Die Bauern von Tver: Vom Leben auf dem russischen Dorfe zwischen Revolution und Kollektivierung [Reprint 2014 ed.] 9783486823523, 9783486520712


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German Pages 373 [380] Year 1984

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Table of contents :
I. Einleitung
II. Schauplatz und Vorgeschichte
1. Der Schauplatz
2. Die gescheiterte staatliche Agrarreform
3. Die Revolution der Bauern
III. Das Tverer Dorf zwischen Revolution und Kollektivierung
1. Die bäuerliche Ökonomik
a) Das Haus
b) Die Familie
c) Vieh und Inventar
d) Die Landwirtschaft
e) Das Gewerbe
f) Lohnarbeit und Landpacht
Exkurs: Besitzstruktur und Entwicklungsdynamik
2. Die lokale Gesellschaft
a) Die Dorfversammlung
b) Klassen und Cliquen
c) Bäuerlicher Alltag und dörfliches Fest
d) Die Kirche und die Volksreligion
e) Volksmedizin und Magie
Exkurs: Konflikte und Kriminalität
3. Der Staat im Dorf
a) Der Dorfsowjet
b) Die Parteizelle
c) Der Komsomol
d) Die Gruppen der Kleinbauern und die Landarbeitergewerkschaft
e) Konsum-, Kredit-, Absatz-, und Produktionsgenossenschaften
Exkurs: Zum Problem der Kulturrevolution
IV. Die Kollektivierung in Tver’
1. Die Voraussetzungen
2. Der Verlauf
3. Die Folgen
V. Anhang
1. Tabellen
2. Anmerkungen
3. Quellen und Literatur
a) Archivmaterial
b) Gesetze und Verordnungen; Rechenschaftsberichte, Tagungsprotokolle und Resolutionen
c) Statistik
d) Zeitschriften, Zeitungen
e) Sonstige Quellen und zeitgenössische Literatur
f) Sekundärliteratur
4. Register
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Die Bauern von Tver: Vom Leben auf dem russischen Dorfe zwischen Revolution und Kollektivierung [Reprint 2014 ed.]
 9783486823523, 9783486520712

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Die Bauern von Tver Vom Leben auf dem russischen Dorfe zwischen Revolution und Kollektivierung von Helmut Altrichter

R. Oldenbourg Verlag München 1984

Als H a b i l i t a t i o n s s c h r i f t a u f E m p f e h l u n g d e r P h i l o s o p h i s c h e n F a k u l t ä t e n d e r Universität Erlangen-Nürnberg gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Altrichter, Helmut: Die Bauern von Tver : vom Leben auf d. russ. Dorfe zwischen Revolution u. Kollektivierung / von Helmut Altrichter. - München : Oldenbourg, 1984. ISBN 3-486-52071-7

© 1984 R. Oldenbourg Verlag GmbH, München Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege sowie der Speicherung und Auswertung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben auch bei auszugsweiser Verwertung vorbehalten. Werden mit schriftlicher Einwilligung des Verlages einzelne Vervielfältigungsstücke für gewerbliche Zwecke hergestellt, ist an den Verlag die nach § 54 Abs. 2 Urh.G. zu zahlende Vergütung zu entrichten, über deren Höhe der Verlag Auskunft gibt. Druck: Grafik + Druck, München Bindearbeiten: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München ISBN 3 - 4 8 6 - 5 2 0 7 1 - 7

INHALT

I. Einleitung

II. Schauplatz und Vorgeschichte 1. Der Schauplatz 2. Die gescheiterte staatliche Agrarreform 3. Die Revolution der Bauern

III. Das Tverer Dorf zwischen Revolution und Kollektivierung 1. Die bäuerliche Ökonomik a) Das Haus b) Die Familie c) Vieh und Inventar d) Die Landwirtschaft e) Das Gewerbe f) Lohnarbeit und Landpacht Exkurs: Besitzstruktur und Entwicklungsdynamik . . .

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2. Die lokale Gesellschaft a) Die Dorfversammlung b) Klassen und Cliquen c) Bäuerlicher Alltag und dörfliches Fest d) Die Kirche und die Volksreligion e) Volksmedizin und Magie Exkurs: Konflikte und Kriminalität

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3. Der Staat im Dorf à) Der Dorfsowjet b) Die Parteizelle c) Der Komsomol

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d) Die Gruppen der Kleinbauern und die Landarbeitergewerkschaft e) Konsum-, Kredit-, Absatz-, und Produktionsgenossenschaften Exkurs: Zum Problem der Kulturrevolution

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IV. Die Kollektivierung in Tver'

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1. Die Voraussetzungen 2. Der Verlauf 3. Die Folgen

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V. Anhang

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1. Tabellen 2. Anmerkungen 3. Quellen und Literatur a) Archivmaterial b) Gesetze und Verordnungen; Rechenschaftsberichte, Tagungsprotokolle und Resolutionen c) Statistik d) Zeitschriften, Zeitungen e) sonstige Quellen und zeitgenössische Literatur. . . f) Sekundärliteratur

200 288 351 351

4. Register

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I. Einleitung Dieses Buch erzählt von eineinhalbjahrzehnten sowjetischer Geschichte, von der Revolution, den 20er und den beginnenden 30er Jahren. Sie veränderten Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Rußlands von Grund auf. Die Hauptlinien dieser Entwicklung sind jedem historischen Handbuch zu entnehmen: Im Herbst 1917 stürzten die Bolschewiki in einem bewaffneten Aufstand die bürgerliche .Provisorische Regierung', die ein Dreivierteljahr zuvor, nach dem Sturz und der Abdankung des Zaren, die Staatsgeschäfte übernommen hatte. Die Bolschewiki bildeten eine neue Regierung, den ,Rat der Volkskommissare', enteigneten die Gutsbesitzer, die Kirche und die Klöster, nationalisierten das Bankwesen und verstaatlichten die Industrie. Eine Übernahme des westlichen Parlamentarismus lehnten sie ab; in Rußland sollte ein neuer Staat, ein Rätestaat entstehen, demokratisch in seinem Aufbau von unten nach oben, ohne Berufsbeamtentum und stehendes Heer, so hatte es Lenin in seinen .Aprilthesen' verkündet. Die Bolschewiki setzten dabei auf die Arbeiterkomitees und Soldatenausschüsse, die sich seit dem Frühjahr 1917 — meist spontan — in Fabriken und Garnisonen gebildet und zu überbetrieblichen, gesamtstädtischen, regionalen und überregionalen Interessenvertretungen zusammengeschlossen hatten. Diese Räte sollten zum Rückgrat des neuen Staates werden. Rußland war 1917 ein Agrarland, nach marxistischer Theorie noch nicht ,reif' für eine sozialistische Revolution. Auch die Bolschewiki gaben dem russischen Sozialismus kaum eine Uberlebenschance, wenn der Funke nicht auf die fortgeschritteneren westeuropäischen Staaten übersprang, eine .Weltrevolution' auslöste. Doch die erwarteten Folgen blieben aus, und auf die Revolution folgte der Bürgerkrieg, der sich über zweiJahre hinzog und ein politisches und wirtschaftliches Chaos hinterließ. Partei- und Staatsfuhrung sahen diesen Zustand als Chance, um die Revolution im Innern weiter voranzutreiben. Auf den Trümmern der alten Ordnung sollte nun eine ganz neue, eine .kommunistische' Gesellschaft entstehen, in der der Staat die vollständige Planung der Produktion und Distribution übernahm, mit dem Markt auch das Geldsystem verschwand, und jegliche Steuern, Mieten und Abgaben entbehrlich wurden. Der Versuch, den Kommunismus auf dem Verordnungswege

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I. Einleitung

zu etablieren, scheiterte im Winter 1920/21. Er führte den Sowjetstaat erneut an den Rand des Abgrunds. Seit dem Frühjahr 1921 bemühte sich die Partei um eine Konsolidierung der Lage im Innern. Statt die gesellschaftlichen Gegensätze weiter zu vertiefen, ebnete sie sie ein, suchte die Kooperation statt der Konfrontation, vor allem im Verhältnis zur Bauernschaft. Das staatliche Getreidemonopol wurde aufgehoben und die Zwangsablieferung, die Requirierung aller Vorräte und Überschüsse durch den Staat, abgeschafft. Die neue Politik machte den Aufstieg aus der wirtschaftlichen Talsohle möglich, bis 1925/26 war der Stand von 1913/14 wieder erreicht. Die Partei hatte Mitte der 20erjahre die Hoffnungauf die Weltrevolution aufgegeben und propagierte nun den .Aufbau des Sozialismus in einem Lande'. Als unabdingbare Voraussetzung erschien ihr dabei die Industrialisierung Rußlands, vor allem der Ausbau seiner Schwerindustrie. Erst wenn Industrie, Landwirtschaft und Verkehrswesen eine moderne großindustrielle technische Grundlage erhalten, so hatte Lenin schon im Dezember 1920 gesagt, habe der Sozialismus, hätten die Bolschewiki endgültig gesiegt. 1927/28 verabschiedete die Partei einen ersten ,Fünfjahresplan', der die Industrialisierung des Landes in den Mittelpunkt stellte; 1933 und 1938 ließ sie einen zweiten und dritten Fünfjahresplan folgen. Als flankierende Maßnahme zum Industrialisierungsprogramm begann man Ende der20erjahre, die vielen bäuerlichen Kleinwirtschaften zu großen .Kollektivwirtschaften' (kolchozy) zusammenzufassen. Bereits Mitte der 30er Jahre war dieser Vorgang im wesentlichen abgeschlossen: 1935warenüber80%, 1936 über 9 0 % d e r sowjetischen Landwirtschaft .kollektiviert'. Dies ist ingrobenZügen derzeitliche Rahmen für die Geschichte, die hier erzählt werden soll. Folgt man dem sowjetischen Selbstverständnis, wie es, in den 30er und 40er Jahren ausformuliert, der Politik seither als Rechtfertigung und der Forschung als Orientierung dient, so bildete die Entwicklung zwischen Revolution und Kollektivierung einen einheitlichen, stetig fortschreitenden Prozeß: Der Gründung des sowjetischen Staates und seiner Behauptung im Bürgerkrieg folgte - seit 1921 - die .Wiederherstellung' seiner wirtschaftlichen Basis in der Neuen Ökonomischen Politik. Sie führte in der zweiten Hälfte der20erjahre - so das sowjetische Selbstverständnis weiter — zum ,Sieg' und zur .Festigung des Sozialismus' im Wirtschafts- und Gesellschaftssystem; Stalin setzte dabei konsequent fort, was Lenin geplant und begonnen hatte. Jeder Schritt war wohl vorbereitet und folgte logisch, wie man sagt, auf den anderen. Zum hier eingeschlagenen Weg habe es keine realistische Alternative gegeben und

I. Einleitung

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die Partei sei mehr als das politische Zentrum der Macht gewesen: Sie handelte im Gleichlauf mit den .Massen', sie war Vollstrecker einer mit historischer Notwendigkeit ablaufenden Entwicklungsgesetzlichkeit. Die westliche, nichtmarxistische Forschung ist dieser Interpretation nicht gefolgt. Sie hat im Gegenzug die tiefen Spannungen innerhalb der Partei, die kontroversen Diskussionen und die heftig ausgetragenen Richtungskämpfe dargestellt, die schon vor der Revolution begannen, den Bürgerkrieg überdauerten und erst Ende der 20er Jahre — von Stalin - endgültig erstickt wurden. Sie hat die Schlingerbewegungen des Parteikurses nachgezeichnet und die Kehren (1918, 1921, 1928/29) markiert. Diese widerlegen die Behauptung einer festen, zielstrebig verfolgten .Generallinie', von der nur Einzelne, kleine Minderheiten, rechts und links .abgewichen' wären. Hinter den .historischen Notwendigkeiten' wurden bei näherem Zusehen die Zufälligkeiten sichtbar, hinter der Planung ihre Brüche, hinter den Erfolgszahlen die Friktionen. Wo die westliche Forschung Konstanten und Kontinuitäten in der Entwicklung von Lenin zu Stalin ausmachte, sah sie diese nicht in einer von Lenin entworfenen und von Stalin konsequent fortgesetzten Wirtschaftspolitik, sondern in der Vorbereitung, Etablierung und Festigung der Einparteiherrschaft; in der konsequenten Ausschaltung der innerparteilichen Demokratie, beginnend mit Lenins Plänen einer Kaderpartei der Berufsrevolutionäre (1903) über das Fraktionsverbot (1921) bis zurphysischen Liquidierung der Parteidissidenten in den30erjahren;in der Entmachtung und Gleichschaltung der Fabrikkomitees und Gewerkschaften, der Räte und Rätekongresse als autonome Interessenvertretungen und demokratische Selbstverwaltungsorgane; schließlich im Aufbau eines zentralistischen, repressiven Staatsapparates, wobei der Weg von der revolutionären ÒK über die GPU der 20erjahre zum Terror der stalinistischen .Säuberungsaktionen' und .Schauprozesse' führte. Die Unterschiede der Interpretation, der historischen Fragen und Antworten sind bekannt, sie sollen hier nicht weiter vertieft werden. Die Auseinandersetzung mit den sowjetischen Positionen hat auch die westliche Forschung geprägt, sie lange auf bestimmte Vorgänge und Institutionen, Frage- und Problemstellungen, Sichtweisen und Perspektiven fixiert. Wie die sowjetische Historie blickte auch sie gebannt auf das Geschehen in der Hauptstadt, auf Petrograd und Moskau, wo die großen Entscheidungen fielen; auf die Räte, die, als autonome Körperschaften gegründet, zum Vehikel der bolschewistischen Machtergreifung wurden; auf die Regierung, die das Staatsschiff lenkte; und immer und immer wieder auf die bolschewistische Partei, wo die Stränge der Macht offenkundig zusammenliefen. Im Zentrum des Interesses stand dabei

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I. Einleitung

die Führungsriege der Bolschewiki, standen Lenin und Trockij, Stalin und Bucharin, Kamenev und Zinov'ev, Osinskij und Sljapnikov, Dzerzinskij und Bogdanov, die Krupskaja und die Kollontaj. Die Forschung untersuchte deren Vorstellungen der Zukunftsgesellschaft, die Wege, auf denen sie sie erreichen wollten, und ihre Rollen bei der Entwicklung von Staat und Gesellschaft. Sie diskutierte ihre internen Auseinandersetzungen um die Wirtschafts- und Sozial-, Militär-undjustiz-, Schul- und Bildungspolitik und verglich sie mit derem programmatischen Ziel einer freieren, gerechteren und besseren Gesellschaft. Waren es in der Sowjetunion der Absolutheitsanspruch und das Unfehlbarkeitsdogma der Partei, die der Entwicklung der 20er Jahre den Anstrich der Eindimensionalität gaben, so suchte man bei uns — im Umkehrschluß und in der Rolle des rückwärtsgewandten Propheten nach den Wurzeln des Stalinismus in der Revolutionszeit. Und die Kritik an Industrialisierung und Kollektivierung verband sich stets mit dem Hinweis auf alternative Entwicklungen, auf die Vorzüge des westlichen Typs der Modernisierung, der den sowjetischen Weg als Sackgasse oder zumindest als Umweg erscheinen ließ. Erst allmählich kam — und kommt — dabei zu Bewußtsein, daß die so breit diskutierten Fragen und Probleme, projiziert auf die 20er Jahre, nicht die Probleme derbreiten Masse der Bevölkerung waren. Sie waren, etwas pauschal gesagt, die Probleme der Staats- und Parteiführung, vielleicht noch der Stadt und der Arbeiterschaft. Das Dorf, wo Mitte der 20er Jahre noch immer über 80 °/o der Bevölkerung lebten, wußte von ihnen nichts und hatte andere Sorgen. Die Bauern hatten ihre eigene Revolution gemacht, ohne Partei und Räte, und mit der Aufteilung des Adels-, Kirchen- und Klosterlandes war dieses Kapitel fur sie abgeschlossen, sie hatten erreicht, was sie erreichen wollten. Ob die Zerschlagung des Großgrundbesitzes ein ökonomischer Rückschritt gewesen war, ob die Belange der Modernisierung eine Strukturreform des Agrarsektors unabweisbar machten — die Bauern stellten diese Fragen nicht. Und ebensowenig waren sie bereit, das neu erworbene Land, mehr noch: ihre Selbständigkeit ,für den Sozialismus' wieder aufzugeben und sich zu großen Kollektivwirtschaften zusammenzuschließen. Im Dorf entschied auch in den 20er Jahren die alte Dorfversammlung die wichtigsten Fragen, die Verteilung des Landes und die Saatfolge. Die neuen Dorfsowjet fungierten als staatliche Verwaltungsbehörden, und ihre Zahl war dünn gesät. Kommunisten gab es im Dorf kaum, unter Bauern schon gar nicht, und selbst wo sich eine Parteizelle konstituierte, existierte sie zumeist nur als Gesinnungs- und Diskussionszirkel und zeigte wenig Neigung zur Missionierung.

I. Einleitung

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Der dörfliche Alltag wurde nicht von Fragen der Politik bestimmt, er drehte sich um Felder und Vieh, Aussaat und Ernte, Besitz und Besitzteilung, Verwandtschaft und Sippe, Dorfalltag und Festlichkeiten, Liebe und Heirat, Krankheit und Tod. Von dem, was in der Hauptstadt geschah, von den großen Projekten der Regierung zum Beispiel oder den internen Auseinandersetzungen innerhalb der Parteiführung, drang wenig ins Dorf vor, gefiltert durch bäuerliches Desinteresse, weit verbreiteten Analphabetismus und ein unterentwickeltes ländliches Pressewesen. Sahen Staat und Partei die Bauern nur als Objekt ihrer Wirtschafts-, Steuer- und Bildungspolitik, mal dumm, mal träge, mal widerspenstig und oppositionell, so betrachteten die Bauern die Kommunisten vor allem als neue Obrigkeit (nacal'stvo), von der sie wenig mehr wußten, als daß sie die alten Gutsbesitzer vertreiben half, daß sie gegen Gott war und hohe Steuern wollte. Kehrt man die Perspektive um und läßt die Bauern zu Wort kommen, so erscheint die sowjetische Entwicklung der 20er Jahre in einem anderen Licht. Nicht was die Revolution verändert hatte, die Partei und die Räte treten dann in den Vordergrund, sondern das, was blieb und Denken und Handeln der Bauern nach wie vor bestimmte: Haus und Hof, Familie und Dorfverband, schließlich die bäuerlichen Gebräuche und Sitten, die dörflichen Regeln und Normen. Erst vor diesem Hintergrund sind die Schwierigkeiten für Partei und Staat zu ermessen, die vorgefundene Lage zu ändern. Gravierender als ihre schwache Stellung im Dorf war, daß sich ihre gesamtgesellschaftlichen Ziele nicht mit den Vorstellungen der Bauern deckten. Zwar stimmte man — wie sich 1917 zeigte — in der Forderung nach Enteignung des Adels und der Großgrundbesitzer, der Kirche und der Klöster überein. Aber die Bauern wollten nicht den radikalen Umsturz von allem und jedem, eher die Vervollkommnung des Bestehenden; und sie orientierten sich dabei an Tradition und Erfahrung, nicht am abstrakten Modell einer vernünftig geordneten .modernen' Gesellschaft: Bessere Befriedigung der Bedürfnisse, nicht Maximierung des output war ihr Anliegen; trotz scheinbarer Berührungspunkte dachten sie über ArbeitundLeistung, Besitz und Eigentum anders als die staatliche Macht; und der Fortbestand von Individualbesitz und Landgemeinde stand für die Bauern nicht zur Disposition. Die 20er Jahre zeigen, wie tief diese bäuerlichen Vorstellungen, Praktiken und Institutionen wurzelten. Veränderungen erforderten zähe Anstrengungen und die Geduld von Jahrzehnten; kurzfristige Erfolge waren nicht zu erzielen. Erst mit dieser Vorgeschichte wird deutlich, welchen Einschnitt die Kollektivierung, diese zweite, ,Stalinsche' Revolution, bedeutete. Sie löste Hof und Familie als Produktionseinheit auf,

Abb. 1 : Das Russische Reich vor 1914 (Ausschnitt). Das Tverer Gouvernement (im Zentralen Industrierajon um Moskau gelegen) ist schraffiert. Vorlage der Karte: Amburger, E., Geschichte der Behördenorganisation Rußlands von Peter dem Großen bis 1917, Leiden 1966 (Anlage).

I. Einleitung

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nahm den Dorfgemeinden mit der Verfügungsgewalt über den Boden die soziale Funktion und zwang die Bauern in die neugegründeten Produktionsgenossenschaften. Nun erst, am Ende der 20er und in den beginnenden 30erjahren, wurden jene Verhältnisse geschaffen, wie sie Gesellschaft und Wirtschaft der Sowjetunion bis in unsere Tage bestimmen. Aus der Perspektive des Dorfes gingen diese Eingriffe in die dörfliche Lebens- und Arbeitswelt sehr viel tiefer als 1917, und mit der Revolution von damals hatten sie nichts mehr zu tun. Die Geschichte des dörflichen Lebens zwischen Revolution und Kollektivierung nachzuerzählen, ist nur am Ausschnitt möglich: zu groß ist das Gesamtgebiet der Sowjetunion, zu verschieden sind die Gegenden, zu unterschiedlich sind Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur, kulturelle, religiöse und geistige Traditionen. Das vorliegende Buch versucht dies am Beispiel des Gouvernements Tver'. Im Herzen des europäischen Rußland gelegen, wares mit über 62.000 km 2 , über 10.000 Landgemeinden und über 300.000 Bauernhöfen groß genug, um zumindest für eine Wirtschaftslandschaft zu stehen: für den Zentralbereich um Moskau. Für das Tverer Gouvernement liegen genügend zeitgenössische Materialien vor, um Zustand und Entwicklung des Dorfes in den 20er Jahren zu rekonstruieren: Erhebungen des lokalen Statistischen Büros, Rechenschaftsberichte des Gouvernements- und der Regionalsowjets, Sitzungsprotokolle und Verordnungsblätter, Handreichungen an Parteiund Sowjetfunktionäre für die Arbeit an der Basis, Dorfzeitschriften und -Zeitungen, ethnographische Beschreibungen und politische Erfahrungsberichte. Sie können durch einen großen Bestand an zentralen statistischen Handbüchern, Zeitschriften, Zeitungen und Monographien ergänzt werden, die auch Daten und Berichte über Tver' enthalten. Die Lenin-Bibliothek in Moskau hat alle diese Materialien (für Tver' wie auch für andere Gouvernements) in breitem Umfang gesammelt und katalogisiert. Sehr viel mehr Probleme als die bibliographische Erfassung der einschlägigen Quellen machte deren Benutzung. Daß die Akademie der Wissenschaften in Moskau den Autor der vorliegenden Studie — auf Vorschlag der Deutschen Forschungsgemeinschaft — als .Austauschwissenschaftler' akzeptierte und ihn dreimal (im Herbst 1976, im Frühjahr 1978 und im Frühjahr 1979) zu mehrmonatigen Bibliotheksaufenthalten zuließ, löste keineswegs die Probleme; die Durchsicht der Materialien blieb schwierig. In vielen Fällen endete die Bestellung von Ti teln negativ, und der erklärende Hinweis auf den .Buchbinder' oder die .Fernleihe' war vor allem dann unglaubwürdig, wenn der Titel nach Katalog sogar in mehreren Exemplaren vorhanden sein mußte. Andere Materia-

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I. Einleitung

lien gehörtenzu den .stabilierten' (stabilirovannye) Beständen und wurden, wie man dem Verfasser sagte, .grundsätzlich' nicht in den Lesesaal ausgegeben. Auf die Frage nach dem Grund der .Stabilierung' (ein Wort, das es im Russischen eigentlich gar nicht gibt), verwies man ausweichend auf Alter, defekten Zustand oder Seltenheit oder sagte kurz, sie seien eben,unzugänglich' (zakryt). Manchmal waren ganze Reihen davon betroffen, manchmal nur einzelne Jahrgänge, und eine Absage hieß noch nicht, daß eine erneute Bestellung ein oder zwei Jahre später wiederum erfolglos sein mußte. Eine Ausgabe von Bänden in den Lesesaal schloß noch nicht die Erlaubnis ein, diese oder Teile daraus zu kopieren. Generell verweigert wurde die Ablichtung von Protokollen, Entschließungen, Verordnungen und Resolutionen zentraler und regionaler Partei- und Sowjetorgane, auch der Hinweis, daß diese Materialien ja gedruckt, weil für die Öffentlichkeit bestimmt, und inzwischen auch schon über 50 Jahre alt seien, half nicht weiter. Bei den zur Verfilmung eingereichten statistischen Sammelbänden wurde überprüft, ob sie damals für den freien Verkauf(oder internen Gebrauch) bestimmt waren, und ihre Kopierung verweigert, wenn ein Hinweis darauffehlte oder die Bände offenkundig .kostenlos' abgegeben worden waren. Dann mußten die benötigten Zahlenreihen in zeitraubender Kleinarbeit abgeschrieben werden. Ein Kapitel für sich war die Benutzung der regionalen Dorfzeitungen. Sie wurde dem Autor 1978 (mit der Begründung .teilweise nicht vorhanden' / .teilweise defekt') verweigert, für 1979 dann aber doch zugesagt. Der Autor fuhr im Frühjahr 1979 für sieben Wochen nach Moskau, doch von den versprochenen Zeitungen sah er trotz intensiver Bemühungen nichts. Erst auf den Protest der Deutschen Forschungsgemeinschaft hin wurden sie ihm nachträglich auf Mikrofilm zugänglich gemacht; dabei hatte man die Mühe nicht gescheut, sie politisch zu zensieren. Der Verfasser dankt der Deutschen Forschungsgemeinschaft aufrichtig für die Unterstützung seines Projektes und die Vertretung seiner Belange gegenüber der Akademie der Wissenschaften in Moskau. In großzügiger Weise hat ihm die Forschungsgemeinschaft auch ein zweijähriges Habilitandenstipendium gewährt, in dessen Rahmen es möglich war, in der Library of Congress/Washington, in den National Archives/ Washington, in der Public Library/New York und in Archiv und Bibliothek des Hoover Instituts/Stanford die in Moskau verbliebenen Lücken teilweise zu schließen. Außer den genannten Bibliotheken hat der Autor auch dem Institut istorii und der Fundamentalbibliothek der Akademie der Wissenschaften INION (beide in Moskau), der Bibliothek des Britischen Museums und der School of Slavonic and East European Studies

I. Einleitung

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(beide in London), dem Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis (in Amsterdam), der Bayerischen Staatsbibliothek und dem Osteuropa-Institut (beide in München) fur die Erlaubnis zur Benutzung ihrer Bestände zu danken. Sehr viele Neuzeit- und Osteuropa-Historiker, Kollegen und Freunde haben mir durch persönliche Gespräche, kritische Anmerkungen, Ratschläge und Fragen weiter geholfen, so Prof. V. P. Danilov (Moskau), Frau Prof. D. G. Atkinson (Stanford), Prof. T. Emmons (Stanford), Prof. M. Lewin (Philadelphia), Prof. M. Raeff (New York), Frau Prof. F. v. Lilienfeld (Erlangen), Prof. D. Geyer (Tübingen), Priv. Doz. H. Haumann (Freiburg), Prof. R. Lorenz (Kassel), Dr. G. Lottes (Erlangen), Dr. St. Merl (Hamburg), Dr. phil. habil. R. Rexheuser (Lüneburg), Prof. G. Schramm (Freiburg), Prof. M. Stürmer (Erlangen) und Prof. K.-E. Wädekin (Gießen). Ich stehe tief in ihrer aller Schuld. Prof. K.-H. Ruffmann hat die Entstehung dieser Arbeit von Anfang an mit persönlicher Anteilnahme verfolgt; er hat sie, wo er nur konnte, mit Geduld, Rat und Hilfe gefördert. Im gebührt ein besonderer Dank des Autors. Erlangen, im August 1983

II. Schauplatz und Vorgeschichte 1.

Der Schauplatz

Wer mit dem Fernschnellzug .Roter Pfeil* von Moskau nach Leningrad fahrt, kommt—nach etwa zwei Stunden—an Kalinin vorbei, einer Großstadt mit 350.000 Einwohnern und viel Industrie. Seide, Baumwolle und Kunstfaser werden hier gesponnen und verarbeitet; daneben gibt es mehrere Maschinenbaubetriebe, chemische Werke und ein polygraphisches Kombinat. Bis auf einen alten Kern ist Kalinin eine neue Stadt, und neu ist auch der Name. Michail Ivanovic Kalinin, nach dem der Ort seit 1931 heißt, war langjähriges Mitglied des Zentralkomitees und des Politbüros der bolschewistischen Partei und zwischen 1919 und 1946 nominelles Staatsoberhaupt; seine bäuerlichen Vorfahren stammten aus dieser Gegend. Vor der Revolution hatte die Stadt nur einen Bruchteil ihres heutigen Umfanges. Sie hieß Tver' und war administrativer, wirtschaftlicher und kultureller Mittelpunkt eines Gouvernements, dem sie den Namen gab. Mit dem Moskauer Gouvernement im Süden und dem Smolensker und dem Pskover Gouvernement im Westen erstreckte sich das Tverer Gouvernement über 200 km nach Norden und knapp 400 km nach Osten 1 . Die Eisenbahnverbindung zwischen Moskau und St. Petersburg gab es schon damals, sie wurde — als eine der ersten in Rußland — um die Mitte des 19. Jahrhunderts gebaut. Die Bahnstrecke teilte das Tverer Land in zwei ungleiche Teile : Der Osten war flach und ging nahtlos in das ebenso flache Gouvernement von Jaroslavl' über. Im Westen aber erhoben sich die Waldai-Höhen, eine hügelige Endmoränenlandschaft mit unzähligen Seen, Sümpfen und Flüssen. Hier hatte die Würmeiszeit den südlichsten Punkt ihrer Ausdehnung markiert und mit ihren Ablagerungen eine Wasserscheide zwischen Ostsee, Schwarzem Meerund Kaspischem Meer hinterlassen: eine Schwelle zwischen Zentralrußland und seinen westlichen Provinzen. Hier in den Waldai-Höhen entsprang auch die Wolga, die Lebensader des Gouvernements. Von ihrer Quelle — in der Nähe der Stadt Ostaskov — flöß sie zunächst der Gouvernementsgrenze parallel, südwärts, bevor sie sich bei Rzev nach Osten wandte. Sie passierte die Stadt Tver', die nun Kalinin heißt, und überwand dann im weiten Bogen die flache östliche

1. Der Schauplatz

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Abb.2 : Das Tverer Gouvernement Mitte der 20erJahre. Vorlage : Ékskursionnyj sbornik vyp. 11 : Dal'nie ékskursii po Tverskoj gubernii (pod red. Α. N. Versinskogo), Tver' 1928.

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II. Schauplatz und Vorgeschichte

Landeshälfte. Wo sie heute zum .Moskauer Meer' aufgestaut ist, lag vormals das Städtchen Korceva. Bei Kaljazin verließ die Wolga das Gouvernement in nordöstlicher Richtung. Mit ihren zahlreichen Zuflüssen war sie seit alters ein eigenes Verkehrssystem und für den lokalen Bedarf bis in unserJahrhundert noch wichtiger als die wenigen Eisenbahnstrecken und befestigten Chausseen. Im Tverer Gouvernement wurden um die Jahrhundertwende fast 2.500 km dieser Binnenwasserstraßen für die Flößerei genutzt; 1.000 km waren schiffbar, auf knapp 500 km verkehrten Dampfschiffe 2 . Der Wald,derEndedes 18.Jahrhunderts noch sechs Zehntel und 1851 fast die Hälfte des Gouvernements bedeckt hatte, war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erheblich dezimiert worden. Geschlossen war er nur mehr im Nordwesten und Norden erhalten. Genügsame Nadelhölzer, Fichten und Kiefern, bestimmten sein Aussehen, doch auch Espen, Birken und andere Laubbäume waren darunter. Im kargen westlichen Hügelland und in den Moor- und Sumpfgebieten, die im ganzen Gouvernement zu finden waren, erreichten die Fichten- und Kieferngewächse oft nur die Höhe von Sträuchern, und der Boden war mit Heidekraut oder Moos bedeckt 3 . Die Natur hatte der Landnutzung enge Grenzen gesetzt. Teils waren die Böden zu sandig und trocken, teils übersät mit eiszeitlichem Schotter und Steinen, teils zu lehmig oder sauer; nur wo Böden, ohne zu schwerzu sein, doch genügend Feuchtigkeit halten konnten, war Ackerbau möglich. Unregelmäßig wie Flicken auf einem großen Teppich verteilte sich die für Ackerbau genutzte Fläche auf das ganze Land; im Süden und Südosten des Gouvernements waren die Bedingungen noch am günstigsten. Das rauhe, feuchte und winterkalte Klima kam hinzu. Von den etwas über 500 mm 3 Niederschlägen fiel die Hälfte in den drei Sommermonatenjuli, August, September — zur Erntezeit. Zwar wurde es im Juli (mit einem Mittel von 18,4 °C) wärmer als in Mitteleuropa, doch die Sommer waren kurz und die Winter lang und bitterkalt. Man konnte nicht sicher sein, daß die Tagestemperaturen im Mai nicht noch einmal unter Null sanken und im September schon wieder; ganz frei von Nachtfrösten war allein der Monat Juli. Im Januar wurden Extremwerte bis weit unter 30 Grad minus gemessen, und selbst in normalenjahren lag das Januarmittel bei minus 11 Grad. Mehr als ein Drittel des Jahres, von Anfang November bis Anfang April, war die Wolga zugefroren; nur an 214 Tagen, so hatte man errechnet, führte sie in der Stadt Tver' kein Eis4. Es nimmt deshalb nicht wunder, daß im Tverer Gouvernement um die Jahrhundertwende nur 1,8 Millionen Menschen ansässig waren — auf

1. Der Schauplatz

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einer Fläche, so groß wie Niedersachsen und Schleswig-Holstein zusammengenommen. Die Bevölkerung bestand ganz überwiegend aus Großrussen, nur im Nordosten gab es eine stärkere karelische (finnische) Minderheit. Uber 90 % lebten auf dem Lande. Die Dörfer waren klein, die Höfe aus Holz und die Dächer mit Stroh, Brettern oder Schindeln gedeckt5. Die Besiedlung folgte den natürlichen Verbindungswegen und Ressourcen, den Flüssen und Seen und dem bebaubaren Land. Im unwirtlichen Nordwesten waren die Dörfer dünn gesät, und die Ortschaften bestanden oft nur aus ein paar Häusern. Weiter nach Osten und Süden, wo die Täler breit und die Gegend flach wurde, wuchsen auch Zahl und Umfang der Ansiedlungen: Hier gehörten zu einem Dorf 20 bis 30, öfter auch 50 Höfe. Daneben gab es gut ein Dutzend Städte. Die größte davon, Tver', hatte (1897) 53.000 Einwohner, gefolgt von Rzev mit 21.000. Drei weitere Kreisstädte (Vysnij Volocek, Torzok und Ostaskov) brachten es aufjeweils 10-20.000 Einwohner, die übrigen waren erheblich kleiner*. Sah man weniger auf Statuten und mehr auf die Wirtschaft, so war eine genaue Grenze zwischen Stadt und Land kaum zu ziehen: Auch viele Kleinstädter gingen noch agrarischer Beschäftigung nach - und umgekehrt, wie noch zu zeigen sein wird. Das landwirtschaftlich nutzbare Land verteilte sich zu etwa gleichen Teilen auf Ackerfläche (26,4 %), Wiesen (27,4 %) und Wald (24,1 °/o). Dazu kamen noch Hof- und Gartenland (2,1 %) sowie Weide, Ödland, Gestrüpp und Holzschläge (20 %)7. Man wirtschaftete fast ausschließlich nach dem Drei-Felder-Prinzip, und angebaut wurde vor allem Winterroggen, Hafer, Gerste, Kartoffeln, Erbsen, Buchweizen und Flachs8. Von Hafer und Flachs abgesehen, reichte das Produzierte nicht einmal, um den heimischen Tverer Markt zu befriedigen. Fast die Hälfte der Tverer Dorfbevölkerung mußte Mehl hinzukaufen, im Durchschnitt hatte man am selbstgebauten Getreide nur acht Monate. Aber was sagen dabei schon Durchschnittszahlen? Viele ärmere Bauern waren bereits im Winter mit ihren Vorräten am Ende; die Nachfrage wuchs und die Preise stiegen. Wieder einmal herrschte in den klimatisch ungünstigen Regionen, im Westen und Norden, der größte Notstand. Um die Nahrungsmittel zu bezahlen, mußte hinzuverdient werden. Die Glücklicheren taten dies vor Ort als Schuster oder Schmied, Tischler oder Böttcher, Töpfer oder Kürschner. Fast überall war die Leinenweberei verbreitet, besonders unter der weiblichen Bevölkerung; mehr als 20 Millionen Meter Stoff wurden jährlich gewebt, die Hälfte für den Verkauf. Aber längst nicht für alle hatte das Dorf Arbeit. Hunderttausende verließen es jährlich, um anderswo ihr Zubrot zu verdienen, und die Tendenz war im Steigen: 1899 wurden von den Lokalverwaltungen für

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380.000 Menschen .Pässe', Erlaubnisscheine zum Verlassen des Dorfes, ausgestellt; mehr als ein Fünftel der Bevölkerung war unterwegs. Manche gingen nur bis Tver', die meisten weiter, in die Hauptstadt oder nach Moskau, um sich als Fabrikarbeiter, Eisenbahner oder Hausknecht zu verdingen. Tverer Schuster, Zimmerleute, Ofensetzer, Dachdeckerund Maler waren über die Gouvernementsgrenzen hinaus bekannt und geschätzt. 1890 lebtenüber 100.000Tverer in Petersburg, was 11% der dortigen Bevölkerung und 40% der Tverer Wanderarbeiter ausmachte 9 . Sie schickten, was sie verdienten, nach Hause, kehrten mehr oder minder regelmäßig dorthin zurück und gaben ihre Parzellen auch dann nicht auf, wenn die Aufenthalte im Dorf immer kürzer und die Perioden dazwischen immer länger wurden. Die vollständige Integration der Wanderarbeiterin die Stadtbevölkerung unterblieb 10 . Das hatte mehrere Gründe: Es lag an der Agrarverfassung, am Staat, der sie stützte, und an den Bauern, die hartnäckig an ihr festhielten, auch als der Staat seine Politik revidierte.

2.

Die gescheiterte staatliche Agrarreform

In den Dörfern Zentralrußlands hatten die Bauern — bei der Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 — den ihnen zugesprochenen Grund und Boden nicht als Individual- und Privateigentum erhalten. Das Land wurde der,Gemeinde' (obscina) übereignet, die zugleich kollektiv für die Entschädigung der vormaligen Grundbesitzer und die an den Staat zu leistenden Steuern und Abgaben haftete. Die Gemeinde wies den Höfen einen .Bodenanteil' (nadel) zu und verteilte mit dem Boden auch die Lasten. Die Bauern bebauten ihren Anteil .individuell' — bis zur nächsten Neuverteilung des Bodens. Wann eine .Umverteilung' (peredel) nötig wurde, bestimmte die obscina, und sie legte auch deren Verfahren fest. Das Baltikum, Weißrußland, die Ukraine und Russisch-Polen blieben von diesen Regelungen ausgenommen. Hier, wo schon vor der Reform Erbbesitz und,Hofverfassung' (podvornoevladenie) verbreitet gewesen waren, blieben sie auch nach 1861 erhalten 1 . Die Dörfer des Tverer Gouvernements hatten um die Jahrhundertwende fast ausschließlich die obscina-Verfassung 2 . Nur Haus und Hof waren vererbbares Individualeigentum, die Wälder und Weiden, die Äcker und Wiesen gehörten der Gemeinde. Wald und Weide standen als Allmende allen offen. Äcker und Wiesen waren an die Bauernhöfe verteilt und wechselten von Zeit zu Zeit den Besitzer. Zwischen 1861 und

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der Jahrhundertwende hatten drei von vier Tverer Dörfern zumindest einmal umverteilt, manche auch zweimal und öfter 3 . Nach dem Prinzip der Drei-Felder-Wirtschaft war die Ackerflur in drei Gewanne oder .Lagen' (jarusy) gegliedert: das Winterfeld, die Brache und das Sommerfeld. Innerhalb der Lagen unterschied man nach Bodenrelief und -güte einzelne Abschnitte oder .Lose' (zereb'ja, os'minniki, gony). Die Lose wiederum bestanden aus parallel laufenden schmalen .Bodenstreifen' (polosy). Wieviele Bodenstreifen in jedem Abschnitt jedem Hof zugesprochen wurden, hing von der Größe der Familie ab, von der Anzahl der Esser, der männlichen Arbeitskräfte oder beidem (wie bei der Verteilung nach .Revisionsseelen'). Änderte sich zwischenzeitlich die Fámiliengröße, so konnten bis zur nächsten großen Neuverteilung Teilanpassungen (skidki/nakidki, Abzüge/Zuschläge) vorgenommen werden. Das Grundmuster dieses — nur in der Beschreibung komplizierten - Verfahrens reichte weit in die Zeit vor der Großen Reform zurück, und sein UrsprungwarschonunterdenZeitgenossenumstritten.SinnundZweck bestanden offenkundig darin, die beschränkten Ressourcen dem steten Wandel der dörflichen Produktivkräfte und familiären Konsumbedürfnisse anzupassen. Es sei dahingestellt, ob — was sich im übrigen nicht ausschließt - die Prozedur als autonome Form bäuerlicher Subsistenzsicherung im Ubergang zur Dreifelderwirtschaft oder als Teil grundherrschaftlicher Verhältnisse entstanden war: der Staat wußte die Gemeindeverfassung nach 1861 fur seine eigenen, fiskalischen Belange zu nutzen und bewies ihre flexible Funktionalität 4 . Jeder Versuch, den Boden gleichmäßig und gerecht zu verteilen, stand im Tverer Gouvernement vor erheblichen Schwierigkeiten. Zwar galt allgemein : Boden ist nicht gleich Boden und Feld nicht gleich Feld; und auch anderswo kannten die Bauern aus langer Erfahrung die Unterschiede und wußten selbst um die Nuancen. Hier aber kam mehreres zusammen: Hunderte von Seen und Flüssen zergliederten und zerfaserten die Landschaft. Die westliche Landeshälfte war ein hügeliges, welliges Auf und Ab. Doch nicht nur hier, auch im Osten wechselte die Bodengüte häufig schon auf kleinstem Raum. Oft verteilte sich die Saatfläche einer Gemeinde auf mehrere Flurschläge; dann war auch die Entfernung der Schläge zum Dorf zu berücksichtigen 5 . Je gerechter die Prozedur, desto kleiner wurden die Ein- und Unterteilungen. Und je mehr Abschnitte oder Lose gleicher Nutzungsgüte man aussonderte, desto schmaler wurden die Bodenstreifen in ihnen. Mit der ihr eigenen sozialen Logik führte die obScina- Verfassung in Tver' - naturbedingt, naturgedrungen zur Bodenzersplitterung. Besonders schlimm war es im Nordwesten: Hier hatte ein Hof durchschnittlich 50 bis 60 voneinander getrennte Bo-

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II. Schauplatz und Vorgeschichte

denstreifen, und Höfe mit über 100 Parzellen waren keine Seltenheit. Entsprechend klein war der Umfang der Streifen; sie hatten 200 bis 400 m 2 , nicht mehr. Nach Süden und Südosten zu waren die Verhältnisse besser; doch auch hier hatte ein Hof immer noch 40 bis 45 Parzellen. Und da die Dörfer größer waren als im Nordwesten, wuchs die Entfernung zwischen Hof und Feld und machte teilweise die Vorteile wieder wett, die sich aus der geringeren Bodenzersplitterung ergaben 6 . Nur im äußersten Süden des Tverer Gouvernements, dort wo es ans Gouvernement von Moskau stieß, sank die Zahl der Parzellen pro Hof auf unter 40. Wie ein Blick jenseits der Gouvernementsgrenzen zeigte, setzte sich der Trend dort fort: Je weiter man nach Süden ging, desto größer wurden die Felder und ihre Zahl pro Hof sank. Im Moskauer Gebiet waren die Verhältnisse besser als in Tver', und in Rjazan' besser als in Moskau 7 . Verließ man die Mischwaldzone und stieß in die südlich angrenzende flache, fruchtbare Steppe vor, so ließen sich die Unterschiede mit Händen greifen: Im Süden und Südosten, von der Ukraine bis zur mittleren Wolga, hatten drei Viertel der Bauern höchstens 5 bis 10 oder noch weniger Bodenstreifen, ganz abgesehen davon, daß der Boden ertragreicher und der Umfang der Ackerfläche pro Hof in aller Regel größer war als im Zentrum oder Nordwesten 8 . Nur wenige Siedlungen im Tverer Gouvernement hatten eine ähnlich günstige Bodenstruktur. 50,60 und mehr voneinander getrennte Parzellen waren nicht zu bewirtschaften, und so ließ man die kleinsten, am weitesten entfernten oder am wenigsten ertragreichen brach liegen 9 . Was hinzukam: Die einzelnen Gewanne waren durch Zufahrtswege getrennt, und zwischen den Bodenstreifen lagen Raine oder Furchen, die nicht angesät werden konnten 10 . Und da im Turnus der Dreifelderwirtschaft ein Teil der Äcker ohnehin unbestellt blieb, verkleinerte sich die bäuerliche Saatfläche noch einmal. Bodenknappheit war die Folge. Die Tverer Bauern hatten 1861 nur etwa 50 °/o der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche erhalten, 40 °/o behielt der Adel, und der Rest verteilte sich auf Staat, Krone und Kirche 11 . Es ist schwierig zu sagen, ob die Bauernanteile von Anfang an nicht reichten, um die Familien zu ernähren und die hohen Loskaufgelder zu bezahlen, mit denen sich die Gutsbesitzer neben dem Nutzwert des Bodens auch die daran gebundenen Dienste und Abgaben ablösen ließen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (von 1851 bis 1897) war die Tverer Bevölkerung jedoch um mehr als ein Drittel gewachsen und der Ruf nach mehr Land allerorts unüberhörbar 12 . Die Nachfrage ließ den Preis pro Hektar Land auf das Zwei- bis Dreifache emporschnellen, ohne daß dieser Steigerung noch ein Zuwachs an Flächenproduktivität entsprochen hätte. Zwischen den

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60er Jahren und der Jahrhundertwende kauften die Bauern im Tverer Gouvernement (als Gemeinde, zu mehreren und als Einzelpersonen) über eine Million Hektar Land, vor allem vom Adel - zur Hälfte auf Pump und um den Preis weiterer Verschuldung 13 . Mit am meisten bot man für Wald und fruchtbare Wiesen, vor allem dort, wo die Bauern die Befreiung aus der Leibeigenschaft mit dem freien Zugang zu Wald, Wiese und Weide bezahlt hatten. Trotz der Zukäufe und einer bedeutenden Erweiterung der bäuerlichen Saatfläche war Ende desJahrhunderts noch immer der Großteil der Wälder und Weiden in nichtbäuerlicher Hand 14 . Und daß die bäuerliche Saatfläche nicht reichte und ein immer größerer Teil der Tverer Landbevölkerung im Nebenerwerb hinzu verdienen mußte, zur Ernährung der Familie und zur Erhaltung von Haus und Hof, wurde bereits ausgeführt. Wer diese bedrängte Enge verlassen wollte, stand vor einem Wald von Schwierigkeiten. Die Bauernbefreiung hatte die Schollenpflicht nicht beseitigt, sondern nur die alte Form, die Bindung an den gutsherrlichen Boden, durch die Einbindung in den Dorfverband und in die Familienwirtschaft ersetzt. Zwar war die Loslösung aus der Gemeinde rechtlich möglich, aber als erst die Ablösezahlungen, für die die Gemeinden kollektiv hafteten, angelaufen waren, wurden die administrativen, wirtschaftlichen und sozialen Hürden in aller Regel unübersteigbar. Das verbriefte Recht stand nur mehr auf dem Papier 15 . So war, wer seinen Boden nur mehr als Bürde sah, rechtlich verpflichtet, bevor er Haus und Hof verkaufen oder niederreißen und das Land der Gemeinde zurückgeben konnte, die Hälfte der darauf lastenden Ablöseschuld im voraus zu bezahlen. Welcher Tverer Bauer konnte das schon? Außerdem: Wie wollte man die bereits geleisteten Zahlungen und die Restschuld nach mehreren Umverteilungen noch genau bestimmen? Dabei ging (seit 1893) nichts ohne Zustimmung der Gemeinde selbst, die mit Verweigerung des .Passes' verhindern konnte, daß sich ein Gemeindemitglied im Überdruß von seinem verschuldeten Häuschen und aus der gemeinsamen Verantwortung hinwegstahl : Denn einen Paß brauchte jeder, der das Dorfverließ, ganz gleichwie lange und wie weit er weg wollte. Wer im übrigen den eingegangenen Verpflichtungen nicht nachkam, konnte von der Gemeinde mit Zwangsarbeit zur Vernunft gebracht werden. Auch wer sich mit seinem Bodenanteil separieren wollte — sei es um ihn später zu verkaufen oder als Individualwirtschaft weiterzuführen - , stand vor nicht geringeren Problemen : Er hatte die gesamte Ablösesumme im voraus zu begleichen, bevor er von der Gemeinde verlangen konnte, daß seine einzelnen Bodenstreifen zu einem Terrain zusam-

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mengelegt wurden. Die Gemeinde hatte dann diesem Wunsch „soweit als möglich" nachzukommen 16 . Im Tverer Gouvernement ging bis zur Jahrhundertwende nur eine verschwindende Minderheit der Bauern diesen Weg in die Einzelwirtschaft 17 . Von den rechtlichen Bindungen an die Gemeinde war nicht nur der Bauer selbst, sondern auch seine Familie betroffen: Die Bodenstreifen wurden (nach Arbeitskräften und Essern) dem Hof als Ganzem zugeteilt, und wer Bodenanteile hatte, mußte auch die darauf lastenden Verpflichtungen tragen, selbst wenn sie - im Extremfall - den Ertragswert des Bodens überstiegen. Und ein Hausvater, der seinen minderjährigen Söhnen die Erlaubnis gab, dem Dorf für immer den Rücken zu kehren, mußte damit rechnen, bei der nächsten Bodenrevision weniger Anteile zu erhalten. Ein Ausweg aus dem Dilemma waren Handwerk und Wanderarbeit: Sie brachten zusätzliche Einkünfte in die Haushaltskasse, ohne daß dabei Bodenansprüche aufgegeben werden mußten. Die Unzufriedenheit der Bauern mit ihrer Lage brach sich 1902 Bahn, in der östlichen Ukraine formierte sich zuerst der Widerstand: Binnen kurzem standen in den Gouvernements von Poltava und Char'kov mehr als 160 Ortschaften in hellem Aufruhr, einige Dutzend Gutshöfe gingen in Flammen auf 18 . Drei Jahre später, im Frühjahr 1905, als der Konflikt mit Japan der Regierung die Hände band und das militärische Debakel in Fernost absehbar wurde, wiederholten sich die Ereignisse im nördlich angrenzenden Gouvernement von Kursk 19 . Von hier griffen die Unruhen rasch auf das ganze südrussische Schwarzerdegebiet über und erfaßten im Verlauf des Sommers den Westen bis hinauf zum Baltikum. Auch jenseits des Kaukasus, in Georgien, revoltierten die Bauern. Kaum hatte sich die Lage im Herbst etwas beruhigt, brach die Bewegung gegen Ende desJahres erneut los, heftiger als zuvorund von Arbeiterstreiks begleitet, die nicht mehr nur ökonomische, sondern politische Ziele verfolgten und im Moskauer Dezemberaufstand gipfelten. Das Zentrum der Bauernrevolten lag nun an der mittleren Wolga; doch der Funke sprang über, und der schwelende Konflikt verwandelte sich erneut in einen revolutionären Flächenbrand. Er erfaßte den ganzen Süden von Bessarabien bis zum Ural, den Kaukasus, den Westen und die baltischen Provinzen. Besonders gewalttätig waren die Auseinandersetzungen im Gouvernement von Saratov. Hier—am Mittellauf der Wolga - zogen bewaffnete Bauernhorden, manchmal mehrere Hundert Mann stark, sengend und brennend durchs Land; sie jagten die Gutsbesitzer von den Höfen, verteilten die Habe und machten die Häuser dem Erdboden gleich — in der Hoffnung, eine Rückkehr für immer verhindert zu haben 20 . Wo sich

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Polizei und staatliche Amtsträger in den Weg stellten, wurden sie vertrieben. Exzesse und Plünderungen gab es nicht nur in Saratov, sondern vielerorts. Im Winter und Frühjahr ließ der Druck nach, doch im Sommer 1906 gingen die Bauern erneut zur Attacke über, und die Zahl der Agrarunruhen überstieg noch die Marke des Vorjahres. Erst allmählich gelang es der zarischen Regierung, die Initiative an sich zu reißen, und — nach einem letzten Aufbäumen im Sommer 1907 - die Agrarbewegung mit Militär, Polizei und Terrorjustiz vorerst zu ersticken 21 . Auch das Tverer Gouvernement hatte in denjahren 1905 bis 1907 seine Agrarunruhen, nur waren die Formen der Auseinandersetzung weniger heftig und gewalttätig als im Süden: Zu Akten blinder Wut kam es nur vereinzelt. Meist begnügte man sich mit den einfacheren Formen des Protestes : Die Bauern verweigerten dem Staat die Steuern und Abgaben und stellten die Zahlung der Loskaufgelder ein. Sie holten Holz aus dem Wald, der ihnen nicht gehörte, und Heu von den herrschaftlichen Wiesen. Sie nahmen dem Gutsherrn Ackerland weg oder drohten zumindest, es zu tun. Und sie hinderten die Gutsarbeiter an der Ausübung ihrer Tätigkeit mit der Forderung, der feine Herr solle seine Arbeit selbst machen. Mitunter trieb man auch das Vieh auf fremde Weiden und machte dafür ältere Besitztitel geltend: Erst durch die .Bauernbefreiung' habe man dieses Land verloren 22 . An den Aktionen, so gaben staatliche und halbstaatliche Beobachter übereinstimmend zu Protokoll, waren meist nur die Ortsbauern selbst beteiligt, niemand von außen; allenfalls konnte ein bäuerlicher .Pendler* als Rädelsführer füngieren, doch auch das war — soweit die spärlichen Quellen Schlüsse zulassen — keineswegs die Regel23. Daß dem Einfluß der unruhigen Arbeiterschaft keine entscheidende Bedeutung zukam, und der Agitation der sozialistischen Parteien schon gar nicht, galt nicht nur fürs Tverer Gouvernement, sondern für weite Teile des Landes. Und auch in der Frage nach den Gründen der Arbeiterunruhen waren sich die Tverer Bauern mit dem Rest Rußlands im wesentlichen einig: Es lag, von lokalen Mißernten abgesehen, daran, daß die Bauern zu wenig Land hatten; ihnen fehlten vor allem Wiesen, Weiden, Wald 24 . Die Agrarunruhen hatten die zarische Autokratie im Innersten getroffen und die Gesellschaft, auf der sie ruhte, als brüchig erwiesen. Unter dem Druck der Ereignisse revidierte die Staatsführung noch in den Krisenjahren 1905/06 ihre bisherigen Grundpositionen und konzipierte Schritt für Schritt die Aufgaben und Ziele der Agrarpolitik neu. Wer bislang die obscina als Faktor sozialer und politischer Stabilität gesehen hatte, war durch den Gang der Ereignisse widerlegt. Die Fakten gaben eher den Gegnern recht, schon 1902waren die Unruhen in Gebieten aus-

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gebrochen, in denen der Gemeindebesitz vorherrschte 25 , und 1905/07 war es nicht anders. Die Institution sollte daher fallen und nicht weiter die Bildung leistungs- und konkurrenzfähiger Einzelwirtschaften behindern; auf sie wollte der Staat künftig setzen. Die Solidarhaftung der obscina war schon 1903 aufgehoben worden, 1905 wurden auch die verhaßten Ablösezahlungen abgeschafft. Seit Herbst 1906 konnte jeder Bauer seine Parzellen als Privateigentum registrieren.lassen, ohne die Gemeinde zu fragen; sein Anrecht auf Nutzung der Gemeindeweiden, -wiesen und -wälder blieb davon unberührt. Auch wenn der Bauer zum Zeitpunkt der Separierung mehr besaß, als seinem Familienstand entsprach, mußte die Gemeinde ihn ziehen lassen; und für die überzähligen Bodenanteile konnte sie nur dann eine Entschädigung verlangen, wenn der Zeitpunkt der letzten großen Umverteilung nicht länger als 24 Jahre zurücklag. Dabei blieb die Entschädigung in j edem Falle weit unter dem Marktwert. Mit dem Eigentumstitel erwarb der Bauer die freie Verfugung über den Boden, und das Mitspracherecht der Familie entfiel. Der ,Hof (dvor), bisher Produktions- und Haftungsgemeinschaft in einem und Zelle des obscina, sollte als Rechtsinstitut mit ihr verschwinden 26 . Seit 1906 konnten die Bauern von der Gemeinde auch verlangen, daß ihre verstreuten Parzellen zu einem Areal zusammengelegt wurden. Nur so war in der Tat eine intensivere Bodennutzung möglich. War der Bauer noch Gemeindemitglied, mußte er bis zur nächsten großen Umverteilung warten. War er bereits Eigentümer, war die Gemeinde verpflichtet, seinem Wunsch jeder Zeit nachzukommen oder ihn monetär zu entschädigen. Nach 1910/11 verschärfte die Regierung die Bestimmungen : Wer die Konsolidierung seines Bodenbesitzes wollte, mußte nicht mehr auf die Gemeinde und die nächste Umverteilung warten. Er trug sein Anliegen der örtlichen, staatlichen eingesetzten Landregulierungskommission vor, die über seinen Antrag entschied. Um den langsamen Auflösungsprozeß der obscina zu forcieren, erklärte man im Sommer 1910 kurzer Hand und per Gesetz alle Gemeinden für aufgelöst, die seit 1893 nicht umverteilt hatten; gleichzeitig begann man den neuen Eigentümern entsprechende Zertifikate auszustellen 27 . Beinahe um jeden Preis, mit Versprechungen, administrativem Druck und gesetzlichem Zwang betrieb die Regierung nach 1906 die Auflösung des alten dörflichen Sozialgefüges. Aus seinen Trümmern sollte — so die Vision des neuen Ministerpräsidenten Stolypin — ein russischer Bauer neuen Typs entstehen, der befreit von den Fesseln der obscina, mit neuem Mut an die Arbeit ging und der danach strebte, sich im System freier Konkurrenz zu behaupten, seine Produktion zu steigern und seinen Besitz zu erweitern. Wer zu schwach war, um als Landwirt zu über-

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leben, konnte — so die Konzeption der staatlichen Agrarpolitik - immer noch seine Bodenanteile verkaufen und mit dem erworbenen Kapital in der Stadt eine neue Existenz suchen; und wer in seiner alten Heimat nicht genügend Land fand, aber Bauer bleiben wollte, konnte sich nach Sibirien umsiedeln lassen. Ihnen allen sollte die Bauernbank als Partner und Kreditgeber unter die Arme greifen. Das Gros der Bauern reagierte auf die neuen Reformgesetze mit Enttäuschung und Verbitterung. Sie hatten zusätzliches Land gewollt und erwartet, Land von den Gutsbesitzern und dem Staat, der Krone und der Kirche. Nun gab man ihnen - aus ihrer Sicht—das bloße Eigentumsrecht an dem, was sie schon besaßen, verbunden mit einer unsicheren Zukunft. Die obscina ließ alle leben, auch die ärmeren Bauern, so war der Grundtenor vieler Äußerungen; was aber, wenn sich das neue System wie eine .ansteckende Krankheit' verbreitete 28 ? Der aktive und passive Widerstand der Bauern zeigte, daß die Gemeinde mehr zusammenhielt als ihre Funktion im Rahmen staatlicher Fiskalpolitik. Auch wo man lange nicht umverteilt hatte, war die obscina nicht, wie die Regierung meinte, .zerfallen'. Der staatliche Kampf gegen die Gemeinde einte sie, belebte längst vergessene Traditionen neu. Nur im Westen, wo die Gemeindeuhren seit langem anders gingen, scheint die Stolypinsche Agrarpolitik auf breitere Zustimmung gestoßen zu sein. In Zentralrußland dagegen hatte ein Bauer, der den Wunsch äußerte, aus der obscina auszuscheiden, den Rest des Dorfes gegen sich. Der Reichere und Ehrgeizige, der sich vom Austritt aus der obscina ein schnelleres Fortkommen versprach, galt als asozialer Separatist; doch das war nur eine Minderheit. Der Großteil des Antragsteller wollte sich .zusätzliche' Bodenstreifen sichern; aus Furcht, die Parzellen bei der nächsten Umverteilung zu verlieren, ließ er sie flugs als Eigentum registrieren 29 . Das Dorf antwortete massiv mit Beschimpfungen und Drohungen, mit dem Ausschluß aus der Dorfversammlung, mit dem Verbot, die Gemeindewege und -wiesen zu benutzen und Wasser aus dem Dorfbrunnen zu schöpfen. Spätestens wenn man dem .Stolypinbauern' den Roten Hahn aufs Strohdach setzte, rief die Auseinandersetzung zwischen den Wenigen und der bäuerlichen Masse die zarischen Behörden auf den Plan, und sie demonstrierten mit Gegenterror, daß der einzelne Bauer in der Wahrnehmung seiner neuen, staatlich garantierten Rechte nicht von den Beschlüssen der Dorfversammlung abhängig war 30 . Die Veröffentlichung von Zahlen über den .Zerfall der obscina' war Teil der Kampagne. Die Verläßlichkeit der Angaben ist umstritten, nur eine genauere Analyse gibt Auskunft über die tatsächlichen Verhältnisse vor Ort 31 . Sie zeigt, daß die vorzeigbaren Resultate der Regierungs-

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politik trotz großem Aufwand bescheiden blieben. Die Tverer Entwicklung ist dafür ein gutes Beispiel. In Tver' lebten 1905 noch immer 99 °/o der Bauern in der obscina. Zehn Jahre später hatten knapp 50.000 Höfe (am 1. Mai 1915:47.053) ihre Bodenanteile als Individualeigentum registrieren lassen; das waren 15,7 % der Wirtschaften und 12,8 °/o des obscina-Landes 32 . Ob die Registrierung freiwillig oder mit administrativem Zwang zustande gekommen war, sei dahingestellt. In knapp der Hälfte der Fälle änderte sie jedenfalls nichts an der bisherigen Wirtschaftsweise: Die winzigen Parzellen blieben in Gemengelage mit den Bodenstreifen der Gemeinde und machten wie vorher eine Absprache und Einigung über Saatfolge und Ernte nötig. Auch die Wälder und Weiden blieben ungeteilt. Nur bei den übrigen Antragstellern (es waren nach der Statistik 26.586) folgte der Registrierung als Eigentum eine Flurbereinigung. Die verstreuten Bodenstreifen wurden zu einigen wenigen großen Feldern zusammengelegt 33 . Meist ging dabei das ganze Dorf geschlossen zur neuen Bodennutzungsform über. Haus und Hof der neuen Einzelbauern (otrub, PI. otruba) blieben am alten Fleck und das Dorf als Siedlungsgemeinschaft erhalten. Nur in ganz wenigen Fällen verließen Bauern als ,Aussiedler' (chutora) die Siedlungsgemeinschaft des Dorfes, um sich mitsamt dem Hof weit außerhalb inmitten ihrer Felder neu niederzulassen 34 . Rechnet man zusammen und nimmt dabei an, daß es im Tverer Gouvernement 1915 ca. 336.000 Bauernhöfe gab, so machten die knapp 27.000 chutor- und otrub-Bauern nur 8 °/o aus; und ihre Acker umfaßten 10 % des ehemaligen obscina-Landes 35 . Was sich in diesen Zahlen noch als — wenn auch schmale — Erfolgsbilanz ausnimmt, zerfallt in sich, betrachtet man die Resultate der Reformpolitik genauer und vergleicht sie mit ihrem Anspruch. Die Schaffung einer neuen Schicht leistungs- und konkurrenzfähiger Mittelbauern war in Tver' mißlungen : Zwischen den alten obscina-Bauern und den neuen otrub-Bauern gab es keine entscheidenden sozialen und ökonomischen Unterschiede (die wenigen chutor-Bauern fielen statistisch nicht ins Gewicht) 36 . Weder war ihre Wirtschaft größer, wenn man Saatfläche, Vieh und Arbeitskräfte als Indikator nahm, noch intensiver, wenn man das Ackerland zum Gesamtland in Beziehung setzte. Nicht einmal ein Graben der Bildung trennte den otrub-vom alten Gemeindebauern; die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben war bei beiden gleich hoch (oder besser: gleich niedrig) entwickelt: drei Viertel der Männer waren Analphabeten 37 . Auch bei den neuen Einzelbauern blieb — so ist der Agrarstatistik zu entnehmen — ein nicht unerheblicher Anteil des Gesamtlandes unverteilt und in Gemeinschaftsbesitz (vor allem die

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Weide und der Wald). Dies alles zeigt, daß die Übergänge zwischen Einzelhof- und obscina-Verfassung fließend waren und unter neuem Namen vielfach Altes fortbestand. Was auf Seiten der otrub-Bauern tatsächlich positiv zu Buche schlug, war die Flurbereinigung, die Zusammenlegung der schmalen Bodenstreifen zu größeren Feldern. Flurbereinigung setzte aber nicht notwendig Individualeigentum voraus, sie war mit Erfolg auch innerhalb der Gemeindeverfassung möglich, wie die Praxis bewies. Bevorzugten die Landkommissionen bei der Durchführung die Einzelbauern, so war dies politisch, nicht sachlich begründet 38 . Negativ wie in Tver' war die Bilanz der Reformpolitik auch in den nördlich, östlich und südlich angrenzenden Gouvernements, im ganzen Zentralen Industrierajon um Moskau. Problematisch war sie weit darüber hinaus. Die Praxis hinkte allgemein den Erfolgszahlen der Regierung hinterher; der Widerstand der Bauern blieb heftig und die obscina stark, auch dort, wo — wie im Süden und Südosten Rußlands - mehr Bauern aus der obscina austraten als im Tverer Gouvernement. Offenkundig konnten und wollten die Bauern nicht die Risiken auf sich nehmen, die eine Einzelwirtschaft mit sich brachte. Die Ärmsten der Armen empfanden die Reformpolitik am meisten als Bedrohung; sie sahen ihre Subsistenz gefährdet, wenn sie Erfolg hatte. Die Möglichkeit, wenn die Landwirtschaft nicht lohnte, den Besitz zu verkaufen und anderswo neu zu beginnen, war aus ihrer Sicht keine gangbare Alternative. Sie fürchteten, mit Haus und Hof ihr einziges Kapital und mit der obscina und dem Anspruch auf Gemeindeland die letzte Sicherheit, die sie hatten, zu verlieren 39 . Wo das Dorf dem Drängen Einzelner und dem Druck der Administration nachgab und man gemeinsam die obscina begrub, kam, wie das Tverer Beispiel zeigte, nur selten heraus, was die Regierung wünschte: eine Gruppe arrondierter, leistungsfähiger und voneinander unabhängiger Farmbetriebe. Wo Bauern aber als Einzelne und gegen den Willen der Allgemeinheit die obscina verließen, wie dies häufig im Süden und Südosten geschah, riskierten sie den Bruch und Dauerkonflikt, was wiederum ein gedeihliches Fortkommen sehr erschwerte. 1907, als die Agrarunruhen bereits den Höhepunkt überschritten hatten und die künftige Agrarpolitik der Regierung sich in Umrissen abzuzeichnen begann, wurde im Tverer Gouvernement ein Angestellter der ländlichen Selbstverwaltung gefragt, ob sich die Stimmung innerhalb der Bauernschaft geändert habe. Er antwortete mit Nein, die Bauern hätten ihr Ziel,mehr Land' nicht aufgegeben 40 . Die Reformpolitik hat während des nächsten Jahrzehnts im Dorf viel bewegt, aber kein Problem gelöst, und unverändert blieb auch die Forderung der Bauern nach ,mehr Land'.

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Die Revolution der Bauern

Ende Februar 1917, nach zweieinhalb Jahren Krieg, als die Lage an den Fronten immer trostloser und die Versorgung im Innern immer schlechter wurde, traten die hauptstädtischen Arbeiter in den Ausstand und stürzten die Regierung: Das eingesetzte Militär weigerte sich, auf Streikende und Demonstranten zu schießen, und Schloß sich ihnen an. Der Autokratie waren die Zügel der Macht aus den Händengeglitten. ZarNikolaj II. dankte ab. Ein Parlamentsausschuß übernahm als .Provisorische Regierung' die Staatsgeschäfte. Die neue Regierung erließ eine Amnestie fur alle politischen Vergehen und bekannte sich zu den bürgerlichen Grundrechten: zur Freiheit der Rede und der Presse, zur Vereins- und Versammlungsfreiheit, zum Streikrecht und zur Abschaffung aller Standesprivilegien. Die lokalen Selbstverwaltungen, die Stadtparlamente und die ländlichen zemstvaOrganisationen, sollten in allgemeiner, gleicher, direkter und geheimer Abstimmung neu gewählt werden. In allen Gouvernements sollte ein Regierungskommissar den amtierenden Gouverneur ablösen und eine Volksmiliz mit gewählter Führung an die Stelle der alten Polizei treten. Alle Maßnahmen waren als Ubergangslösung gedacht, bis die Konstituante, eine frei und demokratisch gewählte verfassungsgebende Versammlung, zusammentrat und über die künftige Staatsform entschied. Ihr sollte auch die endgültige Regelung der Agrarfrage vorbehalten bleiben. Das Programm der Provisorischen Regierung fand die Zustimmung aller politischen Parteien, von der extremen Rechten und der extremen Linken abgesehen. Es wurde von den ,Räten' (russisch sovety, eingedeutscht Sowjets) unterstützt, die sich nach dem Zusammenbruch der Autokratie in Fabriken und Garnisonen gebildet hatten und als Interessenvertretung und Selbstverwaltung der Arbeiter und Soldaten zunehmend an Bedeutung gewannen 1 . Als die Kunde von den Vorgängen in der Hauptstadt Anfang März nach Tver' drang, brachten revoltierende Soldaten den Gouverneurum. Das Stadtparlament, die Stadtduma, bildete aus Mitgliedern der Selbstverwaltung einen provisorischen Ausschuß; auch Repräsentanten des öffentlichen Lebens sowie Vertreter der Arbeiter und Soldaten wurden hinzugezogen. Der Ausschuß nannte sich stolz ,Tverer Provisorisches Gouvernementsexekutivkomitee', unterstellte die neue Volksmiliz seiner Leitung und teilte der Provisorischen Regierung in Petrograd mit, sie solle keinen neuen Gouverneur oder Regierungskommissar schicken: Wenn man in Tver' einen brauche, werde man ihn wählen und der Regierung vom Ergebnis Mitteilung machen 2 . Nach dem Vorbild der Haupt-

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Stadt bildete sich auch in Tver' ein Arbeiterrat und - getrennt davon ein Rat der Militärdeputierten; in ihm saßen die Vertreter der Garnison, Soldaten und Offiziere. Noch in der ersten Märzwoche war die organisatorische Neugliederung der Gouvernementsspitze abgeschlossen. Den 7. März rief der Arbeiterrat zum Feiertag aus: Die,Opfer der Revolution' wurden begraben, ein Soldat, der einem Offizier die Ehrenbezeugung verweigert hatte und von diesem erschossen worden war 3 . Unterhalb der Gouvernementsebene, in den Landkreisen (uezdy), vollzog sich die Machtübernahme ähnlich: Die jeweiligen Stadtparlamente und zemstva-Organisationen bildeten provisorische Kreisexekutivkomitees und kündigten die demokratische Neuwahl der Volksvertretungen an. Wo es größere Fabriken gab, entstanden Arbeiterausschüsse, -komitees oder -räte, und in den Garnisonen wurden Soldatenvertretungen gewählt 4 . Unterhalb der Landkreise, in den ländlichen Amtsbezirken (volosti), wurden die adeligen Bezirkshauptleute (zemskie nacal'niki) abgeschafft, so wie es die Provisorische Regierung angekündigt hatte; auch auf dieser Ebene sollten zemstva-Organisationen entstehen und die bäuerliche Selbstverwaltung verwirklichen. Als Übergangslösung wurden volost'-Komitees gebildet 5 . Gleichzeitig bemühten sich Gouvernementsexekutivkomitees und Tverer Arbeiterrat um die Organisation bäuerlicher Interessenvertretungen: Bei der Tverer Genossenschaftszentrale wurde eine Kommission zur Bildung von ,Bauernräten' eingerichtet 6 . Die Bauern aber hatten offenbar andere Sorgen und ihre eigene Vorstellung von der Revolution. Davon zeugen die zahlreichen überlieferten Lokalnachrichten, Zeitungsmeldungen, Beschwerden und Polizeiberichte 7 . Zur Kennzeichnung der Lage seien einige Beispiele hier angeführt. Gerüchte über den Sturz der Regierung, die Abdankung des Zaren und die Ermordung des Gouverneurs erreichten das Dorf schon Anfang März. Doch klüger geworden durch die polizeilichen Strafaktionen nach der ersten Revolution (von 1905—07), warteten die Bauern ab, bis sie Gewißheit hatten. Im April wurden nur aus drei (von zwölf) Landkreisen Bauernunruhen gemeldet. So hatten die Bauern auf den Besitzungen des Grafen Sollogub (im Bezecker Landkreis) den Verwalter und die Angesteilen verjagt und auf dem Gut Mikulino (im Staricaer Landkreis) die Äcker enteignet und die Beschäftigten entlassen. Nicht weit davon wurden Kriegsgefangene, die auf Gütern zur Feldarbeit eingesetzt waren, von den Bauern nach Hause geschickt. Im Staricaer und Ostaskover Landkreis, beide im waldreichen Westen gelegen, verhinderten die Bauern den Abtransport von Holz; es war hier in großer Menge als Brennstoff für Fabriken geschlagen worden und wartete auf die Ver-

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flößung 8 . Als ob ihr Beispiel Schule gemacht hätte, leisteten wenig später Bauern im Bezecker Landkreis Widerstand, als ein Wald, den der Fürst Mescerskij an das Handelshaus Gebrüder Gurevic verkauft hatte, gerodet werden sollte. Im Mai beschwerte sich auch die Fürstin Sachovskaja bei der neuen Regierung, die Bauern hätten die Rodung eines bereits verkauften Waldes verhindert. Die in diesem Fall eingeleiteten Nachforschungen ergaben, daß die Bauern den Wald oder einen Teil davon als eigenen, angestammten Besitz betrachteten 9 . Seit Mai/Juni häuften sich - vornehmlich im Landkreis Vysnij Volocek - die Fälle, daß Bauern Gutsbesitzerland unter den Pflug nahmen und mit der Aussaat begannen. Der Großgrundbesitzer Bazanov protestierte beider Gouvernementsleitung und forderte Abhilfe : Die Bauern hätten sein Land genommen, seine Wiesen gemäht und den Preis dafür selbst festgelegt; aus Furcht vor weiteren Repressionen habe er darauf verzichtet, selbst auszusäen, und er fände im Dorf auch keine Arbeiter mehr, die dies für ihn tun würden 10 . Im Bezecker Landkreis teilten drei Dörfer die Besitzungen eines gewissen V. Bogial'-Gonnes unter sich auf und zwangen den Verwalter, geleistete Zahlungen zurückzuerstatten 11 . Unruhe hatte bis zum Sommer alle Landkreise erfaßt, und Rechtsbrüche waren zur Massenerscheinung geworden. Im Ostaskover Landkreis machten sich mehrere Dörfer über die Besitzungen N. Protopopovs her und zwangen die Gutsverwaltung, ihren Dienst zu quittieren 12 . Im Zubcover Landkreis nahm ein volost'-Komitee, ohne lange zu fragen, dem Großgrundbesitzer Krylov das Ackerland und die Wiesen weg 13 . Im Landkreis Bezeck mähten die Bauern die Wiesen des Maria-Verkündigungs-Klosters ab, und Bauern aus den Landkreisen Bezeck und Torzok teilten sich die Wiesen und Weiden der Großgrundbesitzerin Zukova. Die Gutsarbeiter der Zukova wurden mit Gewalt daran gehindert, ihre Tätigkeit fortzusetzen, und das volost'-Komitee belegte die Eigentümerin obendrein mit Steuerauflagen; für den Fall der Zahlungsverweigerung wurden ihr Zwangsmaßnahmen angedroht 14 . Im Staricaer Landkreis konfiszierten die Bauern Wiesen und Weideland des Gutes Vrasskij, und im Gestüt Bailas erzwangen sie mit amtlicher Unterstützung, daß die Besitzerin einen Teil der Weideflächen weiterhin an Bauern verpachten mußte—um die Hälfte des bisherigen Preises 15 . ImTverer Landkreis erlaubte ein volost'-'Komitee den Bauern von Dmitrovo die Nutzung von 139 ha Kirchenland - ohne vorherige Rückfrage bei der Eigentümerin. Und die Großgrundbesitzerin Gorbatova (aus dem Landkreis Ves'egonsk) beschwerte sich beim Gouvernementsexekutivkomitee, daß die Bauern ihr Weide und Winterfeld enteignet hätten; Proteste bei den örtlichen Amtsstellen seien ergebnislos geblieben 1 6 . In einem Teil

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des Staricaer Landkreises schließlich forderten die Bauern Ende August, der Bauernrat solle nach schlechter Ernte die Überschüsse der Reichen registrieren, bevor sie nach außerhalb verkauft werden konnten; die lokalen Erntevorräte würden nur für zwei bis drei Monate reichen 17 . Die Unruhen setzten sich in den Herbstmonaten fort, wenngleich die Ubergriffe auf Ackerland und Wiesen nun etwas zurückgingen. Dafür vermehrten sich die Nachrichten über Plünderungen der Wälder. So wandte sich die Großgrundbesitzerin M. A. Sevenard aus dem Staricaer Landkreis Mitte Oktober an die Gouvernementsleitung, endlich den Raubrodungen in ihrem Wald ein Ende zu setzen, alle Eingaben an örtliche Stellen seien vergeblich gewesen 18 . An die gleiche Stelle wandte sich auch der Gutsbesitzer Sergeev: Die Bauern holten sich aus seinem Wald selbst am heilichten Tage, was sie nur tragen könnten, Klötze, Stämme, Schwellen und Wurzelstöcke, und bedrohten ihn mit Totschlag und Brandstiftung 19 . Überrascht werden diese und ähnliche Nachrichten in der Gouvernementsleitung kaum haben. Schon Anfang des Monats hatte ein Geheimschreiben vermeldet, daß die Abholzerei im Staricaer Landkreis zur Massenbewegung geworden sei und die verantwortlichen Stellen nicht die geringsten Anstalten machten, dagegen einzuschreiten 20 . In anderen Landkreisen war die Lage ähnlich, und die Aktionen richteten sich nicht allein gegen die verhaßten Großgrundbesitzer. So klagte die Verwaltung der Rjazan'-Ural-Eisenbahngesellschaft, daß die Bauern auch in ihrem Wald (im Korcevaer Landkreis) an die 2000 Bäume gefallt hätten; stelle sie Wachen auf, so drohe man dort mit Lynch-Justiz 21 . Von der allgemeinen Lage gibt die Kriminalstatistik des Ves'egonsker Landkreises für den Monat September eine Vorstellung: Sie verzeichnete 1 Mord, 20 Gewaltverbrechen (von der Körperverletzung bis zum Raub), 18 Fälle von Selbstjustiz (mit Übergriffen auf fremdes Eigentum), 8 Pferdediebstähle, 45 .normale' Diebstähle, 14 Brände (offenbar mit dem Verdacht auf Brandstiftung) und 1 Flucht aus dem Gefängnis 22 . Trotz dieser Zahlen — im ganzen überrascht die Friedfertigkeit der Tverer Entwicklung. Nachrichten über blanke, brutale Gewalt in den dörflichen Auseinandersetzungen sind selten. Anderswo — wie etwa an der mittleren Wolga - liefen die Kämpfe blutiger ab 23 , doch auch dort sollten spektakuläre Aktionen und Ereignisse nicht täuschen. Pogrome und Plünderungen, Ausbrüche blinden Hasses gegen Menschen und Sachen, machten insgesamt nur einen kleinen Teil der Bauernunruhen aus. Meist wußten die Bauern sehr genau, was sie wollten: das Nutzungsrecht an Wald, Wiesen und Weiden sowie am Ackerland, ganz gleich, ob der Boden adeligen Gutsbesitzern, dem Staat, der Kirche oder Klöstern ge-

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hörte 24 . In Tver' wie im restlichen Rußland verschob sich dabei der Schwerpunkt der Aktionen mit dem Zyklus des Wirtschaftsjahres: Im Frühjahr, noch vor der Aussaat, ging es ums Ackerland, in den Sommermonaten um die Wiesen, etwas später um die Felderfiir die Wintersaaten und im Herbst schließlich vor allem um den Wald 25 . Träger der Aktionen waren .Bauern' oder auch ,die Bauern', das Russische macht hierfür keinen Unterschied, und da die Quellen in der Regel keine weitere soziale, politische oder sonstige Differenzierung liefern, müssen wir annehmen, daß das Dorf — zumindest für die Außenstehenden - als geschlossene Gruppe auftrat. Die Bauern waren sich dabei, so scheint es, ihrer Sache und der Rechtmäßigkeit ihrer Forderungen völlig sicher. Sofern sie ihr Verhalten begründeten oder den Aktionen selbst eine Erklärung zu entnehmen ist, waren die Handlungsmaximen einfach: Das Dorf beanspruchte, was es - nach eigenem Ermessen - unmittelbar zur Befriedigung seiner Bedürfnisse brauchte: Holz für den Winter, Weide und Futter fur das Vieh, Ackerland zur Ernährung der Familie. Manchmal machte man für das umstrittene Land ältere Besitztitel geltend : Wald und Weide hätten die Bauern erst durch die Befreiung widerrechtlich verloren. In jedem Falle aber trafen die Enteignungen — in der Einschätzung der Bauern - nur denjenigen, der den Boden nicht mit seiner Hände Arbeit bebaute; der im Überfluß hatte, während die anderen hungerten oder froren; und der die Überschüsse nach auswärts verkaufte, obwohl die Vorräte im Dorf selbst nicht reichten, und der Lokalbedarf hatte ja vorrangig befriedigt zu werden. Für die Bauern machte es keinen Unterschied, ob das konfiszierte Land einem Großgrundbesitzer oder der Kirche gehörte, sie nahmen es; ob ein Privatmann oder der Staat ,ihren' Wald roden und wegschaffen ließ, sie versuchten es zu verhindern; ob russische Landarbeiter oder Kriegsgefangene dem Gutsherrn die Feldarbeit machten, sie vertrieben beide. Mit gleicher Rigorosität legten sie Pachtzinsen neu fest und konfiszierten im kommenden Winter gehortetes Getreide, um es zu einem .gerechten' Preis im Orte selbst zu verkaufen 26 . Die Gedanken der Bauern kreisten lokalistisch ums Dorf, um die obscina als Subsistenzgemeinschaft, und ortsbezogen waren auch die bäuerlichen Aktionen: Sie galten dem Gutshof in ihrer Mitte, dem angrenzenden Staatswald, den Klosterwiesen von nebenan. Lagen die Besitzungen im Grenzbereich mehrerer Dörfer, versuchte man sich mit diesen zu einigen. Dabei halfen mitunter die neugebildeten volost'-Komitees, denen die Gutsbesitzer nicht ohne Grund den Vorwurf machten, nur die Sache der Bauern zu vertreten. Die Komitees, so beschwerten sich die Betroffenen an höherer Stelle, maßten sich zugunsten der

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Bauern Entscheidungsbefugnisse an, die ihnen von Rechts wegen nicht zustünden, und Proteste seien in der Regel zwecklos. Die Zusammensetzung der Komitees mochte daher fur die Bauern noch von einiger Bedeutung sein, viel weiter als bis zu den Grenzen des Amtsbezirkes reichte das bäuerliche Interesse aber nicht. Die Fixierung des Bauern auf das Dorf und den dörflichen Lebensraum bewiesen die Neuwahlen der zemstva-Organe im Sommer und Herbst 1917. Zustände wie im Dorf Deneznoe (im Staricaer Landkreis) waren kein Einzelfall. Hier sollten am 3. September 1917 Abgeordnete fur die volost'-Verwaltung gewählt werden; doch es kamen nur wenige Bauern zur Versammlung. Die Wahlkommission beschloß daher, den Termin um fünf Tage auf den 8. September zu verschieben. Am 8. aber fehlte nicht nur ein Großteil der Bauern, sondern auch die Wahlkommission; nur ihr Vorsitzender war noch erschienen 27 . Im Rzever Landkreis, so wird berichtet, war die Beteiligung an der Wahl dervolost'-Verwaltungen sehr unterschiedlich: In guten Gegenden kamen bis zu 60 % der Wähler, in anderen nur einige wenige. Mit den Wahlen der Kreisorgane - so der Bericht weiter - gab es noch größere Probleme, sie gingen vielerorts in Fehlplanung, gänzlichem Desinteresse und allgemeinem Besäufnis unter. Auch mit der Wahl zur Konstituierenden Versammlung stand es schlecht, schon die Vorbereitungen stießen auf erhebliche Schwierigkeiten: Das Interesse der Bevölkerung sei gering und die Unkenntnis groß, so berichtete der Rzever Landkreiskommissar Mitte Oktober an die Gouvernementsleitung. Für die ordnungsgemäße Durchführung der Wahlkampagne fehlten die Leute, und als der Rzever Soldatenrat seine Agitatoren aufs flache Land schickte, wurde es nur noch schlimmer; sie vergrößerten nicht das Interesse, sondern die Verwirrung 28 . Noch vor der Wahl der alles entscheidenden Verfassungsgebenden Versammlung stürzten — Ende Oktober 1917 — die Bolschewiki in einem bewaffneten Aufstand die Provisorische Regierung. Gestützt auf den Apparat des Petrograder Arbeiter- und Soldatenrates, indemsieseit dem Herbst die Mehrheit besaßen, besetzten sie im Handstreich die strategisch wichtigen Punkte der Hauptstadt; sie ließen die Mitglieder der Regierung Kerenskij verhaften und proklamierten die Abschaffung des bürgerlichen Parlamentarismus, den Übergang der Staatsmacht an die Räte. Eine neue, rein bolschewistische Regierung, der ,Rat der Volkskommissare', wurde gebildet und tags darauf von einer gesamtrussischen Räteversammlung bestätigt. Die nächsten Schritte folgten, wie es die Partei für den Fall der Machtübernahme vorausgesagt hatte: Die Gutsbesitzer wurden enteignet, die Fabriken der Kontrolle der Arbeiter

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unterstellt, die Banken verstaatlicht. An alle Krieg fuhrenden Völker und deren Regierungen erging ein Friedensappell. Er schlug einen sofortigen Waffenstillstand vor und erklärte die Bereitschaft der neuen Staatsfiihrung, ohne Vorbedingungen in Verhandlungen für .einen gerechten und demokratischen Frieden' einzutreten. Der Rat der Volkskommissare verstand sich wie die gestürzte Regierung als Ubergangslösung, an der Einberufung der Verfassungsgebenden Versammlung wurde festgehalten. Als sie j edoch imjanuar 1918 endlich zusammentrat und die nichtbolschewistische Mehrheit der Delegierten den bestehenden Verhältnissen die Anerkennung versagte, wurde die Konstituante aufgelöst und das Provisorium zur Dauerlösung erklärt 29 . Die Petrograder Oktoberereignisse kamen für Tver' überraschend. Für einen bolschewistischen Umsturz fehlten hier die Voraussetzungen. Zwar hatte die Partei, mühsam genug, seit dem Frühjahr und Sommer Parteizellen und -komitees gebildet, doch die Mittel waren knapp und der Stab der Mitarbeiter klein 30 . Bei jeder Kampagne war die Tverer Parteiorganisation auf Hilfe von außen angewiesen 31 . Die .Intelligenzler' saßen beim sozialdemokratischen Konkurrenten, den Menschewiki, und während die anderen Parteien (Kadetten, Menschewiki und Sozialrevolutionäre) ihre eigenen Zeitungen herausgaben, hatten es die Bolschewiki trotz mehrerer Anläufe nicht einmal dazu gebracht 32 . Politischen Einfluß besaß die Partei nur dort, wo es eine starke Arbeiterschaft oder Garnison gab, vor allem in den Orten Tver', Rzev und Kimry. In anderen Städten wie Bezeck gab es keinen einzigen Bolschewiken, und auf dem flachen Land war die Partei unbekannt, so berichteten bolschewistische Agitatoren im Oktober und November 1917 ans Petrograder Zentralkomitee 33 . Mit den Räten, die die Bolschewiki zu den neuen Trägern der Staatsmacht erklärt hatten, stand es ähnlich. Räte gab es im Tverer Gouvernement von wenigen Ausnahmen abgesehen nur in den Kreisstädten. Sie unterschieden sich in ihrer sozialen Zusammensetzung und politischen Ausrichtung stark und bildeten auch organisatorisch keine Einheit. Anfangliche Versuche, sie enger zusammenzuschließen, waren im Frühjahr 1917 im Sande verlaufen, und die Zeit arbeitete nicht für, sondern gegen sie. Selbst im Tverer Stadtsowjet, dem mit 159 Deputierten größten Rat, waren die Aktivitäten im Herbst 1917 fast zum Stillstand gekommen. Er entwickelte keine eigenen Initiativen mehr, sondern begnügte sich, Vertreter in andere Entscheidungsgremien zu entsenden. Die neugewählten Selbstverwaltungsorgane, die Schlichtungskammern, die Arbeitsämter sowie die politischen Parteien hatten ihm einen Großteil der früheren politischen und gewerkschaftlichen Funktionen

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und Aufgaben abgenommen. Nur im Tverer Militärrat lagen die Dinge anders: Hier herrschte noch immer große Geschäftigkeit, und die Radikalen, die Bolschewiki und die Linken Sozialrevolutionäre, gaben den Ton an 34 . Die Machtverhältnisse und der desolate Zustand der Räteorganisation zwangen die Tverer Bolschewiki zu vorsichtigem Taktieren. Sie wußten, daß die Revolution nicht in Tver' entschieden wurde, und hüteten sich, die Entwicklung zu forcieren. Als die ersten Nachrichten vom Petrograder Umsturz in Tver' bekannt wurden, gab es in den Rätegremien der Stadt hitzige Debatten, deren genauer Verlauf aus den zugänglichen Quellen nicht recht zu rekonstruieren ist. Nach einigem Hin und Her erklärten sich der Tverer Arbeiterrat und der Tverer Militärrat auf einer gemeinsamen Sitzung am 28. Oktober zur „einzigen revolutionären Gewalt" in der Stadt und gründeten auf bolschewistische Initiative ein .Provisorisches Revolutionskomitee' 35 . Unmittelbare Folgen hatte dies nicht. Die Gegner bildeten ein,Komitee der öffentlichen Sicherheit'; das Stadtparlament, das Gouvernementsexekutivkomitee und sein Vorsitzender, der Gouvernementskommissar, bliebenim Amt. Das Post- und Telegraphenamt kontrollierte die Nachrichten und die Leitungen aus der Hauptstadt, und seine Angestellten drohten mit Streik, falls sich ein bolschewistischer Kommissar in ihren Dienststellen zeige. Auch die Mitarbeiter des Gouvernementszemstvo bekannten sich weiterhin zur gestürzten Provisorischen Regierung und erklärten, „von den Usurpatoren" keinerlei Anweisungen entgegenzunehmen; der Tverer Städtekongreß bekräftigte dies Position 36 . Das Tverer Provisorische Revolutionskomitee ließ sie vorerst alle gewähren. Man hatte mit der Sammlung der eigenen Kräfte zu tun: Der Arbeiter- und der Militärrat (er nannte sich nun Soldatenrat) wurden zusammengeschlossen, und im gemeinsamen Exekutivkomitee sicherten sich die Bolschewiki die Mehrheit. Der Apparat wurde ausgebaut, soweit es die schmalen Kader erlaubten. Zu allen Fragen des öffentlichen Lebens entstanden .Kommissariate', die den Fachabteilungen des Stadtparlaments entsprachen. Verbände von Roten Garden wurden aufgestellt und bewaffnet. Zug um Zug unterstellte der Rat gegen Jahresende die städtischen Behörden einschließlich der Miliz seiner Kontrolle und übernahm deren Mitarbeiterstab. Der Streik der Post- und Telegraphenangestellten wurde im Januar gebrochen, das Stadtparlament aufgelöst und ebenso das Gouvernementszemstvo. Der Gouvernementskommissar war schon im Dezember der Gewalt gewichen 37 . Ahnlich wie in Tver' vollzog sich auch in den anderen Städten des Gouvernements der Machtwechsel, manchmal früher, manchmal später. Wo sich, wie im

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abgelegenen Ves'egonsk, Widerstand zeigte und hielt, wurde er mit Roten Garden gebrochen. Bis Ende Januar / Anfang Februar war die neue .Rätemacht' in allen Städten etabliert 38 . Auch in der Vertretung der Tverer Bauernschaft rissen die Bolschewiki, unterstützt von den Linken Sozialrevolutionären, die Führung an sich. Ein auf ihre Initiative Anfang Dezember einberufener .Außerordentlicher Bauernkongreß' stellte sich hinter die neue Regierung und bildete mit dem Tverer Arbeiter- und Soldatenrat ein gemeinsames Führungsgremium: das .Gouvernementsexekutivkomitee der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten'. Der bisherigen Bauernvertretung, dem ,Bauerngouvernementsbüro', in dem die Rechten Sozialrevolutionäre dominierten, wurde die Legitimation abgesprochen. Freilich waren die eilends zusammengeholten 150 Mitglieder des Außerordentlichen Bauernkongresses kaum mehr legitimiert, für die 300.000 Tverer Bauernhöfe und die 10.000 Dörfer zu sprechen, als das im September 1917 gewählte Bauernbüro 39 . Da es den Beteiligten allein um die Macht ging, war das Pochen auf demokratische Legitimation nicht mehr als eine Farce, die durch das offenkundige Desinteresse der Betroffenen, der Bauern selbst, nur noch grotesker wurde. Das flache Land blieb von den Vorgängen in Petrograd und an der Gouvernementsspitze unberührt — und doch auch wieder nicht. An die Ausweitung der Rätebildung aufs Dorf,von oben' war nicht zu denken, dafür fehlten alle Voraussetzungen: neben den geeigneten Kandidaten die Macht und die Argumente, um die Bauern von der Notwendigkeit der neuen Institution zu überzeugen. Weiterhin entschieden Dorfversammlung (schod) und Dorfältester (starosta) alle wichtigen, das Gemeinwesen berührenden Fragen. In den Amtsbezirken (volosti) blieben die eben erst gewählten Selbstverwaltungsorgane vorerst bestehen. Es gibt auch keine Anhaltspunkte dafür, daß in einer Welle der Sympathie für die Bolschewiki die Zahl der dörflichen Parteizellen sprunghaft gestiegen wäre. Was sich auf dem Dorf wirklich änderte, waren Tempo und Ausmaß der Enteignungen. Das Landdekret vom 26. Oktober 1917, mit dem die neue Regierung den Bauern das volle Nutzungsrecht am Grundbesitz des Adels und der Krone, der Kirche und der Klöster übertrug, öffnete die Schleusen. Was vorher noch den Stempel der revolutionären Insubordination getragen hatte, wurde nun legal: Die Gemeindebauern verteilten das nichtbäuerliche Land unter sich, unterstützt und gedeckt von den volost'-Behörden. Sie — die gewählten volost'-Organe und die ihnen unterstellten .Landkomitees', die die Provisorische Regierung zur Vorbereitung der Bodenreform eingerichtet hatte — leisteten technische

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Hilfe, griffen, wenn nötig, schlichtend ein und registrierten den Bauern den neuen Besitz. Ihr Beitrag zur Neuordnung der ländlichen Verhältnisse soll hier nicht unterschätzt werden; aber es spricht alles dafür, daß der Schwerpunkt der Aktionen im Dorfe selbst lag. Die Liquidierung des Großgrundbesitzes vollzog sich als .Umverteilung' (peredel) innerhalb der Gemeinde, und an ihrem Ende stand die Konsolidierung, die Wiedergeburt der obscina. Das im Oktober erlassene Landdekret hob alle Eigentumsrechte an Grund und Boden „für immer" und entschädigungslos auf. Das Land wurde zum Besitz des ganzen Volkes erklärt und zur Nutzung denjenigen überlassen, die es mit ihrer Hände Arbeit bebauten. Boden solle nie mehr verkauft oder gekauft, verpachtet oder verpfändet werden, die Bestellung des Ackers mit Lohnarbeit sei zu verbieten; diese Grundforderungen hatte im August 1917 eine russische Bauernversammlung aufgestellt, sie wurden nun Gesetz 40 . Alle Einzelbestimmungen bauten darauf auf: Güter, Domänen sowie die Ländereien der Kirche und der Klöster wurden mit allem lebenden und toten Inventar und den Baulichkeiten eingezogen. Bodenschätze, Waldungen und Gewässer sollten im Staatsbesitz verbleiben, soweit sie für die AllgemeinheitvonBedeutung waren, und aus Ländereien mit hochentwickelten Kulturen Musterwirtschaften werden. Die große Masse des konfiszierten Bodens aber ging zur gleichmäßigen Verteilung an die Bauern; die Verteilung sollte nach örtlichen Verhältnissen erfolgen und in periodischen Abständen der Entwicklung der Bevölkerung angepaßt werden41. Die Nachricht, daß man an der Spitze des Staates dem Drängen der Bauern endlich nachgegeben hatte, verbreitete sich im Tverer Gouvernement wie ein Lauffeuer. Soldaten, die nun in Scharen ihre Truppenteile verließen, um bei der Neuaufteilung des Bodens nicht zu spät zu kommen, trugen sie in die letzten Winkel. Seit November war das Land in heftiger Bewegung. Die Attacke auf den Grundbesitz begann auf breiter Front. Besonders im Zentrum und im Süden, in den Landkreisen Tver', Rzev, Stanca und Korceva, griffdie Bewegung rasch um sich. Binnen weniger Wochen waren Hunderte ehemaliger Güter enteignet und ihr Ackerland an die Bauern verteilt 42 . Auch vor Staatsbesitz machten die Expropriatoren nicht halt; die Bauern hatten ihm vor dem Oktober keinen Sonderstatus eingeräumt und taten es nun ebenso wenig 43 . Die Ernte war mager ausgefallen, die Zufuhr von Lebensmitteln stockte, und beides schuf zusätzlichen Sprengstoff. In Hungergebieten wurde auf Gütern gehortetes Getreide beschlagnahmt. Die Bauern verkauften es, so wird aus dem Landkreis Zubcov berichtet, zu einem Fixpreis und lieferten das Geld beim volost'-Komitee ab 4 4 . Im Nordosten,

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im Landkreis Ves'egonsk, kam es zu Plünderungen, wobei entlassene und desertierte Soldaten die Bauernhaufenanfuhrten 45 . Insgesamt gesehen verliefen die Auseinandersetzungen jedoch erstaunlich diszipliniert, wie Berichterstatter immer wieder feststellten 46 . Wo die Bauern rasch die Oberhand gewannen, blieben Nachrichten von Plünderungen selten. Nur wo sie auf Widerstand stießen, wo Gutsbesitzer und Regionalbehörden dem bolschewistischen Gesetz die Anerkennung verweigerten und die Bauern auf die Konstituante vertrösten wollten, kam es zu Spontanaktionen und Übergriffen 47 . Exzesse, wie an der mittleren Wolga, wo die Auseinandersetzungen bereits vor dem Oktober Bürgerkriegscharakter angenommen hatten, blieben Tver' erspart. Vor allem fehlten, so scheint es, die dort erbittert ausgetragenen Kämpfe mit Einzelbauern. Eben erst gegen den Willen der obscina aus dem Dorfverband ausgeschieden, wurden sie nun in Strafaktionen zurückgeholt. Häufig ging es ihnen dabei nicht besser als den Gutsbesitzern: Sie verloren das in den Augen der Bauern widerrechtlich entwendete obscina-Land, aber auch Vieh und Inventar, und die Besitzungen wurden zerstört. In Tver' gab es weniger Einzelhöfe als etwa in den Gouvernements von Samara und Saratov, und dort, wo sie bestanden, hatte sich die obscina meist als Ganze mehr oder minder friedlich in otrub-Höfe aufgelöst. Die Institutionalisierung des Konfliktes zwischen den Einzelnen und der Grundmasse der Bauern war dadurch vermieden worden 48 . Die gesetzlichen Bestimmungen des Oktober-Dekretes legten nur einen allgemeinen Rahmen fest. Sie ließen den Bauern im übrigen freie Hand und vermieden Fixierungen und Normierungen, die vor Ort nicht durchzusetzen waren. Selbst die Entscheidung, von welcher Größe an Güter konfisziert werden sollten und nach welchem Modus das konfiszierte Land an die Bauern verteilt wurde, blieb den örtlichen Organen überlassen. Im Tverer Gouvernement unternahm niemand den Versuch, diese Fragen vorab und allgemein verbindlich zu lösen. Die Bauern entschieden sie selbst, und es ist nicht ersichtlich, daß sie sich stillschweigend an eine einheitliche Norm gehalten hätten: Im Landkreis Vysnij Volocek wurden — einer Aufstellung zufolge — Güter zwischen 12ha und 1.000 ha enteignet. Manchmal verloren die früheren Besitzer alles, manchmal behielten sie, den örtlichen Verhältnissen und der Familiengröße entsprechend, einen Restackerzur Eigenbewirtschaftung. Manchmal wurden ihnen aber auch bis zu 50 ha Besitz zuerkannt, wobei keineswegs die vormals größten Güter am meisten zurückbehielten 49 . Wieviel Boden einem Gutsbesitzer zustand und wann die Verhältnisse asozial wurden, war keine Frage, die mit abstrakten Zahlen zu lösen

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war. Das bewiesen auch die unsicheren Versuche einzelner volost'Organe, Richtwerte für den erlaubten Privatbesitz anzugeben. Sie schwankten zwischen 25 und 300 ha 50 . Ob sich die Bauern von derartigen willkürlichen Festlegungen beeindrucken ließen, ist mehr als fraglich. Das Ergebnis der Agrarrevolution im Tverer Gouvernement war: Bis 1920 hatten über 2.000 adelige und private Grund- und Gutsbesitzer ihre Ländereien völlig oder zum Großteil verloren. Meist hatten die Bauern Vieh und Inventar unter sich verteilt oder ungeteilt in Gemeinschaftsbesitz übernommen. Manchmal - und offenbar gar nicht so selten — wurden Vieh und Gerätschaften auch dem früheren Besitzer belassen 51 . Die Felder gingen in den Besitz der ortsansässigen Bevölkerung über, ein Ausgleich über die Dorf-, volost'- und Kreisgrenzen unterblieb. Die Zuteilung der Bodenanteile an die einzelnen Höfe richtete sich nach der Zahl der Esser oder der Arbeitskräfte, wie es den örtlichen Gepflogenheiten gerade entsprach, und häufig folgte der Aufteilung des Gutslandes eine Neuverteilung des obscina-Landes auf dem Fuß 52 . 1920waren wieder 96 % der Tverer Bauernhöfe in der obscina, und der Anteil der Gemeinden an der gesamten Anbaufläche war kaum geringer. Nach der jüngsten Berechnung eines sowjetischen Historikers wuchs mit der Revolution im Tverer Gouvernement der von den Bauern benutzte Boden um rund 340.000 ha, von den Wäldern einmal abgesehen 53 . Pro Kopf der ländlichen Bevölkerung waren das etwa zwei Zehntel ha mehr als zuvor, und pro Hof kam ein Zuwachs von nicht ganz 1 ha heraus, Acker, Wiesen und Weiden zusammengerechnet. Da ein überregionaler Ausgleich nicht stattfand und die Verhältnisse oft schon von einem Ort zum anderen wechselten, ist der Aussagewert der Durchschnittszahlen gering. Allgemein und unübersehbar war jedoch die Nivellierung der Besitzverhältnisse innerhalb der obscina: Die großen Höfe verschwanden, und viele landlose Wirtschaften bekamen Boden. 1920 hatten nur mehr 3 % der Tverer Bauern mehr als 4 ha Saatfläche; die Zahl der Wirtschaften ohne jede Aussaat war auf knapp 20.000 zurückgegangen und damit weniger als halb so groß wie 19 1 7 54 . Spät erst - die große Welle der Expropriierungen war bereits vorüber - bildeten sich auch in den Tverer Amtsbezirken nach städtischem Vorbild ,Räte'. Seit Frühjahr 1918 begannen sie, die bestehenden volost'Organe abzulösen, bis zum Sommer waren sie im ganzen Gouvernement an deren Stelle getreten 55 . Vielerorts war die ,Wahl' oder .Neugründung' in Wirklichkeit wohl nur eine Umbenennung: Der technische Apparat der zemstva-Behörden wurde übernommen, und wo diese sich der Umverteilung des Gutsbesitzerlandes nicht widersetzt hatten,

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bestand auch kein Grund, die Führung auszutauschen 56 . Etwas zögernd und schleppend folgte das Dorf. Wenn die Statistiken sowjetischer Historiker zutreffen, bildete sich noch im Verlauf des Jahres 1918 in jedem größeren Ort des Gouvernements ein wie auch immer gearteter ,Rat' 57 . Genauere Richtlinien für seine Wahl, seine Größe und seine Kompetenzen gab es zunächst nicht; entsprechend heterogen dürften die Räte selbst gewesen sein, nur liegen Detailangaben hierzu nicht vor 58 . Da Wahlrechtsbeschränkungen fehlten, saß im Dorfrat, wer im Ort etwas zu sagen hatte; Kommunisten gehörten nur selten dazu. Uber 95 °/o der Mitglieder bezeichneten sich selbst als parteilos, und der bolschewistische Anteil (von höchstens 3 bis 4 %) ging 1919 und 1920 noch weiterzurück59. Neben dem Rat blieb allem Anschein nach die Dorfversammlung als unabhängige, letzte Entscheidungsinstanz bestehen, was zeigt, daß die Räte die alten dörflichen Entscheidungsstrukturen nicht beseitigten, sondern bestätigten 60 . Im Frühjahr 1918 war der von den Bolschewiki proklamierte ,Rätestaat' nicht viel mehr als eine lose Ansammlung von Lokal- und Regionalräten, die nur der gemeinsame Haß gegen die alte Ordnung zusammenhielt, so hat es durchaus zutreffend ein Mitglied des Volkskommissariats des Inneren beschrieben 61 . Angefangen von den Dorfräten, beanspruchten alle, ihre Angelegenheiten autonom zu regeln, ohne Gängelung von oben. Wie man darauf einen Sowjetstaat aufbauen sollte, darüber waren die Bolschewiki und (die sie unterstützenden) Linken Sozialrevolutionäre geteilter Meinung. Aber auch innerhalb der bolschewistischen Partei selbst bis hinauf ins Zentralkomitee gingen die Ansichten über .Zentralismus' und .Autonomie' weit auseinander, und die Grundsätze des neuen Staates blieben umstritten, auch als die Linken Sozialrevolutionäre im März 1918 aus der Regierungsverantwortung ausschieden 62 . Erst der Ausbruch des Bürgerkrieges, die ausländische Intervention in Sowjetrußland, die Formierung der Weißen Armeen unter den Generalen Denikin, Krasnov und Kolcak und ihr konzentrischer Marsch auf das Rote Moskau setzten den Debatten im Sommer und Herbst 1918 ein Ende. Die Zentralisten mit Lenin und Trockij an der Spitze behaupteten sich. Ihren innerparteilichen Gegnern, den Linken Kommunisten, hielten sie entgegen, daß nur straffe Führung, Disziplin und Ordnung das Chaos überwinden und das politische und militärische Überleben sichern könnten: Die Autonomie, der,Lokalismus' und Separatismus' der Lokal- und Regionalräte müsse beseitigt, das Versorgungsproblem mit diktatorischen Maßnahmen bekämpft und eine neue starke Kaderarmee aufgebaut werden. Die Volkskommissariate für Militär, Trans-

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port und Versorgung erhielten dazu außerordentliche Vollmachten; sie bauten in der Folgezeit ihren eigenen Behördenapparat neben den Räten auf. Ein neugeschaffenes Institut, der .Oberste Volkswirtschaftsrat', zog die gesamte Wirtschaftsorganisation an sich, leitete die Produktion und verwaltete die Ressourcen. Die zur Bekämpfung von Konterrevolution und Sabotage Ende 1917 gegründete .Außerordentliche Kommission', die gefürchtete CK, wurde zur allmächtigen und allgegenwärtigen Hüterin der .revolutionären Ordnung' 63 . Die äußeren Umstände und die zentralistische Wende in der Gesamtpolitik prägten auch das Verhältnis zur Bauernschaft. Mitte Mai 1918 erklärte die Regierung den Getreidehandel zum Staatsmonopol und forderte die Bauern auf, alle Vorräte und Überschüsse zu Festpreisen abzuliefern. Neugegründete staatliche .Versorgungskomitees' tauschten Industriewaren gegen Getreide. Zur Unterstützung der Versorgungsorgane wurden seit Juni 1918 .Komitees der Dorfarmut' ins Leben gerufen. Alle armen Bauern, die selbst keine Uberschüsse produzierten, konnten und sollten in sie eintreten. Die Absicht war, im Dorf einen Verbündeten zu gewinnen: Von allem Getreide, das die Komitees für den Staat requirierten, erhielten sie selbst einen Anteil gratis oder zu besonders günstigen Bedingungen. Anfang 1919 verschärfte die Regierung noch das Verfahren der Getreidebeschaffungen. Sie legte von oben den staatlichen Bedarf fest, und die Versorgungskomitees dekretierten, wieviel die einzelnen Landkreise, Amtsbezirke, Dörfer und Höfe jeweils an .Uberschüssen' abzuliefern hatten - ohne Rücksicht auf den bäuerlichen Eigenbedarf. Ursprünglich betrafen die Zwangsablieferungen nur Getreide und Futtermittel, bis 1920 wurden sie auf nahezu alle Nahrungsmittel ausgedehnt; und statt der anfangs versprochenen Industriewaren erhielten die Bauern Kreditbillets, für die sie sich nichts kaufen konnten, da die Fabriken nur mehr für den militärischen Bedarf produzierten 64 . Angesichts der Versorgungsprobleme und des zähen Kampfes mit den Bauern ums Getreide verschärfte sich innerparteilich die Kritik an der 1917/18 geschaffenen Lage: Die Zerschlagung des Großgrundbesitzes und die Aufteilung des Bodens auf Klein- und Zwergwirtschaften hatten die agrarische Produktivität gemindert, den bäuerlichen Eigenbedarf erhöht und geregelte staatliche Bedarfsplanung nahezu unmöglich gemacht. Die Bildung großer staatlicher Musterbetriebe, sogenannter Sowjetwirtschaften (sovchozy), und der Zusammenschluß bäuerlicher Kleinstbetriebe zu .Kollektivwirtschaften' sollten Abhilfe bringen; seit Sommer 1918 begann man verstärkt für sie zu werben 65 . Hatte das Landdekret im Oktober 1917 den Bauern noch „völlig frei'' gestellt, ob sie den

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Boden als otrub- oder chutor-Bauer, im Gemeindeverband oder in neu zu gründenden Kollektiven bebauten, so betrachtete die sowjetische Agrargesetzgebung 1919 die individuelle Bodenbestellung in all ihren Formen bloß mehr als „absterbende" Übergangserscheinung: Den großen Sowjet- und Kollektivwirtschaften gehöre die Zukunft, der Ubergang sei „unumgänglich". Auch das neue im März 1919 verabschiedete Parteiprogramm sah in der „Organisation einer sozialistischen Großlandwirtschaft" das wichtigste Ziel der Agrarpolitik 66 . Das Tverer Gouvernement stand in den zweieinhalb Jahren des Bürgerkriegs nie im Mittelpunkt des politischen Geschehens. Weder war es unmittelbares Frontgebiet noch Hauptschauplatz des inneren Kampfes ums Getreide. Die Kornkammer des Staates lag im Süden und Südosten, die Tverer Bauern verbrauchten mehr Nahrungsmittel, als sie produzierten. Dörfliche Requisitionsabteilungen, Komitees der Dorfarmut, wurden dennoch gegründet. Bis November 1918 stieg ihre Zahl auf über 8 V2 Tausend. Damit gab es im Gouvernement fast ebenso viele Komitees wie Dorfräte und — gleichmäßige Verteilung vorausgesetzt — in jedem großen Ort sowohl einen Rat wie ein Komitee. Das war mehr an Organisation, als die meisten Gouvernements aufweisen konnten 6 7 . Berichte über die Lage vor Ort zeichnen freilich ein anderes Bild. In ihnen ist mehr von den Schwierigkeiten der Regierung als von Erfolgen die Rede. So blieben im Landkreis Torzok die Getreiderequisitionen im Sommer 1918 weit hinter den Möglichkeiten zurück. Die zuständige Parteiorganisation nannte in ihrem Schreiben ans Zentralkomitee dafür mehrere Gründe: Es fehlten die Komitees der Dorfarmut, und dort, wo sie bestanden, waren sie zu wenig mit den örtlichen Verhältnissen vertraut. Der Versuch, die Einheit des Dorfes aufzubrechen, war nach Ansicht des Parteikomitees mißlungen: Die Dorfarmen hielten zu den Großbauern, den „Kulaken", und scherten sich nicht um die „Interessen des Proletariats". Wo schließlich Getreide requiriert wurde, erreichte es die Stadt nicht, die Dorfarmut verteilte es unter sich 68 . Im nördlich angrenzend Landkreis Vysnij Volocekgab es zur gleichen Zeit kaum Komitees der Dorfarmut; es fehlten die Funktionäre, die man aufs Land schicken konnte. Drei bis vier Agitatoren waren, wie der Rechenschaftsbericht des örtlichen Parteikomitees feststellte, „fast nichts" für die 31 Bezirke 69 . Im Süden dieses Kreises, im Bezirk Spirovo, gab es zwar Sowjet und Dorfarmenkomitee, doch dort bestimmten nicht die Dorfproletarier, sondern die betuchten Bauern den Kurs. Sie ließenkein Mitglied der kommunistischen Zelle zu und zogen einen scharfen Trennstrich zwischen sich und dem proletarischen Regime: Arbeiter, die um ein Stück Brot bettelten, verwies man an „den Genossen Le-

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nin" 70 . In den meisten Landkreisen war im Sommer 1918 der Zustand ähnlich. Im Ostaskover Landkreis zum Beispiel stand man mit den Dorfarmenkomitees noch am Anfang, in Ves'egonsk existierte lediglich in einem Bezirk ein (!) Komitee, und in Kaljazin wollte man gerne Komitees organisieren, wußte aber nicht, wie das geht 71 . Im Landkreis Krasnyj Cholm war der Widerstand der besser situierten Bauern so stark, daß man nicht wagte, Komitees der Dorfarmut zu gründen, und auch im Kreis Stanca war die Position der Kommunisten schwach 72 . Im Zubcover Landkreis gab es zwar einige Komitees, doch „unbefriedigend" war die Lage auch hier 73 . Die Liste ließe sich fortsetzen. Es ist unwahrscheinlich, daß sich die Situation im Herbst 1918 radikal änderte. Der Hinweis auf die 8V2 Tausend Komitees zum Jahreswechsel 1918/19 ist noch kein Gegenbeweis, zumindest solange wir noch nicht wissen, wieviele davon nur auf den Papieren der Rechenschaftsberichte standen und wer, wo die Komitees wirklich existierten, ihren Kurs bestimmte. Die Kommunisten machten die dörfliche Oberschicht fur ihre Schwierigkeiten verantwortlich, doch mit .kulakischer Gerissenheit' allein ließ sich noch nicht erklären, warum das Dorf - zumindest von außen gesehen — so fest und unbeweglich hinter diesen .Kulaken' stand: Als im Sommer 1918 im Landkreis Torzok bewaffnete Brigaden anrückten, um Getreide zu requirieren und oppositionelle .Kulaken' zu deportieren, trafen sie im Dorf auf eine breite Front des Widerstandes. Es kam zu Bauernaufständen, die auch die Kommunisten als .Aufstände' bezeichneten, manchmal in mehreren Dörfern zugleich. Brigaden wurden entwaffnet, kamen mit Verstärkung wieder und erstickten schließlich den Aufruhr mit Maschinengewehren 74 . Der Gegensatz zwischen Bauernschaft und Staat war tief, und er blieb es. Noch im Dezember 1918 bezeichnete das Torzoker Parteikomitee die Gesamtlage des Kreises als „labil". Die Bauernschaft war politisch und ökonomisch unzufrieden: Wo die außerordentlichen Versorgungskomitees auftauchten, stießen sie auf Haß, Kommunisten wurden verprügelt, und es kursierte der Ruf nach einer Verfassungsgebenden Versammlung und freiem Getreidehandel 75 . Es besteht kein Zweifel: Der Versuch, mit den Komitees der Dorfarmut den,Klassenkampf aufs Dorf* zu tragen, war hier gescheitert, längst bevor er von Seiten der Regierung im Winter 1918/19 abgebrochen und die Komitees aufgelöst wurden. Die Dorfarmenkomitees hatten nur die Sowjets verdoppelt, die innere Ruhe belastet und die ländliche Basis des Staates schmaler, nicht aber stabiler gemacht. Auch die Förderung der Sowjet- und Kollektivwirtschaften — als Gegengewicht zur .privaten' Landwirtschaft und zukunftsträchtige Vorform .sozialistischer' Bodenbestellung - blieb im Tverer Gouverne-

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ment ohne nachhaltige Erfolge. Bis 1920 bildeten sich zwar 178 Sowjetwirtschaften, 121 Landkommunen und beinahe doppelt soviele einfache Kollektivwirtschaften, Artele, bei denen nur Teile des Viehbestandes, der Produktionsmittel und der Feldbestellung .vergesellschaftet' waren. Sie vereinigten zusammengerechnet über 2.000 ehemalige Bauernhöfe, und in ihnen lebten 18 l h Tausend Menschen. Das waren jedoch nur knapp 1 °/o der ländlichen Gesamtbevölkerung und nicht einmal 0,7 °/o der Tverer Höfe 76 . Auch die landwirtschaftliche Nutzfläche der Sowjet- und Kollektivwirtschaften fiel kaum ins Gewicht, und das Produktionsniveau war alles andere als beispielhaft 77 . Die Bauern binnen kurzem von den Vorzügen der .sozialistischen' Landwirtschaft zu überzeugen, war nicht gelungen. Das galt nicht nur fur Tver', sondern auch fur die reicheren Provinzen des Südens und Südostens 78 . Um die Rote Armee und die Städte zu versorgen, war der Staat nach wie vor auf die Produkte der privaten Landwirtschaft angewiesen, und da er den Bauern keine Güteräquivalente bieten konnte, blieb Gewalt die ultima ratio der Agrarpolitik. Im Herbst 1920, am Ende des Bürgerkrieges, war auch die Volkswirtschaft ein Trümmerfeld. Die Industrie war zwar verstaatlicht und unterstand zentraler Planung und Leitung. Aber die Produktion war in weiten Teilen zum Erliegen gekommen. Fabriken mußten schließen, weil keine Züge mehr fuhren und die Roh- und Brennstoffe fehlten; und die Züge fuhren nicht mehr, weil die Kohle, die Wartung und die Ersatzteile fehlten. Von fünf Lokomotiven waren vier ausgefallen, und die industrielle Produktion auf ein Sechstel des Vorkriegsniveaus gesunken. Zwar hatte der Staat die Versorgung zentralisiert, doch was seine Organe bei den Bauern requirierten, reichte meist nicht aus, um neben der Armee auch die städtische Bevölkerung zu ernähren. Wer noch Verbindung zum Dorf hatte, floh vor dem Hunger aufs Land, die Städte entvölkerten sich. Und auf dem Land lieferten sich bewaffnete Versorgungseinheiten mit den Bauern erbitterte Kämpfe ums Getreide 79 . Trotz dieser chaotischen Verhältnisse setzte die Regierung den bisherigen Kurs auch nach Einstellung der Kampfhandlungen fort. Das im Bürgerkrieg entstandene Getreiderequisitionssystem wurde beibehalten. Die galoppierende Inflation, in der das Geld jeglichen Wert verlor, pries man als Liquidierung des Kapitalismus. Geld, Mieten und Steuern sollten künftig abgeschafft und alle staatlichen Dienstleistungen frei an den Bürger abgegeben werden. Der Markt sollte ausgeschaltet bleiben, die Wirtschaft nach einem einheitlichen Plan produzieren, und im Obersten Volkswirtschaftsrat und seiner geschwürartig wachsenden Bürokratie sah man ein .kommunistisches' Produktions- und Distribu-

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tionssystem entstehen. Arbeiterstreiks und Bauernaufstände setzten diesen Illusionen im Winter 1920/21 ein Ende. Die Regierung riß das Steuer der Politik herum. Auf dem X. Parteitag verwarf Lenin im März 1921 den bisherigen Kurs als Fehlerund versprach eine .Neue Ökonomische Politik', die vor allem Frieden mit den Bauern schloß: Das Requisitionssystem sollte aufgehoben und durch eine (in Naturalien zu entrichtende) Steuer ersetzt werden. Was die Bauern über den Steuerbetrag hinaus produzierten, konnten sie fortan frei verkaufen. Von einem raschen Übergang zum .Kommunismus' war nicht mehr die Rede, die Regierung rechnete nun mit einer längeren Ubergangsperiode, in der der bäuerliche Kleinbesitz die Grundform der landwirtschaftlichen Produktionsweise blieb und die Gemeinde, die obScina, den Rahmen bildete 80 . Der Neuanfang fiel schwer. Das Land war ausgelaugt, der Staat hatte den Bauern die letzten Reserven genommen. Im Sommer 1921 wurde der Süden und Südosten des Landes von einer furchtbaren Dürrekatastrophe heimgesucht, sie vernichtete fast vollständig die Ernte. Ohne Vorräte waren die Bauern dem nackten Hunger preisgegeben. Endlose Trecks von Flüchtlingen wälzten sich in die nördlichen Gouvernements, ganze Dörfer und Landstriche flohen. Auch ins Tverer Gouvernement ergoß sich ein Strom von Flüchtlingen und verteilte sich auf das Land. Ausländische Hilfsorganisationen (die American relief administration, die Nansen-Hilfe, das Internationale Kinder-Hilfswerk, die Quäkerund das Rote Kreuz) schickten in die besonders betroffenen Gebiete an der mittleren und unteren Wolga Nahrungsmittel, Medikamente und Helfer. Doch für viele, die nicht rechtzeitig geflohen waren, kam die Hilfe zu spät. An die 5 Millionen Menschen verhungerten 81 .

III. Das Tverer Dorf zwischen Revolution und Kollektivierung Noch unter dem Eindruck der Hungerkatastrophe ging die Sowjetregierung 1922 an die Neufassung des Agrarrechtes. Nur mit Zugeständnissen, nicht mit Druck ließ sich die Versorgungskrise überwinden. Nur eine behutsame und berechenbare Agrarpolitik konnte das verlorene Vertrauen zurückgewinnen. Nur wenn man auf dem Lande geordnete und stabile Verhältnisse schuf, war ein Wiederaufbau und eine gedeihliche Fortentwicklung der Landwirtschaft möglich 1 . Mit dieser Einsicht verabschiedete die Sowjetfuhrung im Herbst 1922 den .Agrarkodex' 2 . Die neuen Richtlinien hielten zwar an der Nationalisierung, der Verstaatlichung des gesamten Grund und Bodens fest. Sie räumten den Bauern aber ein „unbegrenztes Nutzungsrecht" ein und stellten ihnen frei, wie sie den Boden künftig bestellten. Nach den Bestimmungen des Agrarkodex hatte Recht auf Land jeder, der den Boden mit seiner Hände Arbeit bebaute, ganz gleich, ob er ihn innerhalb des Gemeindeverbandes (als obscina-Bauer) oder getrennt davon (als otrub- oder chutor-Bauer) bewirtschaftete. Das bäuerliche Nutzungsrecht galt, wie gesagt, unbefristet und endete vorzeitig nur, wenn alle Hofmitglieder freiwillig auf das ihnen zugesprochene Land verzichteten oder die Felder mehr als drei Jahre hintereinander unbebaut ließen. Willkürliche Enteignungen sollte es nicht mehr geben: Beanspruchten staatliche Stellen bestimmte Bodenanteile für allgemeinnützige Zwecke (z. B. fur Wege oder die Ausbeutung von Bodenschätzen), so mußte hierüber in einem ordentlichen, gesetzlich geregelten Verfahren entschieden werden und der bisherige Besitzer Ersatzland erhalten. Alle Anlagen, Häuser, Aussaaten und Pflanzen wurden laut Gesetz als Eigentum dessen betrachtet, der den Boden, auf dem sie standen, bebaute 3 . Zwar konnte auch künftig niemand mehr Land kaufen oder verkaufen, verschenken, vererben oder mit Hypotheken belasten. Aber die Vorschriften für Pacht und Lohnarbeit wurden erleichtert: Wenn aus Mangel an Arbeitskräften oder landwirtschaftlichem Gerät Arbeiten nicht rechtzeitig ausgeführt werden konnten, war die „aushilfsweise"

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Einstellung von Lohnarbeiten zugelassen. Felder konnten eine Saatfolge lang (bei Dreifelderwirtschaft drei Jahre) in Pacht gegeben werden, wenn dem Hofe infolge von Brand, Mißernte oder Seuchenfall zur eigenen Bewirtschaftung das Gerät oder das Zugvieh fehlte. Auch wenn ein Hof plötzlich seine männliche Arbeitskraft verlor - durch Tod, Einberufung zur Armee oder Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben - , war die zeitweilige Verpachtung der Acker möglich. Die gleiche Regelung galt fur Bauern, die ein Wandergewerbe an der Führung der eigenen Wirtschaft hinderte. Ob die Bezahlung der Pacht in Geld oder Naturalien erfolgte, oder ob man sich auf eine andere Form der Entlohnung einigte, hatte der Gesetzgeber freigestellt 4 . Alle Bestimmungen waren weit gefaßt, beließen dem Dorf nach Möglichkeit die vertrauten Gewohnheiten und konzedierten den Bauern ihre angestammten Rechte. Sie sollten ohne staatliche Gängelung produzieren und ihre Wirtschaft erweitern können, solange der .werktätige' Charakter des Hofes gewahrt und der Rubikon der .Ausbeutung' nicht überschritten wurde. An die Stelle von Repression und Beschlagnahmung sollte ein .geregelter Warenaustausch zwischen Stadt und Land' treten und ein Klassenbündnis (smycka) die Bauern mit den Arbeitern vereinen. Die Partei setzte dabei auf die armen Bauern (die .Dorfarmut', die bednota) als Sprachrohr und Stütze und umwarb zugleich die .Mittelbauern' (die Serednjaken) als die .Zentralfigur des Dorfes', als die eigentlich entscheidende Kraft. Sie betrieb die politische Mobilisierung der parteilosen Bauern und forderte nachdrücklich ihre Einbeziehung in die Arbeit der Dorfräte; .Belebung der Dorfsowjets' lautete die Devise. Städtische Fabriken und Betriebe übernahmen die Patenschaft fur Dörferund Amtsbezirke, brachten ihnen Bücher und Literatur und hielten ihnen Vorträge über die Politik von Partei und Regierung. Zeitungen und Flugschriften, Funktionäre und Agronomen sprachen von der besseren sozialistischen Zukunft, propagierten den Eintritt in die Genossenschaften und warben für den Zusammenschluß der Bauern zu Kollektivwirtschaften 5 . Ihre Schilderungen und Rechenschaftsberichte zeigen, wie schwer es fiel, sich dem Dorf verständlich zu machen, und wie wenig die Zielsetzungen der Partei den Vorstellungen und Wünschen der Bauern entsprachen. Die folgenden fünf Episoden verdeutlichen dies. Sie beleuchten die Lage auf dem Dorf und die Probleme von Partei und Regierung, Fuß zu fassen und den Lauf der Dinge in ihrem Sinn zu bestimmen. Schauplatz der Handlung sind die Gouvernements von Tver', Novgorod, Smolensk, Saratov und Penza. Alle Beispiele entstammen dem Zeitraum von 1924—27, als die unmittelbaren Folgendes Kriegskommunismus bereits

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überwunden waren und die Neue Ökonomische Politik ihren Höhepunkt erlebte. Im Dorf Goricy - es liegt im Südosten des Tverer Gouvernements, im Landkreis Kimry - trat Ende Februar 1927 der Bezirkstag (vols'ezd) zusammen. Neben der Neuwahl des Exekutivkomitees und diversen Rechenschaftsberichten stand auch ein Vortrag über die äußere und innere Lage auf dem Programm. Der Parteisekretär des Landkreiskomitees war dazu eigens nach Goricy gekommen. Er erzählte den versammelten Bauern von „Imperialismus" und „Anarchismus", „Schwerindustrie" und „Ausbeutersystem", „Pufferstaaten" und „Lumpenproletariat", „Axiom" und „Analyse", „Stabilisierung" und „Permanenz". Am meisten schmerzte es einen der zuhörenden Bauern jedoch, daß nun „alle Wege nach Rom" fuhren sollten. Im letztenjahr, so erinnerte er sich, hatte man ihnen doch versprochen, den Weg ins Nachbardorf, nach Il'inskoe, und darüber hinaus in die Kreisstadt, nach Kimry, endlich auszubauen. Nun war nur noch vom Weg nach diesem Rom die Rede, von dem der Bauer noch nicht einmal wußte, in welcher volost' es lag6. Es ist kein Wunder, daß die Kommunisten bei den Bauern von Goricy nicht gerade populär waren. Man sah in ihnen, so berichtet der Gewährsmann wörtlich, die „Obrigkeit" (nacal'stvo), auf die man tunlichst hörte und die man manchmal auch zu furchten hatte. Doch an Kummer gewöhnt, trugen die Goricyer Bauern die neue Obrigkeit mit Fassung (ravnodusno): „Es gibt sie — schön. Wenn es sie nicht gäbe — wäre es auch gut." Zwischen sich und den Kommunisten zogen sie einen scharfen Trennstrich. Einen Kommunisten, so meinten sie, zeichneten im Unterschied zum Bauern drei Dinge aus : Er hatte immerein Amt, bekam dafür bezahlt und war darauf aus, nicht länger hinter dem Pflug herzugehen 7 . In Gadysi, einem großen Dorf in der Waldai-Regiondes Novgoroder Gouvernements, dicht an der Grenze nach Tver', gab es um die Mitte der 20er Jahre kein einziges Parteimitglied. Die Vorstellungen, die sich die Bauern vom „Kommunisten" machten, waren schlicht, aber nicht ohne unmittelbaren Bezug zur Praxis. Ihr Begriff von „Kommunismus" beschrieb, was sie selbst gesehen hatten und tagtäglich beobachten konnten: Kommunisten waren mächtige, einflußreiche Leute, die die Häuser der Gutsbesitzer beschlagnahmt hatten. Wenn sie sich selbst, wie geschehen, hineinsetzten und auch ihre Freunde und Bekannten nicht leer ausgingen, so fanden die Bauern das nur natürlich. Mit der Spruchweisheit : „Wer sich traute, verschlang zwei" kommentierten und rechtfertigten sie dieses Verfahren. Frei übersetzt hieß das: „Nur auf den Mut kommt es an." oder „Wer die Macht hat, gebraucht sie auch." Kam ein skeptischer Beobachter aus der Stadt und äußerte im privaten Gespräch

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mit Bauern Zweifel, ob dieser oder jenervolost'-Funktionär einaufrichtiger, wirklicher Kommunist sei, stieß er auf taube Ohren. Der Hinweis auf Macht und Einfluß diente als Beweis: „Natürlich ist er Kommunist ! (Sehen Sie nur) das Haus, das er an sich gebracht hat; der und kein Kommunist!" Gewiß, man .wußte' im Dorf auch, daß die Kommunisten gegen Gott und sehr viele Kommunisten Juden sind; doch daß Kommunismus auch „eine ökonomische Doktrin" sein sollte, war nicht einmal den Sympathisanten der neuen Staatsmacht bekannt. In erster Linie waren „Kommunisten" auch für Gadysi die neue Obrigkeit, und von allen, die irgendeine kleine Amtsfunktion innehatten, hieß es, daß sie „bei den Kommunisten dienen" 8 . Die Bauern hätten mehr über „Kommunismus" und die neue Obrigkeit erfahren, wenn sie sich etwas auch für die Dinge außerhalb des eigenen Dorfes interessiert hätten. Doch das eben tat man in Gadysi nicht. Im Dorf entschied die Dorfversammlung; einen Dorfsowjet gab es zwar, aber der gewöhnlich gut informierte Kenner der Szene in Gadysi wußte von ihm nicht einmal zu sagen, ob er zu Sitzungen zusammentrat. Alle höheren Räteorgane waren für die Bauern ohnehin suspekt. In den Bezirkstagen samt ihren Exekutivkomitees sahen sie kein Organ bäuerlicher Selbstverwaltung mehr, sondern eine staatliche Steuerbehörde; wozu es Kreisräteorgane gab, blieb ihnen verschlossen. Was es mit den Allrussischen Rätekongressen und dem Zentralen Exekutivkomitee auf sich hatte, sie hatten keine, auch noch so blasse Vorstellung davon. Und „demokratische Rechte" und „konstitutionelle Garantien" waren für sie Phrasen, mit denen sie nichts, aber auch gar nichts anzufangen wußten 9 . Die geschilderte Lage galt nicht nur in Tver' und Novgorod. Greift man zu einer von der Partei in Auftrag gegebenen Studie über „Wirtschaft, Leben und Stimmungslage" der Bauern im Bezirk Pocinok des Smolensker Gouvernements, so stößt man in veränderter Szenerie auf das gleiche gespannte Verhältnis zwischen der Bauernschaft auf der einen Seite und dem Staat, der Partei und ihren agrarpolitischen Zielen auf der anderen. Im Dorf Satalovo hatte sich, so wird dort berichtet, eine neue Kollektivwirtschaft, das Artel ,11'ic' gebildet. Die Ortsbauern wahrten Distanz und nannten das Artel beziehungsreich ihre „Roten Gutsherrn". Die Roten Gutsherrn hausten in einem ehemaligen, von Birken umstandenen Gutshaus—und richteten es zugrunde. Genau genommen traf das Artel nicht einmal die Hauptschuld. Es hatte das Anwesen von einem sovchoz übernommen, der Haus und Hof bereits abgewirtschaftet hatte. Eine ehemals hier untergebrachte Schule hatte der sovchoz ausquartiert. In der Folgezeit wurde alles, was nicht niet- und nagelfest war, zerstört, abmontiert und aus dem Hause weggeschleppt. Kein Fen-

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ster hatte mehr eine Scheibe, und von den Möbeln fehlte jede Spur. Ein Zimmer des Hauses benützte der sovchoz als Abtritt — auch dieses Erbe hinterließ man dem Artel. Außerdem blieben zurück: eine dreißigjährige Schindermähre, eine herrschaftliche Kutsche und ein zerbrochener Pflug, aber nicht ein einziger Wagen. Das Ganze war ein Fall für die volost'-Miliz, wie der Bericht vermerkte. Auch dem neuen Artel gaben die Bauern nicht mehr lange: „Sie werden noch das Getreide einholen und sich dann sicher davonmachen." Das Kapital war aufgebraucht, die Roten Gutsherrn hatten keine Zukunftsperspektive mehr 10 . Die Verhältnisse im sovchoz von Satalovo waren skandalös, aber ein Einzelfall waren sie nicht. In den regionalen Bauernzeitungen findet man viele ähnlich gelagerte Fälle. Die Bauern forderten, diesem Treiben ein Ende zu setzen. Statt krasse Mißwirtschaft und die Verschleuderung von fremdem Eigentum noch staatlich zu fördern, sollten die erfolglosen, nur Defizite erwirtschaftenden sovchozy aufgeköst und ihr Land an die Bauern verteilt werden. Nicht nur, daß die Bauern zu den Kommunisten als ihrer neuen Obrigkeit aufschauten, auch die alten Formen bäuerlichen Widerstandes gegen die Obrigkeit überlebten: das illegale Schlagen von Holz im .herrschaftlichen Wald', das Verschleppen der Steuerzahlungen bis zur Drohung mit administrativer Gewalt, das Verheimlichen von Saatflächen und Einkünften vor den Steuerbehörden. Zeitungen und Rechenschaftsberichte waren voll davon. Im Gouvernement von Saratov — wie sonstwo auch—erhielt die Bauernschaft nach der Revolution im wesentlichen nur die Wälder zur Nutzung, die sie schon vorher besessen hatte. Die konfiszierten Waldungen der Gutsbesitzer gingen in Staatsbesitz über, nur ein kleiner Teil wurde an die Bauern weitergegeben. Doch die Saratover Bauern kümmerten sich nicht viel um staatliche Eigentumstitel. Sie plünderten, wie in der regionalen Dorfzeitung nachzulesen ist, Orts- und Staatswald. Die wilden Rodungen hatten im Frühjahr 1926 ein „unerhörtes Ausmaß" angenommen. Mancherorts wurden die Bäume noch nachts geschlagen und gestohlen, in anderen Gegenden fuhren die Fuhren am heilichten Tage zum Bazar und zur Schnapsfabrik. Einige Dörfer hatten schon den ganzen umliegenden Wald niedergelegt. Die Dorfsowjets schritten nicht ein, und die Forstbeamten waren überfordert. Hielten sie an der einen Ecke Wacht, wurde eben am anderen Ende gestohlen. Man konnte den Bauern zwar erzählen, daß der Wald allen gehörte und sie, genau besehen, immer nur sich selbst bestahlen. Doch allein auf Argumente und Überzeugungen zu bauen, so meinte das Bauernblatt, sei ein hoffnungsloses Unterfangen: Wolle man wirklich die Plünderungen des Waldes stoppen, müsse man harte Maßnahmen

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ergreifen und empfindliche Strafen verhängen 11 . Man kommt nicht umhin, der Saratover Dorfzeitung in diesem Punkte Recht zu geben. Warteten die offiziellen Stellen ab, bis ihre Argumente griffen, war vom Wald keine Spur mehr vorhanden. Die agitatorischen Möglichkeiten von Partei und Regierung, das wird an diesem Vorgang ebenso deutlich, waren eng begrenzt. Die Saratover Bauernzeitung, die die Kampagne gegen die Waldplünderungen startete, erschien zweimal, ab Sommer 1926 nur noch einmal die Woche in einer Auflagenhöhe von 8.500 Exemplaren. Dabei gab es knapp eine halbe Million Bauernhöfe im Gouvernement, so daß auf je 50 nicht einmal eine Zeitung kam. Mehr als die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung an der unteren Wolga waren Analphabeten, sie konnten die Zeitung ohnehin nicht lesen 12 . Die illegalen Waldrodungen waren ein vergleichsweise peripheres Problem, doch der Spannungszustand, das Auseinanderklaffen zwischen Sollen und Sein, Bauernschaft und Regierung, Provinz und Zentrum galt allgemein: Während man sich in Partei- und Regierungsspitze um die Nachfolge Lenins und um große alternative Entwicklungsmodelle stritt, nahm das Provinzdorf davon kaum Notiz. Man mochte sich im Kommissariat für Volksaufklärung über fortschrittliche Schulreform die Köpfe heiß reden, doch der Zustand der Dorfschulen blieb katastrophal; und von den großen Wortführern der Schulreform kannte man hier nicht einmal den Namen, von ihren Konzepten ganz zu schweigen. Die Partei setzte auf die Lehrer als der Vorhut der politischen Aufklärung, doch im Nachbargouvernement von Saratov, in Penza, hielt eine Lehrerin ,Komintern' noch Jahre nach der Revolution für den Namen des französischen Präsidenten 13 . Es soll und kann nicht behauptet werden, daß sich die Bauern gegenüber jeder Neuerung verschlossen. Der schon eben bemühte Bericht über die Zustände im Gouvernement Penza widerlegt es. Er faßt die Erfahrungen einer Studiengruppe zusammen, die im Auftrag des Penzaer Parteikomitees zwischen Herbst 1924 und Frühjahr 1925 das Hinterland bereiste. Im Dorf Altary (im Landkreis Saransk, im Mordvinischen also) kam eine Gruppe von armen Bauern zur Kommission und erzählte ihr, daß sie gemeinsam einen Traktor kaufen wollten. Vorerst war diese Absicht zwar nur ein Wunschtraum. Zur Realisierung brauchte man die Unterstützung der Bauerngenossenschaft; dort aberverschwanden Geld und Waren auf ungeklärte Weise, während der Wohlstand der Angestellten ebenso ungeklärt ständig wuchs. Mit anderen Worten: die Genossenschaft war eine Korruptionsgemeinschaft, von der man keine Hilfe erwarten durfte. Immerhin zeigte der Entschluß aber, daß die Agi-

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tation für Zusammenarbeit und Modernisierung in der Landwirtschaft in Altary auf fruchtbaren Boden gefallen war 14 . Doch der projektierte Traktorkauf, so ist dem Bericht weiter zu entnehmen, war nur die eine Sorge, mit der sich die Bauern von Altary vertrauensvoll an die Kommunisten wandten. Auch ein zweites „Geheimnis" vertrauten sie ihnen an: Im Dorf war der Teufel aufgetaucht und gab seither keine Ruhe. Er hatte sich im Haus eines Bauern eingenistet, klopfte die ganze Zeit, antwortete auf verschiedenerlei Fragen einigermaßen verständlich und verlangte mehrere Tage hintereinander nach dem Mullah; er wollte vom Mullah ausgetrieben werden. Ein in diesen Dingen bewanderter Mann wurde hinzugezogen und versuchte sich mit Besprechungen. Doch der Teufel reagierte nicht und bestand auf dem Mullah. Der Mullah kam schließlich und beschwor den Teufel, doch der—machte sich nichts daraus. In dieser Situation erinnerten sich die Bauern der kommunistischen Kommission und baten sie um Hilfe. Die Kommunisten waren gesprächsbereit, doch der Teufel schwieg beharrlich, er wollte mit ihnen nichts zu tun haben. Die Bauern erklärten dies damit, daß der Teufel ein Feigling sei und das Pulver furchte, die Kommunisten dagegen erklärten, gar keine Waffen bei sich zu tragen. „Zwischen Traktor und Teufel liegt das riesiggroße Feld der Kulturarbeit auf dem D o r f , so kommentierte nachdenklich der Verfasser des Berichtes die geschilderte Episode 15 . Das Beispiel aus Penza ergänzt die vorangegangenen. Die Geschichten aus Tver', Novgorod, Smolensk und Saratov illustrieren, wie schwer es den Bolschewiki fiel, sich selbst und ihre Politik dem Dorf verständlich zu machen: Sie stießen allenthalben auf Mißverständnis und Desinteresse, Skepsis und Ablehnung. Die Episode aus Penza verdeutlicht, daß der Abstand auch dort, wo sich die Bauern aufgeschlossen zeigten, groß blieb. Unter dünner Kruste lag der gleiche Kern, eine schwerverdauliche Mischung aus Unvernunft, mangelnder Bildung und allgemeiner Rückständigkeit. An Aufklärung und Kulturarbeit gab es viel zu tun. Das war die eine, die bolschewistische Sicht der Dinge. Zwischen den Zeilen der Rechenschaftsberichte und Kommentare kam jedoch auch die Gegenseite zu Wort. Die Bauern unterschieden scharf zwischen ,wir', womit sie ihr Dorf meinten, und der kommunistischen Obrigkeit', dem Staat. Beider Interessen, so sagten sie, vertrügen sich nicht, sie liefen einander zuwider. Der Staat nahm vom Bauern Steuern, doch was gab er außer Versprechungen? Das Dorf war eine Einheit für sich und regelte seine Angelegenheiten in der Dorfversammlung, so war es schon immer gewesen. Wozu also der Sowjet, und welchen Sinn konnte es haben, sich um andere, außerdörfliche Probleme zu

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kümmern? Weshalb die alte Form der Bodennutzung aufgeben, wo so vieles daran hing? Die Regierung behauptete, in Sowjet- und Kollektivwirtschaften würden höhere Erträge produziert, doch wo man hinsah, fanden sich Gegenbeispiele, Mißwirtschaft und Ruin. Für die bolschewistische Politik und Propaganda standen Parteizelle und Dorfrat im Zentrum, im dörflichen Alltag waren sie Randerscheinungen, ebenso wie die Dorfzeitung, der aus der Stadt kommende Agitator oder die vereinzelt existierenden Kollektivwirtschaften. Das Leben im Dorf lief ohne sie ab, und mancherorts hätte man es gar nicht gemerkt, wenn sie über Nacht verschwunden wären. Die Bauern setzten den Plänen von Partei und Regierung kein ausformuliertes Programm entgegen, sondern eine schwer aufzubrechende .dörfliche Praxis' und .Erfahrung'. Wie die Beispiele zeigten, stand hinter dem bäuerlichen Verhalten ein Regel- und Normensystem, das offenbar nicht von .Klassen', sondern von Hof und Familie ausging, offenbar nicht den Staat, sondern das dörfliche Gemeinwesen in den Mittelpunkt stellte, vermutlich nicht größtmöglichen Ertrag, sondern Subsistenzsicherung ohne Risiko als Leitidee hatte. Was beide, Dorf und Staat, unter .vernünftig', .sozial', .gerecht' verstanden, divergierte somit stark. Eine viel genauere Kenntnis des Dorfes, seiner Wirtschaft und Gesellschaft erscheint nötig, um die Situation, die Ansichten und das Verhalten der Bauern wie die Schwierigkeiten der Bolschewiki und das Scheitern ihrer Politik zu verstehen. Solange in Fragen der Zeitgeschichte westlichen Historikern der Zutritt zu sowjetischen Archiven verwehrt ist, sind sie auf gedruckte Materialien angewiesen. Da die Dorfrealität Mitte der 20er Jahre noch nicht zu den Arkana, den sorgsam gehüteten Geheimnissen der Politik gehörte, ist die Zahl der einschlägigen Publikationen groß. Nicht nur im Zentrum, auch draußen in der Region bis hinunter in die Landkreise publizierten Parteikomitees und Räteorganisationen ihre Programme, Verlautbarungen, Rechenschaftsberichte und Diskussionsprotokolle. In der Tradition der alten zemstva-Organisationen stellten regionale statistische .Büros' oder .Abteilungen' statistische Jahrbücher zusammen und druckten ihre Erhebungen. Traktätchen und Handreichungen erklärten den Agronomen und Funktionären die besonderen Probleme der Region. Regionale Zeitschriften und Zeitungen suchten einen breiteren, freilich immer noch kleinen Leserkreis. Erst gegen Ende der 20er Jahre versiegen diese Quellen oder werden trübe. Die Veröffentlichungen der Herrschenden dienten nicht mehr der Erklärung und Selbstvergewisserung der Politik, sondern ihrer Durchsetzung und Rechtfertigung.

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In allen genannten Quellen dominiert die Sichtweise der Bolschewiki. Doch dort, wo sie nicht nur die Ziele der Politik, sondern deren aktuelle Probleme beschreiben, wo bäuerliches Verhalten mit den Normen des Sowjetstaates in Konflikt gerät und am Pranger steht, wo sich Bauern zu Wort melden und den Lauf der Ereignisse kommentieren, werden Teile der dörflichen Lebenswelt, des bäuerlichen Alltags faßbar: in der Wirtschafts- und Sozialstatistik, in Rechenschaftsberichten und Diskussionen der Räte, in der Kritik der bäuerlichen Bräuche und Sitten, in der Kriminalstatistik und den Prozeßreportagen, in Leserbriefen und Glossen. Auf sie stützt sich die folgende Darstellung der Verhältnisse im Tverer Gouvernement. Sie beschreibt die Entwicklung der Hofwirtschaft, ihre Organisation im dörflichen Verband und die Rolle der Staatsorgane innerhalb der lokalen Gesellschaft.

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Die bäuerliche Ökonomik

Wie das deutsche Wort ,Hof hat auch das russische ,dvor' drei Bedeutungen: Es meint eine fürstliche Residenz, ein Bauerngehöft und einen freien, von Häusern umstandenen Platz. Was der Herrensitz im Großen, ist der Bauernhof im Kleinen: ein Ensemble von Gebäuden, eine Familie samt Gesinde, ein Pferd, ein Wagen und anderes Inventar, ein Stück Land und vielleicht ein Wald. Im Schnittpunkt der Gesamtanlage, vor oder hinter den Gebäuden liegt häufig ein ,HoF im engeren Wortsinn, ein freier Platz als Auslauf für das Kleinvieh 1 . Die vorrevolutionäre Agrargesetzgebung behandelte den Bauernhof als soziale und wirtschaftliche Einheit, und auch der Agrarkodex von 1922 übernahm ihn als Rechtsperson, als Zelle des Dorfes. Er definierte den Hof als .familiäre Produktionsgemeinschaft', deren .Mitglieder' gemeinsam Landwirtschaft betreiben, kollektiv Gebäude und landwirtschaftliches Inventar besitzen und als Gruppe von ihrem Recht auf Boden Gebrauch machen 2 . Das alles ist recht abstrakt. Betrachten wir die Elemente des Hofes und ihre Entwicklung im Tverer Gouvernement genauer: das Bauernhaus als Zentrum; die Familie als Arbeitsgemeinschaft; die Ausstattung der Wirtschaft mit Vieh und Inventar; die Agrarproduktion selbst, ihren Entwicklungsstand, ihre Erfolge und ihre Ziele; weiter das in Tver' besonders wichtige nichtlandwirtschaftliche Nebengewerbe; schließlich das leidige Problem der .Lohnarbeiter' (Hirten, Knechte, Tagelöhner) und die Frage der Landpacht. Vor diesem Hintergrund wird nach Struktur und Entwicklungsdynamik der Tverer Hofwirtschaft zu fragen sein, ihrer Stellung zwischen Subsistenz und Marktwirtschaft.

1. Die bäuerliche Ökonomik a)

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Das Haus

Der Grundtypus des Tverer Bauernhauses war ein schlichter, eingeschossiger Holzbau mit Strohdach. Seine schmale, spitzgiebelige Fassade schaute mit drei, vier kleinen, nebeneinander liegenden Fenstern auf die Dorfstraße. Das Haus hatte kein gemauertes Fundament und waraus Balken und Bohlen vom Bauern selbst gefertigt. Schnitzereien, Ornamente und Farben, wie sie aus der Holzarchitektur des russischen Nordosten bekannt sind, fehlten. Den Eingang erreichte man über eine seitliche, überdachte Treppe, die in einen rückwärtigen Flur mündete; erst über diesen Flur gelangte man in die,Stube' (izba). So blieb im Winter die Kälte draußen. Häufig bestand die Stube nur aus einem einzigen Raum. Er war bei einem mittleren Bauern etwa 50 m 2 , bei einem armen Bauern nur halb so groß. Hier wurde gelebt, gegessen und geschlafen. Links oder rechts neben der Eingangstür lag das Zentrum der Hütte: der .russische Ofen', jenes aus unzähligen Erzählungen und Schilderungen bekannte Monstrum aus Balken, Steinen und Lehm, das ein Fünftel bis ein Viertel (manchmal auch noch mehr) der Wohnfläche einnahm. Am O f e n wurde gekocht, auf der Ofenbank schlief man, am O f e n wurde allwöchentlich ein Schwitzbad genommen. Im Winter versammelte sich die Familie um ihn. Dann war die Luft vom Rauch schwer, und der scharfe Schweißgeruch der am Herd abtrocknenden Fußlappen vermengte sich mit den Essensdünsten. Fenster und Türen hielt man fest verschlossen, um die Wärme nicht hinauszulassen. An besonders harten Frosttagen wurde auch das Jungvieh in die Stube geholt, neugeborene Kälber und Lämmer. Nach Bol'sakov, der uns diese eindringliche Schilderung der Wohnverhältnisse aus dem Südosten des Tverer Gouvernements gibt, hielten die Bauern im Winter drei bis vier Wochen lang das Vieh in der Stube, arme wie reiche Bauern 3 . Die Inneneinrichtung der Hütte war karg: ein Tisch, ein Schrank, ein bis zwei Truhen, ein kleiner Spiegel. An den Fenstern hingen keine Vorhänge, nur die Reichen leisteten sich diesen Luxus. An der Seitenwand und unter den Fenstern liefen Bänke entlang. Am Herd befand sich ein kleines Regal für Töpfe und Eßgeschirr, an der angrenzenden Wand ein zusätzliches Küchenbord. Öfters war der Raum vor dem Herd bis zum Fenster als Küche abgetrennt. Doch selbst wenn der Verschlag bis zur Decke reichte, bot er wenig Schutz gegen Qualm und Essensdunst. Sie zogen durch die Ritzen und den freien Zugang und verbreiteten sich in der ganzen Stube. Die Familie schlief auf Strohmatratzen am Fußboden, auf den Bänken und in der Schlafnische, die dicht unter derZimmerdekke vom Ofen zur gegenüberliegenden Wand führte. Im Sommer näch-

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Abb. 3 - 7 : Tverer Bauernhäuser. Typische Hütte aus dem Dorf Ermolino (Abb. 3) des Landkreises Vysnij Volocek (im Norden des Tverer Gouvernements), darunter (Abb. 4) ein Bauernhaus mit seitlich angebautem Hof aus dem Dorf B.-Bolonnaja des Landkreises Rzev (im Südwesten des Gouvernements). Abb. 5 zeigt ein großes Haus ,mit 5 Wänden', wiederum aus dem Norden des Gouvernements, und Abb. 6 ein Haus mit Winter- und Sommerstube aus dem Gebiet von Krasnyj Cholm (Nordosten des Gouvernements). Allen gemeinsam: der seitliche Treppenaufgang zum erhöhten Eingang (Abb. 7). Quellen: Versinskij/Il'inskij, Verchne-Molozskaja ékskedicija vyp. 1, Tver' 1927, S. 113; Grinkova, Postrojki jugo-zapadnoj casti Rzevskogu uezda, in: Verchne-Volzskaja ètnologiceskaja ékspedicija, Leningrad 1926, S. 153; Artamonov, Postrojki Krasnocholmskogo Rajona (ebenda S. 30); Pesselep, Postrojki Bezeckogo uezda (ebenda S. 142).

54 Abb. 8

III. Zwischen Revolution und Kollektivierung Abb. 9

Abb. 8 und 9: Grundrisse zweier einfacher Bauernhäuser aus dem Südosten des Gouvernements und aus der Waldai-Region. Dabei bezeichnet 1 : die Stube, 2: die Küchenkammer, 3: den Ofen, 4: den Flur, 5: den Abstellraum, 6: den Hof, 7: die Ställe. Quelle: Fenomenov, Sovremennaja derevnja Bd. 1, S. 32; Bol'sakov, Derevnja, S. 357.

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tigte man auch draußen im Heuschober oder in der kalten Vorratskammer. Nur die besser situierten Bauern hatten Laken und Bettgestelle, Bettzeug zum Wechseln fand man auch bei ihnen nicht. Der Stolz der Hütte und ihr einziger Schmuck war die .schöne Ecke', dem Ofen diagonal gegenüber an der Fensterfront. Hier hingen Ikonen und ein Bild der Muttergottes, darunter stand der Tisch 4 . Diebei Bol'sakov geschilderten Zustände beschreiben die Verhältnisse im Süden und Südosten des Tverer Gouvernements. Im Norden, in den Walddörfern von Ostaskov, Vysnij Volocek und Ves'egonsk, waren die Häuser statt mit Stroh mit Schindeln gedeckt. Die Gegend war arm, ärmer als der .agrarische' Süden. Doch der Wald, Lieferant für Bau- und Brennholz, lag vor der Türe. So plante, wer nur konnte und etwas auf sich hielt, sein Haus etwas größer als im Süden. Er baute das Fundament höher hinaus und gewann damit unter der Wohnstube einen Raum, der als Lager genutzt werden konnte und von außen durch eine kleine quadratische Tür zu betreten war. Hatte der Lagerraum noch ein, zwei Fenster, mochte das Bauernhaus sogar als zweigeschossig erscheinen. Und wem das noch nicht genügte, der setzte oben drauf statt des einfachen Giebeldaches ein modisches, aber aufwendigeres Walmdach 5 . Zwei Stuben — im Süden eher das Privileg einer Minderheit — waren hier nichts Besonderes. Zwischen beiden Stuben lag ein Flur, der zugleich als Vorratskammer diente. Von den beiden Zimmern wurde das eine, die kalte .Sommerstube', im allgemeinen nicht bewohnt. Hier empfing man allenfalls Gäste, und das auch nur an Festtagen. Auf dem Fußboden lagen bunte Matten, das Bett in der Ecke war durch einen selbstgewebten, von der Decke bis zum Boden reichenden Vorhang abgetrennt, auf dem Tisch lag ein Tuch, und um ihn herum standennicht nur Bänke, sondern als .städtisch' geltende Stühle. Das eigentliche Leben, der Alltag, spielte sich nicht hier, sondern in der warmen, manchmal auch kleineren und niedrigeren ,Winterstube' ab. Mit dem russischen Ofen in der Ecke und dem Herrgottswinkel gegenüber glich sie in Anlage und Ausstattung den oben beschriebenen Wohnverhältnissen; nur eine Spur reinlicher und freundlicher war alles, wenn man die vorliegenden Berichte verallgemeinern darf. Das Vieh im strengen Winter in die Stube zu holen, war im Norden nicht üblich 6 . Der Mehraufwand der Bauernhäuser im Norden und Nordwesten des Gouvernements war bescheiden, wer aus dem Süden kam, nahm die Nuancen trotzdem wahr. Und wer die Wohnverhältnisse in Tver' oder im nördlich angrenzenden Novgorod mit den Zuständen in Südrußland, mit den Bauernkaten aus Flechtwerk und Lehm in Orel und Rjazan', verglich, bekam einen Eindruck von dengroßen kulturellen Unter-

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Abb. 10 und 11 : Rechts oder links vom Eingang: der russische Ofen. Hier zwei Beispiele aus den Gebieten von Krasnyj Cholm und Bezeck. Um den Ofen sieht man einen Bretterverschlag (karzina oder golbec) mit der Tür oder Klappe (als Zugang zum Raum unterhalb der Stube). Darüber war manchmal ein Wandbett angebracht (wie auf Abb. 11). Beide abgebildete Öfen sind, weiße' Ofen (mit Ofenrohr und Rauchabzug).,Schwarze' Ofen hatten den Vorteil, daß man fur sie weniger Ziegel und keine Eisenwaren brauchte, was sie beson-

schieden selbst im europäischen Teil Rußlands, jenem ,Nord-Süd-Gefálle' zwischen Ostsee und Kaspischem Meer 7 . An die Hinterwand des Wohnhauses, manchmal auch seitlich war der ,Hof angebaut, der ,Hof im engeren Sinn des Wortes. Er war im Tverer Gouvernement kein freier Platz, sondern ein überdachter Raum. Als Auslauf für das Vieh und Aufbewahrungsort für das landwirtschaftliche Gerät war er (oft, aber nicht immer) niedriger als das Wohnhaus und nach außen durch eine (meist doppelte) Flügeltür zu öffnen. An den Hof schlossen sich die Ställe an. Außerdem gehörten zu einem Gehöft: ein kleiner Vorratsspeicher (ambar, zitnica), ein Heuschober (sennoj saraj, puni), eine Tenne für das Stroh samt Getreidedarre und Dreschplatz (gumno s rigoj) und ein Badehaus (banja). Viele Bauern hatten keine eigene Dreschtenne, sie droschen ihr Getreide beim Nachbarn, umsonst oder gegen Bezahlung. Und auch der Besitz eines eigenen Badehauses war ein Aufwand, den sich im Tverer Gouvernement nur eine Minderheit der Bauern leistete. Manche gingen zum Nachbarn, die große Mehr-

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Abb. 11 ders in den ersten Jahren nach der Revolution attraktiv machte; außerdem waren ,schwarze' Stuben nach Meinung der Bauern trockener und haltbarer, sie bekamen keine Stockflecken. Mit besonderer Sorgfalt sah man auch darauf, daß stets Glut im Ofen war, denn auch Streichhölzer waren Mangelware. Quellen: Artamonov, Postrojki Krasnocholmskogo Rajona, sowie Pesselep, Postrojki Bezeckogo uezda, beide in: Verchne-Volzskaja ètnologiceskaja èkspedicija, S. 37 f, 113 f.

heit aber begnügte sich mit dem heimischen Herd und nahm dort das allwöchentliche Schwitzbad 8 . Speicher, Heuschober, Tenne und Badehaus bildeten mit dem Wohnhaus, dem Hof und dem Stall kein geschlossenes bauliches Ensemble. Sie lagen meist in zweiter, dritter, vierter Reihe hinter dem unmittelbar an der Dorfstraße gelegenen Wohn-Stall-Trakt, jeweils 50,100 und 250 m von diesem getrennt. Das dazwischen liegende .Hofland' (usad'ba) gehörte zum Gehöft: Manchmal sogar eingezäunt, wurde es als Gartenland bestellt und bei der periodischen Umverteilung nicht in die Bodenrotation einbezogen 9 . Aus dem weiten Abstand zwischen den einzelnen Gebäuden sprach die elementare, ständige Angst der Bauern vor dem Ausbruch eines Brandes. Noch immer galt die alte Faustregel, daß fast in jeder Generation der Hof einmal abbrannte und im Verlauf von 30,40 Jahren jedes Dorfvon Grund auf neu entstand. 8.000 Bauernhöfe brannten alljährlich im Tverer Gouvernement, 500.000 in der ganzen Sowjetunion, so teilte die regionale Bauernzeitung,Tverer Dorf' im Oktober

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1926 ihren Lesern warnend mit 10 . Besonders im Sommer, so erfahrt man bei der Durchsicht der Zeitung, häuften sich die Brandkatastrophen, dann wenn alle Bauern draußen auf dem Feld waren und nur einige Kinder im Dorf zurückblieben. So war es auch im Dorf Kumordino im Landkreis Tver'. Als hier imjuli 1926 das Feuer ausbrach, war ein Teil der Bevölkerung gerade ausgerückt, um einen Waldbrand zu löschen, die anderen Bauern waren bei der Heuernte. So breitete sich das Feuer im Dorf rasch aus. Als die Nachbardörfer mit ihren Feuerspritzen zu Hilfe eilten, war es bereits zu spät: Das Feuer hatte Teiche und Wasserstellen eingeschlossen. Von den 70 Häusern des Dorfes verbrannten 69, zwei Frauen und ein Kind kamen in den Flammen um. Die Bauern standen vor dem Nichts 11 . Brandkatastrophen wie diese verstärkten im Dorf das fatalistische Gefühl, daß es einen wirksamen Feuerschutz nicht geben könne. Ob durch einen defekten Ofen, Blitzschlag oder Brandstiftung verursacht - das Feuerwarwie ein Hagelwetter oder eine Viehseuche plötzlich da. War der Brand erst einmal entstanden, sprang er leicht von Strohdach zu Strohdach weiter und legte, eh man sich versah, ein halbes oder wie in Kumordino das ganze Dorf in Schutt und Asche. Löschversuche erwiesen sich als zwecklos. Die

Abb. 12: Seitlich oder hinten an das Wohnhaus angebaut: der (überdachte) ,Hof\ hier mit ausgebautem Dachgeschoß, das im Winter für die Aufbewahrung von Heu, im Sommer auch als zusätzliche Schlafgelegenheit genutzt wurde. Qiielle: Pesselep, Postrojki Bezeckogo uezda, in: Verchne-Volzskaja étnologiceskaja ékspedicija, S. 112.

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Flammen waren schneller und stärker als die dörfliche Feuerwehr, die nur über ein paar Wassereimer und einige poröse Schläuche aus der Vorkriegszeit verfugte. Die staatlichen Stellen appellierten, die Feuerwehren zu verstärken, doch die Reaktionen der Bauern zeigten Skepsis. Die Dörfler nahmen Brände als Schicksalsschlag, erfuhren sie wie elementare Naturkatastrophen: Man konnte sie furchten, aber kaum verhindern 12 . In den Jahren der Revolution und in der ersten Zeit danach wurde auf dem Dorf viel gebaut. Neue Höfe hatten sich gebildet, alte Gebäude mußten erneuert werden. Doch nicht nur fur den Bedarf, auch aufVorrat wurde produziert. Niemand hinderte die Bauern, sich aus dem Wald zu holen, was sie an Brenn- und Bauholz brauchten; wie lange dieser Zustand noch dauerte, wußte keiner. D e n n der Staat hatte immer wieder angekündigt, der Plünderung des Waldes ein Ende zu setzen. So legten sich die Bauern .Vorräte' an. Halbfertig standen die neuen Hütten herum, bestimmt für die Söhne, die noch in den Windeln steckten. Die wichtigsten Bauwerkzeuge besaßen die Bauern selbst, und da Nägel, Klammern und sonstige Eisenwaren nicht zu haben waren, besann man sich auf alte Techniken, die diese entbehrlich machten. Auch die notwendigen Gebrauchsgegenstände - irdene Töpfe, tönerne und hölzerne Schüsseln, Hausgeräte und Kleidung — verfertigte der Bauer selbst oder erstand sie auf dem lokalen Markt 13 . In Zeiten der Not zog sich das Dorf auf sich selbst zurück. Es demonstrierte damit sich und den anderen, daß Staat und Stadt auf das Dorf - nicht umgekehrt - angewiesen waren. b)

Die Familie

Zu einem Tverer Bauernhof - so ergab die Hofzählung von 1920 — gehörten in der Regel 5 bis 6 Personen: 2 bis 3 Erwachsene und ebenso viele Kinder. Im dünn besiedelten, waldreichen Norden, so kann man der Statistikweiter entnehmen, waren die Höfe am kleinsten; sie wurden um so größer, je weiter man nach Süden ging: Im Landkreis Ves'egonsk war ein Bauernhaushalt (mit 4,9 Personen pro Hof) im Durchschnitt um einen Kopf kleiner als in den Landkreisen von Zubcov (5,7), Tver' (5,8) und Stanca (5,9) 14 . Das waren Durchschnittszahlen, knapp die Hälfte der Gehöfte ließ sich ihnen zuordnen. Bei der anderen Hälfte war der Haushalt deutlich größer oder kleiner: Rund 20 °/o der Höfe bestanden nur aus 1 bis 2 oder 3 Personen, etwa ein Drittel hatte 7 bis 10 Mitglieder 15 . Die allgemeine Statistik sagt nichts über die Struktur der Haushalte, nicht einmal der Verwandtschaftsgrad der Hofmitglieder ist aus ihr zu entnehmen. Sie zählte nur zusammen, was am Hof und vom Hof lebte.

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Abb. 13: Als in den Revolutions- und Bürgerkriegsjahren Eisenwaren (Nägel und Klammern) knapp wurden, kehrte das Dorf zu Techniken zurück, die diese entbehrlich machten, und statt mit Schindeln (wozu man 1 Pud Nägel brauchte), deckte man die Häuser wieder mit Stroh. Quellen: Fenomenov, Sovremennaja derevnja Bd. 1, S. 46 ff; Artamonov, Postrojki Krasnocholmskogo Rajona, in: Verchne-Volzskaja ètnologiceskaja èkspedicija, S. 11 ff; Pesselep, Postrojki Bezeckogo uezda, in: ebenda S. 141.

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Zur genaueren Analyse sind wir auf Ortsbeschreibungen, lokale Daten und Informationen angewiesen, wie sie Fenomenov für das WaldaiDorf Gadysi aus dem Novgorod-Tverer Grenzgebiet überliefert hat. Selbst wenn diese Quellenbasis mit Angaben über ein einziges Dorf für weitreichende Rückschlüsse zu schmal erscheint, sie vermittelt doch einige grundsätzliche Einsichten, die sich mit der nötigen Vorsicht für den Bereich des Tverer Gouvernements verallgemeinern lassen: Denn mit 5,4 Personen pro Hof entsprachen die Verhältnisse in Gadysi bis auf die Stelle hinter dem Komma genau dem Tverer Durchschnitt. Und wie in Tver' waren auch hier die Hälfte der Gehöfte 5-bis-6-Personen-Haushalte 16 . Geht man von ihnen als Grundtypus aus, so zeigt die Beschreibung der Höfe, die tabellarische Aufschlüsselung ihrer Mitglieder, daß j eweils eine Kernfamilie, ein Ehepaar mit Kindern, den Mittelpunkt bildete. Manchmal ergänzte sie ein Verwandter oder - noch häufiger—eine weibliche, unverheiratete, als .Kindermädchen' (njan'ka) bezeichnete Angestellte. Der Mann, der Vater fungierte als Haushaltsvorstand. Nur in Ausnahmefallen übernahm die Mutter diese Rolle: dann nämlich, wenn sie verwitwet und die Söhne noch klein waren oder wenn ihr zweiter Mann nur in das Gehöft eingeheiratet hatte 17 . Unterhalb der .Normalfamilie' gab es in Gadysi eine Reihe von Kleinsthaushalten. Häufig warensie besonders arm undihrerKonstellation nach das, was die Demographen brutal, aber treffend als Restfamilie oder Familienrest bezeichnen: Hierzu zählten die alleinstehenden Witwen, die Witwe mit ihrem erwachsenen Sohn, der Bruder mit seiner Schwester samt deren unehelichem Kind, die Mutter mit ihrer geschiedenen Tochter. Auch der bettelarme Dorftrottel Petr Andreevic gehörte zu ihnen 19 . Manchmal bildete auch ein Ehepaar ohne oder mit nur einem Kind einen eigenen Haushalt. Häufiger war jedoch, daß solche noch jungen Ehepaare im Haushalt der Eltern verblieben. Besonders in wohlhabenden und reichen Häusern stieß man öfters auf das Phänomen des Zwei- oder Dreigenerationen-Haushaltes. Kamen zur Stammfamilie (aus Großeltern, Eltern und Kindern) noch Geschwister und sonstige Verwandte, so bildete sich ein ganzer .Sippenverband' mit 9,10 oder gar 13 Mitgliedern 19 . Wie man in kleinen Haushalten die Armut fand, so stieß man in großen aufWohlstand. Arme und kleine Familie, große und reiche Familie — die Begriffe entsprachen einander. Ausnahmen bestätigen die Regel: Efim Vasil'evic Bol'sakov führte mit seiner Frau und 5 Kindern ein kümmerliches Leben. Für Gadysi war die Familie groß, daß sie dennoch arm war, war, wie gesagt, ungewöhnlich 20 . Die beschriebenen Verhältnisse lassen sich verallgemeinern. Die patriarchalische Grundstruktur der Bauernfamilie mit der inferioren Stel-

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lung der Frau, der Typus der reinen oder erweiterten Kernfamilie und ihr Vorherrschen gegenüber proletaroiden Kümmerhaushalten und sippenartigen Großfamilien, die wechselseitige Entsprechung von Haushaltsgröße und Wohlstand — diese Phänomene waren nicht ortsspezifisch, sie galten im Südosten des Tverer Gouvernements genauso wie im Nordwesten 21 . Ihre Verwurzelung im Tverer Dorf zeigte sich deutlicher denn je, als die Sowjetregierung daran ging, Hof und Haushalt, Familie und Ehe auf eine neue Rechtsbasis zu stellen. Sie rührte damit, wie sich schnell herausstellte, an die Grundlagen der dörflichen Gesellschaft, stieß auf prinzipielle Schranken. Die daraus entstehenden Schwierigkeiten waren groß und der politische Erfolg der Reformversuche wechselhaft. Schon im Dezember 1917 hatten die Bolschewiki die kirchliche Trauung durch die Zivilehe ersetzt und gleichzeitig mit ihr auch die Möglichkeit der Ehescheidung eingeführt. Zur Schließung einer Ehe genügte ab sofort deren standesamtliche Registrierung und zu ihrer Auflösung ein einfaches Gesuch, in dem beide Ehepartner oder einer von ihnen die Beendigung des Eheverhältnisses beantragte. Die Nachfolgelasten, die Kinder und die Versorgungsfrage, sollten sie einvernehmlich lösen, andernfalls das Gericht darüber befinden 22 . Das im November 1926 nach längeren Debatten verabschiedete Gesetzt ,Über Ehe, Familie und Vormundschaft' führte diese, wie es uns erscheinen mag, .modernen' Gedanken fort. Es betrachtete die Ehe als Zuerwerbsgemeinschaft, in die beide Ehepartner, soweit sie sich zu gemeinsamer Haushaltsführung entschlossen, ihr Sondereigentum einbrachten. Auf alles, was sie während der Zeit ihrer Ehe erwirtschafteten, hatten beide Ehepartner gleiche Besitzansprüche 23 . Eheähnliche Verhältnisse waren der Ehe gleichgestellt, im Falle der Beendigung eines eheähnlichen Verhältnisses sollten die Grundsätze des Scheidungsrechtes angewandt werden. Als Kennzeichen für eheähnliche Verhältnisse galten das faktische Zusammenleben, eine gemeinsame Haushaltsführung, das Wissen um die Partnerbeziehung bei dritten Personen und gegenseitige materielle Zuwendungen. Auch eheliches und uneheliches Kind waren einander gleichgestellt und der Vater jeweils nach Maßgabe seiner wirtschaftlichen Möglichkeiten zur Beteiligung am Unterhalt verpflichtet 24 . Für die besonderen Rechts- und Eigentumsverhältnisse auf dem Lande verwies das Gesetz auf die Regelung des Agrarkodex von 1922. Diese gingen nicht von Ehe und Familie, sondern vom Hof und seinen Mitgliedern aus; auf dem Hof hatten — so sagte der Agrarkodex — unabhängig von Alter und Geschlecht alle das gleiche Nutzungsrecht am Boden und die gleichen Besitzansprüche für Gebäude und Inventar. Als Vertre-

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ter des Hofes in wirtschaftlichen Dingen fungierte ein .Hausherr' (doraochozjain), der ein Mann oder eine Frau sein konnte. Erwies er sich als unfähig, konnte er auf Antrag der Hofmitglieder durch den Bezirksrat seines Postens enthoben und durch einen anderen Hofangehörigen ersetzt werden. Die besondere Form des Hofeigentums entband im übrigen kein Hofmitglied, seinen gesetzlichen Unterhaltspflichten für uneheliche, nicht auf dem Hof lebende Kinder nachzukommen. Notfalls war dazu auch das Hofeigentum heranzuziehen 25 . Der Agrarkodex gestand den Hofmitgliedern nicht nur gleiche Besitz und Nutzungsrechte zu, er konzedierte ihnen auch, mit ihrem Anteil aus der Hofgemeinschaft auszuscheiden. Einen Antrag auf Teilung konnte jeder — wiederum unabhängig von Alter und Geschlecht - stellen, nur volljährig ( 18 Jahre) mußte er sein. Dem Antrag war stattzugeben, wenn die Absicht bestand, einen eigenen Hof zu gründen, und der Anteil des Antragstellers nicht allzu klein erschien. Bei der Neugründung eines Hofes hatte die Gemeinde das dafür benötigte Hofland zur Verfügung zu stellen. War ein Hof zur Teilung zu klein, so blieb das dazugehörige Land ungeteilt. Jedes ausscheidende Mitglied konnte aber die Auszahlung seines Besitzanteiles an Gebäuden, Vieh und Inventar — in Geld oder Naturalien - verlangen. Einigte man sich nicht über die Höhe der Ansprüche, so mußte die für Landstreitfragen zuständige Rätekommission darüber entscheiden. Soweit die neue rechtliche Lage26. Aus der Sicht des Dorfes wurde die Abwertung der Heirat zum bloßen registratorischen Akt ihrer Bedeutung nicht gerecht; die Eheschließung mit allen ihren Implikationen war auch zu wichtig, um allein den Ehepartnern überlassen zu werden; und wenn man die Ehe mit eheähnlichen Verhältnissen gleichzusetzen suchte, so vermengte man, was sorgsam getrennt werden mußte. Das war der kritische Grundton vieler Äußerungen, als der Entwurf des neuen Ehegesetzes im Winter 1925/26 bekannt wurde. Dahinter verbargen sich grundsätzliche Differenzen über Sinn und Zweck einer Ehe, über ihre private und allgemeine Bedeutung, über das Verhältnis des Einzelnen zum gesellschaftlichen Umfeld, in dem er lebte. Ein Mädchen zu lieben und mit ihm vorübergehend zu leben, sei eine Sache, für eine Heirat seien andere Kriterien entscheidend, so etwa umschrieb eine bäuerliche Leserzuschrift im Februar 1926 im ,Tverer Dorf (der regionalen Bauernzeitung) das Grundproblem; die künftige Ehefrau suche man nach dem Besitz aus, und eine Heirat komme auch nur in Frage, wenn der Junge sein festes Einkommen habe. Eine rechtliche Regelung, die diese grundsätzlichen Dinge übersehe, könne im Dorf nur Unruhe stiften 27 . Die Frage, wer, wann und zu welchen Bedingungen ge-

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heiratet wurde, hing nicht von bloßen Neigungen ab, sondern mußte sorgsam erörtert werden. Da sie, so kann man ergänzen, den ganzen Hof betraf, oder besser gesagt: beide Höfe, den des Bräutigams und den der potentiellen Braut, waren beide Höfe auch an der Entscheidungsfindung zu beteiligen. Und weil die getroffene Entscheidung auch immer das Dorf mittangierte, mußte auch die dörfliche Öffentlichkeit entsprechend auf dem Laufenden gehalten werden. Ein strenges Protokoll sorgte von der Werbung bis zum Hochzeitsmahl für die Einhaltung dieser Grundsätze. Es stellte den Hof und seine wirtschaftliche Zukunft, nicht die künftigen Eheleute und ihre Emotionen in den Mittelpunkt und Schloß von vornherein aus, daß diese ihren Schritt als persönlich und rein privat mißverstanden. Bol'sakov hat das Heiratsszenarium, wie er es im Südosten des Tverer Gouvernements Mitte der 20erJahre vorfand, anschaulich beschrieben. Die neu eingeführte Registrierung der Ehe hatte, wie Bol'sakov dartut, an der alten Szenenfolge nichts zu ändern vermocht; sie hat sie nur um ein unwesentliches Zwischenspiel, den standesamtlichen Akt, erweitert. Schon bei der Wahl des Zeitpunktes stand das Hofinteresse im Vordergrund: Nur im Winter ließ die Landwirtschaft für eine Hochzeit genügendZeit, und da die Kirche in der Advents- und Fastenzeit nicht traute, blieb nur der Zeitraum zwischen 6. Januar und Aschermittwoch, sofern man nicht — und das taten nur wenige — auf den kirchlichen Segen verzichten wollte. Für ein längeres Sich-kennen-lernen fehlte die Zeit. War die Vorauswahl getroffen, besuchte der Bräutigam kurzerhand mit seinen Eltern das Dorf der Auserwählten 28 . Sie stiegen, so erzählt Bol'sakov, bei irgendeinem Nachbarn ab und ließen sich bei den Eltern des Mädchens melden. Zeigten diese Interesse, so empfingen sie die Fremden und bewirteten sie mit Tee. Erste Gespräche wurden dabei geführt, aber mehr allgemeiner Art. Auch die Nachbarschaft fand sich ein und diskutierte und kommentierte das Geschehen. Schließlich wurde ein Gegenbesuch vereinbart, bei dem sich die Brauteltern samt ihrer Tochter den Besitz des Bräutigams besahen. Bei diesem Gegenbesuch fiel die Entscheidung. Nach der Begehung und ausführlichen Inspizierung des Hofes begannen die Verhandlungen um die Mitgift. Gefiel dem Bewerber seine mögliche Braut nicht, so brachte er die Sache an der Mitgift zum Platzen. Ansonsten feilschte man hart um jeden Rubel und suchte sich nach Möglichkeit zu einigen. An manchen Orten besiegelten die Väter - wie bei einem Kaufvertrag - den Ehekontrakt mit Handschlag. In einer .Wallfahrt' (bogomol'e) wurde die Braut nun nach Hause zurückgebracht, der Bräutigam und seine Anverwandten begleiteten sie. Nach einem gemeinsamen Gebet im Hause der Braut wurden die Gäste

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bewirtet, der Bräutigam saß mit der Braut in der .schönen Ecke' unter dem Muttergottesbild, und auch die dörfliche Öffentlichkeit war wieder zugelassen. Schon 14 Tage später erfolgte die Hochzeit. Ihrfestliches Zeremoniell war eine Mischung aus religiösen Riten und magischen Bräuchen; nicht nur das Brautpaar und seine Verwandtschaft, das ganze D o r f n a h m daran teil. Die guten Sitten, das feingesponnene Netz sozialer Beziehungen, sahen manche im Dorfe bereits gefährdet, wenn - wie der Staat das forderte — die Zahlung von Alimenten eingeführt wurde. Ein volljähriges Mädchen, so beschwerte sich eine bäuerliche Leserzuschrift aus dem Landkreis Rzev im D e z e m b e r 1927 im .Tverer D o r f , wisse mit seinen 19, 2 0 J a h r e n doch ganz genau, was es tue. W e n n es sich trotzdem mit Männern einlasse, müsse es auch die Folgen einer eventuellen Schwangerschaft tragen. Die Verpflichtung zur Zahlung von Alimenten führe zu deren Mißbrauch: Ältere, schon etwas angestaubte Mädchen, die längst

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Abb. 14: Die Gleichstellung von ehelichen und unehelichen Kindern (nach dem Sowjetrecht) und die im Dorf heftig umstrittene Verpflichtung des leiblichen Vaters zur Zahlung von Alimenten werden als Religionskritik umgemünzt: Christus fragt - im Beisein von Erzengel Gabriel, Gottvater, Joseph und dem Heiligen Geist — seine Mutter: „Wer von denen ist denn nun mein wirklicher Vater, von wem kriegst du die Alimente?" (Karikatur aus der Tverer Dorfzeitung). Quelle: Tverskaja derevnja 1927 No 2, 6. Januar.

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die Hoffnung auf eine Heirat aufgegeben hätten, machten sich über junge Burschen her und verschafften sich so ein sorgloses Leben. Der Bauer, der zur Feder gegriffen hatte, um der Redaktion der Dorfzeitung seinen Unmut mitzuteilen, stand, wie er bemerkte, mit seiner Meinung nicht allein. Auch die Redaktion der Zeitung räumte dies ein und stellte den Brief, obwohl sie seine Aussage nicht teilte, zur Diskussion 29 . Das Leserecho bestätigte den Eindruck. Selbst ein Dorfkorrespondent der Zeitung schlug in seinem Beitrag zwei Wochen später in die gleiche Kerbe. Zwischen der Einfuhrung der Alimente und dem schamlosen Gebaren mancher Mädchen auf den Zusammenkünften der Dorfjugend sah er einen engen Zusammenhang. Um sich einen schönen oder besonders reichen Burschen als Bräutigam zu gewinnen, sei ihnen jedes Mittel recht, auch der Geschlechtsverkehr, wenn nichts anderes helfe. Sollte der so Umworbene sie dann immer noch nicht zur Frau nehmen, müsse er zumindest den Unterhalt zahlen. Mit der Abschaffung der Alimente, so meinte der Dorfkorrespondent, könne dieser Kalkulation der Boden entzogen werden 30 . Beide Herangeführten Stellungnahmen trafen sich im zentralen Argument: Die Einführung von Alimenten gefährdete nach der Meinung der Autoren nicht nur die Moral, sondern die Sitten; sie verwische die Grenzen zwischen vorehelicher Sexualität und Heiratsverhalten, vermengte, was—wie oben ausgeführt - aus dörflicher Sicht nicht zusammengehörte. Der Grundsatz, daß soziale Stellung, soziale Sicherheit und sozialer Aufstieg auf Arbeit und akkumulierter Arbeit (Mitgift, Vermögen) beruhen sollte, war durchbrochen, das bäuerliche Gefühl für Gerechtigkeit verletzt, wenn .Verführung', Emotionen und Sexualität zu den neuen Grundlagen des Heiratsverhaltens wurden. Die Redaktion des ,Tverer Dorfes' — und aus ihrem Mund sprach der aufgeklärte Staat — hielt solchen Ansichten entgegen, daß es auch ein Recht des unehelich geborenen Kindes gebe. Man darf bezweifeln, daß sie die Bauern überzeugen konnte. Für die Bauern war die Versorgung derunehelichen Kinder wohl eher eine karitative als eine grundsätzliche Frage. Doch die bäuerlichen Leserzuschriften sprachen darüber nicht, sich prinzipiell und abstrakt über Grundsätze zu verbreiten, war nicht ihre Art. Mit Verwunderung dürfte man auch eine Kampagne des ,Tverer Dorfes' aufgenommen haben, mit der sich die Zeitung im Winter 1927 für die Abschaffung der Mitgift einsetzte. Die Mitgift, so argumentierte sie, verletze die Würde der Frau; eine Ehe solle nicht auf der Mitgift, sondern dem Respekt der Eheleute voreinander beruhen; nur Reiche könnten Mitgift zahlen, die armen Wirtschaften brächten diese Aufwendungen an den Rand des Ruins; der Schaden, der ihnen von der Mitgift

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entstünde, sei oft nicht geringer als bei einem Brand 31 . Die Kampagne gegen die Mitgift setzte die Politik der Privatisierung der Ehe fort, und man wird ihr die guten Absichten ebenso wenig bestreiten können wie die innere Logik. Ihr Dilemma bestand nur darin, daß sie mit dem Gedanken an die Universalität der Vernunft, mit der sie die Gesellschaft verändern wollte, deren eigene Ratio übersah. Uberzeugt von der Voraussetzungslosigkeit der eigenen Position verordnete sie der agrarischen Gesellschaft eine bürgerliche Sozialethik — und scheiterte damit. Günstigerstanden die Voraussetzungen für die Auflösung derpatriarchalischen Familienstruktur und die Durchsetzung der Gleichberechtigung aller Hofmitglieder. Das Diktum von der zentralen Bedeutung der physischen männlichen Arbeitskraft für die landwirtschaftliche Produktionsweise mochte vielleicht im Süden und Südosten Rußlands seine Berechtigung haben: Hier setzten die Bauern noch in den 20er Jahren den Verlust der männlichen Arbeitskraft und den Ruin der Wirtschaft in eins 32 . Im Tverer Gouvernement galt dieser Tatbestand so uneingeschränkt nicht und nach den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges weniger denn je. In den Kriegsjahren hatten viele Frauen - nach der Mobilisierung ihrer Männer — lernen müssen, den schweren Pflug zu führen, und sie hatten es gelernt 33 . Im Tverer Norden und Nordwesten und auch in Teilen des Südens war dies keine neue Erfahrung, hier kümmerten sich die Frauen seit langem um die Bestellung des Bodens, während die Männer vor Ort oder auf Wanderschaft ihrem Gewerbe nachgingen 34 . Unverkennbar waren auch die Anzeichen einer Aufwertung der Frau: Der Analphabetismus unter ihnen sank, und ihre Beteiligung an politischen Wahlen stieg; vereinzelt wurden Frauen sogar in die Dorfräte gewählt 35 . Doch darin den Auftakt für das Ende des Patriarchalismus zu sehen, wäre übertrieben. Noch Mitte der 20er Jahre lag der Bildungsgrad der Frauen in Tver' (mit einer Analphabetenrate von über 60 °/o) deutlich unter dem der Männer; in den Dorfsowjets kam auf 9 männliche Deputierte gerade 1 Frau, und in leitender Position suchte man sie vergebens. Wenn es um die Repräsentanz des Hofes auf der Dorfversammlung ging und der Hausherr, der Vater, verhindert war, schickte man lieber den minderjährigen Sohn als die Frau; denn Frauen hatten es, wie Bol'sakov bezeugt, auf dem schod schwer, sich und der von ihnen vertretenen Sache Gehör zu verschaffen 36 . Und auch innerhalb des Hofes blieb es bei der alten Geschlechtertrennung. Im Grunde zeigte sich dies schon an der Auseinandersetzung um die Mitgift. Nach dem Gesetz warenalle Hofmitgliedergleich, undbeim Ausscheiden hatte jeder das Recht, seinen Anteil mitzunehmen. In

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III. Zwischen Revolution und Kollektivierung

Wirklichkeit aber erbte der Sohn, und die Töchter wurden mit Mitgift abgefunden, selbst wenn die Mitgift manchmal größer gewesen sein mag als der Pflichtanteil. Wenn die Tverer Dorfzeitung von den .gleichen Rechten der Frau' sprach, geschah es immer in einem Zusammenhang, der zeigte, wie schwer dieser Grundsatz in der Realität durchzusetzen war: Sie erzählte vom betrunkenen Familienvater, der die Frau mißhandelte und die Kinder als frei verfügbares Eigentum behandelte 3 7 ; sie schrieb von der Tochter, die sich vom Vater trennte und mit ihrer rechtmäßigen Forderung nach eigenem Hofland in der Gemeinde und bei den Sowjetbehörden nur auf Anmaßung und Ablehnung stieß 38 ; und sie schilderte, wie eine geschiedene Frau um ihren Hofanteil kämpfte, und wie schwer es dem Gericht fiel, eine gerechte, beide Seiten befriedigende Lösung zu finden39. Vor diesem Hintergrund ist auch die häufige Teilung von Bauernwirtschaften nach der Revolution zu sehen. Obwohl die Zahl der Neugründungen groß war, dramatisch war diese Entwicklung nicht, und sie sprengte auch keineswegs alle Familienbande. Alles in allem verstärkte sich nur der Trend zur Kernfamilie: Große Stammfamilien mit mehreren Generationen entflochten sich, erwachsene Söhne trennten sich von ihren Eltern und gründeten ihren eigenen Hausstand 4 0 . Vergleicht man die fünfJahre zwischen 1923 und 1928, ein Zeitraum, für den einigermaßen verläßliche Daten vorliegen, so stieg die Zahl der Höfe im Tverer Gouvernement von 383.336 auf429.579; das waren 12 °/o insgesamt und 2 , 4 % jährlich mehr 4 1 . Die ländliche Bevölkerung wuchs nur um 1,85 % jährlich, wobei das Dorf ein Drittel (0,6 °/o) davon noch durch Wegzug in die Stadt verlor 42 . So schrumpfte die Zahl der Personen pro H o f v o n 5,4 (1920) auf5,1 (1928), und da der steigenden Zahl der Wirtschaften kein vergleichbarer Zuwachs an Saatfläche entsprach, sank neben der Familien- auch die Betriebsgröße der Höfe. Der Trend zur Kernfamilie förderte die BildungvonZwergwirtschaften. DieserEntwicklungversuchte die Sowjetunion seit der zweiten Hälfte der 20er Jahre durch die Einschränkung der Teilungspraxis gesetzlich gegenzusteuern; sie entzog damit der im Agrarkodex verfügten Gleichstellung aller Hofmitglieder wieder einen Teil der Rechtsgrundlage 43 . c)

Vieh und Inventar

Ein Pferd, wenn es hoch kam zwei, zwei Kühe oder Kälber, drei Schafe, ein Pflug aus Eisen oder Holz, eine hölzerne oder eiserne Egge, ein bis zwei Sensen und ebenso viele Sicheln — das war die Ausstattung, wie sie Anfang der 20er Jahre drei von vier Tverer Bauernhöfe besaßen 44 .

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Größere Maschinen fehlten, und die Bodenbestellung war einfach. Mit der Hand wurden im April und Mai nacheinander der Hafer, der Sommerroggen, der Flachs, der Sommerweizen, die Gerste und der Buchweizen ausgesät45. Mit der Sense mähten die Bauern Ende Juni die Wiesen. Für die Getreideernte imjuli und August nahmen sie die Sichel; das war zwar aufwendiger, aber minderte den Verlust, den Ausfall der Körner aus den reifen Ähren. Da der Boden nicht viel hergab, kam es auch auf kleinere Mengen an 46 . Getrocknet in der Darre, wurde das Getreide im Herbst, nach Beendigung der Feldarbeit, ausgedroschen. Man tat es im allgemeinen mit dem Flegel, in einigen Landkreisen des Zentrums und des Nordens waren auch einfache, handgetriebene .Dreschmaschinen' verbreitet 47 . Vorder Frühjahrsaussaat und vor derBestellung des Winterfeldes (der Aussaat des Wintergetreides auf der Brache) wurde der Acker umgepflügt. Die Versorgung mit Ackergerät war in Tver' vergleichsweise gut, besserals im Süden und Südosten Rußlands 48 ; aufhundert Wirtschaften kamen 80 Pflüge, und die meisten bestanden aus Eisen 49 . Nur im Norden des Gouvernements, in den Landkreisen von Ostaskov, Vysnij Volocek und Ves'egonsk, war noch jeder zweite Pflug aus Holz und hatte statt der Pflugschar zwei einfache, eisenbeschlagene, engnebeneinander stehende Dornen. Sie wandten das Erdreich nicht um, sondern ritzten nur flache Furchen in den Boden. Dieses Gerät, ,socha' genannt, mutete mittelalterlich an und war es auch, doch wo die Humusschicht des Bodens dünn war, wie eben im Norden häufig, war die socha dem modernen Pflug überlegen: Ein tieferes Eindringen in das Erdreich hätte nur den sandigen Untergrund nach oben gebracht. Die unempfindliche socha störtenauch die Steine auf den Feldern nicht; und blieben bei der (im Norden immer noch üblichen) Brandrodung die Baumstümpfe im Boden, mit dem wendigen Hakenpflugwarihnenleichterauszuweichen als mit schwerem Ackergerät. So war es nicht nur Rückständigkeit und Traditionalismus, wenn die Bauern im Norden unbeirrt an der socha festhielten 50 . Auch die Egge, mit der man vor der Aussaat das Erdreich lockerte, war den Bodenverhältnissen angepaßt. Sie bestand im Süden des Gouvernements meist aus einem einfachen Balkengerüst, das an seiner Unterseite zwanzig 12-15 cm lange eiserne Dornen hatte; soviel konnte ein Pferd gerade noch ziehen. Im Norden war die Egge ganz aus Holz. Sie bestand aus mehreren aneinandergebundenen Fichtenstämmen, deren auf eine einheitliche Länge gekürzte Aste die Zähne der Egge bildeten; sie waren elastisch genug, um sich den Unterschieden im Bodenrelief, den Steinen und Baumstümpfen anzupassen. Holzpflug und -egge wurden vom

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Abb. 15-17: Einfaches Ackergerät, wie es vor allem im Norden des Gouvernements häufig zu finden war — der Hakenpflug (socha, Abb. 15) und die Verbundegge (borona smyk, Abb. 16). Etwas moderner bereits: die Holzegge mit Eisendornen (Abb. 17). Quelle: Fenomenov, Sovremennaja derevnja Bd. 1, S. 81 ff.

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Bauern selbst hergestellt, und auch das übrige Inventar war in der Regel so einfach, daß es selbsttätig—zumindest mit Hilfe des Dorfschmiedes repariert werden konnte 51 . Das Vieh hielt man in Tver' vor allem für den eigenen Bedarf. Das Pferd brauchte man als Zugtier. Die Kühe lieferten Mist und Milch. Und an den Schafen schätzte man die Wolle und das Fleisch. Schweinezucht war unüblich, und der chronische Getreidemangel verhinderte auch eine umfangreiche Geflügelhaltung 52 . Im Sommerhalbjahr, von Ende März bis in den Oktober, war das Vieh draußen auf der Weide. Das Dorf hatte dafür einen gemeinsamen Hirten, der die Herde am Morgen austrieb, den Tag über beaufsichtigte und am Abend zum Melken nach Hause brachte. Er wurde in Naturalien entlohnt und nacheinander von allen Hausbesitzern, deren Vieh er hütete, verköstigt 53 . Als Weide dienten sonst kaum landwirtschaftlich nutzbare Ödländer, daneben aber auch die Brache und der Wald, die Stoppelfelder (nach dem Schnitt des Winter- und Sommergetreides) und die Wiesen (bis Anfang Mai und nach der Heuernte). Trotzdem reichtendie Weideflächenkaum, und die Futterfrage blieb im ganzen Gouvernement ein Problem. In manchen Gegenden mußte auch während der Sommermonate zugefuttert werden. Im allgemeinen tat man es jedoch nur bei den Pferden (mit Hafer, Heu und Klee) und nahm bei den Kühen—notgedrungen - eine geringere Milchleistung in Kauf: Mehr als 6 - 8 Liter Milch pro Tag lieferten sie denn auch nicht 54 . Bevor die Weidesaison endete und die Stallhaltung begann, mußte jeder Bauer entscheiden, wieviel Vieh er den Winter über durchfuttern konnte, der Rest wurde verkauft. Dieser einfache Mechanismus sorgte dafür, daß die Gemeindeherden nicht ins Unermeßliche wuchsen 55 . An den Grundlagen der Viehhaltung hatte die Revolution nichts zu ändern vermocht, sie hatte nur - wie sonst auch—die Besitz verhältnisse nivelliert. Der Prozentanteil der Wirtschaften ohne eine einzige Kuh halbierte sich fast (von 19,9 auf 10,5 °/o), der Anteil der Höfe ohne Pferd ging bis 1920 um ein Drittel zurück, und die Zahl der Wirtschaften mit zwei und mehr Pferden fiel (von 16 auf 8,6 %) 56 . Die Erklärung dafür lag auf der Hand. Wer mehr Pferde besaß, lief Gefahr, daß sie für den Militärbedarf requiriert wurden, und so verkaufte ersie lieber; undwerdurch die Umverteilung erstmals Land erhalten hatte, versorgte sich zusätzlich mit Arbeitsvieh. Doch aus dem Rückgang der viehlosen Wirtschaften sprach auch eine allgemeine Aufwertung des Ackerbaues. Während das bäuerliche Gewerbe, die einträgliche Nebenbeschäftigung, in den Wirren der Revolution und des Bürgerkrieges verfiel, erwies sich die Landwirtschaft als stabile Subsistenzbasis; sie wurde ausgebaut und mit ihr

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III. Zwischen Revolution und Kollektivierung

auch die Viehhaltung. Selbst der kleine Handwerkerhaushalt begann wieder, sein Fleckchen Boden zu bestellen, eine Kuh und ein Schaf zu halten, und Milch, Butterund Fleisch, Dinge, die sonst nicht mehrzu haben waren, für den eigenen Bedarf zu produzieren 57 . Der Ausbau der Viehzucht hielt auch nach 1921 an. Zwischen 1920 und 1928 stieg — dem Statistischenjahrbuch des Gouvernements zufolge - die Zahl der Pferde von rund 368.000 auf480.000, das große Hornvieh von 795.000 auf 991.000 und die Zahl der Schafe und Ziegen von 1,1 auf 1,5 Millionen. Selbst die Schweine nahmen von 22.000 auf 187.000 zu 58 . Verstärkt begannen die Tverer Bauern das Jungvieh, den Nachwuchs, selbst zu ziehen. An den hier für Kühe, Schafe und Schweine genannten Zahlen hatten Kälber, Lämmer und Ferkel einen Anteil von 34,64 oder gar (wie bei den Schweinen) von 73 %. Auch bei den Pferden war das Tverer Gouvernement nicht länger darauf angewiesen,Jungtiere einzuführen, und produzierte seit 1926 den Ersatzbedarf selbst. Zählte man nur die älteren Tiere zusammen (die Pferde über 3 Jahre, die Kühe über 1 Jahr, die ausgewachsenen Schafe und die Schweine, die älter waren als 4 Monate), so war der Anstieg zwischen 1920 und 1928 viel weniger dramatisch. Der Kernbestand an Zug- und Nutzvieh wuchs zwar beständig, aber langsam 59 . Im übrigen erweckt der Vergleich zwischen 1920 und 1928 den Eindruck einer geradlinigen Entwicklung, wie sie in Wirklichkeit keineswegs gegeben war. Katastrophen, wie sie sich 1921 an der mittleren und unteren Wolga ereigneten, als die verheerende Mißernte auch den vollständigen Ruin der Viehwirtschaft nach sich zog, blieben Tver' zwar erspart. Kleinere Einbrüche (wie 1925 bei den Futtermitteln) zeigten jedoch, wie dünn die Decke auch hier war. Die Ernteausfälle schlugen sofort auf den Viehbestand durch und reduzierten die Zahl der Jungtiere binnenjahresfrist auf die Hälfte; vor allem die Kälberundder Schweinebestand waren davon betroffen. Um die restlichen Tiere über den Winter zu bringen, verfütterte man manchmal sogar das Strohdach der Häuser. Da auch 1926 die Heuernte mäßig blieb, verschlechterten sich in einigen Gegenden die Bedingungen der Viehhaltung noch einmal. Erst 1927 wurde diese Krise überwunden, was in den oben zitierten (im Frühjahr 1928 erhobenen) Zahlen über den großen Jungtierbestand zum Ausdruck kam 60 . Die Viehwirtschaft entwickelte sich im Tverer Gouvernement nicht kontinuierlich, sondern spasmodisch, paßte sich den Erntekonjunkturen an und kappte im Krisenfall bis auf einen Grundbestand die Uberhänge. Verglich man die Zahlen der 20er Jahre mit den Vorkriegsverhältnissen und rechnete den Viehbestand auf die Höfe um, so relativierten sich

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die Erfolgsmeldungen noch einmal. Obwohl die Kopfzahl der Pferde absolut stieg, kamen 1928 im Durchschnitt nicht mehr Arbeitstiere auf einen Hof als 1916 und deutlich weniger als 1913. Damals hatte man 110 Pferde auf 100 Bauernwirtschaften gezählt, 1928 waren es 95; in den elf Jahrenzwischen 1916und 1927 —so zeigt die Statistik w e i t e r - w a r die Zahl der Arbeitspferde pro Hof annähernd konstant geblieben 61 . Bei den Kühen ließ sich eine ähnliche Entwicklung beobachten und ebenso bei der Ausstattung mit Inventar. Zwar wuchs die Zahl der Pflüge und Eggen, rechnet man sie aber auf die Höfe um, so war deren Ausstattung 1926 nicht besser als 1910, ja eher schlechter 62 . Nicht die Produktivität der Produktionseinheiten stieg, sondern ihre Zahl, so bleibt als vorläufiges Ergebnis festzuhalten; und der absolute Zuwachs bei Vieh und Inventarentsprach nur gerade eben dem relativen Mehrbedarf an Ackergerät und Nutzvieh. Anders ausgedrückt, die Agrargesellschaft löste sich in kleinere Produktionseinheiten auf, die sich, um leben zu können, ihrerseits mit dem Existenznotwendigen versahen: einem Pferd, einer oder zwei Kühen, mehreren Schafen, einem Pflug und einer Egge. Diese Entwicklung war nur die Kehrseite dessen, was im vorigen Abschnitt als Trend zur Kernfamilie beschrieben wurde. Ein Blick auf die Besitzverhältnisse bestätigt diesen Befund. Die Nivellierung der dörflichen Gesellschaft kam nicht zum Stehen, sie setzte sich fort. DieZahl der Höfe ohne Arbeitspferd war bis 1928 weitergefallen; 75 % hatten nun ein Zugtier und 9,3 °/o deren zwei, wobei die Familien mit zwei Pferden in der Regel auch die größeren waren. Höfe mit mehr als zwei Pferden bildeten nur eine winzige Minderheit (0,4 °/o). Schließlich hatten über 85 % der Höfe ein bis zwei Kühe und nur wenige mehr 63 . Den Bauern vorzurechnen, daß ein eigenes Pferd, um rentabel zu sein, einen bestimmten Mindestbesitz voraussetzte und daß die Tverer Bauernhöfe in der Regel unter dieser Marke lagen, hatte wenig Erfolg. Die Bauern dachten nicht in diesen Kategorien, sie stellten keine Profitrechnungen auf, und es erschien ihnen auch müßig, diese Fragen ernsthaft zu erörtern. Eher unwirsch beharrten sie auf ihrem Standpunkt, wenn man die Landwirtschaft nicht überhaupt aufgeben wolle, müsse man auch Vieh halten, selbst wenn es Verluste bringt; Vieh gehöre einfach dazu, ganz abgesehen davon, daß ohne Mist, ohne Düngung nichts wachse 64 . Auch ein noch so genauer Nachweis, daß auf einem Tverer Bauernhof ein Arbeitspferd nur 55 bis 65 Tage beschäftigt werden konnte 65 , änderte an dieser Haltung nichts, und dervon oben nachgewiesene Sättigungsgrad an Pflügen mochte gegen jeden statistischen Zweifel erhaben sein, er brachte keinen Bauernhof von der geplanten Neuanschaffung ab.

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Mit dem Leitbild einer egalitären Gesellschaft hatten die Bolschewiki 1917 die Nivellierung der ländlichen Besitzverhältnisse gefordert—und in Grenzen auch erreicht: Der Großgrundbesitz wurde beseitigt und das Land an die Bauern verteilt. Wenn die Statistiken nicht ganz trügen, setzte sich diese Entwicklung in den 20er Jahren — zumindest im Tverer Gouvernement - fort: Große Wirtschaften teilten sich, und die kleineren versorgten sich mit Vieh und Inventar; eine neue Polarisierung der ländlichen Gesellschaft unterblieb. Obwohl die bolschewistische Regierung die Stärkung der armen Höfe und ihre Lösung aus den Fängen der Reichen, der .Kulaken', lautstark unterstützte, sah sie die Realisierung dieser Forderung doch nur halb so froh und mit wachsender Distanz. Die Ausstattung der Zwergwirtschaften mit Vieh und Inventar verringerte nicht die Distanz zwischen Bauernschaft und proletarischem Staat, im Gegenteil: sie machte den armen Bauern zum Besitzenden; und sie erhöhte auch nicht die agrarische Marktproduktion, sondern den bäuerlichen Eigenbedarf. Das Dorf ging weiterhin seinen eigenen Weg. Für die seit der Mitte der20erjahre neudefinierten Prioritäten, fur die Industrialisierung und den Aufbau des Sozialismus in einem Lande, waren das, so stellte man fest, „beunruhigende Symptome" 6 6 . d)

Die Landwirtschaft

Nach Beendigung der revolutionären Besitzumschichtungen war in Tver' die Zahl der Wirtschaften ohne Acker um die Hälfte zurückgegangen, sie bildeten mit etwas über 6 % nur noch eine kleine Minderheit. Die meisten (über 86 °/o) der Höfe waren Kleinbauern, sie besaßen 1—2 oder 3, höchstens 4V2 ha, wobei die Größe in der Regel mit der Zahl der Familienmitglieder stieg. Mehr als 7 ha hatten nur ganz wenige (unter2 %). Zum Acker kamen noch Wiesen und eventuell auch Wald 67 . War schon die Fläche der Äcker und Wiesen nicht groß, so setzte die Bodenstruktur, vom Klima und der Bodenqualität einmal ganz abgesehen, ihrer Nutzung enge Grenzen. Die von der zarischen Regierung 1907 eingeleiteten Maßnahmen zur Beseitigung der Flurzersplitterung und Neuordnung der ländlichen Besitzverhältnisse waren im Weltkrieg ins Stocken und nach 1917 zum Stehen gekommen. Nur rund ein Zehntel der wirtschaftlich nutzbaren Fläche war im Tverer Gouvernement bis dahin reguliert, die große Mehrheit der Bauernhöfe hatte von der Landreform nichts zu spüren bekommen. 50,60 Bodenstreifen pro Hofwaren im Tverer Nordwesten noch immer die Regel und Höfe mit bis zu 100 Parzellen keine Seltenheit. Selbst wenn im Süden die Dinge günstiger lagen, in 30 bis 40 Streifen zerfiel der Hofbesitz auch dort 68 .

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Die Revolution hatte das Chaos der Besitzverhältnisse nicht beseitigt, sondern vergrößert, zumal dann, wenn der Aufteilung des Gutsbesitzerund Staatslandes gleich mehrere Umverteilungen innerhalb des Dorfes nachgefolgt waren. Zwar versuchte die bolschewistische Regierung schon im Frühjahr 1920, die Entwicklung in geordnete Bahnen zu lenken. Sie machte alle weiteren Umverteilungen genehmigungspflichtig und verbot sie, wenn 1918/19 schon einmal umverteilt worden war und die neue Umverteilung nicht mit einer allgemeinen Flurregulierung und -bereinigung einherging. Die Regierung erneuerte im gleichen Dekret auch die alte, noch aus vorrevolutionärer Zeit bestehende Vorschrift, daß zwischen zwei Umverteilungen mindestens neun Jahre (drei Saatfolgen) verstreichen sollten 69 . Doch der neue Staat besaß nicht die Macht, um die Einhaltung dieser Regeln zu erzwingen, und zur Einleitung systematischer Flurregulierungsmaßnahmen fehlten ihm die Mittel. So ließen die zuständigen Landorgane die Zügel schleifen und beschränkten sich darauf, den wenigen neugegründeten Kollektivwirtschaften die Felder zu vermessen und in Landstreitfragen zwischen einzelnen Dörfern vermittelnd und regulierend einzugreifen 70 . Erst nach 1921 begann sich die Lage zu konsolidieren. Neue Maßnahmen zur Ordnung der Besitzverhältnisse und zur Aufhebung der Bodenzerstückelung wurden beschlossen und energisch vorangetrieben. Zum 1.12.1926 war etwas mehr als ein Drittel (34,8%) der Flur neu vermessen, bereinigt und reguliert, zwei Jahre später, am 1.12.1928, knapp die Hälfte (46,1 %). Am weitesten waren die Landkreise Torzok, Kimry und Rzev, wo die Neuordnung bereits zu über 50 % abgeschlossen war. Im Nordwesten, in den Kreisen Ostaskov und Vysnij Volocek, dort wo die Bodenzersplitterung am größten gewesen war, gingen die Arbeiten dagegen nur langsam voran 71 . Die Maßnahmen der Flurregulierung (zemleustrojstvo) beseitigten nicht nur die Bodenzerstückelung, sie führten auch den Prozeß der nivellierenden Umverteilung fort und brachten ihn zu einem administrativen Ende: Die einem Hof zustehende Zahl der Bodenstücke wurde wie seit alters nach der Zahl der Esser und Arbeitskräfte berechnet und durch Losentscheid verteilt 72 . Die Konsolidierung der Lage entsprach auch den bäuerlichen Interessen, die unruhigen Jahre der Revolution und des Bürgerkriegs hatten planvolle Landwirtschaft erschwert oder unmöglich gemacht. Der Umverteilung leid, ließen sich nun viele Bauern mit der Flurregulierung den neuen Grund und Boden als Festbesitz registrieren und firmierten damit fortan in der amtlichen Statistik als otrub- oder chutor-Bauern. Erst 1924/25 wendete sich der Trend, die Anträge auf Ubergang zur Einzelwirtschaft wurden seltener, das Vertrauen in die obscina kehrte zurück,

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III. Zwischen Revolution und Kollektivierung

und die Landorgane erhielten Anweisung, der innergemeindlichen Flurregulierung Priorität einzuräumen 73 . Wie tief der Einschnitt der Flurregulierung war (wieviele Bodenstreifen ein Bauer nach der Flurbereinigung noch zu bearbeiten hatte, und ob die Allmende in die Aufteilung einbezogen wurde), dazu enthalten die vorliegenden Rechenschaftsberichte kaum Angaben. Die beschränkten finanziellen Mittel, das Fehlen jedes technischen Großgerätes, der kleine Stab von nur 135, später 220 bis 240 Mitarbeitern (für das ganze Gouvernement) und das dennoch rasche Vorgehen nötigen, die Wirkungen und Eingriffe der Bodenreform nicht zu hoch anzusetzen 74 . In jedem Falle bedeutete die Flurbereinigung noch nicht das Ende des vorherrschenden Systems der Bodennutzung, der Dreifelderwirtschaft. Das Ackerland war dabei, wie der Name schon sagt, in drei Teile aufgeteilt: das Sommerfeld, die Brache und das Winterfeld. Das Sommerfeld wurde im Frühjahr angebaut und in Tver' traditionsgemäß mit Hafer und Flachs, seltener mit Sommer- und Buchweizen bestellt. Auf die Brache säte man zu Beginn des Herbstes nach der Düngung das Wintergetreide, vor allem Roggen und Gerste. Das Sommerfeld wurde im folgenden Jahre zur Brache und das Winterfeld zum Sommerfeld. Das bekannte, ja auch anderswo geübte Prinzip war dabei, daß ein Drittel des Ackers zur Regeneration unbestellt blieb. Nicht einmal auf der Hälfte der flurbereinigten Felder — so sagt die Statistik —wurde in den Jahren 1926/27 und 1927/28 im Zuge der Neuordnung ein modernes .Mehrfelderfruchtwechselsystem' eingeführt; infrüheren Jahren war der Anteil aller Wahrscheinlichkeit nach noch deutlich geringer 75 . Läßt man zunächst dahingestellt, wie dieses .Mehrfelderfruchtwechselsystem' aussah, und rechnet die Angaben hoch, so kommt man zu dem Schluß, daß drei Viertel (wenn nicht vier Fünftel) der Tverer Bauernhöfe bis zum Ende der 20er Jahre am alten Dreifeldersystem festhielten. Andere überlieferte Zahlen bestätigen diese Berechnung. Vergleicht man in den Tverer Statistiken vom Ende der 20erJahre die als Acker ausgewiesenen Flächen mit der tatsächlichen Aussaat, so zeigt sich, daß der Anteil der brachliegenden Felder zwar zurückgegangen war, aber immer noch mehr als ein Viertel der Ackerfläche ausmachte. Während der Süden des Gouvernements dazugelernt hatte, hielt der Norden und Nordwesten unverrückt am bisherigen Dreifeldersystem fest 76 . In den Landkreisen von Ostaskov, Vysnij Volocek und Ves'egonsk stieß man sogar noch auf ältere, primitive Formen der Brandrodung, die mit dem Dreifeldersystem in eigenartiger Symbiose lebten. Zusätzlich zu den festen, nach dem Dreifeldersystem bestellten Ackerflächen wurden kleine Waldstücke, manchmal nur ein einziger Baum abgeholzt, das Reisig ver-

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brannt und mit der Asche der Boden gedüngt. Dann wurde in der Lichtung das Erdreich mit der socha aufgelockert und Getreide gesät. Der junge Waldboden gab gute Ernten; ließ der Ertrag nach, wurde von einer weiteren Bestellung abgesehen, und die Felder verfielen wieder 77 . Die Unterschiede im Bebauungssystem und in der Bodenstruktur, in der Bodenqualität und im Klima schlugen sich auch in den Hektarerträgen nieder. Nahm man - als noch immer wichtigste Kultur — den Roggen, so lagen in den Jahren 1924—28 die Ernten im nordwestlichen Ostaskov fast ein Viertel unter dem Gouvernementsdurchschnitt, während die Landkreise Kimry, Tver', Bezeck und Torzok im gleichen Jahrfünft überdurchschnittliche Ernten verzeichneten 78 . Aber nicht nur die regionalen Unterschiede, auch die Jahresschwankungen waren groß. Obwohl das Tverer Gouvernement im genannten Zeitraum keine einzige Mißernte hatte (die sich mit der Lage an der mittleren Wolga von 1921 auch nur annähernd vergleichen ließ), unterschieden sich schlechteste und beste Ernte in Ostaskov um 35 %, in Kimry um 68,8 °/o, in Tver' um 27,7 °/o, in Bezeck um 33,9 % und in Torzok um 47,5 °/o79. Diese normalen Ernteschwankungen schlugen um so empfindlicher zu Buche, als die Erträge insgesamt nur spärlich ausfielen. Die Bauern ernteten im Tverer Gouvernement von 1 ha Roggen rund 50 Pud, das war vor der Revolution so gewesen und änderte sich auch in den 20er Jahren kaum. 50 Pud waren etwa 8 Doppelzentner und das Fünffache dessen, was man ausgesät hatte. In Ostaskov ergab die Ernte sogar nur die vierfache Aussaat 80 . Man muß in Deutschland bis in die erste Hälfte des 19.Jahrhunderts, in Westeuropa noch weiter zurückgehen, um auf ähnlich niedrige Erntequoten zu stoßen 81 . Die Bedingungen für Getreideanbau waren im Tverer Gouvernement somit nicht gerade günstig. Doch die Bauern hielten daran fest, und die schweren Zeiten der Revolution und des Bürgerkrieges bestätigten sie im Bemühen um Selbstversorgung. Der Anteil der Körnerfrüchte an der gesamten Saatfläche stieg zwischen 1916 und 1923 von 70 auf 80 °/o, wobei auf Roggen als dem Grundnahrungsmittel 43 %, auf Gerste und Hafer 25 bzw. 8 % entfielen. Im gleichen Zeitraum sank der Anteil des Flachses, des wichtigsten Marktproduktes, von 22 auf 9 %; man produzierte nur mehr so viel Leinen, wie man für den eigenen Bedarf brauchte 82 . Die Bauern antworteten damit auf die schwere Versorgungskrise im Innern und revidierten zugleich die .Fehlentwicklung' des Weltkrieges, als die Getreideproduktion gefallen und der Flachsanbau, durch staatliche Nachfrage gefördert, erheblich gestiegen war. Bis zur zweiten Hälfte der 20er Jahre wurde in Tver' etwa wieder die gleiche Menge Getreide angebaut wie vor 1913, man war zu .normalen' Verhältnissen zurückge-

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III. Zwischen Revolution und Kollektivierung

kehrt. Auch der Flachsanbau stieg nach dem Tiefpunkt zu Beginn der 20er Jahre wieder an und nahm 1927/28 12 °/o der Saatfläche ein, so viel wie in der Vorkriegszeit. Nur in Rzev, dem Zentrum der Leinenweberei, lag der Flachs mit einem Anteil von 19 % deutlich über dem Gouvernementsdurchschnitt 8 3 . Hatte der Arbeitskräftemangel im Krieg viele Höfe gezwungen, ihre Aussaat erheblich einzuschränken, so war 1924 der Vorkriegsstand wieder erreicht, und in den folgenden fünfjahren erweiterte sich die Saatfläche noch einmal um 2 0 %. Diese Expansion kam fast ausnahmslos drei .neuen' Kulturen zugute: der Kartoffel, dem Klee und den Wicken. Während der Anbau der Kartoffel sich gegenüber dem Vorkriegsstand fast verdoppelte, stiegen Klee und Wicken zusammengerechnet auf das Fünffache und nahmen 1928 nahezu 2 0 % der Saatfläche ein 8 4 . Die Kartoffel half, den gestiegenen Nahrungsmittelbedarf zu decken, und sie diente mitunter auch als Futtermittel. Noch wichtiger waren die Kleeund Wickensaaten, sie machten erst jene Erweiterung des Viehbestandes möglich, wie sie im vorangegangenen Abschnitt beschrieben wurde. W o man Klee und Wicken auf die Brache säte, verringerte sich der Anteil der Schwarzbrache am Gesamtacker, und ein erster Schritt zum .Fruchtwechsel' war getan. Der Tverer Ackerbau war damit auf dem Wege zur .verbesserten Dreifelderwirtschaft', einem System der Bodennutzung, wie es Experimentalökonomen auch in Deutschland als fortschrittlich propagiert und durchgesetzt hatten — allerdings 150Jahre früher, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 8 5 . Der vermehrte Anbau von Kartoffeln, Klee und W c k e n änderte nichts an den Prioritäten, am Subsistenzcharakter der Tverer Landwirtschaft. Wie die Viehhaltung diente auch der Ackerbau primär der Selbstversorgung, nur Milchprodukte und Leinenerzeugnisse gewannen allgemeinere Bedeutung. Im Tverer Gouvernement betrug der Marktanteil an der landwirtschaftlichen Bruttoproduktion Mitte der 20er Jahre 2 0 %. Und er wuchs nicht, sondern stagnierte 86 . e)

Das Gewerbe

Die beschränkte Ertragslage der Landwirtschaft zwang den Klein- und Kleinstbesitzer schon seit langem, einen Nebenerwerb zu suchen. So hatte das Tverer ländliche Gewerbe Tradition, und seine Handwerker, die .Kustare', waren über die Grenzen des Gouvernements hinweg bekannt. Bei der in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts durchgeführten Hofzählung registrierte man fast 150.000 ortsständig Gewerbetreibende, das waren knapp 10 % der ländlichen Bevölkerung. Innerhalb des

1. Die bäuerliche Ökonomik

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Gouvernements hatten sich Schwerpunkte der gewerblichen Produktion herausgebildet: Im Norden fanden viele Bauern in der Waldarbeit, als Holzfällerund Flößer, eine einträgliche Nebenbeschäftigung. Ostaskov, am Seligersee gelegen, galt als Zentrum der Fischerei. Die meisten Böttcher gab es in der Umgebung von Vysnij Volocek. Im Landkreis Rzev konzentrierte sich die Leinen- und im Bezecker Umkreis die Filzund Wollproduktion. Der Südosten wiederum war für seine Schuherzeugung bekannt, allen voran der Landkreis Kimry. Nicht selten konzentrierten sich ganze Ortschaften auf ein Produkt, wie die Fischer- und Netzknüpferdörfer in Ostaskov, die Schusterdörfer in Kimry und die Tischler und Holzschnitzer in Kaljazin. Sie produzierten längst nicht mehr für den lokalen Markt und auf Bestellung, sondern en gros für einen Zwischenhändler oder Unternehmer, der den Vertrieb und Absatz übernommen hatte 87 . Noch verbreiteter als das ortsständige Gewerbe war in Tver' das .Wandergewerbe'. Hunderttausende verließen schon in den 80er Jahren alljährlich ihren Hof, um in der Stadt zu finden, was das Dorf nicht mehr bieten konnte : Arbeit. Viele waren in ihrem erlernten Beruf als Zimmerleute, Schreiner, Maurer oder Maler tätig, andere wurden Fuhrleute, Hausknechte, Hausierer oder Eisenbahnarbeiter, und ein immer größerer Teil ging als ungelernter (.schwarzer') Arbeiter in die Fabriken 88 . Bis zum Ersten Weltkrieg stieg die Zahl der Tverer Wanderarbeiter auf über 400.000, und der Lohn, den sie im Durchschnitt auf den Hof mit zurückbrachten, war kaum geringer als der Ertrag der Landwirtschaft. Bis 1914 hatten fast 80 % der Tverer Bauernhöfe eine nichtlandwirtschaftliche Nebenbeschäftigung aufgenommen, ein Viertel der ländlichen Bevölkerungwar ,im Gewerbe' tätig, und jede zweite Familie hatte ihren Wanderarbeiter, der mit seinem Verdienst zum Erhalt des Hofes beitrug 89 . Krieg und Revolution setzten diesem Zustand ein Ende. Der Anteil der .Wirtschaften mit Gewerbe' ging bis 1922 von knapp 80 auf 18 % zurück, und der Anteil der Gewerbetreibenden an der ländlichen Gesamtbevölkerung fiel von 24 auf etwas über 4 %. In den Städten, deren Wirtschaft darniederlag, fehlte es an Brot und Arbeit, für zusätzliche bäuerliche Wanderarbeiter war da kein Platz. Und im gleichen Maße, wie die städtische Nachfrage sank, verfiel auch ein Großteil des dörflichen Kustargewerbes. Am regionalen oder überregionalen Markt orientiert, fand es für seine Produkte keine Abnehmer mehr. Wo die Landwirtschaft vom Gewerbe bereits weitgehend verdrängt war, kehrte sich das Verhältnis um, und wer den Ackerbau bereits aufgegeben hatte, fand zu ihm zurück. Vom Kustarhandwerk blieb nur noch ein Restbestand für die innerdörfliche Nachfrage - und dieser Markt war klein 90 .

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III. Zwischen Revolution und Kollektivierung

Im Dorfe verfertigte jeder Bauer, wie Fenomenov aus Gadysi erzählt, schon seit jeher sein Ackergerät und seine Wirtschaftsgebäude, seine Dreschflegel, seinen Rechen und seine Schaufel selbst. Nur wo es um knifflige Fragen ging, etwa beim Bau der Wohnstube oder bei der Reparatur des eisernen Pfluges, holte man sich den Rat und die Hilfe des Kustar-Spezialisten. Standen die Zeiten schlecht, war man nicht nur sein eigener Zimmermann und Schmied, sondern übernahm auch die Schusterei, den Fischfang und die Imkerei selbst. Die Techniken der Flachsbearbeitung waren allerorts bekannt, und jeder größere Haushalt verfugte über das dazu nötige, einfache Gerätar: den Riffelrechen, die Handbreche, den Flachskamm, das Spinnrad und den Handwebstuhl. Leinenerzeugnisse, vor allem Weißwäsche, kaufte man nicht, sondern produzierte sie selbst—im stillen Winterhalbjahr, wenn auf den Feldern die Arbeit ruhte. Diese Tätigkeit oblag vor allem den Frauen: Nach der Ernte (dem .Raufen') des Flachses im August,riffelten' sie ihn im September, wobei die Pflanze von den Öl-(Leinsamen-)haltigen Kapseln befreit wurde. Der Rest wurde getrocknet, dann .gebrochen' und .geschwungen', um die Flachsfasern von den mürbe gewordenen Holzteilen zu trennen. Mehrfach .ausgekämmt', hatte man nun das Rohmaterial, die Faserknäuel, die zum Garn versponnen werden konnten. Der Spinnvorgang, mühselig und langwierig, dauerte bis zur Fastenzeit. Dann wurde der Handwebstuhl in die Stube geholt, das Garn zu Leinen verarbeitet und der Stoff an der Sonne gebleicht 91 . Nun war es vor dem Krieg bereits aus der Mode gekommen, hausgemachte Leinwand auch als Oberbekleidung zu tragen—zumindest nicht an Festtagen. Leichte, industriegefertigte Baumwollstoffe galten als des Dorfes letzter Schick und waren gefragt, aus ihnen nähte man Kleider, Blusen und Tücher. Als solche Stoffe nicht mehr zu haben oder zu bezahlen waren, kehrte man zum Althergebrachten zurück, färbte das hausgewebte Leinen, so gut man konnte, ein und schneiderte daraus wieder Hosen, Kleider und Blusen. Herumziehende Färber, ein Gewerbe, das seit den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts stark zurückgegangen war, erlebten eine neue Konjunktur, und da auch ihnen die Industrieprodukte fehlten, kochten sie ihre Farben nach alten Rezepten selbst. In anderen Bereichen war es ähnlich: Da die Industrie keine Eisenerzeugnisse (Nägel, Beschläge und ähnliches) mehr lieferte, mußte man sie, unter Umständen mit Hilfe eines .Spezialisten', selbst erzeugen oder — wie beim Hausbau — auf Techniken zurückgreifen, die diese weitgehend entbehrlich machten. Der Grad der gewerblichen Selbstversorgung war, wie daran deutlich wird, hoch und der Übergang zum Kustarhandwerk fließend 92 .

1. Die bäuerliche Ökonomik

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Erst gegen Mitte der 20er Jahre, mit der allmählichen Überwindung der wirtschaftlichen Talsohle, verbesserte sich auch die Lage des ländlichen Gewerbes. Die Zahl der ortsständigen Handwerker wuchs nach groben Schätzungen wieder auf45.000 bis 50.000, die Zahl der Wanderarbeiter stieg bis 1926 auf 124.000, und 1927 hatten etwas über ein Drittel der Tverer Bauernhöfe nebenher wieder ein ortsständiges oder ambulantes Gewerbe 93 . Selbst wenn in traditionell .gewerblichen' Landkreisen wie in Kimry der Prozentsatz wesentlich höher lag, die Entwicklung kam nur langsam voran, und der Vorkriegszustand wollte sich - anders als in der Gesamtwirtschaft — bis zum Ende der 20er Jahre nicht wieder einstellen. Vor allem die Zahl der Wanderarbeiter blieb weit hinter dem Stand von 1913 zurück. Das lag zum einen sicher daran, daß einige Zehntausende während der 20er Jahre das Dorf verließen und als Wanderarbeiter aus der Statistik verschwanden. Sie ließen sich in den Städten neu nieder und verhalfen diesen zu einem überproportionalen Wachstum. Der Rückgang der Wanderarbeit lag aber auch an der Eigenentwicklung des Dorfes. Der Trend zur Kernfamilie und die Schaffung vieler neuer Kleinstellen konzentrierte das Dorfverstärkt aufAckerbau und Viehzucht und erschwerte den Abzug männlicher Arbeitskräfte 94 . β

Lohnarbeit und Landpacht

Der Agrarkodex hatte den Bauern erlaubt, Knechte und Mägde, Hirten und Taglöhner einzustellen, sofern sie dabei die „allgemeinen Regeln des Arbeitsschutzes" beachteten und der „werktätige" Charakter des Hofes gewahrt blieb 95 . Ein striktes Verbot jeglicher .Lohnarbeit', so hatte man eingesehen, war undurchführbar, es hätte die Stellungssuchenden, die Armen, mehr getroffen als die Besitzenden. Die Volkskommissariate für Arbeit und Landwirtschaft übernahmen die Rechtsaufsicht darüber, daß die staatlich gesetzten Grenzen eingehalten wurden, Fälle krasser Ausbeutung unterblieben und der Hof nicht zum Unternehmen wurde. Gemeinsam mit dem Zentralrat der Gewerkschaften gingen sie an die Schaffung einer Landarbeiterorganisation. Ein erster Schritt war - seit der Mitte der 20erjahre - die zahlenmäßige Erfassung des .Dorfproletariates'. Diesem statistischen Material zufolge gab es im Tverer Gouvernement 1928 neben den Taglöhnern nur knapp 53.000 Landarbeiter; das waren weniger als 3 % der ländlichen Bevölkerung. Im Durchschnitt kamen 12,4 Landarbeiter auf 100 Höfe, wobei die Dichte im .landwirtschaftlichen' Süden und Südosten (mit 13—14 pro 100) geringfügig größer war als im Norden und Nordwesten (mit 11—12 pro 100). Doch

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III. Zwischen Revolution und Kollektivierung

die Durchschnittszahlen ergeben kein korrektes Bild. Denn über 40 % (über 22.000) dieser Landarbeiter waren nicht von den Höfen, sondern von den Gemeinden eingestellt und wurden von diesen auch entlohnt; überwiegend waren es Hirten, die das Gemeindevieh hüteten. Rechnet man die verbleibenden 30.000 auf die Zahl der Höfe um, so kam nur auf jeden 14. Hof eine zusätzliche Arbeitskraft. Es handelt sich dabei fast durchweg (94 °/o) um Frauen, von denen über die Hälfte, folgt man der Statistik weiter, minderjährig war und als Kinder- und Hausmädchen Dienst tat. Nur der verbleibende Rest (rund 13.500) war zur Feldarbeit oder zu sonstiger landwirtschaftlicher Tätigkeit eingesetzt. Die zitierte Statistik erfaßt zwar nur Arbeiter und Arbeiterinnen, die einen Monat oder länger in einem Beschäftigungsverhältnis standen. Doch selbst wenn man die rund 25.000 Taglöhner hinzurechnet, die (1928) auf dem Höhepunkt der Erntesaison zusätzlich eingestellt wurden, die Gesamtzahl blieb immer noch gering, und von einem systematischen Einsatz von Lohnarbeitern in der Landwirtschaft kann in Tver' keine Rede sein 96 . Im allgemeinen verfugte ein Tverer Bauernhof selbst über mehr Arbeitskräfte, als er das ganze Jahr über beschäftigen konnte. Die Nachfrage nach Landarbeitern war entsprechend niedrig und der Lohn gering. Sofern Arbeitsverträge abgeschlossen wurden, galten sie in der Regel nur für das Sommerhalbjahr, und die Bezahlung erfolgte zur Hälfte mit Geld und zur anderen mit Naturalien einschließlich Kost und Logis97. Wer nur in den zwei, drei Erntewochen auf fremde Hilfe angewiesen war, suchte sich Tagelöhner. Ihre Bezahlung schwankte von Landkreis zu Landkreis, ja von Bezirk zu Bezirk beträchtlich (um 100 %, 200 °/o und mehr) — ein Zeichen mehr dafür, daß sich kein einheitlicher, offener Arbeitsmarkt herausgebildet hatte 98 . Grob gerechnet verdiente ein Tverer Landarbeiter (Geld und Naturalien zusammengenommen) 20 bis 25 neue Rubel im Monat, ein Tagelöhner 1 bis 2 Rubel pro Tag. Gemessen an den Löhnen der Industriearbeiter war das erschreckend wenig, sie verdienten das Zwei- bis Dreifache, wobei der Umstand, daß die Landarbeiter nur einige Monate, die Tagelöhner sogar nur Wochen beschäftigt waren, noch gar nicht berücksichtigt ist 99 . Diese Differenz ging jedoch nicht oder nur zum geringsten Teil auf das Konto der .ausbeuterischen' Bauern, die die Landarbeiter beschäftigten. Die Unterschiede im Einkommensniveau waren vielmehr Ausdruck eines allgemeinen Stadt-Land-Gefalles, das auch die Bauern mit umfaßte - ein Problem, das hier nicht weiter verfolgt werden soll 100 . Ahnlich wie mit der Lohnarbeit stand es auch mit der Landpacht. Der Agrarkodex erlaubte sie (unter gewissen, sehr weitgefaßten Bedingun-

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gen), doch ihr Ausmaß blieb im Tverer Gouvernement bescheiden. Praktisch konnte jeder Bauer, der seine Felder nicht selbst bebauen konnte oder wollte, das Land drei bis vierJahre lang—gegen Geld, Anteil am Ertrag oder andere Formen der Entlohnung — verpachten. Doch die Neigung dazu war, wie einer sample-Untersuchung aus dem Jahre 1927 zu entnehmen ist, äußerst gering: Nur knapp 3 °/o der Wirtschaften verpachteten Land. Meist entschlossen sich zu diesem Schritt nur die ganz armen Höfe, denen neben dem Pferd auch das Inventar fehlte, um den Boden zu bebauen 1 0 1 . Land hinzupachten konnte jeder .werktätige' Hof, dessen Mitglieder den Boden mit ihrer eigenen Hände Arbeit bebauten. Die Neigung zu zusätzlicher Pacht stieg mit derGröße des Besitzes. Doch da nur wenige Land hergaben, und die es taten, meist nur über eine winzige Saatfläche verfugten, waren auch der Pacht enge Grenzen gesetzt. Nach der schon genannten Stichprobenuntersuchung von 1927 pachteten 6,2 % der Höfe Land hinzu. Der Umfang des jeweils gepachteten Landes betrug im Durchschnitt 0,8 ha, was schon jene Felder einschloß, die die Gemeinde besaß und zur Verpachtung freigab 102 . Exkurs: Besitzstruktur und Entwicklungsdynamik Bei der Taxierung der Tverer Bauernhöfe nach dem Gesamtwert ihrer Produktionsmittel — der Wirtschaftsgebäude, des Viehbestandes und der landwirtschaftlichen Geräte — kam die hier schon mehrfach bemühte statistische Erhebung von 1927 zu folgendem Ergebnis: Die in acht ausgewählten volosti untersuchten bäuerlichen Anwesen (insgesamt 13.270) hatten - die Wohngebäude nicht gerechnet - einen durchschnittlichen Kapitalwert von 546 Rubel. Bei rund 14 % der Höfe waren Wirtschaftsgebäude, Vieh und Gerätar weniger als 200 Rubel (den Preis eines guten Arbeitspferdes) wert. 68 % verfugten über Produktionsmittel im Wert bis zu 800 Rubel (für diese Summe konnte man ein Pferd, 2 Kühe und Kleinvieh kaufen sowie einen Stall, eine Scheune und eine Darre bauen). Rund 18 % der Wirtschaften hatten mehr als diese Grundausstattung, gemessen am Durchschnitt waren sie ,groß' und ,wohl situiert*. Im Süden und Südosten des Gouvernements gab es mehr .reiche' Bauern als im Norden und Nordwesten 103 . Stellte man die statistischen Merkmale der .armen' und der .reichen' Wirtschaften einander gegenüber, so ergaben sie zwei unterschiedliche Grundtypen. ,Arme' Höfe waren klein, ihr Haushalt umfaßte 3 Personen, ihr Ackerland nur 1,3 ha, und ihr W e s e n g r u n d war ebenso groß. 80 % von ihnen hatten kein eigenes Pferd und fast 60 % auch keine Kuh. Fast ein Viertel dieser Höfe (23,9 %) betrieb keine eigene Landwirtschaft

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III. Zwischen Revolution und Kollektivierung Anteil an der Gesamtzahl der Wirtschaften in %

-

50 44,78 °/< 40 -

30 23,27% 16,59%

10

-

6,69%

Wert der Prod.mittel in Rubel

A b b . 18: G r u p p i e r u n g der Tverer B a u e r n h ö f e n a c h d e m W e r t ihrer P r o d u k tionsmittel. Q u e l l e : Statisticeskij s p r a v o c n i k p o T v e r s k o j g u b e r n i i ( 1 9 2 9 ) , S. 4 1 5 .

mehr, und die es taten, hielten sich strikt an das alte Dreifeldersystem. Ganz anders die .reichen' Höfe: Hierbestand die Familie aus 6—7 Personen, sie hatten 4—5 oder sogar 6 ha Ackerland, und die Fläche der Wiesen war mit 3—4 ha nicht viel kleiner. Wer konnte, pachtete hinzu; daß der Umfang des Pachtlandes trotzdem klein blieb, lag am mangelnden Angebot. Der Viehbestand war überdurchschnittlich: Ein Viertel der .reichen' Wirtschaften besaß nicht nur 1 Pferd, sondern deren 2, und die Hälfte hatte 2 und mehr Kühe. Auch in der Art der Bodenbestellung gab es Unterschiede: Daß der Anteil der Schwarzbrache am Ackerland bei den .reichen' Bauern nur rund 20 % betrug, zeigt, daß zumindest in Teilen Fruchtwechsel und Mehrfelderwirtschaft praktiziert wurden. Rechnete man schließlich das Ackerland auf die Anzahl der Personen und das

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Vieh und Gerätar auf die vorhandenen Felder um, so waren auch hier die Vorteile eindeutig verteilt: Die reicheren Wirtschaften hatten einen größeren Bodenanteil pro Kopf und im Vergleich zur Bodenfläche eine bessere Ausnützung von Zugvieh und Inventar 104 . Nimmt man die Verteilung der Saatfläche, der Pferde und der Kühe zur Bestimmung von ,arm' und .reich' und vergleicht die von 1927/28 überlieferten Zahlen mit dem Anfang der 20er Jahre, so zeigt sich, daß im Tverer Gouvernement die gesellschaftlichen Extremgruppen letztendlich nicht gewachsen sind. Der Anteil der Wirtschaften ohne oder mit nur kleiner Saatfläche ging sogar um die Hälfte zurück, und auch der Anteil der Höfe ohne Zugvieh wurde merklich kleiner. Wieviele ,arme' Bauern es tatsächlich schafften, ihren Besitz zu vergrößern, und wieviele ihren Hof aufgaben, in die Stadt zogen und damit zur Verbesserung der Statistik beitrugen, ist aus den Angaben nicht zu erschließen. Ein materieller Aufstieg war wohl beides, zumindest dann, wenn es dem Abziehenden gelang, sich als Fabrikarbeiter eine neue Existenz zu gründen. Blickt man auf die andere Seite des gesellschaftlichen Spektrums, so war auch der Anteil der .reichen' Wirtschaften im Verlauf der 20er Jahre nicht gestiegen. Bauern mit mehr als 4 oder 5 ha Saatfläche waren 1920 wie 1928 eine Minderheit von ca. 7 °/o, und nur 1 % der Bauern hatte 6 bis 7 ha und mehr. Lediglich 4 % der Wirtschaften hatten 1928 mehr als 2 Kühe im Stall, und 0,4 % der Höfe besaßen mehr als 2 Pferde; 1920 lauteten die Vergleichszahlen 5,8 °/o bzw. 0,3 °/o. Bedeutend waren die Veränderungen nicht, insgesamt schrumpfte der Viehbestand der großen Höfe seit Mitte der 20er Jahre eher, als daß er stieg. Addierte man diese Erscheinungen und rechnete die oben beschriebene Entwicklung der Kleinstwirtschaften hinzu, so ergab sich eine fortschreitende Nivellierung der ländlichen Gesellschaft, jedenfalls folgte auf die egalitären Besitzumschichtungen keine neue Phase der ökonomischen Polarisierung des Dorfes 105 . Bei der Suche nach den Ursachen dieser Entwicklung stößt man auf drei miteinander verbundene Momente: auf die staatliche Politik und den von ihr gesetzten wirtschaftspolitischen Entwicklungsrahmen; auf das noch immer niedrige landwirtschaftliche Produktionsniveau, das fur eine .Akkumulation von Kapital' wenig Spielraum ließ; schließlich auf die .Mentalität' der Bauernschaft, der Subsistenzsicherung das oberste Produktionsziel blieb. U m mit dem Staat zu beginnen: Mit der Flurbereinigungspolitik führte er fort, was die Bauern 1917 begonnen hatten, die egalitäre Umverteilung des Bodens. Das jedem Hof zustehende Land wurde, wie oben ausgeführt, nach der Zahl der Esser und der Arbeitskräfte berechnet und durch Losentscheid gleichmäßig verteilt.

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III. Zwischen Revolution und Kollektivierung

Verschärfend trat hinzu, daß die Landorgane seit 1927/28 angewiesen wurden, bei der Bodenzuteilung auf den .Klassenstandpunkt' zu achten und die armen Wirtschaften zu bevorzugen. Eine progressiv gestaffelte Landwirtschaftssteuer versuchte, größere bäuerliche Profite von vornherein abzuschöpfen. Der Staat bremste damit ein Erstarken der .Kulaken' und hielt gleichzeitig die lästige ländliche Nachfrage nach Industrieprodukten in Grenzen. Zwar waren die Steuersätze im ganzen moderat und konnten durch Hinterziehung, das Verschweigen von Saatflächen und Vieh, zusätzlich abgemildert werden; erst Ende der 20erJahre wurde das Netz der Kontrolle dicht und die Progression prohibitiv 106 . Doch wichtiger als die faktische Belastung war das Gefühl der Unsicherheit. Die Regierung hatte die Komitees der Dorfarmut zwar abgeschafft und sich von der Requisitionspolitik des Kriegskommunismus losgesagt, Getreideüberschüsse durften seit 1921 wieder frei verkauft werden. Niemand aber wußte, wie lange an dieser Politik festgehalten wurde, denn die Agitation gegen die .Kulaken' blieb, die Steuersätze wurden Jahr für Jahr neu festgelegt, und ein Kurswechsel war jederzeit möglich. Abwartend skeptisch blieb auch die Haltung der Bauern:,Lieber auf der Dreifelderwirtschaft sitzen bleiben und nicht auffallen', so gibt Bol'sakov die gängige Meinung wieder; denn—so die Bauern weiter—wer sich mit der Kultivierung seiner Landwirtschaft allzu sehr hervortue, gerate nur zu leicht in Gefahr, als .Kulak' zu gelten und das Wahlrecht zu verlieren 107 . Doch ganz abgesehen von derhemmenden Politik des Staates: es fehlten auch die natürlichen, wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Anhäufung von bäuerlichem Reichtum. Das Produktionsniveau war allgemein niedrig, und die .reichen' Wirtschaften unterschieden sich vom Standard nur durch Nuancen, selbst wenn der Mehrbesitz von 1 Pferd, 1 Kuh und 1 bis 2 ha Land aus der Perspektive des Dorfes schon ein gewaltiges Vermögen ausmachte. Ob nun eine 4-5-köpfige Familie 3 ha oder eine 6—7-köpfige 5 ha bestellte, für den Aufbau einer marktorientierten Landwirtschaft war die Saatfläche in jedem Fall zu klein, zumal Kunstdünger kaum bekanntwarund der Boden nur das 4-bis 5-facheder Aussaat lieferte. Noch dazu schwankte der Ernteertrag selbst in normalenjahren stark und erschwerte eine längerfristige Planung. Die Flurbereinigungsmaßnahmen waren auch Ende der 20er Jahre erst zur Hälfte abgeschlossen, in weiten Teilen des Tverer Landes herrschten noch immer die Vorkriegsverhältnisse: Der Besitz eines Hofes verteilte sich auf viele winzige Bodenstreifen. Schließlich stand man auch mit dem Einsatz von Maschinen noch ganz am Anfang: Es gab 1925/26 im Tverer Gouvernement (mit über 400.000 Wirtschaften) nur 88 Traktoren, da-

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von 86 im Einsatz; kein einziger befand sich in Privatbesitz 108 . Und solange auf dem Lande noch ein Überangebot an billigen Arbeitskräften herrschte und die Flurbereinigung nicht abgeschlossen war, versprach eine verstärkte Mechanisierung der Landwirtschaft auch keine höhere Produktivität. Agronomen empfahlen in der regionalen Dorfzeitung den verstärkten Flachsanbau, den Ausbau der Gartenwirtschaft sowie die Umstellung auf Milchwirtschaft - Zweige landwirtschaftlicher Produktion, die auch auf kleinerem Bodenbesitz gedeihen und Profit abwerfen konnten, wie das dänische Beispiel bewiesen hatte 109 . Doch die Bauern scheuten offenbar das Risiko und die Abhängigkeit, die jede Spezialisierung, jede Produktion für einen unsicheren, anonymen Markt mit sich brachte. Sie produzierten vor allem für den eigenen Bedarf, und in der Versorgungskrise der Revolutionsjahre hatte sich das Bemühen um Autarkie noch verstärkt. Selbst wenn sie es nie erreichten, am Ziel hielten die Tverer Bauern auch in den 20erjahren fest. Es übertrug sich auf die vielen neuen Wirtschaften, die sich seither gebildet hatten und zusätzlich zur Saatfläche Pferd, Kuh und Pflug erwarben. Das neue Eigentumsrecht erleichterte mit der Gleichstellung aller Hofmitglieder die Teilung von Großwirtschaften, und jede vollzogene Teilung setzte die dörfliche Umverteilung innerfamiliär fort, baute .Disproportionen' in der Verteilung der Ressourcen ab und minderte zugleich die Chancen für die Produktion von Überschüssen. Anders gesagt: Jede .Akkumulation von Kapital' ist auch in der Landwirtschaft an Voraussetzungen gebunden. Im Tverer Gouvernement der 20er Jahre stand ihr nicht nur der Staat mit seiner Steuerpolitik im Wege. Ihr fehlte die Absicherung in der dörflichen Sozial· und Eigentumsordnung, und sie hatte, was noch schwererwiegt, die Bauern selbst — mit ihrer Grundorientierung an Subsistenz und der Vermeidung jedes Risikos — gegen sich. Die Frage bleibt, wieweit die hierbeschriebenen BeobachtungenTverer Besonderheiten darstellen, wie weit die daraus gezogenen Schlüsse auf andere Bereiche des europäischen Rußlands übertragbar sind. Im Gouvernement von Saratov etwa, mit dem hier schon öfters die Tverer Verhältnisse verglichen wurden, war die Wirtschaftslandschaft eine völlig andere : Die Dörfer waren groß (mit 100,200 und mehr Höfen), keine verstreuten Kleinsiedlungen wie in Tver'. Sie konzentrierten sich ganz auf die Landwirtschaft, auf den Anbau von Roggen, Weizen, Gerste, Hafer und Sonnenblumen, und sie produzierten nicht nur für den eigenen Bedarf. Das Gebiet an der mittleren/unteren Wolga gehörte zur Kornkammer Rußlands, Gewerbetätigkeit spielte hier traditionell eine untergeordnete Rolle. So war der Wald, der in Tver' noch 1929 28,6 °/o des

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III. Zwischen Revolution und Kollektivierung

Gouvernements bedeckte, in Saratov auf einen kleinen Restbestand (von 9,4 %) zurückgedrängt. 64,6 % des Bodens wurden als Ackerfläche genutzt, 14,3 °/o als Wiesen und Weide - während in Tver' der Acker nur 22,6 °/o, Wiesen und Weiden 34,4 % der Gesamtfläche ausmachten. Mehr als 4 bis 5 ha Saatfläche hatte in Tver' nur eine Minderheit (7 %), in Saratov fast die Hälfte der Höfe (48 %); 9 und mehr ha besaßen in Tver' 0,2 %, in Saratov noch 11,3 % der Bauern. Entsprechend breit war das Spektrum der Besitzunterschiede 110 . Die Landpacht war in Saratov nicht nur verbreiteter als in Tver' (11% der Saratover Höfe gaben Land ab, 19,5 °/o pachteten Land), auch die durchschnittliche Größe des Pachtlandes (von ca. 4 Desjatinen, also rund 4,5 ha) fiel völlig aus dem in Tver' üblichen Rahmen 111 . Und da es wiederum die großen Wirtschaften waren, die hinzupachteten, und viele kleine Wirtschaften aus Mangel an eigenem Zugvieh und Inventar zur Verpachtung ihres Bodens gezwungen waren, verbreiterte sich das Besitzspektrum noch einmal. Auch in Saratov wuchs die Saatfläche mit der Zahl der Mitglieder eines Hofes, und die Wirtschaften mit der größten Saatfläche waren zugleich die,reichsten', was den Viehbestand und die Inventarausstattung betraf. So standen an der Spitze der dörflichen Besitzhierarchie Großfamilien mit 9,10 und mehr Mitgliedern, davon 2 - 3 Erwachsene im arbeitsfähigen Alter. Sie bebauten 10 bis 15 ha Land, vereinzelt auch weit mehr, und sie verfügten gemessen am Dorfstandard über die beste Ausstattung mit Vieh und Inventar. Am anderen Ende der Skala standen die armen Kleinsthaushalte ohne oder mit nur geringer Saatfläche - die Höfe von Alten, Witwen und Waisen, die schon physisch nicht mehr in der Lage waren, eine eigenständige Landwirtschaft zu führen, und denen auch das dazu nötige Vieh und Ackergerät fehlte 112 . So groß die Unterschiede zwischen den Höfen auch waren, die zitierten Zahlen lassen die innergesellschaftliche Kluft tiefer und den Abstand zu den Verhältnissen in Tver' weiter erscheinen, als er in Wirklichkeit war. Schon der Fortbestand der alten obscina verhinderte, daß die einem Hof zugewiesenen Bodenanteile und die Zahl der verfugbaren Arbeitskräfte zu weit auseinanderklafften 113 . Auch in Saratov wurde der Boden nach dem Dreifeldersystem bestellt, und der Ernteertrag vom Hektar war (gemessen am Roggen) noch geringer als in Tver'. Der Boden lieferte im Durchschnitt nur das Drei- bis Vierfache der Aussaat 114 . Exakt planen konnte man nie, denn die Jahresschwankungen waren immens. Mißernten und Hunger lösten in unregelmäßigem Abstand gutejahre ab, und das Land hatte sich von 1921 noch nicht erholt, als die schwachen Jahre 1923undl924 folgten und wiederum nur ein Bruchteil

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ein Bruchteil von der Normalernte eingefahren wurde; in manchen Gegenden betrugen die Ausfälle erneut 70—80 °/o115. Die Erntekatastrophe von 1921 hatte in den Saratover Viehbestand ein Loch gerissen, das bis zum Ende des Jahrzehnts nicht gefüllt werden konnte. 1926 besaßen fast 30 °/o der Wirtschaften keine Kuh, 40 % kein Arbeits-(Zug-)vieh, und noch 2 Jahre später lag die Gesamtzahl der Arbeitstiere erheblich unter dem Vorkriegsstand. Da in der gleichen Zeit die Zahl der Höfe beständig wuchs, blieb das Defizit an Zugkraft groß : Die Versorgung der einzelnen Höfe mit Arbeitsvieh betrug 1928 nur rund 60 °/o des Standes von 1913116. Die prekäre Lage der Bauern an der mittleren Wolga schlugsich auch im Fehlen von Ackergerätnieder: 59% der Wirtschaften hatten keinen Pflug, lediglich 22 °/o verfügten über gehobenes Gerätar (wie Sä-, Mäh- oder einfache, pferdegetriebene Dreschmaschinen). Traktoren waren auch in Saratov eine Ausnahmeerscheinung, die Sowjet- und Kollektivwirtschaften vorbehalten blieb 117 . Nicht nur die Leistungsfähigkeit, auch der Bestand der Saratover Bauernwirtschaften war weit weniger stabil, als ein erster Blick auf die Verteilung des Grundbesitzes vermuten läßt. Innerhalb des dörflichen Sozialgefüges, so zeigen Mobilitätsstudien, herrschte ein reges Auf und Ab. Mehr als 8 °/o der Wirtschaften änderten zwischen 1924 und 1925 ihren Organisationsstatus (sie teilten sich, schlossen sich zusammen oder lösten sich auf), und zwischen 1925 und 1926 war die Bewegung innerhalb des Dorfes nicht geringer 118 . Besonders hoch war die Zahl der Teilungen und Erstansiedlungen, und so gab es in Saratov 192840bis50 °/o mehr Bauernwirtschaften als 1913119. Viele .reiche' Großfamilien zerfielen, ihr Anteil an der Gesamtzahl der Höfe sank beständig - eine Entwicklung, die durch die wirtschaftlichen Schwierigkeiten offenbar nicht gehemmt, sondern noch beschleunigt wurde. Staatliche Organe wiesen Ende der zwanziger Jahre daraufhin, daß manche Teilungen Pseudoteilungen waren und daß sie nur vorgenommen wurden, um der progressiven Besteuerung zu entgehen. Das traf sicher zu, in Einzelfallen. Doch die Bewegung hatte längst begonnen, bevor der Staat massiv gegen die Großbauern vorging, und sie erfaßte Schichten, die von staatlicher Repressionspolitik in dieser Hinsicht nichts zu befürchten hatten. In aller Regel waren die Hofteilungen nicht fiktiv, sondern sie wurden vollzogen 120 . Wurden sie aber vollzogen, so dienten sie, gewollt oder ungewollt, nicht mehr der Absicherung des Profites, sondern sie nutzten das vorhandene Kapital zur Erweiterung der Subsistenzbasis. Schließt man hiervon auf das Wirtschaftsverhalten der Saratover Bauern, so glich es weitgehend dem ihrer Tverer Berufsgenossen.

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III. Zwischen Revolution und Kollektivierung

Über alle Unterschiede hinweg waren ihnen die staatlichen Rahmenbedingungen gemeinsam. Gemeinsam war Tverer und Saratover Bauern auch das alles in allem niedrige Produktionsniveau und die Erfahrung der Krisenanfalligkeit ihrer Wirtschaft in den Jahren der Revolution. Gemeinsam war ihnen schließlich der Versuch, der Schwierigkeiten der Mangelgesellschaft in kleinen, möglichst autarken Funktionseinheiten Herr zu werden; und hier wie dort vollzog sich die Entwicklung im Rahmen der traditionellen Gesellschaftsverfassung, der obscina.

2.

Die lokale Gesellschaft

Wohin man im D o r f auch sah, Wirtschaft und Gesellschaft waren nicht zu trennen, und materielle und geistige Kultur gingen nahtlos ineinander über. Einfacher gesagt, um den Boden, seinen Besitz, seine Verteilung, seine Bestellung drehte sich alles. Das russische Wort ,derevnja' (Dorf) hatte ursprünglich den,Acker' bezeichnet, das dem Wald abgerungene Rodungsland; es übertrug sich dann auf das bäuerliche Gehöft, das auf dem Acker stand, und schließlich auf die Siedlung, die Landgemeinde, die obscina, die kollektiv über den Boden verfugte 1 . Das Entscheidungsorgan der obscina war die Versammlung der Hofbesitzer, der schod. Er besprach die Zuteilung der Bodenstreifen und ihre Umverteilung, die Saatfolge und den Fruchtwechsel, die Flurbereinigung und die Verteilung der dabei anfallenden Lasten. Das Gewicht jeder Stimme in der Dorfversammlung hing vom Ansehen der Person ab, Ansehen aber wurde durch Besitz und Erfolg in der Landwirtschaft erworben. Werkeine Landwirtschaft betrieb, zählte im D o r f nicht zu den .eigentlichen' Bauern, und wer besitzlos war, stand in der Sozialhierarchie ganz unten: Er war — o b unfähig oder faul - in jedem Fall kein .guter' Bauer 2 . Der Jahresrhythmus der Landwirtschaft prägte das dörfliche Leben. Es begann mit dem Viehaustrieb und dem Umpflügen der Sommerfelder Mitte/Ende April. Dann wurden die Kartoffeln gesteckt, der Flachs und die Gartenkulturen angepflanzt und das Getreide ausgesät. Sofern man hatte, fuhr man Mist aufs Brachfeld und pflügte es um. Mittlerweile war Juni. Nach einer zweiwöchigen Pause in der zweiten Monatshälfte folgte die Heumahd, und dann ging alles Schlag auf Schlag. Die Ernte der Roggen und die Gerste, der Flachs und der Hafer, der Buchweizen und die Kartoffeln — mußte eingefahren und gleichzeitig ein Teil des Roggens ausgedroschen und auf dem inzwischen geeggten Brachfeld als Wintersaat ausgebracht werden. Im September, bevor der Frost wieder-

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kam, sollten diese Arbeiten abgeschlossen sein. Nun wurden, wo die Böden schwer waren, noch die Stoppelfelder umgepflügt, und das Vieh kehrte in den Stall zurück. Ab Oktober ruhte die Feldarbeit, die Bauern waren mit dem Dreschen des Getreides beschäftigt, und die Bearbeitung des Flachses begann 3 . Auf die Erntesaison, wo der Arbeitstag 14,16 Stunden lang sein konnte, folgten stillere, geruhsamere Monate. Im Herbst und Winter konnten sich die Bauern allgemeineren, dörflichen Problemen widmen und schody besuchen. In dieser Jahreszeit starteten kommunistische Partei und staatliche Organe ihre politischen Kampagnen. Die Jugend, Burschen und Mädchen, trafen sich zu vergnüglichen Abenden, den posidel'ki, wobei die vorgeschützte Arbeit, das Spinnen, meist die Nebensache war. Jetzt war auch Zeit zum Feiern. Hochzeiten fanden nur in diesen Monaten statt, und auch die beiden großen kirchlichen Feiertage, Weihnachten und Ostern, lagen im Winterhalbjahr. Schon lange vorher brauten die Bauern Bier und brannten Schnaps, den samogon, und zu den Feiern luden sie auch die Verwandtschaft ein. Im Dorf wurde gesoffen und mehrere Tage lang nicht gearbeitet. Der orthodoxe Geistliche wurde empfangen und bewirtet, er segnete Haus und Hof und erhielt dafür eine feste, vorher vereinbarte Taxe. Im Frühjahr beim Viehaustrieb kam er wieder, segnete die Herden, um sie vor Seuchen und anderem Unheil zu bewahren, und das neue Wirtschaftsjahr begann 4 . Die folgenden Abschnitte versuchen, einige Grundzüge dieser agrarisch bestimmten Gesellschaft nachzuziehen, soweit sie in den Quellen faßbar sind. Sie beschreiben den Fortbestand der Dorfversammlung als Institution und ihr Wirken im nachrevolutionären Dorf. Sie skizzieren die bäuerlichen Klassen und Schichten und ihren Zusammenhalt innerhalb des dörflichen Sozialgefüges. Sie erzählen von den dörflichen Festen und ihrer Bedeutung für das Kollektivbewußtsein. Sie berichten von der eher schwachen Stellung der Kirche auf dem Lande und den starken Wurzeln von Volksglaube und -medizin in magischen Grundvorstellungen. Und sie fragen schließlich mit der Betrachtung der dörflichen Kriminalität nach Norm und Konflikt innerhalb der bäuerlichen Gesellschaft. Das Ineinandergreifen der einzelnen Momente, der Institutionen, der Verhaltensweisen und Einstellungen, der Werte und Normen, zeigt die Stärke der traditionellen Bindung und verdeutlicht die Schwierigkeiten der Bolschewiki, sie zu lösen.

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III. Zwischen Revolution und Kollektivierung Die Doifversammlung

Der Agrarkodex von 1922 hatte die existierenden Landgemeinden als solche anerkannt und den Dorfversammlungen, den schody, das Recht, eigenständig alle Landfragen zu regeln, bestätigt. Nach dem Gesetz sollten sie eine .Landordnung' aufstellen, die Nutzung der verschiedenen Schläge in der Gemeinde festlegen und die Auf- und Umverteilung der Bodenstreifen jeweils der eigenen Satzung gemäß vornehmen. Sie hatten, so führte der Agrarkodex weiter aus, das Verfiigungsrecht über die Allmende und die freien Gemeindeäcker, bestimmten bei Gemengelage die Saatfolge und entschieden, sofern ein Gesuch vorlag, über die Aufnahme neuer Mitglieder. Auch die Neuordnung der Flur, die Zusammenlegung der winzigen Bodenstreifen zu größeren Stücken, der Ubergang zum otrub- und chutor-System und die Teilung der Landgemeinden in zwei oder mehrere Teile gehörten zu ihrem Kompetenzbereich. Hatten vor der Revolution nur die Hofbesitzer am schod teilgenommen, so öffnete die neue Agrargesetzgebung den Zugang allen. Wer in der Landwirtschaft tätig war, gleich welchen Geschlechts, durfte auch auf der Dorfversammlung erscheinen. Das Mindestalterwarauf 18Jahre festgelegt; Jugendliche, die selbständig einen Hof führten, waren schon vor Erreichen der Volljährigkeit zugelassen. Bei jeder Doifversammlung sollte mindestens die Hälfte der Höfe durch den Hausherrn oder eine andere Person vertreten sein, ging es um Grundsatzfragen, war eine Zweidrittelrepräsentanz erforderlich. Die Entscheidungen in der DorfVersammlung fielen laut Gesetz mit einfacher, bei Grundsatzfragen mit Zweidrittelmehrheit 5 . Die Kontinuität der Dorfversammlungen blieb so gewahrt, und die rechtlichen Modifizierungen änderten an ihrer Praxis offenbar wenig. Wenn in Gadysi, so erzählt Fenomenov in seiner Monographie über das Waldai-Dorf, die Glocke die Bauern zum schod rief, versammelten sich die Hofbesitzer pünktlich wie bisher auf einem freien Platz in der Mitte des Dorfes und besprachen die anstehenden Probleme. Die Versammlung hatte manchen Sturm erlebt, vor der Revolution und in denjahren danach, aber sie war nicht zerbrochen, sie hätte sich als Entscheidungsorgan auch gegenüber dem Dorfrat und den Komitees der Dorfarmen behauptet. Meist gaben in Gadysi die besser gestellten Bauern den Ton an, und kaum eine Entscheidung fiel gegen ihren Willen. Doch so kontrovers die Meinungen im schod aufeinander prallten, so .zerrissen' das Dorf im Innern sein mochte, nach außen trat man immer wieder als Einheit auf, vor allem, wenn es galt, sich den Ansprüchen staatlicher Fiskalpolitik zu widersetzen. Für ihre im schod beschlossene Weigerung, die

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geforderte Buttersteuer zu entrichten, waren die Repräsentanten des Dorfes, einflußreiche und wohlsituierte Bauern, 1921 sogar bereit, ins Gefängnis zu gehen. Sie standen zum ,mir' durch dick und dünn, sagte man anerkennend in Gadysi, selbst wenn der Konflikt dann glimpflich beigelegt werden konnte 6 . Die geschilderten Verhältnisse lassen sich auf das angrenzende Tverer Gouvernement übertragen: Auch in Tver' stand der schod im Mittelpunkt des dörflichen Geschehens, und. seine Praxis glich, wenn wir die spärlichen Hinweise in der Lokalpresse zusammenziehen, den Zuständen in Gadysi. Staatliche Versuche, die Mitsprache im Innern zu erweitern und den Ablauf zu normieren, blieben Makulatur. An den Dorfversammlungen nahmen wie seit jeher nur die Hofbesitzer teil, kaum Frauen; war der Bauer verhindert, schickte er lieber den minderjährigen Sohn als die Bäuerin. Angaben über die Frequenz der Tagungen fehlen, doch es scheint, daß sie nur nach Bedarf, nicht regelmäßig stattfanden. In den Versammlungen gab es keine Tages- und auch keine Verfahrensordnung, und es gab auch kein Protokoll. Die Verhandlungen zogen sich des öfteren endlos hin, die Auseinandersetzungen wurden heftig und lautstark ausgetragen, und es war für den Außenstehenden schwierig nachzuvollziehen, wie die Entscheidungen schließlich zustandekamen. Abstimmungen und klare Mehrheitsentscheidungen, wie das Gesetz es forderte, waren wohl eher die Ausnahme; Einfluß und Ansehen spielten eine größere Rolle als Majorität. Das sind Vermutungen, für eindeutige Aussagen fehlt das Material 7 . Die Landfragen, wie sie oben umrissen wurden, standen im schod im Mittelpunkt. Doch man stritt sich hier ebenso um die Verpachtung der Gemeindemühle und der freien Gemeindeäcker, um die Abgrenzung der Weiden und die Verhinderung von Flurschäden, um die Teilung der Heumahd und die Anschaffung eines Gemeindestiers, um die Anheuerung eines Hirten und den Ankauf von Maschinen. Auch die Bekämpfung der Brandgefahr und die Anschaffung einer Feuerspritze, der Zustand der Wege und Brücken und die notwendige Reparatur der Schule standen wiederholt zur Diskussion. Je allgemeiner die Themen wurden und je weiter sie sich von Landfragen entfernten, desto geringer war das bäuerliche Engagement. Da jede gemeindliche Eigeninitiative Kosten verursachte, Kosten aber Selbstverpflichtung bedeuteten, überlegte man jede Sache lieber einmal mehr als einmal zu wenig8. Nach Meinung der staatlichen Stellen konnten die Bauern mehr für ihr Dorf tun. Sie sollten sich darum kümmern, ob die Schulen Türen haben, und um alles, was Lehrer und Schüler sonst noch brauchten. Sie sollten eingehender den Zustand der Wege besprechen, und statt

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Schnaps zu brennen und große Feste zu feiern, sollte man eine neue Feuerspritze kaufen. Im DorfZabolot'e, im Landkreis Torzok, so berichtete die Tverskaja Derevnja im August 1927, mußten staatliche Stellen die Schule wegen Einsturzgefahr schließen. Man stellte dem Dorf kostenlos ein Stück Wald zum Neubau zur Verfugung, doch die Bauern konnten sich nicht einigen, wer das Holz aus dem Wald holen sollte. Seine eigenen persönlichen Dinge, so resümierte die Zeitung, regle der Bauer noch ganz passabel. Er tue es zum größten Teil auf seine alte, herkömmliche Art (denn der Bauer furchte das Neue mehr als das Feuer), aber er sei nicht blind, wenn der Fortschritt seinem eigenen Vorteil diene. Für Fragen aber, die den ,mir', die Gemeinde, beträfen, fehlten den Bauern Einsicht und Verständnis. Auf dem schod herrsche ein Heidenlärm und werde viel Uberflüssiges daher geredet, aber wenn es um konkrete gemeindliche Probleme gehe, versuche sich jeder zu drücken und keiner wolle etwas für .Fremde', für die .Allgemeinheit' tun 9 . Hinter der Polemik verbarg sich die Feststellung, daß die Bauern das Verhältnis Hof-Dorf, Einzelner-Allgemeinheit anders als die sozialistische Staatsfuhrung sahen und deren Prioritäten (Schule, Wege, Feuerwehr) sich nicht mit den ihren deckten. Wenn die staatlichen Stellen die Verhandlungen auf der Dorfversammlung als sinnlos betrachteten, so ging es den Bauern mit vielen Parteiveranstaltungen nicht anders, und beides belegt nur die elementaren Schwierigkeiten, die andere Position auch nur zu verstehen. Vermutlich käme man dem Kern des Konfliktes nahe, wenn es gelänge, diese Probleme zu beschreiben. Doch die Mitteilungen über den schod bieten dafür kaum eine Grundlage, sie sind selbst für begründete Hypothesen zu dürftig. Die Vorbehalte der staatlichen Stellen gegen die Dorfversammlung beschränkten sich nicht auf den Vorwurf der Lethargie und des fehlenden Gemeinsinns. Je länger, desto mehr wurde ihnen diese Institution selbst suspekt, die eigensinnig und eigengesetzlich alle dörflichen Angelegenheiten regelte, in der nicht die armen Bauern, sondern die Kulaken' das Sagen hatten und die den neuen Dorfsowj et auf eine administrativ-fiskalische Randfunktion beschränkte. Wer denn nun die Staatsmacht repräsentiere, der Dorfsowjet oder die Landgemeinde, so fragte die Tverer Bauernzeitung anläßlich der Neuwahl der Dorfräte 1925/26; und sie fuhr fort, die „Doppelherrschaft" sei untragbar. Statt ein Mittler zwischen dem sowjetischen Staat und den Bauern zu sein, befinde sich der Dorfsowjet fest in der Hand der Landgemeinde, und statt die Anordnungen der Regierung durchzusetzen, stelle er sie im schod zur Diskussion. Nur zu oft sei das Ergebnis, daß die Regierungsverordnungen vor Ort am Widerstand der .Kulaken' und .Schreihälse' scheiterten 10 . Seit

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Mitte der 20erjahre mehrten sich diese Stimmen. Mit Instruktionen und Verordnungen versuchte die Regierung, die Kompetenzen der Gemeindeversammlung einzuengen, die .Kulaken' und ihre .Helfershelfer' auszuschließen, die Stimme der Armen in den schody aufzuwerten und die Kontrollfunktion der Dorfsowjets zu verstärken. Doch so wenig es gelang, die schody durch die Dorfsowjets zu verdrängen, so wenig ließen sich die innerdörflichen Einfluß-, Macht- und Entscheidungsstrukturen auf dem Verordnungsweg verändern 1 1 . Von der Schwäche der Dorfräte wird noch zu reden sein. Hier soll zunächst die zweite, die weitere Frage interessieren: woran die Versuche, das dörfliche Sozialgefiige mit einer .Klassenpolitik' zu ändern, scheiterten.

b)

Klassen und Cliquen

Nach offizieller Sprachregelung zerfiel die dörfliche Bevölkerung in vier mehr oder minder scharf voneinander zu trennende Klassen: die Lohnempfänger (Batraken), die armen Bauern (Bednjaken), die Mittelbauern (Serednjaken) und die Großbauern (Kulaken). Kriterium der Zuordnung war der Besitz, die Verfügung über Produktionsmittel. Die Batraken, so sagte man, sind .Proletarier', sie haben nichts als ihre Arbeitskraft. Als typischer Repräsentant wurde in Tver' immer wieder der Gemeindehirte genannt : Er besaß keine eigene Hütte und wurde vom Dorf reihum beherbergt und verköstigt; aber auch die Knechte und Mägde, die Arbeiter in ländlichen Betrieben und die Angestellten in staatlichen Institutionen gehörten zum .Proletariat'. Nicht viel besser, so sagte man weiter, haben es die armen Bauern, die .Halbproletarier', auch sie zählten zur dörflichen Unterschicht: Sie besäßen zwar Land, Vieh und Inventar, aber längst nicht genug; sie müßten Pferd und Pflug vom größeren Nachbarn leihen und zumeist als Tagelöhner oder Wanderarbeiter hinzuverdienen. Die Grundmasse des Dorfes definierte man als mittelbäuerlich, als .kleine Warenproduzenten'. Ihr Merkmal sollte sein, daß sie über eigene Produktionsmittel verfügten, von den Erträgen der Landwirtschaft lebten und sogar bescheidene Überschüsse erzielten. Über allen thronte — nach bolschewistischer Vorstellung — der Kulak, der ,Dorfbourgeois'. Dieser ,lokale Selbstherrscher', wie ihn die Tverer Dorfzeitung einmal nannte, besaß per definitionem erheblich mehr Land, Vieh und Inventar als der Durchschnitt und nutzte sie zu Ausbeutung und Spekulationsgewinnen: Er verlieh Geld und Gerät, pachtete Land hinzu, engagierte sich im Getreidehandel und betrieb ein profitträchtiges Gewerbeunternehmen, zum Beispiel die Dorfmühle 1 2 .

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Dieses Klassenmodell des ländlichen Sozialgefuges war verführerisch einfach. Nur hatten die Bauern, wie das Tverer Beispiel zeigt, erhebliche Schwierigkeiten, die eigene Wirklichkeit und ihre Probleme darin wiederzuerkennen. Sie dachten in anderen Kategorien und waren auch durch ständige Wiederholung nicht zur neuen Sicht der Dinge zu bekehren. Das galt für jede der sogenannten ländlichen .Klassen' wie für die Beziehungen zwischen ihnen. Verglichen etwa die Hirten ihre Lage mit der Situation der weiblichen Hausangestellten - wobei beide Gruppen zusammen, wie oben ausgeführt, das Gros des Tverer .Dorfproletariats' ausmachten —, so waren es die Unterschiede, nicht die Gemeinsamkeiten, die ins Auge stachen. Die njan'ki, die Haus- und Kindermädchen, waren jung, oft minderjährig; sie sahen ihre Beschäftigung nur als vorübergehend an und sie waren im bäuerlichen Haushalt, in dem sie dienten, integriert 13 . Anders die Hirten, sie hatten kein Zuhause, sie waren vom Dorf als Ganzem engagiert und standen gesellschaftlich an dessen Rande. Die Dorfzeitung beschrieb wiederholt ihr „menschenunwürdiges" Dasein; sie warnte zugleich aber vor ihnen als Überträger von Syphilis und empfahl, daß Hirten mit den übrigen Hausbewohnern nicht aus einer Schüssel essen sollten 14 . Eine bäuerliche Leserzuschrift kennzeichnete sie als negative Auslese, als Analphabeten und Krüppel; zum Hirten mache man häufig, wer zu anderer Arbeit nicht fähig war 15 . In Gadysi glaubte man, daß Hirten geheime, magische Kräfte besäßen, und vermied mit ihnen jeden Streit 16 . Selbst eine ausführliche, reißerische Zeitungsreportage über die Vergewaltigung und Ermordung einer 16-jährigen, bei der .blutige Hirten' als Täter angeklagt wurden, paßte in das allgemeine, widersprüchliche Bild des Außenseiters 17 . Der Abstand zwischen Mägden und Hirten war, wohin man auch blickte, groß. Doch das Unwahrscheinliche unterstellt, sie wären fähig gewesen, im konkreten Fall von ihrer Person zu abstrahieren und Gemeinsamkeiten im Dasein zu entdecken, von den proletarischen' Angestellten staatlicher Institutionen trennte sie dann immer noch eine materielle und geistige Kluft. Die armen Bauern wiederum grenzten sich von denen ab, die keine Wirtschaft führten. Wer keine eigene Landwirtschaft betrieb, gehörte nach der Ansicht des Dorfes nicht zu den,eigentlichen Bauern'; erwarin der Dorfversammlung nicht vertreten und redete nicht mit, wenn es um die Hauptsache, das Land, ging 18 . Dieser Umstand erschwerte die von Staat und Partei propagierte Zusammenarbeit der ländlichen Unterschichten, und das geforderte feste .Klassenbündnis' zeigte nirgends greifbare Konturen. Der Übergang von den armen zu den mittleren Bauern war fließend, und es ist nicht ersichtlich, daß gleicher Besitz an

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Saatfläche, Vieh und Inventar Gruppenbewußtsein und Unterschiede im Besitz per se Klassenspannungen erzeugt hätten. Einen nicht landwirtschaftlichen Nebenerwerb suchten in Tver' nicht nur die armen, sondern auch die Mittelbauern, und wer ihn fand, stand im allgemeinen besser da als der gleich viel besitzende Nachbar 19 . Voraussetzung dafür warfreilich, daß die Familie genügend Arbeitskräfte besaß, um eine Person als Wanderarbeiter abstellen zu können. Diese Chance stieg mit der Größe der Familie, Alte und Alleinstehende waren — wie so oft — im Nachteil. Anders gesagt: Ein Bauernhof, dessen junger Besitzer als Taglöhner oder Wanderarbeiter hinzuverdiente, hatte noch gute Chancen auf eine bessere Zukunft. Alte und Alleinstehende — sie konnten nur noch verlieren. Entsprechend unterschiedlich waren sicher Sozialprestige und Selbsteinschätzung, selbst wenn sich die Besitzgrößen glichen und beide ,arme' oder .mittlere' Bauern waren. Alter und Gesundheit, Familiengröße und Zahl der Arbeitskräfte, außeragrarische berufliche Kenntnisse und ein nichtlandwirtschaftlicher Nebenerwerb waren für die gegenwärtige Position und künftige Prosperität eines Hofes nicht weniger wichtig als der aktuelle Besitzstand. Dafür, daß bei günstigen Voraussetzungen Aufstieg aus eigener Kraft möglich war, fehlte es nicht an Hinweisen. Auch die Tverer Dorfzeitung wurde nicht müde, diesen Sachverhalt herauszustellen. Sie schilderte zum Beispiel, wie nach dem Kriege im Dorf Vyrec des Tverer Landkreises der 25-jährige Jakov Efrimovic Tichomirov zusammen mit seiner jungen Frau den Hof der Eltern verließ und mit dem Aufbau einer eigenen Wirtschaft begann. Fünfjahre rackerte er sich ab, dann hatte er es geschafft. Das junge Paar, das mit leeren Händen angefangen hatte, besaß nun drei Kinder und neben der Hütte auch eine Scheune, ein Pferd, eine Kuh, 2,5 ha Saatfläche und über 3 ha Wiesen. Im gleichen Blatt, ja auf der gleichen Seite, auf der sich die Geschichte Tichomirovs findet, berichtete der Dorfkorrespondent Krylov aus dem Ort Tolmaci (im Landkreis Bezeck), wie es Leontij Egorovic Fedorov, der Bednjak, binnen weniger Jahre zu einem ganz ordentlichen Besitz gebracht hatte. Leontij hatte 1918 den Hof seinerzeit über 60-jährigen) Eltern übernommen, und da er selbst verheiratet war und noch zwei erwachsene Geschwister (einen Bruder und eine Schwester) besaß, gelang es ihnen in gemeinsamer Anstrengung rasch, den kümmerlichen Besitz hochzupäppeln und beträchtlich zu erweitern. Mitte der 20er Jahre war die Gesamtfamilie auf neun Köpfe angewachsen, und mit 3,5 ha Saatfläche und 6,5 ha Wiesen gehörten die Fedorovs schon fast zu den Wohlhabenden. Noch besser als den Fedorovs ging es den Bykovs (in der Vysokovsker volost' des Landkreises Torzok), von denen lobend der Dorfkorrespondent Pozdn-

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jakov berichtete. Auch sie hatten den Aufstieg in der ersten Hälfte der 20erjahre geschafft, wenngleich sie nicht so weit unten beginnen mußten wie die Fedorovs oder die Tichomirovs. 1925 besaßen sie 2 Pferde, 1 Fohlen, 3 Kühe, einen Stall voller Kleinvieh, einen großen Hof und mehrere landwirtschaftliche Maschinen. Der Dorfkorrespondent rechnete die Bykovsche Wirtschaft und ihre 9 Mitglieder zu den „fortschrittlichen Mittelbauern", doch — realistisch gesehen - gehörten sie wohl eher zu den Reichen 20 . Drei Beispiele aus einer Nummer derTverer Dorfzeitung - sie ließen sich vermehren. Mobilitätsstudien belegen, daß die Beispiele nicht nur die berühmte, kaum erreichbare Ausnahme von der Regel darstellten 21 . Die in ihnen zutage tretende Offenheit der ländlichen Gesellschaft entsprach durchaus der Erfahrung vor Ort, wie Fenomenov bestätigt 22 . Sie festigte die bäuerliche Auffassung, daß Besitz immer auch auf Verdienst und Armut auf Unfähigkeit oder Faulheit zurückzuführen sei23. Der kaum zu leugnende Sachverhalt, daß — nachdem die Revolution die Reichen enteignet hatte — Besitz nirgends ein sorgloses Leben gewährte, daß WohlstandnurdurchArbeiterreichtund durch beständige Leistung erhalten werden könnte, stützte diese Überzeugung. Offen ausgesprochen, rechtfertigte sie nicht nur den nachrevolutionären Besitzstand, sondern vertiefte auch den Gegensatz zu den Nichtbesitzenden. Sie gab den Armen selbst die moralische Schuld an ihrer Lage und nahm nur die Alten, Kranken und vom Schicksal Geschlagenen aus. Erschien die Armut der Alten und Kranken gleichsam natürlich und unabänderlich, so sollte dem durch Brand, Hagel, Seuche oder ein anderes Unglück plötzlich in Not Geratenen durch gezielte Hilfe die Chance gegeben werden, neu zu beginnen. Wenn die Bolschewiki solche Auffassungen ,kulakisch' nannten 24 , so war dies kurzschlüssig und ein Mißverständnis obendrein. Die Bauern lehnten seit jeher nicht Besitz als solchen ab, sondern nur Besitz, der nicht aufArbeit beruhte ; und dieses Prinzip verfochten die armen Bauern nicht weniger als die reichen 25 . Um nicht mißverstanden zu werden: Von einer sozialen Harmonie im nachrevolutionären Dorf ist hier nicht die Rede, und die Kritik am bolschewistischen Klassenmodell leugnet nicht die Existenz repressiver Gewalt, sondern die Reichweite ihrer Erklärung: Das Besitzkriterium, die Verfügung über Produktionsmittel, vermochte die soziale Lage der Tverer Bauernwirtschaften und die Beziehungen zwischen ihnen nur unzureichend zu beschreiben. Die behaupteten Klassen gewannen nirgends greifbare Gestalt, die Bauern dachten anders über Besitz, Armut und eine gerechte Gesellschaft, und das gesetzte Ziel eines Bündnisses gegen die .Kulaken' blieb illusionär. Tatsächlich verliefen die Konflikte

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um Besitz und Einfluß nicht entlang der imaginären Klassenlinien, sondern - so banal das klingen mag - in der Familie und auf noch näher zu beschreibende Weise zwischen ihnen. Gerechte Verteilung war zunächst ein interfamiliärer Streit zwischen Eltern und Kindern, aber auch zwischen den Geschwistern. Wie weit er durch das Sowjetrecht (mit der Gleichberechtigung aller Hofmitglieder) verschärft wurde, könnte nur eine genauere Untersuchung zeigen. Wie heftig mitunter die Meinungen und Ansprüche aufeinanderprallten, zeigen — offenbar gar nicht so seltene — Teilungskonflikte, die mit Mord und Totschlag endeten 26 . Was nun den zwischenfamiliären, innerdörflichen Kampf um Besitz, Macht und Einfluß angeht, so hat schon Fenomenov zutreffend bemerkt, daß der eigentliche Gegner des Großbauern nicht derTagelöhner oder Kleinbauer war, sondern der andere ,Kulak' oder der ehrgeizige, aufstrebende .Mittelbauer', der sich der Konkurrenz stellte und Mitsprache verlangte 27 . Nur wo der Staat auf sie und nicht auf die Armen setzte, gewann er eine tragfahige Stütze im Dorf. Die ärmeren Bauern und schon gar das Gesinde und die Tagelöhner ordneten sich unter, wenn man so will, als .kulakische' Klientel : Sie erhofften und erwarteten vom stärkeren Nachbarn, daß er ihre Forderungen in der Dorfversammlung unterstützte, daß er ihnen Zugvieh und Gerät lieh, daß er ihnen in Notzeiten mit Brot- und Saatgetreide aushalf, ihnen Gesuche für staatliche Stellen schrieb und Kredite gab, die staatliche Kreditinstitute aus Mangel an Bürgschaft verweigerten 28 . Wann Leistung und Gegenleistung einander nicht mehr entsprachen und die Nachbarschaftshilfe zur .Ausbeutung' wurde, ist so allgemein nicht zu sagen; allein der Hinweis auf das Faktum der Pacht, der Leihe und der Kreditierung, wie die Bolschewiki meinten, genügte jedenfalls noch nicht, um das .Ausbeuterische' dieser Beziehung bloßzustellen. Nicht Klassen-, sondern Klientelzugehörigkeit bestimmte die Gruppenbildung im Dorf, und nicht Besitz, sondern Verwandtschaft war dafür entscheidend. Wie sollte es in den kleinen Tverer Dörfern, die aus 20 bis 30 oder (wenn es hoch kam) 50 Häusern bestanden, auch anders sein 29 ? Dabei liefen die Verwandtschaftsbeziehungen quer durch alle Besitzschichten, wie dem Hofverzeichnis von Gadysi recht anschaulich zu entnehmen ist30. In welchem Ausmaß sie die Macht- und Entscheidungsstrukturen im Dorf bestimmten, wie eine Sippschaft, wenn sie erst Fuß gefaßt hatte, ihren Einfluß zu steigern suchte, beschrieb die Tverer Dorfzeitung am Beispiel der Ortschaft Parfenovo im Landkreis Torzok. Hier hatten einige wenige Familien die wichtigsten Posten (von der Kredit·, Handwerker- und Konsumgenossenschaft bis zu Lesestube, Schule und Kinderkrippe) unter sich verteilt und durch Nachziehen von Ver-

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wandten zur jeweiligen Domäne ausgebaut. Der Artikel war ein einziges Klagelied darüber, daß traditionelle und informelle Kontakte auch in der Arbeit der staatlichen und halbstaatlichen Organe dominierten. .Vetterleswirtschaft' (rodstvennaja uvjazka) nannte die Zeitung diese Verhältnisse von Parfenovo, und zwischen den Zeilen konnte man dem Artikel entnehmen, daß die Klasse der,Dorfarmen', die .bednota', von deren verletzten Interessen ständig die Rede war, nirgends auch nur die Spur eines gemeinsamen Willens, geschweige denn einer Organisation zeigte. Daß es nur an .kulakischer' Repression gelegen hätte, wird nicht behauptet 3 1 . Das führt zum wichtigsten Einwand gegen das bolschewistische Klassenschema: Es weckte den Eindruck einer weiträumigen ländlichen Gruppenbildung, zu der überall die Voraussetzungen fehlten. Das Dorf drehte sich vor allem um sich selbst, um die Landgemeinde, um den schod. Lokal war die Gesellschaft, lokal waren ihre Aktionen. Lokalistisch hatte man in der Revolution den Bestand der Landgemeinde gegen die Ansprüche des Nachbardorfes verteidigt, und lokalistisch vertrat man die Position des Dorfes gegenüber der neuen Obrigkeit, dem sozialistischen Staat 32 . Hof - Verwandtschaft—Dorf hieß das bäuerliche Credo, und die bolschewistische Klassenpolitik hatte es weder zu ändern noch zu erweitern vermocht. c) Bäuerlicher Alltag und dörfliches Fest Es gehört zu den Eigentümlichkeiten des Industriezeitalters, Arbeit in Zeit und Zeit in Stunden, Minuten und Sekunden zu messen. Anfang und Ende der täglichen beruflichen Beschäftigung sind festgelegt, auf die Arbeit folgt die Freizeit, die als das .eigentliche' Leben erscheint, und beide, Arbeit und Freizeit, wechseln einander im stets gleichbleibenden täglichen und wöchentlichen Rhythmus ab. Der agrarischen, nichtarbeitsteiligen Gesellschaft waren solche mechanisch-linearen Vorstellungen fremd. Sofern man bei Zeit nicht an ihre Vergänglichkeit, an Ewigkeit und Jenseits dachte, maß man sie an den .natürlichen' Gegebenheiten: inJahren und Jahreszeiten, in Tagen und Nächten, am Stand der Sonne (Mittag) und an allseits bekannten Vorgängen (ζ. B. an der Dauer eines Paternosters) 33 . Gearbeitet wurde nicht nach der Uhr, sondern nach Bedarf und Aufgabe, manchmal von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, manchmal nur wenige Stunden. Auf Zeiten hektischer Betriebsamkeit folgten andere relativer Ruhe, wobei die launische Witterung (Sonne und Regen, Hitze und Kälte) den Arbeitsrhythmus zusätzlich beeinflußte, ihn störte oder auch durchbrach. Eine geregelte

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Freizeit gab es nicht, und es ist nicht ersichtlich, daß die Menschen in diesen Kategorien gedacht hätten 34 . Man braucht nur an die kollektive Bearbeitung, an das mit Singen und Tanzen begleitete Verspinnen des Flachses zu denken, um zu sehen, wie sich die Grenzen von Arbeit und Freizeit verwischten 35 . Vielmehr als am Gegensatz Arbeit und Freizeit orientierte sich das dörfliche Leben an der Folge von Fest- und Feiertagen, die den bäuerlichen Alltag unterbrachen und das Jahr in kleinere, überschaubare Abschnitte unterteilten. Der Zyklus der Festtage lief dem jährlichen Produktionsturnus der Landwirtschaft parallel, verstärkte und ergänzte ihn. Im Tverer Dorf der 20er Jahre war es nicht anders. Die Bauern lebten von Festtag zu Festtag36, und deren gab es viele. Fast ausnahmslos waren es noch immer religiöse, orthodoxe Feiertage. Die wichtigsten glichen denen der Westkirche: neben Weihnachten, Ostern und Pfingsten, Neujahr bzw. Beschneidung des Herrn (am 1 .Januar), Epiphanie mit Vortag (am 5. und 6. Januar), Mariä Lichtmeß (am 2. Februar), Mariä Verkündigung (am 25. März), die Vorfastenwoche (Fasching), Christi Himmelfahrt (40 Tage nach Ostern), Mariä Himmelfahrt (am 15. August), Mariä Geburt (am 8. September), Erhöhung des Kreuzes Christi (am 14. September), Mariä Schutz (am 1. Oktober), die Darstellung Mariens (am21. November) und die Erscheinung Mariens (am 27. November). Hinzu kamen die Festtage der Heiligen: Der Tag des Propheten Elias (Hija) war am 20. Juli und der Tag des hl. Michael (Michail) am 8. November. Johannes (Ivan) der Täufer wurde am 24. Juni (Johannistag) und am 29. August (Fest der Enthauptung johannes') verehrt, der hl. Georg (Egor) am 23. April undam26. November. Auch der hl. Nikolaus (Nikola) hatte ein Sommer- (letnij) und ein Winterfest (zimnij), am 9. Mai und am 6. Dezember. Schließlich begingman jedesjahram 8. Juli das Fest derwundertätigen Ikone der Heiligen Mutter von Kazan', und am 22. Oktober dankte man ihr für die Errettung Moskaus aus der Hand der Polen im Jahre 1612". Neben diesen allgemeinen Feiertagen gab es .lokale', die von Ort zu Ort, von Region zu Region wechselten. Auf bestimmte Traditionen (ζ. B. ein Gelübde) zurückgehend, wurden sie nicht weniger intensiv gefeiert als die allgemeinen Feiertage. Ähnlich wie der Karfreitag wurde schließlich eine Reihe anderer Freitage als Feiertag begangen (insgesamt waren es wohl 12), wobei man einer apokryphen Überlieferung folgte 38 . Nicht alle Feiertage wurden mit gleichem Aufwand begangen, nur vier bis fünf im Jahr wurden ,groß', und das hieß auch mehrtätig, gefeiert. In Tver' zählten mit lokalen Schwankungen neben Weihnachten, Ostern und Pfingsten vor allem die Vorfastentage (Karneval), der Georgs-, der

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Kazaner-, der Elias- und der Michaelstag dazu. Rechnete man die arbeitsfreien Feiertage zusammen, so kam man auf 50. Auch die Sonntage waren in der Regel arbeitsfrei, sie rangierten aber in der Hierarchie der Feste unterhalb der Feiertage. N a h m man sie hinzu, so ergab sich eine Gesamtzahl von über 100 arbeitsfreien Tagen im Jahr 3 9 . Die meisten Feiertage einschließlich der Marienfeiertage fügten sich in den landwirtschaftlichen Jahreszyklus: Sie lagen im Frühjahr (ohne die Aussaat zu stören) oder im Herbst (nach Einbringen der Ernte). Auch wenn sie (wie der Johannistag) in die ruhigen Wochen zwischen Aussaat und Beginn der Heumahd fielen, gefährdeten sie den Fortgang der Feldarbeiten nicht. Andere Feiertage lagen weniger günstig: So kollidierte das Kazaner Fest, wenn sich nur geringfügige Verschiebungen ergaben, mit der Heumahd, der Eliastag mit den Vorbereitungen der Getreideernte, und die Augustfeiertage fielen immer in die hektische Hochsaison. Die staatliche Agitation gegen sie war daher besonders groß, zumal sich das Feiern, wie gesagt, oft nicht auf einen Tag beschränkte und mit Vorbereitungen und Folgen nicht selten eine halbe Woche in Anspruch nahm. Die Empfehlung, doch ökonomische Vernunft vor religiösem Brauchtum walten zu lassen, wiederholte sich vonJahr zuJahr, aber ihre Wirkung war offenbar gering. Selbst wenn die Dörfler unter dem Druck der Obrigkeit vorher beschlossen hatten, die Feste im kommenden Jahr ausfallen zu lassen - war der Tag erst da, so waren alle guten Vorsätze nur zu oft vergessen 4 0 . Der Tagesablauf war an Festtagen völlig anders als an Werktagen. An Feiertagen, so erzählt Fenomenov aus dem Waldai-Dorf Gadysi, spannte der Bauer frühmorgens seinen zweirädrigen Karren an, und die Familie fuhr ins nächstliegende Kirchdorf z u m Gottesdienst. Dabei traf man sich auch mit den Bauern aus der Umgebung zu einem ausfuhrlichen Plausch über Tagesfragen im Kirchhof. An besonderen, an Lokalfeiertagen lud man in Gadysi den Geistlichen ins eigene Dorf ein. M a n feierte mit ihm Vesperandacht und Messe, und danach besuchte er Haus fur Haus. A m Fest der Verklärung Christi (am 6. August) galten die Gebete speziell dem Vieh, das an diesem Tag im Stall blieb und erst nach Gebet und Besprengung mit Weihwasser auf die Weide hinaus gelassen wurde. Auch anderes religiöses Brauchtum konnte an lokalen Feiertagen beobachtet werden. In Gradobit, einem Nachbarort von Gadysi, lösten die Bauern an einem bestimmten Tag ihre Gelübde, ,sich reinzuwaschen', ein. In einer Prozession ging man zum Fluß, dort legten Frauen und Männer jeden Alters ihre Oberkleider ab, gingen ins Wasser, zogen auch ihr H e m d aus und tauchten mehrmals unter. Die H e m d e n nahmen sich die Armen. Es gab Alte und Bedürftige, die - so erzählt Fenomenov -

2. Die lokale Gesellschaft

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mit Vorliebe solche Lokalfeiertage aufsuchten. Selbst wenn wirüberreligiöses Brauchtum in den 20er Jahren wenig wissen, daß es fortbestand, kann kaum bezweifelt werden, und so kann auch das Beispiel Gadysis für die Situation im Tverer Gouvernement stehen 41 . Die orthodoxe Kirche verlangte, vor Empfang der Kommunion keine Nahrung zu sich zu nehmen, und zumindest in Gadysi hielt man sich an dieses Nüchternheitsgebot. Vor der Rückkehr der Kirchgänger wurde im Hause weder gegessen noch getrunken; selbst Häuser, von denen niemand zur Kirche fuhr, beachteten diesen Brauch 42 . Danach aber begann derweltliche Teil dieses Festes; er hatte seine eigenen Formen und seine eigenen Gesetze. Bei den ,groß' gefeierten Festen hatten die Vorbereitungen schon Tage vorher begonnen. Besorgungen waren gemacht und das Haus gründlich gesäubert worden. Und man hatte Bier gebraut und Schnaps gebrannt. Das Bierbrauen am Tag und in der Nacht vor dem Fest war eine eigene, feierliche, den Männern vorbehaltene Prozedur. Sie schichteten außerhalb des Hauses eine Feuerstelle auf, schleppten (was sie sonst nie taten) selbst das Wasser herbei und begannen in einem großen Bottich und vor den Augen einer kritischen Öffentlichkeit aus Malz, Roggen- und Gerstenmehl, Wasser und Hopfen einen süßlich-bitteren Sud herzustellen. Die Umstehenden wurden zum Probieren aufgefordert, und die Nachbarn begutachteten sich fachmännisch gegenseitig ihren Ansatz 43 . Praktisch braute jeder Bauer, der arme wie der reiche, der Dorfratsvorsitzende wie das Parteimitglied; Alkohol gehörte dazu, und das gemeinschaftliche Brauen war längst fester Bestandteil des Festes. Neben dem Bier wurde vielerorts auch Korn- und Kartoffelschnaps hergestellt, und der Selbstgebrannte, der samogon, erfreute sich wachsender Beliebtheit. Mit Hilfe einer einfachen Destillationsapparatur gewann man aus einem Pud Mehl (16,4 kg) 4,5 Liter 25-30-prozentigen, der durch nochmaliges Destillieren auf 70 % gebracht werden konnte. Ein Haus, das etwas auf sich hielt, braute - wie wir aus dem Südosten des Tverer Gouvernements wissen - im Durchschnitt 6 Eimer (à 121) Bier und einen Eimer samogon 44 . Daß der Staat diese Sache verbot, bewirkte lediglich, daß man mancherorts den Tatort außerhalb des Dorfes verlegte. Aber an der Tatsache des allgemeinen Brauens und Brennens änderte dies wenig. Die Miliz trank mit, drückte die Augen zu oder war machtlos, und auch höheren Orts mußte man einsehen, daß mit Verboten und Strafen der Schwarzbrennerei nicht beizukommen war 45 . Zum Feste selbst wurden die Freunde und Verwandten aus dem Dorf eingeladen. Sie kamen nach dem Kirchgang. Die Gäste bekreuzigten sich vor dem Herrgottswinkel, tranken dem Hausherrn zu und wurden

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III. Zwischen Revolution und Kollektivierung

Abb. 19 Abb. 19 und 20: Feiertagsvorbereitung im Dorf. Hinter jeder Hütte wird gebrannt u n d gebraut. Der Rauch der Destillationsapparaturen verbindet sich zum Wort ,samogon' (.Selbstgebrannter'). Auch die Miliz drückte bei diesem illegalen Vorgang meist ein Auge zu. Und wenn man schon einschritt, so kündigte man es wenigstens an. So sagt der volost'-Milizionär Kozlov (Abb. (Abb. 20) zu dem vor seiner Apparatur sitzenden Alten warnend: „Mitrij Nikonoric, meiner Seel', ich sage dir's, sei auf der Hut, morgen mach' ich bei dir eine Razzia wegen des samogon." Quelle: Tverskaja derevnja 1926 No 49,20. Juni; 1927 N o 7,23. Januar.

mit einem kleinen Imbiß bewirtet. Beim anschließenden gemeinsamen Mittagessen aßen alle aus einer Schüssel; acht bis neun und mehr Gänge wurden aufgetragen. Gerade wenn man Gäste hatte, suchte man zu zeigen, was man hatte. Man unterhielt sich, alle tranken Alkohol, auch die Kinder, und das ausfuhrliche, mehrstündige Mittagessen war kaum vorüber, da setzte man sich am Nachmittag erneut zu Tisch und am Abend ein drittes Mal. Auf der Dorfstraße traf sich die Jugend, man promenierte und vergnügte sich. Der Tag klang aus mit Singen und Tanzen und einem allgemeinen Besäufnis. Am nächsten Tag hatten die Männer Kopfschmerzen, versuchten, so wird berichtet, ihren Suff auzuwärmen, und das Fest setzte sich fort 46 . An den besonderen, den lokalen Feiertagen wurde neben der Dorfverwandtschaft auch die Verwandtschaft aus den Nachbarorten eingeladen. Sie kam und wurde ebenso selbstverständlich bewirtet, wie man umgekehrt an deren Lokalfeiertagen in die Nachbardörfer fuhr. So wurden an den allgemeinen Feiertagen die innerdörflichen, an den lokalen die zwischendörflichen Beziehungen gepflegt, und beide beruhten auf Verwandtschaft 47 . Gemeinsames Essen und Trinken verstärkte die innerdörflichen, zwischenfamiliären Bande; der reichlich genossene Alkohol setzte aber

2. Die lokale Gesellschaft

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Abb. 20 auch Emotionen frei und hob die bestehenden Schranken und Normen auf. Im feiertäglichen Vollrausch wurden Meinungsverschiedenheiten handfest ausgetragen und alte Rechnungen beglichen. ,Was der Nüchterne im Kopf hat, hat der Betrunkene in der Faust', lautete die entsprechende bäuerliche Spruchweisheit. Der Polizeibericht war nach jedem Feiertag lang. An den vier Osterfeiertagen 1926 registrierte die Tverer Miliz (laut Mitteilung der Tverer Bauernzeitung): 286 Fälle von Rowdytum, 207 einfache Schlägereien (ohne Waffen), 31 schwere und 169 leichte Körperverletzungen, 46 Fälle von Beleidigung, 111 Fälle von Diebstahl, Schwarzbrennerei und Vergewaltigung und 46 Totschlagsdelikte im Zusammenhang mit Alkohol; 419 Protokolle über Fälle groben Unfugs wurden aufgenommen und 355 betrunkene Rowdies und andere Kriminelle inhaftiert 48 . An einem Feiertag des gleichen Jahres vergewaltigten im Dorf Marfino des Landkreises Kimry zwei Burschen ein Mädchen. Die Tat geschah auf der Dorfstraße vor den Augen vieler jugendlicher und erwachsener Zuschauer; niemand dachte daran, dem Mädchen zu Hilfe zu kommen. Beim Prozeß im Dezember 1926 weigerten sich diese ehrenwerten Bürger Marfinos, vor Gericht zu erscheinen, oder sie deckten mit ihren Aus-

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III. Zwischen Revolution und Kollektivierung

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Abb. 21 : Ostern war fur die Orthodoxe Kirche das Fest des Friedens und der Freude. Wie wenig sich die Gläubigen an das, was sie („endlos") in der Kirche sangen, selbst hielten, wie sinnlos Ostern geworden war, versuchte die Dorfzeitung in einem satirischpolemischen Artikel zu zeigen: Sie konfrontierte die Osterhymnen (die stichiry, wie sie in der Osternachtsfeier gesungen wurden und die jeder Gläubige auswendig konnte) mit der Polizeistatistik des vergangenen Ostern:

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Im Chor singt man — Komme, wir trinken einen neuen Trank - an Ostern wurde Kornschnaps für 241.846 Rubel getrunken, samogon und Bier nicht gerechnet.

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— Ostern, das makellose - es wurden 111 Fälle von Diebstahl, Schwarzbrennerei und Vergewaltigung registriert.

2. Die lokale Gesellschaft riACXA, ABEPH f/.HCMHE HAM 0TBEP3AK)lUAfl—... p a i c « M Ä«ep« OTMÇIJIICW u npoaiJiflroA*·· naexy 4 6 l e m e v a « yCuTbiN β a m n o n y r a p e .

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— Ostern, das die Tore des Paradieses auf tut - die himmlischen Tore öffneten sich an vergangenen Ostern fur 46 Personen, die im Alkoholrausch erschlagen wurden.

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