessen Berücksichtigung, um die Parität wiederherzustellen. 30 I Andere glauben, die kollisionsrechtliche Bedeutung des Gleichheitsgebots in der Gleichbehandlung der beteiligten In- und Ausländer zu erkennen. 302 Der eigene ordre public erscheint hier als eine ungerechtfertigte Bevorzugung der inländischen Beteiligten. 303
Mit Worten übernommen von Schurig, aaO. Z.B. WengIer, Gleichheitsprinzip, S. 323 ff.; Makarov, aaO, S. 231 ff.; Schnitzer, L'egalite, S. 33 ff. 299 WengIer, aaO, S. 323. 300 Vgl. WengIer, aaO, S. 324; s. dazu Epe, Funktion, S. 141. 30\ Epe, aaO, S. 142, hält es in diesem Zusammenhang für möglich, die (durch Eingreifen des eigenen ordre public) verursachte "Durchbrechung der regulären Anknüpfung ihrerseits zu einer allseitigen Kollisionsnorm zu erweitern". 302 Makarov, aaO, S. 231 ff.; aber auch WengIer, aaO; vgl. bereits Savigny, System VIII, S. 27. 303 Makarov, aaO, S. 238 u. 241. 297
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Erster Teil: Rechtspolitische Diskussion
Wenglers Forderung nach Gleichbehandlung der verschiedenen Rechtsordnungen wie auch das Postulat, In- und Ausländer gleichzubehandeln, sind jedoch Beispiele völkerrechtlichen Denkens im IPR, das in der kollisionsrechtlichen Literatur offenbar noch unbewußt "nachwirkt". Es ist nicht die Aufgabe des IPR, kollidierende Rechtsordnungen abzugrenzen 304 bzw. die Gleichbehandlung von In- und Ausländern zu verwirklichen; diese Ziele sind auf völkerrechtlicher Ebene zu verfolgen. 305 Lorenz sieht im Gleichheitssatz, insb. dem Teilaspekt, daß "Ungleiches ungleich, nämlich der Ungleichheit entsprechend" zu beurteilen sei, sogar das rechtliche Fundament des IPR.306 - Der Ungleichheit in Form der Auslandsverknüpfung eines Sachverhalts würde es jedoch genauso "entsprechen", würde man innerhalb der lex fori besondere Sachnormen für Sachverhalte mit Auslandsverknüpfung herausbilden. Damit wäre dem Gleichheitssatz ebenso Genüge getan. Bereits daran zeigt sich, daß der Gleichheitssatz nicht geeignet ist, als Fundament des IPR zu dienen. 307 Im übrigen verbietet der Gleichheitsgrundsatz lediglich, "wesentlich Ungleiches willkürlich gleich zu behandeln:'308 Das bedeutet, daß auch der wegen seiner Auslandsberührung "ungleiche" Sachverhalt dann wie rein inländische (gleich-) behandelt werden kann, wenn dies durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt und damit gerecht ist. 309 - Einer theoretischen Fundierung des IPR mit Hilfe des Gleichheitssatzes ist zudem mit Recht entgegengehalten worden, die Auslandsverknüpfung (als Merkmal der Ungleichheit) sei nicht Eigenschaft des anzuknüpfenden Sachverhalts, sondern der ihn umgebenden Rechtslage, so daß der Unterschied zum reinen Inlandsfall erst in der Rechtswirkung liege. 3IO
304
Vgl. oben B.I!. mit Nachweisen.
305 Zum Verhältnis des IPR zum Völkerrecht vgl. außerdem Kegel, IPR, S. 5-7
m.w.N. 306 Lorenz, Struktur, S. 60 ff.: Kriterium der Ungleichheit ist seiner Ansicht nach die mögliche Auslandsberührung eines Sachverhaltes, die diesen maßgeblich von einem reinen Inlandsfall unterscheide. Dieser Ungleichheit "entsprechend" sei im Falle einer relevanten Auslandsberührung die Rechtsfrage dem betreffenden fremden Recht zu unterstellen. - Ihm folgend Schubert, Int. Verträge, S. 740-742. 307 Mäsch, Rechtswahlfreiheit, S. 63, Fn. 149; vgl. dazu und zu einer überzeugenderen Herleitung des IPR: Schurig, aaO, S. 56. 308 Pieroth/Schlinck, Grundrechte, Rz. 50 I. 309 Schurig, aaO, S. 56; mit ähnlicher Kritik Neuhaus, Abschied von Savigny?, S. 15. 310 So Fiessner, aaO, S. 63 f., der die Theorie von Lorenz außerdem deswegen ablehnt, weil seiner Ansicht nach die objektive Anwendung des Gleichheitssatzes nicht genügend berücksichtigt, ob die beteiligten Privatpersonen überhaupt ein entsprechendes Gleichheitsinteresse haben. - Zu der kollisionsrechtlichen Interessenwertung vgl. auch im folgenden.
C. Rechtspolitische Gründe für die Beachtlichkeit
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Doch auch wenn der Gleichheitssatz entgegen Lorenz (s.o.) nicht geeignet ist, als Fundament des IPR zu dienen, so stellt er doch eine verbindliche rechtspolitische Direktive für die Ausgestaltung des Kollisionsrechts dar; das Kollisionsrecht muß sich inhaltlich an ihm messen lassen. 311 Auch die Überlegungen zur Beachtlichkeit des fremden ordre public müssen sich an dem Grundsatz, Menschen und die sie betreffenden Rechtsfragen gleich, d.h. nach einem einheitlichen Muster zu behandeln, orientieren (s.o.). Das setzt allerdings voraus, daß die betreffenden Fälle auch tatsächlich wesentliche Übereinstimmungen aufweisen.
I. Aspekte der Gleichheit a) Im Mittelpunkt steht daher die Frage, ob sich unter gewissen Voraussetzungen die Situation, in der wir das Eingreifen des eigenen ordre public bejahen, und die Situation, in der sich die Frage nach der Beachtlichkeit eines fremden ordre public stellt, derart gleichen, daß in beiden Fällen "gleich" verfahren werden muß. Zwar trifft zu, daß "jede Rechtsordnung ihre eigenen sittlichen und rechtlichen Grundvorstellungen und ihre eigenen rechtspolitischen Ziele hat, die von denjenigen anderer Rechtsordnungen mehr oder weniger weit abweichen. Der ordre public, der zum Schutz dieser Grundlagen und Ziele einer Rechtsordnung eingreift, muß deshalb notwendigerweise von Rechtsordnung zu Rechtsordnung verschieden sein."312 Trotz der nicht zu bezweifelnden Staatlichkeit der Vorbehaltsklausel gibt es jedoch Fälle, in denen mehrere Staaten (insbesondere innerhalb eines Kulturkreises) die gleiche Auffassung vertreten, dieselbe Werteordnung haben. Das Eingebundensein in eine nationale Rechtsordnung hindert nicht, daß die ordrepublic-Klauseln in gewissen Punkten inhaltlich übereinstimmen. Der Konsens reicht in manchen Fragen sehr weit; gegen die Sklaverei z.B. werden sich die meisten Rechtsordnungen aussprechen. 313 In anderen Punkten, wie z.B. der monogamen Ehe, ist die Übereinstimmung geringer. - Im Beispielsfall der
Mäsch, aaü; vgl. oben. Mit Worten übernommen von Meise, Relativität, S. 11; ausführlicher oben B.1. Vgl. dort auch die Kritik an der - naturrechtlich bzw. völkerrechtlich begründeten Lehre vom "internationalen ordre public". 313 Simitis, Vorbehaltsklausel, S. 273 f., spricht in diesem Zusammenhang von den "unwiderleglichen Zeichen zivilisatorischen Fortschritts". 311
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Erster Teil: Rechtspolitische Diskussion
"Zyprerheirat" ist der französische ordre public inhaltlich völlig identisch mit dem deutschen Vorbehalt der Zivilehe i.S.d. Art.l3 Abs.3 EGBGB.314 Mit der Übereinstimmung der ordre-public-Inhalte wird regelmäßig eine vergleichbare Interessenlage einhergehen. 315 Gemeint sind hier die Interessen, denen das Kollisionsrecht mit seiner Existenz Rechnung trägt; Kegel nennt sie daher "internationalprivatrechtliehe" Interessen. 316 In Abgrenzung zu den materiellrechtlichen Interessen an einer bestimmten sachlichen Lösung handelt es sich um solche Interessen, die - entsprechend der Aufgabe des IPR - an der Anwendung eines bestimmten Rechts bestehen. 317 - In neuerer Zeit ist diese maßgeblich von Kegel geprägte und von ihm in das IPR eingeführte Interessenlehre vor allem von Flessner stark angegriffen worden. 318 Flessner erhebt insbesondere den Vorwurf, abgesehen von einer nicht zu übersehenden Wirkungslosigkeit dieser Art der Interessenjurisprudenz 319 seien Interessen bei Kegel nur vermutete Interessen des Durchschnittsmenschen, und insbesondere seine "Verkehrs- und Ordnungsinteressen" hätten "einen Zug zum Abstrakten, Pauschalen, Irrealen, ja Fiktiven."320 Flessner bejaht zwar die Existenz von eigenen kollisionsrechtlichen Interessen, gerichtet auf die Anwendung einer Rechtsordnung als solcher. 321 Alles in allem sei diese Interessenjurisprudenz
314 Vorstellbar ist natürlich genauso, daß der fragliche ausländische ordre public inhaltlich nicht völlig der inländischen Vorbehaltsklausel entspricht, sondern die betroffenen fremden Rechtsprinzipien lediglich unsere ..Sympathie" haben. (Vgl. z.B. im Fall des ..Französischen Erblassers" die des französischen Rechts im Verhältnis zu unserem Pflichtteilsrecht.) - Zur materiellrechtlichen Entsprechung als mögliche Voraussetzung der Beachtlichkeit s. außerdem im Dritten Teil. 315 Zur Bedeutung des Inhalts der anzuknüpfenden Sachnorm für die kollisions rechtliehe Interessenwertung: Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, S. 98-102: .. Die Sachnorm - genauer: die ihr zugrunde liegenden materiellrechtlichen Interessen - gehören mit zum ..Rohstoff' der kollisionsrechtlichen Interessenwertung." - Ihm folgend Schuler, Int. Sozialrecht, S. 228: .. Dependenz der konkreten kollisionsrechtlichen Interessenbewertung von dem Inhalt des in Frage stehenden Sachrechts ... " - Eingehender hierzu unten 11 ...Gerechtigkeitsgebot". 316 Kegel, IPR, S. 81 ff.; ders., FS Lewald, S. 270 ff. 317 Zu der Besonderheit der kollisionsrechtlichen Interessenwertung auch Anderegg, aaO, S. 2: ..... sind im internationalprivatrechtlichen Zusammenhang nur die auf diese Rechtsfolgen - die Anwendung eines bestimmten nationalen Rechts, unabhängig von seinem Inhalt - bezogenen Interessen relevant." 318 Vgl. seine Abhandlung ..Interessenjurisprudenz im internationalen Privatrecht". 319 Flessner, aaO, S. 44/45. 320 Ders., aaO, S. 45. 321 Ders., aaO, S. 55.
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jedoch "weit von den realen Interessen entfernt", was insbesondere an der ungenügenden Berücksichtigung des (realen) Partei willens zu erkennen sei. ,,322 Das führt ihn zu der These, daß die rein kollisionsrechtlichen Interessen durch sachrechtlieh motivierte Anwendungsinteressen "ergänzt, überlagert oder verdrängt" werden "in dem Maße, wie die Beteiligten sich des unterschiedlichen Inhalts der zur Verfügung stehenden Rechtssätze bewußt werden".323 Bei der von ihm angemahnten "realistischen Interessenanalyse" räumt Flessner der lex fori eine hervorgehobene Sonderstellung ein; denn der Parteiwille führt seiner Ansicht nach im allgemeinen zur Anwendung der lex fori. 324 - In seiner Geringschätzung jeglicher Ordnungsinteressen verkennt Flessner jedoch, daß auch Werte wie Vorhersehbarkeit, Übersichtlichkeit, Kontinuität, Widerspruchsfreiheit, äußerer Entscheidungseinklang, Durchsetzbarkeit usw. ebenfalls bzteressen darstellen, die sich "einem bestimmten Rechtsverkehr" zuordnen lassen und die nicht nur bei der Normbildung (was auch Flessner nicht leugnet), sondern auch bei der konkreten Normanwendung heranzuziehen sind, weil die Betroffenen deren Durchsetzung wünschen. 325 Abgesehen davon kritisiert Schurig zu Recht, daß die von Flessner vorgeschlagene, weitgehende Orientierung an den materiellen Ergebnisinteressen der Beteiligten, soweit diese Interessen überhaupt in eine Richtung gehen, regelmäßig mit der Bindungskraft gesetzlicher Normierungen kollidieren 326 , ohne daß Flessner darlegt, wie diese Bindungskraft überwunden werden kann. Schließlich ist Flessners These derselbe Vorwurf zu machen, den er gegen Kegels Interessenlehre erhebt: Den als abstrakt und präsumtiv abgelehnten, "vermuteten" sog. Ordnungsinteressen setzt er insbesondere auf die Anwendung der lex fori zielende Interessen entgegen, die ebenso nur vermutet sind. 327 Wenn aber di~ Anwendung der lex fori im Regelfall interessengerecht ist, warum bedarf es dann noch eines Kollisionsrechts?328 - Mit Schurig wird man vielmehr davon ausgehen müssen, daß "den positiven Anknüpfungsregeln im allgemeinen ganze Bündel verschiedener Interessen dieser Art" - Verkehrs- und Ordnungsinteressen ebenso wie ParteiinDers., aaO, S. 45/46. Ders., aaO, S. 55/56. 324 Ders., aaO, S. 113 ff. (124). 325 Mit Worten übernommen von Schurig, Interessenjurisprudenz im IPR, S. 236-238, der sich an genannter Stelle eingehend kritisch mit den Thesen Flessners auseinandersetzt. 326 Ders., aaO, S. 239, unter Verweisung auf das allgemeine Beharrungs- und Kontinuitätsinteresse des potentiell beteiligten Rechtsverkehrs. 327 Ders., aaO, S. 240. 328 Ders., aaO. 322 323
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teressen - "zugrundeliegen; bei der Abwägung, die zu der Nonn geführt hat, hat sich das als am stärksten bewertete durchgesetzt. ,,329 Das zyprische Paar330 hat ein materiellrechtliches Interesse an der Gültigkeit der Eheschließung. Dem Umstand, daß das Eherecht vor allem den Interessen der Betroffenen dient, wird das Kollisionsrecht dadurch gerecht, daß im Bereich des Eherechts grundsätzlich "im Parteiinteresse,,331 an das Heimatrecht der Betroffenen angeknüpft wird. 332 Aus kollisionsrechtlicher Sicht wird davon ausgegangen, daß die Parteien regelmäßig ein Interesse daran haben, nach der Rechtsordnung beurteilt zu werden, die ihnen vertraut ist. 333 Das zeigt sich im Beispiel der "Zyprerheirat" daran, daß die Verlobten auch im französischen Ausland die ihnen vertraute Fonn der religiösen Eheschließung wählten. - Dem Parteiinteresse (an der Anwendung des zyprischen Heimatrechts) widerstreitet hier jedoch das Interesse des französischen Staates an der Anwendung seines ordre-public-bewehrten Gebots der Ziviltrauung. 334 Der Grundsatz, im Inland keine rein kirchlichen Eheschließungen zuzulassen, beruht vennutlich auf der vom Staat gewollten Trennung von Staat und Kirche. Die durch eine Beachtung des französischen ordre public vermittelte Anknüpfung an das französische Ortsrecht kann sich hier nicht auf "Verkehrsinteressen" stützen, wonach bei der Wahl der Anknüpfung ein Interesse daran besteht, die Leichtigkeit und Sicherheit des Rechtsverkehrs zu gewährleisten. 335 Zwar wahrt man "als Fonn des
329 Mit Worten übernommen von Schurig, Eingriffsnormen, S. 223; ders., Kollisionsnorm und Sachrecht, S. 96-98, 204 f. - Entgegen der Ansicht Flessners ist außerdem von der Gleichwertigkeit der Rechtsordnungen als Grundaxiom des IPR auszugehen (dazu bereits oben). 330 Vgl. den Beispielsfall "Zyprerheirat" - Ausgangsfall-, A.VII.l. 331 Zum Parteiinteresse erstmalig Beitzke, FS Smend, S. 19; grundsätzlich dazu: Lüderitz, FS Kegel, S. 31 ff. 332 Schurig, aaO, S. 99; Kegel, IPR, S. 83 f. - Im Bereich des Art. I I EGBGB erlangen die materiellrechtlichen Interessen der Betroffenen insoweit besondere Bedeutung, als dort alternativ dasjenige Recht berufen wird, nach dem tatsächlich materielle Formgültigkeit vorliegt. 333 Ob die Anknüpfung an das Heimatrecht tatsächlich immer dem Parteiinteresse entspricht, soll hier nicht diskutiert werden. Kritisch hierzu: Lüderitz, FS Kegel, S. 31 ff. 334 Vgl. Kegel, FS Lewald, S. 279: "Machtinteresse"; ders., IPR, S. 92: Kegel behandelt staatliche Rechtsanwendungsinteressen als eigene, neben den eigentlich internationalprivatrechtlichen Interessen stehende Kategorie. 335 Zum Begriff des Verkehrsinteresses Kegel, aaO, S. 84 f.
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Rechtsgeschäfts am leichtesten die, die am Abschlußort gilt"336, so daß in Formfragen die Anknüpfung an die lex loci actus durchaus interessengerecht ist. Dem Verkehrsinteresse dient es jedoch, wenn mögliche Formeinwände beschränkt, nicht dagegen, wenn sie - wie hier - durch das Ortsrecht erweitert werden. 337 - Für die kollisionsrechtliche Entscheidung kommt es darauf an, welches Interesse wir als das stärkere bewerten und "durchschlagen" lassen. Nach Auffassung der h.M. ist das zum französischen Recht führende staatliche Interesse, das wir in Form des französischen ordre public berücksichtigen könnten, in diesem Fall nicht zu beachten. 338 Gleiche Interessen finden sich aber im Fall des AG Bielefeld ("Deutsche Variante")339 wieder. In diesem Fall kollidiert das Parteiinteresse an der Anwendung des Heimatrechts mit dem deutschen Interesse an der Durchführung der Ziviltrauung. - Bei Identität der internationalprivatrechtlichen Interessen müßte jedoch auch die Interessenbewertung, das Abwägungsergebnis identisch ausfallen, wenn zudem - wie hier - die Vorbehaltsklauseln inhaltsgleich sind! Wenn der Forumrichter zugunsten des deutschen Ortsrechts das staatliche Interesse "durchschlagen" läßt, ist zumindest zu überlegen, ob sich bei "gleich" gelagertem Fall das Staatsinteresse nicht auch dann als das stärkste Interesse durchsetzen muß, wenn dies bedeutet, daß dadurch der fremde (französische) ordre public zur Anwendung kommt. Zwar liegt in der Regel keinem Staat unmittelbar daran, das Wohl anderer Staaten zu fördern. 340 Andererseits gebietet ein gewisses "Interesse der internationalen Ordnung", der Wunsch nach friedlicher Koexistenz und regen Handelsbeziehungen mit anderen Staaten, unter Umständen auch die Anerkennung ausländischer Staatseingriffe in private Rechtsverhältnisse. 341 Im Fall der "Zyprerheirat" ist außerdem die räumliche Beziehung des Sachverhalts zur betreffenden Rechtsordnung jeweils gleich intensiv. Die Tatsache, 336 Schurig, aaO. - Vgl. die alternative Anknüpfung an das Ortsrecht in Art. 11 EGBGB. Auf diese Weise wird i.d.R. mittelbar auch das Parteiinteresse an der Gültigkeit des Rechtsgeschäfts geschützt. Dazu Kegel, aaO. 337 Kegel, aaO. 338 Vgl. oben A.VII. m.N. 339 Zum Sachverhalt s. oben A. VII.2. 340 Mit Worten übernommen von Kegel, aaO, S. 93. 341 Ders., aaO.; vgl. auch Anderegg, Eingriffsnonnen, S. 103, wonach das eigene Interesse des Forumstaates an der Anwendung ausländischer Eingriffsnonnen "außenpolitischer, innenpolitischer oder allgemeiner Natur (z.B. Übereinstimmung konkreter Ziele)" sein könne. 6 BrDning
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daß nur relativ, also für den Einzelfall, festgestellt werden kann, ob eine hinreichend starke Inlandsbeziehung vorliegt342 , mag zwar eine Typisierung des Inlandskontakts im Sinne eines Anknüpfungsmoments erschweren343 ; wenn es sich aber angesichts der inhaltlichen Übereinstimmung der betroffenen Rechtsgrundsätze und identischer Interessen wie bei der "Zyprerheirat" um den "gleichen" Fall handelt, müssen auch die Anforderungen an die Binnenbeziehung des Sachverhaltes zur jeweiligen Rechtsordnung gleich festgesetzt werden. D.h. die Tatsache, daß der verletzte Rechtsgrundsatz der lex loci actus bzw. celebrationis angehört, reicht entweder für das Eingreifen sowohl des deutschen als auch des französischen ordre public oder aber genügt als Inlands bezug in beiden Fällen nicht. Eine unterschiedliche Einschätzung, je nachdem, ob es sich um die eigene oder die fremde Vorbehaltsklausel handelt, stellt nach hier vertretener Auffassung eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung dar. 344 Fazit: Die Situation bei Verstoß gegen den eigenen kann derjenigen bei Verstoß gegen den fremden ordre public derart "gleichen", daß wir in solchem Fall "aus Gründen der Gleichbehandlung gleicher internationalprivatrechtlicher Interessen" (zum Zweck der Gleichbehandlung der betroffenen Personen) auch die ordre-public-Grundsätze des fremden Staates berücksichtigen sollten. 345 Kritisch gegenüber solchem "Streben nach einer Solidarität gleichgesinnter Staaten gegenüber Verletzungen ihrer öffentlichen Ordnungen" zeigt sich jedoch Meise. 346 Soweit er sich allerdings mit dem Vorwurf, durch diese Solidarisierung mit dem fremden Recht werde die nonnale internationalprivatrechtliche Interessengemeinschaft gestört, nicht nur gegen die regelwidrige Ausdehnung des eigenen ordre public ausspricht 347 , sondern sich gegen die Beachtlichkeit des fremden ordre public stellt, verkennt er folgendes: Dem inländischen Richter sollte es möglich sein, diese "Interessengemeinschaft" nicht nur zugunsten der eigenen Rechtsordnung, sondern auch zugunsten eines fremden
342 MK-Sonnenberger, zu Art. 6 EGBGB, Rz. 73; ausführlicher im Dritten Teil, B.II.3. 343 Dazu eingehender im Zweiten Teil, C. 344 A.A. insbesondere Flessner, aaO, S. 49 ff. und S. 113 ff., der es aufgrund bereits dargestellter Erwägungen ausdrücklich ablehnt, "daß bei internationalen Fällen das ausländische Recht die gleiche Chance der Anwendung wie das inländische Recht, ... haben müsse." 345 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, S. 262. 346 Meise, Relativität, S. 36. 347 Vgl. oben B.I.
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Rechts zu "stören", soweit die kollisionsrechtlichen Interessen dies verlangen. 348 Darin liegt nicht zwingend eine "Steigerung" des eigenen ordre-publicVorbehalts. Im Gegenteil könnte dies möglicherweise zu mehr Selbstbeschränkung in der Anwendung des eigenen ordre public führen. 349 b) Gleich ist jedoch unter Umständen nicht nur die Interessenlage bei Verletzung des eigenen oder Verletzung des fremden inhaltsgleichen ordre public; Parallelen bestehen auch zwischen den sog. fremden "Eingriffsnormen ,,350 und dem ausländischen ordre public 351 : "Eingriffsnormen" und ordre public verbindet eine starke inhaltliche Ähnlichkeit352 der zugrundeliegenden materiellen Rechtssätze. In beiden Fällen hat man es oft mit Normen in einer "Grauzone" zwischen privatem und öffentlichem Recht 353 zu tun, die als "zwingend"354 bzw. "unveräußerlich" oder "unantastbar"355 bezeichnet werden und häufig (zumindest auch) dem öffentlichen Interesse, insb. wirtschafts- oder allgemeinpolitischen Zwecken, dienen. 356 Der (vergleichbare) besondere materiellrechtliche Gehalt der Eingriffsnormen bzw. der dem ordre public zuzurechnenden Rechtsgrundsätze impliziert besondere kollisionsrechtliche Interessen 357 , die im Spiel sind, wenn es um die Anwendung dieser Normen geht. 358 Ungeachtet der unter Umständen vergleichbaren Interessenlage wird für die Eingriffsnormen vertreten, sie auch gesondert, d.h. außerhalb des durch die "herkömmlichen" Kollisionsnormen beruSo auch Bucher, Anknüpfungsgerechtigkeit, S. 226 f. Dazu unten 2. 350 Zum Begriff der ,.Eingriffsnorm" ausführlich im Zweiten Teil, B. 35\ Gegen Vergleichbarkeit aber Meise, Relativität, S. 49; Mann. FS Beitzke. S. 609; a.A. Schurig. aaO. S. 262; Siehr, Wirtschaftskollisionsrecht, S. 93; Keller/Siehr, IPR, S. 547. 352 Dazu ausführlicher und zur Frage struktureller Gemeinsamkeiten vgJ. Zweiter Teil. D. 353 Für die Eingriffsnormen: Schulte. Int. Vertragsrecht, S. 17. 354 So für die Eingriffsnormen z.B. Schulte, Int. Vertragsrecht, S. 15; Radtke, Eingriffsrecht, S. 327 f.; Schulze. Öff.Recht. S. 103 ff.; Schubert. Int. Verträge, S. 731. - Zu den Schwierigkeiten einer Positivdefinition der Eingriffsnorm vgl. im Zweiten Teil. 355 Für den ordre public z.B. Kegel, IPR, S. 324 u. 333. 356 Vgl. im einzelnen unten, Zweiter Teil, C., mit den entsprechenden Nachweisen. 357 Kegel, aaO, S. 92 ff. faßt die mit den Eingriffsnormen verbundenen kollisionsrechtlichen Interessen unter den Begriff der "Staatsinteressen". - Vgl. die Darstellung der BeispielsfälJe im Zweiten Teil. A. 358 VgJ. oben zur Dependenz von kollisionsrechtlichen und materiellrechtlichen Interessen. 348
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fenen Rechts, heranzuziehen 359 , wohingegen der drittstaatliche ordre public von den meisten unberücksichtigt bleibt. 360 - Auch in diesem Zusammenhang verlangt der allgemeine Gleichheitssatz aber die Gleichbehandlung gleicher internationalprivatrechtlicher Interessen. c) Unter Gleichheitsgesichtspunkten muß es schließlich zweifelhaft erscheinen, daß manche bei der Frage der Beachtlichkeit des fremden ordre public zwischen dem ordre public der rückverweisenden Rechtsordnung und dem ordre public des weiterverweisenden Rechts differenzieren. Die Rechtsprechung und die meisten Stimmen im Schrifttum wollen - wie bereits gesagt 361 - einen fremden ordre public - mit der Schranke des Art. 6 EGBGB - dann ausnahmsweise berücksichtigen, "wenn das nach deutschem IPR im Falle einer Gesamtverweisung maßgebende ausländische Kollisionsrecht zunächst zurück- oder weiterverweist, dann jedoch das berufene Recht mit Rücksicht auf seinen ordre public nicht anwendet". Einige Autoren lassen diese Ausnahme zugunsten des fremden ordre public jedoch nur für den Fall der Weiterverweisung zu. 362 Der fremde ordre public soll sich dagegen nicht gegen die Verweisung auf das deutsche Recht wenden können. Diese Differenzierung entbehrt jedoch einer überzeugenden Begründung. Die Tatsache allein, daß dem inländischen Richter zugemutet wird, um ausländischer Gerechtigkeitsvorstellungen willen die Rückverweisung nicht anzunehmen und damit die Anwendung der eigenen Rechtsordnung abzulehnen, ist kein hinreichender Grund für eine grundsätzlich unterschiedliche Wertung. 363 Rück- und Weiterverweisung erfahren ihre innere Rechtfertigung aus dem Prinzip des internationalen Entscheidungseinklangs; das Interesse an äußerer Entscheidungsharmonie besteht in bei den Fällen gleichermaßen. 364 Unser 359 Schurig, aaO.: So insbesondere die Sonderanknüpfungslehren; zur statuts fremden Anwendung von drittstaatlichen ..Eingriffsnormen" vgl. im Zweiten Teil, B., mit entsprechenden Nachweisen. 360 Ausdrücklich ablehnend: Raape/Sturm, IPR, S. 220; Melchior, Grundlagen, S. 371 f.; Lewald, IPR, S. 34; Frankenstein, IPR I, S. 228; MK-Sonnenberger, zu Art. 6 EGBGB, Rz. 62 m.w.N. 361 Vgl. die Nachweise in der Einleitung, Fn. 8. 362 Vgl. den Fall der .. Russischen Jüdin aus Odessa"; für Beachtlichkeit nur im Rahmen der Weiterverweisung: Ferid, IPR, Rz. 3-40; Dölle, IPR, S. 86 f.; Niederer, Einführung, S. 301-305. 363 Dahinter verbirgt sich vielmehr ein überzogenes .. Heimwärtsstreben" der Forumrichter. - Zur gegenteiligen Auffassung insb. K. Müller, Dt. Scheidungsurteil, S. 66 ff.; dazu eingehender noch im Dritten Teil, B.lV. 364 S. ausführlich und mit Nachweisen unten C.III.
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Kollisionsrecht beruft gern. Art. 4 Abs.l Satzl EGBGB (n.F.) grundsätzlich ausländisches IPR statt unmittelbar das ausländische Sachrecht, und sowohl im Fall der Rück- als auch der Weiterverweisung ist die fremde Vorbehaltsklausel Bestandteil des von uns berufenen Kollisionsrechts, was viele für das ausschlaggebende Argument für eine ausnahmsweise Beachtlichkeit des fremden ordre public halten. 365 Eine Differenzierung hinsichtlich der Beachtlichkeit, je nachdem, ob der fremde ordre public Teil des rück- oder des weiterverweisenden Rechts ist, scheint angesichts dieser Übereinstimmung nicht ohne Verstoß gegen die dem IPR zugrundeliegende Gleichwertigkeit der Rechtsordnungen und die darauf gründende Gleichbehandlung der potentiell Beteiligten möglich. 366 - Vor allem aber verträgt sich solche Unterscheidung nicht mit der Konzeption des Renvoi. 367 "Eine Rück- oder Weiterverweisung ist abzulehnen, wenn der fremde Richter sie ausnahmsweise mit Rücksicht auf den ordre public seines Staates unterbindet. Dabei ist gleichgültig, ob er seinen ordre public gegenüber dem Recht eines dritten Staates oder gegenüber deutschem Recht einsetzt."368 d) Es mag den Fall geben, daß ein ausländisches Urteil, das unter Berücksichtigung eines fremden ordre public erging, in Ansehung des § 328 Abs.l Nr.4 ZPO von uns anerkannt wird, obwohl wir denselben fremden ordre public bei eigener kollisionsrechtlicher Entscheidung wegen Verstoßes gegen unsere eigene Vorbehaltsklausel unbeachtet lassen würden. Hier ist der Gleichheitssatz durch die Nichtberücksichtigung im zweiten Fall nicht verletzt; die beiden Situationen sind nicht gleich: Zwar besteht in der Durchsetzung des eigenen ordre public kein großer Unterschied zwischen internationalprivatrechtlicher Betrachtungsweise (Art. 6 EGBGB n.F.) und internationalprozessualer Sichtweise (§ 328 Abs.l Nr.4 ZPO).369 "Es ist Uedoch) nicht das gleiche, ob der deutsche Richter selbst ein ordnungswidriges ausländisches Gesetz anwendet, oder ob er die Anwendung desselben durch den ausländischen Richter hinnimmt. In dem ersteren Falle wird eine gewisse Duld365 Vgl. Nachweise oben, B.V. - Zum systematischen Standort des ordre public s. eingehend im Zweiten Teil, C. 366 Zu den anderlautenden Thesen F1essners und deren kritischer Bewertung vgl. oben. 367 Meise, Relativität, S. 26 f.; weitere Nachweise unten c.m. - Zur systematischstrukturellen Notwendigkeit, den fremden ordre public in Rück- und Weiterverweisung gleich zu behandeln, s. schließlich im Dritten Teil, A.1. 368 Soergel-Kegel (11. Aufl.), zu Art. 27 EGBGB a.F., Rz. 38. 369 Basedow, Anerkennung, S. 48 und 50 m.w.N.
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samkeit oft genug weniger anstößig sein als in dem letzteren. Dazu kommt die Achtung vor der res judicata, die häufig schwerer wiegen wird als das Interesse an der Durchsetzung deutscher Rechts- und Sittlichkeitsanschauungen. ,mo Demzufolge kann nicht aus der Anerkennungspraxis im Rahmen des § 328 Abs.l Nr.4 ZPO auf die Beachtlichkeit des fremden ordre public bei kollisionsrechtlicher Beurteilung geschlossen weraen. Fraglich ist die Verletzung des Gleichheitssatzes möglicherweise aber unter dem Aspekt, daß wir zwar einem ausländischen Urteil regelmäßig die Anerkennung versagen, wenn die Rechtskrafterstreckung ins Inland unsere eigenen wesentlichen Rechtsgrundsätze und sittlichen Wertungen verletzen würde - § 328 Abs.l Nr.4 ZP037 I - , jedoch dem betreffenden ausländischen Urteil die Anerkennung nicht versagen, wenn der Staat, dessen Sachrecht in diesem Fall maßgibt, das drittstaatliche Urteil wegen Verstoßes gegen seinen ordre public nicht anerkennt. 372 - Auch in diesem Fall ist zu erwägen, ob die kollisionsrechtlichen Interessen vergleichbar sind und daher auch gleich behandelt werden sollten. 373 2. Gleichheit durch Selbstbeschränkung
Für die Ungleichbehandlung von Personen gelten im Kollisionsrecht die "Sanktionen", wie sie im allgemeinen Verfassungsrecht vorgesehen sind. In einem Lehrbuch zum deutschen Verfassungsrecht374 heißt es dazu, daß "die Ungleich behandlung zweier Gruppen verschieden behoben werden kann:" Danach kann "eine Gruppe ebenso wie die andere, die andere ebenso wie die eine, und beide auf neue dritte Weise behandelt werden" ... - Was dort an sich nur für die ungleiche Behandlung von Personen gemeint ist, könnte man wegen der Bedeutung der Gleichwertigkeit der Rechtsordnungen für die Gleichbehandlung von Individuen in gewisser Weise auch für die Ungleichbehandlung von Staaten bzw. Rechtsordnungen erwägen:
Raape in: KleinrahmIPartikel, Anerkennung, S. 123. Vgl. den Fall der "Verstoßung einer Deutschen", A.XIII. 372 Für den Fall der "Anerkennung" einer rechtsgeschäftlichen Scheidung vgl. oben A.XIV. "Verstoßung einer Französin". 373 Diese spezielle Anerkennungsproblematik wird in der nachfolgenden Darstellung nicht eingehender behandelt; die entsprechenden Beispielsfalle in A. dienten lediglich der Illustration und Einführung in die Problematik des fremden ordre public. 374 PierothlSchlinck, Grundrechte, Rz. 549. 370 371
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Das bedeutet, daß u.U. die Gleichbehandlung des fremden ordre public, wo sie aufgrund vergleichbarer kollisionsrechtlicher Interessen rechtspolitisch wünschenswert ist, auch dadurch verwirklicht werden könnte, daß man sich im Hinblick auf die eigene ordre-public-Klausel mehr Selbstbeschränkung auferlegte. Im Fall der "Zyprerheirat" z.B. führt Wolff375 den Widerspruch, daß eine in Deutschland nur kirchlich geschlossene Ehe nach Art.l3 Abs.3 EGBGB nichtig wäre, während sie seiner Ansicht nach in der Konstellation des Beispielfalles wegen der Nichtbeachtlichkeit des fremden ordre public wirksam ist, darauf zurück, daß die obligatorische Zivilehe zu Unrecht zu einem Institut des ordre public gemacht worden sei: " ... der Fehler liegt nicht in der räumlichen Beschränkung des ordre public, sondern in dem engstirnigen Fanatismus, der in Deutschland und Frankreich die obligatorische Zivilehe zu einem Institut des ordre public gemacht hat."376 In ähnliche Richtung geht die Anmerkung Schurigs im Zusammenhang mit der Empfehlung, bei identischer Interessenlage auch einen fremden ordre public zu beachten. 377 Danach könnte "der Gedanke, die eigenen Wert grundsätze nur in solchen Fällen 'durchschlagen' zu lassen, in denen man dasselbe prinzipiell auch anderen Staaten zubilligen würde, ( ... ) als warnendes Korrigens gegenüber möglichen Neigungen zu voreiligem 'Heimwärtsstreben' dienen." In den Fällen aber, in denen das Eingreifen der eigenen Vorbehaltsklausel in vergleichbarer Situation gerechtfertigt wäre, weil es sich um einen unantastbaren Rechtsgrundsatz handelt, sollte die Gleichbehandlung dadurch realisiert werden, daß - bei inhaltlicher Übereinstimmung und gleichen kollisionsrechtlichen Interessen - der fremde wie der eigene ordre public Anwendung findet.
11. Gerechtigkeitsgebot Die Forderung nach Gerechtigkeit wohnt jeder Rechtsanwendung inne; sie ist oberstes Prinzip des Rechts. Mit der "internationalprivatrechtlichen Gerechtigkeit"378 begegnet man im Kollisionsrecht einem besonderen, der Aufgabe des IPR angepaßten Gerechtigkeitsbegriff. pie Vorstellung verschiedener Gerech-
Wolff, IPR, S. 46; vgl. oben A. VI!.l. Ders., aaO; ähnlich Meise, aaO, S. 40. 377 Schurig, aaO, S. 262; ähnlich Meise, aaO, S. 44. 378 Zum Begriff der "internationalprivatrechtlichen Gerechtigkeit" insb. Kegel, FS Lewald, S. 270 ff.; ders., IPR, S. 80 ff.; Zweigert. Dritte Schule. S. 49 ff.; Schurig, aaO. 375
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tigkeitsideen für die Normen des IPR einerseits und das Sachrecht andererseits wird allerdings sehr angegriffen. 379 Den Kritikern einer spezifisch kollisionsrechtlichen Gerechtigkeitsidee ist sicher zuzugeben, daß Gerechtigkeit im Ergebnis natürlich unteilbar ist, auch für internationale Sachverhalte. 380 Als undifferenzierte Gesamtidee ermöglicht sie jedoch in einem speziellen Rechtsgebiet wie dem IPR für die spezifisch kollisionsrechtliche Fragestellung nicht die differenzierte Rechtsfindung, die unserem Rechtsempfinden entspricht. 381 Vielmehr muß die Idee der Gerechtigkeit auf eben diese Fragestellung bezogen werden. Die Aufdeckung eines spezifischen internationalprivatrechtlichen Gerechtigkeitsaspektes steht deshalb nicht im Gegensatz zu der Frage nach der materiellen Gerechtigkeit, sondern entlastet sie. 382 Internationalprivatrechtliche Gerechtigkeit verwirklicht sich nicht in der Billigkeit der Einzelentscheidung, sondern - kollisionsrechtsspezifisch - in der Wahl einer "gerechten" Anknüpfung. Anzuwenden ist nicht das sachlich, sondern das örtlich beste Recht. 383 - Damit ist klar, ..daß ein Anwendungsmonopol des deutschen Rechts in DeutSchland mit der (internationalprivatrechtlichen) Gerechtigkeit nicht vereinbar" wäre. 384 Die Anknüpfungsgerechtigkeit verlangt vielmehr in Fällen mit Auslandsbeziehung unter Umständen die Anwendung ausländischen Rechts. Wann aber die Anknüpfung des eigenen, wann die eines fremden Rechts "gerecht" ist, bestimmt sich nach den einschlägigen Interessen und deren Bewertung. 385 In Abgrenzung zu den materiellen Interessen an einer bestimmten sachlichen Lösung und entsprechend der Aufgabe des IPR 379 Stellvertretend Bucher, Anknüpfungsgerechtigkeit, S. 27 ff. m.w.N., u.a. mit dem Hinweis auf die zunehmende Bereitschaft und Notwendigkeit, den Einfluß materiellrechtlicher Gesichtspunkte im IPR zur Kenntnis zu nehmen. - In dieser Richtung in jüngerer Zeit insbesondere Flessner, Interessenjurisprudenz. 380 Kegel, IPR, S. 90; ders., FS Lewald, S. 270: "Natürlich gibt es letzten Endes nur eine Gerechtigkeit." Ebenso Schurig, aaO; Zweigert, aaO; Bucher, aaO. 381 Coester, ZVgIRWiss 82, S.8. 382 Ders., aaO; ebenso Mäsch, Rechtswahlfreiheit, S. 65 ff.; ähnlich (aber kritisch gegenüber einer klaren Trennung zwischen materiellrechtlicher und kollisionsrechtlicher Gerechtigkeit): Bucher, aaO; kritisch gegenüber dieser Trennung auch Lorenz, Struktur, S.62. 383 Kegel, IPR, S. 80 f.; ders., FS Lewald, S. 270; Beitzke, FS Smend, S. 16; Staudinger-Raape, Einleitung zum EGBGB, A.I.; Gutzwiller, IPR, S. 1538, spricht von "kosmopolitischer" Gerechtigkeit. - Kritisch demgegenüber - wie gesagt - Bucher, aaO, der die Unterscheidung für "widersprüchlich" und überflüssig hält. 384 Raape, aaO. 385 Grundlegend hierzu Kegel, IPR, S. 80 ff.; ders., FS Lewald, S. 259 ff.; Schurig, aaO.
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sind "einschlägige" Interessen solche an der Anwendung eines bestimmten Rechts. 386 Geht man davon aus, daß ein fremder ordre public aus der Perspektive des Forumrichters nur unter den Voraussetzungen eingreifen kann, die wir für die Anwendung unseres eigenen ordre public fordern würden - d.h. einerseits eine hinreichend starke Binnenbeziehung sowie andererseits den Verstoß gegen Rechtsgrundsätze von fundamentaler Bedeutung387 -, stellt sich die Frage, ob nicht u.U. die Berücksichtigung des fremden ordre public wie die des eigenen ein Gebot der internationalprivatrechtlichen Gerechtigkeit ist. Denn gerade wegen der starken Binnenbeziehung des Sachverhalts zu der jeweiligen Rechtsordnung und angesichts der als "unverzichtbar" eingestuften Rechtssätze werden beachtenswerte kollisionsrechtliche Interessen für deren inhaltliche Berücksichtigung sprechen. 388 Dabei handelt es sich bei den Interessen, "die zur Heranziehung der Wertprinzipien führen", um "dieselben, die auch sonst zu berücksichtigen sind."389 Bei der Berücksichtigung der Vorbehaltsklausel sind "letztlich keine anderen Gesichtspunkte von Bedeutung als auch bei der normalen Anknüpfung."390 Wie die Beispielsfälle gezeigt haben, kann die Beachtlichkeit des fremden ordre public der Befriedigung verschiedenster Interessen dienen: Im Falle der "Zyprerheirat" {Ausgangsfall)39I spricht ein staatliches Interesse für die Anwendung des französischen Rechts; in der "Abwandlung" würde die Berücksichtigung des belgischen ordre public zur Formgültigkeit der Eheschließung führen und dem Günstigkeitsprinzip ("favor negotii") - und so-
386 Schurig, aaO, S. 59; Kegel, aaO; kritisch dagegen - wie bereits dargestellt - Fiessner, aaO. - Zum Begriff des internationalprivatrechtlichen Interesses vgl. bereits oben I. "Gleichheitssatz". Dort wurde auch bereits auf die Dependenz der konkreten kollisionsrechtlichen Interessenbewertung von dem Inhalt des in Frage stehenden Sachrechts hingewiesen - s. dort zu den Nachweisen -; auf diese Weise harmonisieren materiellrechtliche und internationalprivatrechtliche Gerechtigkeit. 387 Zur Möglichkeit der spiegelbildlichen Übertragung unserer ordre-public-Anwendungskriterien auf den fremden ordre public vgl. im Dritten Teil, A.II. 388 Schurig, aaO, S. 256. 389 Mit Worten übernommen von Schurig, aaO, S. 256 f., bezogen auf den eigenen ordre public. - Für den ausländischen ordre public: Bucher, Anknüpfungsgerechtigkeit, S. 226 f., Fn. 820: seiner Ansicht nach findet auch in der Frage der Beachtlichkeit des fremden ordre public eine "Abwägung von Anknüpfungen" statt. 390 Epe, Funktion, S. 157: "... also ... Parteiinteressen, Vertrauensschutz, Verkehrsinteressen, ... ". 391 Zum Sachverhalt oben A.VII.l.
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mit mittelbar dem Parteiinteresse - entsprechen 392 ; in der "Argentinierscheidung"393 erteilte das OLG Karlsruhe mit der Ablehnung, den argentinischen ordre public zu berücksichtigen, gleichzeitig dem Interesse am äußeren bzw. internationalen Entscheidungseinklang 394 eine Absage ... usw. Auf den ersten Blick hat es allerdings vielmehr den Anschein, als "störe" die Existenz der ordre-public-Klausel - der eigenen wie der fremden - die gerechte Anknüpfung, wie sie mit Hilfe der allgemeinen Kollisionsnormen bestimmt wird. 395 Bei Eingreifen des eigenen ordre public wird, um nicht infolge der Anwendung fremden Rechts die wesentlichen Grundsätze der eigenen Rechtsordnung zu verletzen, der Sachverhalt trotz relevanter Auslandsberührung letztlich nicht dem an sich berufenen ausländischen Recht, sondern dem eigenen unterstellt. 396 Man sieht darin die Durchbrechung der Anknüpfungsgerechtigkeit zugunsten der Billigkeit der Einzelentscheidung. 397 Es scheint, als ob der spezifische internationalprivatrechtliche Gerechtigkeitsaspekt bei Eingreifen des ordre public ausnahmsweise hinter der materiellen Gerechtigkeit zurücktritt. Tatsächlich verwirklicht sich jedoch im Eingreifen der Vorbehaltsklausel zumindest auch - ein Aspekt der Anknüpfungsgerechtigkeit: 398 Übereinstimmend wird das Eingreifen des eigenen ordre public von einem mehr oder weniger starken Inlandsbezug abhängig gemacht. 399 "Die notwendige Berücksichtigung des Inlandsbezuges legitimiert sich (aber) aus der Tatsache, daß es auch beim ordre public um das 'angemessene', das 'richtige' und nicht das 'bessere' Recht geht."400 Wenn der Lebenssachverhalt trotz Vorliegens dieser BinnenbeDazu ausführlich Neuhaus, Grundbegriffe, S. 174 ff. Zum Sachverhalt s. oben A.I. 394 Zum äußeren Entscheidungseinklang s. eingehender unten III. 395 Vgl. Frankenstein, IPR I, S. 180 f., der den ordre public als "Störenfried", als das "dem Kollisionsrecht feindliche Prinzip" bezeichnet; Kegel. IPR, S. 336, spricht von der "Überwindung internationalprivatrechtlicher Gerechtigkeit"; ders., FS Lewald, S. 277 f. 396 Was genau an die Stelle des ausgeschlossenen fremden Rechtssatzes tritt, ist umstritten, s. unten Zweiter Teil, B., zur Struktur des ordre public. 397 Kegel, IPR, S. 90 ff. 398 Schurig, aaü, S. 252, vertritt die Auffassung, auch die Rechtssätze des ordre public müßten kollisionsrechtlich berufen sein; es handle sich auch hier um eine Frage der "internationalprivatrechtlichen Gerechtigkeit"; ebenso Epe, aaü, S. 154 ff.; ähnlich Bueher, aaü, S. 227, Fn.820. Vgl. auch Vischer, ordre public, S. 324 ff.: "Abwägung der einheimischen gegenüber den ausländischen Rechtsanwendungsinteressen". 399 Eingehender dazu mit Nachweisen im Zweiten Teil, c.n.3. 400 Epe, aaü. 392
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ziehung wegen der sonstigen Auslandsberührung von den allgemeinen Kollisionsnormen (zunächst) einem fremden Recht unterstellt wird, so verstößt diese Anknüpfung möglicherweise insoweit gegen das Gebot der international privatrechtlichen Gerechtigkeit, als sie nicht in jeder Hinsicht die maßgebliche räumliche Verknüpfung des Sachverhalts widerspiegelt. Möglicherweise sind wegen des besonderen ("unverzichtbaren") Charakters der ordre-public-Normen nämlich bereits solche Verknüpfungen als maßgeblich zu berücksichtigen, die ansonsten (im Rahmen der "gewöhnlichen" Anknüpfung durch die allgemeinen Kollisionsnormen) nicht den Ausschlag geben konnten. 401 Mit Eingreifen der Vorbehalts klausel setzt sich diese (an sich zu schwache) Verknüpfung ausnahmsweise durch; der Sachverhalt wird nunmehr gerechterweise wie diejenigen Fälle behandelt, die keine Auslandsberührung (reine Inlandsfälle) oder aber nur einen schwachen Auslandsbezug aufweisen, der als Anknüpfungsmoment einer allgemeinen Kollisionsnorm nicht ausreicht. - So gesehen führt das Eingreifen der Vorbehaltsklausel überhaupt erst zu einer gerechten Anknüpfung!402 Wenn aber im Einzelfall eine Korrektur der Kollisionsnormen dahingehend erforderlich ist, den Lebenssachverhalt statt dem eigentlich berufenen fremden Recht dem eigenen Sachrecht zu unterstellen, so läßt sich auch der Fall denken, daß angesichts einer Beziehung des Sachverhalts zu mehreren Rechtsordnungen die Anknüpfung durch unser Kollisionsrecht an das fremde Recht A einer Korrektur zugunsten des auch und hier stärker berührten Rechtes B, dessen elementare Grundsätze bedroht sind, bedarf. 403 Unsere eigene Vorbehaltsklausel ist in diesem Fall nicht anwendbar; es fehlt an der notwendigen Inlandsbeziehung. Die Korrektur kann nur mit Hilfe der fremden ordre-public-Klausel
Schurig, aaO, S. 256. Ders., aaO, S. 257: "Überhaupt können hier bei der eigentlichen kollisionsrechtlichen Entscheidung zu kurz gekommene Interessen wieder zum Vorschein kommen." Ähnlich für die Berücksichtigung des fremden ordre public im Rahmen des Renvoi: Meise, aaO, S. 33: " ... macht das Streben nach der internationalprivatrechtlichen Gerechtigkeit den Richter bei Zweifeln über den ausländischen Ordre public geneigt, sein Eingreifen zu bejahen, und zwar in dem Sinne, daß er die Weiter- oder Rückverweisung unterbindet, so daß es zur Anwendung des materiellen Rechts des Renvoi-Staates kommt: Dorthin hat das Kollisionsrecht des Forumstaates verwiesen, von dem der Richter annehmen kann, daß es der internationalprivatrechtlichen Gerechtigkeit, so wie das Forum sie versteht, zum Erfolg verhelfen will." 403 Ausdrücklich erwogen von Bucher, aaO, S. 226 f. 401
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des Staates B erfolgen. 404 Eine Beachtung der fremden Vorbehaltsklausel wäre in diesem Fall unter dem Gesichtspunkt der internationalprivatrechtlichen Gerechtigkeit rechtspolitisch wünschenswert, ohne daß es hier - anders als im Hinblick auf den Gleichheitssatz - maßgeblich darauf ankäme, daß der drittstaatliche ordre public sich mit den eigenen ordre-public-Grundsätzen inhaltlich deckt. 405 Die Schwierigkeit besteht allerdings darin, herauszufinden, wann danach die Beachtung des fremden ordre public geboten ist; denn es liegt auf der Hand, daß wir dies nicht immer tun können. Für eine Lösung dieser Frage wird man den Einzelfall eingehender untersuchen müssen. Möglicherweise gibt es darüber hinaus kollisionsrechtliche Interessen, die gewissermaßen "typischerweise" für die Beachtlichkeit des fremden ordre public sprechen und dadurch eine Art Verallgemeinerung des Problems erlauben. Unter diesem Aspekt werden im folgenden die - neuerdings von Flessner stark angegriffenen 406 sog. kollisionsrechtlichen "Ordnungsinteressen"407 wie z.B. das Interesse am äußeren Entscheidungseinklang oder das Interesse an der Durchsetzbarkeit der Entscheidung etc. untersucht.
IH. Äußerer bzw. internationaler Entscheidungseinklang Die Nichtberücksichtigung des fremden ordre public führt unter Umständen zu sog. "hinkenden Rechtsverhältnissen". So bezeichnet wird der Effekt, daß ein Rechtsverhältnis eine unterschiedliche materiellrechtliche Beurteilung er-
404 Ders., aaO: "In Tat und Wahrheit ist es die dritte Rechtsordnung, die hier ihre Rechtswirkungen entfaltet." 405 Darauf weist zu Recht Bucher, aaO, hin. Es ist unsere autonome kollisionsrechtliche Entscheidung, auch solche drittstaatlichen ordre-public-Grundsätze zu berücksichtigen, die in unserer Rechtsordnung keine unmittelbare Entsprechung haben, solange sie nicht unserem eigenen ordre public widersprechen. - S. dazu im Dritten Teil zu den Grenzen der Beachtlichkeit. 406 Vgl. oben zum "Gleichheitsgrundsatz". 407 Zu dem Begriff des "Ordnungsinteresses" Kegel, IPR, S. 86 ff.; kritisch Flessner, Interessenjurisprudenz, S. 66 (zusammenfassend), insbesondere mit dem Vorwurf, reale Parteiinteressen würden voreilig einem kaum konkretisierten, nur vermuteten Ordnungsinteresse geopfert; dagegen zu Recht Schurig, Interessenjurisprudenz im IPR, S. 235 ff.: Die "Ordnungsinteressen" können durchaus, müssen aber nicht im Gegensatz zu den Parteiinteressen stehen; auch Werte wie Vorhersehbarkeit, Übersichtlichkeit, äußerer Entscheidungseinklang usw. gehen auf menschliches Wollen zurück und drücken eine Art Interesse aus, wenn auch auf einer anderen Ebene.
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fährt, je nachdem welches Kollisionsrecht man mit der Bestimmung des anwendbaren Sachrechts betraut. 408 "Hinkende Rechtsverhältnisse" sind Folgen der Staatlichkeit des IPR, des Umstandes, daß jeder Staat eigene Kollisionsnormen hat, die sich von denen anderer Staaten U.U. weithin unterscheiden, und daß infolgedessen das materielle Privatrecht verschiedener Staaten berufen wird, je nachdem welches Kollisionsrecht Anwendung findet; die angewandten materiellen Privatrechte unterscheiden sich aber z.T. erheblich. 409 Als z.B. das OLG Karlsruhe im Jahre 1909 über die Scheidungsklage argentinischer Ehegatten (mit Wohnsitz in Deutschland) zu entscheiden hatte ("Argentinierscheidung")41O, sah es sich mit dem Scheidungsverbot des argentinischen Eherechts411 konfrontiert, wohingegen das deutsche Recht auch damals unter gewissen Voraussetzungen die Scheidung zuließ. Das deutsche Gericht lehnte ausdrücklich eine Berücksichtigung des argentinischen ordre public ab, mit der Folge, daß die Ehe im Forum geschieden werden, und die Beteiligten hier auch eine neue Ehe eingehen konnten; in ihrem Heimatstaat blieb ihnen dies jedoch verwehrt mit allen denkbaren Konsequenzen: die Kinder aus einer neuen Verbindung wären dort nichtehelich gewesen, ohne gesetzliches Erbrecht ... - Ähnlich verhält es sich im Fall der "Ehelichkeitsanfechtung"412: Soweit das kanadische Recht eine solche Anfechtung seinerzeit nicht kannte, hätte das Kind in Kanada als ehelich, bei uns jedoch als nichtehelich gegolten. Daß solche Entscheidungen vermieden werden, liegt im unmittelbaren Interesse der Rechtssuchenden und des Rechtsverkehrs. 413 Möglicherweise ist deshalb in Fällen, in denen die Nichtberücksichtigung des ausländischen ordre public ursächlich zu dem "Hinken" führt, seine Beachtlichkeit um dieser durch den Entscheidungseinklang begünstigten Interessen willen rechtspolitisch zu wünschen.
408 Kegel, IPR, S. 86; ders., FS Lewald, S. 277. 409 Kegel, aaO. 4\0 Zum Beispielsfall der "Argentinierscheidung" vgl. ausführlich oben A.1. 411 Heute erlaubt das argentinische Recht die Scheidung, vgl. BergmannlFerid, Int. Ehe- und Kindschaftsrecht, Bd.l: Argentinien, S. 25. 412 Vgl. oben A.II. 413 Fiessner, Fakultatives Kollisionsrecht, S. 564; ähnlich auch Schurig, FS Kegel, S. 574, der kritisiert, daß der internationale Entscheidungseinklang für sich genommen nur ein "formales Ideal" sei und "inhaltliches Gewicht" erst im Zusammenhang mit den Interessen der Beteiligten und des Rechtsverkehrs erlange.
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1. Bedeutung als allgemeiner Rechtsgrundsatz Das Prinzip, "das anwendbare Recht so zu bestimmen, daß möglichst genau so entschieden wird wie in den anderen Staaten, insbesondere denjenigen, die selbst ihre Gerichte für die gleiche Sache als zuständig bezeichnen"414, ist als allgemeiner Rechtsgrundsatz im IPR allseits anerkannt. 415 Mit Hilfe der Orientierung am internationalen Entscheidungseinklang würden - so wird gesagt teilweise die negativen Auswirkungen der Staatlichkeit des IPR überwunden. 416 Wer nach internationalem Entscheidungseinklang 417 strebt, bestimmt das anwendbare Recht unabhängig vom materiellrechtlichen Ergebnis. 418 Angeknüpft wird vielmehr mit dem Ziel, daß das betreffende Rechtsverhältnis im Ergebnis von allen berührten Rechtsordnungen gleich beurteilt wird419 , was freilich nur selten gelingen wird. 420 Dieses eher "formale"421 Ziel erhält dadurch inhaltliches Gewicht, daß "durch eindeutig vorhersehbare, vom Prozeßort und der lex
Wengier, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 483. Ders., aaO, S. 474 i.V.m. S. 483; Zweigert, Dritte Schule, S. 50; K. Müller, Anerkennung, S. 211, Fn. 64: "zu einem grundsätzlichen Ordnungsprinzip des IPR erhoben"; v. Bar, IPR I, Rz. 126; bereits Kahn, Abhandlungen, S. 27, sah das Ziel des IPR darin, daß "die RechtsverhäItnisse, in Fällen einer Collision der Gesetze, dieselbe Beurtheilung zu erwarten haben, ohne Unterschied, ob in diesem oder jenem Staate das Urtheil gesprochen werde"; zum ersten Mal mit Bestimmtheit vorgetragen findet er sich bei Savigny, System VIII, S. 27 u. 129. - Allerdings ist man sich über den Stellenwert nicht ganz einig; vgl. dazu die Kritik von Kegel, FS Lewald, S. 2-77, wonach das Interesse am äußeren Entscheidungseinklang "übertrieben" werde; ebenso: Schurig, aaO, S. 574 f. 416 Chr. v. Bar, IPR I, Rz. 471: wünschenswerte "Synthese zwischen der Nationalität des Kollisionsrechts und der Internationalität seines Gegenstandes"; ähnlich: Wengier, aaO, S. 491. 417 Die Terminologie ist uneinheitlich; am gebräuchlichsten sind die Begriffe "äußerer" oder "internationaler Entscheidungseinklang" (womit eine Abgrenzung zum Begriff des inneren Entscheidungseinklangs erreicht werden soll) oder "Entscheidungsharmonie"; Wengier spricht auch von der "Maxime des Konfliktminimums". Der Begriff "Konfliktminimum" ist deshalb sehr passend - auch wenn er sich nicht eingebürgert hat -, weil damit bereits die Unmöglichkeit angedeutet wird, Entscheidungseinklang in jeder Situation uneingeschränkt herzustellen; vgl. dazu im folgenden. 418 Wengier, aaO, S. 475 und 483: Rechtsfindungsmethode ohne Interesse am materiellen Ergebnis. 419 Dieses Ziel soll insbesondere durch die Wahl "international gebräuchlicher Anknüpfungen" erreicht werden; vgl. Kegel, IPR, S. 86; Schurig, aaO, S. 575. 420 Mit dieser Einschränkung Schurig, aaO, S. 575. 421 Schurig, aaO, S. 574. 414 415
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fori unabhängige Prozeßergebnisse" und "durch die Berechenbarkeit rechtlicher Transaktionen"42 2 letztlich die Rechtssicherheit gestärkt wird; "Erwartungs- und Sicherheitsinteressen der Beteiligten und des Rechtsverkehrs" werden geschützt. 423 Dieser Schutz ist insbesondere für den Wirtschafts verkehr und die internationalen Handelsbeziehungen von großer Bedeutung. Das Prinzip des äußeren Entscheidungseinklangs stellt jedoch nicht die einzige Maxime des Internationalen Privatrechts dar; Schurig weist darauf hin, daß dieses Ideal "durchaus überlagert sein und verdrängt werden kann". 424 Z.B. läßt sich ein und dieselbe Rechtsfrage unter dem Aspekt sowohl des inneren als auch des äußeren Entscheidungseinklangs betrachten 425 , jeweils mit anderem Ergebnis. - Solche Konflikte werden teilweise zum Anlaß genommen, nach "einer Stufenleiter der allgemeinen Rechtsgrundsätze, je nach ihrer Stärke", zu suchen. 426 Wengier kommt dabei zu dem Ergebnis, daß der Grundsatz des Konfliktminimums zwar "auf der untersten Stufe der Rangfolge" bleibt, daß er jedoch "trotz seiner untersten Stellung in der Hierarchie", die "normale Methode", sozusagen "das tägliche Brot", zur Ermittlung des anwendbaren Rechts darstellt, wenn positive Kollisionsnormen nicht vorhanden sind. Denn das Eingreifen höherrangiger Grundsätze beschränke sich regelmäßig auf wenige besonders gelagerte Ausnahmefälle. 427 Doch unabhängig davon, ob man den äußeren Entscheidungseinklang für das vorrangige kollisionsrechtliche Prinzip oder aber für überbewertet hält und eine vorgegebene "Rangfolge" der verschiedenen Maximen überhaupt ablehnt428 ,
422 Joerges, Funktionswandel, S. 162. 423 Schurig, aaO. 424 Ders., aaO; 425 Vgl. oben B.lV. "Verlust des inneren Entscheidungseinklangs". Vgl. OLG Braunschweig, FamRZ 63,569, das in der Frage der Vorfragenanknüpfung innere und äußere Entscheidungsharmonie gegeneinander abwägt, die Wahrung des inneren Einklangs aber für den wesentlichen Gesichtspunkt hält. 426 Eingehend Schurig, aaO.; kritisch betrachtet von Kegel, FS Lewald, S. 262 ff.; kritisch gegenüber einer "Rangfolge von Maximen", bei der der äußere Entscheidungseinklang eine Vorzugs stellung einnehmen soll, auch Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, S. 68 ff. 427 Wengier, aaO, S. 501; vgl. auch Zweigert, Dritte Schule, S. 50: .....daß nur eines davon ein echtes Prinzip ist, nämlich das der internationalen Entscheidungsharmonie; a.A. Schurig, aaO, S. 68; Kegel, aaO, S. 277; ähnlich kritisch: Bär, Kartellrecht, S. 178. 428 Schurig, aaO; ähnlich: Kegel, aaO, S. 268: "Den Versuch, eine Rangfolge der Grundsätze aufzustellen, halte ich für unglücklich. Hier wird das Ergebnis, das erst im
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stellt das Streben nach internationalem Entscheidungseinklang jedenfalls ein legitimes kollisionsrechtliches Interesse429 dar, und jeder Staat sollte zu dessen Verwirklichung beitragen. Insbesondere auf dem Gebiet des Ehe- und Familienrechts sollte man im Interesse der Beteiligten auf eine größere internationale Entscheidungsharmonie dringen. 430
2. Äußerer Entscheidungseinklang und Renvoi Zwischen Entscheidungseinklang und der Rechtsfigur des Renvoi existiert nach verbreiteter Ansicht ein enger Zusammenhang43I : danach besteht gerade die besondere Rechtfertigung, eine Rück- oder Weiterverweisung zu beachten, in der damit erreichten Entscheidungsharmonie (mit dem verweisenden Staat).432 Es ist hier nicht zu untersuchen, inwieweit durch die Beachtung eines Renvoi tatsächlich Entscheidungseinklang hergestellt wird433 ; hier genügt der Hinweis, daß der äußere Entscheidungseinklang für die meisten Befürworter des Renvoi das maßgebliche Argument ist. 434 Einzelfall durch Feststellung und Abwägung der jeweils verschieden starken Interessen zu suchen ist, allgemein vorausgenommen." 429 Kegel, aaO, S. 268: "Die von Wengier und Zweigert angenommenen ... Grundsätze sind nun nichts anderes als Interessen." Zur Berechtigung dieses Interesses bereits Neumann, IPR, S. 32. 430 Empfehlung von Wuppermann, Rechtsprechung, S. 112 ff. und 152 ff. 43\ Staudinger-Raape, zu Art. 27 EGBGB (a.F.), E.II.; Kegel, IPR, S. 87 und S. 236 ff.; Wengier, aaO, S. 502 f.; MK-Sonnenberger, zu Art. 4 EGBGB; grundlegend und kritisch hierzu Pagenstecher, Entscheidungseinklang, S. 8 und insb. S. 24 f. 432 Neumann, IPR, S. 34: "Hauptmotiv"; Melchior, Grundlagen, S. 208 und S. 533 f.: "Wenn dem deutschen Richter die Anwendung fremden Rechts vorgeschrieben ist, muß er so entscheiden, wie ein Richter des Landes, dessen Recht die deutsche Kollisionsnorm für anwendbar erklärt, entscheiden würde, wenn ihm derselbe Fall vorgelegt worden wäre"; MK-Sonnenberger, zu Art. 4 EGBGB, Rz.17, mit der Darstellung des Diskussionsstandes vor der IPR-Reform. 433 Grundsätzlich angezweifelt von Pagenstecher, aaO; mit entsprechenden Bedenken auch Schurig, FS Kegel, S. 575 f., u.a. mit Hinweis auf die Praxis des "Abbrechens" von Rückverweisungen. 434 Kegel, aaO, S. 243 ff., zufolge stellt das Interesse am Entscheidungseinklang die rechtspolitisch legitime Begründung für die Beachtung des Renvoi dar; ebenso Neuhaus, Grundbegriffe, S. 274 ff. - Ähnlich die Stellungnahme von Sonnenberger in MK, aaO, Rz. 20 f.; nach seiner wie Kegels Ansicht, aaO, ist das Interesse an schneller und sicherer EntsCheidung - "Heimwärtsstreben" - kein wirklich stichhaltiges Argument, obwohl dieses Interesse die weiteste Beachtung der Rückverweisung decke. - A.A. aber Wolff, IPR, S. 49 f., der beides, das Heimwärtsstreben und das Streben nach Entschei-
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Somit liegt der Gedanke nahe, daß in der rechts politischen Diskussion um die Beachtlichkeit des fremden ordre public das Argument des Entscheidungseinklangs dann um so schwerer wiegen muß, wenn es sich - wie in den Beispielen der "Argentinierscheidung" und der "Ehelichkeitsanfechtung" sowie der "Russischen Jüdin" - um Fälle der Rück- bzw. Weiterverweisung handelt. 435 Wenig konsequent, sogar widersprüchlich, erscheint es dagegen, die Rückverweisung der von uns berufenen lex causae auf unser eigenes Recht anzunehmen, den Vorbehalt, unter den die fremde Rechtsordnung die Rückverweisung jedoch stellt, nicht zu berücksichtigen, sondern trotz Eingreifens der fremden Vorbehaltsklausel weiterhin das eigene Recht für berufen zu halten. 436 Wenn der Forumrichter sich so verhält, kann nicht vom "Befolgen" eines Renvoi die Rede sein; indem er den Vorbehalt der fremden Rechtsordnung mißachtet, nimmt er weit mehr an, als ihm tatsächlich angeboten wird. "Die mit Hilfe des Renvoi angestrebte Entscheidungsharmonie ist zerstört, wenn nicht berücksichtigt wird, daß der ordre public der ausländischen Rechtsordnung im Einzelfall der Rück- oder Weiterverweisung entgegensteht, denn die Harmonie wird ja gerade für den konkreten Fall gewünscht."437 - Dies folgt auch aus dem Wortlaut des Art. 4 Abs.l, Satz 2 EGBGB (n.F.): "Das Recht des anderen Staates" muß auf unser Recht zurückverweisen. Der ordre public ist Teil dieses Rechts und darf daher der Rückverweisung nicht entgegenstehen. 438 Im Beispielsfall der "Argentinierscheidung" führte die Nichtberücksichtigung des argentinischen Vorbehalts, der die Rückverweisung für die Reichweite des Scheidungsverbots "eingeschränkte"439, im Ergebnis dazu, daß die materielldungseinklang, für berechtigte Anliegen in der Frage der Beachtlichkeit des Renvoi hält. 435 Zum jeweiligen Sachverhalt s. oben A.; vgl. dort zu den Zweifeln, ob im Fall der "Argentinierscheidung" und der "Russischen Jüdin" tatsächlich von einer Rück- bzw. Weiterverweisung auszugehen war. 436 Dennoch will Staudinger-Raape, aaO, in diesem Fall auf den "Vorteil, den die Rück- und Weiterverweisung an und für sich gewähren soll, die Übereinstimmung der Rechtsprechung in beiden Staaten", verzichten; dieser Nachteil müsse in Kauf genommen werden. 437 Meise, Relativität, S. 15; ähnlich Wengier, Gleichheitsprinzip, S. 369. 438 Meise, aaO. - Das führt bereits zu strukturellen Überlegungen, wie sie Gegenstand des Zweiten Teils sind. 439 Nach Darstellung Meises, aaO, S. 14 f., m.w.N., ist man in Deutschland mehrheitlich der Auffassung, daß der ausländische ordre public die Rückverweisung lediglich "einschränkt" mit dem Ziel, das Ersatzrecht möglichst aus der rückverwiesenen Rechtsordnung (lex fori) zu entnehmen. S. dazu Zweiter Teil, C.V. 7 BrUning
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rechtliche Beurteilung durch die beiden betroffenen Staaten auseinanderfiel. 440 Erst die (Mit-)Berücksichtigung des argentinischen Vorbehalts hätte zur Entscheidungsharmonie zwischen lex fori und lex causae geführt. - Im Fall der "Russischen Jüdin aus Odessa" entschied sich das RG für eine Übereinstimmung mit der Wertung des an sich für anwendbar erklärten, weiterverweisenden italienischen Rechts 441 , indem es den italienischen Vorbehalt gegenüber der Weiterverweisung auf österreichisches Eheschließungsrecht beachtete. Angesichts der inneren Rechtfertigung des Renvoi aus dem Interesse am internationalen Entscheidungseinklang ist es demnach nur konsequent, daß sich die meisten Stimmen in der Literatur für die Beachtlichkeit eines fremden ordre public im Rahmen einer Rück- oder Weiterverweisung aussprechen. 442 3. Entscheidungseinklang und drittstaatlicher ordre public
Es erscheint jedoch fraglich, inwieweit sich das Argument des Entscheidungseinklangs auch für die Fälle nutzbar machen läßt, in denen es um die Beachtlichkeit eines drittstaatlichen ordre public außerhalb des von uns berufenen fremden Kollisionsrechtes geht, beispielsweise im Fall der heiratswilligen Zyprer ("Zyprerheirat"). 443 Das Problem hierbei ist, daß durch eine Berücksichti440 ehr. v. Bar, IPR I, Rz. 625, zufolge ist diese Disharmonie sogar bezweckt; seiner Ansicht nach wird eine Rückverweisung hauptsächlich deswegen beachtet, weil sie die Anwendung der lex fori und damit das Heimwärtsstreben fördert. Die Förderung des internationalen Entscheidungseinklanges sei dagegen "höchstens Nebenzweck." - Ähnlich Schurig, FS Kegel, S. 576. - Der Hinweis darauf, daß Motiv der Befolgung des Renvoi in Wirklichkeit das Heimwärtsstreben sei, mag in vielen Fällen zutreffen. Damit ist jedoch nicht gesagt, ob das Interesse an der Anwendung des eigenen Sachrechts in die~em Zusammenhang berechtigt und schutzwürdig ist. 441 Soweit man mit Kegel und Dölle tatsächlich von einer Weiterverweisung auf österreichisches Eheschließungsrecht ausgeht, vgl. mit Nachweisen oben A.VI. 442 Melchior, Grundlagen, S. 371; Wolff, IPR, S. 46; Neuhaus, Grundbegriffe, S. 387; Kegel, IPR, S. 336; Keller/Siehr, Allgemeine Lehren, S. 547; Marti, Vorbehalt, S. 53; lagmetti, Fremdes Kollisionsrecht, S. 231 ff.; Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, S. 262; laenicke, BerGesVR 7, S. 231, 236; Meise, Relativität, S. 14 ff.; Spickhoff, Ordre public, S. 93. - Nur für Weiterverweisung: Dölle, IPR, S. 86 f.; Niederer, Einführung, S. 301-305. - Gegen jede Beachtlichkeit eines ausländischen ordre public: K. Müller, Dt. Scheidungsurteil, S. 68; Vallindas, Vorbehalt, S.7, lehnt den Renvoi gerade wegen des Umstandes, daß konsequenterweise bei der Berücksichtigung des fremden Kollisionsrechts auch der fremde ordre public zu beachten wäre, ab; Frankenstein, IPR I, S. 228. 443 Zum Fall der ,.zyprerheirat" s. oben A.VII.1.
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gung des französischen ordre public zwar der Entscheidungseinklang mit der französischen Rechtsordnung erreicht würde, jedoch auf Kosten der Übereinstimmung mit der Wertung des Heimatstaates Zypern444 , dessen Recht wir gern. Art.!3 Abs.l i.V.m. Art. 11 EGBGB (n.F.) ursprünglich berufen haben und das uns aufgrund dieser Anknüpfung in gewisser Hinsicht näher steht als das nicht berufene französische Recht. 445 Im Verhältnis zum Heimatrecht hätte man es weiterhin mit einem hinkenden Rechtsverhältnis zu tun. Daraus folgert Meise, daß es selbst dann unzulässig sei, die Entscheidungsharmonie mit der an sich maßgeblichen Rechtsordnung zu stören, wenn dadurch ein Entscheidungseinklang mit einem anderen (hier: dem französischen) Staat hergestellt werde, der ebenfalls mit dem Sachverhalt eng verbunden sei. 446 - Das Prinzip der Entscheidungsharmonie stößt hier an seine Grenzen. "Da es so viele Rechtsordnungen gibt, mit denen man harmonieren könnte (es aber meist nicht mit allen zugleich kann), muß die Auswahl der entsprechenden Rechtsordnung diesem Übereinstimmungsgedanken regelmäßig vorausgehen. '