128 81 42MB
German Pages 458 [459] Year 2005
FALK BERNAU
Die Aufsichtshaftung der Eltern nach § 832 BGB - im Wandel!
Schriften zum Bürgerlichen Recht Band 315
Die Aufsichtshaftung der Eltern nach § 832 BGB - im Wandel! Die Elternhaftung im Lichte des Wandels in der Verfassung, im bürgerlichen Recht und der Gesellschaft
Von Falk Bernau
Duncker & Humblot • Berlin
Die Juristische Fakultät der Universität Potsdam hat diese Arbeit im Jahre 2003 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten © 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7387 ISBN 3-428-11714-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 © Internet: http://www.duncker-humblot.de
Meinen Eltern Karl und Christa Bernau
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2003 von der Juristischen Fakultät der Universität Potsdam als Dissertation angenommen. Das Manuskript wurde mit dem Stand vom 31. August 2003 geschlossen. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Detlev W. Belling, M.C.L., der mich auf die der Arbeit zugrunde liegende Problematik aufmerksam gemacht und damit die vorliegende Arbeit angeregt hat. Für Gespräche zum Thema der Arbeit stand er mir stets hilfreich zur Seite. Mit seinem Rat und seinem Einsatz ist die Entstehung und der Fortgang der Arbeit sehr gefordert worden. Auf diesem Weg möchte ich ihm auch für die wertvollen Anregungen und Ideen danken, die ich während meiner Potsdamer Studienzeit aus seinen Lehrveranstaltungen gewinnen konnte. Diese haben mir bei der juristischen Arbeit bis zum heutigen Tage immer wieder geholfen. Herrn Prof. Dr. Jens Petersen schulde ich Dank für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Meiner Schwester Katrin Bernau danke ich für die Korrektur des Manuskripts. Bedanken möchte ich mich auch bei der Konrad-Adenauer Stiftung für die mir gewährte ideelle und finanzielle Förderung in Form eines Promotionsstipendiums. An dieser Stelle gilt mein Dank wiederum Herrn Prof. Dr. Detlev W. Belling, M.C.L., und Herrn Prof. Dr. Uwe Hellmann, die meine Bewerbung um diese Promotionsförderung aktiv unterstützt haben. Abschließend gilt mein Dank meinen Eltern Karl und Christa Bernau. Sie waren für mich und meine Schwestern immer da und haben uns stets in allen Belangen unterstützt und gefördert. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet.
Lindau/Anhalt, im Oktober 2004
Falk Bernau
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
31
I.Teil
Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB § 1 Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 832 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 BGB
36
I. Der Aufsichtsbedürftige
36
II. Der Aufsichtspflichtige
37
1. Elterliche Aufsichtspflicht kraft Gesetzes
37
2. Derivative Aufsichtspflicht kraft Vertrages
43
a) Entstehungsgeschichte
44
b) Vertragserfordernisse
45
aa) Wirksamkeit des Vertrages
45
bb) Anforderungen an den Vertragsschluss
47
(1) Die Entwicklung bis zum Urteil des BGH v. 02.07.1968
48
(2) Das Urteil des BGH v. 02.07.1968
50
(3) Die weitere Entwicklung bis 2003
52
(4) Stiefeltern und vertragliche Aufsichtsübernahme
58
cc) Rechtsfolge der vertraglichen Aufsichtsübernahme III. Widerrechtliche Schadenszufügung 1. Die unerlaubte Handlung
60 61 62
10
nsverzeichnis
a) Der Dritte i.S.d. § 832 Abs. 1 S. 1 BGB
62
b) Die Rechtsgutverletzung
64
c) Zurechenbare Schadensverursachung
64
aa) Das Adäquanzerfordernis
65
bb) Das Urteil des BGH v. 10.10.1967
67
d) Subjektive Tatbestandselemente
72
2. Rechtswidrigkeit
72
3. Verschulden
72
§ 2 Die Analyse der Aufsichtsformel I. Die Entwicklung der Aufsichtsformel 1. Das RG
74 74 75
2. Die Entwicklung in der Bundesrepublik
75
3. Eigene Stellungnahme
81
a) Die Unterschiede zwischen alter und neuer Formel
81
b) Die Erklärung der Gleichbehandlung
83
II. Ergänzende abstrakte Ausfuhrungen zur verwandten Formel
86
1. Die heranzuziehenden Kriterien für die Bestimmung der Aufsichtspflicht .. 86 2. Weitere abstrakte Ausführungen zur verwandten Formel
87
§ 3 Die Entwicklung der Aufsichtsanforderungen in der Rechtsprechung seit 1900
93
I. Der Umgang des Aufsichtsbedürftigen mit Mobilien
94
1. Schusswaffen
94
a) Jagdgewehre und Kleinkaliberwaffen
94
b) Luftgewehre/Windbüchsen
96
nsverzeichnis
2. Pfeil und Bogen
99
3. Wurfpfeile
103
4. Spielzeugpistolen
104
a) Die Urteile des OLG Düsseldorf v. 18.07.1997 und 26.02.1999
106
b) Eigene Stellungnahme zu den Urteilen des OLG Düsseldorf v. 18.07.1997 und 26.02.1999
108
5. Stöcke
110
6. Schleudern
112
7. Das Werfen von Steinen
113
8. Feuerwerkskörper
115
9. Tiere
116
II. Brandschäden 1. Brandverursachung durch normal entwickelte Kinder a) Kinder bis zum Ende des Grundschulalters
117 117 118
aa) Belehrung
118
bb) Verwahrung von Zündmitteln im Haushalt
121
cc) Besitzkontrolle
126
dd) Allgemeine Aufsichtsmaßnahmen
127
b) Dem Grundschulalter entwachsene Kinder
128
2. Besondere negative Veranlagung des Kindes
129
3. Grillunfälle
132
III. Kinder als Verkehrsteilnehmer
134
1. Kinder als Fußgänger
134
a) Ohne Begleitperson
134
b) Mit Begleitperson
138
12
Inhaltsverzeichnis aa) Auf der Straße
138
bb) Auf dem Bürgersteig
140
2. Die Benutzung kindertypischer Fortbewegungsmittel
143
3. Kinder als Fahrradfahrer
146
a) Ohne Begleitperson
146
aa) Kriterien für die selbstständige Fahrradbenutzung
146
(1) Die Rechtsprechung
146
(2) Das Schrifttum
152
(3) Eigene Stellungnahme
153
bb) Weitere Einzelfälle b) Mit Begleitperson 4. Minderjährige Kraftfahrzeugführer
154 157 160
a) Im Besitz einer entsprechenden Fahrerlaubnis
160
b) Ohne Besitz einer entsprechenden Fahrerlaubnis
161
IV. Alleinlassen von Kindern
162
1. Im öffentlichen Verkehrsraum
162
2. In Haus und Garten
165
3. Im Auto
168
V. Übertragung der Aufsicht 1. Auf einen nicht originär Verpflichteten
169 169
a) Die Rechtsprechung
169
b) Das Schrifttum
171
2. Die Aufsichtsübertragung in der Ehe a) Die Rechtsprechung
175 175
nsverzeichnis
b) Das Schrifttum
177
c) Einzelfalle
178
VI. Sonstige Aufsichtssituationen
179
1. Die Begehung vorsätzlicher Straftaten
179
2. Baustellen, Bauernhof
183
3. Küchen, Geschäfte
184
4. Wintersport
185
§ 4 Die Exkulpation der Kausalitätsvermutungen I. § 832 Abs. 1 S. 2 F 2 BGB 1. Entstehungsgeschichte
186 186 186
2. Die Reichweite der Vermutungswirkung in § 832 Abs. 1 S. 2 F 2 BGB .... 187 3. Die Exkulpation nach § 832 Abs. 1 S. 2 F 2 BGB
190
a) Allgemeines
190
b) Neuere Urteile
192
II. Kausalitätswiderlegung aufgrund des Schutzzweckes der Norm
195
1. Allgemeines
195
2. Urteile
196
§ 5 Die Einschätzung der Rechtsprechung zu § 832 BGB I. Die Bewertung der Anforderungen an die Aufsichtsfuhrung
198 198
1. Die Rechtsprechung
198
2. Das Schrifttum
198
II. Die einzelnen Aufsichtsmaßnahmen
206
III. Eigene Stellungnahme
207
14
nsverzeichnis 2. Teil
Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB § 1 Die verfassungsrechtliche Entwicklung von Ehe und Familie
210
I. Die Entwicklung von 1900 bis zum GG
211
IL Die Entstehungsgeschichte von Art. 6 Abs. 1, 2 GG
214
III. Die Veränderungen des verfassungsrechtlichen Schutzes von Ehe und Familie im GG gegenüber der WRV IV. Art. 6 Abs. 1 GG 1. Der Schutzbereich von Ehe und Familie
216 218 218
a) Der Ehebegriff
220
b) Der Familienbegriff
221
aa) Der Familienbegriff des BVerfG
221
bb) Der Familienbegriff im Schrifttum
224
cc) Der Familienbegriff und § 832 BGB
228
2. Der besondere Schutz der staatlichen Ordnung
230
3. Die drei Dimensionen des Schutzes von Ehe und Familie in Art. 6 Abs. 1 GG
232
a) Art. 6 Abs. 1 GG als Abwehrrecht
233
b) Art. 6 Abs. 1 GG als Institutsgarantie
234
c) Art. 6 Abs. 1 GG als objektive Wertentscheidung
235
aa) Die Rechtsprechung des BVerfG
235
bb) Das Schrifttum
239
d) Art. 6 Abs. 1 GG und § 832 BGB
242
aa) Das Schrifttum
242
bb) Eigene Stellungnahme
245
nsverzeichnis
V. Art. 6 Abs. 2 GG § 2 Die Entwicklung von Ehe und Familie im bürgerlichen Recht
249 254
I. Die Entwicklung der Ehe im BGB
255
1. Das gesetzliche Eheleitbild
255
2. Das Urteil des BGH v. 13.06.2001
257
3. Der Beschluss des BVerfG v. 05.02.2002
259
4. Lehren für § 832 BGB
260
II. Die Entwicklung des elterlichen Sorgerechts im BGB
261
1. Die Rechtslage bis zum 31.03.1953
261
2. Die Rechtslage vom 01.04.1953 bis zum 30.06.1957
263
3. Die Rechtslage vom 01.07.1957 bis zum 31.12.1979
264
4. Die Rechtslage vom 01.01.1980 bis zum 30.06.1998
267
5. Die Rechtslage ab dem 01.07.1998
271
6. Das Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung v. 02.11.2000
273
7. Zusammenfassung der Sorgerechtsentwicklung
274
8. Die Auswirkungen der Sorgerechtsentwicklung auf § 832 BGB
275
III. Das Verhältnis zwischen § 832 Abs. 1 BGB und §§ 1626 Abs. 1, 2, 1631 Abs. 1, 2 BGB 1. Die Einwirkung des § 1626 Abs. 2 S. 1 BGB auf § 832 Abs. 1 S. 2 BGB über § 1631 Abs. 1 F 3 BGB
277 278
2. Die Einwirkung des § 1626 Abs. 2 S. 1 BGB auf § 832 Abs. 1 S. 2 BGB über § 1631 Abs. 1 F 2 BGB 3. Das Verhältnis zwischen § 1631 Abs. 2 BGB und § 832 Abs. 1 BGB
281 283
4. Das Verhältnis zwischen Erziehungsauftrag und Aufsichtspflicht
285
5. Zusammenfassung
286
16
Inhaltsverzeichnis
§ 3 Die Entwicklung der Minderjährigenhaftung im bürgerlichen Recht
287
I.
Der Beschluss des BVerfG v. 13.05.1986
287
II.
§ 1629a BGB
289
III. § 828 Abs. 2 BGB a.F 1. In der Rechtsprechung
291
a) Der Vorlagebeschluss des OLG Celle v. 26.05.1989
291
b) Das Urteil des LG Bremen v. 15.02.1991
292
c) Der Vorlagebeschluss des LG Dessau v. 25.09.1996
293
2. Der Beschluss des BVerfG v. 13.08.1998
294
3. Im Schrifttum
296
IV. Das SchadÄndG v. 19.07.2002 V.
290
298
Der Einfluss des § 828 Abs. 2 BGB auf die Aufsichtspflicht in § 832 Abs. 1 BGB
302
1. Der Meinungsstand
302
2. Eigene Stellungnahme
305
VI. Die Auswirkungen der Reformgedanken zur Minderjährigenhaftung auf § 832 BGB VII. Zusammenfassung § 4 Die gesellschaftliche Entwicklung von Ehe und Familie
307 311 312
I.
Die gesellschaftlichen Verhältnisse bei In-Kraft-Treten des § 832 BGB
312
II.
Die gesellschaftlichen Verhältnisse im Jahr 2003
315
III. Die Ursachen für die heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse 1. Das soziale Sicherungssystem
318 318
a) Die Kollektivierung der Altersversorgung
318
b) Die Konsequenzen fiir die Eltern
319
nsverzeichnis
c) Die Korrekturen durch das BVerfG 2. Weitere Ursachen für den Geburtenrückgang
323 325
a) Die zunehmende Bildungsbeteiligung und Erwerbstätigkeit der Frau ... 326 b) Der Wertewandel der Gesellschaft
329
IV. Gesellschaftlicher Wandel und § 832 BGB
333
1. Der Grundgedanke des § 832 BGB
334
a) In der Rechtsprechung
334
b) In den Gesetzesmaterialien
337
c) Im Schrifttum
339
2. Eigene Stellungnahme
343 3. Teil
Die Reformgedanken zu § 832 BGB § 1 Die bisher vertretenen Reformvorschläge
351
I.
Der Gesichtspunkt des Privathaftpflichtversicherungsschutzes
351
II.
Die einzelnen Reform Vorschläge
355
1. Keine Änderung der Haftungslage
355
a) Beibehaltung des § 832 BGB
355
b) Beibehaltung des § 832 BGB mit Plädoyer für eine freiwillige Haftpflichtversicherung
356
2. Die Verschärfung der Elternhaftung
356
a) Exkulpation nur bei Unvermeidbarkeit des Schadens
356
b) Objektive Gefahrdungshaftung mit Plädoyer für eine freiwillige Haftpflichtversicherung
357
c) Objektive Gefährdungshaftung i.V.m. einer PflichtHaftpflichtversicherung
359
nsverzeichnis
3. Die Milderung der Elternhaftung
361
a) Abschaffung des § 832 BGB
361
b) Abschaffung der Beweislastumkehr i.V.m. der Haftungsbeschränkung auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit 361 c) Ergänzung des § 832 BGB um das Erfordernis einer schuldhaften unerlaubten Handlung des Aufsichtsbedürftigen
362
d) Elternfreundlichere Auslegung des unveränderten § 832 BGB mit Plädoyer für eine Pflicht-Haftpflichtversicherung e) Elternfreundlichere Auslegung des unveränderten § 832 BGB III. Das Für und Wider der Reformvorschläge 1. Die Einführung einer Gefährdungshaftung der Eltern
363 364 365 365
a) Die Argumente für eine Gefahrdungshaftung der Eltern
365
b) Die Argumente gegen eine Gefährdungshaftung der Eltern
366
2. Die Einführung einer Pflicht-Haftpflichtversicherung für Kinder
368
a) Der Leistungsumfang der Haftpflichtversicherung b) Die Argumente für die Einführung einer Pflicht-Haftpflichtversicherung für Kinder
368
c) Die Argumente gegen die Einführung einer Pflicht-Haftpflichtversicherung für Kinder 3. Die Beweislastumkehr in § 832 Abs. 1 BGB a) Die Darlegungs- und Beweislast in § 832 Abs. 1 BGB
368
370 373 373
b) Die Darlegungs- und Beweislast für die Aufsichtspflichtverletzung in § 832 Abs. 1 BGB aa) Der Aufsichtsanlass
374 374
(1) Die Rechtsprechung
374
(2) Das Schrifttum
377
bb) Die Vorhersehbarkeit des Aufsichtsanlasses
379
nsverzeichnis
(1) Die Rechtsprechung
379
(2) Das Schrifttum
380
c) Die Handhabung der Beweislastumkehr in § 832 Abs. 1 BGB durch die Rechtsprechung
381
aa) Die Aufklärungs- und Hinweispflicht gemäß § 139 ZPO
382
bb) Die Berücksichtigung der Beweisschwierigkeiten der Eltern
383
d) Die Argumente gegen die Beibehaltung der Beweislastumkehr in § 832 Abs. 1 BGB e) Die Argumente für die Beibehaltung der Beweislastumkehr in § 832 Abs. 1 BGB 4. Die Einführung einer Haftungserleichterung für Eltern a) Die Argumente gegen die Einführung einer Haftungserleichterung für Eltern b) Die Argumente für die Einführung einer Haftungserleichterung für Eltern IV. Ergebnis § 2 Der eigene Reformvorschlag
386 388 389
389 391 392 394
I. Der Reformvorschlag
394
1. De lege ferenda
394
2. De lege lata
395
3. Erläuterung
396
a) Keine Haftung für leichte Fahrlässigkeit
396
aa) Der Umfang der Haftungsprivilegierung
396
bb) Die leichte Fahrlässigkeit
398
cc) Der begünstigte Personenkreis
402
b) Die Aufgabe der unbedingten, einseitigen Risikozuweisung
404
nsverzeichnis
c) Die konsequente Beachtung des § 1626 Abs. 2 BGB bei der Bestimmung des gebotenen Aufsichtsmaßes II. Die dogmatischen Grundlagen des Reformvorschlages 1. Die Grundsätze der Grundrechtswirkung im Zivilrecht
404 405 405
a) Die Rechtsprechung
406
aa) Das BVerfG
406
bb) Der BGH
408
cc) Das BAG b) Die Auswirkungen der Grundrechtswirkung für die Rechtsanwendung im Zivilrecht
408 413
aa) Die allgemeinen Auswirkungen
413
bb) Die Auswirkungen im Deliktsrecht
414
c) Die Grundrechtswirkung und § 832 BGB
415
2. Die grundrechtliche Schutzpflichtlehre
418
a) Die Grundlagen
418
b) Die grundrechtliche Schutzpflicht und § 832 BGB
419
3. Die Grundsätze des Deliktsrechts
420
a) Die Grundlagen
420
b) Die Grundsätze des Deliktsrechts und § 832 BGB
426
aa) Das Spannungsverhältnis in § 832 BGB
426
bb) § 832 BGB und das Argument der Versicherungsmöglichkeit
427
4. Die Grundsätze der richterlichen Rechtsfortbildung
431
a) Das BVerfG
431
b) Das Schrifttum
433
c) Die Grundsätze der richterlichen Rechtsfortbildung und § 832 BGB
435
nsverzeichnis 4. Teil
Die Thesen der Arbeit
438
Literaturverzeichnis
441
Sachwortverzeichnis
454
Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Anteil der ehelich geborenen Kinder an den Lebendgeborenen im früheren Bundesgebiet vor der Wiedervereinigung
219
Tabelle 2: Anteil der ehelich geborenen Kinder an den Lebendgeborenen in Deutschland nach der Wiedervereinigung
220
Tabelle 3: Anteil der in relativer Einkommensarmut lebenden Bevölkerung nach Haushaltstypen, 2000
321
Tabelle 4: Haushaltseinkommen und Konsumausgaben privater Haushalte für Kinder nach Haushaltstypen, 1998
322
Tabelle 5: Erwerbsbeteiligung der 15- bis 64-jährigen Mütter nach Alter des jüngsten Kindes im Haushalt, 1991, 2000
327
Tabelle 6: Verfugbare Kinderbetreuungseinrichtungen nach Bundesländern zum 31.12.1998 Tabelle 7: Familienstand der Mütter und Väter von Kindern unter 18 Jahren Tabelle 8: Verbreitung der Privathaftpflichtversicherung in deutschen Haushalten im Bundesgebiet vor der Wiedervereinigung Tabelle 9: Verbreitung der Privathaftpflichtversicherung in deutschen Haushalten im Bundesgebiet nach der Wiedervereinigung
328 333
352 353
Abkürzungsverzeichnis A.
Auflage
a. A.
anderer Ansicht
a. a. O.
am angegebenen Ort
Abs.
Absatz
AcP
Archiv für die civilistische Praxis (Bd., Jahr, Seite)
ADAC
Allgemeiner Deutscher Automobil-Club
a. E.
am Ende
a. F.
alte Fassung
AG
Amtsgericht
ALR
Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von
AMG
Arzneimittelgesetz
Anh.
Anhang
1794
Anm.
Anmerkung
AöR
Archiv für öffentliches Recht (Bd., Jahr, Seite)
ArbG
Arbeitsgericht
ArchBürgR
Archiv für bürgerliches Recht (Bd., Seite)
ARS
Art.
Arbeitsrechtssammlung mit Entscheidungen des Reichsarbeitsgerichts, der Landesarbeitsgerichte und Arbeitsgerichte Artikel
Artt.
Artikel, Plural
AT
Allgemeiner Teil
AtomG
Atomgesetz
Az
Aktenzeichen
BAG
Bundesarbeitsgericht
BAGE
Entscheidungen des BAG (Bd., Seite)
Baumbach
Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO
Bay
Bayern
BayObLG
Bayerisches Oberstes Landesgericht
BB
Der Betriebs-Berater (Z, Jahr, Seite)
Bbg
Brandenburg
24
Abkürzungsverzeichnis
BBR
Besondere Bedingungen und Risikobeschreibungen zur Privathaftpflichtversicherung
Bd.
Band
BDM
Bund Deutscher Mädel (Organisation der HJ)
Berliner Kommentar
Berliner Kommentar zum Versicherungsvertragsgesetz
BerlinKomm
Berliner Kommentar zum GG
BFH
Bundesfinanzhof
BGB
Bürgerliches Gesetzbuch
BGBl I
Bundesgesetzblatt Teil I
BGH
Bundesgerichtshof
BGHZ
Entscheidungen des BGH in Zivilsachen (Bd., Seite)
B1GBW
Blätter für Grundstücks-, Bau- und Wohnungsrecht (Z, Jahr, Seite)
Bin BMFSFJ
Berlin Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
BR-Drucks.
Bundesratsdrucksache
Brem
Bremen
BStBl
Bundessteuerblatt
BT
Besonderer Teil
BT-Drucks.
Bundestagsdrucksache
BVerfG
Bundesverfassungsgericht
BVerfGE
Entscheidungen des BVerfG (Bd., Seite)
BVerfGG
Bundesverfassungsgerichtsgesetz
B-W
Baden-Württemberg
bzw.
beziehungsweise
ca.
circa
Cc
Code civil
CDU
Christlich-Demokratische Union
d.
der
DAR
Deutsches Autorecht (Z, Jahr, Seite)
Das Recht DAV
Rundschau für den deutschen Juristenstand (Z, Jahr, Nr.) Der Amtsvormund, Rundbrief des Deutschen Instituts für Vormundschaftswesen (Bd., Seite)
ders.
derselbe
d. h.
das heißt
Die Justiz
Amtsblatt des Justizministeriums Baden-Württemberg (Z, Jahr, Seite)
Abkürzungsverzeichnis
dies.
dieselbe
Diss.
Dissertation
DJT
Deutscher Juristentag
DM
Deutsche Mark
DÖV
Die Öffentliche Verwaltung (Z, Jahr, Seite)
Dr.
Doktor
DRiZ
Deutsche Richterzeitung (Z, Jahr, Seite)
DVB1
Deutsches Verwaltungsblatt (Z, Jahr, Seite)
DWW
Deutsche Wohnungswirtschaft (Z, Jahr, Seite)
EI
Erster Entwurf eines BGB für das Deutsche Reich, erste Lesung Zweiter Entwurf eines BGB für das Deutsche Reich, zweite Lesung
E II E III
Dritter Entwurf eines BGB für das Deutsche Reich, dritte Lesung
1. EheRG
Erstes Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts v. 14.06.1976
Einl
Einleitung
Entw.
Entwurf
ErfK
Erfurter Kommentar
EUR
Euro
F
Fall
f FamÄndG
folgend Gesetz zur Vereinheitlichung und Änderung familienrechtlicher Vorschriften v. 11.08.1961
FamR
Familienrecht
FamRZ
Zeitschrift für das gesamte amilienrecht (Z, Jahr, Seite)
FAZ
Frankfurter Allgemeine Zeitung
FDP
Freie Demokratische Partei
ff
fortfolgend
Fn.
Fußnote
Frankfurt/M.
Frankfurt/Main
Freiburg/Br.
Freiburg/Breisgau
Frhr.
Freiherr
FS
Festschrift
FuR
Familie und Recht (Z, Jahr, Seite)
GdS
Gedächtnisschrift
GDV
Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft
26
GG
Abkürzungsverzeichnis
Grundgesetz
ggf.
gegebenenfalls
GleichberG
Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts v. 18.06.1957 Gruchot Beiträge zur Erläuterung des Deutschen Rechts (Z, Bd., Nr., Seite)
Gruchot GS
Großer Senat
GVB1
Gesetz- und Verordnungsblatt
H
Heft
HaftpflG
Haftpflichtgesetz
Halbbd.
Halbband
Hbg
Hamburg
Hess
Hessen
HEZG
Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeiten-Gesetz v. 11.07.1985
HJ
Hitlerjugend, nationalsozialistische Jugendorganisation
Hk
Handkommentar zum BGB
h. M.
herrschende Meinung
HPflG
Haftpflichtgesetz
HRR
Höchstrichterliche Rechtsprechung (Z, Jahr, Nr.)
Hrsg.
Herausgeber
hrsg.
herausgegeben
HS
Halbsatz
HStR HVerfR
Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland
i. d. F.
in der Fassung
i. d. R.
in der Regel
InsO
Insolvenzordnung
i. S.
im Sinn
i. S. d.
im Sinne des
i. S. v.
im Sinne von
i. V. m.
in Verbindung mit
JA
Juristische Arbeitsblätter (Z, Jahr, Seite)
JGG
Jugendgerichtsgesetz
JMB1
Justizministerialblatt
JR
Juristische Rundschau (Z, Jahr, Seite)
Abkürzungsverzeichnis
Jugendwohl
Jugendwohl (Z, Jahr, Seite)
jun.
junior
Jura
Juristische Ausbildung (Z, Jahr, Seite)
JurPC
Internet-Zeitschrift für Rechtsinformatik
JuS
Juristische Schulung (Z, Jahr, Seite)
JW
Juristische Wochenschrift (Z, Jahr, Nr., Seite)
JZ
Juristen Zeitung (Z, Jahr, Seite)
(Z, Web-Dok., Abs.)
Kap.
Kapitel
Kfz
Kraftfahrzeug
KG
Kammergericht
KGR
KG-Report (Z, Jahr, Seite)
KindRG
Kindschaftsreformgesetz v. 16.12.1997
KLG
Kindererziehungsleistungs-Gesetz v. 12.07.1987
km/h
Kilometer pro Stunde
KritJ
Kritische Justiz (Z, Jahr, Seite)
L
Leitsatz
Lfg.
Lieferung
LG
Landgericht
LM
Lindenmaier und Möhring, Nachschlagewerk des BGH in Zivilsachen Lebenspartnerschaftsgesetz Gesetz zur Beendigung der Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften v. 10.11.2000
LPartG LPartGDisBG LSA
Land Sachsen-Anhalt
LuftVG
Luftverkehrsgesetz
LVerf
Landesverfassung
LVVB
Bayerische Landesverordnung über die Verhütung von Bränden v. 19.04.1966 Leipziger Zeitschrift für Deutsches Recht (Z, Jahr, Nr., Seite)
LZ m
Meter
MB1
Ministerialblatt (Nr., Jahr)
MDR
Monatschrift für Deutsches Recht (Z, Jahr, Seite)
MHbeG
Gesetz zur Beschränkung der Haftung Minderjähriger v. 25.08.1998
min
Minute
Mio.
Million
MK
Kultusministerium
28
Abkürzungsverzeichnis
Motive
Motive zu dem Entwürfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich
MünchHdb
Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht
MünchKomm
Münchener Kommentar zum BGB
M-V
Mecklenburg-Vorpommern
m. w. N.
mit weiteren Nachweisen
NA-Beschl
Nichtannahme-Beschluss
NBW
Nieuwe Burgerlijk Wetboek
Nds
Niedersachsen
NdsRpfl
Niedersächsische Rechtspflege (Z, Jahr, Seite)
NDV
Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge (Z, Jahr, Seite) Gesetz über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder v. 19.08.1969
NEhelG n. F.
neue Fassung
NJW
Neue Juristische Wochenschrift (Z, Jahr, Seite)
NJW-Beil
NJW-Beilage
NJW-Doku
NJW-Dokumentation
NJW-RR
NJW-Rechtsprechungs-Report Zivilrecht (Z, Jahr, Seite)
NL
Neue Länder
Nr.
Nummer
NSDAP
Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei
NVwZ
Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (Z, Jahr, Seite)
N-W
Nordrhein-Westfalen
NZA
Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht (Z, Jahr, Seite)
NZV
Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht (Z, Jahr, Seite)
o. g.
oben genannt
OGH
Oberster Gerichtshof für die Britische Zone
OGHZ
Entscheidungen des OGH für die Britische Zone in Zivilsachen (Bd., Seite)
OLG
Oberlandesgericht
OLG-NL
OLG-Rechtsprechung Neue Länder (Z, Jahr, Seite)
OLGR
OLG-Report (Z, Jahr, Seite)
OLGR-NL
OLG-Report Neue Länder (Z, Jahr, Seite)
OLGZ
Entscheidungen der OLG'e in Zivilsachen (Bd., Seite)
Pkw
Personenkraftwagen
PM
Die Politische Meinung, Monatsschrift zu Fragen der Zeit (Nr., Erscheinungsmonat, Seite)
Abkürzungsverzeichnis
ProdHaftG
Produkthaftungsgesetz
RdErl
Runderlass
RdK
Das Recht des Kraftfahrers (Z, Jahr, Nr., Seite)
Red.
Redaktion
RG
Reichsgericht
RGBl
Reichsgesetzblatt
RGRK
Reichsgerichtsrätekommentar
RGZ
Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen (Bd., Seite)
Rn.
Randnummer
R-P
Rheinland-Pfalz
Rpfleger
Der Deutsche Rechtspfleger (Z, Jahr, Seite)
RRG
Rentenreformgesetz v. 18.12.1989
r+s
Recht und Schaden (Z, Jahr, Seite)
S.
Satz; bei Literaturangabe: Seite
S-A
Sachsen-Anhalt
Sa
Sachsen
Saar
Saarland
SchadÄndG
Zweites Schadensersatzrechtsänderungsgesetz v. 19.07.2002
SCHS-ZTG
Schiedsamtzeitung (Z, Jahr, Seite)
SeuffA
Seufferts Archiv (Z, Bd., Nr., Seite)
SeuffBl
Seufferts Blätter für die Rechtsanwendung (Z, Jahr, Seite)
SGB
Sozialgesetzbuch
S-H
Schleswig-Holstein
SMG
Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts v. 26.11.2001
sog. SorgeRG
sogenannte Gesetz zur Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge v. 18.07.1979
SP
Schaden-Praxis (Z, Jahr, Seite)
SPD
Sozialdemokratische Partei Deutschlands
stdg. Rspr.
ständige Rechtsprechung
StGB
Strafgesetzbuch
StVG
Straßenverkehrsgesetz
StVO
Straßenverkehrsordnung
Thür
Thüringen
30
Abkürzungsverzeichnis
u. a.
unter anderem
usw.
und so weiter
v.
von; bei Datumsangabe: vom
VAE
Verkehrsrechtliche Abhandlungen und Entscheidungen (Bd., Nr., Seite)
VersR
Versicherungsrecht (Z, Jahr, Seite)
vgl.
vergleiche
VGT
VolljkG
Verkehrsgerichtstag; ferner Veröffentlichungen der auf dem Verkehrsgerichtstag gehaltenen Referate und Entschließungen (Bd. [Jahr], Seite) Volljährigkeitsgesetz v. 31.07.1974
Vor
Vorbemerkung
Vorbem
Vorbemerkung
VRS
Verkehrsrechts-Sammlung (Bd., Nr., Seite)
VVDStRL
Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (Bd., Seite)
VVG
Versicherungsvertragsgesetz
VW
Versicherungswirtschaft (Z, Jahr, Seite)
Warn
Warneyer, Die Rechtsprechung des Reichsgerichts (Jahr, Nr., Seite)
Web-Dok.
Web-Dokument
WHG
Wasserhaushaltsgesetz
WRV
Weimarer Reichsverfassung
Wussow
Wussow/Dressler, Unfallhaftpflichtrecht
Z
Zeitschrift
ZAP
Zeitschrift für Anwaltspraxis (Fach, Seite)
z. B.
zum Beispiel
ZBIJugR ZfBW
Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohlfahrt (Z, Jahr, Seite) Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft (Z, Jahr, Seite)
ZFE
Zeitschrift für Familien und Erbrecht (Z, Jahr, Seite)
ZfS
Zeitschrift für Schadensrecht (Z, Jahr, Seite)
zit.
zitiert
ZPO
Zivilprozessordnung
ZRP
Zeitschrift für Rechtspolitik (Z, Jahr, Seite)
Einleitung In der juristischen Ausbildung und auch im juristischen Schrifttum fristet § 832 BGB eher ein Schattendasein. Trotz dieser stiefmütterlichen Behandlung kommt der Norm im alltäglichen Leben der Familie eine herausgehobene Bedeutung zu. Nach § 832 Abs. 1 S. 1 BGB haften die Eltern grundsätzlich für Schäden, die ihr Kind, das wegen der Minderjährigkeit der Beaufsichtigung bedarf, Dritten widerrechtlich zufügt. Sie können sich gemäß § 832 Abs. 1 S. 2 BGB entlasten, indem sie nachweisen, dass sie ihrer Aufsichtspflicht genügt haben oder dass der Schaden auch bei gehöriger Aufsichtsführung entstanden wäre. Entgegen den allgemeinen Beweisregeln findet also durch § 832 Abs. 1 S. 1 BGB eine Beweislastumkehr zu Lasten der Eltern statt, da ihre Aufsichtspflichtverletzung widerlegbar vermutet wird. Die Eltern tragen somit nach dem gesetzgeberischen Willen das Schadensrisiko, welches von ihrem Kind für Dritte ausgeht. Nachdem es in den sechziger und siebziger Jahren bezüglich des § 832 BGB eine kritische Diskussion im Schrifttum zur Vorschrift und den Urteilen der Rechtsprechung in Form von Dissertationen und Aufsätzen gab, war es in den achtziger Jahren ruhiger um die Vorschrift geworden. Ab den neunziger Jahren war die Norm wieder verstärkt Gegenstand von Publikationen. Nahezu unbeachtet blieb dabei, dass durch die Entwicklungen im Verfassungsrecht und im BGB und aufgrund der geänderten gesellschaftlichen Verhältnisse einerseits und der kontinuierlichen Rechtsprechung zum unveränderten § 832 BGB andererseits eine Schieflage entstanden ist. Dem will diese Arbeit Rechnung tragen. Ziel der Arbeit ist zu untersuchen, ob das heutige Verständnis der Rechtsprechung von § 832 BGB dem GG, dem Familienrecht und den gesellschaftlichen Verhältnissen für die Familie ausreichend Rechnung trägt. Die Norm § 832 BGB ist seit ihrem In-Kraft-Treten am 01.01.1900 unverändert geblieben; die Rechtsprechung zu § 832 BGB ist insgesamt - von Ausreißern abgesehen - konstant. Es lassen sich bei den von den Gerichten an die Eltern gestellten Anforderungen in den zurückliegenden 104 Jahren keine wesentlichen Veränderungen feststellen; zum Teil wird die Rechtsprechung noch immer vom Familienleitbild der Gesetzesverfasser getragen, einem Familienbild, welches es heute nicht mehr gibt. Dagegen wurde die verfassungsrechtliche Stellung von Familie, Elternrecht und Ehe, auf die § 832 BGB Bezug nimmt, seit 1900 stetig aufgewertet; seit 1949 ist die Wertentscheidung des Art. 6 Abs. 1 GG bei der Anwendung von § 832 BGB zu beachten, was - bis auf wenige Ausnahmen
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Einleitung
im Schrifttum - unerörtert blieb. Im Familienrecht waren das Eheleitbild und die Stellung des Kindes seit dem In-Kraft-Treten von § 832 BGB erheblichen rechtlichen Veränderungen unterworfen; die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für Familien in Deutschland haben sich seitdem grundlegend - zu deren Nachteil - verändert, obwohl den Familien bei der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung in Deutschland eine herausragende Bedeutung zukommt. Bedenken gegen die heutige Rechtsprechung zu § 832 BGB ergeben sich deshalb nicht aus der Rechtsprechung als solcher wegen etwaiger Haftungsverschärfungen. Vielmehr resultieren sie aus den Entwicklungen im Kontext von § 832 BGB, welche bei der Anwendung der Norm nicht genügend beachtet werden. Die Familie wird durch § 832 BGB heute teilweise mit einem Haftungsrisiko belastet, das auf (potentielle) Eltern abschreckend wirkt. Dabei darf die Auslegung von § 832 BGB gerade nicht bei dem ihr am Ende des 19. Jahrhunderts beigelegten Sinn stehen bleiben. Bei der Auslegung und Anwendung einer Norm ist immer zu berücksichtigen, welche vernünftige Funktion sie im Zeitpunkt der Anwendung haben kann. Die einzelne Gesetzesnorm - und so auch § 832 BGB - steht ständig im Kontext der sozialen Verhältnisse und der gesellschaftspolitischen Anschauungen, auf die sie wirken soll; ihr Inhalt kann und muss sich unter Umständen mit ihnen wandeln. Das gilt besonders, wenn sich zwischen Entstehung und Anwendung einer Norm die Lebensverhältnisse und Rechtsanschauungen in Bezug auf den betroffenen Personenkreis so tiefgreifend geändert haben wie im vergangenen Jahrhundert für die Familie. Im ersten und zweiten Teil der Arbeit wird die bestehende Schiefläge aufgrund der kontinuierlichen Rechtsprechung zu § 832 BGB auf der einen und den Veränderungen im Kontext von § 832 BGB auf der anderen Seite herausgearbeitet. Dazu werden im ersten Teil zunächst die Grundlagen der Haftung aus § 832 BGB dargelegt. Zunächst war geplant, nur ausgewählte, markante Urteile herauszugreifen und darzustellen. Die Auswertung der Rechtsprechung ergab jedoch, dass hervorstechende Urteile, welche die Eltern übermäßig beoder entlasten, deutlich in der Minderzahl sind. Eine nur anhand markanter Urteile erfolgte Darstellung wäre der kontinuierlichen Judikatur zu § 832 BGB nicht gerecht geworden; es wäre ein verzerrtes Bild der Rechtsprechung entstanden. Aus diesem Grund und um die Kontinuität der Rechtsprechung aufzeigen, erfolgt eine umfassende Darstellung der ergangenen Urteile zu § 832 BGB, woraus sich ein reales Bild der Elternhaftung nach dieser Vorschrift ergibt. Dabei wurde das entsprechende Schrifttum ausgewertet und berücksichtigt. Die Arbeit beschränkt sich auf eine Untersuchung der Elternhaftung für Aufsichtspflichtverletzungen aus dem Spezialtatbestand des § 832 BGB. Andere allgemeinere Anspruchsgrundlagen gegen die Eltern werden ebenso wenig erläutert wie die Eigenhaftung des Minderjährigen für die von ihm begangene widerrechtliche Handlung.
Einleitung
Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 832 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 BGB werden in § 1 behandelt. In den nächsten beiden Kapiteln werden die Anforderungen der Rechtsprechung für eine Entlastung der Eltern nach § 832 Abs. 1 S. 2 F 1 BGB beschrieben. Die Prüfung dieser Exkulpationsmöglichkeit steht im Mittelpunkt nahezu aller Urteile zu § 832 BGB. Im Bereich der Aufsichtsführung besteht für Eltern eine weitgehende Unsicherheit, weil § 832 BGB die haftungsrechtlichen Folgen einer Aufsichtspflichtverletzung regelt, Inhalt und Umfang der Aufsichtspflicht im BGB aber überhaupt nicht umrissen werden. Das liegt in der Natur der Sache. Die unendliche Zahl möglicher Aufsichtssituationen macht es unmöglich, starre Kriterien und Richtlinien für die im Schadensfall gebotene Aufsicht gesetzlich zu normieren. So bestimmt die Rechtsprechung in ihren Urteilen zu § 832 BGB das Maß der gebotenen Aufsicht jeweils durch eine Würdigung des konkreten Einzelfalls. Dabei weisen die Gerichte wiederholt daraufhin, dass es nicht ihre Aufgabe sei, verbindliche Richtlinien für die Beaufsichtigung Minderjähriger aufzustellen. Vielmehr entscheiden sie lediglich, ob die von den beklagten Eltern konkret getroffenen Aufsichtsmaßnahmen im gegenständlichen Schadensfall ausreichend waren. Die abstrakten Ausführungen der Gerichte und die jeweilige Entscheidung des Einzelfalls liefern jedoch Anhaltspunkte für die Anforderungen der Rechtsprechung an die Eltern. Nach einer Vielzahl von Urteilen hat sich ein, wenn auch weitgefasster, Rahmen für die Beurteilung der Aufsichtspflicht herausgebildet. Deshalb wird in § 2 die Entwicklung der abstrakten Ausführungen der Gerichte zum Maß der gebotenen Aufsicht dargestellt. Anschließend werden in § 3 die Anforderungen der Rechtsprechung an die Aufsichtspflicht der Eltern in den konkreten Schadenssituationen beschrieben. In § 4 werden zwei weitere Entlastungsmöglichkeiten für die Eltern erörtert, denen in der praktischen Rechtsanwendung aber nur eine untergeordnete Bedeutung zukommt. Die Darstellung der Elternhaftung aus § 832 Abs. 1 BGB schließt in § 5 mit einer Einschätzung der dargestellten Rechtsprechung. Im zweiten Teil wird sodann die für § 832 BGB relevante Entwicklung des Verfassungsrechts, des Familienrechts und der Familie in der Gesellschaft dargestellt. Diese Veränderungen im rechtlichen und gesellschaftlichen Kontext legen allesamt eine Änderung der unveränderten Elternhaftung nach § 832 BGB nahe. Zunächst wird in § 1 die verfassungsrechtliche Entwicklung der Institute Ehe und Familie beschrieben. Beide wurden im vergangenen Jahrhundert stetig aufgewertet. Dem heutigen Stellenwert von Ehe und Familie in Art. 6 GG trägt eine umfangreiche und ausdifferenzierte Rechtsprechung des BVerfG Rechnung. Es fehlt aber an einer Umsetzung des verfassungsrechtlichen Stellenwertes bei § 832 BGB. Es ist nicht erkennbar, dass Art. 6 Abs. 1 GG bisher die Rechtsprechung zu § 832 BGB beeinflusst hat. Art. 6 Abs. 2 GG fließt zwar mittelbar über die ihn konkretisierenden Familienrechtsnormen in
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Einleitung
die Anwendung von § 832 BGB ein, zeitigt aber nur selten entscheidende Wirkung. Daran anschließend wird in § 2 die Entwicklung von Ehe und Familie im bürgerlichen Recht dargestellt. Das gesetzliche Eheleitbild hat sich seit 1900 grundlegend verändert und spiegelt die heute bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse und Anschauungen wieder; Haushaltsführung und Kinderbetreuung werden im BGB und seit dem Jahre 2001 auch in der Rechtsprechung als gleichwertig zur Berufstätigkeit angesehen. Die Stellung des Kindes gegenüber seinen Eltern wurde im bürgerlichen Recht stetig aufgewertet. Heute steht das Wohl des Kindes im Mittelpunkt der elterlichen Sorge; betont wird in erster Linie die Verantwortung der Eltern für ihr Kind. Damit hat das BGB mit der Tradition und dem Leitbild der Erziehung von 1900 gebrochen. Damals war das Sorgerecht als väterlich dominiertes Gewaltverhältnis ausgestaltet, dem das Kind unterworfen war. § 2 schließt mit einer Untersuchung des Verhältnisses zwischen § 832 Abs. 1 BGB und §§ 1626, 1631 BGB. Dabei wird deutlich, wie verzahnt diese Vorschriften des Delikts- und Familienrechts miteinander sind. Aufgrund dieser Verzahnung von § 832 Abs. 1 BGB und §§ 1626, 1631 BGB können die Entwicklungen des Familienrechts auch in die Urteile zu § 832 BGB einfließen, was zum Teil auch geschieht. Jedoch fehlt es häufig an einer konsequenten Umsetzung des geänderten Reglungsgehaltes der familienrechtlichten Vorschriften im zu entscheidenden Einzelfall. § 3 beschäftigt sich mit der Reform der Minderjährigenhaftung im BGB. In Bezug auf die Eigenhaftung des Minderjährigen haben sich im BGB zum Teil die Wertungsgesichtspunkte verschoben. Die Diskussion zu § 828 Abs. 2 BGB a. F. macht deutlich, dass im Deliktsrecht nicht immer dem Interesse der Geschädigten der Vorrang gegenüber dem des Kindes einzuräumen ist. Der Minderjährige wurde in § 1629a BGB aufgrund seiner Grundrechte, in § 828 Abs. 2 BGB aufgrund der veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse - in Form des motorisierten Verkehrs - haftungsmäßig privilegiert. Im Verlauf der Reformdiskussion wurden weitere Gedanken vertreten, die auch für eine künftige, elternfreundlichere Auslegung von § 832 BGB von Bedeutung sind und diese als naheliegend erscheinen lassen. Der zweite Teil schließt mit § 4, in welchem die gesellschaftliche Entwicklung der Familie seit 1900 und ihre gesellschaftliche Bedeutung geschildert wird. Die Lebensbedingungen der Familie haben sich grundlegend geändert; sie werden heute als familien- und kinderfeindlich charakterisiert. Eltern ziehen heutzutage - entgegen der Situation am Ende des 19. Jahrhunderts - kaum noch finanziellen Nutzen aus ihren Kindern. Das Gesellschaftssystem sozialisiert den Nutzen der Erziehungsarbeit zu Gunsten der Allgemeinheit und privatisiert die Kosten der Kindererziehung zu Lasten der Eltern. Trotzdem weist § 832 BGB den Eltern - unverändert - ein weiteres finanzielles Risiko zu, wel-
Einleitung
ches durch eine einseitige Auslegung von Teilen der Rechtsprechung noch verstärkt wird. Dabei werden Kinder für den Fortbestand der Gesellschaft und die Funktionsföhigkeit der sozialen Sicherungssysteme immer wichtiger. Von der Rechtsprechung werden diese Veränderungen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen aber nur ungenügend berücksichtigt. Der dritte Teil beschäftigt sich mit den Reformgedanken zu § 832 BGB. In § 1 werden zunächst die bisher vertretenen Reformvorschläge aufgezeigt und erläutert. Diese gehen in diametral entgegengesetzte Richtungen und reichen von der Haftungsverschärfung für die Eltern über die unveränderte Beibehaltung der Haftungslage bis zu einer Abmilderung der Elternhaftung. Verstärkt wird auch eine Versicherungslösung der Problematik in Betracht gezogen. Anschließend wird das Für und Wider der Reformvorschläge gegenübergestellt und abgewogen. Die besseren Argumente sprechen gegen eine Verschärfung der deliktischen Elternhaftung sowie eine Ersetzung der persönlichen Haftung durch eine Versicherungslösung; sie sprechen vielmehr für eine maßvolle Haftungserleichterung zugunsten der Eltern. Die Beweislastumkehr ist in § 832 BGB auch künftig beizubehalten; sie steht der Lockerung der Elternhaftung nicht im Wege. Basierend auf diesen Feststellungen werden dann in § 2 die eigenen Reformvorschläge zu § 832 BGB vorgestellt, sowohl de lege lata als auch de lege ferenda. Mithilfe dieser Reformvorschläge soll die Schiefläge beseitigt werden, die aus der konstanten Rechtsprechung zu § 832 BGB einerseits und den verfassungsrechtlichen und bürgerlich-rechtlichen Entwicklungen im Kontext der Vorschrift andererseits resultiert. Die berechtigten Interessen der Allgemeinheit an einer - weiterhin - angemessenen deliktischen Haftung der Eltern werden dabei berücksichtigt. Beide Reformvorschläge lassen sich auf dem Boden der Rechtsordnung begründen. Als dogmatische Anknüpfungspunkte dienen dazu die Drittwirkung der Grundrechte, die Haftungsgrundsätze des Deliktsrechts und die Grundsätze der richterlichen Rechtsfortbildung. Im vierten Teil der Arbeit werden abschließend die in der Arbeit gewonnenen Erkenntnisse thesenartig zusammengefasst.
1. Teil
Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB § 1 Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 832 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 BGB Die Rechtsprechung zu den Tatbestandsvoraussetzungen von § 832 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 BGB war bisher keinen wesentlichen Änderungen unterworfen. In einigen Punkten tritt das Schrifttum für von der Rechtsprechung abweichende Lösungsansätze ein. Die Rechtsprechung zu § 832 Abs. 2 BGB wird auch heute noch vom historischen Willen der Gesetzesverfasser getragen. Anhand der zahlreichen Urteile zum Tatbestandsmerkmal der vertraglichen Übernahme der Aufsicht i. S. d. § 832 Abs. 2 BGB wird dabei auch deutlich, wie konstant die Rechtsprechung ist. Hingegen besteht im Schrifttum teilweise die Tendenz, das Tatbestandsmerkmal der vertraglichen Übernahme extensiver als bisher auszulegen. Hinsichtlich der vertraglichen Aufsichtsübernahme von sorgerechtlosen Elternteilen hat sich die Rechtsprechung gewandelt und den heutigen gesellschaftlichen Anschauungen angepasst. Im Übrigen sind keine Brüche in der Judikatur zu den Tatbestandsvoraussetzungen des § 832 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 BGB zu erkennen, soweit eine solche Einschätzung aufgrund der vielschichtigen Fallgestaltungen möglich ist.
I. Der Aufsichtsbedürftige § 832 Abs. 1 S. 1 F 1 BGB gilt nicht nur für die Minderjährigen, die der Beaufsichtigung wegen ihres Entwicklungsstandes bedürfen, sondern für alle Minderjährigen. Jeder Minderjährige ist unabhängig von den besonderen Gegebenheiten aufsichtsbedürftig, wie sich aus der vom Gesetzgeber in § 1631 BGB ohne Ausnahme aufgestellten Pflicht zur Aufsicht ergibt. Die Minderjährigkeit als solche begründet somit eine generelle Aufsichtsbedürftigkeit 1. Diese Aufsichtsbedürftigkeit besteht bis zum Eintritt der Volljährigkeit fort, wird also
1 RGZ 52, 69 (73) v. 23.06.1902; BGH LM Nr. 1 zu § 832 BGB (= VersR 1952, 53 [54]) v. 29.11.1951; BGH FamRZ 1965, 75 v. 24.11.1964.
§ 1 Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 832 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 BGB
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auch bei älteren Jugendlichen nicht gegenstandslos2. Alter und individuelle Eigenschaften des Minderjährigen haben somit keinen Einfluss auf die Aufsichtsbedürftigkeit des Minderjährigen, sind jedoch entscheidende Kriterien bei der Bestimmung der im jeweiligen Einzelfall erforderlichen Aufsichtspflicht. Die Aufsichtsbedürftigkeit endet mit dem Eintritt der Volljährigkeit mit Vollendung des achtzehnten Lebensjahres, § 2 BGB 3 , unabhängig davon, ob sich der nunmehr Volljährige weiterhin im Haushalt seiner Eltern befindet 4. Ob Volljährige gemäß § 832 Abs. 1 S. 1 F 2 BGB wegen ihres geistigen oder körperlichen Zustandes aufsichtsbedürftig sind, ist stets durch eine konkrete Einzelfallprüfung festzustellen. Im Gegensatz zur starren Regelung in § 832 Abs. 1 S. 1 F 1 BGB ist die Aufsichtsbedürftigkeit in § 832 Abs. 1 S. 1 F 2 BGB immer konkret nachzuweisen5. Diese Konstellation der Aufsichtsbedürftigkeit bleibt in der weiteren Untersuchung unberücksichtigt. Gegenstand der Arbeit soll allein die Untersuchung der Schadenskonstellation des § 832 Abs. 1 S. 1 F 1 BGB sein, in der ein der Beaufsichtigung seiner Eltern unterliegender Minderjähriger einen Schaden verursacht.
II. Der Aufsichtspflichtige Die Aufsichtspflicht der Eltern für einen Minderjährigen kann sowohl kraft Gesetzes (§ 832 Abs. 1 S. 1 BGB) als auch kraft Vertrages (§ 832 Abs. 2 BGB) bestehen.
1. Elterliche Aufsichtspflicht
kraft Gesetzes
§ 832 BGB statuiert selbst keine Aufsichtspflicht der Eltern für ihr minderjähriges Kind, sondern setzt diese vielmehr voraus. Eine Regelung zur elterlichen Aufsichtspflicht enthält allein die familienrechtliche Vorschrift § 1631 Abs. 1 S. 1 F 3 BGB, welche eine Regelung zur Aufsichtspflicht im Rahmen der Personensorge trifft. Danach umfasst die Personensorge, welche gemäß § 1626 Abs. 1 S. 2 BGB Teil der elterlichen Sorge ist, u. a. die Pflicht und das Recht für den Sorgeberechtigten, das Kind zu beaufsichtigen. Die Aufsichts-
2 BGH LM Nr. 12 zu § 832 BGB (= NJW 1980, 1044) v. 27.11.1979: 17 3/4 Jahre; OLG Hamm VersR 1984, 244 v. 19.10.1982: 17 Jahre, 11 Monate; OLG Hamm OLGZ 92, 95 (96) v. 02.05.1991: 16 Jahre, 10 Monate. 3 Durch das VolljkG v. 31.07.1974 (BGBl I S. 1713) wurde zum 01.01.1975 das Volljährigkeitsalter von 21 auf 18 Jahre gesenkt. 4 RGZ 92, 125 (126) v. 31.01.1918; BGH LM Nr. 6 zu § 832 BGB (= VersR 1958, 399) v. 15.04.1958; LG Bielefeld NJW 1998, 2682 (2683) v. 26.05.1998. 5 Staudinger//te//ing/Eberl-Borges, § 832 Rn. 10; MünchKomm/Stew, § 832 Rn. 4.
1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
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pflicht ist demnach mit der Personensorge untrennbar verknüpft, d. h., eine vom Personensorgerecht losgelöste gesetzliche Aufsichtspflicht der Eltern findet in den Bestimmungen des bürgerlichen Rechts keine Grundlage 6. Somit ergibt sich die Aufsichtspflicht des § 832 BGB aus den im Familienrecht geregelten Sorgerechts Vorschriften. An dieser Stelle werden nur die derzeit geltenden Sorgerechtsvorschriften erörtert. Gemäß § 1626 Abs. 1 S. 2 BGB steht den Eltern für das eheliche Kind die Personensorge zu. Das Gesetz legt somit in § 1626 Abs. 1 BGB stillschweigend zu Grunde, dass die Eltern des Kindes miteinander verheiratet sind und ihnen auch gemeinsam die Sorge für ihr Kind zusteht7. Dabei sind Vater und Mutter zur Ausübung der elterlichen Sorge - und somit zur Aufsichtsführung über ihr Kind - gleichermaßen berechtigt und verpflichtet 8 . Demgemäß ist für jeden Elternteil die Reichweite seiner Aufsichtspflicht gesondert zu bestimmen. Ohne besonderen Anlass darf sich aber der eine Teil auf die Erfüllung der Aufsichtspflicht durch den anderen verlassen 9. Leben die Eltern, denen die elterliche Sorge gemeinsam zusteht, nicht nur vorübergehend getrennt, kann gemäß § 1671 Abs. 1 BGB jeder Elternteil beantragen, dass ihm das Familiengericht die elterliche Sorge allein überträgt. Das ist jedoch nicht zwingend, weil § 1671 Abs. 1 BGB ein Antragserfordernis für die Auflösung der elterlichen Sorge enthält. Die Eltern können deshalb nach der Trennung auch die gemeinsame Sorge beibehalten. Da § 1671 Abs. 1 BGB nunmehr für die Übertragung der elterlichen Sorge nur an das Getrenntleben der Eltern anknüpft, handelt es sich um eine Einheitsregelung zur Auflösung der gemeinsamen Sorge, unabhängig davon, ob die Eltern verheiratet waren oder überhaupt jemals zusammengelebt haben 10 . Die gemeinschaftliche elterliche Sorge wandelt sich kraft Gesetzes in
6
StaudingQxlBelling/Eberl-Borges,
Deerberg, S. 61; Dahlgrün,
§ 832 Rn. 11, 14; RGRKJKreft,
S. 31; Albilt,
§ 832 Rn. 5;
S. 16 f; Eckert, S. 11; Wussow/Kuntz,
Rn. 543; OLG Düsseldorf NJW 1959, 2120 v. 09.06.1959. So besteht die Aufsichtspflicht der Eltern auch dann nicht fort, wenn das Kind trotz der Entziehung des Sorgerechts - so in den Fällen der §§ 1666, 1666a BGB - weiter in ihrem Haushalt verbleibt oder dorthin zurückkehrt. 7 Palandt/Diederichsen, § 1626 Rn. 7. 8 Das OLG Schleswig (FamRZ 1965, 224 [226] v. 31.07.1964) ging bei der strukturellen Einordnung der elterlichen Sorge noch von einem „ungeteilten einen Elternrecht" aus, also einer beiden Elternteilen gemeinschaftlich zustehenden Berechtigung. Die h. M. geht heute jedoch vom Bestehen einer väterlichen und einer mütterlichen Sorge aus. Dabei handelt es sich um zwei selbstständige, inhaltsgleiche und gleichrangige Rechte, die lediglich in ihrer Ausübung aneinander gebunden sind (MünchKomm/P. Huber, § 1626 Rn. 18 m. w. N.). 9 OLG Hamm OLGR 1993, 223 L v. 07.07.1992; OLG Düsseldorf NJW-RR 2002, 235 v. 15.09.2000 (vgl. 1. Teil § 3 V 2 a). 10 Bis zur Änderung durch das KindRG v. 16.12.1997 (BGBl I 2942), in Kraft seit dem 01.07.1998, enthielt das BGB mit §§ 1671 und 1672 BGB a. F. zwei Regelungen zur Auflösung der gemeinsamen elterlichen Sorge. In ihnen wurde zwischen dem Fall
§ 1 Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 832 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 BGB
39
eine alleinige um, wenn ein Elternteil ausfällt, so beim Tod (§ 1680 Abs. 1 BGB), mit der Todeserklärung (§§ 1677, 1681 Abs. 1, 1680 Abs. 1 BGB) und beim Ruhen wegen eines rechtlichen oder tatsächlichen Hindernisses (§§ 16731675, 1678 Abs. 1 HS 1 BGB). Stand dem ausfallenden Elternteil die elterliche Sorge aufgrund §§ 1671, 1672 BGB allein zu, findet kein Übergang des Sorgerechts kraft Gesetzes auf den anderen Elternteil statt. Im Fall des Todes bzw. der Todeserklärung (§§ 1677, 1681 Abs. 1 BGB) richtet sich die Sorgeberechtigung des anderen Elternteils nach § 1680 Abs. 2 S. 1 BGB, d. h. die elterliche Sorge wird dem überlebenden Elternteil durch das Familiengericht von Amts wegen übertragen, wenn dies dem Wohle des Kindes nicht widerspricht. Für den Fall des Ruhens aus Rechtsgründen (§ 1673 BGB) oder aus tatsächlichen Gründen (§ 1674 BGB) fehlt es an einer ausdrücklichen Folgenorm für den weiteren Verfahrensgang. § 1678 Abs. 2 BGB regelt nur die Konstellation des Ausfalls der originär alleinsorgeberechtigten Mutter. Durch das KindRG wurden §§ 1671, 1672 BGB aus § 1678 Abs. 2 BGB gestrichen, da der Gesetzgeber diese bereits von § 1696 Abs. 1 BGB erfasst ansah11. Der (Wieder-)Erwerb der elterlichen Sorge durch den anderen Elternteil erfolgt somit, wenn das Familiengericht dies aus triftigen, das Wohl des Kindes nachhaltig berührenden, Gründen für angezeigt hält, gemäß der allgemeinen Änderungsvorschrift § 1696 Abs. 1 BGB. Dabei ist ein strenger Maßstab anzulegen. Gemäß § 1633 BGB beschränkt sich die Personensorge für einen Minderjährigen, der verheiratet ist oder war, auf die Vertretung in persönlichen Angelegenheiten. Er steht infolgedessen hinsichtlich der tatsächlichen Sorge einem Volljährigen gleich, unterliegt also keiner Beaufsichtigung mehr. Die Personensorge - und damit die Aufsichtsbedürftigkeit - lebt auch bei einer Scheidung vor der Vollendung der Volljährigkeit nicht wieder auf. der Ehescheidung (§ 1671 BGB a. F.) und dem des nicht nur vorübergehenden Getrenntlebens (§ 1672 BGB a. F.) differenziert. Über die Verteilung der elterlichen Sorge im Falle der Ehescheidung entschied das Familiengericht gemäß §§ 621 Abs. 1 Nr. 1, 623 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 S. 1 ZPO a. F. im Zwangsverbundverfahren zwingend von Amts wegen. Das BVerfG (E 61, 358 [371 ff] v. 03.11.1982) hatte § 1671 Abs. 4 S. 1 BGB a. F. - wonach die elterliche Sorge einem Elternteil allein zu übertragen war - wegen Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG für verfassungswidrig erklärt (vgl. 2. Teil § 2 II 4). Daher war es auch schon vor den Änderungen durch das KindRG möglich, dass die Eltern nach der Scheidung weiterhin gemeinsam die elterliche Sorge ausübten. Dazu mussten sie dies übereinstimmend vorschlagen und eine gemeinsame Ausübung des Sorgerechts dem Kindeswohl dienen (OLG Karlsruhe FamRZ 1994, 392 f L v. 16.12.1992; OLG Bamberg NJW-RR 1988, 1225 [1226] v. 09.02.1988). Eltern und Familiengerichte machten von dieser Möglichkeit in der Praxis jedoch nur in verhältnismäßig geringem Umfang Gebrauch (BGH NJW 1993, 126 [127] v. 14.10.1992). Dem nicht sorgeberechtigten Elternteil verblieb nach § 1634 BGB zumindest das Recht zum persönlichen Umgang. 11 PalandtJDiederichsen, § 1678 Rn. 12; BT-Drucks 13/4899, S. 102.
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
Beim Sorgerecht für ein nichteheliches Kind ist aufgrund des am 01.07.1998 in Kraft getretenen KindRG zu differenzieren. Waren die Eltern bei der Geburt des Kindes nicht miteinander verheiratet, so können sie das gemeinsame Sorgerecht durch Sorgeerklärung (§ 1626a Abs. 1 Nr. 1 BGB) oder durch Heirat (1626a Abs. 1 Nr. 2 BGB) erwerben 12. Die Vorschriften für die gemeinsame Sorge gelten dann ohne Unterschiede auch für sie. Machen die unverheirateten Eltern hingegen nicht von den in § 1626a Abs. 1 BGB statuierten Möglichkeiten Gebrauch, entsteht das Sorgerecht für das uneheliche Kind originär als solches der Mutter, § 1626a Abs. 2 BGB. Eine originäre Alleinsorge des Vaters gibt es nicht. Unter den Voraussetzungen des § 1672 Abs. 1 BGB besitzt er aber die Möglichkeit, das Sorgerecht ganz oder teilweise übertragen zu bekommen. Ruht die elterliche Sorge der nach § 1626a BGB alleinsorgeberechtigten Mutter aufgrund §§ 1673, 1674 BGB und besteht keine Aussicht, dass der Grund des Ruhens wegfallen werde, so hat gemäß § 1678 Abs. 2 BGB das Familiengericht die elterliche Sorge dem Vater zu übertragen, wenn dies dem Wohl des Kindes dient. Unter der gleichen Voraussetzung erfolgt die Sorgerechtsübertragung auf den Vater, wenn die nach § 1626a BGB alleinsorgeberechtigte Mutter stirbt, § 1680 Abs. 2 S. 2 BGB. Nach einer Adoption steht das elterliche Sorgerecht für das angenommene Kind den Annehmenden nach §§ 1626 ff BGB zu, was § 1754 Abs. 3 BGB lediglich deklaratorisch ausspricht. Das Verwandtschaftsverhältnis des Kindes zu seinen leiblichen Eltern erlischt, so dass sie die elterliche Sorge über ihr Kind verlieren, § 1755 Abs. 1 BGB. Die Aufsichtspflicht der Eltern ruht, wenn sie ihr Sorgerecht nicht ausüben können, weil ihr Kind durch Anordnung von Erziehungsmaßregeln (§§9-12 JGG), nach Anordnung von Maßnahmen der Erziehungshilfe (§§ 33-35a, 38 SGB VIII) oder einer Trennungsanordnung gemäß § 1666a Abs. 1 BGB in einer Unterbringungsstelle bzw. bei einer anderen Familie untergebracht ist 13 . Die Aufsichtspflicht lebt jedoch wieder auf, wenn sich der Minderjährige wieder in ihrem Haushalt aufhält 14. Hingegen beeinflusst die Bestellung eines Er12 In beiden Fällen muss zusätzlich die Elternschaft feststehen. Die Vaterschaft des die Sorgeerklärung abgebenden Mannes muss deshalb entweder nach § 1592 Nr. 2 BGB durch wirksame Vaterschaftsanerkennung (§§ 1594-1598, 1599 Abs. 2 BGB) oder durch rechtskräftige gerichtliche Vaterschaftsfeststellung (§§ 1592 Nr. 3, 1600d BGB) geklärt sein. 13 Staudinger Welling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 19. 14 So der Fall in RGZ 98, 246 f v. 15.03.1920. Dort war der 16'/2-jährige Sohn des Beklagten zur Fürsorgeerziehung in eine Erziehungsanstalt eingewiesen worden. Für die Dauer und die Zwecke der Fürsorgeerziehung nach dem Preußischen Gesetz vom 02.07.1900 gingen die Rechte und Pflichten der Eltern, soweit es sich um Unterhalt, Erziehung und Beaufsichtigung des Kindes handelte, auf den zur Ausführung der Fürsorgeerziehung berufenen Kommunalverband über. Durch die Anordnung der Fürsorgeerziehung wurde den Eltern jedoch nicht das Sorgerecht entzogen; vielmehr wurde es
§ 1 Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 832 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 BGB
41
Ziehungsbeistandes oder Bewährungshelfers die Aufsichtspflicht der Eltern nicht 15 . Da einem Stiefelternteil keine Personensorgerecht über das minderjährige Stiefkind zusteht, ist § 832 Abs. 1 S. 1 F 1 BGB nicht als gesetzliche Haftungsgrundlage bei einer Inanspruchnahme einschlägig. Weil eine entsprechende Anwendung des § 832 Abs. 1 S. 1 F 1 BGB auf andere Aufsichtsverhältnisse von der Rechtsprechung ausgeschlossen wird 1 6 , wurde die Entschädigungspflicht von Stiefelternteilen zunächst stets aus der allgemeinen Rechtspflicht, Schädigungen Dritter zu vermeiden, hergeleitet 17. Nunmehr wird die vertragsmäßige Übernahme der Aufsicht nach § 832 Abs. 2 BGB durch das Stiefelternteil bei dauerhafter Aufnahme des Stiefkindes in die häusliche Gemeinschaft angenommen18. Auf sorgerechtlose Eltern wollten zunächst nur vereinzelte, sehr allgemein gehaltene Stimmen contra legem § 832 BGB analog anwenden. Von Teilen des Schrifttums wird nunmehr konkret die Anwendung des § 832 Abs. 1 BGB auf den umgangsberechtigten, nicht sorgeberechtigten Elternteil befürwortet. Durch das KindRG wurden Sorgerecht und Umgangsrecht unabhängig voneinander ausgestaltet, so dass sie selbstständig nebeneinander stehen und sich dabei wechselseitig begrenzen 19. Das Umgangsrecht fand in § 1684 BGB eine Neuregelung, die § 1634 BGB ersetzt 20. Es ist höchstpersönlich und unverzichtbar 21 . Dabei bringt § 1684 Abs. 1 BGB die Bedürfnisse des Kindes besser zum Ausdruck als § 1634 BGB. Das Kind hat primär das Recht auf Umgang mit den Eltern, es dient seiner Entwicklung. Dem korrespondiert zunächst die Pflicht der Eltern, mit ihrem Kind umzugehen. Erst an dritter Stelle steht das
durch die Anstaltserziehung/-beaufsichtigung praktisch ausgeschaltet. Somit bestand die Pflicht des durch das Gesetz zur Aufsichtsflihrung berufenen Vaters weiter fort, als der Sohn aus der Erziehungsanstalt entwich und sich im elterlichen Haus verborgen hielt. Dadurch wurden einerseits die mit der Erziehung des Sohnes als Fürsorgezögling betrauten Personen von der Möglichkeit der Aufsichtsführung ausgeschlossen und andererseits dem weiterhin gesetzlich berufenen, aber tatsächlich verhinderten Vater dieselbe wieder eröffnet. Die beim beklagten Vater verbliebene rechtliche Möglichkeit zur Aufsichtsführung lebte deshalb mit der Rückkehr des Sohnes in den väterlichen Haushalt wieder auf. 15 Staudinger¡Belling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 20. 16 RGZ 70, 48 (50) v. 23.11.1908; BGH LM Nr. 6 zu § 832 BGB (= VersR 1958, 399) v. 15.04.1958. 17 BGH LM Nr. 3 zu § 832 BGB (= VersR 1954, 118) v. 16.12.1953; OLG Düsseldorf VersR 1976, 1133 (1134) v. 19.02.1976. 18 OLG Düsseldorf VersR 1992, 310 (311) v. 23.11.1990 (vgl. 1. Teil § 1 II 2 b bb (4)); so schon Berning/Vortmann (JA 1986, 12 [15]), wenn auch über eine analoge Anwendung des § 832 Abs. 1 BGB. 19 Bamberger/Fe//, § 1684 Rn. 6. 20 Erman/Michalski, § 1684 Rn. 1; Bamberger/Veit, § 1684 Rn. 2. 21 Erman/Michalski, § 1684 Rn. 5; Bamberger/Veit, § 1684 Rn. 4.
1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
42
Umgangsrecht der Eltern gegenüber dem Kind 2 2 . Gemäß § 1684 Abs. 1 BGB ist jeder Elternteil zum Umgang mit dem Kind verpflichtet und berechtigt, unabhängig davon, ob ihm das elterliche Sorgerecht zusteht. Das Umgangsrecht des nicht sorgeberechtigten Elternteils schränkt, soweit es wahrgenommen wird, das Recht der elterlichen Sorge ein 23 und führt dazu, dass der Umgangsberechtigte faktisch die Personensorge für sein Kind ausübt24. Soweit der Berechtigte sein Umgangsrecht tatsächlich ausübt, steht ihm gemäß §§ 1687a, 1687 Abs. 1 S. 4 BGB die Befugnis zur alleinigen Entscheidung in Angelegenheiten der tatsächlichen Betreuung zu, unabhängig vom Sorgerecht 25. Diese Befugnis soll ihm die Erfüllung der Obhutsaufgaben über das Kind ermöglichen 26 . Zu der Befugnis gehört auch die Pflicht des Umgangsberechtigten, das Kind zu beaufsichtigen 27. In den meisten Kommentierungen wird das nicht ausdrücklich erwähnt. Es ergibt sich aber aus der Natur der Sache. Da der sorgeberechtigte Elternteil an der tatsächlichen Ausübung der Personensorge gehindert ist, obliegt nach Ansicht von Belling/Eberl-Borges im Rahmen der Ausübung des Umgangsrechts die gesetzliche Aufsichtspflicht dem zwar nicht sorge-, aber umgangsberechtigten Elternteil. Das Umgangsrecht sei eher vergleichbar mit der vertraglichen Übernahme der Aufsichtspflicht als mit der lediglich faktischen Übernahme der Aufsicht. Wie bei der vertraglichen Übernahme werde bei der Ausübung des Umgangsrechts - hier jedoch kraft der gesetzlichen Befugnis und Verpflichtung des § 1684 Abs. 1 BGB - die Obhut über das Kind übernommen 28. Für das OLG Frankfurt/M. ergibt sich aus dem Umgangsrecht, aber auch aus § 832 BGB, dass derjenige Elternteil, der das Umgangsrecht ausübt und das Kind zu Besuch hat, auch den Aufenthaltsort des Kindes bestimmt 29 . In einem vom OLG Jena am 29.11.2000 entschiedenen Fall waren die Eltern eines knapp 6!/2-jährigen Kindes geschieden. Die Mutter hatte das Sorgerecht allein inne. Seit einer Woche hielt sich der Junge bei seinem Vater im Rahmen seines Besuchsrechts auf. Damit oblag dem Vater nach Auffassung des Senats für diese Zeit die Aufsichtspflicht über sein Kind. Denn halte sich ein Kind im Rahmen des Besuchsrechts bei einem Elternteil auf, so sei damit typischerweise die Übernahme der Aufsichtspflicht für das Kind verbunden.
22
Erman/Michalski, § 1684 Rn. 3; Palandt/ Diederichsen, § 1684 Rn. 1. BGH NJW 1969, 422 v. 13.12.1968; OLG Frankfurt/M. FamRZ 1999, 1008 v. 27.11.1998; Motzer, FamRZ 2000, 925 (927). 24 BGH NJW 1988, 2667 (2669) v. 01.03.1988. 25 § 832 Rn. 14. Bamberger/Veit, § 1687 Rn. 15; Staudinger/Belling/Eberl-Borges, 26 Palandt¡Diederichsen, § 1687 Rn. 12. 27 Gtigd/Haag, Kap. 16, Rn. 38; Staudinger/Belling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 14; Staudinger/Peschel-Gutzeit, 12. A., § 1634 Rn. 57; M. Fuchs, NZV 1998, 7 (8 Fn. 15). 28 Staudinger/Belling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 14 (so auch schon in der 13. A., 1997, § 832 Rn. 14). 29 OLG Frankfurt/M. FamRZ 1999, 1008 v. 27.11.1998. 23
§ 1 Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 832 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 BGB
43
Während dieser Zeit trete der nicht sorgeberechtigte Elternteil hinsichtlich der Aufsichtspflicht gegenüber dem Kind an die Stelle des Sorgeberechtigten. Dabei ist es nach Auffassung des OLG unerheblich, wie lange sich das Kind zur Ausübung des Besuchsrechts bei dem anderen Elternteil aufhält. Allerdings nahm das OLG Jena keine gesetzliche Aufsichtspflicht des Vaters an. Vielmehr ging es von einer stillschweigenden vertraglichen Aufsichtsübernahme nach § 832 Abs. 2 BGB aus30. Damit ist festzuhalten, dass die Stimmen in Schrifttum und Rechtsprechung, wenn sie auf die Konstellation ausdrücklich eingehen, dem nicht sorgeberechtigten Elternteil im Rahmen des Umgangsrechts die Aufsichtspflicht über das Kind zuweisen. Während das Schrifttum dabei von einer Übernahme der gesetzlichen Aufsichtspflicht ausgeht, nimmt das OLG Jena eine vertragliche Aufsichtsübernahme an.
2. Derivative Aufsichtspflicht
kraft
Vertrages
In § 832 Abs. 2 BGB wird die durch Vertrag - und nur diese - übernommene Aufsichtspflicht der kraft Gesetzes bestehenden gleichgestellt. Aufgrund einer schuldrechtlichen, nur inter partes wirkenden Abrede, kann somit neben der vertraglichen Haftung eine deliktische Außenhaftung nach § 832 Abs. 2, 1 BGB entstehen. Dabei wird aber nicht die relative Wirkung des zwischen den Vertragsparteien bestehenden Schuldverhältnisses überwunden. Vielmehr erachtete der Gesetzgeber den Umstand rechtsverbindlicher Übernahme von Verantwortung für eine aufsichtsbedürftige Person der Zuständigkeitsbegründung über eine gesetzliche Aufsichtspflicht gleich 31 . Dritte Personen können daher vertragsmäßig aus § 832 Abs. 2, 1 BGB für Minderjährige haften, obwohl ihnen nicht das Personensorgerecht, und auch nicht das Umgangsrecht, über dieselben zusteht. Nach Meinung von Canaris kommt der Haftpflicht aus § 832 Abs. 2 BGB eine erhebliche praktische Bedeutung zu 32 . Das verdeutlicht auch die Vielzahl der Urteile, die sich mit der vertraglichen Übernahme der Aufsicht befassen. Für die gegenständliche Bearbeitung interessieren vor allem die Fälle in der Rechtsprechung, in denen Eltern anderen - mit den eigenen befreundeten - Kindern Besuche auf ihrem Besitz gestatten, ein Stiefelternteil die Aufsicht über sein Stiefkind ausübt oder ein Kind ein Elternteil, welches kein Sorgerecht (mehr) besitzt, besucht.
30 31 32
OLG Jena OLGR-NL 2002, 381 (382) (vgl. 1. Teil § 3 II 1 a bb). Staudinger/Belling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 30. Lorenz/Canaris, Schuldrecht, § 79 IV 2 a.
44
1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
a) Entstehungsgeschichte Das Verständnis von § 832 Abs. 2 BGB und die Anforderungen an eine vertragsmäßige Übernahme der Aufsichtspflicht durch die Rechtsprechung sind bis heute geprägt von der Entstehungsgeschichte der Norm. § 710 Abs. 2 E I der I. Kommission lautete: Die gleiche Verantwortlichkeit trifft denjenigen, welcher die Führung der Aufsicht fiir den durch das Gesetz Verpflichteten übernommen hat33. Neben den kraft Gesetzes aufsichtspflichtigen Personen sollte demnach nur ersatzpflichtig sein, wer die Aufsichtsführung für den durch das Gesetz Verpflichteten übernommen hatte. Eine Haftung nach § 710 Abs. 2 E I setzte somit das Vorhandensein eines gesetzlich Verpflichteten voraus 34. In den Beratungen der II. Kommission (1890-1896) war zu § 710 E I u. a. beantragt worden, die tatsächliche Übernahme der Obhut mit der gesetzlichen Aufsichtspflicht gleichzustellen. Die II. Kommission lehnte diesen Antrag mit den nachfolgenden Argumenten 35 ab. Aus der Notwendigkeit der Fürsorge für die Minderjährigen folge noch nicht, dass jeder, der sich eines solchen Schutzbedürftigen freiwillig annehme, für die Zeit der tatsächlichen Obhut die Verpflichtung zur Beaufsichtigung über denselben übernehme. Auch lege die freiwillige Übernahme der Obhut über eine aufsichtsbedürftige Person, die häufig nur in der Vornahme einer oder einzelner vorübergehender Handlungen bestehe, dem
33
Jakobs/Schubert,
S. 939, 946; Mugdan II, S. CXXV. Entgegen Schoof {S. 20) und
Dahlgrün (S. 8) hieß es bereits in § 710 Abs. 2 E I „Verantwortlichkeit" und nicht „Verantwortung". Nach beider Ansicht {Schoof, S. 21; Dahlgrün, S. 10) erhielt § 710 Abs. 2 E I mit der Formulierung „Verantwortung" in § 755 Abs. 2 E II keine Änderung. Dahlgrün (S. 12) spricht in § 816 Abs. 2 E III vor der letzten Änderung trotzdem von „Verantwortlichkeit", um in der endgültigen Fassung auf S. 13 plötzlich wieder „Verantwortung" anzuführen. Schoof (S. 21) verwendet in § 816 Abs. 2 E III die Formulierung „Verpflichtung", um nach Darstellung der letzten Änderung durch die Reichstagskommission („welcher ...durch Vertrag übernimmt") nunmehr doch von „Verantwortlichkeit" zu sprechen (S. 22). 34 Motive II, S. 735 f = Mugdan II, S. 411. 33 Zu Gunsten des abgelehnten Antrages sprachen nach Ansicht der Kommission folgende Gründe: Es rechtfertige sich nicht, die aus der Aufsichtspflicht sich ergebende Verantwortlichkeit nur denjenigen aufzuerlegen, die gesetzlich zur Übernahme verpflichtet seien oder die vertragsmäßig von dem kraft Gesetzes dazu Verpflichteten die Führung der Aufsicht übernommen hätten. Die Aufsichtspflicht habe ihren Grund in der Beschaffenheit des zu Beaufsichtigenden und sei deshalb notwendig mit der Obhut über diese Person verbunden. Wer sich deshalb eines Minderjährigen annehme, müsse wegen der Vernachlässigung der Aufsicht in gleicher Weise haften, wie derjenige, welcher sich vom Vater des Kindes die Aufsichtsfuhrung habe übertragen lassen. Solange jemand die Obhut über eine der Beaufsichtigung bedürftige Person übernehme, sei er ihr und Dritten gegenüber verpflichtet, die Obhut mit gehöriger Sorgfalt zu führen. Auch übernehme er damit nach eigener Absicht die Pflicht zur sorgfältigen Beaufsichtigung (Protokolle, S. 2771 = Mugdan II, S. 1090).
§ 1 Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 832 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 BGB
45
Aufsichtsführenden weder dem Beaufsichtigten noch Dritten gegenüber eine Verpflichtung auf. Denn zwischen dem Aufsichtsführenden und dem Beaufsichtigten bestehe während der Dauer der Aufsichtsführung nur ein tatsächliches Verhältnis. Dem Verkehr sei es vollständig fremd, hier eine rechtliche Verpflichtung eintreten zu lassen36. Damit verwarf die II. Kommission die angestrebte Gleichstellung der tatsächlich ausgeübten Aufsicht mit der kraft Gesetzes bestehenden. § 710 Abs. 2 E I erfuhr in § 755 Abs. 2 E II nur eine geringfügige sprachliche Änderung, indem die Formulierung „kraft Gesetzes" statt „durch das Gesetz" verwandt wurde. Aus § 755 E II wurde im Justizausschuss des Bundesrates (1895) - inhaltlich unverändert - § 816 E III. Nur die Formulierung „übernommen hat" wurde durch „übernimmt" ersetzt. Am 14.04.1896 beschloss die XII. Kommission des Reichstages ohne Widerspruch die letzte Änderung zu Abs. 2. Die Worte „für den kraft Gesetzes Verpflichteten" wurden gestrichen und dafür die Worte „durch Vertrag" eingefügt. Im Bericht der Reichstagskommission heißt es dazu: „Der Beschluß bezweckt einerseits klarzustellen, daß während Abs. 1 von den gesetzlich zur Beaufsichtigung Verpflichteten spricht, der Abs. 2 diejenigen treffen will, welche die Beaufsichtigung vertragsmäßig übernommen haben, nicht dagegen solche Personen, welche etwa nur thatsächlich sich der Beaufsichtigung unterzogen haben, daß andererseits aber die vertragsmäßig zur Aufsichtsführung Verpflichteten auch dann haften, wenn es an einem gesetzlich Verpflichteten fehlt 37 ." Damit hatte § 832 Abs. 2 BGB seine endgültige, bis heute unveränderte Fassung gefunden.
b) Vertragserfordernisse aa) Wirksamkeit
des Vertrages
§ 832 Abs. 2 BGB setzt aufgrund der Entstehungsgeschichte nach zutreffender h. M. einen rechtswirksamen Vertrag voraus 38 . Anderenfalls haftet der Übernehmende wie im Falle einer nur tatsächlichen Übernahme der Aufsicht gemäß § 823 Abs. 1 BGB, mithin nach den allgemeinen Regeln der Beweislast. Eine analoge Anwendung der Sonderregelung des § 832 BGB auf andere Aufsichtsverhältnisse - und somit auch auf den Fall der tatsächlichen Aufsichtsübernahme - ist ausgeschlossen. Der Gesetzgeber hat die Ausdehnung der Be-
36
Protokolle, S. 2771 f = Mugdan II, S. 1090.
37
Mugdan II, S. 1300 f.
38
BGH LM Nr. 9 zu § 832 BGB (= FamRZ 1968, 587 [588]) v. 02.07.1968; LM Nr. 10 zu § 832 BGB (= VersR 1976, 435 [436]) v. 02.12.1975; OLG Celle NJW-RR 1987, 1384 v. 01.07.1987; WkJStaudinger, § 832 Rn. 8; SoergelIZeuner, § 832 Rn. 11; RGRK/Krefi,
§ 832 Rn. 22; Eckert, S. 19, 161; Albilt,
Rn. 118; Berning/Vortmann,
JA 1986, 12(15).
S. 30, 39; Scheffen/Pardey,
1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
46
weislastumkehr aus Abs. 1 für weitere Fälle ausdrücklich in Abs. 2 geregelt, dort aber diese Erstreckung bewusst von der besonderen Voraussetzung eines Übernahmevertrages abhängig gemacht39. Contra legem stellen Stein und Mertens für eine Aufsichtsübernahme nach § 832 Abs. 2 BGB darauf ab, ob der Aufsichtspflichtige aus Erklärungen oder aus dem Verhalten des Übernehmers berechtigterweise den Schluss ziehen durfte, dass dieser an seiner Stelle die Aufsicht übernehmen werde. Auf die Wirksamkeit des Übernahmevertrages komme es in diesem Fall dann nicht an, sondern es reiche aus Verkehrsschutzgründen die Faktizität der Abrede. Beide Autoren kommen zu dieser Konstruktion, indem sie Grundsätze der Übernehmerhaftung von Verkehrssicherungspflichten aus § 823 Abs. 1 BGB auf den Sondertatbestand § 832 Abs. 2 BGB übertragen. Deliktischer Haftungsgrund sei demnach nicht die Vertragspflicht des Übernehmers. Vielmehr sei die Haftung des Übernehmers in Fällen einer haftungsentlastenden Übertragung als Äquivalent dafür anzusehen, dass die Rechtsordnung dem Aufsichtspflichtigen erlaube, die Erfüllung seiner Obliegenheiten einem anderen zu übertragen und ihn in diesem Fall nur zu sorgfältiger Auswahl und Überwachung verpflichtet 40 . A. Fuchs hält die Meinung von Mertens für vorzugswürdig. Er begründet dies mit der Entstehungsgeschichte der Norm. Danach sei nach dem Willen des Gesetzgebers entscheidend, dass der Übernehmende diese Aufsicht wie der § 832 Abs. 1 BGB und diene nur als Kriterium, um die tatsächliche Übernahme der Aufsicht von der Haftung nach Abs. 2 auszunehmen. Die Wirksamkeit des Vertrages könne deshalb nicht Voraussetzung für die Haftung sein41. Diese Minderansicht überzeugt nicht. Ausweislich der Entstehungsgeschichte und dem Wortlaut der Norm wird für eine Haftung ein rechtsgültiger Vertrag vorausgesetzt; ein anderer Vertrag ist dem BGB fremd. Folglich steht ein nicht rechtsgültiger Vertrag einer bloß tatsächlichen Übernahme zumindest näher als einem rechtswirksamen Vertrag. Zudem sollte die nur tatsächliche Übernahme der Aufsicht nach dem Willen der Gesetzesverfasser gerade nicht von der Haftung nach § 832 Abs. 2 BGB er-
39
40
EvmznlSchiemann, § 832 Rn. 4; KGKYJKreft,
§ 832 Rn. 5.
MünchKomm/Stem, § 832 Rn. 13; MünchKomm/A/ertew, § 823 Rn. 227 (Anm.: In der 2. A. des MünchKomm hatte noch Mertens § 832 BGB inhaltsgleich kommentiert. Das ist bei den nachfolgenden Ausfuhrungen zu den Auffassungen von Albilt und A. Fuchs zu beachten.). Albilt (S. 51) liest aus den zuvor genannten Fundstellen heraus, Mertens wolle auch reine Gefälligkeitsverhältnisse vom Regelungsbereich des § 832 Abs. 2 BGB erfassen lassen. Er übersieht dabei, dass Mertens nur die Fälle eines nichtigen Übernahmevertrages erfassen will, nicht aber die einer tatsächlichen Übernahme, bei denen der Rechtsbindungswille des Übernehmenden fehlt. 41 A. Fuchs, S. 101. Entgegen A. Fuchs (S. 101 Fn. 31) erkennt Albilt die Gegenauffassung von Mertens. Auf S. 30 fuhrt Albilt lediglich aus, dass nur ein rechtswirksamer Vertragsschluss eine Haftung des Übernehmers nach § 832 Abs. 2 BGB auszulösen vermag. Sodann setzt er sich auf den S. 50 f detailliert mit der Auffassung von Mertens (in MünchKomm, 2. A., § 823 Rn. 198, Fn. 287 zu Rn. 198, § 832 Rn. 13) auseinander, wonach es auf die Wirksamkeit des Übernahmevertrages nicht ankommt.
§ 1 Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 832 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 BGB
47
fasst werden 42 . Praktisch hat die abweichende Auffassung nur Auswirkungen bei der Aufsichtsübernahme durch Geschäftsunfähige und beschränkt Geschäftsfähige, mithin nahezu ausschließlich in Konstellationen, in denen der Übernehmende noch selbst minderjährig ist 43 . Um den Minderjährigen nicht den Gefahren unkontrollierter Haftung auszusetzen, gebietet hier bereits der Minderjährigenschutz, die aufgrund unwirksamen Rechtsgeschäftes übernommene Aufsicht der rein tatsächlichen Übernahme der Aufsicht gleichzustellen. Entgegen der Vorauflage 44 stimmen nunmehr Belling/Eberl-Borges dem Ansatz von Stein - und damit der Minderansicht - zu. Entscheidend für die Annahme einer vertraglichen Aufsichtsübernahme i. S. d. § 832 Abs. 2 BGB ist für sie die Rechtswirksamkeit der Erklärung des Übernehmers. Der Wortlaut des § 832 Abs. 2 BGB sei missverständlich und gebe den Willen des Gesetzgebers nicht zutreffend wieder. Ist der Übernehmer nicht voll geschäftsfähig, dürften weder der Erstgarant noch der Rechtsverkehr darauf vertrauen, dass die Aufsichtspflicht vom Übernehmer getragen werde. Liege dagegen der Wirksamkeitsmangel außerhalb seiner Person reiche der tatsächliche Vertragsschluss aus. Der Drittschutzcharakter der Vorschrift gebiete, dass derjenige für die Verletzung der übernommenen Aufsichtspflicht einstehe, der für sich alle Voraussetzungen für einen wirksamen Vertragsschluss erfülle 45 .
bb) Anforderungen
an den Vertragsschluss
Unerheblich ist nach h. M., ob der Vertrag mit der kraft Gesetzes aufsichtspflichtigen Person, dem Aufsichtsbedürftigen bzw. dessen gesetzlichen Vertreter oder mit einem Dritten geschlossen wird 4 6 . So führte erstmals das OLG Köln zur Haftung des Leiters einer Irrenanstalt aus, zur Haftung aus § 832 Abs. 2 BGB sei es erforderlich und genügend, dass eine Aufsichtspflicht überhaupt durch Vertrag, ganz gleich mit wem, übernommen sei 47 . Der BGH ging bei der Unterbringung eines schwer erziehbaren Kindes in einem Heim, welches von einem privaten Rechtsträger unterhalten wurde, auf Anordnung des Stadtjugendamtes von einer vertraglichen Übernahme der Aufsicht aus 48 . Der 42 43 44
45 46
Mugdan II, S. 1300 f. RGRK/Kreft, § 832 Rn. 22; Eckert, S. 19 f. Steu&ngex/Belling/Eberl-Borges, 13. A., § 832 Rn. 40.
Staudinger/Belling/Eberl-Borges, Staudinger/Belling/Eberl-Borges,
Scheffen/Pardey,
§ 832 Rn. 40. § 832 Rn. 31; Palandt/Thomas,
Rn. 118; Albilt, S. 29; Eckert,
§ 832 Rn. 7;
S. 19. A. A. Hofmann (1.5.3.4. Rn. 17),
wonach der Vertrag mit demjenigen zustande kommen muss, dem die Aufsicht gesetzlich obliegt. 47 OLG Köln OLGZ 34, 120 (121) v. 05.03.1914. 48 BGH VersR 1964, 48 v. 27.10.1964. Aus dem abgedruckten Urteil ist nicht ersichtlich, ob den Eltern noch das Sorgerecht über den Minderjährigen zustand, mithin,
48
1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
Vertrag kann - entsprechend den allgemeinen Regeln der Rechtsgeschäftslehre - sowohl ausdrücklich als auch stillschweigend geschlossen werden 49. An den Vertragsschluss sind keine großen Anforderungen zu stellen50. Inhaltlich muss der Vertrag auf die Übernahme der Aufsicht gerichtet sein. Ausreichend ist dabei, dass die Führung der Aufsicht den selbstverständlichen Inhalt des Vertragsverhältnisses bildet, ohne dass es dabei einer besonderen ausdrücklichen Erklärung der Übertragung der Führung der Aufsicht bedarf 61. Auch wenn die rechtsgeschäftliche Aufsichtsübernahme in erster Linie im Interesse des Minderjährigen erfolgt, hindert dies nicht daran, den Schutz Dritter vor durch den Minderjährigen entstehenden Gefahren mit in den Pflichtenkreis des Übernehmenden einzubeziehen52. In den veröffentlichten Entscheidungen zur Übernahme der Aufsichtspflicht durch natürliche Personen für andere Kinder fehlt es i. d. R. an einer ausdrücklich übernommenen Aufsichtspflicht 53 . Hauptproblem bei der Anwendung von § 832 Abs. 2 BGB ist es deshalb, im Falle der Übernahme der Aufsicht eine stillschweigende vertragliche Übernahme von einer tatsächlichen Übernahme aus Gefälligkeit abzugrenzen. Entscheidend ist für diese Abgrenzung, ob der die Aufsicht Übernehmende den für eine vertragliche - die Anwendung des § 832 Abs. 2 BGB auslösende - Vereinbarung erforderlichen Rechtsbindungswillen besitzt.
(1) Die Entwicklung bis zum Urteil des BGH v. 02.07.1968 Das RG sah in der Zusage des Großvaters gegenüber der Mutter - auf seinen Enkel acht zu geben - keinen Abschluss eines Vertrages über die Beaufsichtigung 54 . Der Ansatz verschiedener Untergerichte in den fünfziger Jahren, pauschale Abgrenzungskriterien zu verwenden, fand in der Rechtsprechung keinen
ob hier der Vertrag - rechtlich jedoch irrelevant - mit der kraft Gesetzes aufsichtspflichtigen Person oder mit einem Dritten abgeschlossen wurde. 49 So erstmals RG Warn 1934 Nr. 155, S. 322 (324) v. 18.06.1934; BGH LM Nr. 9 zu § 832 BGB (= FamRZ 1968, 587 = NJW 1968, 1874 = VersR 1968, 1043 = MDR 1968, 832) v. 02.07.1968; OLG Jena OLGR-NL 2002, 381 (382) v. 29.11.2000; LG Bremen NJW-RR 1999, 696 v. 23.03.1999. 50 BGH LM Nr. 9 zu § 832 BGB (= FamRZ 1968, 587 [588]) v. 02.07.1968; LM Nr. 10 zu § 832 BGB (= VersR 1976, 435 [436]) v. 02.12.1975; OLG Jena OLGR-NL 2002, 381 (382) v. 29.11.2000. Diese Aussage der Rechtsprechung hilft nach Meinung von Belling/Eberl-Borges (in Staudinger, § 832 Rn. 32) in der Rechtsanwendung nicht weiter. 51 RG JW 1905 Nr. 6, S. 202 (203) v. 09.02.1905. 52 RG Warn 1934 Nr. 155, S. 322 (324) v. 18.06.1934; KGRK/Kreft, § 832 Rn. 24. 53 So aber bei OLG Oldenburg MDR 1995, 699 v. 12.04.1994. Hier handelte es sich bei der ausdrücklich Übernehmenden um eine Tagesmutter. 54 RG Das Recht 1911 Nr. 1737 v. 23.02.1911.
§ 1 Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 832 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 BGB
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Anklang. So ging das LG Osnabrück davon aus, zwischen nahen Verwandten werde die Aufsicht über Kinder grundsätzlich nur aus Gefälligkeit ohne rechtliche Verpflichtung übernommen. Eine solche Gefälligkeit sei kein Rechtsgeschäft, sondern lediglich ein tatsächlicher Vorgang. Die rechtliche Übernahme der Aufsichtspflicht - entgegen der allgemeinen Übung - bedürfe deshalb der ausdrücklichen Vereinbarung 55. Auch das LG Heilbronn 56 ging davon aus, eine vertragliche Aufsichtsübernahme unter Verwandten sei nicht üblich. Ein Onkel sei aufgrund des verwandtschaftlichen Verhältnisses verpflichtet, seine Nichte und seinen Neffen in tatsächlicher Hinsicht zu beaufsichtigen. Ein Verwandter, bei dem ein Kind zu Besuch ist, sei als Gehilfe des räumlich von den Kindern entfernten Vaters bei der Ausübung der Aufsichtspflicht anzusehen. Diametral entgegengesetzt argumentierte Weimar. Erklärtermaßen extensiv legte er den Anwendungsbereich von § 832 Abs. 2 BGB aus und kam zu wenig lebensnahen Ergebnissen. Danach übernähmen Verwandte grundsätzlich vertraglich die Aufsichtspflicht über die ihnen- in Obhut gegebenen Kinder, was auch dem Grundsatz der Verantwortung des Familienhauptes entspreche. Die moralische Pflicht verdichte sich so zu einer Rechtspflicht. Aus den Indizien Dauer der Aufsicht und Kostenübernahme könne dagegen nicht auf einen Verpflichtungswillen geschlossen werden 57. In der ersten Entscheidung des BGH zur Aufsichtsübernahme von Eltern bei Besuchen von Spielkameraden ihrer Kinder kam der 11-jährige Erstbeklagte zwei- bis dreimal in der Woche auf den Hof der Eltern seines 9-jährigen Freundes, um mit diesem zu spielen. Dadurch kam nach Ansicht des BGH kein stillschweigend geschlossener Vertrag zwischen den beiden Elternpaaren über die Übernahme der Aufsichtspflicht zustande. Bei der Gestattung des Spieles auf dem Hof durch die Eltern des 9-Jährigen handele es sich vielmehr um eine bloße Gefälligkeit, zumal die beklagten Eltern berufstätig gewesen seien. Auch deshalb hätten sie nicht die Aufsicht über fremde Kinder übernehmen können. Weitere, für seine Entscheidung erhebliche Indizien führte der Senat nicht an 58 .
55
LG Osnabrück VersR 1954, 518 v. 09.06.1954. LG Heilbronn VersR 1955, 414 (415) v. 26.04.1955; zustimmend Ohm, VersR 1959, 780 (782). 57 Weimar, MDR 1962, 356 (357). 58 BGH VersR 1964, 1085 (1086) v. 07.07.1964. Der 11-jährige Erstbeklagte hatte dem 9-jährigen Kläger mit Pfeil und Bogen ein Auge ausgeschossen. Unter dem Gesichtspunkt möglicher Einwendungen des Erstbeklagten und seiner zweitbeklagten Eltern prüfte der BGH, ob die Eltern des Klägers eine Aufsichtspflicht über den Erstbeklagten übernommen hatten. In einer späteren Entscheidung ging der BGH (VersR 1968, 378 v. 16.01.1968) nicht auf eine vertragliche Übernahme der Aufsichtspflicht ein, wobei aufgrund der Verletzung der aufsichtsbedürftigen 6-jährigen Klägerin § 832 Abs. 2 BGB ohnehin nicht einschlägig war. Er bejahte eine Haftung der beklagten Aufsichtsperson aus § 823 Abs. 1 BGB, weil ein Erwachsener, der ein 6-jähriges Kind aus dem Aufsichtsbereich der Mut56
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
(2) Das Urteil des BGH v. 02.07.1968 Bis heute richtungweisend für die Abgrenzung ist deshalb der FeldstecherFall des BGH 59 . Eingangs verwandte der BGH dort die - für eine Subsumtion unergiebige - Formulierung, an das Zustandekommen eines stillschweigend geschlossenen Vertrages i. S. v. § 832 Abs. 2 BGB seien keine großen Anforderungen zu stellen, wobei es stets auf die Umstände des Einzelfalls ankomme. Daran anschließend führte der BGH jedoch Indizien zur Feststellung eines Rechtsbindungswillens an. Danach sei eine vertragliche Übernahme der Aufsichtspflicht nur bei einer weitreichenden Obhut von längerer Dauer und weitanzunehmen60. Eine solche liege vor bei eigehender Einwirkungsmöglichkeit nem längeren Besuch eines Minderjährigen bei Verwandten oder bei der Aufnahme des minderjährigen Bruders in den Haushalt der Schwester 61. Von einer nur tatsächlichen Übernahme der Aufsichtspflicht sei hingegen auszugehen, wenn es sich um Einzelfälle auf kürzere Zeit handelt, mit denen die Aufwen-
ter wegfuhrt und in eine Umgebung verbringt, die für spielende Kinder gefahrvoll ist (hier: Friedhof), damit eine Obhutspflicht auf sich nimmt, die ihm im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren die Abwendung von Unfällen auferlegt. Bei Stein (MünchKomm, § 832 Rn. 13 Fn. 25) entsteht hingegen der Eindruck, es habe sich im entschiedenen Fall um eine konkludente vertragliche Aufsichtsübernahme gehandelt. 59 BGH LM Nr. 9 zu § 832 BGB (= FamRZ 1968, 587 [588] = NJW 1968, 1874 = VersR 1968, 1043 = MDR 1968, 832) v. 02.07.1968. Zuvor hatte schon das RG (Warn 1934 Nr. 155, S. 322 ff v. 18.06.1934) einen stillschweigenden Vertragsschluss angenommen. Hier hatte die Beklagte ihrem 10%jährigen Bruder nach dem Tod des Vaters in ihrer Wirtschaft Wohnung und Verpflegung gewährt. Der bestellte Vormund wohnte außerhalb und war mit der Aufnahme seines Mündels in den Haushalt der Schwester einverstanden. Das RG nahm einen stillschweigend geschlossen Vertrag zwischen Vormund und der beklagten Schwester über die Aufsichtsübernahme durch die Letztere an. Die Sorge der Schwester beschränkte sich danach nicht nur auf das leibliche Wohl des Bruders, sondern umfasste auch die Erziehung und Beaufsichtigung. Eine andere Annahme, die der sittlichen Auffassung widersprechen würde, könnte nur durch - nicht vorliegende - besondere Umstände gerechtfertigt werden. 60 Es handelt sich hierbei um objektive Abgrenzungsmerkmale {Eckert, S. 21). A. Fuchs (S. 102) ist der Ansicht, es bleibe unklar, ob es sich bei der Aufsichtsdauer um ein objektives oder um ein subjektives Kriterium handelt. Wenn sich die Obhut allein objektiv nach der tatsächlichen Verweildauer richte, würden die zunächst nicht aufsichtspflichtigen Personen später aufsichtspflichtig werden. Wäre die Verweildauer rein subjektiv nach dem zu beurteilen, was die Beteiligten geplant hatten, würde das Kriterium des Vertrages zu unsicher sein. 61 So zuvor schon Boscher (VersR 1964, 888 [889]). Danach sei bei einem längeren Besuch des Kindes bei Verwandten eine vertragliche Aufsichtspflicht anzunehmen. Bei den Leistungen der Gastfamilie, das Kind im Rahmen des Zumutbaren zu beaufsichtigen, handele es sich stets um Gefälligkeitsleistungen. Jedoch könne sich aus den Umständen und der Interessenlage des Einzelfalls etwas anderes ergeben, da sich die Eltern während des Aufenthalts bei der Gastfamilie der unmittelbaren Aufsichtsmöglichkeit über das Kind begeben.
§ 1 Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 832 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 BGB
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dung von Kosten nicht verbunden ist, so wenn eine Mutter ihr Kind während ihrer Besorgungen bei der Großmutter oder bei Freunden abgibt. Im konkret zu entscheidenden Fall war der 6-jährige H bei seinem 4-jährigen Freund M in dessen elterlichen Wohnung zu Besuch. Beide pflegten sich mit dem Einverständnis ihrer Eltern gegenseitig zu besuchen. Die Eltern von M ließen die beiden Kinder durch ihre Haushaltshilfe beaufsichtigen. Während diese den 4jährigen M zur Toilette begleitete und H allein im Zimmer zurückblieb, ließ dieser einen Feldstecher aus dem Fenster auf die Straße fallen. Dieser fiel der Klägerin auf den Kopf, wodurch sie erhebliche Verletzungen erlitt. Die Klägerin nahm in einem ersten Prozess vergeblich die Eltern von H wegen Verletzung der Aufsichtspflicht in Anspruch. Im zweiten Prozess vertrat sie die Ansicht, dass die Eltern des M aufgrund eines stillschweigend mit den Eltern des H abgeschlossen Vertrages die Aufsichtspflicht über H übernommen hätten und nahm diese deshalb aus § 832 Abs. 2 BGB in Anspruch. Das OLG München folgte dieser Ansicht mit folgender Begründung: Beide Elternpaare seien mit der Freundschaft ihrer Kinder einverstanden und um ihre Kinder sehr besorgt gewesen, sie hätten es mit ihrer Aufsichtspflicht ernst genommen. Man könne nicht eine Trennung der jeweiligen Aufsicht derart annehmen, dass jeweils nur dem eigenen Kind die volle gesetzliche Aufsichtspflicht, dem besuchenden Kind nur eine tatsächliche Obhut gewidmet werden solle. Es sei vielmehr davon auszugehen, dass dritte Personen auch vor Schädigungen des besuchenden Kindes bewahrt sein sollten und dass die Eltern, welche die Erlaubnis zum Besuch gaben, eine solche Beaufsichtigung wünschten, die ihr Kind vor einer Ersatzpflicht aus § 829 BGB schütze. Beachtlich erscheine ferner das Moment der Gegenseitigkeit. Der BGH hob das Urteil auf und verwies zurück. Seiner Ansicht nach reichten die vom OLG angeführten Gesichtspunkte für die Annahme einer rechtsgeschäftlichen Vereinbarung i. S. v. § 832 BGB und eines dafür erforderlichen rechtsgeschäftlichen Bindungswillens nicht aus. In den vorgenannten Ausführungen des OLG fehlte es danach an der Feststellung von Tatsachen, die den wirklichen Willen der beklagten Eltern erkennen ließen. Die gegenseitige Gestattung der Kinderbesuche und die jeweilige Beaufsichtigung des anderen Kindes neben dem eigenen ließ nach Rechtsauffassung des BGH einen Schluss auf den Willen zu vertragsrechtlicher Bindung nicht zu. Denn vor dem Unfall hatten sich offensichtlich weder die beklagten Eltern noch die Eltern des H Vorstellungen über Rechtsfolgen gemacht, welche die gegenseitige Besuche ihrer Söhne auslösen könnten. Vielmehr sei bei objektiver Betrachtungsweise die bei den gegenseitigen Besuchen der Kinder vorgenommene Beaufsichtigung des fremden Kindes lediglich als eine im Alltag übliche Gefälligkeit anzusehen, ohne dass bei den Eltern der Wille vorgelegen habe, sich rechtlich zu binden und sich zur Erbringung einer Leistung zu verpflichten. Explizit wandte sich der BGH gegen die von Weimar geforderte extensive Auslegung von § 832
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
Abs. 2 BGB, welche die Gegebenheiten des Alltags verkenne und häufig zu wenig lebensnahen Ergebnissen gelange 62 . Für die Haftungskonstellation von Eltern bei Besuchen fremder Kinder in bzw. auf ihrem Besitz ist dieses Urteil bis heute von zentraler Bedeutung 63 .
(3) Die weitere Entwicklung bis 2003 Der BGH knüpfte an die vorgenannten Indizien - Obhutsübernahme für längere Zeit und mit weitreichender Einwirkungsmöglichkeit - in einer späteren Entscheidung zur Feststellung einer stillschweigend geschlossenen Vertrages an, ohne weitere hinzufügen 64 . Das OLG Schleswig beschränkte sich unter Be-
62
BGH LM Nr. 9 zu § 832 BGB (= FamRZ 1968, 587 [588] = NJW 1968, 1874 = VersR 1968, 1043 = MDR 1968, 832) v. 02.07.1968; zustimmend: Kürzel, DWW 1970, 45; Berning/Vortmann,
JA 1986, 12 (15); ausführlich Albilt (S. 43 ff), der Weimars
Gleichstellung von vertraglicher und bloß faktischer Aufsichtsübernahme für unhaltbar hält. Deerberg (S. 101) ist der Auffassung, der BGH habe versucht, seine Entscheidung von der Rechtsfolgenseite her zu begründen und nicht mit dem sie auslösenden Tatbestand. Im Vordergrund der Erörterung des BGH habe die Frage gestanden, ob eine „Haftung übernommen" worden sei, nicht aber, ob die Aufsicht übernommen wurde. Diese Interpretation Deerbergs geht fehl. Der Schwerpunkt der Prüfung des BGH liegt auf der Vorlage des erforderlichen Rechtsbindungswillens der Eltern für eine vertragliche Aufsichtsübernahme, also einem Tatbestandsmerkmal. Dabei verwendet der Senat wiederkehrend die Formulierung, ob die „Aufsicht/Aufsichtspflicht übernommen", nicht aber wie Deerberg meint, ob die „Haftung übernommen" worden sei. Auf S. 104 hält Deerberg es in den Fällen des gegenseitigen Kinderbesuches für wenig einleuchtend, warum die Eltern ihrem, dem besuchten, Kind gegenüber aufsichtspflichtig seien, während sie den besuchenden Kameraden unbeaufsichtigt lassen dürften, obwohl beide in der gleichen räumlichen Einheit spielten. Er übersieht dabei, dass die Aufsichtspflicht der Eltern des besuchten Kindes kraft Gesetzes besteht, wogegen ihnen für den besuchenden Kameraden diese gemäß § 832 Abs. 2 BGB nur bei vertraglicher Übernahme zukommen soll. Die von ihm geforderte gleiche Aufsichtspflicht der Eltern für das fremde und das eigene Kind würde die Grenze zwischen vertraglicher und tatsächlicher Aufsichtsübernahme vollständig verwischen. Auf einen Rechtsbindungswillen - zwingendes Erfordernis für einen Vertragsschluss - käme es nach seiner Auffassung für eine Haftung nach § 832 Abs. 2 BGB nicht mehr an. Weiterhin ist Deerberg (S. 23, 105) der Auffassung, die objektiven Kriterien einer weitreichenden Obhut von längerer Dauer und weitgehender Einwirkungsmöglichkeit zur Feststellung eines Vertragsschlusses seien unsystematisch, vom Wesen der Aufsichtsführung nicht gedeckt und den Interessen geschädigter Dritter nicht ausreichend Rechnung tragend, weil ein breiter haftungsfreier Raum entstehe. Dem ist entgegenzuhalten, der haftungsfreie Raum entsteht nur soweit, als die Tatbestandsvoraussetzungen für eine Haftung nicht vorliegen. Auch übersieht er an dieser Stelle, dass der Übernehmende bei nicht Vorliegen einer vertraglichen Aufsichtsübernahme gegebenenfalls aus § 823 Abs. 1, 2 BGB haftet. 63
64
Wusso w/Külitz, Rn. 556; Geigei ¡Haag, Kap. 16, Rn. 34; Scheffen/Pardey,
Rn. 121.
BGH LM Nr. 10 zu § 832 BGB (= VersR 1976, 435 [436]) v. 02.12.1975. Es ging um die Unterbringung eines 7-Jährigen in einem Krankenhaus. Der BGH nahm einen
§ 1 Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 832 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 BGB
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rufung auf die BGH-Entscheidung v. 02.07.1968 bei der Prüfung, ob eine stillschweigende vertragliche Übernahme der Aufsicht i. S. d. § 832 Abs. 2 BGB vorgelegen habe, auf die Berücksichtigung der Indizien der weitreichenden Obhut von längerer Dauer und weitgehender Einwirkungsmöglichkeit 65 . In einer Entscheidung des OLG Hamm hatten die beklagten Eltern ihrem fast 18jährigen Sohn und dessen Freunden ihre Garage zur Instandsetzung eines Pkw überlassen. Das OLG lehnte - unter Berufung auf das BGH-Urteil v. 02.07.1968 - eine Aufsichtsübernahme der Beklagten i. S. v. § 832 Abs. 2 BGB ab. Es fehlte ihnen an einer weitreichenden Obhut von längerer Dauer und weitgehender Einwirkungsmöglichkeit über die Freunde ihres Sohnes66. Neben der weitreichenden Obhut als Indiz fiir einen stillschweigenden Vertragsschluss verwies das OLG Celle darauf, dass es stets auf die Umstände des Einzelfalls ankomme. Dabei sei es fiir die Annahme des Rechtsbindungswillens entscheidend, wie sich das Handeln des Leistenden für einen objektiven Betrachter darstelle 67. In einer neueren Entscheidung beschränkte sich der BGH auf die Aufsichtsdauer als entscheidendes Indiz für die Annahme eines Rechtsbindungswillens68. Jedoch können aufgrund der Vielschichtigkeit des alltäglichen Lebens diese herausgearbeiteten Indizien zwar wichtige, nicht aber die einzigen Indizien für die Feststellung eines Rechtsbindungswillens sein. So ist
stillschweigenden Vertragsschluss mit der Aufnahme des Jungen und somit eine Haftung des Krankenhausträgers aus § 832 Abs. 2 BGB an. 65 OLG Schleswig VersR 1980, 242 (243) v. 18.07.1979. Die beklagte Mutter überquerte mit dem 9-jährigen Erstbeklagten, der zu einem kürzeren Besuch bei ihren Kinder weilte, und denselben eine Straße. Dabei lief der 9-Jährige als erster auf die Straße und kollidierte mit einem Motorrad. Das OLG verneinte den Willen der beklagten Mutter zu einer vertraglichen Bindung und damit auch eine Haftung aus § 832 Abs. 2 BGB, da es sich bei dem Besuch des 9-jährigen Erstbeklagten um einen einzelnen Besuch auf kürzere Zeit gehandelt habe. Auch eine Haftung aus § 823 Abs. 1 BGB verneinte das OLG. 66 OLG Hamm VersR 1984, 244 v. 19.10.1982. 67 OLG Celle VersR 1986, 972 v. 14.08.1985. Der 2,/2-jährige Kläger befand sich auf dem elterlichen Grundstück der 14-jährigen Beklagten. Diese und zwei ihrer Freundinnen spielten mit dem Kläger, ließen ihn jedoch für wenige Minuten ohne Aufsicht. Währenddessen fiel der Kläger in den auf dem Grundstück befindlichen Swimmingpool. Er blieb trotz Notbehandlung ein Pflegefall. § 832 Abs. 2 BGB war wegen der Eigenschädigung des Aufsichtsbedürftigen nicht einschlägig. Das OLG lehnte sowohl einen rechtlichen Bindungswillen als auch eine Verpflichtung der Beklagten zur Ausübung einer mehrstündigen lückenlosen tatsächlichen Aufsicht ab. 68 BGH NJW 1996, 53 v. 17.10.1995. Die 18-jährige T absolvierte im Rahmen ihrer Schulausbildung ein Hauswirtschaftspraktikum bei der Familie S. Während T eine Tür strich, lief die 2'/2-jährige Tochter der Eltern S vom elterlichen Grundstück aus über die neben dem Grundstück verlaufenden Bahnschienen. T rief das Kind zurück, welches beim zurücklaufen von einem Zug erfasst und schwer verletzt wurde. Der BGH verneinte die vertragliche Aufsichtsübernahme durch T, da diese nur auf Bitte der Kindesmutter gefälligkeitshalber für kurze Zeit die Aufsicht übernommen habe, ohne sich insoweit rechtlich binden zu wollen.
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
nach Belling/Eberl-Borges von Bedeutung, ob mit der tatsächlichen Aufsicht auch andere Elemente der Personensorge dem Dritten zur Ausübung überlassen werden, der Aufsichtsbedürftige in die häusliche Gemeinschaft eingegliedert oder an einen anderen Ort verbracht wird 6 9 . Nach Deutsch ist alleiniges Abgrenzungskriterium für die Annahme einer Haftung aus § 832 Abs. 2 BGB der entgeltliche Vertrag. Da die Haftung des Aufsichtspflichtigen aus § 832 Abs. 2 BGB wegen Vertrages nicht gegenüber dem Vertragspartner sondern gegenüber Dritten bestehe, komme es nicht auf die Einordnung Schuldvertrag oder Gefälligkeitsbeziehung an. Nach der Rechtsprechung des BGH könne man sich durch Übertragung der Aufsicht auf einen anderen enthaften, ohne dass dabei die scharfe Haftung des § 832 BGB auf den Übernehmenden übergehe. Dies sei Konsequenz der schmalen legislatorischen Grundlage des § 832 BGB. Würden aber Dritte aufgrund eines entgeltlichen Vertrages für längere Zeit an die Stelle der Eltern treten, müsse mit der Aufsicht auch die scharfe Haftpflicht auf diese übergehen, denn sie könnten sich gegen das Haftungsrisiko versichern und dies dem Entgelt aufschlagen. Die Gefälligkeit stehe somit nicht im Gegensatz zum Vertrag - so der BGH - sondern zur Entgeltlichkeit. Im Übrigen trage der präventive Zweck der Beweislastumkehr nicht eine Haftung dessen, der die Aufsicht für einen anderen unentgeltlich übernehme 70. Deutsch ist zuzugeben, dass die Entgeltlichkeit ein gewichtiges Indiz für einen Rechtsbindungswillen und somit eine vertragliche Übernahme der Aufsichtspflicht ist. Gegen seinen Lösungsansatz spricht neben dem Wortlaut des § 832 BGB die Umkehr seiner Formel Entgeltlichkeit gleich Rechtsbindungswillen. Konsequenterweise müsste es dann Unentgeltlichkeit gleich Gefälligkeit heißen, womit jede unentgeltliche Aufsichtsübernahme mangels Rechtsbindungswillens per se aus dem Anwendungsbereich des § 832 Abs. 2 BGB fiele. Wie jedoch §§ 521, 599, 662, 690 BGB zeigen, schließen sich Rechtsbindungswille und Unentgeltlichkeit nicht grundsätzlich aus. Aus der Unentgeltlichkeit kann deshalb nicht generell auf einen fehlenden Rechtsbindungswillen geschlossen werden 71 . Das führt auch das OLG Düsseldorf in einem Urteil zu einem Wohnungsbrandschaden durch einen 4-Jährigen ausdrücklich aus. Die beklagte Ehefrau hatte dort mangels Personensorgerechts für ihren Stiefsohn keine gesetzliche Aufsichtspflicht. Jedoch ergab sich ihre Aufsichtspflicht nach Auffassung des OLG kraft vertraglicher Übernahme aus § 832 Abs. 2 BGB. Der Abschluss eines entgeltlichen Vertrages sei dazu nicht erforderlich 72 . Mit dem vorgenann-
69
Stmdmger/Belling/Eberl-Borges,
70
Deutsch, JZ 1969, 233 (234).
71
Staudinger/Belling/Eberl-Borges,
§ 832 Rn. 33.
§ 832 Rn. 33; Palandt/Thomas,
§ 832 Rn. 7; Al-
bilt, S. 54; RGRK/Kreft, § 832 Rn. 24, der die Argumentation von Deutsch nicht nur mit dem Wortlaut, sondern auch mit der ratio legis des § 832 Abs. 2 BGB für unvereinbar hält. 72 OLG Düsseldorf VersR 1992, 310 (311) v. 23.11.1990.
§ 1 Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 832 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 BGB
55
ten Urteil ist neben der ausdrücklichen Klarstellung, dass es für eine Haftung nach § 832 Abs. 2 BGB keines entgeltlichen Vertrages bedarf, auch eine Wandlung der Rechtsprechung zur Aufsichtshaftung von Stiefeltern eingetreten 73 . In der Mitnahme der 2- und 3-jährigen Kinder ihrer Schwester zum Einkaufen sah das LG Limburg - ohne nähere Ausführungen - keinen Vertragsschluss über die Übernahme der Aufsichtspflicht, welche von der Klägerin aber auch nicht behauptet worden war 74 . Einen fehlenden Rechtsbindungswillen nahm das LG Karlsruhe - ohne weitere Begründung - an, als eine Mutter neben ihren eigenen Kindern, wie bereits häufiger praktiziert, andere Kinder mit ihrem Auto aus dem Kindergarten abholte75. A. Fuchs vertritt die Auffassung, der BGH habe die in der Entscheidung v. 02.07.1968 aufgestellten Anforderungen an einen Vertragsschluss sehr hoch geschraubt. Im Urteil v. 02.12.197576 habe er diese dann bewusst abgesenkt. Deshalb sei zweifelhaft, ob der BGH an seiner einschränkenden Rechtsprechung festhalten wolle 77 . Dem kann nicht gefolgt werden. Zunächst zitiert der BGH in der Entscheidung v. 02.12.1975 das Urteil v. 02.07.1968 mit den dort aufgestellten Anforderungen einer Obhut von längerer Dauer und weitreichender Einwirkungsmöglichkeit. In der Entscheidung v. 02.12.1975 ging es um einen im Krankenhaus untergebrachten 7-Jährigen, also um einen Aufenthalt von längerer Dauer mit Einwirkungsmöglichkeit des Personals auf den Jungen. Von der Einwirkungsintensität ist diese Konstellation noch weitgehender als die in der Entscheidung v. 02.12.1975 angeführte einer Kindergärtnerin, deren Einwirkungsmöglichkeit danach für einen Vertragsschluss ausreicht. Entgegen Teichmann78 und Staudinger 79 zog der BGH im Urteil v. 19.01.198480 nicht das Merkmal der weitreichenden Obhut von längerer Dauer und weitgehender Einwirkungsmöglichkeit für die Feststellung einer stillschweigenden vertraglichen Aufsichtsübernahme heran. Vielmehr stellte der BGH für die Aufnahme eines Patienten in eine psychiatrische Klinik unter Hinweis auf das RG 81 nur fest, es bedürfe keiner ausdrücklichen Vereinbarung,
73
Vgl. 1. Teil § 1 II 2 bb (4). LG Limburg VersR 1983, 95 v. 03.03.1982. Der 3-Jährige hatte sich an einer Bundesstraße von der Hand seiner 2-jährigen Schwester, welche die Hand der Tante hielt, losgerissen und war in einen vorbeifahrenden Pkw gelaufen. Eine Haftung der Tante aus § 823 Abs. 1 BGB wurde ebenfalls verneint. 75 LG Karlsruhe VersR 1981, 143 v. 29.04.1980. 76 BGH LM Nr. 10 zu § 832 BGB (= VersR 1976, 435) v. 02.12.1975. 74
77 78
79
80 81
A. Fuchs, S. 102 f. Jauzmig/Teichmann, § 832 Rn. 4. Hk¡Staudinger, § 832 Rn. 8.
BGH LM Nr. 14 zu § 832 BGB (= NJW 1985, 677 [678]) v. 19.01.1984. RG Warn 1934 Nr. 155, S. 322 v. 18.06.1934.
1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
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da der sonstige Inhalt des Aufiiahmevertrages die Übernahme der Aufsicht als selbstverständlich erscheinen lasse. Wenn der BGH in seiner letzten Entscheidung zu § 832 Abs. 2 BGB 8 2 die Formel aus der Entscheidung v. 02.07.1968 nicht gebrauchte, so lag dies daran, dass er sich aufgrund der Situation und kurzen Aufsichtszeit auf einen ablehnenden Satz zum Vertragsschluss beschränken konnte. In dem folgenden Urteil des OLG Celle sieht A. Fuchs83 die Aufgabe des BGH-Kriteriums der weitreichenden Obhut von längerer Dauer. Vom OLG Celle war die praktisch relevante Konstellation einer Kindergeburtstagsfeier von 7- und 8-Jährigen im Elternhaus des einladenden 8-jährigen X zu entscheiden. Der klagende Geburtstagsgast erlitt dabei eine Augenverletzung durch einen Glassplitter, weil beim Hin- und Herwerfen eines Tennisballes über die Geburtstagstafel ein als Trinkgefäß benutztes Joghurt-Glas zu Bruch ging. Der 21-jährige Beklagte absolvierte als Schüler der Berufsfachschule für Kinderpflege ein vierwöchiges Praktikum in der Familie des X. Da die Mutter des X verhindert war, führte er die Geburtstagsfeier selbstständig durch. Das OLG bejahte eine Haftung des Beklagten aus § 832 Abs. 2 BGB aus nachfolgenden Gründen: Wenn ein Kind zu einer Geburtstagsfeier eingeladen werde, übernähmen die Eltern des eingeladenen Kindes gemäß § 832 Abs. 2 BGB auch die Aufsicht über die Gäste für die Dauer des Festes. Dies gehe sowohl aus der Einladung als auch daraus hervor, dass die Eltern des einladenden Kindes selbst oder durch eine Aufsichtsperson für die Gestaltung und den Ablauf der Geburtstagsfeier sorgen. Anders als wenn sich Kinder aus eigenem Antrieb zum gemeinsamen Spiel zusammenfinden - so lag es im Fall BGH v. 02.07.1968 - liege in der Durchführung einer derartigen Geburtstagsfeier auch die Übernahme der Aufsichtspflicht, gerade im Hinblick auf die Risiken, die sich aus Spielen ergeben, die von den Aufsichtspflichtigen bei einer solchen Feier vorgeschlagen und durchgeführt werden. Die Eltern des X durften die Bereitschaft des Beklagten, die Geburtstagsfeier allein mit den Kindern durchzuführen, auch als Übernahme der Verantwortung gemäß § 832 Abs. 2 BGB werten. Er sei damit in die Verantwortung eingetreten, welche die Eltern des X auch gegenüber den anderen als ihren eigenen Kindern bei dieser Geburtstagsfeier hatten84. Die Auffassung von A. Fuchs trifft nicht zu, wonach das OLG Celle das Kriterium der weitreichenden Obhut aus der BGH-Entscheidung v. 02.07.1968 aufgegeben hat. Es fehlt bereits an der Vergleichbarkeit der zugrunde liegenden Sachverhalte. Das OLG grenzte den Fall der Geburtstagseinladung ausdrücklich von der Konstellation in der BGH-Entscheidung v. 02.07.1968 - einem gewöhnlichen Besuch zum gemeinsamen
82 83
BGH NJW 1996, 53 v. 17.10.1995.
A.Fuchs,
84
S. 103.
OLG Celle NJW-RR 1987, 1384 f v. 01.07.1987.
§ 1 Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 832 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 BGB
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Spiel - ab. Während im Urteil des BGH die Initiative zu dem Besuch von den Kindern ausging, ergriffen sie im Fall des OLG die Eltern mit der Einladung. Dieses unterschiedliche Verhalten der Eltern wird auch in der Wortwahl der beiden Urteile deutlich. In der BGH-Entscheidung v. 02.07.1968 wird die Akzeptanz des Besuches durch die Eltern mit „dulden" und „Gestattung" umschrieben. Das OLG Celle verwendet hingegen für das Verhalten der Eltern nur die Worte „Einladung" und „einladen", wodurch deutlich wird, dass sie die Kinder zum Besuch aufforderten. An dieser Aufforderung machte das OLG den für einen Vertragsschluss erforderlichen Rechtsbindungswillen schließlich fest. Auch in der Literatur werden beide Sachverhaltskonstellationen als grundlegend verschieden einzuordnend aufgefasst 85. Belling/Eberl-Borges zufolge ist bei einem Kindergeburtstag bezüglich seiner konkreten Ausgestaltung zu prüfen, ob noch eine alltägliche Gefälligkeit gegeben sei oder aufgrund des hohen Aufwands eine erhöhte Aufsichtspflicht übernommen wurde. Eine Geburtstagstafel zeige eine solche Übernahmebereitschaft, weshalb es gerechtfertigt sei, in der Einladung der Kinder ein Angebot der Eltern auf Übernahme der Aufsichtspflicht der eingeladenen Kinder zu sehen86. In einer späteren Entscheidung desselben Senats des OLG Celle hatten Großeltern ihren 7-jährigen Enkel während der Ferienzeit auf ein Campinggelände mitgenommen. Darin erblickte das OLG die vertragliche Aufsichtsübernahme durch die Großeltern, da bei einem längeren Verwandtenbesuch eines Kindes, der den Eltern infolge der räumlichen Trennung die Ausübung der Aufsichtspflicht weitgehend unmöglich macht, von einer konkludenten vertraglichen Übernahme der Aufsicht auszugehen sei 87 . Damit befand sich das OLG im Einklang mit den in der BGH-Entscheidung v. 02.07.1968 aufgestellten Kriterien, wonach die für eine vertragliche Übernahme der Aufsichtspflicht erforderliche weitreichende Obhut von längerer Dauer und weitgehender Einwirkungsmöglichkeit bei einem längeren Verwandtenbesuch anzunehmen sei. In zwei neueren Entscheidungen bestätigte das OLG Hamm unter Bezug auf die BGH-Entscheidung v. 02.07.1968 die dort aufgestellten Kriterien zur Feststellung eines stillschweigend geschlossenen Vertrages. Im Urteil v. 01.10.1998 hielt sich die Mutter mit ihrem 5-jährigen Sohn und ihrem gleichaltrigen Neffen allein in der Küche ihrer beklagten Schwester auf, nachdem diese die Küche verlassen hatte. Nach Ansicht des OLG habe die Mutter damit zwar faktisch die Aufsicht über die beiden 5-Jährigen inne gehabt, mangels rechtsge85
Geigei ¡Haag, Kap. 16, Rn. 34; Scheffen/Pardey, Rn. 121; Eckert, S. 21, 24. Staudinger/Belling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 36. 87 OLG Celle OLGR 1994, 221 v. 15.06.1994. Nach Belling/Eberl-Borges (in Staudinger, § 832 Rn. 34) geht ein Besuch bei Großeltern oder anderen Verwandten während der Ferien regelmäßig mit einer Eingliederung in die Hausgemeinschaft einher, die eine umfassende Einwirkungsmöglichkeit ermögliche; der Ferienbesuch bedeute deshalb regelmäßig eine rechtsgeschäftliche Zuständigkeitsübernahme. 86
1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
58
schäftlichen Bindungswillens sei aber kein Schuldverhältnis über die Aufsicht ihres Neffen zustande gekommen88. Derselbe Senat des OLG Hamm entschied über den Sturz eines 43/4-Jährigen aus einem Fenster. Zusammen mit seinen beiden älteren Schwestern hatte er die Wohnung der Beklagten aufgesucht, um mit deren 4-jährigen Sohn zu spielen. Die Beklagte bereitete in der Küche das Essen vor, während die Kinder im Flur und im Kinderzimmer spielten. Der Kläger kletterte im Kinderzimmer auf die Fensterbank und fiel aus dem geöffneten Fenster. Er erlitt lebensgefährliche Kopfverletzungen. Das OLG führte in seiner - die Haftung der Beklagten begründenden - Prüfung des § 823 Abs. 1 BGB aus, es komme nicht darauf an, ob die Beklagte die Aufsicht über den gestürzten Jungen stillschweigend vertraglich übernommen habe, was hier offenbar nicht der Fall war. Vielmehr sei ihr die Aufsichtspflicht tatsächlich zugefallen, weil sie den Besuch in ihrer Wohnung duldete89. Zuletzt bestätigte das OLG Jena mit Urteil v. 29.11.2000 die vom BGH aufgestellten Indizien für die Annahme einer Aufsichtsübernahme i. S. d. § 832 Abs. 2 BGB 90 .
(4) Stiefeltern und vertragliche Aufsichtsübernahme Die Bewertung der Aufsichtsübernahme durch ein Stiefelternteil hat sich hingegen in der Rechtsprechung gewandelt. Es wird nunmehr eine vertragliche Aufsichtsübernahme gemäß § 832 Abs. 2 BGB des nicht sorgeberechtigten Stiefelternteils angenommen. In einer frühen Entscheidung ließ der BGH noch offen, ob nicht nach den Umständen ein stillschweigend geschlossener Vertrag des Inhalts zwischen der Kindesmutter und dem Stiefvater angenommen werden könne, dass der Letztere zur Erziehung und Beaufsichtigung des in der Familiengemeinschaft aufwachsenden 11-jährigen Stiefsohnes verpflichtet sei, mithin die Anwendung des § 832 Abs. 2 BGB in Betracht komme. Der Stiefvater wurde aus § 823 Abs. 1 BGB verurteilt 91 . Ebenso entschied das OLG Düsseldorf am 19.02.1976. Dabei ließ es ebenfalls offen, ob der Stiefvater vertraglich zur Beaufsichtigung des in der Familiengemeinschaft aufwachsenden 13jährigen Stiefsohnes verpflichtet sei 92 . Die Haftung des Stiefvaters aus § 823 Abs. 1 BGB wurde in beiden Urteilen damit begründet, dass der Stiefvater als „Haushaltsvorstand und auf Grund seiner Stellung in der Familie" verpflichtet
88
OLG Hamm MDR 1999, 677 v. 01.10.1998. OLG Hamm VersR 2000, 457 (458) v. 29.10.1998. Entgegen Palandt/7Viomay (§ 832 Rn. 7) lässt das OLG Hamm hier nicht die tatsächliche Übernahme der Aufsicht für einen stillschweigenden Vertragsschluss genügen. Denn das OLG subsumierte die Verletzung der Verkehrssicherungs- und Aufsichtspflicht allein unter § 823 BGB. 90 OLG Jena OLGR-NL 2002, 381 (382) v. 29.11.2000. 91 BGH LM Nr. 3 zu § 832 BGB (= VersR 1954, 118) v. 16.12.1953. 92 OLG Düsseldorf VersR 1976, 1133 (1134) v. 19.02.1976. 89
§ 1 Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 832 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 BGB
59
gewesen sei, Schutzmaßnahmen gegen mögliche Gefährdungen Dritter durch den Stiefsohn zu treffen. Auch ohne Bestehen familienrechtlicher Beziehungen würden aus der Tatsache einer Haus- und Familiengemeinschaft Rechtspflichten erwachsen 93. Das OLG Düsseldorf 94 begründet die nunmehr geänderte Rechtsauffassung Anwendung statt Offenlassen des § 832 Abs. 2 BGB - nicht. Es stellt nur fest, bei der Aufnahme eines Kindes in die Familie, für das nur einer der Ehepartner das Sorgerecht habe, müsse sich dieser Ehepartner darauf verlassen können, dass auch in seiner Abwesenheit das Kind beaufsichtigt werde. Die Übernahme der Aufsichtspflicht durch den anderen Ehepartner sei deshalb stillschweigend ausbedungen. Zuvor hatten Berning/Vortmann schon dafür plädiert, aufgrund des nahen persönlichen Kontakts § 832 Abs. 1 BGB analog auf Stiefeltern anzuwenden95. Engler stimmt in seiner Urteilsanmerkung der Grundaussage des OLG Düsseldorf angesichts der gewandelten tatsächlichen Lebensverhältnisse aber auch aus rechtlicher Hinsicht zu. Der BGH habe in seiner stark patriarchalischen Betrachtungsweise offengelassen, ob die Aufsichtspflicht eines Stiefelternteils aus § 823 Abs. 1 BGB auch dann gegeben sei, wenn es sich dabei um eine Stiefmutter handele. Unabhängig von der Frage, ob der Begriff „Haushaltsvorstand" heute noch als rechtlich mögliche Argumentations- und Abgrenzungshilfe verwendet werden könne, würde eine nicht im Berufsleben stehende Mutter als Haushaltsvorstand angenommen werden können. Daraus würde aber bezüglich der Aufsichtspflicht eine nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung zwischen Stiefmüttern und Stiefvätern folgen, die im Verdacht stände, Art. 3 GG zu verletzen. Auch ergäbe sich aus den Familienverhältnissen und der Lebenserfahrung eine stillschweigende vertragliche Übernahme der Auf93 Entgegen OLG Hamm (VersR 1975, 616 v. 24.10.1973) und Engler (r+s 1993, 338) beschränkt sich die Verpflichtung des Haushaltvorstandes nicht nur auf die Fälle, in denen die Schädigung Dritter im räumlichen Zusammenhang mit der Hausgemeinschaft erfolgt. Die dort zitierten Urteile tragen diesen Schluss nicht. In der Entscheidung LM Nr. 6 zu § 832 BGB (= VersR 1958, 399 [400] v. 15.04.1958) hat der BGH die Verkehrssicherungspflicht eines Haushaltvorstandes im Hinblick auf die Gefahren anerkannt, die aus dem Bereich des Hauswesens hervorgehen können, hier ihren Ursprung haben und von hier aus andere bedrohen. Das OLG München (NJW 1966, 404 [405] v. 01.07.1965) hat die Aufsichtspflicht, die sich aus einem gewissen Betreuungsverhältnis ergibt, auf ein schädigendes Verhalten des zu Betreuenden bezogen, das aus dem Bereich dieses Betreuungsverhältnisses hervorgeht und von hier aus andere bedroht. Dabei hat es diese Aufsichtspflicht ausdrücklich nicht nur auf den Heimbereich beschränkt. In einem neueren Urteil bezog sich das LG Bielefeld (NJW 1998, 2682 [2683] v. 26.05.1998) auf die vorgenannte Rechtsprechung des BGH und forderte einen Bezug des schädigenden Verhaltens zum Hauswesen, an welchem es bei einem Unfall fernab vom Haushalt des Aufsichtspflichtigen fehle. Allein die Zugehörigkeit eines erwachsenen, geistig behinderten Sohnes zur Hausgemeinschaft sei nicht geeignet, rechtliche Verpflichtungen des Vaters auszulösen. 94 OLG Düsseldorf VersR 1992, 310 (311) v. 23.11.1990. 95
Berning/Vortmann,
JA 1986, 12 (15).
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
sichtspflicht des Stiefelternteils, wenn dieser die Kinder des anderen Ehepartners miterziehe. Nichts anderes gelte für eine eheähnliche Lebensgemeinschaft. Der einzige Unterschied sei die fehlende Ehe, die aber im Rahmen des § 832 Abs. 2 BGB unbeachtet bleiben könne, da die Aufsichtspflicht nicht an die Stellung als Ehepartner anknüpfe 96. Die rechtliche Argumentation von Engler überzeugt nicht. Wenn man mit ihm eine nicht im Berufsleben stehende Mutter als Haushaltsvorstand betrachtet, ergibt sich daraus gerade keine Ungleichbehandlung von Stiefmüttern und Stiefvätern. Beide haften nach seiner Argumentation als Haushaltsvorstand gemäß § 823 Abs. 1 BGB. Auch die Rechtsprechung des BGH hat einer Haftung der Stiefmutter aus § 823 Abs. 1 BGB nicht entgegengestanden. So sah das OLG Hamm - unter Berufung auf die o. g. Urteile des BGH v. 16.12.1953 und 15.04.1958 - die Ehefrau als verantwortlichen Haushaltsvorstand für ihren unzurechnungsfähigen Ehemann an 97 . Zudem leitete die Rechtsprechung die Rechtspflicht zum Handeln in einem ersten Schritt aus der Tatsache der bestehenden Haus- und Familiengemeinschaft her, um sie erst in einem zweiten Schritt auf den beklagten Stiefvater zu konkretisieren. Zutreffend ist jedoch die Auffassung von Engler, wonach der Anwendung des - bis dahin offen gelassenen - § 832 Abs. 2 BGB aufgrund der tatsächlichen heutigen Lebensverhältnisse zuzustimmen ist. Für das nicht sorgeberechtigte leibliche Elternteil hat das OLG Jena in seinem Urteil v. 29.11.2000 eine eindeutige Aussage getroffen. Hält sich ein Kind bei seinem nicht sorgeberechtigten Elternteil im Rahmen des Besuchsrechts auf, ist damit typischerweise die stillschweigende vertragliche Übernahme der Aufsichtspflicht verbunden. Dabei ist nach Ansicht des Senats die Dauer des Besuches unerheblich 98.
cc) Rechtsfolge der vertraglichen
Aufsichtsübernahme
Mit der wirksamen vertraglichen Aufsichtsübernahme wird der Übernehmende Adressat einer eigenständigen Aufsichtspflicht, die gleichwertig neben der weiterhin bestehenden gesetzlichen Aufsichtspflicht des Sorgeberechtigten steht. Es findet somit keine Rechtsnachfolge im Wege der privaten Pflichtenübernahme statt99. Wie aufgezeigt, nahm die Rechtsprechung in nur wenigen veröffentlichten Urteilen das Tatbestandsmerkmal einer vertraglichen Übernahme der Aufsicht an. Dabei gingen die Gerichte nicht auf die Frage ein, ob die vertraglich übernommene und die gesetzliche Aufsichtspflicht inhaltlich
96
Engler, r+s 1993, 338 f.
97
OLG Hamm VersR 1975, 616 v. 24.10.1973. OLG Jena OLGR-NL 2002, 381 (382) v. 29.11.2000 (vgl. 1. Teil § 1 II 1 a. E.).
98 99
StdLudinger/Belling/Eberl-Borges,
§ 832 Rn. 28, 42; Eckert, S. 26 f.
§ 1 Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 832 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 BGB
61
deckungsgleich sind 100 . Der Gesetzeswortlaut des § 832 Abs. 2 BGB, wonach den Übernehmenden „die gleiche Verantwortlichkeit trifft", legt das nahe. Nach Ansicht von Belling/Eberl-Borges ist aber maßgeblich, welche Maßnahmen der übernehmenden Person nach dem Übernahmevertrag obliegen würden. Das Maß der gebotenen Aufsicht und die Reichweite der zu treffenden Maßnahmen richte sich in erster Linie nach dem Umfang der vertraglichen Aufsichtsübernahme 101. Zuvor hatte schon Albilt eingehend begründet, dass sich der Umfang der übernommenen Aufsichtspflicht nach dem zugrunde liegenden Vertrag bestimmt. Infolgedessen hafte der die Aufsicht übernehmende Vertragsschuldner nur bei Nichterfüllung bzw. mangelhafter Erfüllung der Vertragspflichten aus § 832 Abs. 2 BGB. Bei vertragsgerechtem Verhalten hafte er hingegen selbst bei objektiv mangelhafter Aufsicht nicht 1 0 2 . Eine Konkretisierung von Aufsichtsanforderungen kommt deshalb nur im Rahmen des Umfangs der übernommenen Aufsicht in Betracht; hier gelten dann die allgemeinen Wertungsgrundsätze 103. Die Erfüllung der Aufsichtspflicht ist für jeden Pflichtigen gesondert zu prüfen. Haben sowohl der vertraglich als auch der gesetzlich Verantwortliche ihre Aufsichtspflicht verletzt, haften sie - und nur dann - nach Maßgabe des § 840 BGB als Gesamtschuldner, wobei für den Ausgleich im Innenverhältnis § 840 Abs. 2 BGB zu beachten ist 104 .
I I I . Widerrechtliche Schadenszufügung Weitere Tatbestandsvoraussetzung des § 832 Abs. 1 S. 1 BGB ist die widerrechtliche Schadenszufügung mittels objektiver Verwirklichung einer unerlaubten Handlung i. S. d. § 823 Abs. 1 BGB durch den Aufsichtsbedürftigen.
100 OLG Celle NJW-RR 1987, 1384 v. 01.07.1987; OLGR 1994, 221 v. 15.06.1994; OLG Düsseldorf VersR 1992, 310 v. 23.11.1990. 101 102
103
Simd\x\gzx/Belling/Eberl-Borges, Albilt, S. 167 ff, 175 ff.
§ 832 Rn. 87.
Staudinger/Belling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 88. RGRKJKreft, § 832 Rn. 55; Soergel/Zeuner, § 832 Rn. 12. So auch Schoo/(S. 33 Fn. 63) und A. Fuchs (S. 103 Fn. 51), die zur Begründung der Gesamtschuldnerschaft auf ein Urteil des BGH v. 11.06.1968 (LM Nr. 8c zu § 832 BGB = VersR 1968, 903) verweisen. Aus diesem Urteil lässt sich aber für eine gesamtschuldnerische Haftung der nach § 832 Abs. 1 und Abs. 2 BGB Pflichtigen nichts entnehmen. Dort waren nur die Eltern des Kindes verklagt, die sich exkulpieren konnten, da sie die zuverlässige und gewissenhafte Tante mit der Aufsicht über ihr Kindes betraut hatten. Ausführungen zu einer eigenen vertraglichen Aufsichtshaftung der Tante, welche die unmittelbare Aufsicht ausübte, enthält das Urteil hingegen nicht. 104
62
1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
1. Die unerlaubte Handlung a) Der Dritte i. S. d. § 832 Abs. 1 S. 1 BGB Der Aufsichtsbedürftige ist kein Dritter i. S. der Vorschrift. Das erklärt sich aus dem Schutzzweck von § 832 BGB. Die dort unter Beweislastumkehr statuierte Haftung besteht nicht gegenüber dem Beaufsichtigten, vielmehr dient die Aufsichtspflicht allein dem Schutz der Allgemeinheit 105 . Entsprechend Telos und Wortlaut greift § 832 BGB deshalb nur ein, wenn das zu beaufsichtigende Kind einen Schaden anrichtet, nicht aber, wenn es selbst geschädigt wird 1 0 6 . Dem geschädigten Kind stehen jedoch gegen den Aufsichtspflichtigen Ansprüche aus § 823 Abs. 1, 2 B G B 1 0 7 und - wenn dies seine Eltern sind - zusätzlich aus § 1664 BGB 1 0 8 zu. Wer die Aufsichtspflicht über den schädigenden Auf105 BGHZ 73, 190 (194) v. 16.01.1979; BGH VersR 1958, 85 (86) v. 03.12.1957; OLG Köln VersR 1982, 154 (155) v. 19.09.1980. 106 Ganz h. M., OLG Düsseldorf VersR 2000, 1254 (1255) v. 21.05.1999; OLG Celle VersR 2000, 457 v. 22.09.1999; 1986, 972 v. 14.08.1985; Staudinger/ Belling/Eberl-
Borges, § 832 Rn. 4, 47; RGRKJKreft,
§ 832 Rn. 7; PsAandt/Thomas,
§ 832 Rn. 11;
Soergd/Zeuner, § 832 Rn. 1; Hk/Staudinger, § 832 Rn. 2; Eckert, S. 164; Geigei/ Rixecker, Kap. 3, Rn. 23; Wussow/£w«/z, Rn. 555. A.A. anscheinend das OLG Oldenburg in MDR 1995, 699 f v. 12.04.1994. Dort wurde die 21/\ -jährige Klägerin regelmäßig von der beklagten Tagesmutter betreut. Die Beklagte ließ die Klägerin und ihre drei eigenen Kinder vor dem Haus spielen. Diese liefen zu einem 100 m entfernten Platz, ohne dass die Beklagte einschritt. Unbemerkt von der Beklagten gingen die Kinder zu einem 180 m entlegenen Gartenteich, in den die Klägerin fiel. Sie erlitt einen schweren Hirnschaden. Das OLG bejahte eine vertragliche Aufsichtsübernahme der Beklagten als Tagesmutter und die Verletzung der übernommenen Aufsichtspflicht. In den abgedruckten Entscheidungsgründen zitiert das OLG keine Paragraphen, jedoch sind in der Paragraphenkette über dem Leitsatz §§ 832 Abs. 2, 847 BGB zitiert. Die Entscheidung ist auch in NJW-RR 1995, 983 abgedruckt. Dort werden in der Paragraphenreihe hingegen die §§ 823, 847 BGB genannt. Aus den in den Entscheidungsgründen zitierten Urteilen (BGH VersR 1993, 585 v. 16.02.1993; OLG Celle VersR 1986, 972 v. 14.08.1985) ergibt sich, dass der Senat § 823 Abs. 1 BGB anwendete und somit der h. M. zum Schutzbereich des § 832 BGB Rechnung trug. Dort lehnten die Gerichte die Anwendung von § 832 BGB ab und subsumierten mögliche Ansprüche des geschädigten Kindes nur unter § 823 Abs. 1, 2 BGB. 107 RGZ 75, 251 (253) v. 22.12.1910; RG Warn 1911 Nr. 472, S. 517 f v. 16.10.1911; BGHNJW 1996, 53 v. 17.10.1995; VersR 1993, 585 v. 16.02.1993; OLG Düsseldorf FamRZ 2000, 438 v. 26.02.1999; OLG Celle VersR 1978, 1172 v. 26.06.1978; RGRKIKreft, § 832 Rn. 8; Soergel IZeuner, § 832 Rn. 1; Geigei /Rixecker, Kap. 3, Rn. 24. 108 PalandtJDiederichsen, § 1664 Rn. 1; PalandiJ Thomas, § 832 Rn. 11; MünchKomm/Stein,
§ 832 Rn. 2; Erman/Schiemann,
§ 832 Rn. 9; Schoof, S. 34; A. Fuchs,
S. 112. Umstritten ist, ob bei Ansprüchen des Kindes gegen seine Eltern wegen Verletzung der Aufsichtspflicht § 1664 BGB auch als - zu Gunsten der Eltern wirkender - Haftungsmaßstab anwendbar ist. Bejahend: OLG Düsseldorf FamRZ 2000, 438 v. 26.02.1999; OLG Hamm MDR 1999, 677 (678) v. 01.10.1998; ZfS 1993, 333 (334) v.
§ 1 Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 832 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 BGB
63
sichtsbedürftigen inne hat, ist ebenfalls nicht Dritter i. S. der Vorschrift 109 . So führte das OLG Stuttgart aus, die in § 832 BGB begründete Vermutung einer Aufsichtspflichtverletzung und ihrer Kausalität für den Schadenseintritt sei sachlich nicht gerechtfertigt, wenn es um die Haftung eines Aufsichtspflichtigen für einen Schaden geht, den der zu Beaufsichtigende einem anderen, für dieselbe Person in gleicher Weise Aufsichtspflichtigen zugefügt hat. Der historische Gesetzgeber habe beim Erlass der Vorschrift die Gefahren im Auge gehabt, welche von dem zu Beaufsichtigenden anderen Personen drohen, die sich nicht um ihn zu bekümmern haben, also gerade nicht an Schäden bei einem von mehreren Aufsichtspflichtigen gedacht 110 . Schädigt hingegen der Aufsichtsbedürftige einen unter derselben Aufsicht stehenden anderen Aufsichtsbedürftigen, so ist dieser Dritter i. S. d. § 832 BGB 1 1 1 . In dieser Konstellation
17.08.1993; NJW 1993, 542 (543) v. 20.01.1992; OLG München VRS 79 Nr. 125, S. 334 (336) v. 21.09.1989. Verneinend: OLG Frankfurt/M. ZfS 1993, 116 (117) v. 28.10.1992; OLG Stuttgart VersR 1980, 952 (953) v. 28.03.1980; LG Hanau NJW 1988, 74 v. 11.08.1987. In BGHZ 103, 338 (345 f) (= NJW 1988, 2667 [2669] v. 01.03.1988) hat der BGH die Auffassung vertreten, § 1664 BGB sei auch im Falle der Verletzung deliktischer Verhaltenspflichten jedenfalls dann anwendbar, wenn die Schutzpflichten ganz in der Sorge für die Person des Kindes aufgingen. Die Frage, ob § 1664 BGB auch bei Verletzung der Verkehrssicherungspflichten, etwa der Aufsichtspflicht nach § 832 BGB, anzuwenden sei, hat er ausdrücklich offengelassen. 109 Staudinger! Belling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 47; MünchKommAStew, § 832 Rn. 29;
Thomas, § 832 Rn. 1 \ Scheffen/Pardey,
Rn. 111; A. Fuchs, S. 113.
A. A. Kuntz (in Wussow, Rn. 554), wonach die Haftung aus § 832 BGB auch seitens des Vaters gegenüber der Mutter oder umgekehrt eintreten kann. In einem solchen Fall müsse die klagende Partei nachweisen, dass die Gegenpartei im Einzelfall zur Führung der Aufsicht verpflichtet gewesen sei. Dahlgrün (S. 71) und Berning/Vortmann (JA 1986, 12 [16]) halten das als Ausnahmefall für möglich. Kuntz und Dahlgrün führen als denkbares Beispiel an, die Mutter lässt tagsüber zu, dass die Kinder aus dem Jagdschrank Gewehre entnehmen und den ahnungslos von der Arbeit heimkommenden Vater bei Eintritt in die Wohnung anschießen. In einem solchen Fall hafte die Mutter dem Vater aus § 832 BGB. Berning/V ortmann führen ein ähnliches Beispiel an. Dort lässt die Mutter das Spiel mit Streichhölzern zu, es kommt zum Brand, durch den der heimkehrende Vater verletzt wird. Eine diese Auffassung stützende Gerichtsentscheidung ist nicht ersichtlich. 110 OLG Stuttgart FamRZ 1983, 68 f v . 15.09.1982. Die Ehefrau lebte mit den fünf gemeinsamen Kindern fünf Jahre allein im Eigenheim des Ehemanns, der mit Stellung des Scheidungsantrages aus seinem Haus ausgezogen war. Drei Jahre nach dem Auszug wurde die Ehe rechtskräftig geschieden und die elterliche Gewalt über die fünf Kinder der Ehefrau übertragen. Zwei Jahre später erfolgte die Rückgabe des Hauses an den Ehemann. Dieser machte nunmehr wegen mutwilliger Beschädigungen des Hauses durch die gemeinsamen Kinder Ansprüche gegen seine geschiedene Ehefrau geltend. Er trug dabei keine Anhaltspunkte vor, wonach die Schäden erst nach der Übertragung der elterlichen Gewalt auf die Ehefrau entstanden waren. 1,1 RGZ 65, 290 v. 14.03.1907; OLG Celle NJW-RR 1987, 1384 v. 01.07.1987; Staudinger! Belling/Eberl-Borges,
§ 832 Rn. 47; A. Fuchs, S. 114.
64
1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
besteht das erforderliche Dreipersonenverhältnis aus Aufsichtspflichtigem, Aufsichtsbedürftigem und Drittem.
b) Die Rechtsgutverletzung § 832 Abs. 1 S. 1 BGB statuiert eine Haftung des Aufsichtspflichtigen gegenüber dem geschädigten Dritten nur, wenn die zu beaufsichtigende Person eines der in § 823 Abs. 1 BGB besonders erwähnten Lebensgüter, das Eigentum oder ein sonstiges Recht des Dritten durch eine Handlung verletzt, setzt also die Verwirklichung des Tatbestandes einer unerlaubten Handlung nach §§ 823-826 BGB voraus 112 . Somit haften die Aufsichtspflichtigen nur für Schäden, die im Rahmen der Vorschriften der unerlaubten Handlung erstattungsfahig sind, mithin nicht für reine Vermögensschäden. So hat der das Kind verletzende Schädiger gegen den Aufsichtspflichtigen keinen Regressanspruch aus § 832 BGB für seine Haftung gegenüber dem Kind; die Vorschrift schützt nicht unerlaubt handelnde Dritte gegen Vermögensnachteile bei der Inanspruchnahme durch den Aufsichtsbedürftigen 113 . Da die Haftung von aufsichtspflichtigen Personen in § 832 BGB eine besondere Regelung gefunden hat, handelt es sich bei der Vorschrift auch nicht um ein Schutzgesetz i. S. d. § 823 Abs. 2 BGB 1 1 4 .
c) Zurechenbare Schadensverursachung Das Verhalten des Aufsichtsbedürftigen muss den eingetretenen Schaden äquivalent und adäquat verursacht haben. Es genügt, wenn der Aufsichtsbedürftige für eine Handlung nach § 830 Abs. 1 S. 2 BGB haftbar gemacht wird 1 1 5 oder sich seine Tatbeteiligung in psychischer Beihilfe zur schadensver-
112
RGZ 53, 312 (314 0 v. 19.01.1903; OLG München VRS 79 Nr. 125, S. 334 (336) v. 21.09.1989; Mayr, SeuffBl 1906, 109 (111); RGRKIKreft, § 832 Rn. 27. 1,3 OLG Oldenburg VersR 1975, 66 v. 05.03.1974; OLG Hamm NJW 1993, 542 v. 20.01.1992; Gcigd/Rixecker, Kap. 3, Rn. 23; Wussow/Ä^z, Rn. 555; Pardey, ZfS 2002, 264 (269). 114 RGZ 53, 312 (314) v. 19.01.1903 (wobei es auf S. 314, vorletzter Abs. a. E., statt § 823 vielmehr § 832 heißen muss); OLG Nürnberg OLGZ 30, 68 v. 23.05.1914; PalandX/Thomas, § 823 Rn. 153; MünchKomm/M?rte>w, § 823 Rn. 198; Wussow/Kuntz, Rn. 542. 115 OLG Stuttgart LZ 1914 Nr. 3, S. 596 v. 09.01.1914; GdgdlHaag, Rn. 39; Schlegelmilch, ZAP Fach 2, S. 121 (126), III 1; Pardey, DAR 2001, 1 (2). Deerberg (S. 92 f) spricht von einer „kumulierten Beweislastumkehr", da der Geschädigte nur beweisen müsse, dass die Kindeshandlung den Erfolg hätte herbeiführen können. Allen anderen Nachweisen sei er durch gesetzliche Vermutungen enthoben.
§ 1 Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 832 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 BGB
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ursachenden Tathandlung eines anderen Minderjährigen erschöpft 116 . Neben der Kausalität i. S. der conditio sine qua non bedarf es der Adäquanz als weiteres Zurechnungskriterium, um eine extensive Ausweitung der Schadensersatzpflicht zu verhindern 117 .
aa) Das Adäquanzerfordernis Der Filter der Adäquanz ist allgemein als Ausgrenzung derjenigen Kausalverläufe anerkannt, die dem Verantwortlichen billigerweise rechtlich nicht mehr zugerechnet werden können. Adäquat ist eine Bedingung dann, wenn das Ereignis im Allgemeinen und nicht nur unter besonders eigenartigen, unwahrscheinlichen und nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge außer Betracht zu lassenden Umständen geeignet ist, einen Erfolg dieser Art herbeizuführen 118. Der Verletzungserfolg im Rahmen des § 832 BGB muss deshalb nicht die unmittelbare Folge des Verhaltens des aufsichtsbedürftigen Schädigers sein 119 . Es genügt, wenn der Aufsichtsbedürftige zum Verletzungserfolg eine, wenn auch entfernte Ursache gesetzt hat, insoweit der Schadensverlauf nicht ganz außerhalb dessen liegt, womit nach der Lebenserfahrung gerechnet werden kann 120 .
116
BGHZ 111, 282 (284 f) (= LM Nr. 18 zu § 832 BGB = NJW 1990, 2553 [2554]) v. 29.05.1990: Dabei reicht aber die bloße Anwesenheit bei der Verwirklichung rechtswidriger unerlaubter Handlungen Dritter nicht aus, um von einer psychisch vermittelten Tatbeteiligung ausgehen zu können. Erforderlich ist vielmehr, dass über das wertneutrale Verhalten der Anwesenheit hinaus ein zusätzliches Element hinzukommt, das auf eine psychische Tatbeteiligung schließen lässt, nämlich eine Solidarisierung mit dem Täter durch Äußerung von Anerkennung, Beifall, Billigung, Aufmunterung, Beseitigung von Hemmungen, Erhöhung des Sicherheitsgefuhls oder auch nur die Versicherung der Verbundenheit mit dem Täter. 1.7 RG LZ 1918 Nr. 10, S. 501 v. 10.12.1917. 1.8 BGHZ 57, 137 (141) v. 14.10.1971; 79, 259 (261) v. 27.01.1981; BGH NJW 1995, 126 (127) v. 04.07.1994; 1998, 138 (140) v. 09.10.1997. 1.9 Staudinger/Belling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 48; Geigei ¡Haag, Kap. 16, Rn. 40; Scheffen/Pardey, Rn. 124; Eckert, S. 162; Berning/Vortmann, JA 1986, 12(16). 120 RG SeuffA 77 Nr. 75, S. 132 (133) v. 26.01.1922; BGH LM Nr. 8a zu § 832 BGB (= VersR 1966, 368) v. 01.02.1966. Im Fall des RG hatte der lö^-jährige Sohn des beklagten Vaters sein Flobertgewehr an seinen Spielgefährten weitergegeben, der den Kläger durch einen Schuss verletzte. Das RG führte aus, einer Inanspruchnahme des Vaters stehe nicht entgegen, dass seinem Sohn nur die Mitnahme und vorsätzliche oder fahrlässige Überlassung oder auch nur Zugänglichmachung der Waffe an seinen Kameraden zur Last falle. Es genüge, wenn der Sohn eine, wenn auch entfernte, Ursache zur Schadenszufügung gesetzt habe. In der BGH-Entscheidung hatte der 12-jährige Sohn des beklagten Vaters einen gefährlichen Wurfpfeil seinem 6-jährigen Spielkameraden C mit der Weisung überlassen, diesen nicht weiterzugeben. Ein gleichaltriger Kamerad verletzte mit dem Wurfpfeil den 3jährigen Kläger am Auge. Der BGH bejahte die Haftung des Vaters aus § 832 Abs. 1 S. 1 BGB. Ein adäquater Zusammenhang liege auch dann vor, wenn der 6-jährige C den
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
So nahm das OLG Düsseldorf einen adäquaten Kausalzusammenhang zwischen der Verursachung eines „Beinahe-Unfalls" durch einen 214-Jährigen und dem etwa 40 Minuten später eintretenden Herztod eines Autofahrers an 121 . Legt ein 4-Jähriger einen Brand, so verursacht er damit adäquat und widerrechtlich die Verletzung der Personen, die sich durch einen Sprung aus dem Fenster vor dem Feuer retten. Denn ein solcher Hergang liegt nach Ansicht des OLG Düsseldorf nicht außerhalb jeder Wahrscheinlichkeit, sondern nahe 122 . In einer Entscheidung des LG Kleve hatte ein 4-Jähriger am Arbeitsplatz seiner Mutter deren Computer ausgeschaltet. Es kam zu einem Programmabsturz. Hierbei wurden Programm und Dateien beschädigt. Diese mussten neu erstellt bzw. repariert werden, da die klagende Firma keine Sicherungskopien gefertigt hatte. Das LG wies deren Klage gegen die Eltern auf Erstattung der entstandenen Programmierkosten ab. Dem Sohn könne der von ihm objektiv kausal verursachte Schaden wegen mangelnder Sozialadäquanz nicht zugerechnet werden, weil die geschädigte Klägerin es unterlassen habe, sich durch Anfertigung der üblichen Sicherungskopien gegen derartige Schadensfolgen abzusichern 123.
Pfeil an seinen gleichaltrigen Spielkameraden weitergegeben oder dieser ihm den Pfeil im Spieleifer abgenommen und dann auf den Kläger geworfen habe. Ein solcher Verlauf liege nicht ganz außerhalb dessen, womit nach der Lebenserfahrung als mögliche Folge der Übergabe des Pfeils an C gerechnet werden müsse. Entgegen Pardey (DAR 2001, 1 [2]) verneint das OLG Oldenburg (VersR 1987, 915 L = r+s 1987, 224 v. 07.07.1987) nicht die Ursächlichkeit der Kindeshandlung für den Schaden - ein knapp 7-Jähriger hatte Streichhölzer an einen gleichaltrigen Spielkameraden weitergegeben, der damit einen Brand verursachte - sondern die Ursächlichkeit einer etwaigen Aufsichtspflichtverletzung der Eltern für den Schaden. 121 OLG Düsseldorf VersR 1992, 1233 (1234) v. 15.11.1991. Der 2,/a-jährige K ging mit seiner Mutter auf dem Bürgersteig. Der später verstorbene Ehemann S der Klägerin fuhr mit seinem Auto auf der schneeglatten Fahrbahn, als K von rechts auf die Fahrbahn lief. S bremste und brachte das Auto zum Stehen, ohne das Kind zu verletzen. Ca. 40 min später verlor er während der Fahrt plötzlich das Bewusstsein, kam von der Fahrbahn ab, prallte gegen einen Baum und verstarb. Das OLG sah den Tod des S als adäquat kausale Folge des von K verursachten Unfallgeschehens an. Es sei keineswegs außergewöhnlich oder gänzlich unwahrscheinlich, dass ein herzkranker Autofahrer, der vor einem Kleinkind plötzlich anhalten muss und dabei den Schrecken erlebt, eine tödliche Gefahr für einen Dritten abwenden zu müssen, in solche Erregung gerät, dass er daran stirbt. Auch sei das Zusammenwirken aller ursächlich gewordenen Faktoren keineswegs so außergewöhnlich, dass der eingetretene Tod nicht mehr als adäquate Folge des ersten Unfallgeschehens angesehen werden könne. 122 OLG Düsseldorf VersR 1983, 89 v. 14.04.1981. 123 LG Kleve JurPC Web-Dok. 66/1998, Abs. 15 f v. 23.03.1990.
§ 1 Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 832 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 BGB
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bb) Das Urteil des BGH v. 10.10.1967 Nachfolgendes BGH-Urteil 124 ist bezüglich der Interpretation des Tatbestandes sowie der rechtlichen Zuordnung der die Entscheidung tragenden Erwägungen bis heute umstritten. Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der Student S befuhr mit dem Pkw der Klägerin außerhalb der geschlossenen Ortschaft eine über 10 m breite vielbefahrene Straße. Auf der rechten Seite der Fahrbahn nahmen zwei Straßenbahngleise in Fahrtrichtung des S fast die ganze rechte Straßenseite ein. Auf dem der Straßenmitte zugewandten Schienenpaar stand eine Straßenbahn an der Endhaltestelle, welche die rechte Straßenhälfte gegen den Kraftfahrzeugverkehr abriegelte. In Höhe der stehenden Straßenbahn überquerte der 4-jährige Sohn der Beklagten mit einem Puppenwagen die Gleise von rechts nach links. Er blieb auf dem linken Gleis stehen, als er das herankommende Kraftfahrzeug des S bemerkte. S bremste, als er den 4Jährigen sah. Der Wagen geriet ins Schleudern, prallte gegen eine Mauer und wurde schwer beschädigt. Die Klägerin nahm die Eltern auf Ersatz des hälftigen Unfallschadens wegen Verletzung ihrer Aufsichtspflicht in Anspruch. Diese wandten ein, ihr Sohn habe sich verkehrsgerecht verhalten, weil er bei Erreichen des von Straßenbahngleisen frei gelassenen Fahrbahnraumes stehen geblieben sei. Auch wäre niemand zu Schaden gekommen, wenn S ohne zu bremsen geradeaus weitergefahren wäre. Der BGH verurteilte die beklagten Eltern - wie bereits die Vorinstanz - antragsgemäß aus § 832 Abs. 1 S. 1 BGB. Der Schwerpunkt der tragenden Erwägungen lag dabei auf der adäquaten Unfallverursachung durch den 4-Jährigen, die der BGH bejahte. Eine objektiv zurechenbare Verursachung liege demnach vor, wenn ein Kraftfahrer, um ein sich verkehrswidrig verhaltendes Kind nicht zu verletzen, Maßnahmen ergreife, durch die er selbst zu Schaden komme. Im Hinblick auf die Unberechenbarkeit des Verhaltens von Kleinkindern, welches schon das Betreten der Fahrbahn als widerrechtlich erscheinen lasse, durfte der Kraftfahrer nicht darauf vertrauen, das Kind werde vor Verlassen des Gleisbereiches stehen bleiben und ihn vorbeifahren lassen. Das äußerlich gleiche Verhalten eines Erwachsenen und eines Kleinkindes könne in verkehrsrechtlicher Sicht verschieden beurteilt werden. Bei einem Erwachsenen dürfe auf ein verkehrsgerechtes Verhalten vertraut werden solange nicht besondere Umstände dagegen sprächen. Hingegen sei bei einem Kleinkind grundsätzlich ein unbesonnenes Verhalten in Rechnung zu stellen. Für die Adäquanz der durch das kindliche Verhalten gesetzten Unfallursache sei bedeutungslos, ob die Maßnahmen des Kraftfahrers zur Abwendung der Gefahr erforderlich waren. Dass bei einer gefahrträchtigen Lage rasche Entschlüsse zu fassen seien, liege inner-
124 BGH LM Nr. 8b zu § 832 BGB (= VersR 1967, 1186 = FamRZ 1968, 28 = NJW 1968, 249) v. 10.10.1967.
1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
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halb der Vorhersehbarkeit. Aufgrund der konkreten Gegebenheiten - breite Ausfallstraße mit schnellem Kraftverkehr, Straßenbahnendhaltestelle als besondere Gefahrenquelle - und im Hinblick auf das Alter hätten nach Ansicht des BGH die Eltern ihrem Kind das Überschreiten dieser Straße ohne Begleitung Erwachsener allgemein verbieten müssen. Mit dem Betreten der Straße habe sich das Kind deshalb verkehrswidrig (= rechtswidrig) verhalten 125 . Das Urteil knüpft konsequent an die vorhergehende Rechtsprechung des BGH an, die vom gesetzlichen Konzept des Erfolgsunrechts bei der Feststellung der Rechtswidrigkeit ausgeht126. Danach genügt bei einem Verkehrsunfall der Verletzte seiner Darlegungs- und Beweislast mit dem Nachweis, dass der Verrichtungsgehilfe - für den Fall des § 831 BGB - eines seiner durch § 823 Abs. 1 BGB absolut geschützten Schutzgüter beschädigt hat. Zwar erkennt diese Rechtsprechung gerade für den Bereich des Straßen- und Eisenbahnverkehrs an, dass bei verkehrsrichtigem Verhalten des Gehilfen kein Raum für den Vorwurf ist, er habe i. S. v. § 831 BGB den Geschädigten widerrechtlich verletzt, auch wenn er den Verkehrsunfall mitverursacht hat. Andererseits soll aber die Last der Aufklärung zur Verkehrsrichtigkeit des Gehilfenverhaltens den Geschäftsherrn treffen. Die Tatbestandsmäßigkeit des § 823 Abs. 1 BGB indiziert somit die Rechtswidrigkeit des Eingriffs; der Einwand des Eingreifenden, er habe sich nach den Regeln der Straßenverkehrsordnung, d. h. verkehrsrichtig, verhalten, wird insoweit dem Einwand eines Rechtfertigungsgrundes gleichgestellt, für den der Schädiger darlegungs- und beweisbelastet ist. Im gegenständlichen Sachverhalt war nach Ansicht des BGH aber gerade kein verkehrsrichtiges Verhalten des 4-jährigen Kindes gegeben, da es die 10 m breite Ausfallstraße allein betreten hatte, ohne den daraus resultierenden Gefahren gewachsen zu sein. Die Einordnung des Betretens der Fahrbahn als rechtwidriges Verhalten des 4-Jährigen ist jedoch heftig umstritten und wird von der überwiegenden Mehrheit im Schrifttum abgelehnt. In seiner kritischen Urteilsanmerkung vertritt Ganschezian-Finck die Ansicht, die Ausweichbewegung des Kraftfahrers sei nicht auf das Verhalten des Kindes zurückzuführen. Er wirft dabei auch die Frage auf, bis zu welchem Alter die Anwesenheit eines unbeaufsichtigten Kin-
125
BGH LM Nr. 8b zu § 832 BGB (= VersR 1967, 1186 f) v. 10.10.1967. Für § 832 BGB: BGH DAR 1954, 298 v. 29.09.1954. Das OLG Köln (FamRZ 1994, 831 [832] v. 05.05.1993) führte zur Verletzung eines 7,/2-Jährigen durch seinen knapp 11-jährigen Spielkameraden mittels eines Dartpfeils aus, grundsätzlich genüge es für die Rechtswidrigkeit, dass der eingetretene Erfolg des Handelns von der Rechtsordnung missbilligt werde. Allgemein: BGHZ 24, 21 ff v. 04.03.1957; 39, 103 (108) v. 12.02.1963. Das ist auch heute noch die vorherrschende Auffassung der Rechtsprechung, so BGH NJW-RR 1987, 1048 f v. 28.04.1987; NJW 1996, 3205 (3207) v. 12.07.1996. 126
§ 1 Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 832 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 BGB
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des im Straßenraum verkehrswidrig sein soll 1 2 7 . Scheffen/Pardey leiten aus den Erwägungen des BGH her, dieser halte die bloße Anwesenheit eines 4-Jährigen auf der Straße für rechtswidrig 128 . M. Schmid sieht in ihnen ein generelles Verbot zum Überschreiten vielbefahrener Straßen für 4-Jährige 129 . Dahlgrün 130 und Schoof 131 sind der Auffassung, der BGH leite die Rechtswidrigkeit der Kindeshandlung nicht aus der Handlung selbst, sondern aus dem geringen Alter des Kindes ab. Entgegen diesen verallgemeinernden Stimmen hat der BGH die Verkehrswidrigkeit nicht allein am Alter des Schädigers festgemacht. Vielmehr führten neben dem Alter die konkreten gefahrbegründenden Gegebenheiten der Straße den BGH dazu, das unbeaufsichtigte Betreten als verkehrswidrig einzuordnen. 132 A. Fuchs kommt zu dem Schluss, der BGH habe das Verhalten des Kindes nicht deshalb als rechtswidrig eingestuft, weil es sich rechtswidrig auf die Straße begab, sondern weil das Kind dem Kraftfahrer Anlass zur Besorgnis gab, es werde sich nicht verkehrsgerecht verhalten 133 . Das ist unzutreffend. Es 127
Ganschezian-Finck, NJW 1968, 641 f. Sein Verständnis des Urteils ist demnach, der BGH habe eine feste Altersgrenze aufstellen wollen, bis zur deren Erreichen der unbeaufsichtigte Aufenthalt auf der Straße generell verkehrswidrig sei. Ganschezian-Finck wirft auch die Frage auf, ob die Verletzung der Aufsichtspflicht der Eltern - indem sie ihr Kind allein diese Straße überqueren ließen - für den Unfall ursächlich war. Die Eltern hätten nach Ansicht des BGH durch Begleitung des Kindes ihre Aufsichtspflicht erfüllt. Der Unfall hätte sich aber in gleicher Weise ereignet, wenn der Kraftfahrer die Eltern dabei nicht wahrgenommen hätte. 128
Scheffen/Pardey,
Rn. 123.
129
M. Schmid, VersR 1982, 822 (824). 130 Dahlgrün, S. 64 f. Dabei lässt sie jedoch vollständig die mit der Überquerung der konkreten Straße verbundenen Gefahren außer Betracht. 131 Schoof, S. 44 Fn. 113. Irrtümlich spricht Schoof dabei von einer Tochter. 132 So auch Aden (S. 151) und Albilt (S. 111). Albilt hebt die starke Frequentierung der Straße hervor und hält die Begleitung geeigneter Aufsichtspersonen für unerlässlich, wendet sich aber gegen die Einschränkung des BGH auf Erwachsene. 133 A. Fuchs, S. 108. Unzutreffend ist auch die Kritik von A. Fuchs (S. 108 Fn. 73) an Staudinger/Sc/iö/er, 12. A., § 832 Rn. 45. Schäfer formuliert dort, das Kind habe die Fahrbahn einer belebten Straße betreten bzw. verkehrswidrig die Fahrbahn betreten (so auch Staudinger/Belling/Eberl-Borges,
§ 832 Rn. 48; Eckert,
S. 163; Scheffen/Pardey,
Rn. 123 „bloße Anwesenheit auf der Straße"; Dahlgrün, S. 64, „die Straße bis zur Mitte überquert"; Pardey, DAR 2001, 1 [4 Fn. 47] „bereits begonnen ... die Straße zu überqueren"). A. Fuchs ist der Meinung, der BGH habe offengelassen, ob sich das Kind bereits auf der Straße befunden habe. Der BGH führt jedoch (in VersR 1967, 1186, am Anfang des letzten Abs.) aus: „Unbestritten befand sich das Kind, als S es erblickte, im Bereich der Straßenbahngleise, die nicht auf einem besonderen Gleiskörper verlegt waren; es bewegte sich also bereits auf der Fahrbahn. Selbst wenn man den 4,50 m breiten Gleiskörper nicht zur Fahrbahn rechnen wollte, so strebte das Kind doch, als es S wahrnahm, schnellen Schrittes dem Fahrbahnbereich außerhalb der Gleise zu. ... er (Anm.: der Fahrer) mußte vielmehr, wie dargelegt, ein weiteres zügiges Überschreiten der Fahrbahn über den Gleisbereich hinaus in Rechnung stellen ..." Der BGH ging somit von einem Betreten der Straße aus, stellte jedoch auch noch zusätzlich Hilfserwägungen an.
1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
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handelt sich entgegen A. Fuchs dabei ausschließlich um Adäquanzbetrachtungen, was auch durch die Formulierung des BGH „... und dadurch eine adäquate Unfallverursachung gesetzt hat 1 3 4 " deutlich wird. Zuzugeben ist den Kritikern der Entscheidung, dass es sich um ein hartes Urteil handelt, welches - da Eltern für die Unberechenbarkeit des Verhaltens ihres Kindes einstehen mussten Tendenzen zu einer Gefährdungshaftung aufweist 135 . Auch wäre die Kritik an diesem Urteil sicher schwächer ausgefallen, wenn der BGH §§ 670, 683 BGB als Anspruchsgrundlage - wie in einer vorhergehenden Entscheidung136 - geprüft hätte 137 . Belling/Eberl-Borges 138 und Eckert 139 stimmen dem BGH sowohl in seinen Adäquanzbetrachtungen als auch der Einordnung des Betretens der Fahrbahn als widerrechtlich zu. Diese Bewertung des Urteils ist vorzugswürdig. Zudem ist es fraglich, ob der Fall in der Rechtsprechung heute anders entschieden würde. Nach § 3 Abs. 2a StVO haben Fahrzeugführer die 134
BGH LM Nr. 8b zu § 832 BGB (= VersR 1967, 1187 [1188]) v. 10.10.1967 a. E. der Ausführungen zu I. 135 So Jayme, S. 152. Ähnlich die Anm. d. Red. d FamRZ (FamRZ 1968, 29), in der die Eltern als Konsequenz aus dem Urteil als „Kinderhalter" bezeichnet werden. Deerberg (S. 22 f) sieht durch das Urteil die Grenzlinie zwischen Verschuldens- und Gefährdungshaftung verwischt und die Haftung für vermutetes eigenes Verschulden mit einer objektiven Einstandspflicht gleichgestellt. 136 BGH LM Nr. 5 zu § 832 BGB, abgedruckt als LM Nr. 5 zu § 683 BGB (= VersR 1957, 340) v. 19.03.1957. Der 5-jährige Sohn des Beklagten spielte - unter gelegentlichen Blicken seiner Mutter - auf dem 5 m breiten Gehweg einer Großstadt und lief plötzlich zwischen parkenden Autos hindurch über die Straße, was einen Kraftfahrer zu Ausweichbewegungen veranlasste. Dabei wurde der Wagen beschädigt. Der BGH verneinte eine Aufsichtspflichtverletzung, da das Spielen an anderer Stelle in der Stadt der Mutter die Einwirkungsmöglichkeit auf das Kind vollständig entzogen hätte. Die Möglichkeit zum Spiel im Freien müsse aber für einen 5-Jährigen erhalten bleiben. Der Senat sah es deshalb als ausreichend an, dass die Eltern sich nachhaltig um die Verkehrserziehung des Kindes kümmerten und die Einhaltung der erteilten Weisungen - ausdrückliches Verbot die gegenständliche Straße zu betreten - überprüften. Auf den angerissenen Anspruch aus §§ 670, 683 BGB ging der BGH inhaltlich aber nicht ein, da der Kläger den Entlastungsbeweis aus § 7 Abs. 2 StVG nicht geführt hatte. Der entscheidende Unterschied zum Urteil des BGH v. 10.10.1967 besteht darin, dass hier die Eltern dem 5-Jährigen die Überquerung der Straße ausdrücklich verboten hatten, hingegen in der Entscheidung v. 10.10. 1967 (= LM Nr. 8b zu § 832 BGB [= VersR 1967, 1187 {1188}] v. 10.10.1967) ein solches Verbot für die gegenständliche Straße gerade nicht erlassen hatten. Das wird von den Kritikern der Entscheidung v. 10.10.1967, welche den Vergleich zum Urteil v. 19.03.1957 ziehen, nicht hinreichend oder überhaupt nicht berücksichtigt (Dahlgrün, S. 64; Anm. d. Red. d. FamRZ, FamRZ 1968, 29). 137
So A. Fuchs, S. 109; Dahlgrün, S. 64 Fn. 2; Anm. d. Red. d FamRZ, FamRZ
1968, 29. A. Fuchs verweist aber auch darauf, dass den BGH möglicherweise praktische Erwägungen - nämlich der Bestand einer Haftpflichtversicherung der beklagten Eltern zur Wahl der Haftungsbegründung über § 832 BGB veranlassten. Denn die Haftpflichtversicherung hätte nur den Schaden im Falle einer Verurteilung aus § 832 BGB nicht hingegen bei einer aus §§ 670, 683 BGB getragen. 138 139
Staud'mger/Belling/Eberl-Borges, Eckert, S. 163.
§ 832 Rn. 48.
§ 1 Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 832 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 BGB
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Gefährdung von Kindern insbesondere durch Verminderung der Fahrgeschwindigkeit und durch Bremsbereitschaft auszuschließen. Das verlangt von dem Fahrer das Äußerste an Vorsicht, Umsicht und Rücksicht, die höchstmögliche Sorgfalt und soll auch der eigenen Unvorsichtigkeit der Kinder begegnen. Dabei sind Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahrs geschützt140. Doch gilt auch gegenüber Kindern der Vertrauensgrundsatz. Danach muss ein Fahrzeugfuhrer besondere Vorkehrungen für seine Fahrweise nur dann treffen, wenn das Verhalten der Kinder oder die Situation, in der sie sich befinden, Auffälligkeiten zeigt, die zu einer Gefährdung führen können 141 . Eine solche Situation nahm der BGH in einer Entscheidung v. 05.05.1992 an, als sich auf dem Gehweg ein fast 5-jähriges Kind von seiner Mutter löste und selbstständig in Richtung Fahrbahn l i e f 4 2 . Das OLG Bamberg befand mit Urteil v. 31.03.1992, ein Kraftfahrer müsse sich bei Kindern bis zum Alter von sechs Jahren grundsätzlich auf verkehrswidriges und unvorsichtiges Verhalten einrichten 143 . Und nach einem BGH-Urteil v. 25.09.1990 kann ein Kraftfahrer auch bei einem schon 7-jährigen Kind erst auf ein verkehrsgerechtes Verhalten vertrauen, wenn das kindliche Verhalten, z. B. nach einem Blickkontakt, den verlässlichen Schluss erlaubt, das Kind habe das herannahende Fahrzeug wahrgenommen und werde warten 144 . Lässt man diese Grundsätze in die Prüfung der Aufsichtspflicht im Rahmen von § 832 BGB einfließen, wäre in der umstrittenen Entscheidung des BGH auch heute eine Haftung der Eltern aus § 832 Abs. 1 BGB zu bejahen145.
140
141
Scheffen/Pardey,
Rn. 174, 176 m. w. N.
BGH VersR 1992, 890 f v. 05.05.1992; NJW 1994, 941 v. 21.12.1993; 1997, 2756 v. 01.07.1997; DAR 2001, 33 v. 10.10.2000; KG DAR 1999, 115 (119) v. 10.11.1997; OLG Köln VersR 2002, 209 v. 22.11.2000. 142 BGH VersR 1992, 890 f v. 05.05.1992. 143 OLG Bamberg VersR 1993, 898 (899) v. 31.03.1992. Das OLG Düsseldorf (VRS 63, Nr. 117, S. 257 [258] v. 23.04.1982) wendete diesen Grundsatz auch auf 7-jährige Kinder an. 144 BGH VersR 1990, 1366 v. 25.09.1990. 145 Hingegen verneinte das OLG München mit Urteil v. 21.09.1982 unter Kausalitätsgesichtspunkten die Unfall Verursachung eines auf der Straße laufenden 21/2jährigen Kindes (OLG München VRS 79 Nr. 125, S. 334 [338] v. 21.09.1989). Die klagende Versicherung nahm die Mutter einer 2l/2-jährigen Tochter für an diese erbrachte Leistungen in Regress. Der Versicherungsnehmer der Klägerin hatte die Tochter auf der Straße mit seinem Auto erfasst und schwer verletzt. Das OLG lehnte eine unerlaubte Handlung des Kindes mangels Beweis für ein verkehrswidriges Verhalten ab. Wenn sich das Kind wie ein erwachsener Verkehrsteilnehmer erlaubtermaßen und verkehrsgerecht am Straßenrand bewegte und dort von dem Pkw erfasst wurde, könne aus diesem Verhalten eine Schadensersatzpflicht der Mutter gegenüber dem Kind nicht hergeleitet werden.
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
d) Subjektive Tatbestandselemente Umfasst der Tatbestand der unerlaubten Handlung auch subjektive Tatbestandselemente, so muss der Aufsichtsbedürftige diese im „natürlichen Sinn" verwirklichen. Die bloße objektive Vermögensbeschädigung genügt nicht 146 . Erforderlich ist somit bei einem Betrug gemäß §§ 823 Abs. 2 BGB i. V. m. 263 StGB die Absicht des Aufsichtsbedürftigen, sich einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, und bei einer sittenwidrigen Schädigung nach § 826 BGB die Kenntnis der die Sittenwidrigkeit begründenden Tatumstände.
2. Rechtswidrigkeit Die Rechtswidrigkeit der unerlaubten Handlung des Aufsichtsbedürftigen wird durch die Schadenszufügung indiziert. Sein Handeln ist rechtswidrig, wenn ihm kein Rechtfertigungsgrund zur Seite steht 147 .
3. Verschulden Es ist nicht erforderlich, dass der Aufsichtsbedürftige bei der rechtswidrigen Schadenszufügung schuldhaft gehandelt hat 148 . Normzweck ist es gerade, die Verantwortlichkeit der Aufsichtspflichtigen zu gewährleisten, wenn die Haftung des Schädigers nach §§ 827, 828 Abs. 1 BGB wegen Deliktsunfähigkeit oder nach § 828 Abs. 2 BGB wegen fehlender Einsichtsfähigkeit bzw. mangels 146 RG HRR 1929 Nr. 705 v. 03.01.1929; Palandt/Thomas, § 832 Rn. 10; Eckert, S. 162. Das RG (Warn 1909 Nr. 484, S. 462 v. 07.06.1909) hatte ursprünglich die Anwendbarkeit des § 831 BGB für ausgeschlossen erklärt, wenn das Handeln des Verrichtungsgehilfen erst durch die subjektive Willensrichtung rechtswidrig wird, wie bei § 826 BGB und §§ 823 Abs. 2 BGB i. V. m. 263 StGB. Diese Ansicht hat das RG (JW 1911 Nr. 27, S. 584 v. 12.04.1911) später in einer erneuten Entscheidung zu § 831 BGB aufgegeben. A. A. A. Fuchs (S. 111 f), der eine Haftung der Eltern aus § 832 BGB bejaht, wenn das Fehlen des subjektiven Tatbestandes auf der Unzurechnungsfähigkeit des Minderjährigen beruht. Er verweist zur Begründung auf die h. M. zu § 829 BGB, wonach die subjektiven Tatbestandsmerkmale nicht vorliegen müssen, falls gerade die Unzurechnungsfähigkeit den Schaden verursacht hat. Parallel zu § 829 BGB gelte aber auch für § 832 BGB die Einschränkung, dass die Haftung der Eltern entfalle, wenn der Schaden nicht aufgrund der Minderjährigkeit entstanden sei. 147 BGH DAR 1954, 298 v. 29.09.1954; Staudinger/Belling/Eberl-Borges, §832 Rn. 139. 148 RGZ 50, 60 (65) v. 30.12.1901; 53, 312 (315) v. 19.01.1903; BGHZ 111, 282 (284) (= LM Nr. 18 zu § 832 BGB = NJW 1990, 2553 [2554]) v. 29.05.1990; KG MDR 1997, 840 v. 03.03.1997; OLG Celle FamRZ 1998, 233 v. 12.02.1997.
§ 1 Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 832 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 BGB
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sorgfaltswidriger Verkennung der Gefährlichkeit der unerlaubten Handlung ausgeschlossen ist 149 . Handelt der Aufsichtsbedürftige auch schuldhaft, bleibt davon die Haftung aus § 832 BGB unberührt. Er haftet neben dem Aufsichtspflichtigen gemäß § 840 Abs. 1 BGB als Gesamtschuldner, muss aber intern grundsätzlich den Schaden allein tragen, § 840 Abs. 2 BGB 1 5 0 .
149 150
Staudinger/Belling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 51. Ermtm/Schiemann, § 832 Rn. 2.
1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
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§ 2 Die Analyse der Aufsichtsformel Liegen die Voraussetzungen des § 832 Abs. 1 S. 1 BGB vor, greifen die drei Vermutungswirkungen der Norm. Gemäß § 832 Abs. 1 S. 2 BGB wird vermutet, der Aufsichtspflichtige habe eine Aufsichtspflichtverletzung begangen, diese Aufsichtspflichtverletzung sei kausal für die schädigende Handlung des Aufsichtsbedürftigen gewesen und der Pflichtige habe seine Aufsichtspflicht schuldhaft verletzt. Diese Beweislastverteilung beantwortet jedoch nicht die materielle Frage, was die Aufsichtspflicht der Eltern im Einzelnen umfasst 151. Den beklagten Eltern stehen somit auch drei Entlastungsmöglichkeiten zur Verfügung, um der Haftung aus § 832 BGB zu entgehen. In der Mehrzahl der veröffentlichten Urteile bildet die Prüfung der Entlastungsmöglichkeit nach § 832 Abs. 1 S. 2 F 1 BGB den Kern der Entscheidungsgründe. Dabei subsumieren die Gerichte unter die von den beklagten Eltern vorgetragenen und bewiesenen Tatsachen, ob diese ihrer Aufsichtspflicht genügt haben. Fraglich ist aber, welcher Maßstab bei der Prüfung der gehörigen Erfüllung der Aufsichtspflicht anzulegen ist. § 832 Abs. 1 BGB spricht zwar von „Aufsicht", „Beaufsichtigung", „Genügen der Aufsichtspflicht" und „gehöriger Aufsichtsführung". Die Vorschrift enthält aber weder eine Legaldefinition für die gebotene Aufsichtspflicht noch stellt sie Kriterien auf, die bei der Subsumtion herangezogen werden können. Das Kernproblem der Norm besteht deshalb darin, über eine fast unüberschaubare Kasuistik hinaus, einen Maßstab für die gehörige Erfüllung der Aufsichtspflicht aufzustellen, mithin diese zu definieren 152.
I. Die Entwicklung der Aufsichtsformel Eine Vielzahl der veröffentlichten Entscheidungen des letzten Jahrhunderts enthält keinerlei Definition für die Bestimmung der Aufsichtspflicht. Jedoch lässt sich anhand der höchstrichterlichen Rechtsprechung und den Urteilen der Instanzgerichte eine grobe Linie für die Bestimmung der Aufsichtspflicht nachzeichnen.
151 152
Medicus, Gesetzliche Schuldverhältnisse, S. 58. Evmzn!Schiemann,
Rn. 861.
§ 832 Rn. 6; M.Fuchs,
S. 141; Medicus, Schuldrecht BT,
§ 2 Die Analyse der Aufsichtsformel
75
L Das RG Das RG stellte teilweise zur Bestimmung der Aufsichtspflicht über den Minderjährigen nur auf dessen Eigenschaften ab. So gestalte sich Art und Maß der Aufsicht nach den Umständen des einzelnen Falles verschieden je nach dem Alter, den Anlagen und Eigenschaften sowie der Entwicklung und Ausbildung des Aufsichtsbedürftigen 153. Umfassender bestimmte das RG den Maßstab der Aufsichtspflicht in anderen Entscheidungen. Der Maßstab für die an die Eltern zu stellenden Anforderungen sei in dem zu finden, was nach dem Alter und der Individualität der Kinder von verständigen Eltern in Berücksichtigung ihrer wirtschaftlichen Lage und ihrer Kräfte an Erziehung und Aufsicht erwartet werden kann 154 . Teilweise wurden bei der Definition noch ausdrücklich die Geschäfts- und Berufspflichten der aufsichtspflichtigen Eltern berücksichtigt 155 . Eine allgemeingültige wiederkehrende Definition der Aufsichtspflicht gab es in der Rechtsprechung des RG demnach nicht. Zutreffend bemerkte Mayr bereits 1906, feste Regeln über den Umfang der Aufsichtspflicht würden sich nicht aufstellen lassen. Es bleibe dem richterlichen Ermessen überlassen, im einzelnen Fall zu prüfen, ob der Aufsichtspflicht genügt wurde oder nicht. Dabei seien immer die Erziehung, die Eigenschaften des Kindes, die soziale Stellung und die wirtschaftliche Lage der Eltern zu berücksichtigen 156.
2. Die Entwicklung in der Bundesrepublik Nach dem zweiten Weltkrieg definierte erstmals das OLG Koblenz unter Bezug auf RGZ 98, 246 (248) die Maßstäbe der Aufsichtspflicht: Der Umfang der Aufsichtspflicht richte sich nach Eigenart des Kindes sowie der wirtschaftlichen Lage und den Kräften des Aufsichtspflichtigen; maßgebend sei, was verständige Eltern nach vernünftigen Anforderungen hätten tun müssen157. Diese Formulierung fand sich in leichten Abwandlungen in den nachfolgend veröf-
153 RGZ 52, 69 (73) v. 23.06.1902; RG JW 1926 Nr. 7, S. 1149 v. 01.03.1926; so auch OLG Zweibrücken SeuffA 57 Nr. 216, S. 404 v. 09.04.1902; 63 Nr. 114, S. 191 (192) v. 25.02.1908; OLG Dresden HRR 1940 Nr. 606 v. 28.12.1939. 154 RGZ 98, 246 (248) v. 15.03.1920; RG JW 1905 Nr. 21, S. 21 v. 03.11.1904; Sammlung sämtliche Erkenntnisse des RG in Zivilsachen 1905, VI. Senat Nr. 81, S. 374 v. 16.02.1905; Das Recht 1915 Nr. 525 v. 23.12.1914; SeuffA 88 Nr. 39, S. 78 (79) v. 19.10.1933; ebenso OLG Kiel OLGZ 2, 458 v. 29.04.1901; OLG Frankfurt/M. JW 1929 Nr. 4, S. 3024 v. 19.02.1929; OLG München HRR 1940 Nr. 1021 v. 22.01.1940. 155 RG Warn 1911 Nr. 241, S. 267 (269) v. 16.02.1911; so auch OLG Colmar OLGZ 12, 115 v. 21.06.1905; OLG Oldenburg SeuffA 75 Nr. 159, S. 282 v. 01.03.1919. 156 Mayr, SeuffBl 1906, 109(115). 157 OLG Koblenz VersR 1953, 369 v. 08.07.1953.
1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
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fentlichten Urteilen wieder 158 . Es wurden also bei der Bestimmung der Anforderungen an die Aufsichtspflicht auch die jeweiligen Verhältnisse der Eltern ausdrücklich berücksichtigt. Der BGH nahm in einem Urteil v. 19.03.1957 erstmals abstrakt zu den Anforderungen an die Aufsichtspflicht Stellung. Das Maß der erforderlichen Aufsicht bei Kindern sei entscheidend von deren persönlichen Eigenschaften und der von ihnen ausgehenden Gefährdung abhängig. Daneben müssen aber auch die persönlichen und wirtschaftlichen Lebensumstände des Aufsichtspflichtigen und die ihm gegebenen Aufsichtsmöglichkeiten Beachtung finden 159 . Die Verhältnisse des Aufsichtspflichtigen wurden in den Definitionen der darauf folgenden Urteile berücksichtigt, soweit die Gerichte eine solche ihren Ausführungen voranstellten 160. Prägnant formulierte der BGH 1962 zum Umfang der gebotenen Aufsicht: Das Maß der gebotenen Aufsicht bestimmt sich nach Alter, Eigenart und Charakter des Kindes sowie danach, was den Eltern in ihren jeweiligen Verhältnissen zugemutet werden kann. Entscheidend ist, was verständige Eltern nach vernünftigen Anforderungen unternehmen müssen, um die Schädigung Dritter durch ihr Kind zu verhindern 161 . Diese - nachfolgend als alte Formel bezeichnete - Definition verwandten die Gerichte in den sich anschließenden Urteilen 162 . Was unter den jeweiligen Verhältnissen zu verstehen ist, stellte noch einmal das LG Duisburg in einer Entscheidung deutlich heraus: Bei der Bestimmung des Aufsichtsumfangs seien die wirtschaftlichen und häuslichen Verhältnisse der Eltern und ihre beruflichen Verpflichtungen ange158
OLG München VersR 1954, 544 (546) v. 24.08.1954; OLG Köln VersR 1955, 347 (348) v. 11.03.1955; OLG Bremen VersR 1958, 64 v. 25.05.1956; LG Berlin VersR 1954, 439 v. 29.06.1954; LG München VersR 1955, 636 (637) v. 24.03.1955; LG Kiel VersR 1957, 812 v. 16.05.1957; AG Mellrichstadt VersR 1955, 464 v. 12.07.1954. 159 BGH LM Nr. 5 zu § 832 BGB, abgedruckt als LM Nr. 5 zu § 683 BGB (= VersR 1957, 340 [341]) v. 19.03.1957. 160 BGH VersR 1960, 355 (356) v. 26.01.1960; OLG München VersR 1958, 238 v. 28.05.1957; VersR 1962, 747 (748) v. 30.11.1961; OLG Köln FamRZ 1962, 124 (125) v. 31.10.1961. 161 BGH VersR 1962, 783 v. 29.05.1962. 162 BGH VersR 1964, 313 (314) v. 19.11.1963; VersR 1965, 48 (49) v. 27.10.1964; 1965, 137 (138) v. 24.11.1964; 1965, 385 (386) v. 08.01.1965; 1965, 606 (607) v. 23.03.1965; VersR 1968, 301 (302) v. 05.12.1967; LM Nr. 8c zu § 832 BGB (= VersR 1968, 903) v. 11.06.1968; LM Nr. 9a zu § 832 BGB (= NJW 1969, 2138 f) v. 28.02.1969; LM Nr. 11 zu § 832 BGB (= VersR 1976, 878 [879]) v. 06.04.1976; OLG München VersR 1970, 232 (234) 21.11.1969; OLG Köln VersR 1970, 1163 v. 22.09.1970; OLG Karlsruhe VersR 1971, 509 v. 27.11.1970; OLG Hamm VersR 1976, 392 v. 18.04.1975; OLG Oldenburg VersR 1976, 199 v. 23.04.1975; OLG Düsseldorf 1976, 1133 v. 30.10.1975; OLG Schleswig VersR 1978, 237 (238) v. 09.01.1976; OLG Karlsruhe VersR 1978, 575 v. 07.12.1977; OLG Koblenz VersR 1979, 1034 v. 14.11.1978; LG Saarbrücken VersR 1975, 386 (387) v. 09.07.1973; AG Freiburg/Br. VersR 1970, 751 v. 10.09.1969.
§ 2 Die Analyse der Aufsichtsformel
77
messen zu berücksichtigen 163. Unverkennbar verebbte jedoch in den abstrakten Ausführungen der Gerichte zum Maß der gebotenen Aufsicht mit Beginn der sechziger Jahre die nähere Konkretisierung der jeweiligen Verhältnisse.
Erstmals in der Entscheidung des BGH v. 27.11.1979 wurde die folgende nachfolgend als neue Formel bezeichnete - Definition verwandt: Der Umfang der gebotenen Aufsicht über Minderjährige bestimmt sich nach Alter, Eigenart und Charakter, wobei sich die Grenze der erforderlichen und zumutbaren Maßnahmen danach richtet, was verständige Eltern nach vernünftigen Anforderungen in der konkreten Situation tun müssen, um Schädigungen Dritter durch ihr Kind zu verhindern 164 . Anknüpfend an diese Entscheidung wenden die Gerichte die neue Formel immer häufiger an 165 . Aber auch die alte Formel, in der ausdrücklich die jeweiligen Verhältnisse der Eltern berücksichtigt werden, wird von den Gerichten weiterhin zur Bestimmung des Maßstabes der Aufsichtspflicht herangezogen 166. Dabei konkretisieren aber nur wenige Gerichte die je163
LG Duisburg MDR 1966, 235 v. 04.05.1965; ebenso LG Saarbrücken VersR 1975,386 (387) v. 09.07.1973. 164 BGH LM Nr. 12 zu § 832 BGB (= NJW 1980, 1044 [1045]) v. 27.11.1979. In diese Richtung hatte bereits das OLG Düsseldorf (VersR 1956, 453 L 2) in einem Urteil v. 16.06.1953 formuliert: Der Umfang der Aufsichtspflicht gegenüber Kindern bestimmt sich danach, was unter den besonderen Umständen, insbesondere bei Berücksichtigung der Veranlagung und Einsicht des Kindes, verständige Eltern nach vernünftigen Anforderungen hätten tun müssen, um den Eintritt eines Schadens zu verhindern. 165 BGH LM Nr. 15 zu § 832 BGB (= NJW 1984, 2574 [2575]) v. 10.07.1984; LM Nr. 19 zu § 832 BGB (= NJW 1993, 1003) v. 19.01.1993; OLG Celle NJW-RR 1988, 216 v. 27.05.1987; OLG Hamm NJW-RR 1988, 798 v. 21.09.1987; OLGZ 92, 95 (96) v. 02.05.1991; NZV 1995, 112 v. 26.09.1994; NJW-RR 1996, 153 v. 13.01.1995; VersR 1999, 843 (844) v. 11.02.1998; MDR 2000, 454 (455) v. 16.09.1999; KG VersR 1992, 974 (975) v. 16.04.1991; KGR 1997, 245 (246) v. 14.07.1997; OLG Köln FamRZ 1994, 831 (832) v. 05.05.1993; OLGR 2000, 253 (256) v. 27.05.1999; OLG München FamRZ 1997, 740 (741) v. 18.06.1996; OLG Düsseldorf NJW-RR 1997, 343 v. 11.10.1996; 2002, 235 v. 15.09.2000; ZFE 2002, 385 (386) v. 18.02.2002; OLG Jena OLG-NL 1998, 101 v. 21.10.1997; OLG Schleswig NJW-RR 1999, 606 (607) v. 12.11.1998; LG Aachen r+s 1987, 225 (226) v. 10.10.1986; LG Berlin NJW 1999, 2906 v. 29.10.1998; LG Landau NJW 2000, 2904 v. 16.06.2000; LG Potsdam NJW-RR 2002, 1543 (1544) v. 12.08.2002; AG Dieburg SP 1996, 373 v. 24.07.1996; AG Frankfurt/M. NJW-RR 1997, 1314 v. 01.11.1996; AG Flensburg NJW-RR 1999, 1041 v. 05.11.1998; AG Königswinter NJW-RR 2002, 748 v. 17.10.2001. 166 BGH LM Nr. 16 (= NJW-RR 1987, 13 [14]) v. 01.07.1986; LM Nr. 17 (= NJWRR 1987, 1430 [1431]) v. 07.07.1987; OLG Düsseldorf VersR 1983, 89 v. 14.04.1981; r+s 1990, 372 v. 21.11.1988; 1997, 413 v. 19.09.1996; NJW-RR 1996, 671 v. 14.12.1995; OLG München FamRZ 1990, 159 v. 21.12.1988; OLG Hamm VersR 1990, 743 (744) v. 27.04.1989; 1996, 1513 (1514) v. 21.12.1995; MDR 2000, 1373 (1374) v. 09.06.2000; OLG Nürnberg FamRZ 1992, 549 v. 19.03.1991; OLG Oldenburg FamRZ 1994, 833 (834) v. 19.10.1993; OLG Celle OLGR 1994, 221 v. 15.06.1994; KG MDR 1997, 840 v. 03.03.1997; OLG Frankfurt/M. MDR 2001, 752 (753) v. 28.03.2001;
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
weiligen Verhältnisse nochmals näher. So bestimme sich das Maß der zu leistenden Aufsicht danach, was von verständigen Eltern unter Berücksichtigung ihrer wirtschaftlichen Lage und ihrer eigenen Geschäfte erwartet werden könne und ihnen zuzumuten sei 167 . Der BGH begnügte sich in den letzten in L M zu § 832 BGB veröffentlichten Urteilen mit der Feststellung, der Umfang der gebotenen Aufsichtspflicht der Eltern richte sich nach Alter, Eigenart und Charakter des Minderjährigen 168 . Es kommt für die Erfüllung der Aufsichtspflicht durch die Eltern nicht darauf an, ob sie generell ihrer Aufsichtspflicht nachgekommen sind 169 . Vielmehr ist entscheidend, ob die Eltern die ihnen obliegende Aufsicht im konkreten Fall und in Bezug auf die zur widerrechtlichen Schadenszufügung führenden Umstände nachgekommen sind 170 . Ein entsprechender Satz schließt sich in den Urteilen nahezu immer an die jeweils verwandte Formel an. Von Teilen der Rechtsprechung wird weiterhin - gleichwohl ob die alte oder die neue Formel verwandt wird - ausdrücklich die Vorhersehbarkeit des schädigenden Verhaltens bei der Definition der gebotenen Aufsicht herangezogen 171 . Die Berücksichtigung der Vorhersehbarkeit wohnt aber allen EntscheiOLG Koblenz NJW-RR 2002, 900 v. 15.04.2002; LG Hildesheim r+s 1985, 174 v. 14.03.1985; LG Frankfurt/M. NJW-RR 1986, 112 v. 28.08.1985; LG Saarbrücken NJW-RR 1991, 543 f v . 07.11.1990; LG Düsseldorf VersR 1994, 484 v. 03.03.1993; LG Mannheim VersR 1999, 103 v. 28.01.1997; LG Münster Jugendwohl 1998, 91 (94) v. 24.02.1997; AG Augsburg ZfS 1992, 150 v. 28.03.1991. 167 OLG Celle NJW-RR 1987, 1384 v. 01.07.1987; LG Lüneburg VersR 1999, 102 v. 09.01.1997. 168 BGH LM Nr. 20 zu § 832 BGB (= NJW 1995, 3385 [3386]) v. 10.10.1995; LM Nr. 21 zu § 832 BGB (= NJW 1996, 1404 [1405]) v. 27.02.1996; LM Nr. 22 zu § 832 BGB (= NJW 1997, 2047 [2048]) v. 18.03.1997; so auch LG Arnsberg FamRZ 1995, 602 v. 05.08.1994 (Allerdings mit Verweis auf die Entscheidungen LM Nr. 12 und 15 zu § 832 BGB, in denen die neue Formel angewandt wurde.); AG Köln VersR 1997, 492 (493) v. 12.06.1996. 169 A. A. OLG Kiel OLGZ 2, 458 v. 29.04.1901. 170 BGHZ 111, 282 (285) (= LM Nr. 18 zu § 832 BGB = NJW 1990, 2553 [2554]) v. 29.05.1990; BGH LM Nr. 8c zu § 832 BGB (= VersR 1968, 903) v. 11.06.1968; LM Nr. 9a zu § 832 BGB (= NJW 1969, 2138) v. 28.02.1969; LM Nr. 11 zu § 832 BGB (= VersR 1976, 878 [879]) v. 06.04.1976; LM Nr. 17 zu § 832 BGB (= NJW-RR 1987, 1430 [1431]) v. 07.07.1987; BGH VersR 1957, 799 v. 01.10.1957; 1965, 137 (138) v. 24.11.1964; OLG Koblenz VersR 1980, 752 v. 06.07.1979; OLG München MDR 1984, 757 (758) v. 10.04.1984; OLG Düsseldorf VersR 1988, 56 v. 03.06.1986; OLG Celle NJW-RR 1988, 216 v. 27.05.1987; OLG Hamm OLGZ 92, 95 (96) v. 02.05.1991; NZV 1995, 112 v. 26.09.1994; MDR 2000, 1373 (1374) v. 09.06.2000; KG VersR 1992, 974 (975) v. 16.04.1991; MDR 1997, 840 v. 03.03.1997; OLG Oldenburg FamRZ 1994, 833 (834) v. 19.10.1993; LG Arnsberg FamRZ 1995, 602 v. 05.08.1994; LG Potsdam NJW-RR 2002, 1543 (1544) v. 12.08.2002. 171 BGH LM Nr. 17 zu § 832 BGB (= NJW-RR 1987, 1430 [1432]) v. 07.07.1987; OLG Düsseldorf VersR 1976, 1133 v. 30.10.1975; 1992, 1233 v. 15.11.1991; NJW-RR 1997, 343 v. 11.10.1996; OLG Karlsruhe VersR 1979, 58 v. 14.12.1977; OLG Mün-
§ 2 Die Analyse der Aufsichtsformel
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düngen auch dann inne, wenn dieses Kriterium nicht ausdrücklich in der vorhergehenden Definition benannt wurde. Denn es ist gleichbedeutend mit der Frage, ob ein entsprechender Aufsichtsanlass bestand172. Bei der erstmaligen Verwendung der neuen Formel in der Entscheidung des BGH v. 27.11.1979 bezeichnete dieser die genannten Anforderungen als stdg. Rspr. Der BGH verwies zur Begründung auf seine Entscheidungen v. 08.01.1965, 28.02.1969 und 06.04.1976 173 , mithin Urteile, in denen mit der alten Formel ausdrücklich die jeweiligen Verhältnisse der Eltern als Maßstab für die Zumutbarkeit des gebotenen Aufsichtmaßes benannt wurden. Trotz Verwendung der neuen Formel verwies auch das OLG Celle auf die BGHEntscheidung v. 28.02.1969 als Quelle 174 . Hingegen verwandte das OLG Hamm die alte Formel, verwies aber auf eine Entscheidung des BGH v. 10.07.1984175, in der die neue Formel verwandt wurde 176 . Das legt den Schluss nahe, dass die Gerichte die alte Formel aus den sechziger Jahren und die neue Formel als inhaltsgleich ansehen. So stellte das OLG Hamm seinen fallbezogenen Ausführungen die beiden miteinander kombinierten Formeln voran 177 . Auch im Schrifttum werden beide Formeln teilweise als inhaltsgleich angesehen. So stellt M. Schmid in seinem vielbeachteten Aufsatz zur Aufsichtspflicht die neue Formel als stdg. Rspr. zur Definition der Aufsichtspflicht dar, belegt sie aber bis auf eine Ausnahme (BGH L M Nr. 12 zu § 832 BGB [= NJW 1980, 1044 {1045}] v. 27.11.1979) mit Quellen zur alten Formel 178 . Großfeld/Mund fuhren die neue Formel an, verweisen aber auch auf Urteile, in denen die alte Formel zur Definition des Aufsichtsmaßes verwandt wurde 179 .
chen FamRZ 1990, 159 v. 21.12.1988; OLG Nürnberg FamRZ 1992, 549 v. 19.03.1991; OLG Hamm VersR 1990, 743 (744) v. 27.04.1989; 1996, 1513 (1514) v. 21.12.1995; FamRZ 1995, 167 v. 07.12.1993; NJW-RR 1996, 153 v. 13.01.1995; OLG Schleswig NJW-RR 1999, 606 (607) v. 12.11.1998; LG Saarbrücken NJW-RR 1991, 543 f v. 07.11.1990; LG Lübeck r+s 1993, 17 (18) v. 30.01.1992; LG Bielefeld ZfS 1996, 171 v. 28.09.1995; LG Mannheim VersR 1999, 103 v. 28.01.1997; LG Stuttgart ZfS 2003, 10 v. 15.08.2001; LG Potsdam NJW-RR 2002, 1543 (1544) v. 12.08.2002; AG Augsburg ZfS 1992, 150 v. 28.03.1991; AG Dieburg SP 1996, 373 v. 24.07.1996; AG Frankfurt/M. NJW-RR 1997, 1314 v. 01.11.1996. 172 Staudinger/Belling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 55. 173 BGH VersR 1965, 385 (386) v. 08.01.1965; LM Nr. 9a zu § 832 BGB (= NJW 1969, 2138 f) v. 28.02.1969; LM Nr. 11 zu § 832 BGB (= VersR 1976, 878 [879]) v. 06.04.1976. 174 OLG Celle NJW-RR 1988, 216 v. 27.05.1987. 175 BGH LM Nr. 15 zu § 832 BGB (= NJW 1984, 2574 [2575]) v. 10.07.1984. 176 OLG Hamm VersR 1996, 1513 (1514) v. 21.12.1995. 177 OLG Hamm FamRZ 1995, 167 v. 07.12.1993. Die Prüfung der Aufsichtspflichtverletzung von Betreuern eines Ferienlagers erfolgte hier innerhalb von § 831 BGB. 178 M. Schmid, VersR 1982, 822. 179 Großfeld/Mund, FamRZ 1994, 1504 (1505).
1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
80
Nach A. Fuchs stellen die Gerichte in fast allen Entscheidungen die alte Formel ihren Ausführungen voran. Diese gehe zurück auf RGZ 50, 60 (64) und sei seitdem stdg. Rspr. Obwohl seine Bearbeitung mit dem Stand 1993 schließt, geht er auf die neue Formel nicht ein 1 8 0 . Schoof führt die neue Formel als stdg. Rspr. an, zitiert dabei aber sowohl Urteile zur alten als auch zur neuen Formel 1 8 1 . Auch Baumgärtel verwendet die neue Formel, führt aber ein Urteil des OLG München an, in dem die alte Formel mit den Jeweiligen Verhältnissen" den fallbezogenen Ausführungen vorangestellt wird 1 8 2 . Der überwiegende Teil der Literatur 183 ist konsequent, d. h., es werden für die jeweils verwandte Formel nur die entsprechenden Quellen zitiert.
180
A. Fuchs, S. 121 f mit Fn. 29. Auf S. 122 in Fn. 28 führt A. Fuchs aus, nur das
OLG Stuttgart in VersR 1955, 685 v. 28.06.1955 habe bei den zu berücksichtigenden Kindeseigenschaften auch den Bildungsgrad hinzugezählt. Das sei ohne Nachfolge geblieben. Jedoch berücksichtigten auch das LG Augsburg (VersR 1957, 307 v. 25.10.1956) und das OLG Hamburg (VersR 1973, 828 [829] v. 02.09.1971) beim Maß der gebotenen Aufsicht ausdrücklich die geistige Entwicklung und den Bildungsgrad des Kindes. 181
182
Schoof, S. 36 mit Fn. 80.
Baumgärtel /Baumgärtel, § 832 Rn. 6. Palandt/77iomas (§ 832 Rn. 8) fuhrt die neue Formel mit konsequenten Verweis auf LM Nr. 19 zu § 832 BGB an. MünchKomm¡Stein (§ 832 Rn. 20) reiht nur Formulierungskriterien der neuen Formel aneinander und zitiert dabei für jedes Kriterium entsprechende Entscheidungen. Rauscher (JuS 1985, 575 [761]) zitiert nur die neue Formel und verweist dabei konsequent auf diesbezügliche Urteile. Ebenso verfahren Berning/Vortmann (JA 1986, 12 [17]). Nach Haberstroh (VersR 1998, 806 [810]) gilt in der Rechtsprechung seit langem die neue Formel. Er belegt das mit entsprechenden Urteilen bzw. solchen, die keine der beiden abstrakten Formeln enthalten. Auch nach M. Fuchs (NZV 1998, 7 [8]) handelt es sich bei der neuen Formel um die stdg. Rspr. des BGH. RGRKJKreft (§ 832 Rn. 30) definiert die gebotene Aufsicht mit der alten Formel und verweist, bis auf eine Ausnahme, nur auf dementsprechenden Quellen. Auch Albilt (S. 87, 89) gebraucht die alte Formel unter konsequenter Berücksichtigung der dies tragenden Urteile. SoergeUZeuner (§ 832 Rn. 14) verwendet eine Mischung aus alter und neuer Formel unter Quellenberücksichtigung beider Rechtsprechungsstränge. Belling/Eberl-Borges (in Staudinger, § 832 Rn. 52) verwenden keine der üblichen Aufsichtsformeln. Vielmehr heißt es: Nach einhelliger Auffassung habe der Aufsichtspflichtige seiner Aufsichtspflicht genügt, wenn er zur Verhinderung der Schädigung Dritter alles getan habe, was von einem verständigen Aufsichtspflichtigen seiner Lage nach den Umständen des Einzelfalls vernünftiger- und billigerweise verlangt werden könne. Dabei sei ausschlaggebend, ob der Aufsichtspflichtige in Bezug auf die konkrete Gefahrensituation diejenigen erforderlichen und verhältnismäßigen (insbesondere zumutbaren) Aufsichtsmaßnahmen schuldhaft unterlassen habe, die verständige Aufsichtspflichtige zur Verhinderung derartiger Schädigungen nach vernünftigen Anforderungen hätten ergreifen müssen. Dies belegen sie mit Quellen zur alten und neuen Formel der Rechtsprechung. 183
§ 2 Die Analyse der Aufsichtsformel
81
3. Eigene Stellungnahme Nach zutreffender Ansicht von P. Huber können die allgemeinen Aussagen der Rechtsprechung nur Anhaltspunkte bei der Bestimmung von Maß und Intensität der Aufsicht liefern 184 . Ohne deshalb die Bedeutung der aufgezeigten generalklauselartigen Formulierungen 185 bei einer von den Umständen des Einzelfalls geprägten Entscheidungsfindung 186 überbewerten zu wollen, bestehen doch nennenswerte inhaltliche Unterschiede zwischen der alten und neuen Formel.
a) Die Unterschiede zwischen alter und neuer Formel Jede der beiden Formeln enthält drei Komponenten, wovon jeweils zwei objektive Merkmale sind. Zum einen wird mit Alter, Eigenart und Charakter objektiv die Persönlichkeit des Kindes beschrieben. Weiterhin wird durch die Formulierung was verständige Eltern nach vernünftigen Anforderungen unternehmen/tun müssen, um die Schädigung Dritter durch ihr Kind zu verhindern auf die Sichtweise eines objektiven Betrachters abgestellt. Insoweit sind die Kriterien in beiden Formeln vollkommen deckungsgleich. In der dritten Komponente besteht bei der Bestimmung der Zumutbarkeitsgrenze für die beklagten Eltern hingegen ein erster Unterschied. Die jeweiligen Verhältnisse in der alten Formel sind eindeutig ein subjektives Kriterium. Deshalb ist bei der abstrakten Bestimmung des Aufsichtsumfangs nach der alten
184
MünchKomm/P. Huber, § 1631 Rn. 9. Nach Meinung von Salgo (in Staudinger, § 1631 Rn. 45) sind die formelhaften, sehr allgemein gehaltenen Aussagen der Rechtsprechung sicherlich zutreffend, aber wenig hilfreich, um ein Mehr an Verhaltenssicherheit zu bieten. Medicus (Gesetzliche Schuldverhältnisse, S. 58) bezeichnet den Ansatzpunkt des BGH als wenig aussagekräftig, wenn dieser darauf abstelle, was verständige Eltern nach vernünftigen Anforderungen unternehmen müssen, um die Schädigung Dritter durch ihr Kind zu verhindern. Das bedeute weitgehend eine Verweisung auf die Umstände des Einzelfalls. Zur alten Formel: Dahlgrün (S. 94): Rechtsprechung und Literatur bedienen sich einer generalklauselhaften Formel. Albilt (S. 90): Eine Zauberformel birgt diese Aussage nicht. Zur neuen Formel: Zeuner (in Soergel, § 832 Rn. 14) bezeichnet eine Mischung der alten und neuen Formel als allgemeine Richtlinie. M. Schmid (VersR 1982, 822): Diese Definition gibt den Aufsichtspflichtigen und Geschädigten Steine statt Brot. Rauscher (JuS 1985, 757 [761]): Die gesetzliche Leerformel wird von der Rechtsprechung durch eine neue Leerformel ersetzt. Haberstroh (VersR 2000, 806 [810, 812]) charakterisiert die Formel zunächst als hochgradig ausfüllungsbedürftig, um sie später eine durchaus griffige Definition zu nennen. 186 Schlegelmilch (ZAP Fach 2, S. 121 [123], II 2 a): Das Ausmaß der Aufsichtspflicht muss in jedem Einzelfall konkret festgestellt werden. 185
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
Formel im Rahmen der Zumutbarkeitsfeststellung auf die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des beklagten Aufsichtspflichtigen abzustellen. Hingegen fehlt es in der neuen Formel an einer solchen eindeutigen subjektiven Formulierung hinsichtlich der Festlegung der Zumutbarkeitsgrenze. Es ist stattdessen von der Grenze der erforderlichen und zumutbaren Maßnahmen die Rede. Erforderlich kann dabei nur heißen, es steht keine andere Aufsichtsmaßnahme zur Verfügung, welche unter geringerer Belastung der Eltern zur Erreichung des angestrebten Zieles, dem Schutz Dritter vor Schädigungen durch das Kind, ebenso geeignet ist. Es handelt sich folglich um ein objektives Kriterium. Zumutbar ist eine erforderliche Aufsichtsmaßnahme für die Eltern dann, wenn sie in einem angemessenen Verhältnis zu dem bezweckten Vorteil - dem Schutz Dritter - steht. Somit kann an sich auch in der neuen Formel innerhalb der Zumutbarkeitsprüfung auf die beklagten Eltern abgestellt werden, mithin ein subjektives Kriterium in die Bestimmung des Aufsichtsmaßes einfließen. Jedoch geben weder die neue Formel noch die sie verwendenden Gerichte einen Anhaltspunkt dafür, welche Umstände im Rahmen dieses subjektiven Kriteriums zu berücksichtigen sind. Deshalb besitzt die neue Formel an dieser Stelle noch weniger Kontur als die alte Formel. Denn bei deren Verwendung wurden die dort berücksichtigten - sich bereits vom Wortlaut eindeutig auf die jeweils beklagten Eltern beziehenden - jeweiligen Verhältnisse wiederholt durch die Gerichte konkretisiert bzw. auf entsprechende vorangehende Urteile verwiesen. Die neue Formel birgt aus diesem Grunde die Gefahr, dass sich die Zumutbarkeitsprüfung nach dieser Formel nicht auf die beklagten Eltern, sondern auf „Durchschnittseltern" bezieht. Infolgedessen wohnt der neuen Formel zumindest die Tendenz inne, die subjektive Komponente ihrer objektiv/subjektiven Formulierung vollends in Richtung einer objektiven Zumutbarkeitsprüfung aufzuweichen. Das würde dann den allgemeinen Grundsätzen der Rechtsprechung zum Sorgfaltsmaßstab der §§ 276 Abs. 2 BGB, 276 Abs. 1 S. 2 BGB a. F. entsprechen, wonach die Zumutbarkeit nach einem objektiven Maßstab zu bestimmen ist. Auch im Aufbau der beiden Formeln besteht ein grundlegender Unterschied. Das objektive Kriterium der Kindeseigenschaften bildet in beiden Formeln den Ausgangspunkt der Prüfung. In der alten Formel schließt sich daran als gleichrangiges Kriterium die subjektiv zu bestimmende Zumutbarkeitsgrenze nach den jeweiligen Verhältnissen der Eltern an. Die Lebenslage der Eltern ist demnach neben den Kindeseigenschaften gleichrangig zu berücksichtigen. Anhand dieser beiden, nach der Wortwahl gleichwertigen, Grundkomponenten des Einzelfalls ist schließlich aus der Sicht eines objektiv durchschnittlichen Betrachters als Fazit festzustellen, was verständige Eltern nach vernünftigen Anforderungen unternehmen müssen, um die Schädigung Dritter durch ihr Kind zu verhindern. In der neuen Formel schließt sich an das objektive Kriterium der Kindeseigenschaften hingegen als weitere heranzuziehende objektive Grund-
§ 2 Die Analyse der Aufsichtsformel
83
komponente an, was verständige Eltern nach vernünftigen Anforderungen in der konkreten Situation tun müssen, um Schädigungen Dritter durch ihr Kind zu verhindern. Letztere steht aber nicht gleichrangig neben dem Merkmal der Kindeseigenschaften, um dann aus beiden als Fazit den gebotenen Aufsichtsumfang herzuleiten. Vielmehr dient dieses objektive Kriterium dazu, die Grenund zumutbaren Aufsichtsze der im Einzelfall zu treffenden erforderlichen maßnahmen zu umreißen. Die subjektiven Umstände der Eltern werden somit erst am Ende der Prüfung bei der Begrenzung des Aufsichtsmaßes herangezogen. Hingegen bleiben sie zuvor bei der Herleitung des Aufsichtsmaßes unberücksichtigt. Demnach hat auch nach dem Aufbau der neuen Formel die Berücksichtigung der subjektiven Umstände der Eltern bei der Bestimmung des gebotenen Aufsichtsmaßes an Gewicht verloren. Zusammenfassend ist festzustellen, dass - insofern von den Gerichten eine umfassende Definition der Aufsichtspflicht den fallbezogenen Ausführungen vorangestellt wird - zur Zeit zwei vom Wortlaut verschiedene generalkausalartige Formulierungen in der Rechtsprechung verwendet werden. Aufgrund der gegenseitigen Quellenverweise werden diese offenbar - zumindest von Teilen der Rechtsprechung und Literatur - als gleichrangig und inhaltsgleich angesehen. Obwohl keine der beiden Formeln in einer vom Einzelfall geprägten Entscheidungsfindung mehr als ein Lösungsansatz sein kann, wird durch die genannten Grundkomponenten der Rahmen für die im jeweiligen Fall zu berücksichtigenden Tatsachen abgesteckt 187 .
b) Die Erklärung der Gleichbehandlung Die teilweise, stets kommentarlose, Gleichsetzung der beiden Aufsichtsformeln durch Rechtsprechung und Schrifttum lässt sich nur durch die Akzeptanz, in § 832 BGB einen von § 276 Abs. 2 BGB abweichenden Sorgfaltsmaßstab anzuwenden, erklären. Grundsätzlich gilt im Zivilrecht im Rahmen der Fahrlässigkeit - und nur diese dürfte als Verschuldensmaßstab bei der Anwendung von § 832 BGB infrage kommen - kein individueller, sondern ein auf die allgemeinen Verkehrsbedürfhisse ausgerichteter objektiv-abstrakter Sorgfaltsmaßstab. Für die Bestimmung der erforderlichen Sorgfalt in § 276 Abs. 2 BGB ist es deshalb unerheblich, ob der Betroffene nach seinen individuellen Fähigkeiten, Kräften, Erfahrungen und Kenntnissen die objektiv gebotene Sorgfalt erkennen und erbringen konnte 188 .
187
Nach Albilt (S. 90) wird durch die (alte) Rechtsprechungsformel ein äußerer Rahmen abgesteckt, der durch die Produkte der ergangenen Rechtsprechung auch ausgefüllt worden ist. 188
PalandÜ Heinrichs, § 276 Rn. 15; MünchKomm/Grundmann, § 276 Rn. 55.
1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
84
Einen solchen objektiven Maßstab wollte Ohm bereits 1959 bei der Bestimmung der Aufsichtspflicht in § 832 BGB anwenden. Danach sei für subjektive Einstellungen kein Raum, wenn das Verhalten des Aufsichtspflichtigen objektiv den Verkehrsanschauungen widerspreche 189. Ebenso hat sich M. Schmid für das Anlegen eines objektiven Maßstabes im Rahmen von § 832 BGB ausgesprochen, da es sich bei der Aufsichtspflicht um einen objektiven Begriff handelt. Er erhebt Bedenken gegen die Berücksichtigung der konkreten Lebensumstände des Aufsichtspflichtigen, da der Schadensersatzanspruch des Geschädigten nicht davon abhängig gemacht werden könne, in welchen Verhältnissen der Aufsichtspflichtige lebe. Die gesetzliche Regelung zum Nachteil des Aufsichtspflichtigen sei unabhängig von dessen persönlichen Verhältnissen, weshalb es darauf ankomme, was generell einem Aufsichtspflichtigen zuzumuten sei 190 . Niboyet stimmt diesen Ausführungen von M. Schmid zu und fordert, die Maßstäbe der Verschuldensprüfung gemäß § 276 BGB auch im Rahmen der Exkulpation in § 832 BGB anzuwenden. Denn durch die Berücksichtigung der Verhältnisse der Eltern verliere der Geschädigte einen großen Teil des Vorteils der Vermutung des § 832 BGB, obwohl die Verschuldensvermutung der Begünstigung des Geschädigten dienen soll 191 . Deerberg ist der Auffassung, die Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse der Eltern sei zwar vom Standpunkt der Verschuldenshaftung aus konsequent. Jedoch hält er die so reduzierte Aufsichtspflicht unter dem Gesichtspunkt der Risikoverteilung und Schadenstragung für unzumutbar, ohne dabei eindeutig für die Anwendung eines nur objektiven Sorgfaltsmaßstabes zu plädieren 192 . Warum im Rahmen des § 832 BGB ein vom Grundsatz des § 276 Abs. 1 S. 2 BGB a. F., § 276 Abs. 2 BGB abzuweichender Sorgfaltsmaßstab anzuwenden ist, hat Marburger überzeugend dargelegt. Danach rechtfertigt sich für die aufsichtspflichtigen Eltern die Beachtung subjektiver Momente bei der auf vermutetem Eigenverschulden beruhenden und deshalb strengen Haftung nach § 832 Abs. 1 BGB daraus, dass die Pflicht zur Aufsichtsführung ihnen ohne Rücksicht auf intellektuelle Fähigkeiten, Bildungsstand, materielle Verhältnisse, Größe der Familie usw., also letztlich ohne Unterschied, ob sie auf diese Aufgabe gut oder weniger gut vorbereitet sind, zusätzlich zu ihren sonstigen
189 190 191
192
Ohm, VersR 1959, 780 (781). M. Schmid, VersR 1982, 822 f. Niboyet, S. 150.
Deerberg, S. 34 f. Es sei fragwürdig, dass die Berufstätigkeit der Mutter in entlastender Weise bei der Bestimmung der Aufsichtspflicht herangezogen werde. Denn dort stehe der eigennützige wirtschaftliche Vorteil der Mutter im Vordergrund. Deshalb dürfe die Berufstätigkeit nicht zur Minderung der Aufsichtspflicht herangezogen werden und die Geltendmachung eines Schadensersatzanspruches unzumutbar erschweren. A. Fuchs (S. 125 Fn. 49) hält dies für überzeugend.
§ 2 Die Analyse der Aufsichtsformel
85
Obliegenheiten im Interesse der Allgemeinheit vom Gesetz auferlegt wird 1 9 3 . Der Ansatz von M. Schmid, der keinen Raum für die Berücksichtigung der subjektiven Verhältnisse des Aufsichtspflichtigen lässt, ist deshalb zu Recht auf Kritik gestoßen. Nach Ansicht von Belling/Eberl-Borges wird durch das Abstellen auf die individuelle Zumutbarkeit nur einem allgemeinen Rechtsgrundsatz entsprochen. Jede Pflichtenstellung sei begrenzt durch die Zumutbarkeit der Pflichtenbefolgung. Durch das Korrektiv der individuellen Zumutbarkeit werde so der Gefahr einer unerträglichen Überspannung der Reichweite der Aufsichtspflicht vorgebeugt 194 . Albilt weist zutreffend daraufhin, dass M. Schmid irrtümlich den Eindruck vermittle, bei der Bestimmung des zumutbaren Aufsichtsmaßes seien allein die subjektiven Verhältnisse der Aufsichtsperson ausschlaggebend. Er verkenne dabei das objektive Regulativ verständige Eltern in der verwandten Aufsichtsformel 195 . Ebenso hat sich Schoof für die Anwendung eines subjektiven Maßstabes dahingehend ausgesprochen, dass den Eltern nach ihren individuellen Fähigkeiten die Schadensverhinderung möglich gewesen sein muss 196 . Gegen die Anwendung eines rein objektiv bestimmten Sorgfaltsmaßstabes spricht des Weiteren bereits der Wortlaut des § 832 Abs. 1 S. 2 BGB. Während die vergleichbaren Regelungen in §§831 Abs. 1 S. 2, 833 S. 2, 834 S. 2, 836 Abs. 1 S. 2 BGB zur Exkulpation auf die Beachtung der „ i m Verkehr erforderlichen Sorgfalt", mithin ein objektives Kriterium, abstellen, ist für den Entlastungsbeweis in § 832 Abs. 1 S. 2 BGB entscheidend, ob der Aufsichtspflichtige „seiner Aufsichtspflicht genügt" hat.
193 194 195
196
Marburger, VersR 1971, III (785). Zustimmend Dahlgrün, S. 96. Staudinger/Belling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 71. Albilt, S. 162 ff.
Schoof, S. 130. Auf S. 131 fuhrt Schoof aus, dass die Rechtsprechung im Rahmen des Entlastungsbeweises berücksichtige, was den Eltern nach ihren jeweiligen Verhältnissen zugemutet werden kann. Dieser subjektive Einschlag bleibe aber bei der Rechtsanwendung unbeachtet. Deshalb halte die Rechtsprechung unter Zustimmung der Literatur (Ohm, VersR 1959, 780; M. Schmid, VersR 1982, 822 f; Albilt, S. 88) an einem objektiven Entlastungsbeweis fest. Dazu gilt es anzumerken: Albilt kommt an der zitierten Stelle zu dem Ergebnis, dass die Rechtsprechung unter Zustimmung der Literatur das Aufsichtsmaß nach objektiven und subjektiven Kriterien bestimme. Eine der drei zu berücksichtigenden Komponenten sei dabei das subjektive Bewertungskriterium der Verhältnisse des Aufsichtspflichtigen. Auf S. 162 ff wendet sich Albilt gegen die rein objektive Bestimmung des Aufsichtsmaßes und hält die Berücksichtigung der „persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse" der Aufsichtspersonen für nicht zu beanstanden. Die Divergenz zwischen Rechtsprechungsformel und Rechtsanwendung durch die Gerichte, welche Schoof festgestellt haben will, lässt sich wie folgt erklären: Schoof (S. 130) definiert den anzuwendenden subjektiven Maßstab zu eng, indem sie nur die individuellen Fähigkeiten der Eltern darunter fasst. Neben den intellektuellen Fähigkeiten werden jedoch von Rechtsprechung und Schrifttum u. a. wirtschaftliche und berufliche Verhältnisse darunter gefasst.
1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
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Durch dieses subjektive Kriterium legt somit bereits der Gesetzeswortlaut die Anwendung eines individuellen Sorgfaltsmaßstabes nahe. Da somit bei der Festlegung des Aufsichtmaßes - abweichend vom zivilrechtlichen Grundsatz - in § 832 BGB die individuellen Verhältnisse der beklagten Eltern immer zu berücksichtigen sind, ist der Maßstab bei der Bestimmung der Zumutbarkeit des Aufsichtsumfangs in beiden Formeln im Ergebnis gleich. Unabhängig davon, ob die Gerichte die alte Formel (was den Eltern in ihren jeweiligen Verhältnissen zugemutet werden kann) oder die neue Formel (die Grenze der erforderlichen und zumutbaren Maßnahmen) bei der Definition der Aufsichtspflicht verwenden, fließen die persönlichen Verhältnisse des Pflichtigen - zumindest von der grundsätzlichen Prüfungsausrichtung - in die fallbezogene Subsumtion durch die Anwendung des subjektiven Sorgfaltsmaßstabes ein.
II. Ergänzende abstrakte Ausführungen zur verwandten Formel 1. Die heranzuziehenden Kriterien für die Bestimmung der Aufsichtspflicht In einem neueren Urteil formulierte das OLG Hamm im Anschluss an die alte Formel zur Bestimmung der Aufsichtspflicht: Die Aufsichtspflicht wird zum einen durch Eigenschaften des aufsichtsbedürftigen Kindes und zum anderen durch die Schadensgeneigtheit des Unfallbereiches und der danach gegebenen und zu erwartenden konkreten Gefahrensituation bestimmt 197 . Anhand dieser beiden Oberkriterien bestimmt auch das Schrifttum, ob ein Aufsichtsanlass für den Pflichtigen bestand, was gleichbedeutend ist mit der Frage, ob der Schaden konkret vorhersehbar war 198 . Durch den konkreten Aufsichtsanlass wird die allgemeine Aufsichtspflicht zu einem bestimmten Handlungsgebot verdichtet, d. h. die Aufsichtspflichtigen müssen einen konkreten Anlass gehabt haben, bestimmte Aufsichtsmaßnahmen zu treffen 199 . Schoof hat die Rechtsprechungsübersicht ihrer Diss. (1999) nach den von der Rechtsprechung verwandten Kriterien zur Bestimmung des Aufsichtmaßes aufgebaut, weshalb an dieser Stelle auf eine erneute Darstellung verzichtet wird.
197
OLG Hamm OLGR 2000, 266 (267) = NJW-RR 2002, 236 (237) v. 09.06.2000 (Diese Formulierung fehlt in den in MDR 2000, 1373 abgedruckten Entscheidungsgründen.); ebenso OLG Düsseldorf ZFE 2002, 385 (386) v. 18.02.2002; ähnlich OLG Schleswig NJW-RR 1999, 606 (607) v. 12.11.1998. 198
Stuudmger/Belling/Eberl-Borges, 1974, 9 (10 f); M. Fuchs, N Z V 1998, 7 (8). 199
§ 832 Rn. 55; Aden, S. 151 ff; ders., MDR
OLG Köln VersR 1975, 162 v. 12.06.1974; 1996, 588 v. 27.10.1995; OLG Düsseldorf VersR 1988, 56 v. 03.06.1986.
§ 2 Die Analyse der Aufsichtsformel
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Nach Schoof 200 unterscheidet die Rechtsprechung demnach: -
-
-
Kindesabhängige Kriterien o Alter o Entwicklungsstand • Intellektuelle Fähigkeiten • Persönliche Veranlagung • Geistige und körperliche Leiden o Erziehungserfolg o Neigungen o Freizeit- und Spielverhalten • Gefährliche Freizeitbeschäftigung • Spielgefährten o Voraussehbarkeit des schädigenden Verhaltens Tatwerkzeugabhängige Kriterien Opfer- und schadensabhängige Kriterien o Gefahr eines besonders schweren Schadens o Schutzbedürfhis des Geschädigten o Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts Elternabhängige Kriterien (z. B. wirtschaftliche und finanzielle Lage, berufliche Situation, körperliche Kräfte) Gesamtfamilienabhängige Kriterien (z. B. Kinderzahl, örtliche Gegebenheiten, Wohnverhältnisse). 2. Weitere abstrakte Ausführungen zur verwandten Formel
Stellen die Gerichte ihren fallbezogenen Ausführungen in den Entscheidungsgründen eine der vorgenannten Formeln zur Definition des Umfanges der gebotenen Aufsichtspflicht voran, so wird diese häufig noch um folgenden Zusatz ergänzt: Erziehungserfolg und Maß der anzuwendenden Aufsicht stehen in einer Wechselbeziehung zueinander. Je geringer der bisherige Erziehungserfolg, um so intensiver muss die Aufsicht und Überwachung sein 201 . Bereits das RG zog den Erziehungsstand des Aufsichtsbedürftigen zur Bestimmung des Umfanges der Aufsichtspflicht heran. Danach besteht zwischen Erziehung und Beaufsichtigung ein gewisser Zusammenhang. Je weiter die Erziehung fortgeschritten sei, desto mehr dürfe die Aufsicht zurücktreten, während diese umgekehrt desto mehr in den Vordergrund trete, je weniger noch von Erziehung und
200
Schoof S. 41 ff.
201
BGH LMNr. 15 zu § 832 BGB (=NJW 1984, 2574 [2575]) v. 10.07.1984.
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
Erziehungsresultaten die Rede sein könne 202 . Dabei müsse aber auch ein wohlerzogenes Kind beaufsichtigt werden, da keineswegs ausgeschlossen sei, dass es aus kindlicher Unbesonnenheit oder Unverständnis eine für Dritte gefährliche Handlung verübe 203 . Jedoch habe der Aufsichtspflichtige nur für eine genügende Beaufsichtigung einzustehen, nicht aber dafür, dass die Erziehung und Beaufsichtigung einen günstigen Erfolg herbeigeführt habe 204 . Diese Grundsätze flochten die Gerichte auch nach dem zweiten Weltkrieg bei der abstrakten Bestimmung des gebotenen Aufsichtsmaßes 205 ein. Zum Teil verzichteten die Gerichte auf eine solche abstrakte Feststellung im Zusammenhang mit der Aufsichtsformel, stellten aber ausdrücklich auf den bisherigen Erziehungsstand in der fallbezogenen Subsumtion zum Maß der gebotenen Aufsicht ab 206 . Teilweise wurde auch darauf verwiesen, dass beim Aufsichtsmaß die weitere Persönlichkeitsentwicklung des Kindes mindernd zu berücksichtigen sei 207 . Mit Ende der achtziger Jahre mehren sich die abstrakten Ausführungen der Gerichte zum Einfluss des Erziehungsstandes auf das Maß der gebotenen Aufsicht. Stereotyp führen die Gerichte dabei aus, die Aufsicht (und Überwachung) müsse um so intensiver sein, je geringer der bisherige Erziehungserfolg sei, da beide in Wechselbeziehung zueinander stehen208. Das LG Potsdam betont in 202 RGZ 98, 246 (248) v. 15.03.1920; RG Sammlung sämtliche Erkenntnisse des RG in Zivilsachen 1905, VI. Senat Nr. 81, S. 374 v. 16.02.1905; Warn 1910 Nr. 60, S. 60 v. 09.12.1909; 1911 Nr. 241, S. 267 (268) v. 16.02.1911; 1912 Nr. 28, S. 31 (32) v. 19.10.1911; 1914 Nr. 217, S. 307 (308) v. 15.12.1913; RG Gruchot 55 Nr. 80, S. 997 (998) v. 22.05.1911; RG JW 1926 Nr. 7, S. 1149 v. 01.03.1926. 203 RG Warn 1911 Nr. 241, S. 267 (269) v. 06.02.1911. 204 RGZ 50, 60 (62) v. 30.12.1901; RG Warn 1911 Nr. 33, S. 40 v. 10.11.1910. 205 BGH VersR 1958, 85 (86) v. 03.12.1957; OLG München VersR 1954, 544 (545 f) v. 24.08.1954; 1958, 238 v. 28.05.1957; OLG Düsseldorf VersR 1976, 1133 v. 30.10.1975; OLG Schleswig VersR 1978, 237 (238) v. 09.01.1976; OLG Karlsruhe VersR 1979, 58 v. 14.12.1977; LG Berlin VersR 1954, 439 v. 29.06.1954; LG München VersR 1955, 636 (637) v. 24.03.1955. 206 BGH VersR 1960, 355 (356) v. 26.01.1960; 1962, 783 v. 29.05.1962; 1965, 48 f v. 27.10.1964; 1965, 606 (607) v. 23.03.1965; OLG München ZBIJugR 1954, 179 (180) v. 15.08.1953; OLG Freiburg VersR 1954, 87 v. 12.11.1953; OLG Nürnberg VersR 1958, 118 v. 21.06.1956; OLG Köln JMB1N-W 1959, 205 v. 05.06.1959; VersR 1969, 44 (45) v. 05.04.1968; 1969, 88 (89) v. 20.05.1968; OLG Celle NJW 1966, 302 (304) v. 12.07.1965. 207 BGH VersR 1957, 370 v. 21.12.1956; OLG Köln FamRZ 1962, 124 (125) v. 31.10.1961; OLG Karlsruhe VersR 1979, 58 v. 14.12.1977; OLG Koblenz VersR 1979, 1034 (1035) v. 14.11.1978. 208 BGH LM Nr. 12 zu § 832 BGB (= NJW 1980, 1044 [1045]) v. 27.11.1979; LM Nr. 15 zu § 832 BGB (= NJW 1984, 2574 [2575]) v. 10.07.1984; LM Nr. 19 zu § 832 BGB (= NJW 1993, 1003) v. 19.01.1993; OLG München FamRZ 1990, 159 v. 21.12.1988; OLG Hamm VersR 1990, 743 (744) v. 27.04.1989; OLG Oldenburg FamRZ 1994, 833 (834) v. 19.10.1993; OLG Celle OLGR 1994, 221 v. 15.06.1994; OLG Düsseldorf NJW-RR 1997, 343 v. 11.10.1996; OLG Jena OLG-NL 1998, 101 v. 21.10.1997; LG Saarbrücken NJW-RR 1991, 543 (544) v. 07.11.1990; LG Lübeck r+s
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seinem Urteil v. 12.08.2002: Bei der Bestimmung des gebotenen Aufsichtsmaßes ist insbesondere zu beachten, dass der Sinn und Zweck der Kindererziehung zu einem großen Teil darin besteht, das Kind möglichst bald zu Selbstständigkeit und Eigenverantwortung zu führen 209 . Haberstroh bezeichnet das als ergänzende Formel, in der sich die Orientierung der Aufsichtspflicht an den konkreten Erfordernissen bestätigt 210 . Auch in der neueren Rechtsprechung wird noch darauf hingewiesen, dass nicht die Vernachlässigung der Erziehungspflicht, sondern die hiervon zu trennende Aufsichtspflichtverletzung die Haftung nach § 832 BGB auslöst. Dabei habe die Aufsichtspflicht lediglich zum Ziel, Dritte vor Schaden zu bewahren, nicht aber dem Kind Erziehung und Fürsorge angedeihen zu lassen211. Durch das SorgeRG v. 18.07.1979 fand das von den Eltern anzustrebende Erziehungsziel, dem Kind zur Entwicklung seiner Persönlichkeit zu verhelfen und es in selbstständiges verantwortungsbewusstes Handeln einzuüben, in § 1626 Abs. 2 BGB seinen gesetzlichen Niederschlag. Seitdem verweisen die Gerichte in den Urteilen immer häufiger auf den normierten, das Aufsichtsmaß mindernden, Erziehungsauftrag der Eltern 212 . So heißt es: Das Maß der gebotenen Aufsicht müsse mit dem (in §§ 1626 Abs. 2, 1631 Abs. 1 BGB umschriebenen) Erziehungsziel, den Jugendlichen an ein selbstständiges verantwortungsbewusstes Handeln heranzuführen, in Einklang gebracht werden 213 . Wiederholt lassen die Gerichte in ihre fallbezogenen Ausführungen den von der Subsumtion losgelösten Hinweis einfließen, dass den Eltern gewisse Freiräume pädagogisch vertretbarer Maßnahmen zur Verfügung ständen, die sich aus den Erziehungszielen (der §§ 1631 Abs. 1 und 1626 Abs. 2 BGB) ergäben 214. Eine bis heute häufig zitierte Passage formulierte der 1993, 17 (18) v. 30.01.1992; LG Bielefeld ZfS 1996, 171 v. 28.09.1995; LG Mannheim VersR 1999, 103 v. 28.01.1997. 209 LG Potsdam NJW-RR 2002, 1543 (1544) v. 12.08.2002. 210 Haberstroh, VersR 2000, 806 (810). 2.1 OLG Köln VersR 1975, 162 v. 12.06.1974; OLG Koblenz VersR 1980, 752 (753) v. 06.07.1979; LG Arnsberg FamRZ 1995, 602 v. 05.08.1994. 2.2 Zuvor schon u. a. BGH VersR 1957, 370 v. 21.12.1956; LM Nr. 11 zu § 832 BGB (= VersR 1976, 878 (879) v. 06.04.1976; OLG Karlsruhe VersR 1979, 58 v. 14.12.1977. 2.3 BGH LM Nr. 12 zu § 832 BGB (= NJW 1980, 1044 [1045]) v. 27.11.1979; OLG Düsseldorf NJW 1986, 2512 (2513) v. 21.05.1986; VersR 1988, 56 v. 03.06.1986; NJW-RR 1996, 671 v. 14.12.1995; 1999, 1620 v. 18.12.1997; r+s 1997, 413 v. 19.09.1996; OLG Oldenburg r+s 1987, 224 v. 07.07.1986; OLG Celle NJW-RR 1987, 1384 (1385) v. 01.07.1987; 1988, 216 v. 27.05.1987; FamRZ 1998, 233 v. 12.02.1997; OLG Hamm OLGZ 92, 95 (96) v. 02.05.1991; FamRZ 1995, 167 v. 07.12.1993; MDR 2000, 1373 (1374) v. 09.06.2000; OLG Dresden NJW-RR 1997, 857 (858) v. 04.12.1996 (Verweisung auf § 1 SGB VIII); OLG Koblenz NJW-RR 2002, 900 v. 15.04.2002; LG Arnsberg FamRZ 1995, 602 v. 05.08.1994; AG Bersenbrück VersR 1994, 108 v. 03.03.1993; AG Ansbach VersR 1994, 1197 L v. 02.04.1993. 214 BGH LM Nr. 12 zu § 832 BGB (=NJW 1980, 1044 [1045]) v. 27.11.1979; OLG Hamm NJW-RR 1988, 798 v. 21.09.1987; OLG Hamburg NJW-RR 1988, 799 v.
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
BGH bereits in einem Urteil v. 06.04.1976: Nicht unbedingt das Fernhalten von jedem Gegenstand, der bei unsachgemäßen Umgang gefährlich werden kann, sondern gerade die Erziehung des Kindes zu verantwortungsbewusstem Hantieren mit einem solchen Gegenstand wird oft der bessere Weg sein, das Kind und Dritte vor Schäden zu bewahren. Hinzu kommt die Notwendigkeit frühzeitiger praktischer Schulung des Kindes, das seinen Erfahrungsbereich möglichst ausschöpfen soll 215 . Das RG befand in seinem ersten Urteil zu § 832 BGB am 30.12.1901: Eltern sind nicht verpflichtet, das Spiel ihrer Kinder ständig zu beaufsichtigen 216. Aus diesem Grundsatz entwickelte sich in der Rechtsprechung die bis heute verwendete griffige Formulierung: Es ist nicht erforderlich, das Kind auf „Schritt und Tritt" zu beaufsichtigen 217. Demnach können normal entwickelte Kinder eine gewisse Zeit ohne unmittelbare Einwirkungsmöglichkeit und Aufsicht gelassen werden. Teile der Rechtsprechung gestehen diesen Freiraum Kindern ab einem Alter von vier Jahren zu, wobei eine regelmäßige Kontrolle in kurzen Zeitabständen für erforderlich gehalten wird 2 1 8 . Für Kinder unter vier Jahren wird teilweise eine jederzeitige Eingriffsmöglichkeit für erforderlich angesehen 219 , teilweise eine Kontrolle in kurzen Zeitabständen für ausreichend gehalten 220 . Wiederholt wird betont, dass die Möglichkeit zum Aufenthalt im Freien 08.04.1988; OLGR 1999, 190 (192) v. 26.02.1999; OLG Düsseldorf VersR 1996, 710 (711) v. 12.10.1995; NJW-RR 1996, 671 v. 14.12.1995; r+s 1997, 413 v. 19.09.1996; OLG Hamm MDR 2000, 454 (455) v. 16.09.1999; OLG Koblenz NJW-RR 2002, 900 v. 15.04.2002. 2.5 BGH LM Nr. 11 zu § 832 BGB (= VersR 1976, 878 [879] = FamRZ 1976, 330 [331] = NJW 1976, 1684) v. 06.04.1976 (vgl. 1. Teil § 3 II 3). 2.6 RGZ 50, 60 (63) v. 30.12.1901. 217 OLG Zweibrücken SeuffA 57 Nr. 216, S. 404 (405) v. 09.04.1902; OLG Oldenburg SeuffA 75 Nr. 159, S. 282 f v. 01.03.1919; BGH LM Nr. 15 zu § 832 BGB (= NJW 1984, 2574 [2575]) v. 10.07.1984; LM Nr. 19 zu § 832 BGB (= NJW 1993, 1003) v. 19.01.1993; LM Nr. 21 zu § 832 BGB (= NJW 1996, 1404 [1405]) v. 27.02.1996; BGH VersR 1973, 545 (546) v. 13.03.1973; OLG Freiburg VersR 1954, 87 v. 12.11.1953; OLG Karlsruhe VersR 1979, 58 v. 14.12.1977; OLG Oldenburg r+s 1987, 224 v. 07.07.1987; OLG Hamm FamRZ 1995, 167 v. 07.12.1993; OLG Celle OLGR 1994, 221 (222) v. 15.06.1994; OLG Düsseldorf NJW-RR 1999, 1620 v. 18.12.1997. 218 OLG Celle VersR 1969, 333 (334) v. 08.04.1968; NJW-RR 1988, 216 v. 27.05.1987; OLG Karlsruhe VersR 1979, 58 v. 14.12.1977; OLG Düsseldorf VersR 1996, 710 (711) v. 12.10.1995; NJW-RR 1996, 671 v. 14.12.1995; 1999, 1620 v. 18.12.1997; r+s 1997, 413 v. 19.09.1996; OLG Hamm MDR 1999, 677 v. 01.10.1998; OLG Köln OLGR 2000, 253 (256) v. 27.05.1999. 219 AG Dieburg SP 1996, 373 v. 24.07.1996. Weitergehend: OLG Köln VersR 1969, 44 (45) v. 05.04.1968, wonach Kinder im Kindergartenalter ausnahmslos ständig zu beaufsichtigen sind. 220 OLG Oldenburg MDR 1995, 699 v. 12.04.1994 (eine 2,/4-Jährige muss nicht ohne Unterbrechung überwacht werden); OLG Düsseldorf NJW-RR 2002, 235 v. 15.09.2000 (drei Jahre, ohne ständige Aufsicht, aber gewährleistet, dass Gefahrensituation in kürze-
§ 2 Die Analyse der Aufsichtsformel
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erhalten bleiben muss 221 und die Anforderungen an die Aufsichtspflicht nicht überspannt werden dürfen 222 . Das OLG Düsseldorf fasst diese Ausfuhrungen wie folgt zusammen: Von der Rechtsprechung ist anerkannt, dass sich schon 4bis 6-jährige Kinder ohne ständige Überwachung allein auf einem Spielplatz oder Sportgelände aufhalten dürfen und nur gelegentlich beobachtet werden müssen, dass ein normal veranlagtes 6-jähriges Kind beim Spielen außerhalb der Wohnung nur gelegentlich kontrolliert werden muss und dass 8- bis 9jährigen Kindern das Spielen im Freien ohne Aufsicht in einem räumlichen Bereich gestattet werden darf, der ein unmittelbares Eingreifen des Aufsichtspflichtigen nicht ermöglicht 223 . Um die Einflussmöglichkeit auf ältere Jugendliche nicht zu verlieren, können sich allzu strenge Maßnahmen verbieten 224. Der Überwachung sind dabei naturgemäß Grenzen gesetzt225. Seit 1983 formuliert die Rechtsprechung aber auch den Grundgedanken des § 832 BGB teilweise wie folgt: Das Risiko, das von Kindern für unbeteiligte Dritte ausgeht, soll nach dem Grundgedanken des § 832 BGB von den Eltern getragen werden, denen es eher zuzurechnen ist als dem unbeteiligten Dritten 226 . Danach sollen gerer Zeit erkannt wird); LG Mainz VersR 1976, 548 v. 05.06.1975 (drei Jahre, keine lückenlose Überwachung erforderlich); LG Bielefeld ZfS 1996, 171 v. 28.09.1995 (drei Jahre, fünf bis zehn Minuten reicht). 221 BGH LM Nr. 5 zu § 832 BGB, abgedruckt als LM Nr. 5 zu § 683 BGB (= VersR 1957, 340 [341]) v. 19.03.1957; LM Nr. 15 zu § 832 BGB (=NJW 1984, 2574 [2575]) v. 10.07.1984; LM Nr. 22 zu § 832 BGB (= NJW 1997, 2047 [2048]) v. 18.03.1997; BGH VersR 1964, 313 (314) v. 19.11.1963; OLG Hamm VersR 1990, 743 (744) v. 27.04.1989; NJW-RR 1997, 344 v. 29.10.1996; OLG Köln OLGR 2000, 253 (256) v. 27.05.1999. 222 BGH VersR 1957, 370 (371) v. 21.12.1956; OLG Nürnberg VersR 1962, 1116 (1117) v. 09.11.1961; OLG Köln VersR 1969, 88 v. 20.05.1968; OLG Hamburg VersR 1973, 828 (829) v. 02.09.1971; LG Mönchengladbach NJW 1968, 1970 (1971) v. 19.03.1968. 223 OLG Düsseldorf NJW-RR 1999, 1620 v. 18.12.1997. 224 BGH LM Nr. 12 zu § 832 BGB (=NJW 1980, 1044 [1045]) v. 27.11.1979; OLG Hamm NJW-RR 1988, 798 v. 21.09.1987. 225 BGH LM Nr. 12 zu § 832 BGB (=NJW 1980, 1044 [1045]) v. 27.11.1979; OLG Freiburg VersR 1954, 87 v. 12.11.1953; OLG Hamm OLGZ 92, 95 (96) v. 02.05.1991; FamRZ 1995, 167 v. 07.12.1993. 226 BGH LM Nr. 13 zu § 832 BGB (= NJW 1983, 2821 f) (V) v. 17.05.1983; LM Nr. 15 zu § 832 BGB (= NJW 1984, 2574 [2576]) v. 10.07.1984; LM Nr. 16 zu § 832 BGB (= NJW-RR 1987, 13 [14]) (V) v. 01.07.1986; OLG Hamm VersR 1990, 743 (744) v. 27.04.1989; BGH LM Nr. 18 zu § 832 BGB (= NJW 1990, 2553 [2554]) v. 29.05.1990; OLG Düsseldorf VersR 1992, 310 (311) (V) v. 23.11.1990; BGH LM Nr. 19 zu § 832 BGB (V) (= NJW 1993, 1003) v. 19.01.1993; OLG Oldenburg FamRZ 1994, 833 (834) (V) v. 19.10.1993; OLG Koblenz r+s 1995, 413 (414) (V) v. 01.06.1994; BGH LM Nr. 20 zu § 832 BGB (V) (= NJW 1995, 3385 [3386]) v. 10.10.1995; LM Nr. 21 zu § 832 BGB (V) (= NJW 1996, 1404) v. 27.02.1996; OLG München FamRZ 1997, 740 (741) v. 18.06.1996; LG Lüneburg VersR 1999, 102 (V) v. 09.01.1997; OLG Celle FamRZ 1998, 233 v. 12.02.1997; BGH LM Nr. 22 zu § 832 BGB (= NJW 1997, 2047 [2048]) v. 18.03.1997; OLG Hamm VersR 1998, 722 (723) v.
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
rade dritte Personen von dem Risiko, das von widerrechtlichen Handlungen spielender Kinder ausgeht, zu Lasten der Aufsichtspflichtigen befreit sein. Wiederholt verweisen die Gerichte dabei auf die Möglichkeit der Eltern, sich entsprechend zu versichern 227. Insgesamt ist festzustellen, dass Umfang und Häufigkeit der abstrakten Ausfuhrungen der Gerichte zum Maß der gebotenen Aufsicht in der neueren veröffentlichten Rechtsprechung angestiegen sind.
15.04.1997; AG Flensburg NJW-RR 1999, 1041 (1042) v. 05.11.1998; OLG Jena OLGR-NL 2002, 381 (385) v. 29.11.2000; vgl. 2. Teil § 4 IV 1 a. 227 Es handelt sich dabei um die mit (V) gekennzeichneten Urteile in der vorgehenden Fn. (vgl. 3. Teil § 2 II 3 b bb). Zudem: OLG Hamm NJW-RR 1996, 153 v. 13.01.1995.
§ 3 Die Entwicklung der Aufsichtsanforderungen
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§ 3 Die Entwicklung der Aufsichtsanforderungen in der Rechtsprechung seit 1900 Aus den nachfolgenden Urteilen geht hervor, für welche Aufsichtspflichtverletzungen Eltern seit 1900 gemäß § 832 Abs. 1 S. 1 BGB hafteten bzw. welche Aufsichtsmaßnahmen zu ihrer Entlastung nach § 832 Abs. 1 S. 2 F l BGB genügten. Ziel der vorgenommenen Einteilung ist es nicht, die in der Literatur bestehende Systematisierung der Elternhaftung weiter zu verfeinern 228 ; ohnehin ist jeder Schadensfall in diesem Haftungsbereich ein Einzelfall 2 2 9 . Vielmehr erfolgte die Einteilung der veröffentlichten Urteile mit dem Bestreben, die Entwicklung der Rechtsprechung in vergleichbaren Aufsichtssituationen seit dem In-Kraft-Treten des § 832 BGB nachzuzeichnen. Aus den nachfolgend dargestellten Schadenssituationen, die den Gerichten zur Entscheidung vorlagen, ergibt sich, welche Anforderungen die Rechtsprechung im Einzelfall an aufmerksame und besonnene Eltern stellt. Schon aufgrund ihrer Veröffentlichung besitzen diese Urteile Orientierungscharakter für die weitere Rechtsanwendung. Die Gerichte entscheiden bei der Prüfung von § 832 BGB aber nicht, welche der Aufsichtsmaßnahmen letztendlich erforderlich und ausreichend gewesen wären, um den Eltern den Vorwurf der Aufsichtspflichtverletzung zu ersparen. Ihnen obliegt vielmehr im jeweiligen Einzelfall die Entscheidung, ob die von den Eltern konkret getroffenen Maßnahmen ausreichend waren 230 .
228
Die folgenden Autoren stellen die Rechtsprechung zu § 832 BGB am umfassendsten dar: Belling/Eberl-Borges (in Staudinger, § 832 Rn. 97-111) unterscheiden sechs teilweise weiter untergliederte - Schadensobergruppen: Verkehrsgefahren durch spielende Kinder, Kinder als Fußgänger im Straßenverkehr, Kinder als Verkehrsteilnehmer mit Fahrzeugen oder Fortbewegungsmitteln, Umgang mit gefährlichem Spielzeug, Zündmitteln und Schusswaffen. Kreft (in RGRK, § 832 Rn. 35-50, ähnlich SoergelHeuner, § 832 Rn. 16-21) differenziert wie folgt: Spiel oder Umgang mit gefährlichen (Spiel-)Geräten und sonstigen Gegenständen, Umgang mit (Schuss-)Waffen, Benutzung von Kfz, sonstiges Verhalten im Verkehr und besondere Eigenschaften und Unarten des Kindes. Stein (in MünchKomm, § 832 Rn. 22-27) gliedert in vier Gruppen: Verhalten im Straßenverkehr, Benutzung von gefährlichem Spielzeug, Schusswaffen und anderen gefährlichen Gegenständen, Benutzung von Kfz und der Umgang mit Tieren. 229
230
Dengler, S.41.
LG Landau NJW 2000, 2904 (2905) v. 16.06.2000; AG Königswinter NJW-RR 2002, 748 fv. 17.10.2001.
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
I. Der Umgang des Aufsichtsbedürftigen mit Mobilien 1. Schusswaffen a) Jagdgewehre und Kleinkaliberwaffen Das Gros der veröffentlichten Entscheidungen in dieser Schadensgruppe erging durch das RG. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden nur noch zwei Entscheidungen veröffentlicht. Dieser Schadenskonstellation kommt somit nur noch eine geringe Bedeutung zu 2 3 1 . In fast allen Urteilen verwendeten die Aufsichtsbedürftigen ein Flobertgewehr oder ein Tesching 232 und fügten den Geschädigten - zumeist über den Verlust des Augenlichts hinaus - schwere Verletzungen zu. Die gestellten Anforderungen an das vom Aufsichtspflichtigen zu erbringende Aufsichtsmaß sind überwiegend einheitlich und streng und nach dem zweiten Weltkrieg besonders streng. Teilweise vertrat das RG die Auffassung, der Aufsichtspflichtige darf dem Minderjährigen die Führung einer Schusswaffe unbeaufsichtigt gestatten, wenn er sich von dessen Besonnenheit, Geschick und Verständnis für den Gebrauch und die Gefahren der Waffe überzeugt hat und die Waffenbenutzung an einem sicheren Ort sowie ohne Verletzung polizeilicher Schutzvorschriften erfolgt. Andernfalls muss die Benutzung unter ständiger Aufsicht erfolgen 233 . Häufig sahen die Gerichte die Aufsichtspflichtverletzung in einer ungenügenden Verwahrung der Waffe. Um seiner Aufsichtspflicht zu genügen, muss der Aufsichtspflichtige die Waffe deshalb sicher verwahren, um die Benutzung durch den Minderjährigen zu verhin-
231 Am 01.11.1996 brach der 16-jährige M den Waffenschrank seines Vaters im elterlichen Haus in Bad Reichenhall auf. Die dort aufbewahrten 19 Waffen waren zum Teil illegal. Er nahm einige Waffen an sich. Mit diesen erschoss er vier Menschen, verletzte fünf weitere schwer und richtete sich dann selbst. Das Schießen hatte ihm sein Vater beigebracht. Unter den Verletzten befand sich auch der Schauspieler Günter Lamprecht, der aber zivilrechtliche Schritte gegen die Eltern in einem Interview ausschloss (Xzeit magazin Nr. 7, Januar/Februar 2001, unter [Abfragestand: 25.02.2003]: http://www. xzeit.de/Artikel%20Nr.%207/Lamprecht.htm). Der 16-jährige F unternahm am 02.07.2003 in einer Coburger Realschule einen Mordversuch an seiner Klassenlehrerin. Er entwendete dazu aus dem väterlichen Waffenschrank zwei Revolver und 85 Schuss Munition, nahm sie mit in die Schule und schoss auf mehrere Personen. F verletzte eine Lehrerin mit einem Hüftdurchschuss; seine Klassenlehrerin kam mit dem Schrecken davon. Anschließend richtete er sich selbst (Die Welt v. 12.07.2003, S. 32). Die Todesschützen der Amokläufe von Freising am 22.02.2002 und Erfurt am 26.04.2002 waren mit 22 bzw. 19 Jahren bereits volljährig. 232 Bei einem Flobertgewehr handelt es sich um eine Handfeuerwaffe für kleine Entfernungen (Wahrig, S. 485). Ein Tesching ist ein Kleinkalibergewehr (Wahrig, S. 1246). 233 RGZ 52, 69 (75) v. 23.06.1902; RG JW 1905 Nr. 21, S. 21 (22) v. 03.11.1904; SeuffA 88 Nr. 39, S. 78 (79 f) v. 19.10.1933.
§ 3 Die Entwicklung der Aufsichtsanforderungen
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dem 234 . Das Verstecken des Gewehres hinter einem Schrank erfüllt diese Anforderung nicht 235 . Mehrmals sahen die Gerichte die Aufsichtspflichtverletzung in der verschuldeten Unkenntnis des Aufsichtspflichtigen um den Waffenbesitz und die Waffenbenutzung durch den Aufsichtsbedürftigen aufgrund mangelnder Aufmerksamkeit 236 . Der BGH entschied unter Anwendung von § 832 BGB nur einen Fall zum Schusswaffengebrauch eines Minderjährigen. Dabei führte er aus: An die Verpflichtung der Eltern, ihren 20-jährigen, nicht besonders befähigten Sohn hinsichtlich der ihnen bekannten Benutzung einer besonders gefährlichen Schusswaffe zu beaufsichtigen, sind sehr strenge Anforderungen zu stellen. Die Aufsichtspflicht schließt in erster Linie die wiederholte und eindringliche Ermahnung ein, niemals eine Schusswaffe ohne Nachprüfung für ungeladen zu halten und, sei es auch nur zum Scherz, in die Richtung von Menschen zu zielen oder gar noch abzudrücken. Die Aufsichtspflicht erfordert weiter eine eingehende Unterweisung im Gebrauch der Schusswaffe, insbesondere den Hinweis, dass die Waffe nach jedem Gebrauch dahin untersucht werden muss, ob sich noch eine Patrone im Lauf befindet. Fehlt es daran, müssen die Aufsichtspflichtigen durch sichere Verwahrung der Waffe dafür Sorge tragen, dass ihr Sohn sie nur unter väterlicher Aufsicht benutzen kann 237 . Den bisher letzten Fall in dieser 234
RGZ 98, 246 (248 f) v. 15.03.1920 (trotz Fehlens der Hähne, da diese unschwer zu beschaffen waren); RG Das Recht 1909 Nr. 681 v. 11.01.1909; Warn 1929 Nr. 10, S. 21 (23) v. 12.11.1928; 1934 Nr. 155, S. 322 (325) v. 18.06.1934 (zudem getrennt von der Munition); SeuffA 88 Nr. 39, S. 78 (80) v. 19.10.1933. 235 RG Warn 1929 Nr. 10, S. 21 (23) v. 12.11.1928. 236 RG Das Recht 1909 Nr. 681 v. 11.01.1909; SeuffA 77 Nr. 75, S. 132 (133) v. 26.01.1922; Warn 1929 Nr. 10, S. 21 (23) v. 12.11.1928; 1934 Nr. 155, S. 322 (325) v. 18.06.1934. 237 BGH VersR 1962, 157 v. 14.11.1961. Der 20-Jährige wollte vor seinem Elternhaus stehende Jugendliche mit einem Flobertgewehr erschrecken. Er richtete das Gewehr auf die sich abwendenden Jugendlichen und drückte, in der Meinung das Gewehr sei nicht geladen, ab. Im Lauf befand sich aber noch eine scharfe Patrone. Die Kugel traf den Kläger von hinten. Dieser erlitt einen Leberdurchschuss, eine Niere musste entfernt werden. Der BGH verurteilte neben dem Vater auch die Mutter. Diese hatte alle Vorsichtsmaßnahmen hinsichtlich des Gewehrs ihrem Mann überlassen. Nach Ansicht des Senats hätte sie auch als einfache Landfrau (sie) erkennen müssen, dass eine eingehendere Unterweisung im Gebrauch der Waffe und eine fortgesetzte Belehrung notwendig war. Da dies nicht geschah, hätte sie darauf wirken müssen, dass der ungehinderten Gebrauch durch ihren Sohn unterbunden wurde. Dahlgrün (S. 83) hält das für überspannte Aufsichtsanforderungen an eine in einfachen bäuerlichen Verhältnissen lebende Frau, wo die Aufsicht über einen fast erwachsenen Sohn hinsichtlich des väterlichen Gewehrs kraft natürlicher Aufgaben Verteilung in erster Linie als Sache des Vater angesehen wird. Wiederholt wird im Schrifttum zu § 832 BGB auch die Entscheidung des BGH in VersR 1963, 1049 v. 11.06.1963 zitiert. Dort ging der BGH aber nicht auf eine etwaige Aufsichtspflichtverletzung ein. Der Beklagte hatte seinem knapp 17-jährigen Arbeiter, der auch auf seinem Hof wohnte, sein Kleinkalibergewehr wiederholt zur Benutzung
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
Schadenskonstellation entschied das OLG Zweibrücken am 13.02.1980. Der 15-jährige Sohn der Beklagten hatte in der elterlichen Wohnung Schiessstellungen mit einer Weltkriegspistole eingeübt, welche er von einem Bekannten erhalten hatte. Dabei löste sich ein Schuss und traf den Kläger in den Kopf, was zu seiner Erblindung führte. Die beklagte Mutter wusste, dass ihr Sohn eine ausgeprägte Vorliebe für Waffen besaß und im Jahr zuvor in ein Strafverfahren wegen unerlaubten Waffenbesitzes verwickelt war. Wenige Monate vor der Verletzungshandlung hatte sie im Bett ihres Sohnes eine Pistole gefunden. Das OLG verurteilte die Mutter aus § 832 Abs. 1 S. 1 BGB. Ihr hätte durch den Waffenfund klar werden müssen, dass sich ihr Sohn nach seinen früheren Erfahrungen von seiner Liebe zu Schusswaffen nicht abschrecken ließ. Sie hätte sich deshalb um die Freizeittätigkeit ihres Sohnes kümmern und auch ihre Wohnung regelmäßig nach verbotswidrig aufbewahrten Waffen durchsuchen müssen. Nur so wäre sie ihrer Aufsichtspflicht nach Ansicht des Senats ausreichend nachkommen238.
b) Luftgewehre/Windbüchsen Diese Schadensgruppe ist dadurch gekennzeichnet, dass der Aufsichtsbedürftige mit einem Luftgewehr dem Geschädigten „nur" eine Augenverletzung zufügt. Was unter Luftgewehren und Windbüchsen in den Urteilen zu verstehen ist, führte das RG in einer Entscheidung aus 239 . Auch bei Verwendung eines solchen Gewehres wurden die Anforderungen an die elterliche Aufsichtspflicht von den Gerichten in der Bundesrepublik eher noch verschärft 240. Dabei differenzieren die Gerichte danach, ob die Aufsichtspflichtigen Kenntnis von der Existenz eines Luftgewehres in ihrem Haushalt hatten.
überlassen. Er hatte auch Kenntnis von einer unbefugten Benutzung durch den 17Jährigen, verwahrte das Gewehr aber weiter unverschlossen auf dem Küchenschrank. Der 17-Jährige besorgte sich Patronen mit dreifacher Ladung, nahm eigenmächtig das Gewehr an sich und verletzte ein Kind durch einen Schuss schwer im Gesicht. Die Verurteilung des Beklagten erfolgte nur unter dem Vorwurf der unzureichenden Verwahrung des Gewehrs aus § 823 Abs. 1 BGB. Das Urteil ließ offen, ob eine stillschweigende Aufsichtspflichtübernahme des Beklagten vorlag. 238 OLG Zweibrücken VersR 1981, 660 f v. 13.02.1980. 239 Das Recht 1914 Nr. 1421 v. 21.02.1914. Danach wird eine Luft- und Windbüchse im eigentlichen Sinne mit eingepumpter, zusammengepresster Luft geladen, die je nach dem Atmosphärendruck das Geschoss mit erheblicher Gewalt durch den Lauf befördert. Windbüchsen werden aber auch Gewehre genannt, wie sie in Schießbuden benutzt werden, bei denen in der Hauptsache eine gespannte Feder und eine geringe Menge von ihr zusammengepresster Luft das Geschoss hinaustreibt. Zuvor hatte das RG (Warn 1912 Nr. 212, S. 234 [235] v. 17.02.1912) ausgeführt, dass eine Windbüchse zwar nicht als wirkliche Schusswaffe, wohl aber als gefährliches Spielzeug anzusehen sei. 240 So auch A. Fuchs (S.311 f)-
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Das RG hielt eine Überlassung von Windbüchsen an den Aufsichtsbedürftigen grundsätzlich für zulässig. Einem wohlerzogenen Knaben durfte eine solche Waffe nach entsprechender Unterweisung, Schulung und Belehrung an derselben, die eine gefahrlose Handhabung erwarten ließ, zur unbeaufsichtigten Nutzung an einem sicheren Ort überlassen werden 241 . Der BGH lehnte in einem Urteil v. 16.12.1953 hingegen jede unbeaufsichtigte Nutzung eines Luftgewehres durch einen 11-Jährigen ab. Eine Mahnung zu vorsichtiger Handhabung genüge nicht. Eine solche sei nicht ausreichend, um die gefahrlose Handhabung für Dritte durch das Kind sicherzustellen 242. Das OLG Nürnberg betonte die besonders strengen Anforderungen an die Aufsichtspflicht und hielt die Benutzung des Luftgewehres nur unter elterlicher Aufsicht für zulässig, da der 15jährige Sohn weder über den Gebrauch der Waffe noch über die dabei erforderlichen Vorsichtsmaßnahmen unterrichtet war. Die so erhöhte Aufsichtspflicht erfordert die wiederholte und eindringliche Ermahnung des Aufsichtsbedürftigen, niemals eine Waffe ohne Nachprüfung für ungeladen zu halten und - sei es auch nur im Scherz - auf Menschen zu zielen 243 . Auch das LG Aachen hielt die Benutzung eines Luftgewehres durch einen 15-Jährigen nur unter Aufsicht
241 RG Gruchot 46 Nr. 71, S. 949 f v. 13.03.1902: Das RG bejahte die Aufsichtspflichtverletzung des beklagten Vaters nur, weil sein 14-jähriger Sohn die Windbüchse in einem Garten benutzte, der an ein Wohngrundstück grenzte. RG Warn 1912 Nr. 212, S. 234 f v. 17.02.1912: Die Aufsichtspflichtverletzung lag in der unzureichenden Unterweisung und Belehrung des 14-Jährigen hinsichtlich der Auswahl eines geeigneten sicheren Ortes zur Nutzung des Gewehres und der fehlenden Belehrung, nicht in die Richtung von Menschen zu schießen. Der Knabe hatte mit anderen Knaben Schießübungen auf ein hochgehaltenes Tuch veranstaltet. Nachschlagewerk des RG, § 832 Nr. 18 (bis 31.12.1912) v. 17.01.1917: Haftung der Mutter, da sie ihrem 15-jährigen Sohn die Luftdruckbüchse zur freien, unbeaufsichtigten Nutzung überließ und sich nicht um die Handhabung kümmerte. A.A. RG Das Recht 1914 Nr. 1422 v. 21.02.1914: Überlassung nur bei entsprechender Beaufsichtigung. RG LZ 1919 Nr. 8, S. 695 (696 f) v. 25.11.1918: Ein zurückgebliebener 14-Jähriger darf eine Luftbüchse nur unter Aufsicht des Vaters benutzen, im Übrigen ist diese unter Verschluss zu halten. Eine Exkulpation des Vaters nahm das RG (Nachschlagewerk des RG, § 832 Nr. 31 [bis 31.12.1912] v. 05.12.1912) für den Fall an, in dem ein durchschnittiicher Knabe trotz mehrmaligen Verbotes der Windbüchsennutzung und Wegnahme durch seinen Vater diese aus dessen Zimmer während des Schlafes heimlich entwendete. 242 BGH LM Nr. 3 zu 832 BGB (= VersR 1954, 118 v. 16.12.1953). Der BGH ließ eine Haftung des Stiefvaters aus § 832 Abs. 2 BGB ausdrücklich offen. Die Haftung aus § 823 Abs. 1 BGB wurde bejaht, weil der Beklagte nach dem gemeinsamen Schießen das Gewehr unbeaufsichtigt seinem Stiefsohn überließ. 243 OLG Nürnberg FamRZ 1963, 367 (368) v. 05.02.1963. Der 15-jährige Sohn der Beklagten, der sein Luftgewehr bei sich hatte, spielte mit einem 8-jährigen Kameraden unbeaufsichtigt auf dem elterlichen Grundstück. Erregt durch einen Streit schoss er, im Glauben die Waffe sei ungeladen, mit dem Luftgewehr aus der Hüfte heraus auf den 8Jährigen. Das Gewehr war jedoch geladen; das Geschoss traf ins Auge, welches entfernt werden musste.
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für zulässig244. Insofern das LG Karlsruhe erheblich geringere Anforderungen an die Erfüllung der Aufsichtspflicht formulierte, sei darauf verwiesen, dass es sich dabei um allgemeine Ausführungen über die Handhabung von Spielzeugen handelte245. Das LG Saarbrücken stellte die Haftung der Eltern nach § 832 BGB nur in einem Satz fest, nachdem ihre 16-jährige Tochter einem Bekannten bei der Vorführung ihres Luftgewehres ins Auge geschossen hatte 246 . Verschaffte sich der Aufsichtsbedürftige die Waffe ohne das Wissen seiner Eltern, sah das RG die Aufsichtspflichtverletzung bereits darin, dass sich das Luftgewehr im Besitz des 13-jährigen Aufsichtsbedürftigen befand. Die Eltern hätten darüber zu wachen, dass Schießwaffen und Gegenstände ähnlicher gefährlicher Art, insbesondere zur Gefährdung anderer geeignetes Spielgerät, auch nicht heimlich im Besitz des Knaben sind. Das Maß der erforderlichen Aufsicht richtet sich dabei danach, ob diesem nach seiner Persönlichkeit der heimliche Besitz gefährlicher Gegenstände zuzutrauen ist. Weil der Sohn zur Unwahrhaftigkeit neigte, traute ihm der Senat auch den heimlichen Waffenbesitz zu 247 . Der BGH befand mit Urteil v. 13.03.1973, die Eltern müssten sich hinreichend über die Freizeitgestaltung ihres 14-jährigen Sohnes informieren. Ohne konkreten Anlass brauche aber keine stichprobenartige tägliche Suche nach gefährlichen Gegenständen erfolgen, so dass eine auf dieser Unterlassung beruhende Unkenntnis der Eltern vom Besitz einer Luftpistole unverschuldet sei 248 . Im Urteil des OLG Frankftirt/M. v. 27.03.1997 bestand dagegen ein solch konkreter Anlass für die beklagte Mutter, so dass ihre verschuldete Unkenntnis vom Luftgewehrbesitz ihres 15-jährigen Sohnes zur Annahme einer
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LG Aachen VersR 1971, 89 (90) v. 11.11.1969. Die Aufsichtspflichtverletzung der Eltern lag aber bereits in der unverschlossenen Verwahrung des Luftgewehres in einem Kleiderschrank. Zudem hatten sie auch die Munition unverschlossen verwahrt. 245 LG Karlsruhe VersR 1960, 1025 v. 24.06.1960. Danach sei 10-jährigen Knaben das Spielen mit Schießgeräten harmloserer Art, wie Flitzbogen, Luftgewehr und Armbrust nicht völlig zu verbieten. Erforderlich sei aber, dass der Aufsichtspflichtige die notwendigen Vorsichtsmaßregeln trifft, d. h. den Knaben in der Handhabung unterweist, ihn nötigenfalls beim Spielen überwacht und beaufsichtigt. 246 LG Saarbrücken r+s 1986, 4 (5) v. 08.06.1983. Die Tochter hatte das Luftgewehr von einem Bekannten geschenkt erhalten. Das Urteil befasst sich fast ausschließlich mit versicherungsrechtlichen Fragen. Weitere Sachverhaltsinformationen, insbesondere zum Kenntnisstand der Eltern, enthält das Urteil nicht. 247 RG Warn 1916 Nr. 136, S. 216 v. 30.03.1916. Dahlgrün (S. 84 ff) sieht in diesem Urteil das Verschuldensprinzip der Elternhaftung verletzt, da die Beklagten ohne Verschulden für das Fehlverhalten ihres Sohnes einstehen mussten. 248 BGH VersR 1973, 545 (546 f) v. 13.03.1973. Der 14-Jährige hatte einen Kameraden beim Schießen mit einer Luftpistole am Auge verletzt. Da sich die Luftpistole seit höchstens zwei Tagen im Besitz ihres Sohnes befand, dieser sie versteckt hielt, nur an entlegenen Orten benutzte und zuvor keine Neigung zu gefährlichen Spielen gezeigt hatte, sah der Senat in der Unkenntnis der Eltern vom Vorhandensein der Luftpistole keine Aufsichtspflichtverletzung.
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Aufsichtspflichtverletzung führte. Sie wusste von der Waffenliebe ihres Sohnes und hatte ihm in der Vergangenheit selbst Waffen gekauft. Deshalb war sie zu besonderer Beobachtung, Belehrung und Beaufsichtigung ihres Sohnes, gegebenenfalls zur Durchsuchung der Wohnung nach versteckten Waffen verpflichtet. Dass sie das zur Verletzung benutzte Luftgewehr nicht gekauft und vom Kriegsspiel nicht gewusst hatte, genügte dem Senat nicht zur Führung des Entlastungsbeweises. Vielmehr hätte sie als Aufsichtspflichtige umfassend und konkret darlegen müssen, was sie zur Erfüllung der Aufsichtspflicht unternommen habe. Weil bei zum Spiel bestimmten Luftgewehren die eindringliche und ersichtliche Unterweisung und Überwachung des Jugendlichen erforderlich sei, müsse zur Exkulpation das aktive Bemühen um gewissenhafte Überwachung dargelegt werden 249 .
2. Pfeil und Bogen Bei der Verwendung von Pfeil und Bogen durch den Aufsichtsbedürftigen kam es in den Urteilen ausschließlich zu Augenverletzungen beim Geschädigten. Die Gerichte sehen Pfeil und Bogen in Kinderhänden nicht per se als gefährlich an. Das RG vertrat die Auffassung, ein Spielzeug könne nicht schon dann als ein gefährliches Spielzeug angesehen werden, wenn mit ihm unter besonders unglücklichen Verhältnissen einem anderen Menschen eine erhebliche Verletzung zugefügt werden kann. Die Beschaffenheit des verwandten Flitzbogens müsse deshalb zur Bestimmung der Aufsichtspflicht festgestellt werden 250 . Dem folgte der BGH 2 5 1 . Entscheidend ist danach, ob durch die Verwendung
249 OLG Frankfurt/M. MDR 1997, 1028 (1029) v. 27.03.1997. Bei einem Kriegsspiel, bei dem sie geladene und gespannte Luftgewehre einsetzten, verletzte der Sohn der Beklagten seinen Kameraden durch einen Schuss am Auge, nachdem er auf ihn angelegt und auf dessen Stahlhelm gezielt hatte. 250 RGZ 50, 60 (65) v. 30.12.1901. So ordnete das RG (Warn 1916 Nr. 166, S. 261 [262] v. 07.02.1916) die Benutzung des von den Kindern selbst gefertigten Bogens und der Pfeile als in der Regel harmlos ein. Die Entscheidung atmet auch den damals herrschenden Zeitgeist, was durch folgende Formulierung deutlich wird: „In der Jetztzeit, wo die Knaben durchweg in der freien Zeit,Krieg' spielen und mit den entsprechenden Spielgeräten versehen sind, ..." Hingegen sah das RG in einem früheren Urteil in der Überlassung von Pfeil und Bogen besonders gefährlicher Art an einen 9-Jährigen eine Aufsichtspflichtverletzung (Das Recht 1915 Nr. 877, 878 v. 25.01.1915). 251 BGH VersR 1955, 421 v. 11.05.1955: besonders gefährliche Pfeile; VersR 1962, 1088 f v. 13.07.1962: vorn zugespitzte Pfeile sind gefährliches Spielzeug; VersR 1964, 1085 f v. 07.07.1964: besonders gefährliche Pfeile mit Metallspitze. In einem obiter dictum verwies der BGH (VersR 1957, 799 v. 01.10.1957, vgl. 1. Teil § 4 II 2) darauf, dass ein 11-Jähriger einen besonders großen, sportlichen Flitzbogen mit Eisenspitzenpfeil nur unter Aufsicht nutzen dürfte. Der BGH (VersR 1957, 131 fv. 08.01.1957) vertrat aber auch die Auffassung, dass der Umgang mit Pfeil und Bogen nicht unter allen
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des Gerätes erfahrungsgemäß andere leicht verletzt werden können, wie beim Spiel mit Flitzbogen und spitzen Pfeilen oder gefährlichen Wurfpfeilen 252 . Neuere Urteile in dieser Schadenskonstellation gibt es nicht. Auffällig ist in den Urteilen nach dem zweiten Weltkrieg, dass kaum Verweisungen auf die in vorherigen Entscheidungen aufgestellten Aufsichtsanforderungen erfolgen. Für die Bestimmung des Maßes der gebotenen Aufsicht ist es entscheidend, ob die Aufsichtspflichtigen um den Besitz und die Verwendung von Pfeil und Bogen wussten bzw. sich Kenntnis verschaffen konnten. Das RG befand, aus der Unkenntnis der Eltern über den Flitzbogengebrauch ihres 10-jährigen Sohnes sei nicht ohne weiteres eine Vernachlässigung der Aufsichtspflicht herzuleiten. Habe der beklagte Vater seiner Aufsichtspflicht genügt, sei es Sache des Klägers die Kenntnis des Vaters vom Flitzbogenspiel zu beweisen, wenn er darin die Aufsichtspflichtverletzung sehe 253 . Auch allein aus dem Besitz einer Armbrust durch einen 11-jährigen Knaben im ländlichen Raum sei nicht auf die dementsprechende Kenntnis des Vaters zu schließen, wenn die Armbrust den Eindruck vermittle, irgendwo gefunden worden zu sein 254 . Sehr umfassend und genau differenzierend ging der BGH in seiner ersten Entscheidung in der gegenständlichen Schadenskonstellation auf das erforderliche Aufsichtsmaß der Eltern ein. Gelange der gefährliche Gegenstand mit Wissen und Willen des Aufsichtspflichtigen in die Hände des Aufsichtsbedürftigen, folge daraus eine strenge Aufsichtspflicht hinsichtlich des Gebrauchs des Gegenstandes durch das Kind, da der Aufsichtspflichtige Kenntnis von dessen Benutzung habe. Sei hingegen der Gegenstand ohne Wissen des Aufsichtspflichtigen beschafft worden, bestehe die Aufsichtspflicht nicht bezüglich der Gebrauchsüberwachung. Die Aufsicht gehe dann dahin, dass das Kind sich derartige gefährliche Gegenstände nicht beschaffe und mit ihnen spiele. In diesem Fall sei der Überwachung aber eine natürliche Grenze gesetzt. Erfahren die Eltern von einem gefährlichen Spiel, so haben sie dies zu verhindern, das Kind ernstlich zu verwarnen und gegebenenfalls eine Strafe zu verhängen. Zu häufige Umständen gefährlich sei. Durch geeignete Vorsichtsmaßregeln könne die im Verkehr erforderliche Sorgfalt gewahrt werden. A. A. LG Karlsruhe VersR 1960, 1025 v. 24.06.1960. Mit Verweis auf die Rechtsprechung des RG ordnet die Kammer einen Flitzbogen generell als Schießgerät harmloserer Art ein. 252
253
Staudinger/Belling/Eberl-Borges,
§ 832 Rn. 107; SoergeVZeuner,
§ 832 Rn. 20.
RGZ 50, 60 (63) v. 30.12.1901. Das OLG Stettin (OLGZ 3, 23 [24 f] v. 31.05.1901) hatte die Aufsichtspflichtverletzung des Vaters in seiner Unkenntnis über das seit Monaten andauernde Flitzbogenspiel gesehen, die der Mutter in der Kenntnis desselben. Auch im fehlenden Erziehungserfolg der Beklagten erblickte der Senat eine Aufsichtspflichtverletzung. Das RG hob das Urteil auf und verwies zurück. Es sah die verschuldete Unkenntnis des Vaters bzw. Kenntnis der Mutter als nicht erwiesen an. Auch stellte es fest, dass die Eltern im Rahmen des § 832 BGB nicht für den mangelnden Erziehungserfolg haftbar gemacht werden können. 254 OLG Zweibrücken SeuffA 63 Nr. 114, S. 191 (193) v. 25.02.1908.
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Verwarnungen ohne konkreten Anlass können hingegen gerade die unerwünschte Wirkung haben, das Kind erneut an die verbotene Tätigkeit zu erinnern 255 . Im Einklang mit diesen aufgestellten Maßstäben verneinten der BGH 2 5 6 und das OLG München 257 jeweils eine Haftung der Eltern. Die Eltern müssen danach ohne einen Anhaltspunkt nicht damit rechnen, dass sich ihr Kind am Bogenschießen anderer Kinder beteiligen werde. Die Aufsichtspflicht beschränkt sich in diesem Fall darauf, dass solche Gegenstände nicht beschafft und benutzt werden. Eine Haftung wegen der Verletzung der Aufsichtspflicht wurde auch verneint, als Eltern ihren 11-jährigen Sohn für einige Zeit in einem Raum der Wohnung allein ließen. Das Spiel mit Pfeil und Bogen war dem Kind zuvor untersagt und das Spielzeug auch weggenommen und zerstört worden 258 . In späteren Entscheidungen nahm der BGH jeweils eine Haftung der beklagten Eltern aus § 832 BGB an. So sah er eine Aufsichtspflichtverletzung der Eltern in der ungenügenden Verwahrung von Pfeil und Bogen vor dem 9-jährigen Sohn auf dem Küchenschrank 259. Ebenso liegt eine Aufsichtspflichtverletzung vor, wenn der Vater nach einem Benutzungsverbot Pfeil und Bogen in den Händen seines 7-jährigen Sohnes belässt. In diesem Fall tragen die Eltern das
255
BGH VersR 1955, 421 v. 11.05.1955. Der 9-jährige Sohn des Beklagten hatte einem Spielkameraden mit einem Flitzbogenpfeil ins Auge geschossen, wodurch dieser erblindete. Der beklagte Vater hatte mehrere Monate vor dem Unglücksfall seinen Sohn mit Pfeil und Bogen angetroffen, diesem weggenommen, vor den Augen zerbrochen, in den Ofen geworfen und erklärt, er dürfe nicht mit solchen Dingen spielen. Damit hatte er nach Ansicht des BGH - im Gegensatz zur Vorinstanz - seiner Aufsichtspflicht genüge getan. Der BGH verwies aber zurück, da noch geklärt werden müsse, ob vor dem Unfall die Dorfjugend allgemein mit Pfeil und Bogen gespielt habe. Sei dies der Fall, müsse der Beklagte nachweisen, dass seine Unkenntnis nicht auf Unaufmerksamkeit oder Uninteressiertheit bezüglich des Verhaltens seines Kindes beruhe. Bei verschuldeter Unkenntnis seien hingegen die vorgenannten Aufsichtsmaßnahmen nicht ausreichend gewesen, da dann ein besonderer Anlass zur eindringlichen Erneuerung des Verbotes bestand. 256 BGH VersR 1962, 989 v. 10.07.1962. 257 OLG München ZBIJugR 1960, 214 (215) v. 10.06.1960. 258 BGH VersR 1957, 131 (132) v. 08.01.1957. Der Sohn hatte einem gleichaltrigen Kameraden mit selbstgefertigtem Pfeil und Bogen ein Auge ausgeschossen. Gegen das Verbot seiner Eltern hatte er den später Verletzten in die Wohnung gelassen. 259 BGH VersR 1962, 1088 (1089) v. 13.07.1962. Der Sohn hatte Pfeil und Bogen von der Tante zum Geburtstag geschenkt bekommen, seine Mutter hatte ihm diese noch am gleichen Tag weggenommen und die Benutzung in Gegenwart anderer verboten. Um ihrer Aufsichtspflicht zu genügen, hätten die Eltern Pfeil und Bogen zwar nicht vernichten, jedoch so verwahren müssen, dass sie dem Zugriff des Jungen vollständig entzogen waren. Bedenklich ist hingegen die weitere Begründung des Senats. So hätten die Eltern nicht auf die Befolgung des ebenfalls ausgesprochenen Verbotes der Bogennutzung durch ihren braven und wohlerzogenen Sohn vertrauen dürfen. Da ein 9Jähriger stark vom Spieltrieb beherrscht sei, gebiete er in der Regel noch keine Gewähr dafür, stets Gebote und Verbote der Eltern zu beachten. Diese Anforderung geht zu weit, da aus ex ante Sicht kein Anhaltspunkt für eine Verbotsüberschreitung bestand.
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daraus resultierende Schadensrisiko 260. Verbietet der Vater seinem 11-jährigen Sohn mehrmals das Spiel mit Pfeil und Bogen und zerbricht mindestens einmal dieselben, so genügt bei einem erneuten Auffinden von Pfeil und Bogen eine bloße Erneuerung des Verbotes nicht zur Erfüllung der Aufsichtspflicht 261 . Aufgrund der Parallele bei der Verletzungshandlung sei noch auf zwei Urteile zur Nutzung von Spielflugzeugen verwiesen. Das LG Karlsruhe verneinte eine Aufsichtspflichtverletzung des Vaters, als dieser seinem 10jährigen Sohn die Benutzung eines Segelflug-Spielzeuges gestattete, welches durch Spannung einer Gummischnur gestartet wurde 262 . Das KG nahm hingegen die Haftung einer Mutter aus § 832 BGB an, deren 5,/ 2-jähriger Sohn mit einem leichten Plastikflugzeug ein Mädchen irreparabel am Auge verletzte. Das Flugzeug befand sich in einer „Superwundertüte", welche die Mutter ihrem Sohn ohne Inhaltskontrolle überlassen hatte. Die Wundertüte war auf der Vorderseite mit Bildern und dem Hinweis „für Mädchen" bedruckt. Auf ihrer Rückseite stand „Für Kinder unter drei Jahren nicht geeignet!". Nach Ansicht des KG hätte sich die Mutter vergewissern müssen, ob das in der Tüte enthaltene Spielzeug für ihren Sohn zum unbeaufsichtigten Spielen ohne vorherige
260 BGH VersR 1963, 726 v. 02.04.1963. Der Vater hatte sich dahingehend eingelassen, so eine Art Test machen zu wollen, ob der Sohn seinem Verbot Folge leiste. 261 BGH VersR 1964, 1085 (1086) v. 07.07.1964. Um ihrer Aufsichtspflicht zu genügen, hätten die Eltern weitere Aufsichtsmaßnahmen zur Unterbindung des gefährlichen Schießens ergreifen müssen. Während ihrer beruflichen Abwesenheit hätten die mit ihnen in gemeinsamer Wohnung lebenden Großeltern auf ihren Enkel achten können. Zudem hätte das Verhalten außerhalb der Schule stichprobenartig kontrolliert werden müssen. Dahlgrün (S. 81 f) hält diese Anforderungen für hoch, aber gerechtfertigt. Ebenso entschied das OLG München (ZBIJugR 1954, 179 [180] v. 15.08.1953). Der Stiefvater hatte seinem 7-jährigen Sohn das Spielen mit Pfeil und Bogen völlig verboten und die Gegenstände mehrmals zerbrochen. Die beklagte Mutter erlaubte ihm jedoch das Schießen in der Küche und tolerierte die Neuanfertigung der Bogen außerhalb des Hauses. Trotz Verbotes benutzte er Pfeil und Bogen im Freien und schoss einem Mädchen ein Auge aus. Im Gegensatz zur Vorinstanz (LG München II ZBIJugR 1952, 213 [214] v. 12.03.1952) sah der Senat die Aufsichtspflicht durch die Mutter als verletzt und verurteilte sie aus § 832 BGB. Um ihrer Aufsichtspflicht zu genügen, hätte die Mutter das Schießwerkzeug nach dem Spiel in der Küche an sich nehmen müssen. Die von ihr behauptete gelegentliche Beobachtung ließ das OLG nicht ausreichen. Zudem habe sie durch ihre Toleranz die sinnvollen Verbote des Stiefvaters abgeschwächt. 262 LG Karlsruhe VersR 1960, 1025 v. 24.06.1960. Die Gummischnur war mit einem Eisenring an das Flugzeug eingehängt, dieser klinkte sich nach dem Start des Flugzeuges aufgrund der Entspannung der Gummischnur aus. Bei einem Start verletzte der sich ausklinkende Ring einen Spielkameraden des Sohnes am Auge. Die Kammer ließ dahinstehen, ob der Vater die notwendigen Vorsichtsmaßregeln getroffen hatte. Diese hätte in einer Unterweisung des Sohnes in der Handhabung des Flugzeuges und nötigenfalls in einer Beaufsichtigung beim Spielen bestanden. Denn obwohl es sich nicht mehr um den Originalring handelte, war die eingetretene Schädigung für den Vater nicht vorhersehbar. Die Aufsichtspflichtverletzung entfiel somit unter dem Gesichtspunkt der Schuld.
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Ermahnung, es nicht beim Abschießen auf andere Personen zu richten, uneingeschränkt geeignet war. Die aufgedruckten Hinweise auf der Wundertüte konnten die Mutter von diesem Vorwurf nicht entlasten, vielmehr sah der Senat gerade darin einen Anlass zur Kontrolle des Tüteninhalts 263 .
3. Wurfpfeile Eine veröffentliche Entscheidung des RG zur Verwendung von Wurfpfeilen durch Minderjährige gibt es nicht. In dem ersten Urteil zu dieser Frage warf der 12-jährige Sohn des Beklagten mit Spielkameraden tagelang mit 13 cm langen Messingpfeilen auf einen vor der elterlichen Wohnung stehenden Lichtmast. Der Sohn gab seinen Wurfpfeil an einen 6-Jährigen weiter. Von diesem gelangte der Pfeil zu einem weiteren 6-Jährigen, der die 3-jährige Klägerin damit am Auge verletzte. Weil das gefährliche Spiel in den Vortagen erwiesen war, oblag es dem beklagten Vater seine unverschuldete Unkenntnis zu beweisen. Der BGH sah die Aufsichtspflicht als verletzt an, da die Eltern untätig blieben, obwohl in dem Verkehrkreis ihres Kindes allgemein ein gefährliches Spiel getrieben wurde und mit einer Beteiligung ihres Kindes an dem Spiel zu rechnen war. Die Aufsichtspflichtverletzung bestand darin, dass sich der beklagte Vater nicht in hinreichendem Maße um das Freizeitverhalten seines Sohnes gekümmert hatte. Sonst hätte er von dem gefährlichen Treiben erfahren und nicht untätig bleiben dürfen. Bei pflichtgemäßer Wahrnehmung seiner Aufsichtspflicht im Hinblick auf die besonders gefährliche Gestaltung des Spielzeugs hätte dann ein Verbot jeder Beteiligung am Spiel und des Erwerbes nicht ferngelegen. Zumindest musste der Vater seinen Sohn ernsthaft über die besonderen Gefahren und ihre Verhütung belehren sowie anhalten, derartige Pfeile nicht an Kinder im Alter von sechs Jahren weiterzugeben, die zur verständigen Beherrschung des Spielzeuges noch nicht fähig waren 264 . Das LG Wiesbaden urteilte, ein Vater dürfe seinen 6-jährigen Sohn ohne jegliche Aufsicht nicht im Besitz von Wurfpfeilen belassen265. Das OLG Schleswig sah die Aufsichtspflicht als verletzt an, weil ein Erzieher 12- bis 16-jährigen schwer erziehbaren Jugendlichen gestattete, Wurfpfeile mit ständiger Zugriffsmöglichkeit selbst aufzubewahren. Aufgrund des Aggressionspotentials der Jugendlichen dürften diesen solch gefährliche Sportgeräte nur unter Aufsicht zur Verfügung gestellt wer-
263 KG VersR 1992, 974 (975) v. 16.04.1991. Die Sehschärfe auf dem verletzten Auge des 4-jährigen Mädchens betrug nach dem Unfall nur noch 8%. Das KG sprach dem Mädchen ein Schmerzensgeld i.H.v. 100.000 DM zu. 264 BGH LM Nr. 8a zu § 832 BGB (= VersR 1966, 368 f) v. 01.02.1966 (vgl. 1. Teil § 1 III 1 c aa). 265 LG Wiesbaden VersR 1976, 549 v. 27.06.1975.
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den 266 . Im vom OLG Köln zu entscheidenden Fall hielt sich der knapp 11jährige Sohn der beklagten Mutter auf einem Spielplatz in der Nähe der gemeinsamen Wohnung mit anderen Kindern auf. Auf dem Spielplatz stand ein Blockhaus mit Satteldach. Auf einer Dachseite war eine Zielscheibe aufgezeichnet. Die Kinder warfen mit einem Wurfpfeil abwechselnd danach. Auf der dem Werfer abgewandten Dachseite duckte sich jeweils ein Kind, um den Pfeil nach dem Wurf aus dem Holz zu ziehen und herunterzureichen. Der 7,/2-jährige Kläger sah dabei über den First, als der Sohn der Beklagten den Pfeil warf. Er wurde im Auge getroffen und erblindete. Das OLG sah die Aufsichtspflicht durch die Mutter als verletzt an. Durch gelegentliche Beobachtung des Kindes aus dem Wohnungsfenster wäre der Unfall zu verhindern gewesen, da sich das Spiel über eine gewisse Zeit erstreckte. Weil der 11-Jährige in der altersgemäßen Entwicklung nur einem 9-Jährigen entsprach und sich auch oft prügelte, durfte sich die Mutter nicht mit Verboten bezüglich der Wurfpfeilbenutzung und dem behaupteten Durchsuchen der Kleidung nach gefährlichen Gegenständen begnügen. Vielmehr gehörte es zu ihren Aufgaben, sich durch gelegentliche Kontrolle einen Eindruck vom Verhalten ihres Sohnes beim Spielen zu machen und bei der Überschreitung des Verbotes einzuschreiten 267. In einem weiteren Fall des OLG Köln hatten sich der 15-jährige Kläger und der 10jährige Sohn der Beklagten wechselseitig mit scharfkantigen Kleiderbügeln beworfen, wobei der Kläger am Auge geschädigt wurde. Eine Aufsichtspflichtverletzung der Eltern wurde verneint. Es bleibt in der veröffentlichten Entscheidung offen, ob die Beklagten ihren Sohn nachdrücklich instruiert hatten, nicht mit Gegenständen nach Menschen zu werfen, bzw. zu einer solchen Belehrung noch nie Anlass gehabt hatten. Sie konnten aber deshalb ihren Sohn mit dem Kläger unbeaufsichtigt im Haus spielen lassen268.
4. Spielzeugpistolen Auch diese Fallgruppe ist durch den Verlust des Augenlichtes beim Verletzten gekennzeichnet. Bei den verwandten Pistolen handelt es sich fast ausnahmslos um Modelle, mit denen mittels einer gespannten Feder ein Pfeil abgeschossen wird 2 6 9 . Das RG vertrat die Auffassung, Spielwerkzeuge, mit denen 266
OLG Schleswig VersR 1978, 237 (238) v. 09.01.1976. OLG Köln FamRZ 1994, 831 (832 f) v. 05.05.1993. 268 OLG Köln VersR 1996, 586 v. 27.10.1995. 269 Nur im Urteil des LG Lübeck (r+s 1993, 17 v. 30.01.1992) wurde eine Knallplätzchenpistole verwandt. Dort war ein 12-Jähriger mit anderen Kindern in einer Wohngruppe untergebracht. Sie spielten in einer Scheune, in der auch Stroh lagerte. Der 12-Jährige schoss dabei eine Knallplätzchenpistole in schneller Folge ab. Die Knallplätzchen, die auf einem langen Papierstreifen entsprechend der Schussfolge angebracht waren, führten dazu, dass ein langes Papierstückchen aus der Pistole ragte. Dieses Pa267
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Geschosse entsandt werden können, sind von vornherein als in gewissem Maße gefährlich anzusehen. Um seine Aufsichtspflicht zu erfüllen, müsse sich der Vater über die Eigenschaften und Wirkungen des Spielzeuges vergewissern und danach sein Aufsichtsverhalten ausrichten. Handele es sich um eine Pistole mit einer starken Feder, müsse diese vor dem Zugriff des Kindes sicher verwahrt werden, um eine unbeaufsichtigte Benutzung auszuschließen. Von Kindern im Alter von sechs Jahren sei weder die Einsicht und Erfahrung für eine sorgsame Handhabung dieses Spielzeuges noch eine Vorstellung über die aus einer unsorgsamen Handhabung resultierenden Gefahren zu erwarten. Zur Erfüllung seiner Aufsichtspflicht hätte der Vater deshalb die Pistole sicher verwahren und die Beaufsichtigung beim Spiel, auch durch ältere Geschwister, mit derselben sicherstellen müssen270. Der OGH verwies im ersten Urteil nach dem zweiten Weltkrieg ausdrücklich auf die vom RG aufgestellten Maßstäbe zum Umfang der Aufsichtspflicht. Die Benutzung von Schießwerkzeugen stellt demnach eine so erhebliche Gefährdung der Öffentlichkeit dar, dass grundsätzlich die Aufsicht durch Erwachsene gefordert werden muss. Ob die Aufsicht durch ältere Geschwister ausreicht, richtet sich nach deren Umsicht, wofür der Aufsichtspflichtige die Beweislast trägt. In der Konsequenz erfordert diese Anforderung eine Verwahrung der Spielzeugpistole durch den Aufsichtspflichtigen. Ein Verbot, die Pistole mit auf die Straße zu nehmen, genügt dagegen nicht zur Erfüllung der Aufsichtspflicht 271 . Ohne besonderen Anlass muss der Vater eines 10 Vi-Jähr igen aber nicht nach verbotenem Schießspielzeug suchen 272 . Auch der BGH befasste sich in einem Fall mit der Verwendung einer
pierstückchen glimmte und fiel auf den Boden in das Stroh, welches Feuer fing. Die Scheune brannte ab. Die Kammer verneinte eine Aufsichtspflichtverletzung des Betreuers der Wohngruppe. Die Verwirklichung des Schadens war für den Aufsichtspflichtigen praktisch nicht vorhersehbar. Denn das Nachglimmen des Patronenbandes ist keine typische Erscheinung, die beim Hantieren mit einer solchen Pistole auftritt. 270 RG Warn 1912 Nr. 28, S. 31 (32 f) v. 19.10.1911. Der 6-jährige Sohn des Beklagten besaß mit dessen Kenntnis eine Spielzeugpistole. Er konnte sie jederzeit an sich nehmen. Während des Spiels in der Öffentlichkeit entfernte er die schützende Gummimütze des Pfeils. Als er die geladene Pistole hob und den Pfeil in die Luft schießen wollte, flog der Pfeil vorzeitig aus der Pistole und der Klägerin ins Auge. In einer anderen Entscheidung des RG (RGZ 65, 290 [291] v. 14.03.1907) war ein 9Jähriger bei einem Schulfest durch einen anderen Knaben mit einem Pusterohrschuss ins Auge getroffen worden. Das RG urteilte: Ein Lehrer darf Knaben nur dann zum Mitbringen von Pusterohren und Schießen auf Scheiben veranlassen, wenn er die ausschließliche Benutzung unter seiner Aufsicht sicherstellt. 271 OGHZ 1, 159 (160) v. 14.10.1948. Der 8-jährige Sohn der Antragstellerin hatte durch einen Schuss mit einem Bleistift oder Holzstäbchen aus einer Spielzeugpistole den Antragsteller am Auge verletzt. 272 LG Ellwangen ZBIJugR 1953, 37 f v. 20.02.1952. Das gilt nach Ansicht der Kammer auch dann, wenn der Vater dem Sohn bereits zuvor Pfeil und Bogen sowie eine Steinschleuder während des Spieles abgenommen hat, aber nicht um die vorherige Aufbewahrung im heimischen Keller wusste. Der Sohn schoss dem Kläger mit einer Spiel-
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Spielzeugpistole. Der 4-jährige Kläger spielte mit dem gleichaltrigen Sohn der Beklagten in deren Wohnung. Diese hatten ihrem Sohn eine Spielzeugpistole geschenkt, die er zusammen mit seinem anderem Spielzeug und seinen Buntstiften aufbewahrte. Unter der Aufsicht der beklagten Mutter schössen die beiden Kinder mit der Pistole. Dabei benutzten sie den dazugehörigen Pfeil mit Gummisauger. Dann nahm die Mutter den Kindern den Pfeil weg und verließ das Kinderzimmer. Der Kläger wurde im Laufe des weiteren Spiels von einem aus der Spielzeugpistole abgeschossenen Buntstift ins Auge getroffen und schwer verletzt. Die Vorinstanz ließ offen, ob der Sohn der Beklagten den Unglücksschuss abgegeben oder sich der Kläger selbst verletzt hatte. Deshalb gründete das OLG die Haftung der Beklagten nicht auf § 832 BGB, sondern leitete sie aus § 823 Abs. 1 BGB unter dem Gesichtspunkt der allgemeinen Verkehrssicherungspflichtverletzung her. Der BGH bestätigte das Urteil. Die aufgestellten Anforderungen zur Erfüllung der Verkehrssicherungspflicht entsprechen dabei denen an die elterliche Aufsichtspflicht. Der Senat ging dabei von einer allgemeinen Pflicht der Beklagten aus, dafür zu sorgen, dass beim Spielen der Kinder in der Wohnung niemand durch die Pistole Schaden erleide. Die Wegnahme des Pfeils genügte zur Erfüllung dieser Pflicht nicht, weil die Pistole mit den ebenfalls als Geschosse taugenden Buntstiften verwahrt wurde. Des Weiteren war der Beklagten die Gefährlichkeit der Pistole bewusst. Das ergibt sich aus ihrem Gebot nur unter Aufsicht zu schießen sowie der Wegnahme des Pfeils. Deshalb sah der Senat die Beklagte verpflichtet, auch die Pistole dem unbeaufsichtigten Zugriff der Kinder zu entziehen und diese nur unter Aufsicht schießen zu lassen. Aufgrund der naheliegenden Verwendung eines Buntstiftes als Geschoss und der gemeinsamen Verwahrung mit der Pistole stufte der BGH das Verhalten der Beklagten als grob fahrlässig ein 2 7 3 .
a) Die Urteile des OLG Düsseldorf v. 18.07.1997 und 26.02.1999 Das OLG Düsseldorf verneinte dagegen bei einem ähnlich gelagerten Sachverhalt in einem seiner zwei dazu ergehenden Urteile eine grobe Fahrlässigkeit der Aufsicht Führenden Mutter. Aus beiden Urteilen ergibt sich folgender Sachverhalt: Ein 3!/2-jähriger Junge spielte mit dem 6V2-jährigen Nachbarsjunzeugpistole, die er im Keller aufbewahrte, aus 2 m Entfernung einen Knallkorken ins Gesicht. 273 BGH FamRZ 1965, 321 f v. 09.03.1965. Der Senat verneinte auch eine Entlastung des Vaters, obwohl er - beruflich bedingt - tagsüber abwesend war. Er sei ebenfalls verpflichtet gewesen, für eine Verwahrung der Pistole zu sorgen und die entsprechenden Maßnahmen mit seiner Frau zu besprechen. Aden (S. 11) und Dahlgrün (S. 35) kritisieren diese Haftung aus § 823 Abs. 1 BGB als zu weitgehend. Angesichts der Anforderungen der Rechtsprechung zu § 832 Abs. 1 BGB war nach ihrer Ansicht eine Haftung aus dieser Norm nicht sicher.
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gen unter Aufsicht seiner Mutter auf dem elterlichen Grundstück. Auch die Mutter des Nachbarsjungen beobachtete die Kinder gelegentlich aus ihrer Wohnung. Der 314-Jährige führte eine Spielzeugpistole ohne die entsprechenden Pfeile bei sich. Bestimmungsgemäß wurden mit der Pistole Saugnapfpfeile verschossen. Seine Mutter ließ die beiden spielenden Kinder für rund fünf Minuten allein. Währenddessen steckte der Nachbarsjunge einen herumliegenden Holzstab in die Pistole und schoss ihn ab. Der Stab traf das rechte Auge des 3 !/2-Jährigen. Dies führte zum Verlust des Auges. Von der Pistole des 314Jährigen wussten die Eltern des Schützen nichts, als sie ihr Kind in die Obhut dessen Mutter gaben. In einem ersten Prozess verklagte der 3Vi-jährige Geschädigte die haftpflichtversicherten Eltern des Schützen. Die beklagten Eltern trugen dabei vor, sie hätten ihr Kind allgemein über die von Schusswaffen ausgehenden Gefahren belehrt. Auch habe es weder eine solche Pistole besessen noch in die Hände bekommen sollen. Das OLG Düsseldorf verurteilte die Beklagten aus § 832 Abs. 1 BGB. Dabei sah der Senat die Aufsichtspflichtverletzung nicht in der tatsächlichen Beaufsichtigung der Kinder auf dem Grundstück. Vielmehr erblickte er die Aufsichtspflichtverletzung der Beklagten in der fehlenden Belehrung ihres Kindes über die Gefährlichkeit von Spielzeugpistolen der benutzten Art. Angesichts der weiten Verbreitung und Beliebtheit solcher Spielzeugpistolen unter Kindern mussten die Beklagten nach Ansicht des Gerichts damit rechnen, dass ihr Sohn beim Spielen mit anderen Kindern Zugang zu solchen Waffen erhielt und mit diesen spielte. Deshalb verletzen Eltern nach Auffassung des OLG Düsseldorf ihre Aufsichtspflicht, wenn sie ihr Kind nicht eindringlich und nachvollziehbar auf die Gefahren hinweisen, die beim Umgang mit sogenannten Spielzeugwaffen insbesondere dann drohen, wenn anstelle der zugehörigen Saugnapfpfeile Stöcke und andere Gegenstände in den Lauf geschoben werden. Eine allgemeine Belehrung über die von Schusswaffen ausgehenden Gefahren genügt deshalb nicht zur Erfüllung der Aufsichtspflicht 274 . Im zweiten Prozess vor dem OLG Düsseldorf 275 klagte die Haftpflichtversicherung der Beklagten des ersten Prozesses gegen die Eltern des 3'/2-Jähr igen. Die Versicherung hatte aufgrund des ersten Urteils an den 31^-Jährigen für ihre Versicherungsnehmer ein Schmerzensgeld gezahlt und machte mit der Klage den auf sie übergegangenen Gesamtschuldnerausgleich in Höhe von 50% geltend. Diesmal wies derselbe Senat die Klage ab. Die beklagten Eltern seien ihrem Sohn gegenüber nicht zum Schadensersatz verpflichtet, so dass es an einer Voraussetzung für die Gesamtschuldnerschaft fehle. Der Sorgfaltsmaßstab für die in Betracht kommenden Anspruchsgrundlagen §§ 823 Abs. 1 und 823 Abs. 2 BGB i. V. m. 230 StGB sei nach § 1664 BGB zu bestimmen und be274 275
OLG Düsseldorf VersR 1998, 721 fv. 18.07.1997. OLG Düsseldorf FamRZ 2000, 438 f v. 26.02.1999.
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schränke sich auf die Sorgfalt in eigenen Angelegenheiten. Grobe Fahrlässigkeit bei der Beaufsichtigung der Kinder sei der Mutter dabei nicht anzulasten. Ihr 3^-jähriger Sohn verfügte weder über einen passenden Pistolenpfeil noch konnte er die Pistole aus eigener Kraft spannen. Auch ließ die Beklagte die Kinder nur einen kurzen Moment allein und wusste um die gelegentliche Beobachtung der Mutter des anderen Jungen. Wenn sie deshalb nicht damit rechnete, dass innerhalb der kurzen Zeit ihrer Abwesenheit der andere Junge die Pistole an sich nehmen, einen passenden Stock finden und abfeuern konnte, so sei dies zwar fahrlässig, aber nicht grob fahrlässig. Die Sorgfalt in eigenen Angelegenheiten sei auch unter Berücksichtigung des besonderen Schutzgutes der Gesundheit des Kindes nicht verletzt. Dabei sei zu berücksichtigen, dass die Beklagten es nicht für erforderlich hielten, solche Spielzeugpistolen gänzlich von ihrem Kleinkind fernzuhalten, sondern es für ausreichend erachteten, dass das Kind nicht über die zur Pistole gehörenden Pfeile verfügte und aus eigener Kraft die Pistole nicht spannen konnte. Da die beklagte Mutter das für eine ausreichende Sicherung ihres Kindes vor drohenden Gefahren während ihrer Abwesenheit hielt, sei ihr subjektiv kein Vorwurf zu machen.
b) Eigene Stellungnahme zu den Urteilen des OLG Düsseldorf v. 18.07.1997 und 26.02.1999 Bei dem ersten Urteil handelt es sich um eine völlig überzogene Entscheidung des Senats. Im Kontext zu den dort aufgestellten Anforderungen erscheint das zweite Urteil bedenklich mild. Beide Urteile des OLG Düsseldorf sind von dem Bestreben des Senats getragen, die Schmerzensgeldzahlung an das geschädigte Kind durch die Haftpflichtversicherung der Eltern des öVi-Jährigen herbeizuführen ohne dabei seine eigenen - unversicherten - Eltern heranzuziehen 276 . Das OLG gelangt auf der Grundlage der garantierten Schadensabnahme durch die Haftpflichtversicherung von einer Fahrlässigkeitshaftung zu einer objektiven Haftung der Eltern des Schädigers. Indem der Senat im ersten Urteil die Vorsehbarkeit des erforderlichen Aufsichtsmaßes aus ex post Sicht 277 bestimmt, überspannt er die Anforderungen an die Aufsichtspflicht maßlos und dehnt sie auf einen im tatsächlichen Leben wohl nicht erfüllbaren Umfang aus. Denn nach seiner Ansicht hätten die Eltern ihr Kind über sehr spezielle Gefahren von Gegenständen belehren müssen, mit welchen dieses bis dahin überhaupt nicht in Kontakt gekommen war und nach ihrer Erziehungsauffassung
276 So auch JFo//(VersR 1998, 812 [813]), der dazu auch auf die Ausführung des Senats in VersR 1998, 721 (722) unter II verweist. Der Senat lehnt dort eine Billigkeitshaftung des Schützen nach § 829 BGB ab, weil die tatsächliche Durchsetzung des Anspruchs aus § 832 BGB durch die Haftpflichtversicherung der Eltern gesichert ist. 277 Ebenso Schoof, S. 74, und Haberstroh, VersR 2000, 806 (813).
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auch nicht kommen sollte. Im Ergebnis verlangt das OLG Düsseldorf Aufsichtsmaßnahmen, die vor dem Schadenseintritt niemand ernsthaft erwogen hätte. Diese Anforderungen an die Aufsichtspflicht haben ein geteiltes Echo hervorgerufen. Thomas 278 , Staudinger 279 und auch Teichmann 280 referieren sie zustimmend. Schoof 281 und Haag 282 halten die Anforderungen für zu weitreichend. Wolf sieht darin eine zweifellos erstaunliche Ausdehnung der elterlichen Aufsichtspflicht, die im Alltag zu einer Erörterung der Spielzeugkataloge mit dem Kind fuhren müsse. Zudem wirke ein solcher Umfang der Aufsichtspflicht kontraproduktiv, da dem Kind ungeahnte gefährliche Spielvarianten aufgezeigt würden 283 . Auch nach Haberstroh sind solcherart formulierte Belehrungspflichten uferlos und damit im praktischen Leben überhaupt nicht zu erfüllen 284 . Belling/Eberl-Borges lehnen ebenfalls eine Aufsichtspflichtverletzung im gegenständlichen Sachverhalt ab. Hellseherische Fähigkeiten seien von den Eltern nicht zu verlangen 285 . Der Fall fügt sich in die von Kötz/Wagner allgemein beschriebene Vorgehensweise der Rechtsprechung ein, wenn sie ein extrem hohes Maß an Sorgfalt als „im Verkehr erforderlich" hält. Dass der Schaden überhaupt eingetreten sei, sei der beste Beweis dafür, dass ihn ein sorgfältiger Mensch auch habe vorhersehen müssen, und wenn man weiß, welche Ursachenkette zu dem Schaden geführt habe, lasse sich nachträglich auch besonders leicht eine Sicherungsmaßnahme ermitteln, die, wäre sie ergriffen worden, den Schaden verhindert hätte 286 . Des Weiteren stehen die Anforderungen des OLG Düsseldorf an die notwendigen Aufsichtsmaßnahmen im Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung. So führte das OLG München in einer älteren Entscheidung aus: Es wäre eine Überspannung der Aufsichtspflicht, wollte man von den Eltern verlangen, dass sie ihre Kinder auch ohne besondere Veranlassung über die Gefährlichkeit aller nur erdenklichen Spielgeräte belehren 287. Zu demselben Ergebnis kommt ein Urteil des OLG Celle v. 12.02.1997. Ohne besonderen Anlass sind erzieherische Hinweise der Mutter auf spezielle, ihr unbekannte Schusswerkzeuge nicht geboten. Vielmehr genügt sie ihrer Aufsichtspflicht, indem sie auf die generelle Gefährlichkeit des Umgangs mit Wurfgeschossen wie Schneebällen o278 279 280 281
282 283 284 285 286
PalandX/Thomas, § 832 Rn. 8. Hk/Staudinger, § 832 Rn. 11. iauemig/Teichmann, § 832 Rn. 6. Schoof, S. 73 f.
Geigel//faag, Kap. 16, Rn. 41. Wolf, VersR 1998, 812 (813). Haberstroh, VersR 2000, 806 (813). StaudingQrfBelling/Eberl-Borges, Kötz/Wagner, Rn. 260 f.
§ 832 Rn. 107.
287 OLG München ZBIJugR 1960, 214 (215) v. 10.06.1960. Das Urteil enthält keine Altersangabe. Der Sohn ließ sich von einem Kameraden Pfeil und Bogen aushändigen.
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der Steinen, mit Zwillen und ähnlich verletzungsgeeigneten Gegenständen hinweist 288 . Auch der BGH hielt die vorsorgliche Belehrung eines 14-Jährigen über die Gefährlichkeit und Benutzung von Schusswaffen 289 und einer 12Jährigen bezüglich eines Flitzbogens 290 ohne jeden erkennbaren konkreten Anlass für nicht erforderlich. Vergleicht man das zweite Urteil des OLG Düsseldorf mit der vorhergehenden Rechtsprechung, so ist die Verneinung einer grob fahrlässigen Aufsichtsführung der beklagten Mutter vertretbar. Denn im o. g. Fall des BGH v. 09.03.1965 gründete der Vorwurf der groben Fahrlässigkeit auf der gemeinsamen Verwahrung von Spielzeugpistole und Buntstiften, weil dadurch die Kinder während der Abwesenheit der Mutter sofort auf ein Geschoss zurückgreifen konnten 291 . Stellt man jedoch die Aufsichtsanforderungen in beiden Urteilen des OLG Düsseldorf nebeneinander, so ergibt sich auch unter Beachtung des Sorgfaltmaßstabes aus § 1664 BGB eine Schieflage. Es stehen sich eine außerordentlich strenge Aufsicht, die auf die erforderlichen Belehrungen im Vorfeld bezogen ist, und eine - gemessen an diesem Verständnis des Aufsichtumfanges - eher laxe direkte Aufsicht gegenüber. Nach den Anforderungen des ersten Urteils müssen Eltern stets damit rechnen, dass ihr Kind eine Spielzeugpistole in die Hände bekommt und dann mit bestimmungswidrig spitzen Gegenständen verwendet. Eine solche Sichtweise hätte im zweiten Urteil zur Annahme der groben Fahrlässigkeit führen müssen. Denn die Pistole befand sich hier bereits in den Kinderhänden und konnte durch den 6-jährigen Schützen auch gespannt werden. In seinem ersten Urteil tendierte der Senat offenbar ebenfalls in diese Richtung, konnte die Frage dort aber noch offen las-
5. Stöcke Durch das Spiel von Kindern mit Stöcken kommt es ebenfalls häufig zu Augenverletzungen des Geschädigten. In dem ersten Urteil zum Spiel mit Stöcken entlastete das OLG Zweibrücken 1902 die beklagte Mutter. Bei einem guterzogenen und braven 11-Jährigen sei nicht damit zu rechnen, dass dieser einen anderen vorsätzlich körperlich verletzen werde. Deshalb habe auch keine Veran288 OLG Celle FamRZ 1998, 233 v. 12.02.1997. Der 13-jährige Sohn der Beklagten hatte mit einem aus einer Luftpumpe selbst gebastelten Schusswerkzeug hantiert und seinem Spielkameraden eine Erbse ins Auge geschossen. Der Senat verneinte eine Haftung aus § 832 BGB. 289 BGH VersR 1973, 545 (547) v. 13.03.1973. Der Aufsichtsbedürftige schoss mit einer Luftpistole. 290 BGH VersR 1962, 989 v. 10.07.1962. Ebenso für den Fall einer Armbrust: OLG Zweibrücken SeuffA 63 Nr. 114, S. 191 (193) v. 25.02.1908. 291 BGH FamRZ 1965, 321 (322) v. 09.03.1965. 292 OLG Düsseldorf VersR 1998, 721 (722) v. 18.07.1997 unter I 3.
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lassung für eine ständige Beaufsichtigung bestanden293. Der BGH urteilte, einem Kind kann nicht verwehrt werden, Gegenstände, die es überall im Freien finden kann, zu verwenden. Die Tatsache, dass ein Junge im Besitze eines auch als Wurfgegenstand verwertbaren Stockes belassen wird, kann deshalb nicht als Verletzung der Aufsichtspflicht angesehen werden 294 . Die Aufsichtspflicht geht nicht dahin, jedes Spiel der Kinder mit Stöcken schlechthin zu unterbinden. Eltern genügen deshalb ihrer Aufsichtspflicht, wenn sie ihr normal entwickeltes Kind zu einem vorsichtigen Umgang mit Stöcken ermahnen 295. Deutlich strenger bestimmte das OLG Oldenburg die erforderlichen Anforderungen für eine Entlastung der Eltern. Der 7-jährige Sohn der Beklagten verletzte bei einem Fechtkampf mit Gardinenstangen einen 12-Jährigen am Auge, welches deshalb entfernt werden musste. Der Senat sah die Aufsichtspflicht als verletzt an, weil die Eltern ihrem Sohn nicht immer wieder eingeschärft hatten, dass gerade Augen durch Verwendung spitzer Gegenständen oder durch das Werfen von Steinen besonders gefährdet sind 296 . In einem weiteren Fall des BGH hatte der jähzornige und wilde 5!/2-jährige Sohn der Beklagten beim Spiel einen Spielkameraden mit einer Holzlatte irreversibel am Auge verletzt. Der Senat sah die Aufsichtspflichtverletzung bereits darin, dass die Eltern ihren Sohn nicht einmal in gewissen Abständen beim Spiel überwacht und beobachtet hatten. Er ließ dahinstehen, ob Eltern ohne konkreten Anlass ihren Sohn über den Umgang mit einer Holzlatte belehren müssen297. Nach einer langen Pause erging am 21.12.1988 eine Entscheidung des OLG München zur Verwendung von Stöcken. Danach bedarf es ohne Anhaltspunkte keiner vorsorglichen Belehrung dahingehend, dass man einen Stock nicht gegen andere Menschen einsetzt und dass dies gefährlich ist. Der bloße Umgang 5-jähriger Kinder mit einem Stock im Freien stellt so etwas Alltägliches dar, dass Aufsichtsmaßnahmen erst veranlasst sind, wenn erkennbar wird, dass derartige Belehrungen noch nicht vorgenommen wurden oder nicht fruchteten oder wenn sich Anhaltspunkte für einen Missbrauch des Stockes oder für ein Verkennen möglicher Gefahren ergeben 298 .
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OLG Zweibrücken SeuffA 57 Nr. 216, S. 404 fv. 09.04.1902. Beim Fechten mit Bohnenstangen auf der Straße hatte der Sohn der Beklagten einem 9,/2-jährigen Spielkameraden mit einer Stange ein Auge ausgestoßen. 294 BGH VersR 1957, 370 (371) v. 21.12.1956 (ein Kinderheim betreffend, 10jähriger Aufsichtsbedürftiger); 1957, 799 v. 01.10.1957 (11-jähriger Aufsichtsbedürftiger). 295 BGH VersR 1964, 1023 v. 16.06.1964 (7-jähriger Aufsichtsbedürftiger, vgl. 1. Teil §4 II 2). 296 OLG Oldenburg VersR 1957, 306 (307) v. 14.11.1956. 297 BGH VersR 1962, 783 v. 29.05.1962. 298 OLG München FamRZ 1990, 159 f v . 21.12.1988. Der 9-jährige Kläger spielte mit dem 5'/4-jährigen A und einem weiteren Buben im Garten. Die Großmutter des A beaufsichtigte die Kinder. A kam plötzlich hinter dem Haus hervorgelaufen und rief,
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6. Schleudern Aufgrund mangelnder objektiver Gefährlichkeit der durch den Aufsichtsbedürftigen benutzten Gerätschaft verneinte das RG in seiner einzigen diesbezüglichen Entscheidung eine Haftung des Vaters 299 . In einem dem OLG München vorliegenden Sachverhalt hatte ein 13-Jähriger den 10-jährigen Kläger mit einem von seiner Schleuder abgeschossenen Gegenstand auf einem Auge blind geschossen. Die beklagten Eltern hatten ihm zuvor mindestens zweimal eine solche weggenommen, die weitere Benutzung verboten und ihn einmal körperlich gezüchtigt. Nach Ansicht des Senats hatten sie damit ihrer Aufsichtspflicht nicht genügt. Eltern seien schlechthin verpflichtet, darüber zu wachen, dass Schießwaffen oder ähnlich gefährliches Spielzeug von ihren Kindern auch nicht etwa heimlich benutzt wird. Da ihr Sohn einen besonderen Hang zur Benutzung von Schleudern besaß, hätten die Eltern weitere Maßnahmen zur Erziehung ihres Sohnes und dem Schutz Dritter ergreifen müssen, wie Hausarrest, Beschränkung der Spielzeit und des Spielkreises. Bei einem ebenfalls erforderlichen Nachgehen des Freizeitverhaltens wäre ihnen auch nicht verborgen geblieben, dass mehrere seiner Spielkameraden solche Schleudern besaßen300. In einer überzeugenden Entscheidung verurteilte auch das OLG Köln die beklagten Eltern aus § 832 BGB. Ihr SVi-jähriger Sohn hatte dem 9!/2-jährigen Kläger mittels einer Gummischleuder ein Holzstück ins Auge geschossen. Das Auge erblindete. Der Schütze war zuvor mehrfach ohne ersichtlichen Anlass gegen andere Kinder vorgegangen und hatte ihnen dabei Verletzungen beigebracht. Alle diese Vorfälle zeugten nach der Auffassung des Senats von seiner kurz bevor er den Kläger erreichte: „Schleichts euch!" Nach dem Vortrag des Klägers drehte er sich daraufhin weg. A lief weiter auf ihn zu und stach ihm mit dem Stock ins Auge, welches entfernt werden musste. Der Kläger begehrte von der Großmutter Schmerzensgeld wegen Vernachlässigung der Aufsichtspflicht. Das OLG wies wie die Vorinstanz die Klage ab. Zunächst führte der Senat aus, die Großmutter habe mit der gelegentlichen Beobachtung der Kinder ihrer Aufsichtspflicht genügt. Eine Verletzung der Aufsichtspflicht käme daher nur in Betracht, wenn sie auf Umstände nicht reagiert hätte, die ein Einschreiten erforderlich gemacht hätten. In dieser Prüfung kam der Senat zu dem Ergebnis, die Beklagte habe in der konkreten Situation keine Möglichkeit mehr gehabt, rechtzeitig in das zum Schaden führende Geschehen einzugreifen. Denn die drei Ereignisse - Zuruf, Wegdrehen und Verletzung - erfolgten nahezu zeitgleich und ließen keinerlei Zeit für ein Eingreifen der Beklagten. 299 RG JW 1904 Nr. 6, S. 202 v. 10.02.1904: Ein knapp 13-Jähriger hatte mittels eines Gummischnürchens einem Kameraden ein Stück Papier ins Auge geschleudert. Das RG befand: Wird die Verantwortlichkeit des Aufsichtspflichtigen darauf gegründet, dass er den Aufsichtsbedürftigen im Besitz eines gefährlichen Spielzeuges gelassen habe, so muss die objektive Gefährlichkeit feststehen. Dies sei bei einer dünnen Gummischnur nicht der Fall. 300 OLG München VersR 1954, 544 (546) v. 24.08.1954. Dahlgrün (S. 86 f) hält das Urteil für fehlerhaft und sieht darin die Tendenz zu einer atypischen „Haftung für die Gefahrlosigkeit der eigenen Rechtssphäre". Aden (S. 153) referiert das Urteil eher zustimmend.
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Unart und Neigung, immer etwas zum Schlagen oder Werfen in der Hand zu haben und mit diesen Gegenständen auf andere Kinder einzuwirken. Im Gegensatz zur Nachbarschaft waren den Eltern diese Eigenschaften ihres Sohnes unbekannt. In dieser Unkenntnis sah das OLG die Aufsichtspflichtverletzung. Denn die Aufsichtspflicht umfasst auch die Pflicht, sich um das Verhalten des Kindes außerhalb des Hauses zu kümmern. In erhöhtem Maße sind Eltern hierzu verpflichtet, wenn sie Kenntnis hatten oder bei Anwendung der ihnen obliegenden Sorgfalt hätten erlangen müssen, dass der Aufsichtsbefohlene zum Werfen von Gegenständen auf Menschen neigt. Durch überraschende Kontrollen und Erkundigungen bei den Nachbarn hätten sich die Eltern die notwendige Kenntnis über das Verhalten ihres Sohnes verschaffen können. Wussten die Eltern hingegen um die Unart ihres Sohnes, hätten sie dieser mit wirkungsvollen und nachhaltigen Erziehungsmitteln entgegentreten müssen301. Zu demselben Ergebnis kam in einer späteren Entscheidung der BGH. Danach fehlt es am Nachweis einer ausreichenden Aufsicht, wenn der Vater vom Schießen seines Sohnes mit einer Gummischleuder über den Zeitraum von mehr als einem Jahr nichts erfahren hat 302 . Hingegen entlastete das OLG Köln die Eltern, weil ihr 8'/2-jähriger Sohn die Schleuder erst unmittelbar vor dem Unfall erhielt. Da es sich um einen folgsamen und guterzogenen Jungen handelte, hatten sie durch gelegentliche Beobachtung seines Spiels ihrer Aufsichtspflicht genügt 303 . Das OLG Saarbrücken sah die Aufsichtspflichtverletzung darin, dass ein Vater seinen 10-jährigen Sohn im Besitz einer Steinschleuder beließ. Mit dieser Kenntnis wurden die vorhergehenden Belehrungen und Verbote des Vaters, nicht auf Menschen zu schießen, hinfällig. Zur Erfüllung seiner Aufsichtspflicht wäre es nunmehr erforderlich gewesen, die Steinschleuder zu vernichten, oder so zu verwahren, dass eine Benutzung nur noch unter Aufsicht erfolgen konnte 304 .
7. Das Werfen von Steinen An dieser Stelle werden nur Urteile wiedergegeben, in denen der Vorwurf der Aufsichtspflichtverletzung in der wiederholten Benutzung von Steinen 301
OLG Köln VersR 1955, 347 (348 f) v. 11.03.1955. Aden®. 153) ist hingegen der Meinung, die Beweisaufnahme habe nur eine allgemeine Unartigkeit und Zankeslust ergeben. Eine Neigung, mit Gegenständen auf andere einzuwirken, fehle dagegen beim Sohn. Deshalb hätte das OLG nach seiner Auffassung die Eltern entlasten müssen. 302 BGH VersR 1958, 563 v. 11.04.1958. Der 12'/2-jährige Kläger hatte ein vom lö'/a-jährigen Sohn des Beklagten mit einer Gummischleuder abgeschossenes Drahthäkchen ins Auge bekommen. Der Senat ließ offen, ob der Vater vom Treiben seines Sohnes wusste. Dieser hatte über ein Jahr in erheblichem Umfang, gelegentlich auch aus der Familienwohnung, mit der Schleuder geschossen. 303 OLG Köln VersR 1969, 88 (89) v. 20.05.1968. 304 OLG Saarbrücken OLGZ 70, 9 (16) v. 21.05.1969.
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durch den Aufsichtsbedürftigen bestand. Bestand der Vorwurf dagegen darin, dass die Kinder unbeaufsichtigt gelassen wurden, wurden diese Urteile trotz der Verwendung von Steinen bei der Schadensentstehung unter die Kategorie „Alleinlassen von Kindern" gefasst 305. Dem RG lag ein Fall zur Entscheidung vor, in dem der 7-jährige Sohn des Beklagten mehrfach der unter den Kindern des Ortes allgemein verbreiteten Unsitte huldigte, mit Steinen zu werfen. Da sich der Vater nicht um das Verhalten seines Sohnes außerhalb des Hauses gekümmert hatte, bejahte der Senat bereits deshalb eine Aufsichtspflichtverletzung des Vaters. Bei gehöriger Aufsichtsführung hätte der Vater vom Treiben seines Sohnes erfahren, ihm dies verbieten und das Verbot überwachen müssen306. In einem weiteren Urteil befand das RG, ein 5-Jähriger, mit Hang zum Steine werfen, könne durch verstärkte Aufsichtsmaßnahmen wie Ermahnungen, Zurechtweisungen und Strafmittel diszipliniert werden. Ein Erfahrungssatz, dass Knaben ein solcher Hang nicht abgewöhnt werden könne, bestehe nicht 307 . Das OLG Frankfurt/M. hielt in einem ähnlichen Fall einen zeitweiligen Hausarrest als gehörige Aufsichtsmaßnahme für erforderlich 308 . Großzügiger bemaß das LG Frankfurt/M. den erforderlichen Aufsichtsrahmen. Der 73/4-jährige Sohn des Beklagten hatte mit einem Stein dem Kläger ein Auge ausgeworfen. Die Kammer verneinte eine Haftung des Vaters aus § 832 Abs. 1 BGB. Sie ließ dabei dahinstehen, ob der Sohn bereits mehrmals durch Steinwürfe hervorgetreten war, denn ein gelegentlicher Steinwurf durch ein Kind in diesem Alter ließ sich nach Ansicht des LG nicht verhindern. Der Kammer genügte zur Erfüllung der Aufsichtspflicht die erteilte eindringliche Ermahnung mit Strafandrohung für den Fall des erneuten Werfens mit Steinen, weil der Sohn weder zu Wildheit noch zu Ungezogenheit neigte 309 . Bereits 1960 erging die letzte Entscheidung in dieser Konstellation. In dem Fall des BGH neigte der 12-jährige Sohn der Beklagten hingegen zum Werfen mit Steinen und zu einem flegelhaften und aggressiven Verhalten gegenüber anderen Personen. Die Eltern hatten dieses Verhalten ihres Sohnes gedeckt und ihn zur Fortsetzung ermuntert. Der Senat machte die Haftung aus § 832 Abs. 1 BGB an dieser mangelhafte Aufsichtsführung fest. Bei diesen Unarten waren die Eltern gerade zu einer erhöhten Aufsichtführung verpflichtet gewesen, um Schädigung Dritter möglichst auszu305
Vgl. 1. Teil § 3 IV. RG Warn 1911 Nr. 241, S. 267 fv. 16.02.1911. 307 RG Warn 1910 Nr. 60, S. 60 (61) v. 09.12.1909. 308 OLG Frankfurt/M. JW 1929 Nr. 4, S. 3024 f v. 19.02.1929. Der noch nicht 7jährige Sohn des beklagten Vaters hatte bereits mehrmals andere Kinder absichtlich mit Steinen blutig geworfen, woraufhin der Beklagte ihn ermahnte und züchtigte. Trotzdem warf der Sohn einem anderen Kind ein Auge aus. Der Senat sah die Aufsichtspflicht als verletzt an, weil der Vater keine schärferen Aufsichtsmaßnahmen ergriffen hatte. 309 LG Frankfurt/M. VersR 1954, 245 (246) v. 20.01.1954. Zu Recht weist Dahlgrün (S. 172) daraufhin, dass im Falle mehrerer Steinwürfe ein Aufsichtsanlass mit der Folge strengerer Aufsichtsmaßnahmen vorgelegen hätte. 306
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schließen 310 . An neueren Entscheidungen fehlt es auch in dieser Schadensgruppe.
8. Feuerwerkskörper Das AG Düsseldorf sah die Aufsichtpflicht als verletzt an, weil die Eltern ihr 9-jähriges Kind in der Silvesternacht allein mit brennendem bengalischen Feuer umgehen ließen 311 . Auch das OLG Schleswig befasste sich in einer Entscheidung v. 12.11.1998 mit der Verwendung von Silvesterfeuerwerk durch Kinder. In der Silvesternacht trafen sich der 8!/2-jährige Kläger und seine Eltern mit den beklagten Eltern und deren TA-jährigen Sohn vor ihren Häusern. Die Beklagten hatten ihrem Sohn das Abbrennen von kindergeeigneten, altersgerechten Feuerwerkskörpern unter ihrer Aufsicht gestattet und ihn angewiesen, diese nach dem Zünden sogleich wegzuwerfen. Der Vater des Klägers zündete seinem Sohn eine Wunderkerze an und gab sie ihm in die Hand. Kurz darauf zündete der Sohn der Beklagten an dieser Wunderkerze einen Knaller, der noch in seiner Hand explodierte. Ob es sich dabei um einen von seinen Eltern zur Verfügung gestellten Knaller oder um einen von ihm aufgesammelten Blindgänger handelte, blieb zwischen den Parteien streitig. Durch die Druckwelle der Explosion wurde der Kläger schwer am Auge verletzt. Der Senat sprach dem Kläger das begehrte Schmerzensgeld aus §§ 832 Abs. 1, 847 BGB zu. Er begründete dabei die Aufsichtspflichtverletzung mit verschiedenen Ansatzpunkten, wobei bereits jeder Punkt für sich zu einer Haftung aus § 832 Abs. 1 BGB führte. So hätten die Beklagten ihrem 7!/2-jährigen Sohn das selbstständige Abbrennen von Feuerwerkskörpern, auch unter ihrer Aufsicht, nicht gestatten dürfen. Denn der Umgang mit Feuerwerkskörpern ist anerkanntermaßen gefährlich und für ein Kind in diesem Alter generell nicht angezeigt. Deshalb ist auch die Abgabe von Feuerwerkskörpern an Personen unter 18 Jahren verboten. Schon gar nicht hätten die Beklagten ihrem Sohn erlauben dürfen, Feuerwerkskörper in der Hand zu zünden. Durch diese Art der Handhabung wurden die beklagten Eltern der besonderen Gefährlichkeit von Feuerwerkskörpern nicht gerecht, die prinzipiell auf dem Boden zu zünden sind. Weiterhin fehlte es an einer eindringlichen Belehrung des Sohnes dahingehend, dass nicht jeder Knallkörper geeignet ist, in der Hand gezündet zu werden. Vielmehr ist im Gegenteil davon auszugehen, dass dies bei Feuerwerksmaterial in aller Regel nicht angängig ist. Unabhängig davon hätten die Beklagten ihren Sohn während des Aufenthalts im Freien anlässlich des Feuerwerks durchgängig beaufsichtigen müssen. A u f die Einhaltung des Verbots, ohne ihre elterliche Aufsicht Knallkörper zu zün3,0
BGH VersR 1960, 355 (356) v. 26.01.1960. Der Sohn hatte einen Erwachsenen zunächst provoziert und dann mit einem Steinwurf irreversibel am Auge verletzt. 311 AG Düsseldorf VersR 1985, 602 L v. 10.12.1984.
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
den, durften sie nicht vertrauen. Denn es handelte sich um den ersten Umgang ihres Kindes mit Feuerwerkskörpern und aufgrund des Alters mussten sie mit einer Verdrängung des Verbotes im Rahmen eines gesteigerten Spieleifers rechnen. Zudem fehlte es an einem erforderlichen Verbot der Beklagten, keine Knaller von der Straße aufzuheben und erneut zu zünden. Mit Blindgängern musste anlässlich der Silvesternacht ebenso gerechnet werden, wie mit der Anziehungskraft solcher Feuerwerkskörper auf Kinder 312 . Nach einem Urteil des OLG Celle v. 22.09.1999 zu § 823 Abs. 1 BGB besteht aber ohne besonderen Anhaltspunkt kein Anlass, in der Silvesternacht das Gepäck eines 17-Jährigen nach einem selbst gebastelten Sprengkörper zu durchsuchen 313.
9. Tiere In einem Urteil des OLG Celle hatte eine Mutter ihre 4- und 5-jährigen Kindern allein mit einem Hund aus dem Haus gehen lassen. Der Senat sah darin eine Aufsichtspflichtverletzung, weil sie nach den Umständen damit rechnen musste, dass die Kinder dem unangeleinten Hund auf die Fahrbahn folgen könnten 314 . Im Umgang mit Pferden genügt eine Mutter ihrer Aufsichtspflicht über ihren 15-jährigen Sohn bereits dadurch, dass sie ihm eine umfassende Ausbildung für den Reitsport hat zukommen lassen und durch häufige Anwesenheit im Reitstall darauf Einfluss nimmt, dass er mit seinem Pferd ordnungs-
312
OLG Schleswig NJW-RR 1999, 606 (607) v. 12.11.1998. OLG Celle FamRZ 2000, 1214 v. 22.09.1999. Der 17-jährige Kläger feierte Silvester mit Freunden im Haus der Beklagten. Diese hatte gegenüber seiner Mutter zugesagt, dass der Kläger bei der Feier beaufsichtigt werde und dort übernachten dürfe. Den selbst gebauten Sprengkörper, von dem die Beklagte nichts wusste, führte der Kläger in einem Rucksack bei sich. Die Jugendlichen tranken Alkohol. Gegen Morgen des Neujahrstages verwies die Beklagte den Kläger nach wiederholtem Lärmen des Hauses. Der Kläger und ein Freund fuhren in den Wald und zündeten dort den Sprengkörper. Dabei zog sich der Kläger erhebliche Verletzungen zu. Das OLG prüfte die Aufsichtspflichtverletzung unter § 823 Abs. 1 BGB, da der aufsichtsbedürftige Kläger sich selbst verletzt hatte. Es verneinte eine solche, da spezielle Verdachtsmomente auf die Existenz des Sprengkörpers nicht bestanden und sich der Alkoholgenuss nicht gefahrerhöhend ausgewirkt hatte. Für allgemeine erzieherische Ermahnungen über den Umgang mit gefahrlichen Gegenständen war hingegen die Mutter des Klägers zuständig. 3,4 OLG Celle NJW 1970, 202 v. 05.06.1969. Die Kinder hielten sich mit dem nicht angeleinten Hund an einer Bundesstraße auf, entgegen dem Verbot der Mutter. Als sich der Kläger mit seinem Pkw nährte, sprang plötzlich der Hund auf die Straße. Im gleichen Augenblick lief eines der Kinder hinterher, um ihn von der Straße zu holen. Der Kläger bremste scharf, kam ins Schleudern und geriet mit seinem Pkw in einen Graben. Das OLG befand, die beklagte Mutter hätte zumindest dafür sorgen müssen, dass die Kinder den Hund nicht ohne Leine mitnahmen. Denn auch wenn sich die Kinder an das Verbot, die Bundesstraße aufzusuchen, halten wollten, konnten sie auch gegen ihren Willen in die Lage kommen, dem unangeleinten Hund dorthin folgen zu müssen. 313
§ 3 Die Entwicklung der Aufsichtsanforderungen
117
gemäß umgeht 315 . Nach Ansicht des OLG Hamburg darf eine 16-jährige erfahrene Reiterin mit abgelegter Prüfung ohne weitere Belehrung und Überwachung ihrer Eltern selbstständig Pferde von der Weide holen 316 .
II. Brandschäden Erst ab Ende der sechziger Jahre gab es veröffentlichte Entscheidungen zur Haftung für Brandschäden im Rahmen des § 832 BGB. Die Anzahl nahm in den achtziger Jahren stark zu und bildete in den neunziger Jahren einen Schwerpunkt der veröffentlichten Urteile. In dieser Schadensgruppe lassen sich nach der Persönlichkeit des minderjährigen Brandverursachers folgende Kategorien bilden: Die Brände werden von normal entwickelten sowie bereits mehrfach in dieser Hinsicht auffällig gewordenen oder retardierten Kindern verursacht.
/. Brandverursachung
durch normal entwickelte Kinder
Zahlreiche Urteile werden durch folgende Feststellung der Gerichte eingeleitet: An die Pflicht zur Aufsicht über Kinder sind sowohl hinsichtlich der Belehrung über die Gefahren des Feuers als auch der Überwachung eines möglichen Umgangs mit Zündmitteln strenge Anforderungen zu stellen. Dem liegt die Erfahrung zugrunde, dass erfahrungsgemäß das Entzünden eines Feuers einen besonderen Reiz auf Kinder ausübt. Vor allem im unreifen Alter können sie ein Feuer nicht unter Kontrolle halten, so dass nicht selten durch Kinder Brände mit erheblichen Schäden verursacht werden. Deshalb erfordert die Aufsichtspflicht der Eltern insoweit ein hohes Maß an Sorgfalt und Umsicht 317 . Das gilt 315
OLG Düsseldorf VersR 1992, 1148 (1149) v. 16.04.1991. Der Sohn der Beklagten führte seinen Wallach durch die Stallgasse eines Reitstalles, in der die Klägerin eine längsseits stehende Stute striegelte. Nachdem er die Klägerin passiert hatte, trat sein Pferd mit der Hinterhand aus, wobei der Huf die Klägerin im Gesicht traf und diese schwer verletzte. 3.6 OLG Hamburg VersR 1988, 1241 v. 15.06.1987. Die Kläger hatten ein Pferd im Reitstall der beklagten Eltern untergestellt. Als deren 16-jährige Tochter das Pferd von der Weide holte, riss es sich los, lief auf die Straße und verendete dort nach einem Unfall. Aufgrund der Ausbildung und Erfahrung der Tochter konnte nach Auffassung des Senats den Eltern nicht vorgeworfen werden, irgendwelche zumutbaren Maßnahmen unterlassen zu haben. Zudem hatten die Kläger selbst vorgetragen, dass den Eltern die entsprechende Fachkenntnis im Umgang mit Pferden fehlte, so dass ihnen auch aus diesem Grund keine weitergehenden Belehrungen und Kontrollen möglich waren. 3.7 BGH LM Nr. 9a zu § 832 BGB (= VersR 1969, 523 [524]) v. 28.02.1969; LM Nr. 13 zu § 832 BGB (= NJW 1983, 2821) v. 17.05.1983; LM Nr. 17 zu § 832 BGB (= NJW-RR 1987, 13 [14]) v. 01.07.1986; LM Nr. 21 zu § 832 BGB (= NJW 1996, 1404) v. 27.02.1996; OLG Düsseldorf VersR 1983, 89 v. 14.04.1981; 1988, 56 (57) v.
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
insbesondere in ländlichen Gebieten, in denen durch das Entzünden von Stroh eine besondere Brandgefahr besteht318. Wiederholt findet sich weiterhin der Hinweis der Gerichte, dass das Risiko der Brandverursachung durch Kinder nicht primär zu dem von der Allgemeinheit zu tragenden Lebensrisiko gehört. Vielmehr soll das Risiko, das von Kindern für Dritte ausgeht, nach dem Grundgedanken des § 832 BGB in erster Linie von den aufsichtspflichtigen Eltern getragen werden, denen es eher zuzurechnen ist als dem außenstehenden Geschädigten. Zudem haben sie als Erziehungspflichtige auch die Möglichkeit, in der gebotenen Weise auf ihr Kind einzuwirken 319 .
a) Kinder bis zum Ende des Grundschulalters Um ihrer Aufsichtspflicht bei Kindern bis zum Ende des Grundschulalters zu genügen, müssen die Aufsichtspflichtigen grundsätzlich ein Trias von Aufsichtsmaßnahmen erfüllen. Neben der Belehrung und Aufklärung von Kindern über die Gefahren von Feuer und der Kontrolle auf einen etwaigen Besitz von Zündmitteln hat der Aufsichtspflichtige eine Besitzerlangung im häuslichen Bereich im Rahmen des Zumutbaren zu unterbinden 320. Zur Erfüllung der Aufsichtspflicht müssen daher vorbeugende Belehrungspflicht und aktive Überwachung ineinander greifen.
aa) Belehrung Die Anforderungen an die Aufklärungspflicht der Eltern sind streng. So sind 5- bis 10-Jährige wiederholt in geeigneter Weise und mit dem gebotenen Nachdruck vor dem Umgang mit Streichhölzern, insbesondere vor dem Entfa-
03.06.1986; 1992, 310 (311) v. 23.11.1990; 1992, 321 v. 14.09.1992; OLG Karlsruhe VersR 1985, 599 v. 14.03.1984; OLG Oldenburg FamRZ 1994, 833 (834) v. 19.10.1993; OLG Hamm VersR 1998, 722 (723) v. 15.04.1997. 318 BGH LM Nr. 13 zu § 832 BGB (= NJW 1983, 2821) v. 17.05.1983; OLG Düsseldorf VersR 1992, 321 v. 14.09.1990, BGH-NA-Beschl v. 25.06.1991; OLG München VersR 1998, 723 L v. 06.12.1996. 319 BGH LM Nr. 15 zu § 832 BGB (= NJW 1984, 2574 [2576]) v. 10.07.1984; LM Nr. 16 zu § 832 BGB (= NJW-RR 1987, 13 [14]) v. 01.07.1986; LM Nr. 18 zu § 832 BGB (= NJW 1990, 2553 [2554]) v. 29.05.1990; LM Nr. 19 zu § 832 BGB (= NJW 1993, 1003) v. 19.01.1993; OLG Düsseldorf VersR 1992, 310 (311) v. 23.11.1990; OLG Oldenburg FamRZ 1994, 833 (834) v. 19.10.1993; OLG Koblenz r+s 1995, 413 (414) v. 01.06.1994; OLG Hamm VersR 1998, 722 (723) v. 15.04.1997; vgl. 2. Teil § 4 IV 1. 320 OLG Düsseldorf VersR 1992, 310 (311) v. 23.11.1990; OLG Koblenz r+s 1995, 413 (414) v. 01.06.1994; OLG Hamm VersR 1998, 722 (723) v. 15.04.1997.
§ 3 Die Entwicklung der Aufsichtsanforderungen
119
chen eines Feuers, zu warnen 321 . Dabei müssen die Eltern dem Kind die notwendigen Erkenntnisse über die Gefährlichkeit eines Feuers, gerade innerhalb eines Gebäudes, vermitteln. Von welcher Art und Weise ihres Vorgehens sie sich hierfür den besten pädagogischen Erfolg versprechen, ist weitgehend ihrer Entscheidung vorbehalten 322 . Zur Belehrung sollte auch gehören, eindringlich davor zu warnen, anderen Kindern bei dem Entfachen und dem Unterhalten eines Feuers in irgendeiner Weise zu helfen oder sie dazu anzustiften. Es übersteigt aber die Anforderungen an die Aufsichtspflicht, einem 6V2-Jährigen auch das Verbot des psychischen Beistandleisten beim gefährlichen Spiel mit Streichhölzern zu vermitteln 323 . Es ist nicht erforderlich, die notwendigen Belehrungen in regelmäßigen, kurz wiederkehrenden Abständen vorzunehmen. Es genügt vielmehr, wenn die Eltern besondere Anlässe, welche die Gelegenheit bieten, den Kindern die Gefahr anschaulich vor Augen zu führen, wahrnehmen und bei diesen Gelegenheiten vor den Gefahren des Feuers warnen 324 . Vor al-
321 OLG Düsseldorf VersR 1992, 310 (311) v. 23.11.1990: 4 Jahre; OLG Koblenz r+s 1995, 413 (414) v. 01.06.1994: 4lA Jahre; OLG Hamm VersR 1999, 843 (844) v. 11.02.1998: 43/4 Jahre; LG Limburg/Lahn VersR 1972, 698 v. 06.01.1971: 5 Jahre; OLG Karlsruhe VersR 1985, 599 v. 14.03.1984: 5'A Jahre; OLG Koblenz VersR 1979, 1034 v. 14.11.1978: knapp 6 Jahre; OLG Oldenburg FamRZ 1994, 833 (834) v. 19.10.1993: 6 Jahre; OLG Hamm VersR 1998, 722 (723) v. 15.04.1997: 614 Jahre; OLG Oldenburg r+s 1987, 224 v. 07.07.1986: knapp 7 Jahre; BGH LM Nr. 13 zu § 832 BGB (= NJW 1983, 2821) v. 17.05.1983: TA Jahre; LM Nr. 16 zu § 832 BGB (= NJW-RR 1987, 13 [14]) v. 01.07.1986: 7 !/2 Jahre; OLG Düsseldorf OLGR 1993, 256 L v. 24.06.1993: 10 Jahre (Aufsicht im Kinderheim). 322 BGH LM Nr. 15 zu § 832 BGB (= NJW 1984, 2574 [2576]) v. 10.07.1984: VA Jahre. 323 BGHZ 111, 282 (285 f) (= LM Nr. 18 zu § 832 BGB = NJW 1990, 2553 [2554 f]) v. 29.05.1990. Dabei führte der Senat aus: „Sowohl das Vermitteln des hinter dem von der Rechtslehre entwickelten Begriff der psychischen Beihilfe stehenden tatsächlichen Verhaltens als auch der Erkenntnis der Gefahr, die darin besteht, einen anderen in seinem Tun allein psychisch zu unterstützen, geht wegen der Abstraktheit dieses Begriffs und des Erkenntnisvorgangs über die Belehrung konkreter Gefährdungen hinaus. Geeignete Erklärungsmöglichkeiten, die den Begriffsinhalt auch dieser Gefährdungen durch psychisches Beistandleisten für ein nicht einmal 7-jähriges Kind vermitteln können, sind nicht erkennbar. Den Versuch zu unternehmen, einem solchen Kind klar zu machen, dass und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen schon das Mitgehen zum Spiel anderer deren gefährliches Tun durch psychischen Beistand zu fördern geeignet ist, ist wegen der sehr naheliegenden Erfolglosigkeit solcher Anstrengungen den Eltern nicht zuzumuten. Es wäre daher lebensfremd, dennoch dahingehende Anforderungen zu stellen. Erziehungsmaßnahmen unterlassen zu haben, die vernünftigerweise nicht gefordert werden können, kann deshalb einem Aufsichtspflichtigen nicht zum Vorwurf gemacht werden." 324 OLG Düsseldorf VersR 1992, 321 v. 14.09.1990, BGH-NA-Beschl v. 25.06.1991: Die Eltern hatten den Brand einer Scheune in der Nachbargemeinde und einen Grillabend zum Anlass der Belehrung ihres 8-jährigen Sohnes genommen. OLG Oldenburg r+s 1987, 224 v. 07.07.1987: Treffen Eltern ihren knapp 7-jährigen Sohn in einem Zeitraum von einem Jahr und vier Monaten zwei- bis dreimal mit
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
lern bei Kindern im Vorschulalter könnte durch zu intensive Warnungen eher ein besonderes, bis dahin noch nicht aktiviertes, Interesse geweckt werden 325 . Verbringen Eltern mit ihren Kindern Ferien auf einem Bauernhof, so reicht eine Aufklärung der Kinder über die Gefahren des Umgangs mit offenem Feuer unter Umständen nicht aus. Es kann darüber hinaus geboten sein, die Kinder auch auf die konkreten Gefahren durch leicht brennbare Gegenstände auf dem Bauernhof wie Heu und Stroh hinzuweisen 326 . Es wurde auch als sinnvolle Erziehungsmaßnahme angesehen, das Kind aus erzieherischen Gründen im Beisein der Eltern Streichhölzer entzünden zu lassen327. Zu weiteren erzieherischen Maßnahmen sind die Eltern nicht verpflichtet, wenn das Kind noch nicht durch den Gebrauch von Zündmitteln hervorgetreten ist. Nur das OLG Oldenburg nahm eine Haftung der beklagten Mutter an, weil sie ihren 6-jährigen Sohn nicht eindringlich und erfolgreich genug über die von Feuer ausgehenden Gefahren für Menschen belehrt hatte. Der 6-jährige Schüler spielte mit zwei Spielkameraden im Alter von fünfeinhalb und sechs Jahren in deren elterlicher Wohnung. Während des Spiels steckte der Sohn der Beklagten den Indianerfederschmuck und die Kleidung des bei der Klägerin versicherten 5 Vi-Jährigen an. Dieser erlitt schwere Brandverletzungen. Vor dem Unfall hatte der Sohn der Beklagten bereits einmal zu Hause auf der Toilette gekokelt. Anders als die Vorinstanz sah das OLG Oldenburg die Aufsichtspflicht der Beklagten als verletzt an. Die Beklagte hatte vorgetragen, sie habe mit ihrem damaligen Lebensgefährten ihrem Sohn wiederholt das Anfassen von Feuerzeugen verboten, wenn sich dazu ein Anlass bot. Nachdem ihr geschiedener Ehemann diesem ausgebrannte Feuerzeuge geschenkt hatte, habe sie ihm unter Androhung von Prügel erneut das Anfassen von Feuerzeugen verboten. Ob ihr Sohn diese Verbote ernst nahm und befolgte, ließ sich dem Sachvortrag der Mutter nicht entnehmen. Der Senat befand, die Beklagte hätte ihren Sohn aus
Streichhölzern an, so genügt es, ihn neben der Abnahme der Streichhölzer über die Gefährlichkeit des Umgang mit denselben zu belehren. 325 OLG Koblenz r+s 1995, 413 (414) v. 01.06.1994. 326 OLG München VersR 1998, 723 L v. 06.12.1996. Auch wenn schon mehrere Urlaube mit den Kindern auf einem Bauernhof verbracht wurden, ist die Belehrung bei jedem Urlaub erneut vorzunehmen, da die Kinder während des Jahres andernorts leben und ihnen das Leben auf dem Bauerhof während des Jahres fremd ist. Die Leitsätze enthalten keine Altersangabe der Kinder. Der BGH (LM Nr. 9a zu § 832 BGB [= VersR 1969, 523 {524}] v. 28.02.1969) hielt es für nicht geboten, bei einem 6-Jährigen ohne weiteren Anlass vor einem erneuten Besuch eines Bauernhofs eine Taschendurchsuchung vorzunehmen. Auch das OLG Karlsruhe (VersR 1985, 599 [600] v. 14.03.1984) hielt während eines Ferienaufenthalts auf einem Bauernhof zusätzliche Taschenkontrollen bei einem 5 Jährigen für nicht erforderlich. 327 BGH LM Nr. 18 zu § 832 BGB (= NJW 1990, 2553 [2554]) v. 29.05.1990: 7 Jahre.
§ 3 Die Entwicklung der Aufsichtsanforderungen
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Anlass des Feuerzeuggeschenkes des Vaters nochmals eindringlich und anschaulich in geeigneter Weise über die besondere Gefährlichkeit von Feuerzeugen belehren müssen. Dabei hätte es anschaulicher Erläuterungen der drohenden Gefahren bedurft. Die abstrakte Mitteilung der Gefährlichkeit von Feuer sei hingegen bei einem kleinen Kind nicht ausreichend. Das Verhalten des 6jährigen Sohnes mache zum einen deutlich, dass dieser nicht genügend eindringlich und erfolgreich darüber aufgeklärt worden war, wie lebensgefährlich und schmerzhaft die Berührung mit Feuer für einen Menschen sei. Zudem werde dadurch deutlich, dass er weder Erfahrung noch Vorstellung darin gehabt habe, wie schnell Feuer um sich greife. Der so sichtbar gewordene äußerst geringe Erziehungserfolg habe eine um so zuverlässigere und strengere Aufsicht und Kontrolle erforderlich gemacht. Dieser sei durch die behaupteten täglichen Schulranzenkontrollen nicht genüge getan. Vielmehr hätte die Beklagte ihren Sohn vor jedem Verlassen des Hauses dahingehend kontrollieren müssen, ob er Zündmittel bei sich führte 328 . Mit dieser nahezu nicht erfüllbaren Anforderung an die Kontrollpflicht der Mutter machte das OLG deutlich, dass es die fehlende altersentsprechende Aufklärung und Belehrung für fast nicht kompensierbar hielt.
bb) Verwahrung von Zündmitteln im Haushalt Die Eltern müssen durch sicheren Verschluss bzw. Errichten von Zugangserschwernissen im Rahmen des Zumutbaren verhindern, dass ihre Kinder sich im häuslichen Bereich Streichhölzer verschaffen 329. Die Gerichte verkennen dabei nicht, dass sich auch bei noch so strenger Aufsicht die Kinder - unbemerkt von dem Aufsichtspflichtigen - Streichhölzer von dritter Seite besorgen können. Das enthebt die Eltern aber nicht ihrer Pflicht, die Möglichkeit einer Besitzerlangung im häuslichen Bereich im Rahmen des Zumutbaren zu unter328
OLG Oldenburg FamRZ 1994, 833 ff v. 19.10.1993. Das BayObLG (VersR 1976, 569 [570] v. 07.07.1975) verwies in einer Entscheidung auf § 10 Abs. 1 S. 2 LVVB. Danach sind Zündhölzer und andere Feuerzeuge so zu verwahren, dass sie Kindern unter zwölf Jahren nicht ohne weiteres zugänglich sind. Dies bedeutet nach Ansicht des Senats: Es müssen alle zumutbaren Vorkehrungen getroffen sein, eine Inbesitznahme von Zündmitteln durch Kinder zu verhindern. Es ist allerdings nicht notwendig, die Zündhölzer ständig verschlossen aufzubewahren. Ihre Inbesitznahme muss aber erheblich erschwert sein. Hingegen sah das OLG Celle (VersR 1969, 1049 v. 09.04.1969) die Abgabe von Streichhölzern an Kinder nur unter besonderen Umständen als Verletzung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt an. Es verneinte aufgrund einer fehlenden einschlägigen Vorschrift eine Aufsichtspflichtverletzung der einen Flaschen- und Zigarettenhandel (sie) betreibenden Eltern, die ihrer 13 Vi-]ährigen Tochter nicht schlechthin verboten hatten, an Kinder Streichhölzer zu verkaufen. Die Tochter hatte an einen 6-Jährigen Streichhölzer verkauft, der damit eine Scheune in Brand setzte. 329
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
binden oder jedenfalls zu erschweren 330. Aufgrund der geringeren Einsichtsfähigkeit liegt gerade bei kleineren Kindern der Schwerpunkt der Aufsicht auf der Verhinderung des Zugriffs auf Zündmittel 331 . Dazu gehört vor allem, Streichhölzer so zu verwahren, dass die Kinder sie nicht ohne weiteres erblicken und erreichen können 332 . Lassen deshalb Eltern ihre 4- bis 5-jährigen Kinder allein in einem Zimmer der Wohnung spielen, müssen sie die Zündmittel unerreichbar für das Kind verwahren. Räumen daher Eltern herumliegende Zündmittel 333 nicht weg bzw. verwahren sie nur unzulänglich 334 , verletzen sie ihre Aufsichtspflicht und haften aus § 832 Abs. 1 BGB. So haftete eine Mutter nach § 832 Abs. 1 BGB, weil sie ein Feuerzeug für ihr 6!/2-jähriges Kind ohne weiteres zugänglich auf dem Küchenschrank aufbewahrte 335. Ist der Aufsichtspflichtige Raucher, muss sich ihm schon wegen des kindlichen Nachahmungsdrangs aufdrängen, dass das Kind versuchen könnte, ein Feuerzeug oder Streichhölzer in seinen Besitz zu bringen 336 . In einem Urteil des OLG Hamm v. 11.02.1999 hatte die 43/4-jährige Tochter ein auf dem Wohnzimmertisch herumliegendes Feuerzeug an sich genommen, während ihre Eltern noch schliefen. Sie entzündete damit im Flur der Mietwohnung eine Rolle Toilettenpapier. Der 330
BGH LM Nr. 13 zu § 832 BGB (= NJW 1983, 2821) v. 17.05.1983; OLG Jena OLGR-NL 2002, 381 (385) v. 29.11.2000. 331 BGH LM Nr. 19 zu § 832 BGB (= NJW 1993, 1003) v. 19.01.1993: bis Ende Grundschulalter; OLG Koblenz r+s 1995, 413 (414) v. 01.06.1994: 4l/2 Jahre; OLG Hamm VersR 1999, 843 (845) v. 11.02.1998: 43Ä Jahre. A.A. BGH LM Nr. 13 zu § 832 BGB (= NJW 1983, 2821) v. 17.05.1983. Dort sah der Senat den Schwerpunkt bei der Beaufsichtigung eines 714-Jährigen bei der Aufklärung über die Gefährlichkeit der Verwendung von Zündmitteln und der Kontrolle auf einen etwaigen Besitz. 332 OLG Jena OLGR-NL 2002, 381 (385) v. 29.11.2000. 333 OLG Koblenz r+s 1995, 413 (414) v. 01.06.1994: 4lA Jahre; OLG Düsseldorf 1992, 310 (311) v. 23.11.1990: 4 Jahre; VersR 1992, 321 (322) v. 14.09.1990, BGHNA-Beschl v. 25.06.1991: 8 Jahre. In einer anderen Entscheidung vertrat das OLG Düsseldorf (VersR 1983, 89 v. 14.04.1981) die Auffassung, wegen der menschlichen Unzulänglichkeit könne es auch sorgfältigen Eltern einmal geschehen, dass sie vergessen, Streichhölzer wegzuräumen oder nicht ganz sicher vor ihrem 4-jährigen Kind zu verstecken. Leichtfertig sei dieses Verhalten deshalb nicht. Es löse zwar die Haftung nach § 832 BGB aus, begründe aber keinen schweren Schuldvorwurf gegen die Eltern, was im Rahmen der Abwägung mit den Verursachungs- und Mitverschuldensanteilen des Geschädigten zu berücksichtigen sei. 334 OLG Hamm NJW-RR 1996, 153 v. 13.01.1995: Der 4-Jährige war seit Stunden in der Mietwohnung seiner Eltern sich selbst überlassen, da sein Vater im Nachbarzimmer schlief oder schon wach fern sah. Er nahm aus einer offen herumliegenden Hose seines Vaters ein Feuerzeug und entzündete eine Kerze. Durch die brennende Kerze kam es zu einem Wohnungsbrand. Der Senat hielt das Verschulden des Vaters für nicht schwer, jedoch für eine Haftungsbejahung ausreichend. 335 OLG Koblenz ZfS 1987, 162 v. 18.12.1984. In Abwesenheit seiner Mutter holte das Kind zielstrebig das Feuerzeug vom Küchenschrank und legte damit ein Feuer. 336 OLG Koblenz r+s 1995, 413 (414) v. 01.06.1994: 4,/2 Jahre.
§ 3 Die Entwicklung der Aufsichtsanforderungen
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so entstandene Brand verursachte am Gebäude erhebliche Schäden. In der mietvertraglichen Verpflichtung der Eltern, die anteiligen Kosten der Gebäudeversicherung des Wohnungseigentümers zu zahlen, sah der Senat eine stillschweigende Haftungsbeschränkung auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit, die er auch auf den deliktsrechtlichen Anspruch aus § 832 BGB anwandte. Das OLG vertrat die Auffassung, dass einmalige Liegenlassen eines Feuerzeugs im Wohnzimmer begründe noch nicht den Vorwurf der grob fahrlässigen Verletzung der Aufsichtspflicht und verneinte einen Anspruch aus § 832 Abs. 1 BGB 3 3 7 . Bemerkenswert sind jedoch die nachfolgenden Ausfuhrungen des Senats: Es mag dahinstehen, ob eine Verletzung der Aufsichtspflicht daraus abzuleiten ist, dass das 43/4-jährige Kind - wie bereits mehrfach zuvor - aufgestanden war und sich ohne Aufsicht in der Wohnung aufhielt, während die Eltern noch schliefen. Selbst wenn man insoweit eine Kontrolle auf Schritt und Tritt für erforderlich halten würde, läge vorliegend keine grob fahrlässige, sondern allenfalls eine fahrlässige Verletzung der Aufsichtspflicht vor 338 . Es ist zur Erfüllung der Aufsichtspflicht aber nicht erforderlich, Zündmittel in der Wohnung ständig am Körper zu führen, wenn sie nicht in sonstiger Weise für Kinder unerreichbar oder verschlossen aufbewahrt werden. Nach Ansicht des OLG Düsseldorf genügt es daher in der Regel, Zündmittel, die nach dem Gebrauch vorübergehend in Reichweite aufsichtsbedürftiger Kinder abgelegt werden, im Auge zu behalten, damit sie nicht unbemerkt weggenommen werden können. Werden derart abgelegte Zündmittel kurzfristig in der Obhut anderer Erwachsener zurückgelassen, so muss sich der Aufsichtspflichtige jedenfalls bei seiner Rückkehr Gewissheit über ihren Verbleib verschaffen und, falls er sie nicht mehr vorfindet, Nachforschungen über ihren Verbleib anstellen339. Der BGH ließ in der ersten Entscheidung zum Umgang mit Feuer im Rahmen des § 832 BGB noch offen, ob das Verstecken von Streichhölzern hinter dem Geschirr im Küchenschrank für eine sichere Verwahrung gegenüber einem 6-
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OLG Hamm VersR 1999, 843 (844 f) v. 11.02.1999. OLG Hamm VersR 1999, 843 (845) v. 11.02.1999. Haberstroh (VersR 2000, 806 [813 f]) äußert sich kritisch zu diesen Ausführungen und wirft dabei die Frage auf, ob elektronische Bewachungsmittel am Bettrand Standard elterlicher Aufsichtsführung werden sollen. Lebensnaher zu dieser Frage: LG Potsdam NJW-RR 2002, 1543 v. 12.08.2002 (vgl. 1. Teil §3 IV 2). 339 OLG Düsseldorf VersR 1992, 321 (322) v. 14.09.1990, BGH-NA-Beschl v. 25.06.1991. Neben der Möglichkeit, dass das Feuerzeug unbeaufsichtigt im Wohnzimmer lag, prüfte der Senat die Sachverhaltsalternative, wonach die Mutter das Feuerzeug auf den Esstisch gelegt hatte, an dem die Geburtstagsgäste ihrer Tochter saßen. Ihr 8jähriger Sohn nahm das Feuerzeug und brannte Scheune und Stallungen eines Bauernhofes nieder. Nach ihrem eigenen Vortrag hatte die beklagte Mutter den Verlust des Feuerzeugs nicht bemerkt. Das OLG konnte deshalb dahinstehen lassen, welcher der beiden Sachverhalte vorlag und nahm eine Haftung der Mutter nach § 832 Abs. 1 BGB an. 338
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
Jährigen ausreicht 340 . Das OLG Düsseldorf 341 und das OLG Koblenz in zwei Entscheidungen 342 sahen in der Aufbewahrung in einem nicht ohne weiteres zugänglichen Küchenschrank/-regal eine hinreichend sichere Verwahrung der Zündmittel 343 . In einem vom BGH entschiedenen Fall hatten die Eltern Streichhölzer auf dem obersten Brett eines treppenförmigen Speisekammerregals aufbewahrt. Da diese dort für ihren 7!/2-jährigen Sohn unschwer sichtbar und erreichbar waren, nahm der Senat wegen dieser unzulänglichen Verwahrung eine Aufsichtspflichtverletzung der Eltern an 3 4 4 . Das BayObLG hielt einen ständigen Verschluss von Zündmitteln für nicht erforderlich. Es ist ausreichend, diese versteckt an einem Ort aufzubewahren, zu welchem dem Kind der Zugang allgemein verboten ist. So muss das Kind neben dem äußeren Hindernis des Verstecktseins auch noch innere Hemmungen überwinden, wenn es am verbotenen Ort sucht 345 . In einem Urteil des OLG Oldenburg hatte der 7-jährige Sohn 340
BGH LM Nr. 9a zu § 832 BGB (= VersR 1969, 523 [524]) v. 28.02.1969. OLG Düsseldorf VersR 1988, 56 v. 03.06.1986: 5 Jahre. 342 OLG Koblenz r+s 1995, 413 (414) v. 01.06.1994: 4'/2 Jahre; VersR 1979, 1034 v. 14.11.1978: 6 Jahre. 343 Im Rahmen der Prüfung eines Mietminderungsanspruchs kam das AG Mannheim (DWW 1994, 253 v. 10.06.1994) zu folgendem Ergebnis: Lassen Eltern ihren 5jährigen Sohn allein in der Wohnung und kommt es bei Fehlen sonstiger technischer Defekte zu einem Brand, so ist von einer Aufsichtspflichtverletzung auszugehen. In diesem Fall bestehe eine durch die Lebenserfahrung bestätigte Vermutung, dass Streichhölzer und Feuerzeuge nicht hinreichend sicher verwahrt wurden, so dass das Kind in einem unbeobachteten Moment damit zündeln konnte. 344 BGH LM Nr. 13 zu § 832 BGB (= NJW 1983, 2821) v. 17.05.1983. Der TAJährige hatte mit den Streichhölzern in einer Scheune Stroh angezündet und dann mit einer Schaufel gelöscht. Durch die Glutreste brannte die Scheune samt Inventar ab. Rauscher (JuS 1985, 757 [762 f]) sieht die Anforderungen an die Erfüllung der Aufsichtspflicht überspannt, weil der BGH sowohl die Bedürfnisse einer geordneten Entwicklung des Minderjährigen als auch die Zumutbarkeit für die Eltern nicht ausreichend berücksichtigt habe. Das Verstecken von Zündmitteln sei für die Eltern nicht durchfuhrbar. Zudem fehle es an der Kausalität der unzureichenden Verwahrung für den Schaden, da der Junge - wie auch der BGH anmerkt - sich diese ohne Schwierigkeiten außerhalb des Hauses besorgen konnte. Dieser Einwand der hypothetischen Kausalität durch Rauscher geht fehl. Real ursächlich für den eingetretenen Brandschaden war allein die unzureichende Verwahrung der Streichhölzer in der Speisekammer. Die Reserveursache der anderweitigen Zugriffsmöglichkeit hat sich hingegen im konkreten Schaden nicht ausgewirkt, so dass sie unbeachtlich ist. 345 BayObLG VersR 1976, 569 (570) v. 07.07.1975. Das Gericht verneinte eine Haftung der Eltern nach § 832 Abs. 1 BGB. Es urteilte: Verwahrt ein Vater Streichhölzer in der Nachttischschublade, so verletzt er seine Aufsichtspflicht nicht, wenn es sich nicht um einen regelmäßigen Aufbewahrungsort handelt, seinem 10-jährigen Sohn dieser Aufbewahrungsort unbekannt ist, zudem ein Verbot besteht in Schubladen des Schlafzimmer zu kramen und er sich den Wohnungsschlüssel von der Nachbarin holen muss. Der Sohn war durch ein Fenster eingestiegen und hatte nach längerem Suchen die Streichhölzer gefunden. Beim Ausräuchern eines Wespennestes brannte er eine Baracke samt Warenlager im Wert von 200.000 DM nieder. Albilt (S. 132) hält das Urteil für bedenklich, da der Junge die Streichhölzer sehr wohl an sich bringen konnte, und for341
§ 3 Die Entwicklung der Aufsichtsanforderungen
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der Beklagten in der elterlichen Wohnung im Zimmer seines Onkels auf einem 2 m hohen Schrank Streichhölzer gefunden. Der Junge war über die Gefährlichkeit im Umgang mit Streichhölzern belehrt und verwarnt worden. Weil die Eltern diese Art der Aufbewahrung nicht verhindern konnten, verneinte das OLG eine Aufsichtspflichtverletzung der Eltern 346 . In seinem Urteil v. 15.04.1997 nahm das OLG Hamm eine grob fahrlässige Aufsichtspflichtverletzung der alleinerziehenden Mutter an, weil sie Zündmittel mangelhaft aufbewahrt hatte. Sie verwahrte in ihrer Mietwohnung in einer Küchenschublade ein Feuerzeug sowie Wunderkerzen zusammen mit Süßigkeiten in einem Fach im Wohnzimmer. Als die beklagte Mutter zur Arbeit ging, blieben ihre 61/2-jährige Tochter und zwei Nachbarskinder erstmals allein in der Wohnung zurück. Die Tochter fand die Wunderkerzen, die sie und die beiden Nachbarskinder mit dem in der Küche gefundenen Feuerzeug ansteckten. Es kam zu einem Wohnungsbrand, den die Klägerin als Gebäudeversicherung regulierte. Das OLG befand, dass die Beklagte ihre Aufsichtspflicht objektiv in besonders schwerem Maß verletzt hatte, indem sie Wunderkerzen und Feuerzeug für ihre 6!/2-jährige Tochter ohne weiteres erreichbar aufbewahrte und zugleich zuließ, dass sich ihre Tochter gemeinsam mit Nachbarskindern ohne Aufsicht in ihrer Wohnung aufhielt. Das außerordentlich hohe Gefahrenrisiko wurde noch dadurch erhöht, dass sich die Wunderkerzen in der Nähe der Süßigkeiten befanden, die von Kindern erfahrungsgemäß besonders intensiv gesucht und häufig auch gefunden werden. Zugleich fiel wesentlich erschwerend ins Gewicht, dass die drei Kinder am Tag des Brandes erstmals gemeinsam und zugleich ohne Aufsicht in der Wohnung gespielt hatten. Da sich die bestehende Gefahrenlage der Beklagten geradezu hätte aufdrängen müssen, war ihr Verhalten auch als subjektiv besonders schwerer Pflichtverstoß zu werten 347 . Gegen diese Bewertung ist nichts einzuwenden, da es der berufstätigen Mutter möglich war, Wunderkerzen und Feuerzeug unerreichbar wegzuschließen oder das unbeaufsichtigte gemeinsame Spiel im Zugriffsbereich dieser Gegenstände vor dem Verlassen der Wohnung zu unterbinden. Das OLG Jena nahm in einem Urteil v. 29.11.2000 ebenfalls eine Aufsichtspflichtverletzung des beklagten Vaters an, u. a. wegen ungenügender Verwahrung eines Feuerzeuges. Sein 6dert bei kleineren Kindern ein gänzliches Unmöglichmachen des Zugriffs auf Zündmittel. 346 OLG Oldenburg r+s 1987, 224 v. 07.07.1986. Der Junge gab die Streichhölzer an einen Spielkameraden weiter. Dieser brannte einen Stall samt der darin befindlichen 500 Schweine und Futtermittel nieder. 347 OLG Hamm VersR 1998, 722 v. 15.04.1997. Die klagende Versicherung nahm die haftpflichtversicherte Beklagte gemäß § 67 VVG aus übergegangenen Recht in Anspruch. Aufgrund eines Regressverzichtsabkommens der Feuerversicherer erfolgte dieser gesetzliche Forderungsübergang aber nur, wenn die Beklagte den Schaden grob fahrlässig herbeigeführt hatte. Deshalb musste der Senat prüfen, ob die Beklagte ihre Aufsichtspflicht in besonders schwerem Maß verletzt hatte.
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
jähriger Sohn, der seit einer Woche bei ihm zu Besuch weilte, hatte außerhalb der Wohnung ein Feuerzeug gefunden. Der Beklagte wollte es zunächst wegwerfen, steckte es aber in einen Beutel des 6-Jährigen. Den Beutel stellte er in das Kinderzimmer seines anderen Sohnes. Als der 6-Jährige die Wohnung zum Spielen verlassen wollte, untersuchte ihn der Beklagte. Dabei fand er unter dem Hemd versteckt eine Kerze, die er dem 6-Jährigen abnahm. Dann ließ er ihn gehen. Der 6-Jährige zündete an der Verladerampe eines Einkaufsmarktes ein Stück Pappe an, welches in den dort lagernden Pappstapel fiel. Es entstand ein Brand, der auf das gesamte Gebäude übergriff; der Schaden belief sich auf über 1,5 Mio. DM. Der Senat verurteilte den Vater aus § 832 Abs. 2, Abs. 1 S. 1 BGB. Nachdem er die Kerze gefunden hatte, reichte es zur Erfüllung seiner Aufsichtspflicht nicht aus, den Jungen weiter zu untersuchen. Vielmehr hätte er sich vergewissern müssen, ob sich das Feuerzeug noch in dem Beutel befand. Das umso mehr, da der 6-Jährige Interesse an dem gefundenen Feuerzeug gezeigt hatte und um die ungenügende Verwahrung des Feuerzeuges wusste 348 .
cc) Besitzkontrolle Weiterhin sind die aufsichtsbedürftigen Kinder auf den Besitz von Zündmitteln zu kontrollieren. Ohne besondere Anhaltspunkte werden von den Gerichten gelegentliche Taschenkontrollen für ausreichend gehalten349. Es genügt demnach, wenn sich die Eltern bei den sich bietenden Gelegenheiten wie dem Aufräumen des Kinderzimmers oder vor dem Waschen der Kleidung davon überzeugen, mit welchen Gegenständen sich die Kinder beschäftigen 350. Anhaltspunkte für zusätzliche Kontrollen bis hin zur täglichen Taschendurchsuchung können dabei die Neigung des Kindes zum Zündeln, ein Hang zum Spiel mit Streichhölzern oder der Fund von Zündmitteln sein 351 . Strenger bemaß hingegen das OLG Oldenburg das Aufsichtsmaß in zwei Urteilen. So sah es der Senat ohne Vorliegen eines der vorgenannten Anhaltspunkte als ausreichend an, wenn die Eltern ihren 7-jährigen Sohn bei den abendlichen Taschenkontrollen während des Entkleidens auf den Besitz von Streichhölzern kontrollierten. 348
OLG Jena OLGR-NL 2002, 381 (385 f) v. 29.11.2000 (vgl. 1. Teil § 1 II a. E.). BGH LM Nr. 9a zu § 832 BGB (= VersR 1969, 523 f) v. 28.02.1969; LM Nr. 13 zu § 832 BGB (= NJW 1983, 2821) v. 17.05.1983; OLG Koblenz VersR 1979, 1034 (1035) v. 14.11.1978; OLG Karlsruhe VersR 1985, 599 f v . 14.03.1984; OLG Düsseldorf VersR 1992, 321 v. 14.09.1990, BGH-NA-Beschl v. 25.06.1991; OLGR 1993, 256 L v. 24.06.1993 (für ein Kinderheim); OLG Celle OLGR 1994, 221 f v. 15.06.1994; LG Limburg/Lahn VersR 1972, 698 v. 06.01.1972. 350 BGH LM Nr. 16 zu § 832 BGB (=NJW-RR 1987, 13 [14]) v. 01.07.1986. 351 BGH LM Nr. 16 zu § 832 BGB (= NJW-RR 1987, 13 [14]) v. 01.07.1986; OLG Koblenz VersR 1979, 1034 (1035) v. 14.11.1978; OLG Karlsruhe VersR 1985, 599 (600) v. 14.03.1984; OLG Celle OLGR 1994, 221 f v. 15.06.1994. 349
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Eine regelmäßige Taschenkontrolle vor jedem Verlassen des Hauses hielt der Senat jedoch für nicht geboten 352 . In der oben bereits erwähnten Entscheidung des OLG Oldenburg bestand hingegen im vorherigen Kokein ein solcher Anhaltspunkt, so dass hier der Senat über die tägliche Kontrolle hinaus eine Taschenkontrolle vor jedem Verlassen des Hauses forderte 353.
dd) Allgemeine Aufsichtsmaßnahmen Neben den vorgenannten brandspezifischen Aufsichtsmaßnahmen berücksichtigen die Gerichte auch allgemeine Aufsichtsanforderungen bei der Bestimmung des Aufsichtsmaßes. Wegen der großen Gefahren, die von Kindern ausgehen, welche unbeaufsichtigt mit Feuer spielen, müssen sich die Eltern einen hinreichend verlässlichen Überblick über das Freizeitverhalten ihres Kindes verschaffen. Dies kann durch die Befragung des Kindes geschehen. Es verbietet sich bei Kindern im schulpflichtigen Alter aber schon aus pädagogischen Gründen nicht nur eine Überwachung auf Schritt und Tritt, sondern auch eine regelmäßige Kontrolle in kurzen, etwa halbstündigen Zeitabschnitten, wie sie beispielsweise bei einem Kleinkind erforderlich ist. Anderenfalls würde die Erziehung des Kindes zu selbstständigem verantwortungsbewussten Handeln verhindert 354, 3 5 5 . Gelegentlich müssen die Aufsichtspflichtigen aber das Kind während der Freizeit beobachten356.
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OLG Oldenburg r+s 1987, 224 v. 07.07.1986. Die Eltern hatten zwar ihren Sohn im Zeitraum von einem Jahr und vier Monaten zwei- bis dreimal mit Streichhölzern angetroffen, aber es bestand kein Anhalt dafür, dass er diese einmal benutzt hatte. 353 OLG Oldenburg FamRZ 1994, 833 (834 f) v. 19.10.1993 (vgl. 1. Teil § 3 II 1 a aa). 354 BGH LM Nr. 15 (= NJW 1984, 2574 [2575]) v. 10.07.1984: 8'/2 Jahre; BayObLG VersR 1976, 569 (571) v. 07.07.1975: 10 Jahre; OLG Koblenz VersR 1979, 1034 (1035) v. 14.11.1978: 6 Jahre; OLG Oldenburg r+s 1987, 224 v. 07.07.1986: 7 Jahre; OLG Celle OLGR 1994, 221 (222) v. 15.06.1994: 7 Jahre; LG Duisburg MDR 1966, 235 (236) v. 04.05.1965: 6 Jahre; LG Limburg/Lahn VersR 1972, 698 v. 06.01.1971: 5 Jahre. A.A. OLG Hamm VersR 1999, 843 (844 f) v. 11.02.1999. Der Senat zieht eine Schritt auf Tritt Überwachung einer - wenn auch nur - 43/4-jährigen Tochter in der Wohnung in Erwägung (vgl. 1. Teil § 3 II 1 a bb). 355 So befand der BGH (LM Nr. 15 [= NJW 1984, 2574 {2575}] v. 10.07.1984): Es stellt eine Überspannung der Aufsichtspflicht der Eltern dar, von ihnen zu verlangen, ihren zum Umgang mit Feuer ordnungsgemäß belehrten SVS-jährigen Sohn so zu kontrollieren, dass ihnen das Entfachen eines Feuers auf einem zu ihrer Gastwirtschaft gehörenden Gelände nicht hätte entgehen können. Dabei brauchen sie ohne konkrete Anhaltspunkte auch nicht damit zu rechnen, dass sich ihr Sohn mit anderen Kindern gewaltsam Zugang zu verschlossenen Räumen verschafft. 356 BGH LM Nr. 16 zu § 832 BGB (= NJW-RR 1987, 13 [14]) v. 01.07.1986.
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b) Dem Grundschulalter entwachsene Kinder In nur wenigen veröffentlichten Entscheidungen ist der normal entwickelte Brandstifter älter als zehn Jahre. Dabei wird das Aufsichtsmaß vom BGH abweichend von den zuvor dargestellten Kriterien bestimmt. Für ältere, dem Grundschulalter bereits entwachsene Kinder, gelten nicht die Maßstäbe für kleinere Kinder bei der Bestimmung der elterlichen Aufsichtspflicht. Aufgrund der gewachsenen intellektuellen und psychischen Fähigkeiten eines normal entwickelten Kindes ergibt sich für die Eltern die Pflicht, die weiter gebotene Belehrung und Ermahnung hinsichtlich der Risiken im Umfang mit Feuer nunmehr in stärkerem Maße auf einer die intellektuelle Einsichtsfähigkeit des Kindes ansprechenden Ebene fortzuführen. Es kann von Eltern deshalb nicht mehr im selben Umfang wie bei kleinen Kindern verlangt werden, ihre dem Grundschulalter entwachsenen Kinder von Zündmitteln fernzuhalten 357. Deshalb stellt es keine Aufsichtspflichtverletzung der beklagten Mutter dar, dass sie ihren Schmuckkasten, den sie hervorgeholt hatte, um den Kindern alte Ketten für den Flohmarkt herauszusuchen, nicht ständig so im Auge behalten hat, dass ihrem beinahe 12-jährigen Sohn ein unbemerkter Zugriff auf das im Schmuckkasten liegende Feuerzeug unmöglich war. Aufgrund seines normalen intellektuellen Entwicklungsstandes konnte von den Eltern nicht verlangt werden, dass sie Zündmittel für den Jungen zu jeder Zeit völlig unerreichbar verwahrten. Denn ihrer Pflicht zur Aufklärung und Belehrung ihres Sohnes über die Gefahren des Feuers waren sie im erforderlichen Umfang nachgekommen 358 . So darf nach Ansicht des OLG Düsseldorf das Lehrpersonal einer Schule darauf vertrauen, dass eine Belehrung eines 15-jährigen Schülers über die mit dem Umgang mit Feuer verbundenen Gefahren nebst einer Überwachung auf das Mitführen von Zündmitteln bereits im Elternhaus erfolgt ist und Wirkung gezeigt hat 359 . Nach Auffassung desselben Gerichts verletzt eine Mutter ihre Aufsichtspflicht auch nicht dadurch, dass sie sieben zu einem Kindergeburtstag eingeladene 11-jährige Mädchen, die in einem Raum bei brennender Geburtstagskerze ruhig sitzend Musik hören, nach Hinweis auf die von der Kerze ausgehende Gefahr kurzfristig allein lässt 360 .
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BGH LM Nr. 19 zu § 832 BGB (=NJW 1993, 1003) v. 19.01.1993. BGH LM Nr. 19 zu § 832 BGB (= NJW 1993, 1003 f) v. 19.01.1993. Der 12jährige Sohn hatte dem Schmuckkasten unbemerkt ein Feuerzeug entnommen und versteckt. Am nächsten Tag zündelte er mit einem Freund in einer Scheune. Diese brannte dadurch nieder. 359 OLG Düsseldorf NJW-RR 1999, 1620 v. 18.12.1997. 360 OLG Düsseldorf VersR 2000, 1254 v. 21.05.1999. Ein Mädchen erlitt schwere Verbrennungen, als sie mit dem Rücken an die Kerze geriet und sich ihre Kleidung entzündete. § 832 BGB war nicht einschlägig, da keines der anderen Kinder an dieser Selbstverletzung beteiligt war. Der Senat verneinte eine Aufsichtspflichtverletzung der Mutter aus § 823 Abs. 1 BGB. 358
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2. Besondere negative Veranlagung des Kindes Durch drei jüngere, kurz hintereinander ergangene BGH-Entscheidungen ist das gebotene Maß der Aufsicht klar umrissen. Die von der Rechtsprechung zur Bestimmung des Aufsichtsmaßes mit Zündmitteln bei normal entwickelten Kindern zugrunde gelegten Maßstäbe werden auf Kinder mit erheblich verringerter Einsichtsfähigkeit nicht angewandt. Bei geistig retardierten, schwer verhaltensgestörten Kindern mit ausgeprägter Aggressionsbereitschaft sowie psychisch auffälligen Kindern mit besonderer Zündelneigung ist davon auszugehen, dass sie sich den Belehrungen der Aufsichtspflichtigen verschließen, die Erfahrungen des Lebens mit seinen Gefahren nicht in sich aufnehmen und ihr Verhalten nicht im Allgemeinen altersentsprechend danach ausrichten. Diese verschiedenen besonderen Veranlagungen des Kindes im negativen Sinne werden dabei als vergleichbar angesehen. Bei einer solchen erheblich verringerten Einsichtsfähigkeit des Kindes, die es ihm aufgrund einer der vorgenannten besonderen psychischen Situation nicht gestattet, die Gefährlichkeit des Zündeins zu erkennen und die ihm erteilten Belehrungen und Ermahnungen zu beachten, erfordert der Schutz Dritter deshalb die Anwendung eines strengeren Maßstabes zur Bestimmung der gebotenen Aufsicht. Diese besonderen Veranlagungen können dazu führen, dass ein solches Kind auch nicht für fünf Minuten allein gelassen werden darf, also einer Aufsicht auf Schritt und Tritt unterzogen werden muss, mag eine solche auch schwer zu verwirklichen sein. Der Schwerpunkt der Aufsicht liegt hier also nicht auf brandspezifischen Maßnahmen, sondern vielmehr auf der tatsächlichen engmaschigen Beaufsichtigung 361. In der ersten Entscheidung hatte ein geistig retardierter und schwer verhaltensgestörter 9-Jähriger mit ausgeprägter Aggressionsbereitschaft in einer aus zwölf Häusern bestehenden Einöde eine Scheune samt Inventar niedergebrannt. Er war noch nicht durch Zündelaktivitäten aufgefallen. Aufgrund seiner Aggressivität war jedoch jederzeit bei sich bietender Gelegenheit mit Ausschreitungen zu rechnen. Die Eltern wussten um die von ihrem Sohn ausgehenden besonderen Gefahren. Der BGH hielt - im Gegensatz zu beiden Vorinstanzen eine mehr oder weniger ständige unmittelbare Kontrolle durch die beklagten Eltern für geboten und, obwohl im praktischen Leben nur schwer zu realisieren, auch für zumutbar. Denn die Zumutbarkeit von Aufsichtsmaßnahmen richtet sich nach dem Ausmaß der Gefahr, die außenstehenden Dritten durch die Eigenarten und den Charakter des Kindes drohen. Außergewöhnliche Gefahren erfordern dabei auch ein außergewöhnliches Maß an Aufsicht. Der auf der Aggressionsneigung des Kindes beruhenden vorsätzlichen Brandstiftung war des-
361 BGH LM Nr. 20 zu § 832 BGB (= NJW 1995, 3385 [3386]) v. 10.10.1995; LM Nr. 21 zu § 832 BGB (= NJW 1996, 1404 [1405]) v. 27.02.1996; LM Nr. 22 zu § 832 BGB (=NJW 1997, 2047 [2048]) v. 18.03.1997.
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
halb durch eine genügende ständige Aufsicht zu begegnen 3 6 2 , 3 6 3 . Jedoch stellte derselbe Senat des BGH in einer darauffolgenden Entscheidung deutlich heraus, dass die bloße Feststellung einer Milieuschädigung des Minderjährigen nicht ausreicht, um den Aufsichtspflichtigen zu einer Überwachung auf Schritt und Tritt zu verpflichten. Hierfür bedarf es vielmehr konkreter Feststellungen, welche die Annahme rechtfertigen, dass als Folge besonderer Aggressionsbereitschaft oder sonstiger Verhaltensstörungen des Minderjährigen stets mit gefährlichen Streichen zu rechnen ist. Dabei ist herauszuarbeiten, welcher Altersgruppe von normal entwickelten Kinder die betreffenden verhaltensgestörten Kinder gleichzustellen sind. Weiterhin ist erforderlich, Feststellungen zu Eigenart und Charakter der Kinder hinsichtlich Einsichtsfähigkeit und Beiehrbarkeit zu treffen 364 .
362 BGH LM Nr. 20 zu § 832 BGB (= NJW 1995, 3385 f) v. 10.10.1995. Schoof (S. 73, 48 Fn. 154) hält das Urteil für verfehlt, da sich die schlechten Charaktereigenschaften des Jungen im konkreten Fall nicht ausgewirkt hatten. Der Schluss der BGH ist ihrer Ansicht nach zu weitgehend, weil die Eltern somit ohne konkreten Anlass intensiv vorbeugend in jede Richtung hätten tätig werden müssen. 363 Anders noch das OLG Hamm (VersR 1990, 743 f v. 27.04.1989). Der 10-jährige Sohn der Beklagten hatte von seinem Taschengeld zwei Einwegfeuerzeuge gekauft. Mit einem Spielkameraden entzündete er an einer Halle lagernde Strohbänder, wobei das Feuer auf die Halle übergriff und diese stark beschädigte. Der Sohn war bis vor wenigen Monaten wegen deutlichen Verhaltensstörungen für neun Monate in einem Institut für Jugendpsychiatrie untergebracht gewesen. Danach lebte er in einem Erziehungsheim. Am Tattag hielt er sich aufgrund eines einwöchigen Heimaturlaubs bei seinen Eltern auf. Das OLG verurteilte die Eltern aus § 832 Abs. 1 BGB, hielt aber eine Überwachung Schritt auf Tritt nicht für erforderlich. Es urteilte: Wegen der deutlichen Verhaltensstörungen ihres Sohnes traf die Eltern eine besondere Aufsichtspflicht. Selbst wenn sie ihn über die Gefährlichkeit von Feuer aufgeklärt und den Umgang mit Zündmitteln verboten hatten, durften sie aufgrund der bestehenden Gehorsamsprobleme nicht auf eine Befolgung ihrer Anweisungen vertrauen, auch war es nicht erforderlich, ihn ständig im Auge zu behalten. Das lässt sich bei einem 10-jährigen Jungen nicht verwirklichen und würde auch jede vernünftige Entwicklung hemmen. Sie hätten aber einen zeitlichen Rahmen vorgeben müssen, innerhalb dessen sich ihr Sohn meldete und über sein Tun berichtete. Zudem hätten die Eltern einen deutlich engeren räumlichen Rahmen für das Spiel abstecken müssen, innerhalb dessen er sich bewegen durfte. Einen Aufenthalt ohne Aufsicht an der 1000 m entfernten Halle hätten sie nicht erlauben dürfen. Bedenklich ist aber die weitere, auf einer ex post Beurteilung beruhende, Begründung des Senats. Danach wäre der konkrete Schadensfall nicht eingetreten, wenn die Beklagten den räumlichen Rahmen so eng gesteckt hätten, dass sich die Halle außerhalb dieses Rahmens befand. A. Fuchs (S. 184 Fn. 83) hält das Urteil für sehr streng. 364 BGH LM Nr. 22 zu § 832 BGB (= NJW 1997, 2047 f) v. 18.03.1997. Die Kläger hatten auf ihrem landwirtschaftlichen Hof im Rahmen eines Ferienaufenthalts eine Gruppe von zehn zum Teil verhaltensgestörten Kindern aus einem Heim mit drei Betreuerinnen aufgenommen. Die einmalige Abwesenheit ihrer Betreuerin von maximal fünf Minuten nutzten die 133/4-, 9/2- und knapp 8-jährigen Kinder und legten im Strohlager des Stallgebäudes Feuer. Der Stall und eine angrenzende Stallung wurden zerstört. Die unterversicherten Kläger nahmen den Träger des Heims und die Betreuerin in Anspruch. Beide Vorinstanzen sahen in der fünfminütigen Abwesenheit der Betreuerin ei-
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Hingegen stellt es nach Ansicht des BGH eine Verletzung der Aufsichtspflicht dar, ein knapp 10-jähriges Kind, welches schon mehrfach durch Neigung zum Zündeln aufgefallen ist, für mehrere Stunden unbeaufsichtigt im Freien spielen zu lassen. Die beklagte alleinerziehende Mutter wusste um die Zündelneigung ihres Sohnes und hatte deshalb neben wiederholten Ermahnungen mit ihm eine psychologische Beratungsstelle aufgesucht. Trotzdem ließ sie ihn mehrere Stunden unbeaufsichtigt spielen. Dabei setzte der Sohn ein Papierlager an der Außenseite eines Werkstattgebäudes in Brand, wodurch das gesamte Materiallager des Klägers zerstört wurde. Im Gegensatz zu den Vorinstanzen sah der BGH in dem mehrstündigen unbeaufsichtigten Spiel des Sohnes eine Aufsichtspflichtverletzung der Mutter. Die besondere Veranlagung des Kindes, nämlich die Unfähigkeit die Gefährlichkeit des Zündeins zu erkennen und die diesbezüglich erteilten Belehrungen und Ermahnungen zu beachten, machte eine mehr oder weniger ständige unmittelbare Kontrolle seines Verhaltens erforderlich. Der Senat knüpfte dabei ausdrücklich an seine vorhergehende Rechtsprechung zum Aufsichtsumfang bei geistig zurückgebliebenen Kindern an. Er hielt dementsprechend - im Bewusstsein der schwierigen Realisierbarkeit im praktischen Leben - eine engmaschige Überwachung durch die alleinerziehende berufstätige Mutter für zumutbar 3 6 5 , 3 6 6 . Die Grenze der Aufsichtspflicht bei Kindern mit Zündelneigung arbeitete das OLG Düsseldorf mit Urteil v. 11.10.1996 heraus. Der 15-jährige Sohn der Beklagten hatte in den Schulferien zwei Brände gelegt. Darauf reagierte die
ne Aufsichtspflichtverletzung, da die Kinder milieugeschädigt gewesen seien und deshalb mit einem Streich zu Lasten Dritter zu rechnen war. Der Senat hob auf und verwies zurück, da es an einer Feststellung und Würdigung der maßgeblichen Einzelumstände fehlte. 365 BGH LM Nr. 21 zu § 832 BGB (= NJW 1996, 1404 [1405]) v. 27.02.1996. 366 Das OLG Koblenz (VersR 1980, 752 f v. 06.07.1979, BGH-NA-Beschl v. 29.04.1980) hatte in einer Entscheidung eine ständige Aufsicht der Eltern über ihren 16jährigen - geistig und körperlich etwas unterentwickelten - Sohn verneint. Bei einem Wirtshausstreit mit einem anderen Jungen hatte der 16-Jährige zum wiederholten Male seine körperliche Unterlegenheit zu spüren bekommen. Auf dem Heimweg zündete er einen Schuppen an. Neben dem Schuppen brannte ein auf demselben Gelände befindliches Fabrikgebäude nieder. Der Ehemann der Klägerin fand in den Flammen den Tod. Den Brand hatte der Sohn der Beklagten gelegt, um durch tatkräftigen Einsatz bei den Löscharbeiten als Feuerwehrmann Anerkennung zu finden. Er wollte so seine Minderwertigkeitskomplexe kompensieren. Aus dem gleichen Beweggrund hatte er einige Monate zuvor bereits eine Brandstiftung begangen, die jedoch bis zum zweiten Brand unentdeckt blieb. Die Klägerin hatte zahlreiche Tatsachen vorgetragen, die für eine erhöhte Aufsicht der Eltern sprachen. Das OLG verneinte aber eine Haftung der Eltern. Denn diesen waren nachweisbar keine Umstände bekannt, die ihnen Veranlassung hätten geben müssen, zum Schutze Dritter besondere Aufsichtsmaßnahmen zu treffen. Auch ein Kontaktverbot mit den anderen Jugendlichen zur Vermeidung solcher Konfliktsituationen hielt der Senat für zu weitgehend, da die Eltern mit einer derartigen Reaktion zur Kompensation der Minderwertigkeitsgefühle nicht rechnen mussten.
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
Mutter mit einem Bündel von Aufsichtsmaßnahmen. Sie suchte bei der Familienfürsorge Rat, versuchte in Gesprächen mit ihrem Sohn die Motive für die Brandstiftungen zu ergründen, kontrollierte dessen Zimmer und Taschen auf Zündmittel, verhängte bis zum Ende der Schulferien einen Stubenarrest und verpflichtete ihn nach Wiederbeginn des Schulunterrichts, nach Unterrichtsende unverzüglich nach Hause zurückzukehren. Zwei Wochen später schwänzte der Sohn mit zwei Mitschülern eine Schulstunde. Letztere kauften Streichhölzer. Mit diesen steckte der Sohn einen Reitstall in Brand, wodurch das Reitpferd des Klägers verendete. Der Sohn wurde in die Jugendpsychiatrie eingewiesen. Der Senat verneinte im Gegensatz zur Vorinstanz eine Haftung der Mutter aus § 832 Abs. 1 BGB, da sie durch die Realisierung des Bündels von Aufsichtsmaßnahmen alle erforderlichen Maßnahmen ergriffen hatte, um Schädigungen Dritter durch ihren Sohn zu vermeiden. Sie war dabei nicht gehalten, die Einweisung ihres Sohnes in die Jugendpsychiatrie zu veranlassen. Vielmehr musste ihr als Sorgeberechtigte zugebilligt werden, durch andere Aufsichtsmaßnahmen die sehr einschneidende Maßnahme der Unterbringung ihres Kindes in der Psychiatrie zu vermeiden 367 . Das LG Arnsberg urteilte, eine aufsichtspflichtige Mutter ist für den Schaden, den ihr 13-jähriger geistig und körperlich behinderter Sohn auf einem Spaziergang anrichtet, nicht verantwortlich, wenn ihr von Seiten der Fachärzte aus therapeutischer Sicht solche unbeaufsichtigten Spaziergänge des Kindes empfohlen worden sind 368 .
5. Grillunfälle Den Fällen ist gemeinsam, dass der minderjährige Aufsichtsbedürftige beim Grillen Spritus verwendet und es dadurch zu einer Verpuffung bzw. Stichflamme kommt. In dem ersten Urteil zu dieser Frage hatte der 12-jährige Sohn der beklagten Witwe schon oft unter Aufsicht gegrillt und dabei die Holzkohle mit Brennspiritus in Brand gesetzt. Seine Mutter hatte ihm deshalb erlaubt, ohne ihre Aufsicht zu grillen. Am Unfalltag wollte er seine Mutter mit gegrillten Würsten überraschen. Nach einigen vergeblichen Versuchen, die Holzkohle mit Hilfe des Spiritus zum Glühen zu bringen, träufelte er erneut Spiritus auf die Holzkohle. Dabei entstand eine Stichflamme, durch die zwei um den Grill stehende Kinder Brandverletzungen erlitten. Der BGH verurteilte die Mutter aus § 832 Abs. 1 BGB. Nach Ansicht des Senats darf einem altersgerecht entwi-
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OLG Düsseldorf NJW-RR 1997, 343 f v. 11.10.1996. LG Arnsberg FamRZ 1995, 602 v. 05.08.1994. Der 13-Jährige war von Geburt an geistig und körperlich behindert und besuchte eine Schule für geistig behinderte Kinder. Die beklagte Mutter folgte dem Rat des Jugendpsychiaters und des Sonderschullehrers und gewährte ihrem Sohn stundenweise unbeaufsichtigten Ausgang. Dabei legte der Sohn ein Feuer am Gartenhaus des Klägers, welches dadurch vollständig zerstört wurde. 368
§ 3 Die Entwicklung der Aufsichtsanforderungen
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ekelten besonnenen 12-jährigen Jungen, der schon oft bei elterlicher Anleitung und Aufsicht unter Verwendung von Holzkohle und Brennspiritus gegrillt hat, das selbstständige Grillen ohne Aufsicht erlaubt werden. Dies gilt aber nur dann, - und darin bestand die gegenständliche Aufsichtspflichtverletzung wenn er eindringlich und ausführlich über die besonderen Gefahren explosionsartiger Verpuffungen belehrt ist, die sich ergeben, wenn Spiritus über glühende oder noch glimmende Holzkohle gegossen oder geträufelt wird, und er zu besonderer Vorsicht ermahnt ist. Die Belehrung muss dabei auch den Hinweis enthalten, wie schwer es zu beurteilen ist, ob nach einem oder mehreren Anzündeversuchen Holzkohle noch glimmt oder nicht 369 . In einem ähnlichen Sachverhalt stellte das LG Münster nahezu identische Anforderungen an die Aufsichtspflicht der beklagten Gruppenerzieherin in einem Kinderwohnheim 370 . Das OLG Nürnberg entlastete hingegen die beklagte Mutter mangels Vorhersehbarkeit der Spiritusverwendung durch ihre 15-jährige Tochter 371 .
369 BGH LM Nr. 11 zu § 832 BGB (= VersR 1976, 878 [879] = FamRZ 1976, 330 [331 f] = NJW 1976, 1684 v. 06.04.1976). In einer kritischen Anmerkung verweist die Red. d. FamRZ (FamRZ 1976, 332) darauf, dass der BGH seine Entscheidung zwar mit eitergünstigen Erwägungen einleitet („Nicht unbedingt das Fernhalten von jedem Gegenstand, der bei unsachgemäßen Umgang gefährlich werden kann, sondern gerade die Erziehung des Kindes zu verantwortungsbewusstem Hantieren mit einem solchen Gegenstand wird oft der bessere Weg sein, das Kind und Dritte vor Schäden zu bewahren."), durch das Erfordernis der umfassenden Anleitung und Ermahnung aber derart strenge Maßstäbe angelegt, die zu einer unerträglichen Haftung des „Kinderhalters" führen. 370 LG Münster Jugendwohl 1998, 91 (94 f) v. 24.02.1997. Die Beklagte hatte einen 16-jährigen Heimbewohner mit dem Anzünden des Grills beauftragt. Dieser hatte schon mindestens fiinf- bis sechsmal einen Grill mit Spiritus entzündet und wusste, dass er auf glühende Kohle keinen Spiritus gießen durfte. Nach dem Anzünden des Grills erloschen die Flammen wieder. Der 16-Jährige hatte den Eindruck, dass es nicht gar nicht mehr brannte und goss erneut Brennspiritus auf die Grillkohle. Es kam zu einer Verpuffung und Stichflamme, die einen neben dem Grill stehenden 8-jährigen Heimbewohner erfasste und entzündete. Dieser erlitt schwere Brandverletzungen. Die Kammer sah die Aufsichtspflichtverletzung der Beklagten in dem fehlenden Hinweis auf die besonderen Gefahren bei der Verwendung von Spiritus. Sie hätten den 16-Jährigen daraufhinweisen müssen, dass dieser nach dem Erlöschen der Flammen nicht erneut Spiritus auf die Holzkohle gießen durfte und sich, obwohl nicht sichtbar, noch glühende Kohlenstücke in der Holzkohle befinden konnten. Dahlgrün (S. 166 Fn. 1) lehnt das alleinige Anzünden des Grills mit Brennspiritus auch nach entsprechender Belehrung ab. Ein auf sich gestelltes 12-jähriges Kind habe nicht die Sachkunde und Erfahrung, um hier zuverlässig die Möglichkeit von Verpuffungen und Stichflammen auszuschließen. 371 OLG Nürnberg FamRZ 1992, 549 v. 19.03.1991. Ihr Ehemann, der von der Vorinstanz rechtskräftig verurteilt wurde, hatte auf seinem Betriebsgelände einen Tag der offenen Tür ausgerichtet. Die 15-jährige Tochter, die zuvor immer nur mit ungefährlichem Grillanzünder gegrillt hatte, grillte für die Besucher Bratwürste. Den Grill hatte der Vater mit Spiritus entzündet. Die Beklagte traf erst danach auf dem Gelände ein. Als die Tochter Spiritus auf den Grill nachgoss, bildete sich eine Stichflamme. Diese erfasste den Kläger, der schwere Verbrennungen davontrug. Der Senat sah es als erwiesen an, dass die Beklagte ihre Tochter immer wieder über die Gefahren der Verwendung von
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III. Kinder als Verkehrsteilnehmer /. Kinder als Fußgänger In dieser Kategorie wurden nur die Fälle erfasst, in denen sich das Kind als Fußgänger mit der Intention der Ortsveränderung im öffentlichen Verkehrsraum bewegte. Befand sich hingegen das Kind zum Spiel im öffentlichen Verkehrsraum, wurden diese Entscheidungen in die Kategorie „Alleinlassen von Kindern" eingeordnet.
a) Ohne Begleitperson In der bereits erörterten Entscheidung des BGH v. 10.10.1967 hielt es der Senat für erforderlich, dass Eltern ihrem 4-jährigen Sohn das Überschreiten einer 10 m breiten, vielbefahrenen Straße aufgrund seines Alters und der mit der Überquerung verbundenen besonderen Gefahren allgemein verbieten und die Einhaltung dieses Verbots überwachen 372. Im Fall des OLG Celle hatten die Großeltern ihre 4-jährige Enkelin wiederholt in ein 100 m entferntes Geschäft zum Einkaufen geschickt. Da sie das Kind dabei über die Straße begleiteten und ihm eingeschärft hatten, nicht allein die Fahrbahn zu betreten und bei der Rückkehr erst wieder mit ihnen zusammen die Straße zu überqueren, verneinte das OLG eine Aufsichtspflichtverletzung. Der Senat hielt es nicht für erforderlich, das Kind auf dem Gang zu dem nahegelegenen Geschäft zu begleiten. Eine solche Überwachung wäre einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung des Kindes hinderlich und für den Aufsicht Führenden untragbar 373. Bevor Eltern
Spiritus beim Grillen belehrt hatte. Da sie nicht in die Vorbereitungen des Festes miteinbezogen war, konnte sie davon ausgehen, dass ihre Tochter wie in der Vergangenheit ungefährlichen Grillanzünder benutzte. Die plötzliche Verwendung von Spiritus war deshalb für sie nicht vorhersehbar. Aufgrund dessen musste sie ihre Tochter am Unfalltag nicht nochmals auf die Gefahren bei der Verwendung von Spiritus hinweisen. 372 BGH LM Nr. 8b zu § 832 BGB (= VersR 1967, 1186 [1187]) v. 10.10.1967 (vgl. 1. Teil § 1 III 1 ebb). 373 OLG Celle VersR 1969, 333 (334) v. 08.04.1968. Die 4-Jährige lief hinter einem am Straßenrand haltenden Lkw auf die Fahrbahn und kollidierte mit dem Kläger, welcher die Straße mit seinem mit einem Hilfsmotor ausgestatteten Fahrrad befuhr. Die Großeltern, die die Aufsicht i. S. d. § 832 Abs. 2 BGB übernommen hatten, wussten nicht, dass ihre Enkelin schon einmal vor ein Kfz gelaufen war. Dahlgrün (S. 136 f) hält das Urteil für fehlerhaft. Nach ihrer Auffassung hätten sich die Großeltern zur Erfüllung ihrer Aufsichtspflicht zumindest in Ruf- und Sichtweite aufhalten müssen. Nach dem Standpunkt des AG Stuttgart (VersR 1955, 685 [686] v. 28.06.1955) befindet sich ein 5l/2-jähriger Junge in einem Alter, in dem Kinder allein auf kleinere, nicht besonders gefährliche Wege geschickt werden und auch in der Großstadt allein in den Kindergarten gehen können, soweit sie keine gefährlichen Verkehrsstraßen überschreiten müssen. Er konnte deshalb nach Belehrung über die wichtigsten Verkehrsvor-
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ihre 4,/ 2-jährige Tochter in der Dämmerung allein über einen parallel zu einer Landstraße verlaufenden Wiesenweg nach Hause schicken dürfen, müssen sie nach Auffassung des OLG München ihre Tochter eindringlichst belehren, nicht vom Weg abzugehen, eine entsprechende Nachschau des Vaters androhen und sie den selbstständigen Heimweg mehrmals am hellen Tage absolvieren lassen374- 3 7 5 . Mit dem Erreichen des Schulalters müssen die Kinder lernen, sich selbstständig als Fußgänger im Straßenverkehr zu bewegen376. Die damit verbundene Gefahr, dass sie trotz aller Belehrungen und Ermahnungen immer wieder einmal die Verkehrsregeln nicht beachten und durch kindertypisches Fehlverhalten möglicherweise Unfälle heraufbeschwören, muss nach Ansicht des OLG Celle 377 und des LG Berlin 378 von der Allgemeinheit, deren wertvollstes Gut die Jugend ist, in Kauf genommen werden und ist nicht durch überspitzte Anforderungen an die Aufsichtspflicht der Eltern auszuräumen 379. Darauf verweist auch
Schriften und mehrmaliger Kontrolle allein in eine 300 m entfernte Bäckerei geschickt werden. 374 OLG München VersR 1962, 747 (748) v. 30.11.1961. Die 4,/2-Jährige befand sich abends mit ihrem Vater am Rohbau des künftigen Wohnhauses. Dieser lag, über einen Wiesenweg erreichbar, außerhalb des Dorfes. Unbemerkt von ihrem Vater machte sie sich bei beginnender Dämmerung auf den 450 m langen Heimweg ins Dorf. Dabei kam sie vom Wiesenweg ab und geriet auf die in 35 m Entfernung verlaufende Landstraße. Ein Autofahrer versuchte ihr auszuweichen, geriet auf die Gegenfahrbahn und stieß dort mit dem Kläger auf seinem Motorrad zusammen. Alle Unfallbeteiligten wurden verletzt. Das OLG sah die Aufsichtspflichtverletzung des Vaters darin, dass sich seine bereits quengelnde Tochter unbemerkt von der Baustelle entfernen konnte. Zusätzlich stellte der Senat die oben genannten Anforderungen an einen selbstständigen Heimweg auf, welche nach Auffassung von Dahlgrün (S. 138 f) zu gering sind. 375 Nach Meinung von Albilt (S. 110) ist es nicht vertretbar, dass die Rechtsprechung generell schon 4- bis 5-jährige Kinder für befähigt hält, relativ kurze Wegstrecken allein zu gehen. 376 In einer frühen Entscheidung urteilte das LG Heilbronn (VersR 1955, 414 [415] v. 26.04.1955), üblicherweise sei ein 6-jähriges Kind durchaus in der Lage, sich bei normalem Straßenverkehr auf der Straße zu bewegen. Denn von Kindern in diesem Alter werde verlangt zur Schule zu gehen, wobei sie sich ebenfalls als Verkehrsteilnehmer auf der Straße bewegen müssen. 377 OLG Celle VersR 1976, 448 (450) v. 07.04.1975; 1979, 476 v. 12.01.1978. 378 LG Berlin VersR 1967, 237 (238) v. 29.04.1966. 379 So darf nach Ansicht des OLG Celle (VersR 1979, 476 v. 12.01.1978) eine 53/iJährige nach entsprechenden Belehrungen und Ermahnungen sowie wiederholter Überwachung allein eine Landesstraße überqueren. Nach Auffassung des OLG Oldenburg (VersR 1969, 371 L v. 10.01.1969) kann in der Tatsache, dass ein 5-jähriges Kind sich gelegentlich unbeaufsichtigt auf der Straße bewegt hat, keine Verletzung der Aufsichtspflicht der Eltern gesehen werden. In einem vom LG Fulda (VersR 1954, 69 v. 16.08.1953) entschiedenen Fall hatte eine knapp 7-Jährige vor einem Lieferwagen leichtsinnig die Straße überquert. Die Kammer sah keinen Anhaltspunkt für eine Verletzung der Aufsichtspflicht von Seiten ihrer Eltern.
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das LG Hildesheim und kritisiert dabei, dass dem Straßenverkehr gegenüber der gedeihlichen Entwicklung des Kindes absoluter Vorrang eingeräumt wird 3 8 0 . Haben Eltern ihr 6-jähriges Kind nach der Einschulung über einen Zeitraum von 8 Wochen auf dem Schulweg begleitet, dabei ausdrücklich auf die bestehenden Gefahren hingewiesen und haben sich keine Auffälligkeiten im Verkehrsverhalten des Kindes gezeigt, dürfen sie nach einem Urteil des AG Gummersbach v. 14.11.1985 darauf vertrauen, dass die erzieherische Wirkung der wiederholten persönlichen Begleitung und Ermahnung eine längere Zeit andauert. Typisch kindgemäßes Fehlverhalten lässt sich durch Ermahnungen und zumutbare Beaufsichtigungen nie ganz verhindern. Zudem sind nach Ansicht des Gerichts Schulkinder heute aufgrund der zunehmenden Motorisierung gegenüber den Gefahren des Straßenverkehrs weitaus sensibler als dies früher der Fall war 381 . Das LG Berlin hielt in dem vorgenannten Urteil neben entsprechenden Belehrungen eine stichprobenweise Überprüfung dahingehend für ausreichend, ob sich das 7-jährige Kind auf seinem Schulweg verkehrsgerecht verhält. Eine Haftung der Eltern nach § 832 Abs. 1 BGB scheidet deshalb aus, wenn sich das verkehrssichere Kind beim ordnungsgemäßen Überqueren der Straße bezüglich Entfernung und Geschwindigkeit eines herannahenden Fahrzeuges verschätzt. Gefahren, die natürlicherweise von einem Schulkind ausgehen, müssen durch ein entsprechend vorsichtiges und verantwortungsbewusstes Verhalten jedes einzelnen Verkehrsteilnehmers ausgeschaltet werden 382 . Ebenso verneinte das AG Heilbronn eine Aufsichtspflichtverletzung der Eltern, da sie ihre 7-jährige Tochter mit dem Schulweg vertraut gemacht und auf diesem kontrolliert hatten 383 . Kreuzt der Schulweg von 6- bis 7-jährigen Kindern eine Bundesstraße, bedürfen diese keiner ständigen Beaufsichtigung, wenn sie über die besonderen Gefahren entsprechend belehrt und des Öfteren begleitet wurden. Die Erziehung zur Selbstständigkeit gebietet es, Kinder dieses Alters zeitweise aus der Aufsicht der Eltern zu entlassen384. So verneinte das OLG Oldenburg eine Haftung der Mutter aus § 832 BGB. Sie hatte ihren 6M-jahrigen Sohn jeden Morgen - zumindest einen Monat lang - über die Bundesstraße begleitet und ihn dabei ermahnt, beim Überqueren der Fahrbahn nach links und rechts zu 380
LG Hildesheim r+s 1985, 174 v. 14.03.1985. AG Gummersbach MDR 1986, 237 v. 14.11.1985. Als sich die 6-Jährige auf dem Weg von der Schule nach Haus befand, lief sie plötzlich vom Bürgersteig auf die Fahrbahn und vor den Wagen des Klägers, der dabei beschädigt wurde. 382 LG Berlin VersR 1967, 237 f v. 29.04.1966. Nach etwa zwei bis drei Schritten auf der Fahrbahn wurde die knapp 7-Jährige von ihrer Freundin auf den Bürgersteig zurückgerissen. Um einen Zusammenprall zu vermeiden, hatte der Fahrer des herannahenden Lkws ein Ausweichmanöver eingeleitet, bei dem der Lkw umstürzte und beschädigt wurde. 383 AG Heilbronn r+s 1987, 226 v. 12.03.1985. 384 OLG Oldenburg VersR 1972, 54 (55) v. 03.04.1970; OLG Celle VersR 1976,448 (449 f) v. 07.04.1975; LG Aachen r+s 1987, 225 (226) v. 10.10.1986. 381
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schauen und auf den Verkehr zu achten. Im Interesse der Erziehung des Kindes zur Selbstständigkeit durfte es deshalb beim Heimweg die Bundesstraße allein überqueren 385. Wenn ein altersgemäß entwickeltes 7-jähriges Kind hinreichend über das Verhalten im Straßenverkehr belehrt wurde, stichprobenartig kontrolliert wurde und es seinen Schulweg neun Monate lang unfallfrei benutzt hat, dann können die Eltern nach Auffassung des BGH darauf vertrauen, dass ihr Kind die Verkehrsgefahren dieses Weges einschließlich der Überquerung einer Bundesstraße meistert 386 . Ebenso entschied das OLG Celle. Dort hatten die Eltern ihren 71/4-jährigen Sohn im ersten halben Jahr seines Schulbesuches täglich über die Bundesstraße gebracht bzw. dabei kontrolliert und ihn entsprechend über das Verhalten beim Überqueren der Straße belehrt. Die Straßenüberquerung gehörte daher zu den gewohnten täglichen Handlungen des Sohnes. Den Eltern war deshalb nicht zuzumuten, ihn weiterhin ständig zu begleiten oder zu beaufsichtigen 387. Legt ein 8-Jähriger schon seit zwei Jahren bei jedem Wetter seinen Schulweg über verkehrsreiche Großstadtstraßen selbstständig zurück, stellt es deshalb keine Verletzung der Aufsichtspflicht dar, wenn sein Vater ihn bei regnerischem Wetter zu einer Besorgung auf die gegenüberliegende Straßenseite schickt 388 . Schickt dagegen ein Vater mit derselben Intention sein verkehrsungewandtes 6-jähriges Kind über eine Bundesstraße, verletzt er seine Aufsichtspflicht 389 . Eltern eines 13-jährigen normal entwickelten Großstadtkindes, wel385 OLG Oldenburg VersR 1972, 54 (55) v. 03.04.1970. Der 6!/2-Jährige sprang auf dem Heimweg, mit seinem Fahrrad an der Hand, plötzlich auf die Bundesstraße, um sie zu überqueren. Bei einem Ausweichmanöver kippte der Pkw-Anhänger des Klägers um. Das LG Osnabrück (VersR 1975, 1135 [1136] v. 22.05.1974) entschied einen Fall, in dem der Sozialversicherungsträger bei den beklagten Eltern für die Heilbehandlung ihres Sohnes Rückgriff nahm. § 832 BGB war daher nicht einschlägig. Die Eltern ließen ihren 4-jährigen Sohn zum wiederholten Male durch seinen 9-jährigen Bruder vom Kindergarten abholen. Der 4-Jährige lief trotz „Rot" der Fußgängerampel über eine Bundesstraße und wurde von einem Lkw erfasst. Die Kammer nahm in der Anspruchsprüfung aus §§ 1631, 1664 BGB eine Aufsichtspflichtverletzung der Eltern an, weil sie sich nur mit Belehrungen zur Überquerung der Bundesstraße begnügt hatten. Sie hätten weiterhin zumindest stichprobenartig das Verhalten der Kinder an der Ampel überprüfen müssen. 386 BGH VersR 1962, 360 v. 30.01.1962. Der Junge stieß beim Überqueren einer Bundesstraße mit einem Lastzug zusammen. Nach Abgabe eines Warnsignals nahm der Fahrer des Lastzuges an, der Junge werde ihn passieren lassen. Dieser lief jedoch weiter und wurde vom ausweichenden Lastzug erfasst. 387 OLG Celle VersR 1976, 448 (449 f) v. 07.04.1975. Um das elterliche Grundstück zu verlassen, musste der TA-Jährige immer diese Bundesstraße überqueren. 388 OLG Düsseldorf MDR 1970, 326 v. 11.12.1969. 389 LG München II VersR 1971, 1158 v. 02.12.1970. Das Kind ging zwar seit neun Monaten zur Schule, wurde aber von seiner Mutter dorthin oder jedenfalls über die Bundesstraße gebracht und so auch wieder abgeholt. Es betrat unter Missachtung der Vorfahrt die Straße und wurde von einem Pkw erfasst.
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ches sich bisher an die Verkehrsregeln gehalten hat, brauchen diesem weder das Überschreiten einer Hauptstraße ohne Begleitung zu untersagen, noch müssen sie es dabei in geeigneter Weise beaufsichtigen. Sie genügen vielmehr nach Ansicht des BGH ihrer Aufsichtspflicht, wenn sie ihr Kind immer wieder auf die Gefahren des Straßenverkehrs hingewiesen und über die Verkehrsregeln belehrt haben 390 . Auch bei einem 9-jährigen Sonderschüler ist ohne konkreten Anlass keine Beaufsichtigung auf dem Schulweg notwendig 391 . Ein 17-jähriger geistig Behinderter darf den Weg zur Sonderschule allein zurücklegen, nachdem sich über längere Zeit hinweg kein Anlass zu größerer Vorsicht ergeben hat 392 .
b) Mit Begleitperson aa) Auf der Straße Bewegen sich die Eltern mit ihrem Kind auf öffentlichen Straßen, müssen sie eine Eingriffsmöglichkeit haben, um Schädigungen Dritter zu vermeiden. In einer der ersten Entscheidungen in der Schadenskategorie Verkehr vertrat das OLG München in seinem Urteil v. 22.01.1940 die Auffassung, Eltern müssen mit einem unüberlegten Handeln ihres 4-jährigen Kindes rechnen, wenn sie sich mit ihm auf einer verkehrsreichen Straße bewegen. Deshalb müssen sie es 390 BGH VersR 1960, 495 (497) v. 24.11.1959. Die 13-Jährige war zum Überqueren der Straße auf die Fahrbahn getreten, ohne auf den mit seinem Kraftrad herannahenden Kläger zu achten. Der Kläger fuhr sie an, stürzte und verletzte sich. Der Senat verneinte einen Anspruch aus § 832 BGB. Das OLG Stuttgart (r+s 1986, 283 [284] v. 26.09.1985) entschied: Bei fast 16jährigen Gymnasiasten ist davon auszugehen, dass sie sich auch unter erschwerten Umständen im Straßenverkehr zurechtfinden. Der Gesetzgeber ermöglicht Jugendlichen ab 15 Jahren sogar die motorisierte Teilnahme am Straßenverkehr, so dass von ihnen eine selbstverantwortliche Handlungsweise erwartet werden kann. § 832 BGB kam nicht als Anspruchsgrundlage in Betracht, weil der 153/4-Jährige im Rahmen eines Zeltlagers beim Laufen auf der Straße selbst verletzt wurde. 391 OLG Köln VersR 1970, 1163 v. 22.09.1970. Ein solcher Anlass besteht nicht darin, dass der Junge mehrmals verspätet nach Hause gekommen ist. Denn die Eltern können nicht in jedem Einzelfall in Erfahrung bringen, wann die Schule beendet ist. Dies scheitert an den Unregelmäßigkeiten des Unterrichtendes. Der 9-Jährige war auf dem Heimweg von der Schule mit einem Freund dreimal auf das Gelände eines Gebrauchtwagenhändlers eingedrungen. Sie beschädigten jedes Mal Autos und brachen einmal in eine Baracke ein. Der Senat verneinte eine Haftung der Eltern. 392 OLG Stuttgart Die Justiz 1986, 46 (47) v. 18.07.1985. Auf dem Heimweg von der Sonderschule verletzte der 17-Jährige ohne erkennbaren Anlass mit einem gezielten Fingerstoß das Auge der 10-jährigen Klägerin. Der Senat verneinte eine Haftung der Eltern aus § 832 BGB. Ihr Sohn hatte diesen Schulweg bereits sieben Jahre lang ohne vergleichbare Vorfälle zurückgelegt. Auch von der Schule lagen keine Warnungen oder Beanstandungen vor, so dass die Eltern ihren Sohn ohne Aufsicht gehen lassen konnten.
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sorgsam überwachen und verhindern, dass es in die Fahrbahn hineinlaufen kann 393 . Ebenso entschied das LG Münster mit Urteil v. 19.06.1991. Die beklagte Mutter ging mit ihrer 5-jährigen Tochter außerhalb einer geschlossenen Ortschaft am rechten Fahrbahnrand einer Straße. Sie führte das links von ihr gehende Kind nicht an der Hand. Beide hatten Blumen gepflückt und zu diesem Zweck die Fahrbahn zwei- bis dreimal überquert. Als sich von hinten der Kläger mit seinem Pkw näherte, lief das Kind auf die Fahrbahn und wurde erfasst. Das LG bejahte eine Haftung der Mutter aus § 832 Abs. 1 BGB zu einer Quote von 50%. Nach Ansicht der Kammer drängte sich ein erneutes auf die Fahrbahn Laufen der Tochter auf, wenn sie auf der anderen Straßenseite Blumen sähe. Um ihrer Aufsichtspflicht zu genügen, hätte sie ihre Tochter deshalb so unter ihre Obhut nehmen müssen, dass sie nicht auf die Fahrbahn laufen konnte. Dies hätte dadurch geschehen können, dass sie ihre Tochter an die Hand nahm oder sie an der Fahrbahn abgewandten Seite gehen ließ. Im letzteren Fall hätte sie so noch rechtzeitig zugreifen können, falls sich die Tochter zum Betreten der Fahrbahn anschickte394. Anders ist jedoch das Aufsichtsmaß zu bestimmen, wenn Eltern mit ihrem Kind einen für Fußgänger und Radfahrer vorbehaltenen Sonderweg benutzen. Nach Ansicht des KG muss dort eine Mutter ihre 31/2-jährige Tochter nicht an die Hand nehmen. Sie genügt vielmehr ihrer Aufsichtspflicht, wenn sie ihr Kind vor sich hergehen lässt und es im Auge behält. Sie braucht ihm auch einen Ball, den es ruhig im Arm hält, nicht wegzunehmen395.
393 OLG München HRR 1940 Nr. 1021 v. 22.01.1940. Die beklagten Eltern befuhren mit einer Sämaschine eine Reichsstraße. Das 4-jährige Kind ging neben dem linken Zugtier in der Nähe der Straßenmitte, mithin auf dem gefährlichsten Teil der Fahrbahn. Während der Kläger mit seinem Auto zum Überholen ansetzte, lief das Kind plötzlich nach links zum anderen Straßenrand. Der Kläger riss das Auto noch jiach links, streifte das Kind und prallte schließlich gegen einen Baum. Das OLG sah die Aufsichtspflichtverletzung darin, dass die Eltern ihr Kind an der gefährlichsten Stelle der Fahrbahn laufen ließen, ohne dabei eine Vorsorge dahingehend getroffen zu haben, es mit ausreichender Sicherheit an einem Hineinlaufen in die Fahrbahn zu hindern. 394 LG Münster NZV 1991, 396 v. 19.06.1991. Das LG stellte auch fest, dass Kinder im Alter bis zu etwa sechs Jahren, die noch nicht oder gerade erst die Schule besuchen, den Gefahren des Straßenverkehrs im Allgemeinen noch nicht gewachsen sind. 395 KG VersR 1977, 770 v. 16.12.1976. Die Klägerin befuhr mit ihrem Fahrrad eine nur für Fußgänger und Radfahrer freigegebene Uferpromenade. Als sie eine Fußgängergruppe, in der sich die Mutter mit ihrer Tochter befand, überholen wollte, rollte ein von der Tochter fallengelassener Ball über den Weg. Die Klägerin geriet mit dem Vorderrad gegen den Ball und stürzte. Der Senat verwies weiterhin darauf, dass das Niederfallen des Balles nicht dadurch verhindert worden wäre, wenn die Mutter ihrer Tochter an der Hand geführt hätte.
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bb) Auf dem Bürgersteig Nach Auffassung des OLG Düsseldorf müssen Eltern bei einem 2 , / 2 -jährigen Kind stets damit rechnen, dass es unvermittelt und ohne Grund auf die Straße läuft. Deshalb muss ein Kind in diesem Alter noch an der Hand gehalten werden oder die Eltern müssen in der Lage sein, jederzeit in das Verhalten des Kindes korrigierend einzugreifen 396. Dabei darf das 2- bis 3-jährige Kind nach Ansicht des LG Limburg aber nicht zu fest angefasst werden, da dessen empfindlicher Körperbau das noch nicht verträgt und es dies im Übrigen zum Anlass nehmen könnte, sich aus der unangenehmen Umklammerung zu befreien 397 . Im Fall des OLG Karlsruhe wollte eine Mutter mit ihren 3- und 7jährigen Kindern einen gefährlichen Fußgängerweg über eine Straße mit zwei Fahrbahnen und dazwischenliegendem Straßenbahngleiskörper passieren. Der Senat sah die Aufsichtspflicht verletzt, weil die Mutter ihre Kinder den Fußgängerüberweg überqueren ließ, ohne der besonders gefahrträchtigen Verkehrssituation durch ein unmittelbares Begleiten mit sofortiger Einwirkungsmöglichkeit Rechnung zu tragen 398 . Auch das AG Berlin-Charlottenburg nahm eine Aufsichtspflichtverletzung an, als eine Mutter ihr 4-jähriges Kind, mit dem sie die Fahrbahn einer verkehrsreichen Straße überqueren wollte, so weit vorlaufen ließ, dass sie beim plötzlichen Hineinlaufen des Kindes in die Fahrbahn keine Eingriffsmöglichkeit mehr hatte 399 . Das OLG Celle vertrat den Standpunkt, dass 5-jährige Kinder nach der Lebenserfahrung dazu neigen, plötzlich die Straße zu überqueren, wenn sie auf der ihnen gegenüberliegenden Straßenseite ihren von der Arbeit kommenden Vater erblicken. Mit einem solchen Verhalten ihres 5!/2-jährigen Kindes muss die es begleitende Mutter rechnen und deshalb das Kind fest an die Hand nehmen. Auch wenn es grundsätzlich
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OLG Düsseldorf VersR 1992, 1233 v. 15.11.1991 (vgl. 1. Teil § 1 III c aa). LG Limburg VersR 1983, 95 v. 03.03.1982. Kein Fall des § 832 BGB, da die Beklagte die Aufsicht nur im Rahmen eines Gefälligkeitsverhältnisses übernommen hatte (vgl. 1. Teil § 1 II 2 b bb (3)). 398 OLG Karlsruhe VersR 1978, 575 v. 07.12.1977. Der Senat prüfte die Aufsichtspflichtverletzung im Rahmen des Mitverschuldensanteils der auf Schadensersatz klagenden Mutter. Die Mutter war am Fahrbahnrand wegen einer roten Ampel zurückgeblieben. Die Kinder hatten mit ihren Fahrrädern die erste Fahrbahn überschritten und liefen über die Straßenbahngleise. Dort wurde der 7-Jährige von einer Straßenbahn erfasst. 399 AG Berlin-Charlottenburg VersR 1977, 779 L v. 21.12.1976. So hält es das OLG Schleswig (r+s 1995, 11 [12] v. 22.06.1994) von Kindergärtnerinnen für fehlerhaft, ihre Kindergartenkinder erst bei Erreichen der Fahrbahn zu veranlassen, sich zu sammeln, zu ordnen und an die Hand zu nehmen. Denn es besteht die Gefahr, dass sich eines oder mehrere Kinder aus der noch nicht geordneten Gruppe lösen und über die Fahrbahn laufen könnten. Es handelte sich aber um keinen Fall des § 832 BGB. Das OLG prüfte die Aufsichtspflichtverletzung im Rahmen eines gestörten Gesamtschuldverhältnisses. 397
§ 3 Die Entwicklung der Aufsichtsanforderungen
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zulässig ist, ein 5-jähriges Kind nach entsprechender Belehrung über das Verhalten im Straßenverkehr und gelegentlicher Überwachung allein auf dem Bürgersteig einer verkehrsreichen Straße spielen zu lassen, sind aufgrund der konkreten Gefahrensituation die vorgenannten Anforderungen an die Aufsichtspflicht der Mutter zu stellen 400 . Auch in einem vom AG Freiburg/Br. entschiedenen Fall hatte die 4-jährige Tochter ihren Vater auf der gegenüberliegenden Straßenseite erblickt und war auf die Fahrbahn gelaufen. Dort wurde sie vom Pkw des Klägers erfasst und verstarb an den Unfallfolgen. Das AG verneinte eine Aufsichtspflichtverletzung der Mutter, da diese während eines Einkaufs am Kiosk ihren Ehemann auf der anderen Straßenseite nicht bemerkt hatte. Weil sich ihre 4-jährige Tochter bisher im Straßenverkehr verständig verhalten hatte, musste die Mutter deshalb nicht mit deren unbedachtem Verhalten rechnen. Weiterhin wies das AG noch daraufhin, dass Eltern nicht ständig mit Spontanreaktionen ihres 4-jährigen Kindes rechnen müssen 4 0 1 , 4 0 2 . Ähnlich lag der Fall in einer Entscheidung des OLG Jena v. 21.10.1997. Dabei handelt es sich um das erste veröffentlichte Urteil eines Gerichts aus den neuen Bundesländern zu § 832 BGB, welchem insgesamt nur zwei weitere folgten 403 . Der beklagte Vater stand mit seiner 7-jährigen Tochter am Straßenrand. Die Bitte sei-
400
OLG Celle FamRZ 1966, 107 v. 02.12.1965. In diesem Zusammenhang sei auf ein Urteil des OLG Hamm v. 22.04.1997 (MDR 1997, 740) verwiesen. Dort erblickte die Beklagte zufällig den Kläger, ein ihr bekanntes 4-jähriges Kind, auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig einer Großstadtstraße. Sie rief ihm zu, bei ihr sei schon der Osterhase gewesen. Das Kind sprang daraufhin von seinem Dreirad, löste sich aus der von drei Betreuerinnen begleiteten Kindergartengruppe und lief über die Straße. Dabei wurde es von einem Pkw erfasst. § 832 BGB war nicht einschlägig. Das OLG Hamm verurteilte die Beklagte zu Schadensersatz und Schmerzensgeld, weil sie das Unfallgeschehen (leicht) fahrlässig verursacht hatte. Sie musste damit rechnen, dass der Kläger auf ihren Zuruf vom Dreirad springen und versuchen würde, über die Straße zu ihr zu laufen. 401 AG Freiburg/Br. VersR 1970, 751 fv. 10.09.1969. 402 In diesem Zusammenhang sei auf einen Fall des AG Stuttgart (VersR 1971, 139 v. 06.11.1969) verwiesen. Der normal veranlagte 5-jährige Junge hatte in einer Gastwirtschaft - der Arbeitsstelle seiner Mutter - ihr gegenüber den Wunsch geäußert, eine belebte Straße zu überqueren um einen Freund auf der anderen Straßenseite zu besuchen. Seine Mutter wies ihn daraufhin an, auf seinen Vater, der ihn dann über die Straße begleiten werde, im Gastraum zu warten. Nach seinem Eintreffen in der Gastwirtschaft wollte der Vater die Sachen seines Jungen zusammensuchen und wies diesen an, noch zu warten. Währenddessen lief der Junge über die Straße und wurde bei starkem Berufsverkehr von einem Auto angefahren. Das AG verneinte eine Aufsichtspflichtverletzung der Eltern. Sie konnten sich darauf verlassen, dass ihr Junge den Gastraum nicht entgegen ihrer Anweisung verlassen werde. Zudem sei eine Aufsicht dahingehend, ihn ständig an der Hand zu halten oder keine Sekunde aus den Augen zu lassen, unzumutbar gewesen. 403 Dabei handelt es sich um ein weiteres Urteil des OLG Jena (OLGR-NL 2002, 381 v. 29.11.2000) und um ein Urteil des LG Potsdam (NJW-RR 2002, 1543 v. 12.08.2002).
1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
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ner Tochter, der Mutter über die Straße nachzulaufen, lehnte der Beklagte mit dem Hinweis ab, dass ein Überqueren der Straße zur Zeit nicht möglich sei. Trotzdem lief die 7-Jährige unvermittelt auf die Straße. Der Kläger erfasste trotz Vollbremsung das Kind mit seinem Pkw und fuhr gegen einen Baum. Das OLG verneinte eine Haftung der Eltern aus § 832 Abs. 1 BGB. Die Tochter hatte vom Kindergartenalter an eine ausreichende Verkehrserziehung genossen, bei der sie belehrt worden war, wie sie sich beim Überqueren der Straße zu verhalten habe und welche Gefahren der Straßenverkehr mit sich bringe. Darüber hinaus hatten die Eltern ein drei viertel Jahr vor der Einschulung ihrer Tochter systematisch damit begonnen, mit ihr den Schulweg einzuüben. Dabei hatte sie sich stets umsichtig und ohne im Straßenverkehr negativ aufzufallen verhalten. Deshalb durfte der Vater darauf vertrauen, dass seine Tochter seiner plausiblen Erklärung Folge leisten würde. Mangels anderer Anhaltspunkte musste der Vater nicht damit rechnen, dass seine Tochter vollkommen unbesonnen auf die Straße laufen werde. Sie wie ein Kleinkind an die Hand zu nehmen, wäre erst dann angezeigt gewesen, wenn für ihn erkennbar gewesen wäre, dass sie derart unüberlegt reagieren würde 404 . Aufgrund eines fehlenden Anreizes auf der anderen Straßenseite, welcher das 6!/2-jährige Kind hätte veranlassen können, von sich aus über die Straße zu laufen, verneinte das OLG Hamm die Haftung eines Vaters aus § 832 Abs. 1 BGB. Dieser hatte mit seinem ö^-jährigen Sohn und seiner übrigen Familie außerhalb einer geschlossenen Ortschaft neben einer 8 m breiten Bundesstraße gestanden, um diese im geeigneten Augenblick überqueren zu können. Ohne ersichtlichen Anlass lief der Junge über die Straße. Um einen Zusammenprall zu vermeiden, leitete der Kläger mit seinem Wagen eine Vollbremsung ein, geriet ins Schleudern und stürzte um. Die Eltern hatten ihrer Aufsichtspflicht genügt, in dem sie sich um die Verkehrserziehung ihres Sohnes nachhaltig gekümmert und ein sorgfältiges Verhalten vor der Straßenüberquerung festgestellt hatten. Weitergehende Aufsichtsmaßnahmen lehnte der Senat aus folgenden Gründen ab: Es kann dahingestellt bleiben, ob der Vater seiner Aufsichtspflicht nur genügte, wenn er seinen Sohn an die Hand nahm. Er musste seinen öV^-jährigen Sohn nicht so fest an der Hand halten, dass sich dieser nicht losreißen konnte. Denn die Aufsichtspflicht findet dort ihre Grenzen, wo Kind und Eltern aus erzieherischen Gründen und wegen der physischen Belastbarkeit überfordert sind. Zudem braucht ein 6!/2-jähriges Kind Vertrauen und darf nicht das Gefühl haben, seine Eltern könnten glauben, dass es nur durch ständigen Zwang zum Gehorsam angehalten werden könne 405 . Das OLG Schleswig urteilte, ein knapp 9-Jähriger müsse vor dem Überschreiten einer Straße nicht an die Hand genommen werden. Es genügt, wenn der Aufsichtspflichtige den Verkehr beobachtet und
404 405
OLG Jena OLG-NL 1998, 101 fv. 21.10.1997. OLG Hamm VersR 1976, 392 f v. 18.04.1975.
§ 3 Die Entwicklung der Aufsichtsanforderungen
1
durch Zeichen oder Worte anzeigt, dass die Straße überschritten werden kann 406 . Auch muss eine Mutter bei einer Gebirgswanderung ihren 12-jährigen Sohn nicht daran hindern, den asphaltierten Weg zu verlassen und sich wenige Schritte auf abschüssiges Gelände zu begeben407. Die Eltern können ihrer Aufsichtspflicht auch dadurch genügen, dass sie ihre Kinder durch ältere Kinder bei der Teilnahme am Straßenverkehr begleiten lassen. So verneinte das LG Oldenburg eine Haftung der Eltern aus § 832 Abs. 1 BGB, die ihre 3- und 4-jährigen Kinder in Begleitung einer verkehrserfahrenen und umsichtigen 9-jährigen Schülerin auf verkehrsarmen Gemeindewegen spazieren gehen ließen 408 . Ebenso verneinte das OLG Stuttgart eine Aufsichtspflichtverletzung für den Fall, dass Eltern ihren 672-jährigen Sohn in Begleitung seines 13-jährigen Bruders einen Spielplatz aufsuchen ließen, wobei die Kinder eine Hauptverkehrsstraße überqueren mussten. Denn bei entsprechender Ermahnung ist ein ö'/S-jähriges Kind nicht nur in der Lage, sich in begrenztem Umfang selbstständig im Straßenverkehr zu bewegen, sondern es ist sogar pädagogisch vernünftig, das von den Kindern zu erwarten 409.
2. Die Benutzung kindertypischer
Fortbewegungsmittel
Kindertypische Fortbewegungsmittel sind Roller, Dreiräder und Rollschuhe. Ein Vater darf seinem 4-jährigen Jungen einen ballonbereiften Roller überlassen. Er muss ihm jedoch verbieten, mit diesem auf den Fahrbahnen der Straße zu fahren. Da rollerfahrende Kinder eine Gefahr in den Verkehr tragen, muss er seinen Sohn auch über die Gefahren, die das Rollerfahren mit sich bringt, belehren und ernstlich zu Vorsicht und Rücksichtnahme ermahnen. Ergeben sich aus den örtlichen Verhältnissen besondere Gefahren - der zum Rollerfahren benutzte Weg war von Hecken verdeckt und führte direkt auf die Fahrbahn - , so ist das Kind auf diese besondere Gefahr hinzuweisen und seine Fahrweise an
406
OLG Schleswig VersR 1980, 242 (243) v. 18.07.1979. Kein Fall des § 832 BGB, weil die Beklagte die Aufsicht nur im Rahmen eines Gefälligkeitsverhältnisses übernommen hatte (vgl. 1. Teil § 2 II 2 b bb (3)). 407 LG Münster VersR 1978, 69 (70) v. 16.11.1976. Dabei löste sich ein Stein von der Größe eines Wassereimers, rollte den Hang hinab und verletzte auf einem 250 m tiefer gelegenen Feldweg die Klägerin am Bein. Die Kammer verneinte eine Haftung aus § 832 BGB. Ein 12-Jähriger muss danach bei einem Spaziergang „nicht an der Leine geführt werden". 408 LG Oldenburg VersR 1966, 1064 v. 12.11.1965. 409 OLG Stuttgart r+s 1984, 256 (258) v. 20.09.1983. Es erfolgte keine Prüfung des § 832 BGB. Der Senat prüfte die Aufsichtspflichtverletzung im Rahmen des Mitverschuldens der Eltern.
1
1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
dieser Stelle zu überprüfen und zu überwachen 410. Haben die Eltern die vorgenannten Belehrungen vorgenommen und die Befolgung ihrer Anordnung heimlich überwacht, brauchen sie ohne besonderen Anlass nicht die spielerische Betätigung ihres 7-jährigen Sohnes mit Fahrrädern und Rollern unterbinden 411. Aufgrund der Gefahr, die von Kindern auf luftbereiften Rollern ausgeht, reichen unter Umständen zu abstrakte Belehrungen und nur punktuelle Beobachtungen des Kindes zur Erfüllung der Aufsichtspflicht nicht aus. So müssen die Eltern ihr 4!/2-jähriges Kind entsprechend seinem Auffassungsvermögen belehren, ihm praktisch die Bedeutung von langsamer Fahrt und Rücksichtnahme auf Passanten auf dem Bürgersteig vermitteln sowie es an allen Punkten der in Betracht kommenden Fahrstrecke gelegentlich beobachten412. Verbieten die Eltern ihrem 4-jährigen Kind die Benutzung eines Dreirades, kann von ihnen nach Auffassung des BGH nicht verlangt werden, dass sie dem Kind das Verbot durch die Darstellung der sonst drohenden Gefahren begründen. Um die elterliche Aufsichtspflicht zu erfüllen, muss zu dem Verbot noch eine ausreichende und zumutbare Überwachung kommen 413 . Nach einem Urteil des LG
4.0 BGH VersR 1958, 85 v. 03.12.1957. Der 4-Jährige war mit dem Roller auf die Fahrbahn geraten, woraufhin eine Radfahrerin bei einem Ausweichmanöver stürzte. Der BGH hob auf und verwies zurück, da die Vorinstanz zur Belehrung und Beaufsichtigung nicht die erforderlichen Feststellungen getroffen hatte. 4.1 BGH VersR 1965, 606 (607) v. 23.03.1965. Der 7-jährige Sohn der Beklagten spielte mit seinem 8-jährigen Freund unter Verwendung eines Seiles Abschleppen. Der Sohn der Beklagten saß auf seinem Roller und wurde von seinem Freund per Rad gezogen. Als einer der Jungen links und der andere rechts an einer vor ihnen laufenden Frau vorbeifahren wollte, wurde diese vom Seil erfasst, zu Boden geworfen und erheblich verletzt. Der Senat verneinte eine Haftung aus § 832 Abs. 1 BGB. Aufgrund der unverschuldeten Unkenntnis vom gefährlichen Spiel ihres Sohnes hatten die Eltern keinen Anlass dahingehende besondere Ermahnungen auszusprechen. 4.2 BGH VersR 1968, 301 (302) v. 05.12.1967. Die 4'/2-jährige Tochter der Beklagten hatte mit ihrem Roller auf einem Bürgersteig in der Großstadt die Klägerin von hinten angefahren. Diese wurde erheblich verletzt. Die beklagten Eltern trugen zu ihrer Entlastung vor, ihre Tochter laufend und eindringlich darauf hingewiesen zu haben, mit ihrem Roller vorsichtig und langsam zu fahren und auf Passanten Rücksicht zu nehmen. Zudem habe die Mutter das Kind gelegentlich aus der Wohnung beobachtet. Der BGH bejahte eine Haftung aus § 832 Abs. 1 BGB, da die Eltern den o. g. Anforderungen nicht genügt hatten. Das Urteil wird nach Albilt (S. 231 f) zumindest den Verhältnissen von 1987 nicht mehr gerecht. Der Gesetzgeber habe mit der Einfügung von § 2 Abs. 5 in die StVO unmissverständlich zu erkennen gegeben, dass nicht nur ein Mindestmass an Risiko von der Allgemeinheit zu tragen sei, sondern sogar mehr als das. Mit der Festschreibung eines Radfahrgebotes auf Gehwegen für Kinder bis zum vollendeten achten Lebensjahr werde das Schutzbedürfnis der Passanten zugunsten des Interesses der Kinder auf körperliche Integrität noch mehr zurückgedrängt, als dies bei Zulassung des Fahrens mit weniger gefährlichen Fahrzeugen wie Rollern, Dreirädern usw. (§ 24 Abs. 1 i. V. m. § 2 StVO) schon der Fall war. 4.3 BGH FamRZ 1964, 84 (85) v. 19.11.1963. Der Senat hob auf und verwies zurück. Die Tochter hatte sich auf dem Spielplatz das Dreirad eines Spielgefährten genommen
§ 3 Die Entwicklung der Aufsichtsanforderungen
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Braunschweig genügen Eltern eines 6-jährigen Jungen, der dazu neigt, tollkühn mit dem Roller zu fahren, ihrer Aufsichtspflicht, wenn sie ihrem Sohn das Rollerfahren verbieten und den Roller wegschließen. Darüber hinaus kann von ihnen nicht auch noch verlangt werden, dagegen Vorsorge zu treffen, dass sich ihr Sohn einen fremden Roller ausleiht und damit Schaden anrichtet 414 . In einem Urteil des OLG Hamm v. 26.09.1994 standen die beklagten Eltern mit ihrem 4-jährigen Sohn am beampelten Fußgängerüberweg einer vielbefahrenen Kreuzung. Als die Fußgängerampel auf Grün schaltete, rollerte der 4-Jährige los, während seine Eltern noch am Straßenrand stehen blieben. Durch einen herannahenden Linksabbieger erschreckt, erfasste der Junge in der Mitte des Überwegs mit seinem Roller die Klägerin von hinten und verletzte sie schwer. Der Senat verurteilte die Eltern aus § 832 Abs. 1 BGB. Da es dem 4-Jährigen aufgrund des starken Verkehrs nicht erlaubt war, sich mit dem Roller allein auf der Straße aufzuhalten, stellte das Überqueren eines Fußgängerüberwegs mit dem Roller für ihn einen ungewohnten und schwierigen Vorgang dar. Um ihrer Aufsichtspflicht zu genügen, hätten die beklagten Eltern deshalb neben ihrem Sohn hergehen, gegebenenfalls den Lenker des Rollers anfassen und für ausreichend Abstand zur Klägerin sorgen müssen415. Haben Eltern ihrem 11-jährigen Sohn immer wieder verboten, auf der Fahrbahn Rollschuh zu laufen und diesem Verbot gelegentlich durch Verstecken der Rollschuhe Nachdruck verliehen, liegt keine Verletzung der Aufsichtspflicht vor, wenn das Rollschuh laufende Kind auf der Fahrbahn mit einem entgegenkommenden Fahrzeug kollidiert 416 .
und auf dem Bürgersteig die Klägerin von hinten angefahren. Diese erlitt komplizierte Brüche. Die Mutter hatte in einer halben Stunde zweimal kontrolliert, ob sich ihre Tochter auf dem Spielplatz an die ihr erteilte Weisung hielt. Mehr konnte nach Ansicht des Senats zur Erfüllung der Aufsichtspflicht nicht von den beklagten Eltern verlangt werden. 414 LG Braunschweig VersR 1965, 248 v. 09.12.1964. Der 6-Jährige lieh sich den Roller eines Freundes und fuhr auf dem Bürgersteig den Kläger an, der stürzte und sich schwer an der Hand verletzte. 4.5 OLG Hamm NZV 1995, 112 v. 26.09.1994. 4.6 BGH VersR 1965, 385 (386) v. 08.01.1965. Zudem bestand hier die Besonderheit, dass die gegenständliche Straße nur wenig Verkehr aufwies und von den Kindern unter stillschweigender Duldung der Polizei als Rollschuhbahn benutzt wurde. In einem früheren Urteil verneinte das LG Bückeburg (DAR 1954, 297 v. 01.04.1954) ebenfalls eine Aufsichtspflichtverletzung. Die beklagte Mutter hatte ihrer 7-jährigen Tochter erlaubt, auf dem Bürgersteig Rollschuh zu laufen, hingegen die Benutzung des Fahrdammes streng verboten und die Einhaltung des Verbotes durch wiederholte Nachschau überwacht.
1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
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3. Kinder als Fahrradfahrer In dieser Schadenskategorie ergibt sich kein einheitliches Bild der Rechtsprechung. Die Gerichte berücksichtigten bei der Bestimmung des Aufsichtsmaßes aber wiederholt, dass selbst bei sorgfältigster Aufsichtsführung ein Fremdschaden nicht auszuschließen ist, wenn Kinder spontan für einen Moment die gebotene Aufmerksamkeit außer Acht lassen417.
a) Ohne Begleitperson aa) Kriterien für die selbstständige Fahrradbenutzung (1) Die Rechtsprechung Die nachfolgenden divergierenden Urteile beruhen auf der unterschiedlichen Beurteilung der Frage, ob es eine starre Altersgrenze für die unbeaufsichtigte Teilnahme von Rad fahrenden Kindern am Straßenverkehr gibt. Das OLG Köln nahm mit Urteil v. 05.04.1968 eine solche an. Nach Ansicht des Senats dürfen zwar Kinder am Straßenverkehr teilnehmen, sofern sie ihr Fahrzeug hinreichend beherrschen. Jedoch gilt dieser Grundsatz nur für Kinder im schulpflichtigen Alter und kann auf 5- bis 6-jährige Kinder, die dem Kindergarten noch nicht entwachsen sind, nicht angewandt werden. Gerade durch das Lernen in der Schule werden die Kinder allgemein mit eigenen Pflichten vertraut gemacht und an selbstständiges Denken gewöhnt, sowie im Besonderen noch dazu angehalten, im Straßenverkehr sorgsam zu sein. Dadurch erübrigt sich in der Regel die ständige Beaufsichtigung von Schuljahr zu Schuljahr immer mehr. Bei Kindern dagegen, die dem Kindergarten noch nicht entwachsen sind, liegt der erzieherische Schwerpunkt auf dem Spielerischen. Das Fehlen eigenen Verantwortungsbewusstseins und die altersmäßig bedingte Hingabe an das Spiel machen für Kinder dieses Alters eine ständige Beaufsichtigung durch die Eltern, jedenfalls bei einer Teilnahme am Straßenverkehr, erforderlich 418 . In neu-
417
OLG Oldenburg VersR 1963, 491 v. 06.06.1962; OLG Hamm MDR 2000, 454 (455) v. 16.09.1999; LG Düsseldorf VersR 1994, 484 (485) v. 03.03.1993; LG Nürnberg-Fürth NZV 1996, 153 v. 20.04.1995; AG Meldorf DAR 1987, 388 v. 10.09.1987; AG Frankfurt/M. NJW-RR 1997, 1314 v. 01.11.1996. A. A. KG MDR 1997, 840 v. 03.03.1997. Das KG wertete diesen Aspekt hingegen aufsichtsverschärfend. Danach kann bei einem ö'^-jährigen Kind nicht zuverlässig darauf geschlossen werden, dass Schädigungen Dritter aus den mit dem kindlichen Naturell verbundenen Gefahren vernünftigerweise nicht zu besorgen sind. 4,8 OLG Köln VersR 1969, 44 (45 f) v. 05.04.1968. Die noch nicht ganz 6-Jährige war mit ihrem Fahrrad aus einer Einmündung auf eine Landstraße gefahren und dabei vor das Auto der Klägerin geraten. Infolge des Bremsmanövers prallte das Auto gegen
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eren Urteilen schlossen sich mehrere Gerichte diesen Erwägungen an. Das AG Detmold hält zur Erfüllung der Aufsichtspflicht aufgrund der mangelnden Reifeentwicklung für Kinder bis zu acht Jahren generell eine Aufsicht mit ständiger Eingriffsmöglichkeit beim Radfahren für erforderlich. Dabei kann nach Auffassung des Gerichts dahinstehen, ob das Kind im Radfahren geübt ist. 6jährige Kinder können in aller Regel weder ausreichend vorausschauend denken, um Gefahrensituationen zu vermeiden, noch im Straßenverkehr die gebotene Aufmerksamkeit walten lassen. Die Reifeentwicklung eines solchen Kindes sei noch nicht so weit vorangeschritten, dass man davon ausgehen könne, dass es sich bei der Teilnahme im Straßenverkehr mit dem Fahrrad stets an die Verkehrsregeln halte. Nach der Auffassung von Experten sei davon auszugehen, dass erst zwischen dem achten und zehnten Lebensjahr die Kinder reif genug seien, um ohne besondere Anleitung eigenständig im Straßenverkehr ein Fahrrad zu führen. Dies dokumentiere sich in der Tatsache, dass der Radfahrunterricht an den Grundschulen, unterstützt durch die Verkehrswacht und die Polizei, nicht bereits im ersten Schuljahr, also nicht schon nach dem Erreichen des sechsten Lebensjahres, durchgeführt werde, sondern erst im vierten Schuljahr 419 ' 4 2 0 . Das AG Ettenheim verurteilte die Eltern aus § 832 Abs. 1 BGB, weil sie ihrem 6-jährigen Kind die selbstständige Benutzung des Fahrrades gestattet hatten. Kinder in diesem Alter seien nicht in der Lage, die Geschwindigkeit von Kraftfahrzeugen abzuschätzen. Sie könnten daher ihr eigenes Fahrverhalten nicht mit dem von Kraftfahrzeugführern koordinieren. Deswegen bestimme § 2 Abs. 5 StVO, dass Kinder bis zum vollendeten 8. Lebensjahr wegen ihres fehlenden Verkehrsverständnisses von der Fahrbahn ausgeschlossen sind 421 .
einen Baum und die Leitplanken. Der Senat bejahte eine Haftung des Vaters aus § 832 Abs. 1 BGB, weil er seine Tochter unmittelbar vor dem Unfall nicht beaufsichtigt hatte. 4,9 AG Detmold NJW 1997, 1788 v. 05.12.1996. Zum Unfallzeitpunkt befuhr der Kläger mit seinem Pkw eine drei Meter breite Straße. Der 6-jährige Sohn der Beklagten kam ihm auf seinem Fahrrad mit schneller Geschwindigkeit auf der Straßenmitte entgegen. Daraufhin hielt der Kläger an. Das Kind prallte mit seinem Fahrrad sodann gegen das stehende Fahrzeug. Die beklagten Eltern trugen zur ihrer Entlastung vor, ihr Sohn fahre seit seinem vierten Lebensjahr unfallfrei mit dem Fahrrad, zunächst unter Aufsicht, dann aber auch allein. Nach seinen Fähigkeiten und seinem Entwicklungsstand sei er dazu in der Lage. Das AG verurteilte die Eltern nach § 832 Abs. 1 BGB bereits deshalb, weil sie ihr 6-jähriges Kind ohne eine Aufsicht mit der Möglichkeit sofortigen Einschreitens bei Regelverstößen mit dem Fahrrad am Straßenverkehr teilnehmen ließen. 420 So findet die schulische Radfahrausbildung und Radfahrprüfung in SachsenAnhalt im vierten Schuljahr statt (RdErl des MK v. 05.08.1993 - 27-82112, MB1 LSA Nr. 56/1993). 421 AG Ettenheim ZfS 1999, 326 (327) v. 30.04.1999. Das 6-jährige Kind wollte eine Straße überqueren. Dabei wurde es vom Pkw des Klägers erfasst, wodurch der Pkw beschädigt wurde. Das AG verurteilte den Vater aus § 832 Abs. 1 BGB. Der Argumentation des AG - wonach Kinder gemäß § 2 Abs. 5 StVO generell von der Fahrbahn ausgeschlossen sind - kann in ihrer Allgemeinheit nicht gefolgt werden. Denn fehlt ein Geh-
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
Die Benutzung eines Fahrrades ist nach Auffassung des OLG Zweibrücken nur von einer gewissen Reife des Kindes an und nach ausreichender Belehrung über die Verkehrsvorschriften sowie die Fahrtechnik mit der Aufsichtspflicht zu vereinbaren. Der Senat legte die Altersgrenze, ab der von einem fahrradgeübten Kind gesprochen werden kann, auf siebeneinhalb Jahre fest 422 . Widersprüchlich sind die Ausführungen in einem Urteil des OLG Düsseldorf v. 18.02.2002. Dort heißt es zunächst: Ob und inwieweit eine Aufsichtspflichtverletzung der Eltern gegeben ist, weil sie ihr Kind mit einem Fahrrad außerhalb des elterlichen Gesichtskreises fahren lassen, ist nicht nach bestimmten Altersgrenzen zur Bestimmung der Verkehrsreife des Kindes zu beantworten, sondern es ist nach allgemeinen Grundsätzen auf die konkret festzustellenden, individuellen Eigenschaften und Fähigkeiten des Kindes i. V. m. den objektiven Umständen abzustellen. Daran anschließend führt der Senat dann aber aus: Im Hinblick auf das geringe Alter ihres 5,/4-jährigen Sohnes waren die beklagten Eltern verpflichtet, ihn dauernd unter Aufsicht zu halten. Sie durften ihn nicht eigenständig ohne die Möglichkeit von Kontrolleinwirkungen eine Wegstrecke außerhalb ihres Gesichtskreises fahren lassen, trotz seines sicheren Fahrverhaltens auf seinem Kinderfahrrad und ungeachtet seiner Kenntnis von dem weiteren Verlauf der Wegstrecke. Erfahrungsgemäß kann ein SVi-jähriges Kind noch nicht in einer solchen Weise im Radfahren geübt sein wie etwa ein Schulkind, welches täglich Wegstrecken mit einem Fahrrad zurücklegt und deshalb routiniert und situationsadäquat auf die Gefahren des Begegnungsverkehrs reagiert 423 . Das
weg, dürfen Kinder auch die Fahrbahn benutzen (Hentschel, § 2 StVO Rn. 29a; Scheffen/Pardey, Rn. 221; OLG Hamm MDR 2000, 454 [455]) v. 16.09.1999). Zudem ist es für das Kind zur Erreichung des Zieles unter Umständen erforderlich die Fahrbahn zu überqueren, wobei es jedoch gemäß § 2 Abs. 5 S. 3 StVO vom Rad absteigen muss (ebenso StaudingerIBelling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 102). 422 OLG Zweibrücken NJW-RR 2000, 1191 (1192) v. 25.08.1999. Der 7!/2-jährige Beklagte war mit seinen Großeltern mit dem Fahrrad unterwegs. Als er seine Großmutter überholte, berührte er das Vorderrad ihres Fahrrades, so dass sie stürzte. Wegen der erlittenen Verletzungen nahm die Großmutter den haftpflichtversicherten Beklagten in Anspruch. Innerhalb der Anspruchsprüfung nach § 823 Abs. 1 BGB ging der Senat auf den Mitverschuldensanteil der Klägerin ein. Da sie die Aufsichtspflicht über den Beklagten innehatte, zog das OLG ausdrücklich die Maßstäbe zur Bestimmung des Aufsichtsumfanges nach § 832 Abs. 1 BGB heran. 423 OLG Düsseldorf ZFE 2002, 385 (386) v. 18.02.2002. Die beklagten Eltern machten mit ihren fünfeinviertel und sieben Jahre alten Kindern einen Fahrradausflug. Auf einem Wirtschaftsweg fuhren die Kinder voraus und befanden sich - möglicherweise nur kurzzeitig - außerhalb des Sichtfeldes ihrer Eltern. Der 5'/4-jährige Sohn brachte eine Radfahrerin zu Fall, die erheblich verletzt wurde. Das Gericht verurteilte die Eltern aus § 832 Abs. 1 BGB. Es unterstellte ihr Vorbringen als richtig, dass ihr Sohn ein sicheres Fahrverhalten auf seinem seit nahezu zwei Jahren ohne Stützrädern gewohnten Kinderfahrrad zeigte, er eine über seinem Altersdurchschnitt liegende Fahrpraxis hatte, er über die Gefahren im Straßenverkehr belehrt worden war und ihm die Wegstrecke im Bereich des Unfallortes von früheren Fahrten mit seinen Eltern bekannt war. Auch gestand der Senat den Eltern zu, ihr Kind außerhalb des geschlossenen Familienverbandes
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OLG Düsseldorf hält es somit für erforderlich, dass bei Radfahrten mit einem noch nicht schulpflichtigen Kind immer Sichtkontakt zu den Eltern bestehen muss, damit diese in der Lage sind, auf dessen Fahrweise einzuwirken. Etwas anderes könne erst bei schulpflichtigen Kindern gelten, wenn diese aufgrund regelmäßiger Fahrten zur Schule über eine höhere Fahrpraxis verfügten. Die Gegenansicht in der Rechtsprechung lehnt das Abstellen auf formale Kriterien wie Schulbesuch und feste Altersgrenze zur Beurteilung des Aufsichtsumfangs ab. Den Urteilen liegt der Konsens zugrunde, dass die Eltern ihr Kind über die Straßenverkehrsregeln und die mit dem Fahrradfahren verbundenen Gefahren belehrt sowie es auch beim Fahren selbst überwacht haben. Die Gerichte berücksichtigen in den Urteilen ausdrücklich die notwendige Entwicklung der Kinder zu Selbstständigkeit und verantwortungsbewusstem Handeln. So wandte sich das LG Darmstadt gegen die vorgenannten Ausfuhrungen des OLG Köln und stellte heraus, dass es entscheidend auf die Reife und Einsichtsfähigkeit sowie das Verantwortungsbewusstsein des Kindes ankommt. Es sei nicht zwingend, dass Kinder diese Eigenschaften in der Schule kurzfristig erwerben müssten oder nur in der Schule erwerben könnten 424 . Auch das OLG Celle hält die vom OLG Köln aufgestellten Grundsätze für nicht unbedenklich, weil sie nicht auf die individuellen Eigenschaften und Fähigkeiten des betreffenden Kindes, sondern generell auf das Erreichen einer bestimmten Altersgrenze abstellen425. Aufgrund dessen ist nach Auffassung der LGe Bochum 426
mit seinem Rad ein Stück vorausfahren zu lassen. Denn auf diese Weise werde das Kind in die Lage versetzt, eigenständige Fahrpraxis zu erwerben und selbstständiges Verhalten im Straßenverkehr zu erlernen. Weil ihr Sohn aber noch kein Schulkind war, mussten die Eltern nach Auffassung des OLG die räumliche Distanz zu ihm so eng halten, dass sie ihm noch mündliche Anweisungen für sein Verhalten bei der Vorausfahrt erteilen konnten. Nur auf diese Weise wäre es möglich gewesen, plötzlich auftretenden Gefahrensituationen auf den Verkehrswegen zu begegnen, mit deren Bewältigung der 5'/4Jährige den Umständen nach überfordert war. 424 LG Darmstadt VersR 1975, 337 (338) v. 13.12.1973. 425 OLG Celle NJW-RR 1988, 216 v. 27.05.1987. Der 53/4-Jährige befuhr einen Fußund Radweg. Im Übrigen rechtfertigt der Senat die Abgrenzung von den Grundsätzen des OLG Köln damit, dass es in der dortigen Entscheidung um die besonderen Risiken des Kontakts mit schnell fahrenden Kraftfahrzeugen ging. A. Fuchs (S. 265) hält die Kritik des OLG Celle für unberechtigt. Nach seiner Meinung wäre wahrscheinlich die Kritik des OLG Celle unterblieben, wenn das OLG Köln klarer ausgesprochen hätte, dass Kinder bis zu einem Alter von sieben Jahren unabhängig von ihren individuellen Fähigkeiten nicht unbeaufsichtigt mit dem Fahrrad fahren dürfen. A. Fuchs verkennt dabei, dass sich die Kritik des OLG Celle gerade gegen die Nichtberücksichtigung der individuellen Eigenschaften der Kinder bis zu einem Alter von sieben Jahren richtet. 426 LG Bochum ZfS 1986, 258 v. 23.06.1986. So ist nach Ansicht der Kammer eine Aufsichtspflichtverletzung nicht schon deshalb anzunehmen, weil Eltern ihrem 5 jährigen Kind das Befahren des Gehwegs mit dem Fahrrad gestattet haben.
1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
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und Oldenburg 427 die Zugrundelegung einer starren Altersgrenze nicht geeignet, um zu angemessenen Ergebnissen zu kommen. So entschied das LG Oldenburg, ein 7-jähriges Kind mit zweijähriger Verkehrserfahrung bedarf beim Rad fahren auf einer ihm vertrauten, verkehrsarmen Straße keiner Beaufsichtigung 428 . Kann sich ein 6-jähriges Kind verkehrsgerecht bewegen, darf es nach Auffassung des LG Karlsruhe mit dem Fahrrad zum 300 m entfernten Kindergarten fahren. Dabei sind an die geistige und körperliche Reife des Kindes besondere Anforderungen zu stellen, wenn es in beiden Fahrtrichtungen eine innerstädtische Hauptverkehrsstraße an einer belebten Kreuzung überqueren muss 429 . Das AG Frankfurt/M. hält in seinem Urteil v. 01.11.1996 unmittelbar vor der Einschulung stehende 6-jährige Kinder grundsätzlich für befähigt, den Schulweg mit dem Fahrrad allein zu meistern 430 . Zudem wird mit der Einschulung unter Umständen von dem Kind die selbstständige Bewältigung des Schulweges mit dem Fahrrad verlangt 431 . Hat sich ein 6-jähriges Kind über eine gewisse Zeit im Straßenverkehr bewährt, darf es nach dem Urteil des AG Radolfzell v. 16.09.1999 ohne ständige Aufsicht und Begleitung Erwachsener am Straßenverkehr teilnehmen 432 . Ebenso vertritt das KG den Standpunkt, dass ein 6l/2-jähriges Kind auch als Radfahrer zur selbstständigen Teilnahme am öffentlichen Verkehr befähigt ist 433 . In einer Entscheidung aus dem Jahr 2000 hat das OLG Hamm dem Abstellen auf eine bestimmte Altersgrenze durch die o. g. Urteile des OLG Zweibrücken und des AG Detmold ausdrücklich widersprochen. Vielmehr ist auf konkret festzustellende individuelle Eigenschaften und Fähigkeiten des Kindes in Verbindung mit den objektiven Umständen abzustellen. Dabei führt der Senat aus: Das Argument drohender Haftungslücken bei Nichtanwendung einer festen Altersgrenze ist nicht überzeugend, da die Aufsichts-
427
LG Oldenburg NdsRpfl 1988, 10 v. 03.02.1987. A. a. O. Der Kläger befuhr mit seinem Leichtkraftrad eine nur für den Anliegerverkehr zugelassene Straße, in der die Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h begrenzt war. Der 6 3A-Jährige kam ihm auf seinem Fahrrad entgegen. Bei der Begegnung der Fahrzeuge geriet das Kind plötzlich nach links, so dass es zu einem Zusammenstoß kam. 429 LG Karlsruhe VersR 1980, 1126 L v. 03.07.1980. 430 AG Frankfurt/M. NJW-RR 1997, 1314 v. 01.11.1996. Der sechs Jahre alte Sohn der Beklagten fuhr mit seinem Fahrrad zwischen geparkten Fahrzeugen heraus, um eine Straße zu überqueren. Er achtete dabei nicht auf den fließenden Verkehr. Der mit einem Motorrad fahrende Kläger leitete eine Vollbremsung ein und vermied so einen Zusammenprall. Dabei wurde das Motorrad erheblich beschädigt. Das AG verneinte eine Haftung aus § 832 Abs. 1 BGB. Es ging bei dem Geschehensablauf davon aus, dass es sich um ein Augenblicksversehen eines an sich mit den Regeln des Straßenverkehrs vertrauten Kindes handelte, für welches eine Haftung der Aufsichtspflichtigen nach § 832 BGB nicht eingreift. 431 AG Meldorf DAR 1987, 388 v. 10.09.1986. 432 AG Radolfzell NJW-RR 2000, 1192 (1193) v. 16.09.1999. 433 KG MDR 1997, 840 v. 03.03.1997. 428
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pflicht der Eltern ihren Grund nicht darin findet, dass jederzeit eine Haftpflicht im Falle der Schädigung durch ein Kind bereitsteht. Die Haftung für ein vermutetes Aufsichtsverschulden ist keine Gefährdungshaftung. Aus der gesetzlichen Pflicht der Eltern aus §§ 1626 ff, 1631 Abs. 1 S. 1 BGB folgt u. a. die sinnvolle Hinführung des Kindes zu einem selbstständigen, verantwortungsbewussten und umsichtigen Verhalten im Verkehr. Dazu muss ein Kind die altersgerecht angepasste Gelegenheit bekommen, sich ohne ständige Beobachtung, Kontrolle und Anleitung selbst im Verkehr zu bewähren. Die Befürwortung einer festen Altersgrenze würde auch nicht den unterschiedlichen Entwicklungsständen der Kinder gerecht, und es würde übersehen, dass von Kindern, die sechs Jahre alt und infolge dessen schulpflichtig sind, auch erwartet wird, im Straßenverkehr den Schulweg zu meistern. Zudem bliebe ohne sachlichen Grund außer Betracht, dass es auch auf die Besonderheiten des jeweiligen Verkehrsraumes ankommt 434 . Mit Urteil v. 01.02.2002 äußerte sich auch das AG Brühl zu dieser Frage. Der 6-jährige Sohn der Beklagten war mit seinem Rad gegen das geparkte Fahrzeug des Klägers gefahren; der Unfallort war etwa 200 m von der elterlichen Wohnung entfernt, in der sich die Mutter aufhielt. Das Gericht verneinte einen Anspruch des Klägers aus § 832 Abs. 1 S. 1 BGB. Das Maß der Aufsicht sei im Einzelfall anhand der konkreten Situation und der Einsichts- und Kontrollfähigkeit des Kindes zu bestimmen. Bei 6-jährigen Kindern könne grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass diese in der Lage sind, sich in einem ihnen bekannten Wohnumfeld mit einem Fahrrad auf dem Bürgersteig sicher zu bewegen. Die Mutter durfte deshalb ihren Sohn in dem ihm bekannten Wohnumfeld für eine gewisse Zeit ohne unmittelbare Eingriffsmöglichkeit lassen. Der Unfall wäre nur zu vermeiden gewesen, wenn sie sich stets in unmittelbarer Nähe zu ihrem Sohn befunden hätte. Das sei aber bei einem 6-jährigen Kind weder sinnvoll zu leisten noch zu erwarten 435. Der BGH hat zu dieser Rechtsfrage nicht eindeutig Stellung genommen. In einer 1987 ergangenen Entscheidung heißt es: Beherrschen 7-jährige Kinder ihr Fahrrad technisch und sind sie von ihren Eltern hinreichend über richtiges Fahrverhalten belehrt worden, wird es von der Rechtsprechung grundsätzlich
434
OLG Hamm NJW-RR 2002, 236 (237 f) = MDR 2000, 1373 (1374) = OLGR 2000, 266 v. 09.06.2000. Das OLG verneinte mangels Aufsichtspflichtverletzung eine Haftung der Eltern aus § 832 Abs. 1 BGB. Die Klägerin hatte behauptet, der knapp 7Jährige sei ihr in einer verkehrsberuhigten Zone mit seinem Rad entgegengekommen, unmittelbar vor ihr nach links gefahren und habe dabei das Vorderrad ihres Rades berührt. Dadurch sei sie gestürzt. Die Fundstelle der im Urteil zitierten Entscheidung des OLG Zweibrücken (NZV 1992, 509) ist falsch wiedergeben. Das Senatsurteil v. 25.08.1999 wurde in NZV 1999, 509 = NJW-RR 2000, 1191 veröffentlicht. 435 AG Brühl ZfS 2002, 275 (276) v. 01.02.2002.
1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
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nicht als Aufsichtspflichtverletzung beurteilt, wenn Eltern ihre Kinder mit ihren Fahrrädern allein am Straßenverkehr teilnehmen lassen436.
(2) Das Schrifttum Auch im Schrifttum findet sich keine einheitliche Position zum Erfordernis einer bestimmten Altersgrenze. Gemeinsam ist den Autoren dabei, dass eine unbeaufsichtigte Benutzung des Rades erst unter bestimmten Voraussetzungen erfolgen darf. So müssen die Kinder ihr Rad technisch sicher beherrschen, genügend Fahrsicherheit haben und mit den Verkehrsvorschriften ausreichend vertraut sein. Stein gesteht den Eltern zu, ihre noch nicht schulpflichtigen Kinder allein auf Rad- und Gehwegen unbeaufsichtigt fahren zu lassen, wenn sie sich vergewissert haben, dass das Kind im Radfahren hinreichend geübt ist und sich ohne Aufsicht ordnungsgemäß verhält 437 . Nach Belling/Eberl-Borges, welche eine starre Altersgrenze ausdrücklich ablehnen, dürfen sich schulpflichtige Kinder schon ab sechs Jahren allein im Straßenverkehr bewegen438. Pardey hält 6-Jährige grundsätzlich für befähigt, ihren Schulweg nach Einübung allein zu meistern. Für die Benutzung von Fahrrädern gelte dies aber erst nach der heute üblichen Fahrprüfung 439. An anderer Stelle schwächt Pardey dieses Erfordernis ab. Die Fahrprüfung legt danach keine Mindestanforderung für die Eltern fest, befreit die Eltern umgekehrt aber nicht von der eigenen Aufsichtspflicht. Es komme immer auf die konkret festzustellenden, individuellen Eigenschaften und Fähigkeiten des Kindes und die objektiven Umstände an 440 . FuchsWissemann weist darauf hin, dass der Gesetzgeber das Radfahren der Kinder auf dem Gehweg nicht von der Begleitung durch eine Aufsichtsperson abhängig gemacht hat. Die Eltern verletzen deshalb ihre Aufsichtspflicht nicht schon dann, wenn sie ihr Kind nicht begleiten oder beaufsichtigen. Habe das Kind erfolgreich an einer entsprechenden Fahrprüfung teilgenommen, werde der Entlastungsbeweis i. d. R. als erbracht anzusehen sein 441 . Benutzt ein Schulanfänger ein Fahrrad, ist nach Ansicht von Kreit ohne besonderen Anlass eine ständige Aufsicht nicht erforderlich 442 . Zeuner gesteht 7-Jährigen ohne Begleitung die Fahrt zur Schule bzw. auf ihnen sonst vertrauten Wegstrecken zu 4 4 3 . Nach
436 437 438 439
440 441 442 443
BGH LM Nr. 17 zu § 832 BGB (= NJW-RR 1987, 1430 [1431]) v. 07.07.1987. MünchKomm/Stew, § 832 Rn. 24. SimdmgeilBelling/Eberl-Borges, Pardey, DAR 2001, 1 (4 f).
§ 832 Rn. 102.
Pardey, ZfS 2002, 264 (268). Fuchs-Wissemann, DRiZ 1980, 456 (458). RGKKJKreft, § 832 Rn. 47. SoergeUZeuner, § 832 Rn. 18.
§ 3 Die Entwicklung der Aufsichtsanforderungen
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Scheffen/Pardey 444 kann bei 7- bis 8-Jährigen im Anschluss an die erforderliche Anleitung und Übung regelmäßig zugrunde gelegt werden, dass das Kind ohne besonderen Gefahren für andere unbeobachtet am Straßenverkehr teilnehmen kann. Schiemann hält die Benutzung eines Fahrrades erst ab einem Alter von acht Jahren für zulässig 445 . Kuntz führt aus, dass Kinder allein Rad fahren, sei heute auch im frühesten Alter üblich. Er zitiert dabei jedoch nur ältere Urteile, in denen die Kinder schon mehrere Jahre zur Schule gingen 446 . Dahlgrün äußert sich widersprüchlich zur Annahme einer starren Altersgrenze. Sie kritisiert das Abstellen auf das formale Kriterium des Schulbesuches durch das OLG Köln als unangemessen, um dann später dem Urteil und der starren Altersgrenze von sieben Jahren voll zuzustimmen 447 . A. Fuchs neigt zu einer festen Altersgrenze von offenbar mindestens sieben Jahren 448 . Hingegen lehnt M. Schmid die Annahme einer starren Altersgrenze ab, weil dabei die Erziehung des Kindes durch seine Eltern völlig außer Acht gelassen werde 449 .
(3) Eigene Stellungnahme Auffällig ist, dass die neueren Urteile, die eine hohe und feste Altersgrenze für die unbeaufsichtigte Benutzung von Fahrrädern annehmen, in den abgedruckten Entscheidungsgründen weder eine der Aufsichtsformeln noch andere der üblichen abstrakten Formulierungen verwenden. Eine Ausnahme bildet insoweit das Urteil des OLG Düsseldorf v. 18.02.2002450 . Laut beiden Aufsichtsformeln wird das Maß der gebotenen Aufsicht u. a. durch Alter, Eigenart und Charakter des Kindes sowie durch die konkrete Schadenssituation bestimmt. Neben dem Alter des Kindes geht der grundsätzliche Lösungsansatz der Rechtsprechung somit von der Berücksichtigung der individuellen Eigenschaften, der Fähigkeiten und des Entwicklungsstandes des Kindes aus. Eine starre Festsetzung von Altersgrenzen zur Bestimmung des gebotenen Aufsichtsmaßes wird diesem Lösungsansatz dagegen nicht gerecht. Des Weiteren kann bei der Bestimmung des Aufsichtsmaßes anhand fester Altersgrenzen die konkrete (Un-
444 Scheffen/Pardey, Rn. 241. In Rn. 240 heißt es: 6-Jährigen darf das Befahren des Gehwegs erlaubt werden, wobei der sichere, ungefährliche Kontakt mit Fußgängern zu überwachen ist. 445 Erman/Schiemann, § 832 Rn. 7. 446 Wussow¡Kuntz, Rn. 549. 447 448
449
Dahlgrün, S. 141, 171. A.Fuchs, S. 267 f.
M Schmid, DAR 1982, 149 (150). Dabei schreibt M. Schmid die vom OLG Köln vertretene Auffassung irrtümlich dem KG zu. 450 OLG Düsseldorf ZFE 2002, 385 (386) v. 18.02.2002 (vgl. 1. Teil § 3 III 3 a aa (1)).
1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
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fall-)Situation nicht berücksichtigt werden. Würde man dieser Rechtssprechungsansicht folgen, wäre es letztlich irrelevant, ob sich das 6- bis 7-jährige Kind mit seinem Fahrrad allein auf einem ihm vertrauten Fuß- oder Radweg bzw. einer verkehrsarmen Straße oder aber auf einer ihm unbekannten Straße mit hoher Verkehrsdichte bewegt. Es müsste ständig beaufsichtigt werden. Das widerspricht der übrigen Rechtsprechung zu § 832 BGB, welche sämtliche Umstände des Einzelfalls zur Bestimmung des Aufsichtsmaßes heranzieht. Eine Begründung der Anwendung von festen Altersgrenzen kann sich auch nicht aus dem reformierten § 828 Abs. 2 BGB 4 5 1 ergeben. Dort wird nicht nach der Art der Verkehrsteilnahme der Kinder differenziert, während die Rechtssprechungsansicht die starre Altersgrenze nur auf Rad fahrende Kinder anwendet. Ferner wird durch § 828 Abs. 2 BGB die Verantwortlichkeit von Kindern, die bis zu zehn Jahre alt sind, nur für den Fall eines Unfalles mit einem Kraftfahrzeug ausgeschlossen. Eine solche Einschränkung sehen die Gerichte bei der Anwendung der starren Altersgrenze aber nicht vor. Schon aus diesem Grund kann die gesetzliche Fixierung einer festen Altersgrenze für die Haftung von Kindern bei der Teilnahme am Straßenverkehr nicht auf das Aufsichtsmaß des § 832 BGB durchschlagen. Weiterhin hat die Lockerung der Haftung Minderjähriger in § 828 Abs. 2 BGB keinen Einfluss auf das Aufsichtsmaß und die Haftung der Eltern nach § 832 BGB 4 5 2 . Die Tendenz in der Rechtsprechung, eine starre Altersgrenze von siebeneinhalb bis acht Jahren für die unbeaufsichtigte Benutzung von Fahrrädern festzulegen, ist deshalb abzulehnen.
bb) Weitere Einzelfälle Das AG Bersenbrück hielt es für zulässig, dass Eltern ihr normal entwickeltes 5-jähriges Kind, welches sein Fahrrad beherrscht, ohne ständige Aufsicht auf der verkehrsruhigen Fläche eines Gaststättenparkplatzes fahren ließen. Eine ständige Beobachtung liefe hingegen der gebotenen Erziehung zur Selbstständigkeit und Selbstverantwortlichkeit zuwider 453 . Im Fall des AG Dieburg hatten die Eltern gegenüber ihrer 4-jährigen Tochter wiederholt ein generelles Verbot ausgesprochen, während der Geschäftszeiten auf dem Parkplatz eines Supermarktes Rad zu fahren. Die Tochter hatte sich mehrmals über das Verbot hinweggesetzt, wovon die Eltern wussten. Das AG nahm deshalb eine Haftung der Eltern aus § 832 Abs. 1 BGB an. Zur Erfüllung ihrer Aufsichtspflicht hätten sie die Einhaltung des Verbots besser überwachen oder den Zugriff auf das Rad
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SchadÄndG v. 19.07.2002, in Kraft seit dem 01.08.2002, BGBl I S. 2674. Vgl. 2. Teil § 3 V 2. 453 AG Bersenbrück VersR 1994, 108 v. 03.03.1993. Der 5-Jährige beschädigte dabei einen Pkw. 452
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verhindern müssen454. In einem Urteil v. 16.09.1999 kam das OLG Hamm zu dem Ergebnis, dass Eltern ihre Aufsichtspflicht nicht verletzen, wenn sie ihrem normal entwickelten 5-jährigen Kind erlaubten, in einer reinen Anwohnerstraße ohne Bürgersteige, in der die Geschwindigkeit auf 30 km/h beschränkt ist, Fahrrad zu fahren. Aufgrund einer zweijährigen Radfahrpraxis ihres Kindes genügten nach Ansicht des OLG die Eltern ihrer Aufsichtspflicht mit Belehrungen zu vorsichtigem Verhalten im Bereich der Straße. Denn ein normal entwickeltes Kind brauche gewisse Freiräume pädagogisch vertretbarer Maßnahmen, die sich aus den Erziehungszielen der §§ 1631 Abs. 1, 1626 Abs. 2 BGB ergäben 455. Im Fall des OLG Celle war der 53/4-jährige Sohn der Beklagten auf einem 1,5 m breiten Fuß- und Radweg mit dem ihm entgegenkommenden, ebenfalls radfahrenden Kind zusammengestoßen. Der Senat vertrat den Standpunkt, Eltern verletzen ihre Aufsichtspflicht nicht, wenn sie ihrem normal entwickelten Kind, welches im Radfahren geübt und mit den Verkehrsanforderungen vertraut ist, auf einem solchen Weg das Rad fahren gestatten. Jedoch müssen sie sich zuvor vergewissern, dass ihr Kind willens und in der Lage ist, sich auf dem Weg auch unbeaufsichtigt ordnungsgemäß zu verhalten. Dies kann durch heimliche Beobachtung geschehen, auf deren gelegentliche Fortsetzung sich die Eltern später beschränken können 456 . In dem der Entscheidung des AG Radolfzell zugrunde liegenden Sachverhalt, hatten die Beklagten ihren öVi-jährigen Sohn ohne Aufsicht in einer Fußgängerzone Rad fahren lassen, was dort erlaubt war. Dieser fuhr dabei eine Rentnerin an. Die Eltern wurden aus § 832 Abs. 1 BGB verurteilt. Sie hatten ihren Sohn nicht darüber belehrt, dass er in der Fußgängerzone nur Schrittgeschwindigkeit fahren durfte. Zudem hatte sich der Sohn kurz vor dem Unfall in Begleitung seines Vaters zum wiederholten Male verkehrswidrig verhalten 457 . So verletzen Eltern auch ihre Aufsichtspflicht, wenn sie ihr Kind zu einem verkehrswidrigen Verhalten anhalten und ihm unrichtige Belehrungen über das Verhalten im Straßenverkehr geben 458 . Das LG Berlin hält in einer Entscheidung v. 29.10.1998 die Teilnahme von Kindern am Straßenverkehr für grundsätzlich unbedenklich, sofern sie ihre Fahrzeuge genügend beherrschen und eine Verkehrserziehung genossen haben. Eltern verletzen daher ihre Aufsichtspflicht nicht, wenn sie ihr 10-jähriges Kind in einer Großstadt ohne ständige Überwachung mit seinem Fahrrad am Stra454
AG Dieburg SP 1996, 373 f v. 24.07.1996. Die 4-Jährige fuhr gegen einen Pkw. OLG Hamm MDR 2000, 454 (455) v. 16.09.1999. 456 OLG Celle NJW-RR 1988, 216 v. 27.05.1987. Die Eltern wurden aus §832 Abs. 1 BGB verurteilt. Ihnen war es nicht gelungen zu beweisen, dass sie den Anforderungen des OLG an ihre Aufsichtspflicht genügt hatten (vgl. 3. Teil § 1 III 3 c bb). 457 AG Radolfzell NJW-RR 2000, 1192 (1193) v. 16.09.1999. 458 OLG Düsseldorf VersR 1975, 863 f v. 17.12.1974. Die Eltern hatten ihrem 6jährigen Kind erlaubt, mit seinem Kinderfahrrad auf dem Gehweg zu fahren. Dies verstieß gegen den damaligen § 2 StVO, wonach das Fahren mit dem Fahrrad nur auf der Fahrbahn erlaubt war. 455
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
ßenverkehr teilnehmen lassen459. In älteren Entscheidungen hatten die Gerichte die Eltern wiederholt mit der Begründung entlastet, die mehrjährige unfallfreie Straßenverkehrsteilnahme der schulpflichtigen Kinder mit dem Fahrrad beweise, dass sie ihrer Aufsichtspflicht nachgekommen sind 460 . Hinsichtlich dem Grundschulalter entwachsenen Kindern gibt es nur ältere Entscheidungen. Das AG Stuttgart entlastete einen Vater, der seinen verkehrsgewandten und -erfahrenen 11 'A-jährigen Sohn mit dem Fahrrad zur Hauptverkehrszeit durch belebte Hauptverkehrsstraßen zu einem Einkauf geschickt hatte 461 . Der BGH verurteilte die beklagten Eltern aus § 832 Abs. 1 BGB, weil sie trotz der fortgesetzten Teilnahme ihres 1 l3/4-jährigen Sohnes an Fahrradwettfahrten auf der Straße untätig geblieben waren 462 . Wechselt ein 12-jähriges Kind beim Zeitungsaustragen mit seinem Fahrrad ständig von einer Seite der Hauptstraße auf die andere, ist nach dem OLG Köln von einer Aufsichtspflichtverletzung der Eltern auszugehen. Aufgabe der Eltern wäre es in einem solchen Fall gewesen, ihrem Kind einzuschärfen, die Zeitungen zunächst auf der einen und dann auf der anderen Straßenseite zu verteilen, um sich dadurch möglichst selten den Verkehrsgefahren auszusetzen463. Das LG Stuttgart verurteilte 1960 eine Mutter, weil sie ihren 14-jährigen Sohn nicht gelegentlich beim Radfahren auf die Einhaltung der Verkehrsregeln hin kontrolliert hatte 464 . Im Fall des OLG München besaß eine 16-Jährige die Angewohnheit, mit einem aufgespannten Regenschirm in der einen und nur mit der anderen Hand an der Lenkstange Rad zu fahren. Der Senat verurteilte ihren Vater nach § 832 Abs. 1 BGB, weil er trotz Kenntnis dieser Angewohnheit seine Tochter nicht über die daraus resultierenden besonderen Gefahren belehrt und in einer ihm zumutbaren Weise überwacht hatte 465 .
459 LG Berlin NJW 1999, 2906 v. 29.10.1998. Das Kind fuhr mit seinem Fahrrad zwischen Autos hervor auf die Straße. Der Kläger wich ihm mit seinem Pkw aus und kollidierte mit einem parkenden Auto. 460 BGH VersR 1965, 606 (607) v. 23.03.1965: 8 Jahre; OLG Düsseldorf VersR 1956, 453 (454) v. 16.06.1955; OLG Nürnberg VersR 1962, 1116 (1117) v. 09.11.1961: knapp 8 Jahre; LG München VersR 1955, 636 (637) v. 24.03.1955: 9 Jahre. In allen Entscheidungen benutzten die Kinder unbeaufsichtigt ihre Fahrräder, in den letzten drei befuhren sie damit Straßen. 461 AG Stuttgart VRS 7 Nr. 150, S. 332 (333) v. 23.09.1954. Der Sohn befuhr mit seinem Rad eine Einbahnstraße in der gesperrten Richtung und stieß mit einer Fußgängerin zusammen. 462 BGH VersR 1961, 838 (839) v. 27.06.1961. Das Kind stieß bei einer Wettfahrt mit dem Kläger auf seinem Motorroller zusammen. 463 OLG Köln MDR 1971, 1010 v. 23.06.1971. 464 LG Stuttgart NJW 1960, 1157 v. 19.02.1960. 465 OLG München VersR 1958, 238 (239) v. 28.05.1957.
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b) Mit Begleitperson Das AG Darmstadt 466 und das LG Düsseldorf 467 hielten es für ausreichend, wenn Eltern 15-20 m hinter ihrem 5-jährigen Rad fahrenden Kind auf dem Gehweg hinterherlaufen. Beide Gerichte betonten dabei, dass eine unmittelbare Einwirkungsmöglichkeit die Entwicklung des Kindes zu selbstständigem und verantwortungsbewusstem Verhalten hemmen würde. In einem Urteil des LG München I befuhr die 3!/2-Jährige in Begleitung ihrer Mutter mit ihrem Kinderfahrrad mit Stützrädern einen Gehweg. Dabei fuhr sie gegen das teils auf dem Gehweg parkende Auto der Klägerin. Das LG hielt es zur Erfüllung der Aufsichtspflicht nicht für erforderlich, dass die Mutter permanent die Lenkstange des Fahrrades festhielt. Es verneinte eine Haftung aus § 832 Abs. 1 BGB, weil die Mutter ihr Kind hinreichend in den Gebrauch des Rades eingewiesen und eingeübt hatte und kurz hinter ihr ging 468 . Nach Auffassung des OLG Düsseldorf muss bei Radfahrten mit einem nicht schulpflichtigen Kind immer Sichtkontakt zu den Eltern bestehen, damit diese in der Lage sind, auf dessen Fahrweise Einfluss zu nehmen 469 . Das OLG Oldenburg vertrat die Ansicht, die Mutter einer verkehrserfahrenen 8-Jährigen dürfe darauf vertrauen, dass sich diese verkehrsrichtig verhält. Zudem spreche die Lebenserfahrung dafür, dass Kinder sich in Gegenwart von Erwachsenen eher vorsichtiger verhalten, als wenn sie allein fahren, weil sie zeigen wollen, dass sie die Verkehrsregeln beherrschen470. Auf diese Lebenserfahrung verwies auch das LG Darmstadt und entlastete eine Mutter, weil sie ihrem 6!/2-jährigen verkehrsgeübten Sohn in einem Abstand von 15 m folgte 471 . Ebenso verneinte das LG Nürnberg-Fürth die Haftung einer Mutter aus § 832 Abs. 1 BGB, als diese ihren 5'/2-jährigen Sohn mit einem ihm vertrauten Kinderfahrrad auf einer Straße ohne hohes Verkehrsaufkommen und ohne Gehweg in einem Abstand von 5 bis 10 m hinter ihrem Fahrrad herfahren ließ 472 .
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AG Darmstadt ZfS 1992, 3 f v. 01.03.1991. LG Düsseldorf VersR 1994, 484 v. 03.03.1993. 468 LG München I VersR 2000, 1022 v. 18.09.1998. 469 OLG Düsseldorf ZFE 2002, 385 f v. 18.02.2002 (vgl. 1 Teil § 3 III 3 a aa (1)). 470 OLG Oldenburg VersR 1963, 491 v. 06.06.1962. Die 8-Jährige befuhr mit dem Rad eine Bundesstraße, ihre Mutter hielt sich etwa 2 m hinter ihr. Als das Kind auf Zuruf der Mutter verkehrsbedingt anhalten wollte, kam sie mit dem Vorderrad auf die Gegenfahrbahn. Ein ausweichender Sattelschlepper geriet gegen einen Baum und wurde beschädigt. Der Senat verneinte einen Anspruch aus § 832 Abs. 1 BGB, da die Mutter sich auf ein sicheres und schnelles Absteigen ihrer Tochter verlassen konnte. 471 LG Darmstadt VersR 1975, 337 (338) v. 13.12.1973. Der Sohn der Beklagten fuhr unter Missachtung der Vorfahrt unmittelbar vor einem herannahenden Bus auf eine Hauptverkehrsstraße. Er wurde vom Bus, der beschädigt wurde, trotz Vollbremsung erfasst. 472 LG Nürnberg-Fürth NZV 1996, 153 v. 20.04.1995. 467
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Im Urteil des KG v. 03.03.1997 hatte ein sechseinhalb Jahre alter Junge auf einem knapp 3 m breiten - für Radfahrer und Fußgänger zugelassenen - Weg einen der wenigen Fußgänger mit seinem Rad von hinten angefahren. Der Abstand der hinterher radelnden Eltern zu ihrem Kind betrug in diesem Moment ca. 100 m. Das KG sah bereits die allgemeine Belehrungs- und Aufsichtspflicht verletzt. Die Eltern hatten sich nicht von der Bereitschaft ihres Sohnes überzeugt, die geltenden Verkehrsregeln auch außerhalb ihres Gesichtskreises zu beachten. Damit fehlte es nach der Senatsauffassung an einer Voraussetzung für die selbstständige Teilnahme des öVWährigen am öffentlichen Verkehr. Weiter habe eine erhöhte Aufsichtspflicht der Eltern bestanden, weil der breite und wenig befahrene Weg zu schnellem Fahren herausforderte und wegen der Fahrzeit von 40 Minuten die kindliche Fahrdisziplin ab- und die Risikobereitschaft zunahm. Zudem bewegte sich der öVi-Jährige nicht in seiner häuslich vertrauten Umgebung, so dass sich die Gefahr der Ablenkung erhöht habe. Dieser Steigerung des Gefahrenpotentials für Dritte hätten die Eltern durch ständige Blickkontrolle des Verhaltens ihres Kindes mit der Möglichkeit jederzeitigen Eingreifens entgegenwirken müssen. Den Einwand der beklagten Eltern, die Kollision beruhe möglicherweise auf einem Seitwärtsschritt der Verletzten, der auch bei Sichtkontakt mit dem Kind zum Unfall geführt hätte, ließ der Senat - korrekterweise - nicht für eine Entlastung nach § 832 Abs. 1 S. 2 F 2 BGB genügen473. Thomas 474 und Pardey 475 geben das Urteil zustimmend wieder, während es Haberstroh heftig kritisiert. Danach lasse die vom Senat gewählte Argumentation die Frage offen, was nach seiner Auffassung in der konkreten Rechtsanwendung noch von seinem verwandten Obersatz übrig bleiben kann, wonach ein sechseinhalb Jahre altes Kind im Allgemeinen auch als Radfahrer zur selbstständigen Teilnahme am öffentlichen Verkehr befähigt sei. Zudem habe sich der Senat der Probleme der Vorhersehbarkeit und Vermeidbarkeit des Unfalles kurzerhand durch den Hinweis auf die Beweislast entledigt und ein etwaiges Mitverschulden der Verletzten unberücksichtigt gelassen476. Das Urteil des KG ist beispielhaft für die Divergenz zwischen eitern- bzw. kinderfreundlichen abstrakten Ausführungen zum Aufsichtsmaß einerseits und strengen Aufsichtsanforderungen an die Eltern im konkreten Einzelfall andererseits. Problematisch ist dabei vor allem die Auffassung des KG, es habe gerade aufgrund des geringen Fußgängerverkehrs und der Breite des Weges eine erhöhte Aufsichtspflicht bestanden. Eine Antwort, vor allem in Hinblick auf den Regelungsgedanken von § 2 Abs. 5 StVO, unter welchen örtlichen Verhältnissen das grundsätzlich verkehrstüchtige Kind mit einem gewissen Ab-
473 474 475 476
KG MDR 1997, 840 v. 03.03.1997. Palandt/r/iomos, § 832 Rn. 8. Pardey, DAR 2001, 1 (3). Haberstroh, VersR 2000, 812 (814).
§ 3 Die Entwicklung der Aufsichtsanforderungen
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stand zu seinen Eltern hätte fahren dürfen, bleibt der Senat schuldig. Diesbezüglich ist die Kritik von Haberstroh zutreffend. Das AG Meldorf verweist darauf, dass es bei der Befolgung der Regeln der StVO zu einer räumlichen Trennung von Mutter und minderjährigem Kind kommen kann. Obwohl dies für ein 5-jähriges Kind zusätzliche Gefahren birgt, kann der Mutter nicht zugemutet werden, deshalb gegen die StVO zu verstoßen 477 . Ternig merkt an, dass Kinder bis zur Vollendung des achten Lebensjahres auch dann den Gehweg benutzen müssen, wenn ein Radweg vorhanden ist. Deshalb könne sich im Einzelfall eine problematische Verkehrssituation ergeben, wenn die Fuß- und Radwege getrennt sind und eine Familie einen Ausflug mit dem Fahrrad macht 478 . In einem Fall des BGH begleitete die beklagte Mutter verbotswidrig ihre auf einem Sonderweg für Fußgänger radelnde 7!/2-jährige Tochter. Die Aufsichtspflicht wurde dabei durch § 2 Abs. 5 StVO modifiziert. In die Verantwortung der Mutter fiel es nach dem Normzweck von § 2 Abs. 5 StVO nicht, Dritte auf dem Weg vor solchen Gefahren zu bewahren, die der Gesetzgeber mit dieser Regelung bewusst in Kauf genommen hat. Vielmehr musste die beklagte Mutter die von ihr ausgehende Gefahr neutralisieren, die sich für andere Verkehrsteilnehmer gerade daraus ergab, dass sie ihre Tochter auf dem Weg begleitete479. Bei einer Gruppenfahrt mit dem Rad muss der Aufsichtspflichtige nach einem Urteil des OLG Zweibrücken stets auf die Einhaltung ausreichender Sicherheitsabstände achten 480 .
477
AG Meldorf DAR 1987, 388 v. 10.09.1986. Die Mutter fuhr mit ihrem Rad auf der Straßenseite. Rechts neben ihr befand sich kein Fuß- oder Radweg. Ihr 5-jähriger Sohn musste deshalb aufgrund von § 2 Abs. 5 StVO den auf der linken Straßenseite befindlichen Fußweg befahren. 478 Temig, DAR 2002, 105. 479 BGH LM Nr. 17 zu § 832 BGB (= NJW-RR 1987, 1430 [1431 f\) v. 07.07.1987. Die Beklagte nahm mit ihrer Tochter an einer Radwanderfahrt eines Sportvereins teil. Als sich zwischen der vorausfahrenden Beklagten und ihrer Tochter weitere Radfahrer befanden, kam ihnen die Klägerin ebenfalls auf einem Fahrrad entgegen. Unmittelbar vor der Begegnung mit der Klägerin scherte die Tochter aus und fuhr gegen deren Rad, wodurch diese stürzte. Der Senat bejahte aus § 832 Abs. 1 BGB eine Haftung zu einer Quote von 25%. Die vorausfahrende Beklagte hatte ihre Tochter, die engen Kontakt zu ihr halten wollte, aufgefordert, immer hinter ihr zu bleiben. Durch diese Äußerung und ihr Vorrausfahren forderte sie das Kind zu dem gegenständlichen Überholmanöver heraus, weshalb die 7l/2-Jährige ihren den Unfall verursachenden Überholversuch nicht als gefahrlich erkannte. 480 OLG Zweibrücken NJW-RR 2000, 1191 (1192) v. 25.08.1999.
1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
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4. Minderjährige
Kraftfahrzeugführer
a) Im Besitz einer entsprechenden Fahrerlaubnis Die Erteilung eines Führerscheins hat keinen Einfluss auf den Bestand der elterlichen Aufsichtspflicht 481 . Durch die Herabsetzung des Volljährigkeitsalters in § 2 BGB durch das VolljkG 4 8 2 zum 01.01.1975 vom 21. auf das 18. Lebensjahr hat dieser Grundsatz jedoch an praktischer Bedeutung eingebüßt. So durften bei einem 19-jährigen Kraftfahrer die Anforderungen nach Ansicht des OLG Nürnberg nicht überspitzt werden, so dass dieser in Bezug auf die Führung des Autos keiner außergewöhnlichen Aufsicht bedurfte 483. Dem OLG Frankfurt/M. genügte das bloße Verbot eines Vaters gegenüber seinem 19jährigen Sohn, ein nicht haftpflichtversichertes Auto zu nutzen, nicht. Um einer Haftung aus § 832 Abs. 1 BGB zu entgehen, hätte er dieses Verbot auch durchsetzen müssen484. Das OLG Celle nahm eine Aufsichtspflichtverletzung der beklagten Mutter an, weil sie ihren sonst folgsamen und wohlerzogenen 19jährigen Sohn, dem sie eigenmächtige Autofahrten allgemein untersagt hatte, über Nacht auf einem Campingplatz mit dem Fahrzeug und den Schlüsseln allein ließ 485 . Hingegen lag nach Auffassung des LG Bielefeld keine Aufsichtspflichtverletzung vor, als Eltern ihrem 19-jährigen Sohn einen Pkw für eine Vergnügungsfahrt zur Verfügung stellten und der Sohn einen Unfall verursachte 486 . Der BGH befand, ein Vater, dem der vorhergehende Alkoholgenuss seines 19!/2-jährigen Sohnes bekannt ist, müsse zur Erfüllung der Aufsichtspflicht die weitere Benutzung eines Autos im Zustand der alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit unterbinden 487. In einem Fall des OLG Nürnberg wusste der beklagte Vater dagegen nicht, dass sein 19 Jahre alter Sohn im stark angetrunkenen Zustand einen Pkw führte und es bestand für ihn auch kein dahingehender Anhaltspunkt. Der Senat verneinte deshalb eine Haftung aus § 832 Abs. 1 BGB 4 8 8 . In einer frühen Entscheidung v. 17.04.1952 vertrat der BGH die Ansicht, ein Aufsichtspflichtiger, der seinem H^-jährigen Sohn ein Kleinkraftrad überlässt,
481
BGH LM Nr. 2 zu § 832 BGB (= LM Nr. 9 zu § 546 ZPO = VersR 1952, 238 [239]) v. 17.04.1952; OLG Frankfurt/M. VersR 1955, 550 f v. 18.05.1954. 482 VolljkG v. 31.07.1974, BGBl I S. 1713. 483 OLG Nürnberg VersR 1958, 118 v. 21.06.1956. 484 OLG Frankfurt/M. VersR 1955, 550 (551) v. 18.05.1954. 485 OLG Celle NJW 1966, 302 (304) v. 12.07.1965 mit kritischer Anm. Dum NJW 1966, 302. 486 LG Bielefeld MDR 1968, 1010 v. 31.01.1968. 487 BGH LM Nr. 1 zu § 832 BGB (= VersR 1952, 53 [54]) v. 29.11.1951. 488 OLG Nürnberg VersR 1955, 90 f v. 20.09.1954.
§ 3 Die Entwicklung der Aufsichtsanforderungen
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muss dessen Fahrweise von Zeit zu Zeit unauffällig und unbemerkt kontrollie-
b) Ohne Besitz einer entsprechenden Fahrerlaubnis Der BGH urteilte 1954: Hat ein Vater seinen 143/4-jährigen Sohn mehrmals angewiesen, auf seinem Hof mit einem Lieferwagen zu fahren, darf er diesen außerhalb des Betriebsgeländes trotz eines ausgesprochenen Fahrverbotes nicht mit den Autoschlüsseln allein im Wagen lassen. Durch die Fahranweisungen hat er sein Verbot selbst erheblich abgeschwächt und seiner Wirkung beraubt 490 . Im vom OLG Stuttgart entschiedenen Fall hatten die beklagten Eltern ihren 14-jährigen Sohn mehrmals bei Feldarbeiten und auf Feldwegen einen Traktor fahren lassen. Der Junge hatte sich an das Verbot seiner Eltern, wegen der fehlenden Fahrerlaubnis den Traktor nicht auf öffentlichen Straßen zu fahren, gehalten. Der Senat entlastete deshalb die Eltern, als ihr Sohn mit dem Traktorschlüssel auf einer Baustelle eine Planierraupe in Gang setzte und dabei einen Motorschaden verursachte. Ein Verstecken des Schlüssels bzw. ein besonderes Verbot fremde Fahrzeuge zu benutzen, hielt das OLG aufgrund des Vorverhaltens des Jungen für nicht geboten491. Das OLG Celle verurteilte eine Mutter aus § 832 Abs. 1 BGB, weil sie ihrem knapp 18-jährigen Sohn, der trotz fehlender Fahrerlaubnis einen Hang zum Führen von Kraftfahrzeugen besaß, die Zweitschlüssel eines vor der Haustür parkenden Pkw ausgehändigt hatte. Ihre Aufsichtspflicht bestand gerade darin, den unbefugten Kraftfahrzeuggebrauch ihres Sohnes zu verhindern 492 . Nach Ansicht des OLG München muss die Mutter den Schlüssel ihres vor dem Haus stehenden Pkws so aufbewahren, dass dieser für ihren 18-jährigen Sohn auch während ihrer Abwesenheit unzugänglich ist 493 . Das OLG Köln befand, ein Vater muss umfassende Sicher489
BGH LM Nr. 2 zu § 832 BGB (= LM Nr. 9 zu § 546 ZPO = VersR 1952, 238 [239]) v. 17.04.1952. In einer anderen BGH Entscheidung (VersR 1958, 168 [169] v. 17.12.1957) hatte ein 16-Jähriger einen Hilfsmotor an sein Fahrrad moniert, den sein beklagter Vater in einem Schuppen verwahrte. Der Senat entlastete den Vater, weil dieser seinem Sohn die Montage eindringlich verboten hatte. 490 BGH VersR 1954, 558 (559) v. 29.09.1954. 491 OLG Stuttgart VersR 1966, 860 v. 30.06.1964. Hat ein Vater gegenüber seinem 20-jährigen Sohn ein Benutzungsverbot für ein Kleinkraftrad ausgesprochen, kann er ohne entgegenstehenden Anhaltspunkt von der weiteren Beachtung dieses Verbotes ausgehen (BGH VersR 1952, 279 v. 21.05.1952). Der Senat verurteilte den Vater aber aus § 823 Abs. 1 BGB, weil er das fahrbereite Krad für seinen Sohn frei zugänglich aufbewahrte. 492 OLG Celle VersR 1961, 739 (740) v. 05.01.1961. 493 OLG München VersR 1960, 1055 v. 14.07.1960. Die beklagte Mutter hatte den Schlüssel in einer verschlossenen Kassette aufbewahrt. Beim Suchen nach einem ande-
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
heitsmaßregeln treffen, um die Schwarzfahrt seines schwer erziehbaren 17!/2jährigen Sohnes zu verhindern. Obwohl der Vater den Zündschlüssel seines Pkws abgezogen, die Türen abgeschlossen und ihn in einer verschlossenen Garage abgestellt hatte, nahm der Senat eine Aufsichtspflichtverletzung an, weil der Sohn jederzeit Zutritt zu der Garage hatte 494 . In einem Urteil des OLG München vom 10.04.1984 war der minderjährige Sohn, der schon wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis verurteilt worden war, mit einem auf dem Hof abgestellten, nicht zugelassenen und versicherten Pkw herumgefahren. Das OLG hielt das Verstecken der Zündschlüssel im Wohnzimmer und die Entleerung des Tanks für nicht ausreichend und verurteilte die Eltern aus § 832 Abs. 1 BGB. Da die Eltern um das Interesse ihres Sohnes für das Auto wussten, hätten sie zur Erfüllung der Aufsichtspflicht die Schlüssel persönlich verwahren müssen oder am Pkw selbst Eingriffe vornehmen müssen, die es dem Sohn unmöglich machten, den Motor in Gang zu setzen495. In einer Entscheidung des OLG Hamm war der 16-jährige Sohn der beklagten Eltern mit einem nicht haftpflichtversicherten Kraftrad herumgefahren, ohne im Besitz der erforderlichen Fahrerlaubnis gewesen zu sein. Obwohl die Eltern die gesetzlichen Vermutungen des § 832 Abs. 1 BGB nicht widerlegen konnten, wies der Senat die Klage des bei einem Unfall verletzten Beifahrers wegen erheblichem Eigenverschulden ab. Denn für ihn war die konkrete Gefährdung erst dadurch entstanden, dass er sich entschloss, trotz der vorgenannten Umstände bei dem aufgrund vorherigen Alkoholgenusses zudem absolut fahruntauglichen 16-Jährigen mitzufahren 496.
IV. Alleinlassen von Kindern 1. Im öffentlichen
Verkehrsraum
Eltern verletzen ihre Aufsichtspflicht, wenn sie ihre zwischen zweieinviertel und zweidreiviertel Jahre alten Kinder ohne ständige Aufsicht mit unmittelba-
ren Gegenstand fand ihr Sohn im Bücherschrank den Kassettenschlüssel. Er öffnete die Kassette und entdeckte den Wagenschlüssel. Der Senat bejahte eine Aufsichtspflichtverletzung. Hingegen begründet es nach Ansicht des BGH (NJW 1984, 1463 f v. 18.01.1984) noch keinen Schuldvorwurf, wenn Eltern den Autozündschlüssel offen am Schlüsselbrett hängen lassen. Zu besonderen Vorsichtsmaßregeln sind sie erst verpflichtet, wenn ein konkreter Anlass für die Befürchtung besteht, dass der Sohn mit dem Fahrzeug heimlich eine Fahrt unternehmen würde. Der Senat verneinte deshalb Ansprüche der Geschädigten aus §§ 823, 831 BGB. 494 OLG Köln JMB1N-W 1959, 205 f v. 05.06.1959. Der Sohn hatte sich heimlich in den Besitz eines Reserveschlüssels gesetzt. 495 OLG München MDR 1984, 757 (758) v. 10.04.1984. 496 OLG Hamm r+s 1982, 227 (229) v. 10.03.1981.
§ 3 Die Entwicklung der Aufsichtsanforderungen
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rer Eingriffsmöglichkeit auf der Straße spielen lassen497. Kleinkinder dieses Alters können aufgrund ihres natürlichen Entwicklungsstandes die Gefahren des Straßenverkehrs noch nicht ermessen und sich ausreichend dagegen vorsehen. Eher großzügig bemaß dagegen das OLG Bremen das Aufsichtsmaß in einer Entscheidung v. 25.05.1956. Danach genügt die Mutter ihrer Aufsichtspflicht, wenn sie in kurzen Abständen nach ihrem in einer verkehrsarmen Sackgasse spielenden 2-jährigen Kind sieht 498 . Kann eine 3-Jährige gefahrlos vom Spielplatz die elterliche Wohnung erreichen, muss ihre Mutter nicht damit rechnen, dass sie im Gegensatz zu ihren anderen Geschwistern vom Weg abweicht und über die Straße läuft 499 . Wiederholt betonten die Gerichte, dass den Kindern die Möglichkeit zum Aufenthalt und Spiel im Freien erhalten bleiben bzw. ein Einsperren in der Wohnung vermieden werden müsste500. In älteren Urteilen hielten das LG Berlin 501 und der BGH 5 0 2 bei normal entwickelten 4- bzw. 5jährigen Kindern neben regelmäßigen Verboten die Straße zu betreten ein gelegentliches Hinausblicken aus der Wohnung für genügend. Den Eltern konnte nach Ansicht der Gerichte nicht zugemutet werden, dauernd aus der Wohnung 497
BGH VersR 1979, 421 v. 16.01.1979 (Revisionsentscheidung zu OLG München VersR 1977, 729 v. 15.10.1976); OLG Frankfurt/M. ZfS 1993, 116 (117) v. 28.10.1992; OLG Oldenburg NJW-RR 1995, 983 v. 12.04.1994 (vgl. 1. Teil § 1 III 1 a). In den Urteilen wird die Aufsichtspflichtverletzung im Rahmen von Regressansprüchen gegen die Aufsichtspflichtigen bzw. unter § 823 Abs. 1 BGB geprüft. 498 OLG Bremen VersR 1958, 64 v. 25.05.1956. Die 2-Jährige hatte sich auf die Bordsteinkante gesetzt, wo sie von einem Lkw angefahren wurde. Kein Fall des § 832 BGB. 499 LG Mainz VersR 1976, 548 v. 05.06.1975. Ebenso muss die Mutter eines folgsamen 3-jährigen Kindes nicht damit rechnen, dass es, statt aus einer benachbarten Wohnung nach Hause zu kommen, über eine Straße läuft (OLG Stuttgart VersR 1963, 888 v. 29.06.1961). 500 BGH LM Nr. 5 zu § 832 BGB, abgedruckt als LM Nr. 5 zu § 683 BGB (= VersR 1957, 340 [341]) v. 19.03.1957; OLG Hamm MDR 1967, 685 v. 13.04.1967; NJW-RR 1997, 344 v. 29.10.1996; LG Berlin VersR 1954, 439 v. 29.06.1954; LG Lüneburg VersR 1954, 533 v. 16.09.1954; LG Passau VersR 1956, 428 v. 04.04.1956; LG Saarbrücken NJW-RR 1991, 543 (544) v. 07.11.1990; AG Rendsburg VersR 1966, 839 v. 03.01.1966. 501 LG Berlin VersR 1954, 439 v. 29.06.1954. Der Sohn hatte ein Auto mit einem Holzklotz zerkratzt. In einer älteren Entscheidung des KG (VAE Bd. 7 Nr. 224, S. 168 v. 22.12.1938) ließ eine Mutter ihr 3-jähriges Kind allein auf dem Gehweg einer Nebenstraße spielen. Der Senat verneinte im Rahmen der Mitverschuldensprüfung eine Aufsichtspflichtverletzung. Eine ständige Begleitung des Kindes auf der Straße würde danach die Anforderungen an die Aufsichtspflicht überspannen. A. A. OLG Celle RdK 1933 Nr. 17, S. 47 v. 11.11.1931 (Prüfung im Rahmen des Mitverschuldens); LG Bielefeld VersR 1954, 260 v. 17.03.1954, wonach sich ein 4jähriges Kind nicht ohne Aufsicht auf der Straße aufhalten darf. 502 BGH LM Nr. 5 zu § 832 BGB, abgedruckt als LM Nr. 5 zu § 683 BGB (= VersR 1957, 340 [341]) v. 19.03.1957 (vgl. 1. Teil § 1 III 1 c bb). Das OLG Celle (NJW 1970, 202 v. 05.06.1969) hielt eine ständige Beaufsichtigung von 4- bis 5jährigen Kindern ebenfalls für nicht geboten.
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
das Treiben und Spielen ihrer Kinder auf der Straße zu überwachen 503. In neueren Entscheidungen präzisierten die Gerichte den Zeitabstand zwischen den Kontrollen. Mehrheitlich wurde eine Aufsichtspflichtverletzung verneint, wenn die Eltern in Abständen von 15 504 bis 30 5 0 5 Minuten das Spiel ihrer bisher unauffälligen 5-jährigen Kinder auf dem Bürgersteig überwacht hatten. Dagegen verurteilte das LG Lüneburg Eltern 1997 aus § 832 Abs. 1 BGB, weil sie das Spiel ihrer 4-jährigen Tochter auf einer öffentlichen Straße nur mit Unterbrechungen von fiinf Minuten aus dem Fenster beobachtet hatten. Die 4-Jährige lief auf ein privates Grundstück und zerkratzte mit einem Stein ein Auto, indem sie damit auf dem Lack „schrieb" und „malte". Dieses Verhalten ist nach Auffassung der Kammer keinesfalls atypisch und damit nicht fernliegend, so dass deshalb verständigen Eltern eine ständige Aufsicht an Ort und Stelle zumutbar war 506 . Bei einem normal entwickelten 6-jährigen Kind, welches bisher noch nicht durch Schädigungen Dritter aufgefallen ist, genügt es, sein Spiel auf dem Gehweg gelegentlich zu beobachten507. Dieses Aufsichtsmaß gilt natürlich erst recht für ältere Kinder 508 bzw. ist noch großzügiger zu bemessen509. Wegen der besonderen Gefährdung der an-
503 Dahlgrün (S. 148) hält das für fraglich. Gerade das Gegenteil, nämlich eine ständige Beaufsichtigung, ist nach ihrer Ansicht zumutbar. 504 OLG Hamm NJW-RR 1997, 344 v. 29.10.1996; AG Starnberg VersR 1988, 637 v. 08.03.1988: Jedoch muss sich der Aufsichtspflichtige zuvor einmal über das Treiben der Kinder vergewissert haben (Beschädigung eines Pkw auf einem Campingplatz durch einen Steinwurf). Eine nicht näher präzisierte Beobachtung in regelmäßigen Abständen halten die AGe Aalen (r+s 1987, 226 v. 18.12.1985, Umstoßen eines Kraftrades) und Bersenbrück (VersR 1994, 108 v. 03.03.1993, vgl. 1. Teil § 3 III 3 a bb) für ausreichend. 505 LG Saarbrücken NJW-RR 1991, 543 (544) v. 07.11.1990 (vgl. 1. Teil § 4 I 3 b); LG Mainz DAR 1998, 143 v. 23.07.1997 (Beschädigung eines parkenden Pkw). 506 LG Lüneburg VersR 1999, 102 v. 09.01.1997 (vgl. 2. Teil § 4 IV 2). Haberstroh (VersR 2000, 806 [813]) kritisiert die Begründung des LG als formelhaft und falsch. Es sei keinesfalls alltäglich, dass Kinder Autos „bemalen", und die Vorhersehbarkeit liege ebenso wenig auf der Hand. Für das LG Frankfurt/M. (NJW-RR 1986, 112 v. 28.08.1985) erscheint das Zerkratzen von Fahrzeugen mit Kugelschreibern so ungewöhnlich, dass Eltern von 6-jährigen Kindern nicht damit zu rechnen brauchen. 507 OLG Köln FamRZ 1962, 124 (125) v. 31.10.1961; OLG Frankfurt/M. VersR 1980, 236 v. 26.06.1979 (Prüfung der Aufsichtspflichtverletzung im Rahmen eines etwaigen Mitverschuldens); LG Lüneburg VersR 1954, 533 v. 16.09.1954; LG Frankfurt/M. NJW-RR 1986, 112 v. 28.08.1985; AG Rendsburg VersR 1966, 839 (840) v. 03.01.1966. A. A. OLG Dresden HRR 1940 Nr. 606 v. 28.12.1939. Danach muss eine Mutter ihr 5%-j ähriges Kind beim Spielen auf einem nicht erhöhten Fußweg ständig beaufsichtigen. 508 LG Passau VersR 1956, 428 v. 04.04.1956: 8 Jahre; OLG München VersR 1970, 232 (234) v. 21.11.1969: 7 Jahre.
§ 3 Die Entwicklung der Aufsichtsanforderungen
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deren Verkehrsteilnehmer muss ein Vater die Beteiligung seines 13^-jährigen Sohnes am Fußballspiel auf der Straße unterbinden. Durch überraschende Kontrollen hat dabei der Vater die Einhaltung seines ausgesprochenen Verbotes zu überprüfen und bei Zuwiderhandlung mit aller Strenge durchzusetzen 510. Dagegen muss eine Mutter nicht damit rechnen, dass ihr 11-jähriger Sohn nach der Aufforderung des Nachbarn, nicht vor seiner Wohnung Ball zu spielen, diesem sein gesamtes Auto mit einem Nagel zerkratzt. Ist ihr Sohn bisher noch nicht durch Sachbeschädigungen aufgefallen, erfüllt sie ihre Aufsichtspflicht, indem sie sich durch eine Zurechtweisung der Ermahnung des Nachbarn anschließt511.
2. In Haus und Garten In dieser Kategorie wurden die Schadenssituationen erfasst, in denen das Kind aus Haus oder Garten in den Außenbereich bzw. auf die Straße gelangen konnte. Da Kinder im Alter von drei Jahren gegenüber Weisungen, Ermahnungen und Vorstellungen von Gefahren nicht mehr unzugänglich sind, können die Eltern nach Auffassung des OLG Hamm darauf vertrauen, dass sie wenigstens für eine kurze Zeitspanne ein eindringlich gegebenes Verbot zum Verlassen des Hofraumes beachten512. Deshalb genügen Eltern ihrer Aufsichtspflicht, wenn ihr in einem umzäunten Garten spielendes 31/2-jähriges Kind in Abständen von 5 bis 10 Minuten überwacht wird 5 1 3 . Besteht für ein 33/4-jähriges Kind die Möglichkeit, ohne weiteres aus dem Garten auf die Straße zu gelangen, genügt nach Auffassung des LG Mönchengladbach eine gelegentliche Kontrolle durch die Aufsichtsperson nicht 514 . Nach einer Entscheidung des LG Bielefeld aus dem
509 OLG Freiburg VersR 1954, 87 v. 12.11.1953: 10 Jahre (unbeaufsichtigter Besuch einer Kinderveranstaltung); LG Augsburg VersR 1957, 307 v. 25.10.1956: 14 Jahre (unbeaufsichtigtes Spiel auf der Straße). 510 BGH VersR 1961, 998 (999) v. 19.09.1961. Durch den Ball kam eine Radfahrerin zu Fall. Da sich der Sohn trotz des Verbotes immer wieder am Spiel beteiligt hatte, verurteilte der BGH den Vater aus § 832 Abs. 1 BGB. Das RG (Warn 1916 Nr. 80, S. 127 f v. 28.01.1916) nahm eine Aufsichtspflichtverletzung eines Lehrers aus § 839 BGB an, der seine Schüler auf einem öffentlichen Weg Fußballspielen ließ. 5.1 AG Köln VersR 1997, 492 (493) v. 12.06.1996. 5.2 OLG Hamm MDR 1967, 685 v. 13.04.1967. Es handelt sich um ein Strafrechtsurteil. 513 BGH LM Nr. 8c (= VersR 1968, 903 [904]) v. 11.06.1968; LG Bielefeld ZfS 1996, 171 v. 28.09.1995. Im BGH-Fall war die 3'/2-Jährige auf die Straße gelangt und vor ein Krad gelaufen; in der Entscheidung des LG hatte sie - ohne zuvor durch Sachbeschädigungen aufgefallen zu sein - mit einem Stein ein Auto zerkratzt. 514 LG Mönchengladbach NJW 1968, 1970 (1971) v. 19.03.1968. Die den Garten umgebende dichte Hecke besaß an einer Stelle eine Öffnung, durch die das Kind auf die Straße gelangte (vgl. 1. Teil § 3 V 2 c). Ebenso: OLG Nürnberg VersR 1973, 720 (721) v. 02.08.1972.
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
Jahr 1954 müssen Eltern Vorkehrungen treffen, damit sich ihre 4-jährige Tochter nicht unbemerkt aus dem Haus entfernen kann 515 . In dem der Entscheidung des OLG Düsseldorf v. 21.11.1988 zugrunde liegenden Sachverhalt hielt sich der 3-jährige Sohn mit seinem Vater in der elterlichen Wohnung auf. Unbemerkt von seinem Vater öffnete er die unverschlossene Wohnungstür und begab sich in den Garten, der das Haus umgab und zur Straße hin unverschlossen war. Von dort lief er auf die Fahrbahn der Straße, obwohl die maßgebliche Fußgängerampel „Rot" zeigte. Dort berührte der Kläger den 3-Jährigen mit seinem Leichtkraftrad und stürzte deshalb. Das OLG verurteilte den Vater aus § 832 Abs. 1 S. 1 BGB. Es sah die Aufsichtspflicht als verletzt an, weil der 3Jährige ungehindert die zu ebener Erde liegende Wohnung verlassen konnte. Es hätte einer zusätzlichen Absicherung der Wohnung zur Erfüllung der gebotenen Aufsicht bedurft, da auch der Garten nach außen nicht ausreichend verschlossen war. Der Vater hätte deshalb die Wohnungstür absperren müssen. Denn er musste nach Auffassung des Senats bei seinem 3-jährigen Kind stets damit rechnen, dass es aus eigenem Antrieb oder verleitet durch andere Kinder das Grundstück verlässt und auf die öffentliche Straße läuft. Weil in diesen Fällen mit der Selbstgefährdung des Kindes regelmäßig auch eine Gefährdung Dritter einhergeht, durfte der Vater seinem Sohn nicht die Möglichkeit zum Verlassen des Hauses eröffnen 516 . Das AG Ansbach hält es hingegen in seinem Urteil v. 02.04.1993 bei einem nicht eingefriedeten Grundstück für ausreichend, ein 4-jähriges Kind in Intervallen von zehn bis 15 Minuten zu kontrollieren 517 . Auf einem Freizeitgelände genügt eine Tennis spielende Mutter ihrer Aufsichtspflicht, wenn sie ihr 4,/2-jähriges Kind stichprobenartig beaufsichtigt 518 . Fünf bis sechs Jahre alte Kinder dürfen auch ohne ständige Aufsicht in einem offenen Hof bzw. Garten spielen 519 . Es genügen dabei Überwachungsintervalle von 30 Minuten, da ihnen infolge ihres Alters und ihrer notwendigen Entwicklung zur Selbstständigkeit ein entsprechender Freiraum zuzubilligen
515
LG Bielefeld VersR 1954, 260 v. 17.03.1954. Die 4-Jährige kletterte unbemerkt in den vor dem Haus stehenden, unverschlossenen Wagen ihres Vaters. Als ein Radfahrer am Wagen vorbeifuhr, öffnete sie die Tür, wodurch der Radfahrer zu Fall kam. 5,6 OLG Düsseldorf r+s 1990, 372 fv. 21.11.1988. Für Schlegelmilch (ZAP Fach 2, S. 121 [128], IV 4) zeigt das Urteil, wie weit die Aufsichtspflicht geht und wie schwer die Entlastung für die Eltern sein kann. 517 AG Ansbach VersR 1994, 1197 L v. 02.04.1993. 518 OLG Karlsruhe VersR 1979, 58 v. 14.12.1977 (vgl. 1. Teil § 4 I 3 b). 519 LG Lüneburg VersR 1954, 533 v. 16.09.1954; LG Kiel VersR 1957, 812 v. 16.05.1957; LG Hildesheim r+s 1985, 174 v. 14.03.1985. Für acht bis zehn Jahre alte Kinder hielt das AG Wilhelmshaven (VersR 1957, 187 v. 10.11.1955) eine gelegentliche Beobachtung für genügend. Bestehen keine Anhaltspunkte für das Vorliegen besonderer Umstände (Besitz eines Pusterohrs), muss nach Ansicht des AG Mellrichstadt (VersR 1955, 464 v. 12.07.1954) ein 8-Jähriger auf einem Spielplatz nicht beaufsichtigt werden.
§ 3 Die Entwicklung der Aufsichtsanforderungen
1
ist 520 . Diese für altersgemäß entwickelte Kinder geltenden Grundsätze lassen sich aber nicht auf schwer erziehbare Minderjährige übertragen. Auf einem unübersichtlichen Hofgrundstück genügen Erzieherinnen ihrer Aufsichtspflicht deshalb nicht, wenn sie nach schwererziehbaren 11- bzw. 13-Jährigen nur in halbstündigen Abständen schauen. Außergewöhnliche Eigenarten und Gefahren erfordern im Einzelfall ein außergewöhnliches Maß an Aufsicht bis hin zu einer ständigen Überwachung 521 . Abschließend sei auf eine Entscheidung des LG Potsdam v. 12.08.2002 verwiesen. Die 2- und 4-jährigen Kinder blieben an einem Sonntagmorgen um 6.00 Uhr in ihrem Kinderzimmer in der dritten Etage eines Wohnhauses, warfen aber aus einem Fenster Spielzeug auf den öffentlichen Parkplatz vor dem Haus. Dadurch beschädigten sie den Pkw der Klägerin. Das LG Potsdam wies die Klage ab; die beklagte Mutter hatte ihrer Aufsichtspflicht genügt. An dem streitgegenständlichen Sonntagmorgen gegen 6.00 Uhr bestand für sie keine rechtliche Verpflichtung, zum Zwecke der Beaufsichtigung der beiden Kinder in deren Zimmer anwesend zu sein oder durch andere Maßnahmen eine Überwachung des Kinderzimmers sicherzustellen oder ein Öffnen der Fenster durch die Kinder zu verhindern. Die beiden Kinder hatten in ihrem Verhalten vor diesem Vorfall keine Auffälligkeiten gezeigt. Ihr Entwicklungsstand entsprach vollauf dem eines normalen 2- bzw. 4-jährigen Kindes. Daher gab es zum damaligen Zeitpunkt für die Mutter keinen Anlass, ihre Kinder zur Vermeidung einer nur theoretischen Gefahr für fremde Rechtsgüter auch zu den üblichen Schlafenszeiten - gleichsam „rund um die Uhr" - das Kinderzimmer zu überwachen oder das Öffnen der Fenster technisch unmöglich zu machen. Höhere Anforderungen an das Maß der Aufsicht - etwa eine regelmäßige Kontrolle des Kinderzimmers ab 6.00 Uhr an einem arbeitsfreien Tag - waren nach Ansicht der Kammer nach vernünftigen Anforderungen an keinen verständigen Aufsichtspflichtigen zu stellen 522 .
520
AG Ansbach VersR 1994, 1197 L v. 02.04.1993. AG Flensburg NJW-RR 1999, 1041 f v. 05.11.1998. Die beiden Aufsichtsbedürftigen entwichen unbemerkt aus einem Kinderheim für schwererziehbare, verhaltensauffällige Kinder und zerstörten einen Wohnwagen. Der 13-Jährige befand sich erst seit kurzem in der Einrichtung, der 11-Jährige war neben anderen Verhaltensauffälligkeiten bereits häufiger ausgerissen. 522 LG Potsdam NJW-RR 2002, 1543 (1544) v. 12.08.2002. Erheblich härter in den Anforderungen an die Aufsichtspflicht: OLG Hamm VersR 1999, 843 (845) v. 11.02.1999 (vgl. 1. Teil §3 II 1 abb). 521
1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
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3. Im Auto Ein Mutter darf ihre vier Jahre alte Tochter - auch nicht kurzzeitig nach einer entsprechenden Belehrung - allein in einem unverschlossenen Auto an einer Bundesstraße zurücklassen. Zur Erfüllung ihrer Aufsichtspflicht hätte sie ihre Tochter im Auto einschließen oder mitnehmen müssen523. So darf nach Ansicht des OLG Oldenburg ein Vater seine drei Söhne im Alter von zehn, neun und fünf Jahren auch dann nicht allein in einem am Fahrbahnrand einer Bundesstraße abgestellten unverschlossenen Pkw zurücklassen, wenn er die älteren Geschwister auf die besonderen Gefahren des Straßenverkehrs hinweist und ihnen aufgibt, auf den 5-Jährigen aufzupassen. Damit überfordert er die beiden älteren Kinder 524 . Vor dem Aussteigen seiner 9-jährigen Tochter aus dem Auto hat sich ihr Vater zu vergewissern, ob das Aussteigen und die Überquerung eines neben dem parkenden Auto verlaufenden Fahrradweges gefahrlos möglich ist. Zumindest muss er seine Tochter darauf hinweisen, den Verkehr auf dem Fahrradweg zu beobachten525. Auch die Mutter einer 11-Jährigen muss damit rechnen, dass ihre Tochter spontan und unüberlegt die zur Straßenseite hin gelegene Tür des parkenden Autos öffnet, um ihr nachzufolgen. Um ihrer Aufsichtspflicht zu genügen, muss sie ein Aussteigen zur Gehwegseite veranlassen oder ein solches auf der zur Straße hin gelegenen Seite durch Türöffnen und Kontrolle des Verkehrs absichern 526. Nach Ansicht des OLG Düsseldorf muss jeder Kraftfahrer damit rechnen, dass ein 4-jähriges Kind, welches unbeaufsichtigt in einem Kfz zurückbleibt, trotz entsprechender Verbote der Versuchung erliegt, an den Schalthebeln zu hantieren 527.
523
OLG Oldenburg VersR 1976, 199 v. 23.04.1975. Die 4-Jährige wollte ihrer Mutter über die Straße hinterherlaufen und wurde von einem Kleinbus erfasst. 524 OLG Oldenburg VRS 41 Nr. 4, S. 10 (11) v. 27.01.1971. Der an einer Nierenkrankheit leidende Vater hatte die Bundesstraße überquert, um auszutreten. Sein 5jähriger Sohn lief ihm über die Straße nach. Ein daraufhin ausweichendes Auto kam von der Straße ab. 525 BGH VersR 1964, 1202 (1203) v. 02.10.1964. Die Tochter stieß beim Aussteigen mit einem Mofa zusammen. Der Senat verurteilte den Vater aus § 832 Abs. 1 BGB. 526 LG Mainz DAR 2000, 273 (274) v. 16.11.1999. Kein Fall des § 832 BGB. Die Aufsichtspflichtverletzung wurde innerhalb der Ansprüche gegen den Haftpflichtversicherer des Pkw geprüft. 527 OLG Düsseldorf OLGR 1992, 58 v. 14.11.1991 (vgl. 1. Teil § 3 V 1 a).
§ 3 Die Entwicklung der Aufsichtsanforderungen
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V. Übertragung der Aufsicht 1. Auf einen nicht originär Verpflichteten a) Die Rechtsprechung Eltern brauchen die Aufsicht über ihre minderjährigen Kinder nicht in eigener Person auszuüben. Sie können ihre Aufsichtspflicht grundsätzlich durch Übertragung an andere Personen erfüllen 528 . Dabei ist es nach nahezu einhelliger Rechtsprechung unerheblich, ob für die Übertragung eine vertragliche Abrede i. S. d. § 832 Abs. 2 BGB getroffen wird oder diese nur tatsächlich erfolgt 529 . Nur das BayObLG befand 1975, Eltern könnten ihrer gesetzlichen Aufsichtspflicht nicht dadurch genügen, dass sie in häufigen Fällen gleichzeitiger ganztätiger Abwesenheit eine nur tatsächliche Beaufsichtigung durch andere herbeiführten, ohne diese - wenn auch nur stillschweigend - zur Beaufsichtigung zu verpflichten. Nur bei einer gelegentlichen Beaufsichtigung von mehreren Stunden seien keine übertrieben hohen Anforderungen zu stellen 530 . Der die Aufsicht Übernehmende ist mit dem OLG Düsseldorf weder als Erfüllungsnoch als Verrichtungsgehilfe der Eltern anzusehen. Er wirkt nicht als Gehilfe bei der Erfüllung einer ihnen obliegenden Verbindlichkeit mit und befindet sich auch nicht in einer abhängigen Stellung zu ihnen 531 . Durch die Übertragung der Aufsicht werden die Aufsichtspflichtigen aber ihrer Pflicht zur Beaufsichtigung nicht gänzlich ledig. Sie können sich deshalb nicht bereits durch die bloße Übertragung ihrer Pflichten entlasten. Die Reichweite der Aufsichtspflicht reduziert sich nach der Konzeption der Rechtsprechung bei jeder Übertragung auf einen Dritten zu einer mittelbaren Aufsichtspflicht, die den Charakter einer Organisationspflicht hat. Eine Haftung der Eltern aus § 832 Abs. 1 BGB kann sich deshalb noch aus der Verletzung der Auswahl- oder Kontrollpflicht ergeben. So kommen Eltern ihrer Auswahlpflicht nur nach, wenn sie eine zuverlässige und gewissenhafte Person mit der 528
BGH LM Nr. 8c zu § 832 BGB (= VersR 1968, 903) v. 11.06.1968. OLG Köln FamRZ 1962, 124 (125) v. 31.10.1961; OLG Celle VersR 1969, 333 (334) v. 08.04.1968; OLG Hamm NJW-RR 1997, 344 v. 29.10.1996; MDR 2000, 454 (455) v. 16.09.1999. 530 BayObLG VersR 1976, 569 (571) v. 07.07.1975. In diese Richtung argumentiert auch das LG Aachen (r+s 1987, 225 [226] v. 10.10.1986). Danach trifft die Eltern der Vorwurf der Aufsichtspflichtverletzung nicht, wenn sie ihre Kinder kurzzeitig den rüstigen Großeltern anvertrauen. 531 OLG Düsseldorf OLGR 1992, 58 v. 14.11.1991. Doppelt fehlerbehaftet ist diesbezüglich ein Urteil des OLG Köln (FamRZ 1962, 124 [125] v. 31.10.1961). Dort bezeichnete der Senat die Großeltern, welche die Aufsicht übernommen hatten, mehrfach als Stellvertreter der beklagten Eltern und prüfte, ob die Eltern für deren „Fehlverhalten einstehen" müssten. 529
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
Aufsicht betrauen 532. Geistig und körperlich rüstige Großeltern werden dabei von den Gerichten durchweg als geeignete Obhutspersonen angesehen533, wobei durch das zum Schaden fuhrende Fehlverhalten nachträglich keine Rückschlüsse auf deren Aufsichtsvermögen gezogen werden können 534 . Auch an umsichtige ältere Kinder kann die Aufsicht übertragen werden 535 . Ein Auswahlverschulden der originär aufsichtspflichtigen Eltern liegt vor, wenn sich in der Vergangenheit gezeigt hat, dass die betraute Person der Situation nicht hinreichend gewachsen war. Anhaltspunkte dafür können sich sowohl aus der Person des die Aufsicht Übernehmenden als auch aus dem Verhalten des Kindes in der Vergangenheit ergeben 536. Demnach sind die Eltern verpflichtet zu kontrollieren, ob der Übernehmende seiner Aufsicht sachgerecht nachgekommen ist 537 . Weiterhin müssen die Eltern die Aufsichtsperson über den Aufsichtsbedürftigen unterrichten und gegebenenfalls entsprechende Weisungen erteilen. Eher großzügig bemaß das OLG Düsseldorf diese Instruktionspflicht. Die Frau des Klägers hatte den 4-jährigen Sohn der Beklagten kurz allein in einem auf abschüssiger Straße geparkten Fahrzeug zurückgelassen. Dieser löste die Feststellbremse und die Automatikparkstellung des Autos, wodurch dieses bergabwärts zurückrollte und gegen ein anderes Auto prallte. Nach Ansicht des Senats waren die beklagten Eltern nicht verpflichtet, die ihnen bekannte Neigung ihres Sohnes, an den Schalthebeln eines Kraftfahrzeuges zu hantieren, zu offenbaren. Mit einem solchen Hantieren müsse ein Kraftfahrer stets bei einem im Auto zurückgelassenen 4-jährigen Kind rechnen 538. Des Weiteren müssen sich die Eltern beim Übernehmenden über das Verhalten ihres Kindes während ihrer Abwesenheit informieren, um gegebenenfalls die sich daraus ergebenden Maß-
532 BGH LM Nr. 8c zu § 832 BGB (= VersR 1968, 903) v. 11.06.1968; LG Heilbronn VersR 1975, 457 v. 05.03.1974; LG Aachen r+s 1987, 225 (226) v. 10.10.1986. 533 OLG Koblenz VersR 1953, 369 v. 08.07.1953; OLG Celle VersR 1969, 333 (334) v. 08.04.1968; OLG Hamm NJW-RR 1997, 344 v. 29.10.1996; LG Aachen r+s 1987, 225 (226) v. 10.10.1986; AG Ansbach VersR 1994, 1197 L v. 02.04.1993. 534 OLG Hamm NJW-RR 1997, 344 v. 29.10.1996; LG Heilbronn VersR 1975, 457 v. 05.03.1974. 535 RG Warn 1912 Nr. 28, S. 31 (33) v. 19.10.1911: Ein 6-Jähriger kann durch seinen älteren, verständigen Bruder überwacht werden. OGHZ 1, 159 v. 14.10.1948: Verständige ältere Geschwister können die Beaufsichtigung übernehmen. OLG München VersR 1954, 544 (546) v. 24.08.1954: Ältere Geschwister können ihren 13-jährigen Bruder beaufsichtigen. LG Oldenburg VersR 1966, 1064 v. 12.11.1965: 9 Jahre alte Schülerin; AG Schweinfurt VersR 1972, 108 L v. 03.03.1970: 11 Jahre alte Schwester; OLG Stuttgart r+s 1984, 256 (258) v. 20.09.1983: Ein 13-Jähriger kann seinen ö^-jährigen Bruder beaufsichtigen. A. A. OLG Oldenburg VRS 41 Nr. 4, S. 10 (11) v. 27.01.1971 (vgl. 1. Teil §3 IV 3). 536 OLG Hamm MDR 2000, 454 (455) v. 16.09.1999. 537 OLG Hamm NJW-RR 1997, 344 v. 29.10.1996. 538 OLG Düsseldorf OLGR 1992, 58 v. 14.11.1991.
§ 3 Die Entwicklung der Aufsichtsanforderungen
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nahmen treffen zu können 539 . Die Eltern erfüllen ihre verbliebene mittelbare Aufsichtspflicht, wenn sie die aufgezeigten Organisationsmaßnahmen vornehmen. Kommt es dennoch durch den Übernehmenden in der Schadenssituation zu einer Aufsichtspflichtverletzung, gereicht sie den Eltern haftungsrechtlich nicht zum Nachteil 540 .
b) Das Schrifttum Nach Ansicht von Albilt (1987) trägt die Rechtsprechung wenig zu einem klaren Verständnis dogmatischer Fragen der Aufsichtsübertragung bei. Entgegen den dort verwandten Formulierungen bestehe für den Zeitraum der Fremdaufsicht keine „Rest-Verpflichtung" des Übertragenden. Das sei ausnahmsweise nur der Fall bei längeren Aufenthalten eines Kindes außerhalb des Elternhauses oder wenn die Fremdaufsicht unter den Augen der Eltern erfolge. Bei der kurzzeitigen Fremdbeaufsichtigung, dem Regelfall, verblieben keinerlei Zusatzpflichten bei den Eltern. Diese seien nur vor Beginn und nach Beendigung der Fremdbetreuung akut 541 . Durch die Übertragung der Aufsicht werden nach Auffassung der Rechtsprechung die Aufsichtsanforderungen an den originär Aufsichtspflichtigen modifiziert, unabhängig davon, ob die Voraussetzungen des § 832 Abs. 2 BGB vorliegen. Diese Inhaltsänderung der Aufsichtspflicht zu einer sog. mittelbaren Aufsichtspflicht ist für den Fall einer nur tatsächlichen Übernahme der Aufsicht im Schrifttum umstritten. Einer Ansicht zufolge ist eine pflichtändernde Wirkung der gesetzlichen Aufsichtspflicht nur bei einer vertraglichen Übernahme möglich, wenn es also hinsichtlich der unmittelbaren Aufsichtspflicht zu einer Substitution kommt 5 4 2 . Sonst werde ein kaum vertretbarer haftungsfreier Raum sichtbar, da die erleichterte Inanspruchnahme der Aufsichtspflichtigen aus § 832 BGB ausscheide. Die Eltern könnten sich entlasten, weil sie durch Übertragung der Obhut die ihnen zumutbare Sorgfalt haben walten lassen, die dritte Person brauche sich nicht entlasten, da es an der für § 832 Abs. 2 BGB erforderlichen rechtsgeschäftlichen Übernahme fehle 543 . Die so entstandene Haftungslücke werde auch nicht durch eine Haftung des Übernehmers gemäß 539 540 541
BGH LM Nr. 8c zu § 832 BGB (= VersR 1968, 903) v. 11.06.1968. BGH LM Nr. 8c zu § 832 BGB (= VersR 1968, 903 f) v. 11.06.1968. Albilt, S. 196 f.
542
Staudinger/Belling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 126; SoergelIZeuner, § 832 Rn. 12; Staudinger/Sc/iö/er, 12. A., § 832 Rn. 38; Deerberg, S. 23 f; Schnitzerling, B1GBW nicht dieser Auffas1978, 28. Entgegen Schoo/(S. 69 Fn. 296) sind Scheffen/Pardey sung zuzurechnen. Zwar sind ihre Ausführungen in Rn. 129 nicht eindeutig, jedoch ergibt sich aus Rn. 136 f, dass sie dem Lösungsansatz der Rechtsprechung zustimmen. 543
Deerberg, S. 23 f.
1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
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§ 823 Abs. 1 BGB geschlossen, weil der Geschädigte beweisrechtlich schlechter gestellt werde 544 . Hingegen stimmt ein großer Teil des Schrifttums der herrschenden Rechtsprechung zu. Danach ist es für die Inhaltsänderung der originären Aufsichtspflicht unerheblich, ob der Dritte die Aufsicht vertraglich oder nur tatsächlich übernommen habe 545 . Das beruhe auf dem Zweck des § 832 BGB, der Dritte vor Schäden seitens minderjähriger Kinder schützen soll. Wesentlich sei dafür allein, dass eine ordnungsgemäße Aufsicht gewährleistet sei 546 . Es sei deshalb unerheblich, wer letztlich die erforderlichen Maßnahmen treffe, weshalb die rechtliche Qualität der Übernahme allein für die Haftungsfrage relevant sei, nicht jedoch für die Pflichterfüllung der Eltern 547 . Für Deutsch und Dahlgrün ist der fehlende Übergang der scharfen Haftung aus § 832 Abs. 1 BGB auch die Konsequenz aus der schmalen legislatorischen Grundlage der Vorschrift. Es sei nicht gerechtfertigt, die Beweislastumkehr auf Personen auszudehnen, welche die Aufsicht ohne Entgelt übernommen hätten 548 . Diese h. M. ist vorzugswürdig. Wie das OLG Hamm in einem Urteil v. 09.06.2000 zutreffend ausgeführt hat, findet die Elternhaftung ihren Grund nicht darin, dass jederzeit eine Haftpflicht im Falle der Schädigung durch ein Kind bereitsteht 549. Das Argument der Gegenansicht, es entstehe durch die Rechtsprechung eine Haftungslücke, kann infolgedessen nicht überzeugen. Belling/Eberl-Borges haben eine Alternativkonzeption zur h. M. aufgezeigt, der sich Hartmann angeschlossen hat. Die Übertragung der Aufsicht auf Dritte lasse danach die Reichweite der Aufsichtspflicht des originär Aufsichtspflichtigen unberührt, weshalb er seine gesetzlich auferlegte Pflichtenstellung nicht durch die Übertragung der Aufsicht zu einer bloßen Organisationspflicht reduzieren könne. Treffe der Dritte die in der konkreten Situation gebotenen Maßnahmen nicht, hafte der die Aufsicht übertragende Aufsichtspflichtige aus § 832 BGB, weil er im Ergebnis nicht die verlangte Aufsicht gewährleistet habe. Denn wer einen an sich gut ausgewählten, trefflich instruierten und kontrollierten, aber in concreto jede gebotene Aufsicht unterlassenden Dritten betraue, der habe die ihm persönlich auferlegte Aufgabe, die konkreten Aufsichtsmaßnahmen zu gewährleisten, gerade nicht erfüllt. § 832 BGB verlange dem Aufsichtspflichtigen nämlich nicht nur die Organisation der Aufsicht ab, sondern vielmehr deren tatsächliche Gewährleistung. § 832 BGB sei so zu verstehen, dass der Aufsichtspflichtige für die tatsächliche Vornahme der Aufsichtsmaß-
544
StaudingerIBelling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 126. Dahlgrün, S. 195 f; Schoof, S. 69; Albilt, S. 185 f; Eckert, 1969, 233 (234;; Schnitzerling, DAR 1967, 151. 546 Dahlgrün, S. 195 f; ebenso Eckert, S. 40. 541 Schoo/, S. 70. 548 Deutsch, JZ 1969, 233 (234); Dahlgrün, S. 196. 549 OLG Hamm MDR 2000, 1373 (1374) v. 09.06.2000. 545
S. 40 f; Deutsch, JZ
§ 3 Die Entwicklung der Aufsichtsanforderungen
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nahmen hafte. Das impliziere eine Einstandspflicht des originär Pflichtigen für seine Hilfspersonen. Dabei handele es sich nicht um die Übernahme des § 278 BGB in das Deliktsrecht, sondern nur um die Anwendung des Gedankens, aus dem § 278 BGB die Konsequenzen ziehe. Jemand, der die Verpflichtung zu einem bestimmten Verhalten übernommen habe, erfülle seine Schuld nicht schon dadurch, dass er einen geeigneten Dritten mit der Erfüllung beauftrage. Weiterhin sei zu bedenken, dass es sich bei § 832 BGB um den Sonderfall einer ausdrücklich normierten außerdeliktsrechtlichen, dem Familienrecht entstammenden Pflicht handele. Die Gesetzesverfasser hätten die Aufsichtspflicht i. S. d. § 832 BGB daher bewusst in die Nähe einer Sonderverbindung gerückt. Daher liege der Gedanke nicht fern, dass der persönlich Verpflichtete seine Pflicht nur durch Vornahme des geschuldeten Verhaltens, nicht aber allein durch die Beauftragung und Instruktion eines zuverlässigen Dritten erfülle, wie es für Sonderverbindungen selbstverständlich sei 550 . Auch Hartmann betont, wo das Gesetz die Verantwortlichkeit ausdrücklich normiere, sei kein Ansatz vorhanden für eine wertende Entpflichtung, gleich welcher Reichweite. Zudem sei es angebracht, das Insolvenzrisiko des übernehmenden Dritten den originär Aufsichtspflichtigen tragen zu lassen. Der Dritte werde sehr häufig finanziell weniger leistungsstark sein als der originär Pflichtige. Dabei werde die Aufsichtspflicht durch die Einschaltung des Dritten reduziert, und als Folge dem Geschädigten in weitem Umfang das Risiko der Insolvenz des Dritten aufgebürdet. Demgegenüber erscheine es angebrachter, das Insolvenzrisiko denjenigen tragen zu lassen, der den Dritten auswähle. Er stehe dem Dritten, den er sich als Vertragspartner ausgewählt habe, näher als der Geschädigte. Im Außenverhältnis ständen dann der originär Aufsichtspflichtige und der Dritte dem Geschädigten als Gesamtschuldner gemäß § 840 Abs. 1 BGB zur Verfügung, während der Dritte im Innen Verhältnis allein hafte 551 . Schoof widerspricht dieser Alternativkonzeption. Bereits die Prämisse sei unzutreffend, da sie zu einer Gefährdungshaftung führe. Die Eltern hätten nicht für den Erfolg ihrer Aufsichtstätigkeit einzustehen, sondern allein dafür, das Ihre dazu getan zu haben, einen günstigen Erfolg herbeizuführen. Trügen die Eltern dafür Sorge, dass die dritte Person die Aufsicht nach den Anforderungen der Rechtsprechung ausführe, hätten sie ihre Aufsichtspflicht erfüllt, ohne dass weitere Handlungen erforderlich wären 552 . Belling/Eberl-Borges haben selbst Argumente gegen ihre Konzeption aufgezeigt. So sei eine unbedingte Einstandspflicht für Dritte, wie sie § 278 BGB ausspreche, zumindest nach h. M. dem Deliktsrecht fremd. Zudem ließe sich auf die Parallele bei den allgemeinen Verkehrssicherungspflichten verweisen, wo man ebenfalls überwie550 551 552
Sidto&mgexlBelling/Eberl-Borges, Hartmann, VersR 1998, 22 (24 f). Schoof, S. 69 f.
§ 832 Rn. 124.
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
gend von einer mit der Übertragung der Garantenstellung verbundenen Verkürzung der Pflicht zu einer Organisationspflicht ausgehe553. Die Alternativkonzeption von Belling/Eberl-Borges ist abzulehnen, die Konzeption der Rechtsprechung ist vorzugswürdig. Doch fuhrt der Ansatz von Belling/Eberl-Borges nicht zu einer Gefährdungshaftung der Eltern, wie von Schoof behauptet. Die Eltern stehen nach dem Lösungsansatz nicht für den Erfolg ihrer Aufsichtstätigkeit ein, sondern vielmehr für die Vornahme der Aufsichtsmaßnahmen durch den Dritten, welche sie sonst in eigener Person vornehmen müssten. Das ist eine konsequente Anwendung der allgemeinen Grundsätze, wonach die Eltern die Vornahme der gebotenen Aufsichtsmaßnahmen sicherstellen müssen. Jedoch führt die gegenständliche Alternativkonzeption zu einer Haftungsverschärfung. Dabei sind viele Eltern auf dritte Personen bei der Beaufsichtigung ihrer Kinder angewiesen. Der Geschädigte ist hingegen durch die Konzeption der Rechtsprechung hinreichend geschützt. Die Anforderungen an die Organisationspflicht der Eltern sind nicht gering. Gegen den beaufsichtigenden Dritten steht dem Geschädigten ein Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB zu, wobei der damit einhergehende Verlust der Beweislastumkehr nicht zu schwer wiegt. Denn die Prüfung der Aufsichtspflichtverletzung ist hier eine andere als gegenüber den Eltern. Deliktsferne, zeitlich mitunter weit zurückliegende, Aufsichtsmaßnahmen wie Ermahnungen, Belehrungen, Überwachungen und Verbote sind für die Prüfung, ob der Dritte seine Aufsichtspflicht erfüllt hat, nicht relevant. Vielmehr werden nur deliktsnahe, d. h. anlässlich der konkreten Schadenssituation vorgenommene, Aufsichtsmaßnahmen für die Prüfung der Aufsichtspflichtverletzung erheblich sein. Insofern ist der aufsichtsführende Dritte nicht in einer beweisnäheren Position als der Geschädigte. Vielmehr entspricht die Haftungssituation den übrigen Fallgruppen der Garantenstellung für eine Gefahrenquelle. Auch steht Art. 6 Abs. 1 GG etwaigen Nachforschungen des Geschädigten zu den vorgenommen Aufsichtsmaßnahmen nicht entgegen, da er bei einer Inanspruchnahme des aufsichtsführenden Dritten nicht ermittelnd in die familiäre Sphäre eindringen muss. Von einer Beweisnot des Geschädigten oder gar einem haftungsfreien Raum 554 kann man daher in dieser Fallkonstellation nicht sprechen.
553 554
Staudinger/Belling/Eberl-Borges, So Deerberg, S. 23.
§ 832 Rn. 124.
§ 3 Die Entwicklung der Aufsichtsanforderungen
2. Die Aufsichtsübertragung
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in der Ehe
a) Die Rechtsprechung Die Beaufsichtigung ihres minderjährigen Kindes obliegt gemäß §§ 1626 Abs. 1, 1631 Abs. 1 BGB grundsätzlich beiden Elternteilen gemeinsam555. Aus der gleichberechtigten Übertragung der elterlichen Sorge auf die Ehegatten bzw. der gemeinsamen Übernahme der nichtehelichen Eltern gemäß § 1626a Abs. 1 BGB folgt, dass jeder Elternteil selbst verpflichtet ist und sich seinen Aufgaben nicht entziehen kann. Die den Tagesablauf begleitende, an dem Verhalten der Kinder ausgerichtete laufende Beaufsichtigung kann aber regelmäßig nur von dem Elternteil ausgeübt werden, der anwesend ist und sie deshalb auch tatsächlich wahrnehmen kann. Ein tagsüber berufstätiger oder aus anderen Gründen nicht nur kurzzeitig abwesender Elternteil ist dagegen während seiner Abwesenheit gar nicht in der Lage, die laufende Beaufsichtigung minderjähriger Kinder durchzuführen. Auch ohne ausdrückliche Absprache ist in diesen Fällen davon auszugehen, dass die Eltern die während dieser Zeiträume auszuübende Aufsicht über die Kinder aufgrund stillschweigender Übereinkunft dem den Haushalt führenden Teil allein übertragen 556. Eine solche familienrechtliche Aufgabenteilung, die zu unterschiedlichen Funktionsbereichen der Eltern führt, ist auch deliktsrechtlich zu akzeptieren. Nahezu einhellig wird dem (berufsbedingt) abwesenden Elternteil deshalb von Schrifttum 557 und Rechtsprechung 558 zugestanden, die ihm obliegende Aufsichtspflicht durch die Übertragung auf den anderen Teil auf eine mittelbare Aufsichtspflicht zu reduzieren. Für diese verbleibende Aufsichtspflicht gelten die oben aufgestellten Grundsätze. Der abwesende Elternteil ist aber noch zur partnerschaftlichen Kommunikation und Vereinbarung der zu treffenden Aufsichtsmaßnahmen verpflichtet. So muss der berufstätige Vater seiner Ehefrau Anweisungen für die Beaufsichtigung geben und mit ihr die Erziehung des Kindes besprechen 559. Das OLG Hamm fordert auch unter Ehegatten eine Kontrollpflicht, d. h., der abwesende
555
BGH VersR 1962, 157 (158) v. 14.11.1961; OLG Düsseldorf VersR 1992, 321 (322) v. 14.09.1990. 556 OLG Düsseldorf VersR 1992, 321 (322) v. 14.09.1990; OLG Koblenz ZfS 1987, 162 v. 18.12.1984. 557
Schefferi/Pardey,
Rn. 134 f; Sim&mgttlBelling/Eberl-Borges,
§ 832 Rn. 125,
131; Eckert, S. 26; MünchKomm/Stez«, § 832 Rn. 14. 558 RG Warn 1911 Nr. 241, S. 267 (268) v. 16.02.1911; LZ 1919 Nr. 8, S. 695 (696) v. 25.11.1918; BGH VersR 1962, 157 (158) v. 14.11.1961; OLG Köln VersR 1955, 347 (349) v. 11.03.1955; VersR 1969, 88 (89) v. 20.05.1968; OLG Hamm VersR 1990, 743 (744) v. 27.04.1989; OLG Düsseldorf VersR 1992, 321 (322) v. 14.09.1990; LG Mönchengladbach NJW 1968, 1970 v. 19.03.1968. 559 BGH FamRZ 1965, 321 (322) v. 09.03.1965; OLG Hamm VersR 1990, 743 (744) v. 27.04.1989.
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
Elternteil muss kontrollieren, ob sich der andere Teil an die Vereinbarungen hält und seinen Pflichten nachkommt 560 . Ohne erkennbare Anhaltspunkte für eine ungenügende Beaufsichtigung darf sich dabei ein Elternteil grundsätzlich auf die Erfüllung der Aufsichtspflicht durch den anderen Elternteil verlassen 561. Etwas anderes gilt dann, wenn ein Elternteil damit rechnen muss, dass der andere Teil den Anforderungen an die Aufsicht physisch oder psychisch nicht gewachsen ist 562 . Er darf sich jedoch nicht einfach darauf verlassen, der andere Teil werde schon den Erfordernissen einer ordnungsgemäßen Beaufsichtigung genügen 563 . Für jeden Elternteil ist die Frage, wie weit seine Aufsichtspflicht reicht, gesondert zu prüfen 564 . Denn jeder Teil haftet nur für das eigene Verschulden, und nicht etwa dafür, dass auch der andere Teil die ihm nach den Umständen obliegende Aufsichtspflicht ordnungsgemäß erfüllt 565 . Häufig verwischen die Gerichte aber das Prinzip der Einzelverantwortung, wonach jeder Aufsichtspflichtige nur für die ihm persönlich vorzuwerfende Aufsichtspflichtverletzung haftet 566 . So nehmen teilweise Gerichte aller Instanzen von vornherein eine Gesamtbetrachtung bei der Prüfung der Pflichtverletzung vor, ohne zwischen väterlicher und mütterlicher Aufsichtspflicht zu differenzieren 567 . Oder die Gerichte rechnen das Verhalten eines Elternteils dem anderen Teil bei der Prüfung von dessen Aufsichtspflicht zu 5 6 8 .
560
OLG Hamm VersR 1990, 743 (744) v. 27.04.1989. OLG Hamm OLGR 1993, 223 L v. 07.07.1992; OLG Düsseldorf NJW-RR 2002, 235 v. 15.09.2000. 562 BGH LM Nr. 5 zu § 832 BGB, abgedruckt als LM Nr. 5 zu § 683 BGB (= VersR 1957, 340 [341]) v. 19.03.1957; OLG Nürnberg FamRZ 1963, 367 (368) v. § 832 Rn. 131. 05.02.1963; Staudinger/Belling/Eberl-Borges, 563 BGH VersR 1962, 157(158) v. 14.11.1961. 564 OLG Hamm OLGR 1993, 223 L v. 07.07.1992; OLG Düsseldorf NJW-RR 2002, 235 v. 15.09.2000. 565 Koebel, NJW 1960, 2227; Staudinger/Belling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 131; 561
Dahlgrün, S. 180; Eckert, S. 26\Albilt, S. 151. 566
Hingegen korrekt: BGH LM Nr. 8a zu § 832 BGB (= VersR 1966, 368 [389]) v. 01.02.1966; BGH FamRZ 1964, 75 f v. 24.11.1964; OLG Nürnberg FamRZ 1963, 367 (368) v. 05.02.1963; OLG Koblenz ZfS 1987, 162 v. 18.12.1984; OLG Hamm VersR 1990, 743 (744) v. 27.04.1989; OLG Düsseldorf VersR 1992, 321 (322) v. 14.09.1990; NJW-RR 2002, 235 v. 15.09.2000. 567 BGH VersR 1962, 1088 (1089) v. 13.07.1962; 1973, 543 (545) v. 13.03.1973; OLG Nürnberg VersR 1962, 1116 (1117) v. 09.11.1961; OLG Karlsruhe VersR 1971, 509 f v. 27.11.1970; OLG Düsseldorf VersR 1992, 310 (311) v. 23.11.1990; OLG Schleswig NJW-RR 1999, 606 (607) v. 12.11.1998; LG Saarbrücken NJW-RR 1991, 543 (544) v. 07.11.1990; AG Frankfurt/M. NJW-RR 1997, 1314 v. 01.11.1996; AG Radolfzell NJW-RR 2000, 1192 (1193) v. 16.09.1999; AG Brühl ZfS 2002, 275 (276) v. 01.02.2002. 568 BGH VersR 1962, 157 (158) v. 14.11.1961; OLG Koblenz VersR 1953, 369 v. 08.07.1953; OLG Stuttgart VersR 1955, 685 (686) v. 28.06.1955; OLG Köln VersR
§ 3 Die Entwicklung der Aufsichtsanforderungen
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b) Das Schrifttum Die Vorgehensweise der Rechtsprechung wird im Schrifttum unterschiedlich bewertet. Hartmann und Niboyet stimmen der Rechtsprechung zu. Sie lehnen es ab, die familienrechtliche Aufgabenteilung im Deliktsrecht anzuerkennen. Hartmann zufolge führt eine solche Anerkennung in vielen Fällen zu einer Haftungsfreistellung des regelmäßig solventeren berufstätigen Elternteils und zu einer Verweisung des Geschädigten auf einen weniger finanzkräftigen anderen Aufsichtspflichtigen. Das erscheine nicht billig. Der Ehegatte, der die Aufsicht auf den zu Hause verbleibenden Elternteil übertrage, dürfe sich im Interesse der Sicherung des Schadensausgleichs der Haftung nicht entziehen können. Daher entspreche die wechselseitige Zurechnung von Pflichtverletzungen der Ehegatten nicht ohne weiteres dem Prinzip der Einzelverantwortung 569. Niboyet geht noch darüber hinaus und fordert, solange die Eltern nicht getrennt leben, sollte das Bejahen des Verschuldens eines Elternteils ausreichen, um die gesamtschuldnerische Haftung der Eltern nach § 840 BGB heranzuziehen 570. Immenga (1969) äußert sich verständnisvoll zum Vorgehen der Rechtsprechung. Er verweist auf die steigenden Verkehrsunfallzahlen und Schadensersatzsummen. Vor diesem Hintergrund erscheine es rechtspolitisch höchst bedenklich, den Dritten aufgrund der Einzelschuldfeststellung auf die i. d. R. Vermögens- und einkommenslose Ehefrau zu verweisen. De lege ferenda befürwortet Immenga, den Rechtsgedanken des § 1357 BGB auf die Aufsichtspflichtverletzung der Ehefrau zu übertragen. Die Übertragung will er auf Verletzungen beschränken, die im Zusammenhang mit der Haushaltsführung stehen571. Belling/EberlBorges nehmen eine vermittelnde Position ein. Sie bescheinigen der Rechtsprechung einerseits eine fehlerhafte Gesetzesanwendung, halten aber andererseits den so hergestellten Haftungsverbund zwischen den Elternteilen de lege ferenda für durchaus erwägenswert, da er dem in § 1357 BGB anklingenden Gedanken entspreche. Zudem werde bei einer nach dem Leitbild der Hausfrauenehe vorgenommenen Aufsichtsverlagerung die Mutter für ihr Opfer nicht noch mit einem gegenüber dem Vater erheblich gesteigerten Haftungsrisiko belastet572. Großfeld/Mund sprechen ebenfalls von einer fehlerhaften Gesetzesanwendung. Das gesetzwidrige Prinzip der Gesamtverantwortung begünstige ungerechtfertigt den Geschädigten, da für ihn nicht die Gefahr bestehe, dass ihm der Zugriff auf das Vermögen des Vaters verwehrt werde und die beklagte Mutter vermögenslos sei. In den wenigen Fällen, in denen das Verschulden der Eltern ge-
1969, 88 (89) v. 20.05.1968; OLG Oldenburg VersR 1972, 54 (55) v. 03.04.1970; LG Berlin VersR 1954, 439 v. 29.06.1954. 569 Hartmann, VersR 1998, 22 (26). 57 0 Niboyet, S. 153. 57 1 Immenga, FamRZ 1969, 313 (317 ff). 372 Staudinger/Belling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 131.
1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
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trennt geprüft werde, sei die Mutter häufig benachteiligt. Durch die wünschenswerte Nähe zum Kind entständen für die Mutter erhöhte Aufsichtspflichten. Sie treffe allein durch ihre Anwesenheit eine erhöhte Verantwortlichkeit, was eine Diskriminierung der zu Hause bei ihren Kindern berufstätigen Frau sei 573 . Dahlgrün und Albilt halten eine Einzelschuldfeststellung ebenfalls für unumgänglich. Soweit die Rechtsprechung eine solche nicht vornehme, sei sie fehlerhaft. Auf eine exakte Einzelschuldfeststellung könne allenfalls dann verzichtet werden, wenn keiner der beiden Elternteile die Verschuldensvermutung widerlegen könne. Unter diesen Voraussetzungen wären beide Eltern gemäß § 830 Abs. 1 S. 2 BGB verantwortlich 574 . A. Fuchs konstatiert, die Rechtsprechung prüfe im Einzelfall nicht, wer der Eheleute die Aufsichtspflicht verletzt habe, weil i. d. R. die Eltern als Gesamtschuldner verurteilt würden.
c) Einzelfalle Den nachfolgenden Fällen liegt jeweils der Sachverhalt zugrunde, dass der (berufstätig) abwesende Vater die Aufsichtspflicht auf seine Ehefrau übertragen hatte. Da eine ununterbrochene Aufsicht der 4-jährigen Tochter durch die Ehefrau nicht möglich war, hätte der Vater nach Ansicht des LG Mönchengladbach sein Grundstück mit einem allseits umschlossenen Zaun oder einer lückenlosen Hecke schließen müssen, so dass seine Tochter auch in einem unbewachten Augenblick von dort nicht auf die Straße laufen konnte. Dazu hätte er nur eine Lücke in der vorhandenen Hecke schließen müssen, was für ihn als Gartengestalter mit einem geringen Aufwand verbunden gewesen wäre 575 . Der Vater eines 10-jährigen deutlich verhaltensgestörten Kindes muss seiner Frau aufgeben, dem Kind einen zeitlichen und räumlichen Rahmen für dessen Verhalten zu stecken. So muss er mit seiner Frau vereinbaren, in welchen Zeitabständen es sich bei ihr zu melden habe, um über sein Treiben zu berichten. Des Weiteren ist im Vorfeld ein räumlicher Rahmen abzusprechen, in welchem sich das Kind aufhalten darf 576 . In einem vom BGH entschiedenen Fall besaß der 4jährige Sohn eine Spielzeugpistole, mit der mittels Federkraft Pfeile verschossen werden konnten. Nach Auffassung des Senats war der Vater auch während seiner Abwesenheit verpflichtet, für eine Verwahrung der Pistole vor seinem Sohn zu sorgen und entsprechende Maßnahmen mit seiner Frau zu besprechen 577 . Dem OLG Nürnberg lag ein Fall vor, in dem die Mutter ihrem 57 3
Großfeld/Mund, FamRZ 1994, 1504 (1507 f). Dahlgrün, S. 187 f; Albilt, S. 153. Die Autoren begründen die Anwendung des § 830 Abs. 1 S. 2 BGB jedoch unterschiedlich. 575 LG Mönchengladbach NJW 1968, 1970 v. 19.03.1968 (vgl. 1. Teil § 3 IV 2). 576 OLG Hamm VersR 1990, 743 (744) v. 27.04.1989 (vgl. 1. Teil § 3 II 2). 577 BGH FamRZ 1965, 321 (322) v. 09.03.1965 (vgl. 1. Teil § 3 I 4). 57 4
§ 3 Die Entwicklung der Aufsichtsanforderungen
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15-jährigen Sohn ein Luftgewehr gekauft hatte. Der Vater durfte sich ohne Anhaltspunkt nicht darauf verlassen, dass seine Frau dem Sohn die nötigen Unterweisungen zum Gebrauch der Waffe gegeben hatte. Er hätte deshalb das Gewehr während seiner Abwesenheit wegschließen müssen, so dass sein Sohn es nur unter seiner Aufsicht benutzen konnte 578 . In einem Urteil des OLG Köln besaß der 8!/2-jährige Sohn der Beklagten die Neigung, andere Kinder mit Gegenständen zu verletzen. Deshalb genügte der Vater seiner Aufsichtspflicht durch die Übertragung derselben auf seine Ehefrau nicht. Vielmehr hätten er und seine Frau wirkungsvolle und nachhaltige Erziehungsmittel ergreifen müssen, um der ihnen bekannten Unart entgegenzuarbeiten. Falls eine solche Kenntnis nicht bestand, hätten sie ebenfalls ihre Aufsichtspflicht verletzt, da sie es pflichtwidrig unterließen, sich Kenntnis von dem Dritte gefährdenden Verhalten ihres Sohnes auf der Straße zu verschaffen 579. Weil der abwesende Vater an der ungenügenden Verwahrung eines Feuerzeuges in der Familienwohnung nicht beteiligt war, entlastete ihn das OLG Koblenz 580 . Ebenso entschied das OLG Düsseldorf. Dort hatte der 8-jährige Sohn ein von der anwesenden Mutter offen in der Wohnung abgelegtes Feuerzeug an sich genommen581. Entsprechend einer älteren BGH-Entscheidung muss der Vater nach der Rückkehr von der Arbeit seine Ehefrau über die Beschäftigung seiner Kinder befragen und die daraus erforderlichen Aufsichtsmaßnahmen veranlassen 582.
VI. Sonstige Aufsichtssituationen 7. Die Begehung vorsätzlicher
Straftaten
Ohne konkreten Anlass müssen Eltern nicht mit strafbaren Handlungen ihres minderjährigen Kindes rechnen. Begeht ihr Kind trotzdem eine Straftat, kann der Vorwurf der Aufsichtspflichtverletzung mangels Vorhersehbarkeit nicht dahin gehen, vorbeugende Maßnahmen zur Verhinderung der strafbaren Handlung unterlassen zu haben. Aus diesem Grund hafteten Eltern nicht für den Raubmordversuch 583 oder den Kraftfahrzeugdiebstahl 584 ihres Sohnes. Das OLG München nahm mit Urteil v. 22.02.2001 bei der zivilrechtlichen Aufar-
578
OLG Nürnberg FamRZ 1963, 367 (368) v. 05.02.1963 (vgl. 1. Teil § 3 I 1 b). OLG Köln VersR 1955, 347 (349) v. 11.03.1955 (vgl. 1. Teil § 3 I 6). 580 OLG Koblenz ZfS 1987, 162 v. 18.12.1984 (vgl. 1. Teil § 3 II 1 a bb). 581 OLG Düsseldorf VersR 1992, 321 (322) v. 14.09.1990 (vgl. 1. Teil § 3 II 1 abb). 582 BGH LM Nr. 8a zu 832 BGB (= VersR 1966, 368 [3691) v. 01.02.1966 (vgl. 1. Teil § 3 I 3). 583 OLG Hamm OLGZ 92, 95 f v. 02.05.1991: 163/4 Jahre. 584 OLG Köln VersR 1975, 162 v. 12.06.1974: keine Altersangabe; LG Saarbrücken VersR 1974, 918 v. 09.07.1973: 15 Jahre. 579
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
beitung des sog. „Jason-Falls" eine Aufsichtspflichtverletzung der Eltern an, da für sie die von ihrem 14!/2-jährigen Sohn begangenen Straftaten - zwei gefährliche Körperverletzungen - vorhersehbar waren. Ihr Sohn bewahrte in seinem Kinderzimmer die späteren Tatwerkzeuge auf, eine Axt und ein Buschmesser, was beide Eltern wussten. Sein übersteigerter Konsum von Gewaltvideos und die Herstellung von Horrormasken deuteten konkret daraufhin, dass er sich, wenn auch nur spielerisch, mit „Jason" identifizierte, dem Helden eines gewaltverherrlichenden Horrorfilms. Seine Eltern setzten sich jedoch mit dieser auffälligen Persönlichkeitsentwicklung überhaupt nicht auseinander; darin erblickte der Senat die Aufsichtspflichtverletzung 585. Neigt der minderjährige Aufsichtsbedürftige zu Straftaten, ist eine erhöhte Aufsicht geboten. Dazu gehört eine Art der Erziehung, die geeignet ist, der Neigung des Aufsichtsbedürftigen, Straftaten zu begehen, entgegenzuwirken. Dieser Aufgabe werden die Aufsichtspflichtigen gerecht durch das Angebot sinnvoller Freizeitbeschäftigung, durch die Übertragung gewisser Verantwortlichkeiten im Alltag, durch regelmäßige Belehrungen über die Schädlichkeit von Straftaten und deren Folgen sowie der Ahndung schädlichen Verhaltens durch Taschengeldkürzung oder Beschneidung der Freizeit 586 . Zur Vermeidung künftiger Straftaten müssen Eltern den Arbeitgeber ihres Kindes auf dessen schädliche Neigungen hinweisen 587 . Ist der Aufsichtsbedürftige bereits straffällig geworden, muss sich die 585 OLG München ZfS 2002, 170 (171) v. 22.02.2001. Aus dem Strafurteil der großen Jugendkammer des LG Passau (NJW 1997, 1165 v. 29.07.1996) ergibt sich folgender Sachverhalt: Der 1414-Jährige, der in einer abgelegenen Siedlung aufwuchs, konsumierte seit seinem 12. Lebensjahr und in den Monaten vor der Tat fast ausschließlich Action- und Horror-Videos, mitunter in Anwesenheit seiner Mutter. Zudem stellte er Masken und Kostüme von Horrorfiguren her und verkleidete sich entsprechend. Besonders fasziniert war er von „Jason", dem Serienhelden einer besonders brutalen Gewaltdarstellung, weshalb er nahezu täglich im Kostüm des „Jason" umherstreifte und seine jüngere Cousine erschreckte. Am Tattag schlich er als „Jason" verkleidet zum Haus seiner Cousine, um diese wieder zu erschrecken. Maskiert und mit Axt und Buschmesser bewaffnet betrat er die Küche. Dort traf er allerdings, für ihn völlig überraschend, auf die 69-jährige Nachbarin. Von der Situation völlig überfordert trat er auf die Nachbarin zu und schlug mit dem Buschmesser mit Verletzungsvorsatz auf die alte Frau ein. Dann ließ er das Buschmesser fallen und schlug mit der Axt - diesmal mit bedingtem Tötungsvorsatz - beidhändig auf den Kopf seiner Cousine ein; anschließend floh er. Die große Jugendkammer des LG Passau nahm im Strafprozess gegen den 1414Jährigen eine verminderte Schuldfähigkeit desselben an. Sie verurteilte ihn wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen; dabei ging sie von einem strafbefreienden Rücktritt vom versuchten Tötungsdelikt aus. Im Urteil bescheinigte das LG den Eltern ein schweres Erziehungsversagen. Obwohl für sie die Entwicklung ihres Jungen augenscheinlich war, verschlossen sie vor ihr die Augen, sprachen nicht ernsthaft mit ihm und verboten ihm weder den Videokonsum noch sein Treiben (LG Passau NJW 1997, 1165 [1166] v. 29.07.1996). 586 OLG Hamburg NJW-RR 1988, 799 v. 08.04.1988. 587 OLG Düsseldorf VersR 1976, 1133 v. 30.10.1975. Der 13-jährige Sohn der Beklagten arbeitete aushilfsweise an einer Tankstelle. Dabei entwendete er einen zur Wagenwäsche gebrachten Pkw. Auf der anschließenden Fahrt beschädigte er zwei Fahr-
§ 3 Die Entwicklung der Aufsichtsanforderungen
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gesteigerte Aufsichtspflicht insbesondere darauf erstrecken, was er in seiner Freizeit tut und mit welchen Freunden und in welchen Kreisen er verkehrt 588 . So verurteilte das OLG Karlsruhe die Eltern eines 15-Jährigen aus § 832 Abs. 1 BGB, weil sie sich nach mehreren Diebstählen nicht über dessen Freizeitverhalten und Freundeskreis informiert hatten 589 . Eine positive Entwicklung des Minderjährigen kann noch nicht zuverlässig festgestellt werden, wenn die Verurteilung wegen eines Eigentumsdelikts erst einige Wochen zurückliegt. Der Aufsichtspflichtige darf sich in diesem Fall nicht auf eine einwandfreie Führung des Aufsichtsbedürftigen verlassen 590. Andererseits sind der Überwachung, vor allem bei älteren Jugendlichen, naturgemäß Grenzen gesetzt. Um den Einfluss auf den Minderjährigen nicht zu verlieren, verbieten sich allzu strenge Maßnahmen. Den Aufsichtspflichtigen ist auch im Rahmen des § 832 BGB ein gewisser Freiraum für vertretbare pädagogische Maßnahmen zu belassen, um dem Aufsichtsbedürftigen so den Übergang zu einem selbstständigen und eigenverantwortlichen Leben zu ermöglichen 591 . So war der Vater im Fall des OLG Karlsruhe wegen serienmäßig begangener Diebstähle seines 18jährigen Sohnes zu besonders intensiver Beaufsichtigung verpflichtet. Trotzdem brauchte er ihm nicht zu verbieten, abends auszugehen und mit Freunden Partys zu feiern sowie der Herkunft des dafür verwandten Geldes nachzuforschen592. In einem vom OLG Koblenz am 15.04.2002 entschiedenen Fall hatte zeuge. Der Senat verurteilte die Mutter aus § 832 Abs. 1 BGB. Sie hatte es unterlassen, den Arbeitgeber über die - nicht näher definierten - schädlichen Neigungen ihres Sohnes zu informieren. In einem Urteil aus dem Jahr 1907 befand das OLG Colmar (OLG Colmar Das Recht 1907 Nr. 3650, S. 1465 f v. 31.10.1907): Ergibt sich für eine Mutter Anlass zu der Vermutung, dass sich ihr 15-jähriger Sohn auf seiner Arbeitsstelle unrechtmäßig Geldmittel verschafft, muss sie den Arbeitgeber darüber informieren. Sie haftet bei einer fortgesetzten Unterschlagung ihres Sohnes aus § 832 Abs. 1 BGB für den Teil des Schadens, der durch ein rechtzeitiges Einschreiten hätte verhindert werden können. 588 BGH LM Nr. 12 zu § 832 BGB (= NJW 1980, 1044 [1045]) v. 27.11.1979. Eine Anm. in der FamRZ (FamRZ 1980, 237) bezeichnet das Urteil als eine erste Auswirkung des SorgeRG noch vor seinem In-Kraft-Treten. 589 OLG Karlsruhe VersR 1971, 509 v. 27.11.1970. Der Sohn der Beklagten verursachte mit einem gestohlenen Pkw einen Verkehrsunfall, bei dem ein Fußgänger getötet wurde. 590 LG München II NJW 1978, 108 (109) v. 02.06.1977. Der 18-jährige Teilnehmer eines offenen Zeltlagers entwendete - noch vor Herabsetzung des Volljährigkeitsalters auf 18 Jahre durch das VolljkG - in der Nacht einen Pkw. Bei einem von ihm verschuldeten Unfall wurde dieser beschädigt. Aufgrund der nur kurze Zeit zurückliegenden Verurteilung hielt die Kammer bereits die Teilnahme des 18-Jährigen am Zeltlager für pflichtwidrig. 591 BGH LM Nr. 12 zu § 832 BGB (= NJW 1980, 1044 [1045]) v. 27.11.1979; OLG Karlsruhe VersR 1975, 430 v. 21.12.1972; OLG Hamm NJW-RR 1988, 798 v. 21.09.1987. 592 OLG Karlsruhe VersR 1975, 430 v. 21.12.1972. Der Senat verneinte die Haftung des Vaters für eine neue Diebstahlsserie.
1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
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der 16-jährige Sohn der Beklagten innerhalb einiger Tage mehrere Straftaten begangen. Das OLG forderte deshalb von den Eltern zur Erfüllung ihrer Aufsichtspflicht, ihren Sohn über Nacht in der Wohnung ausbruchssicher einzuschließen593. In einer BGH-Entscheidung hielt sich der 173/4-jährige Lehrling häufig in Gastwirtschaften auf, kam ins Trinken, vernachlässigte die Arbeit und wurde in eine Kneipenschlägerei verwickelt. Nach einer erneuten Schlägerei in derselben Kneipe verneinte der Senat eine Haftung des Vaters aus § 832 Abs. 1 BGB. Zwar musste der Vater seinen Sohn vom Umgang mit Menschen, die ihn in schlechter Weise beeinflussten, zu Straftaten verführten oder zu Schlägereien reizten, abraten. Er musste aber weder ein allgemeines Besuchsverbot für Gaststätten aussprechen noch die gesamte Lehrlingsvergütung seines Sohnes einbehalten, um ihm am Besuch einer Gaststätte zu hindern 594 . In einem Urteil des LG Hildesheim 595 hatte der 15-jährige Sohn der Beklagten eine ganze Serie von Autodiebstählen und Kfz-Einbrüchen begangen. Die Kammer verneinte bei einem erneuten Pkw-Diebstahl eine Haftung der Mutter aus § 832 Abs. 1 BGB. Dieser konnte nur vorgeworfen werden, als äußerste Erziehungsmaßnahme eine Unterbringung ihres Sohnes in einem geschlossenen Heim nicht vorgenommen zu haben. Die Kammer hielt diese Maßnahme jedoch für unzumutbar 596 , weil das zum Abbruch der Lehre geführt hätte und der damit verbundene erzieherische Einfluss verloren gegangen wäre 597 .
593
OLG Koblenz NJW-RR 2002, 900 v. 15.04.2002 (vgl. 1. Teil § 4 I 3 b). BGH LM Nr. 12 zu § 832 BGB (= NJW 1980, 1044 [1045]) v. 27.11.1979. Das OLG Celle als Vorinstanz (VersR 1978, 1025 v. 15.02.1978) hatte eine Aufsichtspflichtverletzung angenommen, weil der Vater die Gaststättenbesuche nicht durch Einbehaltung der Lehrlingsvergütung unterbunden hatte. Dadurch hätten die Eltern erst den Gaststättenbesuch und die damit verbundene Tätlichkeit ihres Sohnes ermöglicht. 595 LG Hildesheim VersR 1972, 672 v. 24.11.1971. 596 Ebenso: OLG Düsseldorf NJW-RR 1997, 343 (344) v. 11.10.1996 für die Einweisung in die Jugendpsychiatrie (vgl. 1. Teil § 3 II 2). Dahlgrün (S. 161) kritisiert das Urteil des LG Hildesheim. Dieses berücksichtige einseitig nur die Kindesinteressen. Richtigerweise hätte erörtert werden müssen, ob nicht angesichts der kriminellen Neigungen des Kindes und der damit für Dritte verbundenen Gefahren, die Mutter trotzdem die Heimunterbringung hätte betreiben müssen. Eher zustimmend äußert sich hingegen Albilt (S. 149). Es stelle sich die Frage, wie oft und in welchem Umfang dem Aufsichtspflichtigen eigene „Rettungsversuche" zuzubilligen seien. Art. 6 GG gebe den Eltern aber das vornehmliche Recht, vor einer „Kapitulation" gegenüber ihrem Kind zunächst selbst Besserung zu schaffen. 597 Das RG (Warn 1914 Nr. 217, S. 307 [309 f] v. 15.12.1913) entlastete - im Gegensatz zur Vorinstanz - einen Vater, dessen 203/4 Jahre alter Sohn bei einem Wirthausstreit seinen Kontrahenten mit einem Revolverschuss getötet hatte. Der Senat erachtete es für zu weitgehend, einen zu Ausschreitungen neigenden fast Volljährigen aus geordneten Wirtschafts- und Wohnverhältnissen zu reißen, um ihn zu Hause zu überwachen. Auch außergewöhnliche Aufsichtsmaßnahmen, wie die Einschaltung des Pfarrers oder die Veranlassung einer Lohnsperre, hätte der Vater nur bei Kenntnis des Waffenbesitzes veranlassen müssen. 594
§ 3 Die Entwicklung der Aufsichtsanforderungen
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2. Baustellen, Bauernhof In einer RG-Entscheidung hatte ein Vater seinen 12-jährigen Sohn zum Spielen in einen an einer öffentlichen Straße gelegenen Neubau geschickt. Der Senat nahm eine erhebliche Aufsichtspflichtverletzung des Vaters an, weil dieser dort nicht das Spiel seines Sohnes mit seinem Spielkameraden kontrollierte. Aufgrund der dort vorhandenen Gerätschaften und Baumaterialien lag die Möglichkeit nahe, dass durch das Treiben der Kinder auch Dritte außerhalb des Rohbaus geschädigt werden konnten 598 . Das LG Essen verneinte eine Haftung des Vaters aus § 832 Abs. 1 BGB, da das Baugelände, auf dem er seinen 12jährigen Sohn spielen ließ, nicht für die Öffentlichkeit gewidmet war 599 . Der BGH verurteilte die Mutter eines 6Vi-Jährigen, weil sie ihr Kind am Rande eines Bauplatzes spielen ließ. Die von der Mutter vorgetragene Beobachtung des spielenden Kindes aus einer Entfernung von 100-150 m ließ der Senat nicht zur Exkulpation ausreichen. Bei dieser Distanz konnte sie bei einer sich plötzlich verwirklichenden Gefahr nicht rechtzeitig eingreifen. Der Vater wurde hingegen entlastet. Er hatte durch Ermahnung und Vorsorge mit Hilfe Dritter versucht sicherzustellen, dass sein Sohn von der Baustelle ferngehalten und notfalls zurückgeschickt wurde 600 . In einem Fall des LG Nürnberg-Fürth hatte die Mutter ihren 4!/2-jährigen Sohn auf einen benachbarten Firmenlagerhof zum Austreten geschickt, obwohl sie wusste, dass sich auf dem abschüssigen Gelände abgestellte bzw. rangierende Firmenfahrzeuge befanden. Deshalb nahm die Kammer eine Haftung aus § 832 Abs. 1 BGB an, als der Junge einen nicht abgeschlossenen Lkw rückwärts in Bewegung setzte, das Hoftor durchbrach und den vorbeigehenden Kläger erfasste 601. Das OLG München befand, ein Bauerhof weist für Stadtkinder eine Quelle von Gefahren auf. Bei einem Urlaub auf dem Bauernhof müssen sich die Eltern über die Gefahrenquellen informieren und ihr Kind dementsprechend aufklären. Zudem müssen sie sich über das Spielgeschehen ihres sechs Jahre alten Kindes orientieren und ungefähr halbstündige Stichproben durchführen, um die Ungefährlichkeit der Spielsituation zu kontrollieren 602 . 598 RG Gruchot 55 Nr. 80, S. 997 (999) v. 22.05.1911. Die Knaben warfen Mörtel aus dem Neubau auf die Straße. Die vorbeilaufende Klägerin wurde irreparabel am Auge verletzt. 599 LG Essen VersR 1955, 127 fv. 17.01.1955. 600 BGH FamRZ 1965, 75 f v. 24.11.1964. Der Sohn warfeiner vorbeigehenden Passantin Kalk in die Augen. 601 LG Nürnberg-Fürth VersR 1969, 576 (577) v. 17.01.1968. 602 OLG München FamRZ 1997, 740 (741 f) v. 18.06.1996. Das Kind benutzte die Abdeckplane eines Gärfuttersilos als Trampolin und stürzte dabei in das Silo. Bei der eingeleiteten Rettungsaktion fanden der Ehemann und der Sohn der Klägerin den Erstickungstod. Der Senat bejahte eine Haftung der Eltern aus § 832 Abs. 1 BGB, kürzte den Anspruch wegen Mitverschuldens der Geschädigten aber um 75%.
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
3. Küchen, Geschäfte Eltern von drei bis acht Jahre alten Kindern sind nach Auffassung des AG Augsburg nicht verpflichtet diese in einer geschlossenen Wohnung, in der sie zu Gast sind, ständig zu beaufsichtigen. Es ist kindgerecht, wenn Kinder in diesem Alter nach dem Kaffeetrinken aufstehen und im Wohnzimmer und der angrenzenden Küche spielen. Zudem müssen Eltern nicht damit rechnen, dass in einer Küche wertvolle antike Krüge in einem für die Kinder zugänglichen Bereich aufbewahrt werden 603 . Hat ein 3-jähriges Kind beim Besuch in einer anderen Wohnung bereits einmal versucht, den Elektroherd einzuschalten, muss nach Ansicht des OLG Düsseldorf damit gerechnet werden, dass es sich ungeachtet einer Ermahnung erneut mit dem Herd beschäftigt. Der Aufsichtspflichtige muss dies deshalb unterbinden oder zumindest überprüfen, was das Kind an dem Herd gemacht hat 604 . Das OLG Hamm befand, ein zum Kartoffelschälen benutztes Schälmesser darf auch bei nur kurzzeitiger Abwesenheit nicht in der Nähe spielender 5-jähriger Kinder liegen bleiben. Dies gilt auch dann, wenn zwar eine weitere aufsichtspflichtige Person anwesend, diese aber mit anderen Aufgaben beschäftigt ist 605 . Eltern müssen Kleinkinder in Geschäften nicht stets an der Hand führen. Nur in Läden, in denen schon bei kurzem Loslassen mit einem durch das Kind drohenden Schaden zu rechnen ist, obliegt den Eltern besondere Vorsicht. Apotheken gehören nach einer Entscheidung des LG Coburg v. 16.11.2001 nicht zu solchen Geschäften 606. Hingegen nahm das OLG Düsseldorf eine Aufsichtspflichtverletzung eines Vaters an, der sein 2-jähriges Kind auf dem Fußboden der Textilabteilung eines Kaufhauses spielen ließ 607 . Besuchen Eltern mit ihrem 6-jährigen Kind einen Antikmarkt, dann erfüllen sie nach Auffassung des OLG Hamm ihre Aufsichtspflicht, wenn sie das Kind vorher darüber belehren, keine Gegenstände anzufassen, und es an der Hand führen. Allein aufgrund der Tat-
603 AG Augsburg ZfS 1992, 150 v. 28.03.1991. Beim Spiel der Kinder gingen drei wertvolle antike Krüge zu Bruch. 604 OLG Düsseldorf MDR 2001, 333 = NJW-RR 2002, 235 v. 15.09.2000. Beide Familien verließen die Wohnung. Nach der Rückkehr bemerkten sie, dass eine Herdplatte rot glühte und die gesamte Wohnung durch einen Brand verrußt war. 605 OLG Hamm MDR 1999, 677 v. 01.10.1998. Der Sohn der Beklagten nahm das Schälmesser und warf es dem 5-jährigen Kläger ins Gesicht. Dieser wurde in erheblichem Umfang am Auge verletzt. 606 LG Coburg MDR 2002, 277 v. 16.11.2001. Der 2-jährige Sohn der Beklagten lief hinter die Verkaufstheke, wo, wie er wusste, ein Bonbonglas stand. Dabei drückte er den roten Hauptschalter der Stromvorsorgungsanlage, was den Totalausfall der Computeranlage zur Folge hatte. Die Kammer wies die Klage ab. 607 OLG Düsseldorf VersR 1978, 352 (353) v. 08.03.1977. Eine Verkäuferin verletzte sich, als sie über das Kind stolperte. Der Senat verurteilte den beklagten Vater aus § 823 Abs. 1 BGB. Auf § 832 BGB ging das Gericht nicht ein.
§ 3 Die Entwicklung der Aufsichtsanforderungen
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sache, dass ihr Kind gleichwohl einen Gegenstand anfasst und dadurch beschädigt, kann noch nicht auf die Verletzung der Aufsichtspflicht geschlossen werden 608 .
4. Wintersport Das LG Stuttgart musste sich in seinem Urteil v. 15.08.2001 mit den Folgen einer Schlittenfahrt befassen. Die beklagten Eltern ließen ihre ^ - j ä h r i g e n Zwillinge allein auf einem Schlitten einen Hang hinab fahren, der die Form eines Anfänger- und Lernbuckels besaß. Ihre Kinder hatten zuvor noch keinen Unfall und waren trotz ihres Alters mit den Schneeverhältnissen bestens vertraut. Der Kläger saß mit seinem Enkel seitlich am Hang auf seinem Schlitten und blickte talabwärts. Die Zwillinge fuhren von oben schräg gegen den Schlitten des Klägers, der dadurch verletzt wurde. Das LG verneinte eine Aufsichtspflichtverletzung der Eltern und wies die Klage ab. Zwar möge es generell denkbar sein, 4!4-jährige Kinder nicht allein den Hang hinab fahren zu lassen, doch sei die Erfahrung dieser Kleinkinder und deren Vertrautheit mit Schlitten und sogar Ski ein Gesichtspunkt, sie bedenkenlos zu zweit auf einem Schlitten den Hang hinab fahren zu lassen. Ferner mussten die Eltern nicht mit einem derart unverantwortlichen Verhalten des Klägers rechnen, der seitlich am Hang sitzend talabwärts blickte, ohne auf die Vielzahl von unberechenbaren kleinen Kindern zu achten609.
608 609
OLG Hamm OLGR 1993, 223 L v. 07.07.1992. LG Stuttgart ZfS 2003, 10 v. 15.08.2001.
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
§ 4 Die Exkulpation der Kausalitätsvermutungen Gemäß § 832 Abs. 1 S. 2 F 2 BGB tritt die Ersatzpflicht der Eltern auch dann nicht ein, wenn der Schaden auch bei gehöriger Aufsichtsführung entstanden wäre. Hierfür ist der beklagte Aufsichtspflichtige darlegungs- und beweispflichtig 610 . Obwohl in zwei neueren Urteilen die Eltern über § 832 Abs. 1 S. 2 F 2 BGB entlastet wurden, gelingt ihnen aufgrund der sehr hohen Anforderungen nur in wenigen Fällen der Entlastungsbeweis. Neben dieser gesetzlich normierten Kausalitätsentlastung hat der Aufsichtspflichtige noch die Möglichkeit, sich über den Schutzzweck des § 832 BGB zu exkulpieren. Dieser Ansatzpunkt für eine Haftungsentlastung der Eltern wird bisher nur sehr selten von der Rechtsprechung genutzt.
I. § 832 Abs. 1 S. 2 F 2 BGB 1. Entstehungsgeschichte In seiner Vorlage für die I. Kommission zur Ausarbeitung des Entwurfs eines Bürgerlichen Gesetzbuches schrieb der Redaktor v. Kübel zum Kausalzusammenhang zwischen Aufsichtspflicht und Schaden des Dritten: Wesentlich für die Haftpflicht des Aufsichtspflichtigen sei der Kausalzusammenhang zwischen der schadensstiftenden Handlung und der Unterlassung der gehörigen, pflichtentsprechenden Aufsicht durch den Aufsichtspflichtigen. Es müsse die mangelhafte Aufsicht sein, welche die schadensstiftende Handlung ermöglicht habe; es müsse somit feststehen, dass bei gehörig geführter Aufsicht die Handlung nicht hätte begangen werden können, dass sie sich durch Erfüllung hätte verhindern lassen. Nur in diesem Falle bestehe zwischen der Unterlassung der Pflichterfüllung von Seiten des Aufsichtspflichtigen und dem durch den Aufsichtling gestifteten Schaden ein Kausalzusammenhang, nur in diesem Falle sei die Vernachlässigung der Aufsichtspflicht die mittelbare Ursache des Schadens, nur in diesem Falle könne eine Haftpflicht des Aufsichtspflichtigen in Frage kommen. Zur Beweislast führte v. Kübel anschließend aus: Dem Aufsichtspflichtigen müsse daher als tatsächliche Grundlage der Haftpflicht bewiesen werden, dass dieser durch eine pflichtgemäße Aufsicht zu verhindern gewesen wäre. Zu weit gehen Art. 1384 Cc und die ihm folgenden Entwürfe von Hessen Art. 211 Abs. 3 und Bayern Art. 63, indem diese dem Aufsichtspflichtigen auch den Beweis 610 BGH LM Nr. 14 zu § 832 BGB (= NJW 1985, 677 [679]) v. 19.01.1984; OLG Düsseldorf VersR 1998, 721 (722) v. 18.07.1997.
§ 4 Die Exkulpation der Kausalitätsvermutungen
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auferlegten, dass die schadensstiftende Handlung auch durch eine pflichtgemäße Aufsicht nicht habe verhindert werden können 611 . § 710 Abs. 1 E I sah eine Haftung des Aufsichtspflichtigen nur bei nachgewiesenen Verschulden vor. Die Beweislast folgte allgemeinen Grundsätzen, so dass der Geschädigte neben der Aufsichtspflichtverletzung auch den Kausalzusammenhang zwischen derselben und der schädigenden Handlung des Aufsichtsbedürftigen zu beweisen hatte. In der Begründung der Gesetzesverfasser hieß es dazu: „Diese Regelung der Beweislast, wie sie der Abs. 1 zum Ausdrucke bringt, entspricht allgemeinen Grundsätzen, insofern die Nichtflihrung der Aufsicht einen Teil des Thatbestandes des Deliktes bildet und der Beweis des Kausalzusammenhanges zwischen Schaden und Delikt dem Beschädigten obliegt 612 ." Die Beweislastverteilung stieß im Allgemeinen auf die Kritik des Schrifttums 613 . Mataja ging dabei auch auf den Kausalitätszusammenhang ein. Er sah den Geschädigten in Bezug auf den Nachweis des Kausalzusammenhangs mit dem Prinzip der freien Beweiswürdigung vertröstet 614. Der Widerstand gegen die Beweislastverteilung führte zur Änderung derselben. In § 755 Abs. 1 E II wurde nunmehr u. a. die Kausalität zwischen Aufsichtspflichtverletzung und Schadenszufügung widerleglich vermutet. Für diese Beweislastumkehr fehlt es an einer Begründung der Gesetzesverfasser. In § 816 E III erfuhr die Kausalitätsvermutung keine Änderung mehr. Die praktische Tragweite dieser umfänglichen Beweislastumkehr wurde von Nöldeke recht verharmlosend dargestellt: Aus der in § 832 BGB in ausgedehnter Weise erfolgten Zulassung der Exkulpation des Aufsichtspflichtigen ergebe sich deutlich, dass der Grund der Haftung tatsächlich ein Verschulden desselben sei. In allen Fällen genüge jedoch, um die Ersatzpflicht abzuwenden, der Nachweis, dass der Schaden auch bei gehöriger Aufsichtsfuhrung entstanden wäre 615 .
2. Die Reichweite der Vermutungswirkung
in § 832 Abs. 1 S. 2 F 2 BGB
Die zweite Vermutungswirkung des § 832 Abs. 1 BGB erstreckt sich nach dem Wortlaut des § 832 Abs. 1 S. 2 F 2 BGB auf die Kausalität zwischen Aufsichtspflichtverletzung und Schadenseintritt. In Entsprechung zu §§ 831 Abs. 1 S. 2 F 2, 833 S. 2 F 2, 834 S. 2 F 2 BGB wird dem Aufsichtspflichtigen mit § 832 Abs. 1 S. 2 F 2 BGB die Möglichkeit gewährt, den fehlenden Ursachenzusammenhang zwischen der erwiesenen Aufsichtspflichtverletzung und dem
6,1 612 613
614 6,5
v. Kübel, S. 702. Mugdan II, S. 410. v. Gierice, S. 260 f; Fels, Gruchot 35 Nr. 1, S. 1 (2 f); Jakubezky, S. 167.
Mataya, ArchBürgR 1, 267 (273). Nöldeke, Gruchot 41 Nr. 21, S. 766 (772).
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
Schadenseintritt zu beweisen. Führt der Aufsichtspflichtige diesen Beweis, entfällt die Vermutungswirkung für den bezeichneten ursächlichen Zusammenhang. Die Bestimmung in § 832 Abs. 1 S. 2 F 2 BGB hat somit den Zweck, außer Zweifel zu stellen, dass dem Aufsichtspflichtigen auch für das Nichtbestehen des vorgenannten Ursachenzusammenhangs die Beweislast obliegt. Teilweise wird diese Variante des § 832 Abs. 1 S. 2 BGB deshalb im Schrifttum für entbehrlich gehalten. Danach bedeutet der Nachweis gemäß § 832 Abs. 1 S. 2 F 2 BGB nichts anderes als ein Leugnen des nach Abs. 1 S. 1 vermuteten ursächlichen Zusammenhangs zwischen Aufsichtspflichtverletzung und Schaden oder anders ausgedrückt, dass sich die Vermutung des § 832 BGB auch auf diesen ursächlichen Zusammenhang erstreckt 616. Zum Teil spricht das Schrifttum - entsprechend dem Wortlaut der Vorschrift - von einer Kausalitätsvermutung zwischen Aufsichtspflichtverletzung und Schaden bzw. Schadenseintritt 617. Bei unbefangener Betrachtung wird demnach durch § 832 Abs. 1 S. 1 BGB die Kausalität zwischen Aufsichtspflichtverletzung und dem haftungsausfüllenden Tatbestand der §§ 823-826 BGB, dem durch die Rechtsgutverletzung entstandenen Schaden, vermutet. Denn diese Vermutung kann aufgrund der vom Schrifttum gewählten Formulierung durch § 832 Abs. 1 S. 2 F 2 BGB widerlegt werden. Tatsächlich ist eine solche Formulierung aber zu ungenau. Die Vermutungswirkung des § 832 Abs. 1 S. 1 BGB erstreckt sich nur auf die Kausalität zwischen Aufsichtspflichtverletzung und der schädigenden Handlung des Aufsichtsbedürftigen. Hingegen gehört die haftungsbegründende Kausalität zwischen der schädigenden Handlung des Aufsichtsbedürftigen und der eingetretenen Rechtsgutsverletzung in den Prüfungspunkt der widerrechtlichen Schadenszufügung i. S. d. §§ 823-826 BGB. Innerhalb dieses Prüfungspunktes ist ebenfalls die haftungsausfüllende Kausalität zwischen der eingetretenen Rechtsgutverletzung und dem entstandenen Schaden festzustellen, wofür der Kläger die Darlegungs- und Beweislast trägt. Erst wenn das erfolgt ist, greifen die Vermutungswirkungen des § 832 Abs. 1 BGB und es wird gemäß § 832 Abs. 1 S. 2 BGB u. a. vermutet, dass die Aufsichtspflichtverletzung für die Vornahme der schädigenden Handlung des Aufsichtsbedürftigen ursächlich war. Die Reichweite der zweiten Vermutungswirkung arbeitete auch Deerberg so heraus 618. Nach Aden können die Eltern den Beweis erbringen, dass ihr etwaiges Aufsichtsverschulden für die Kindeshandlung, also damit für den Schaden, nicht ursächlich war 619 . Auch Belling/Eberl616
Dahlgrün, S. 90, 92; RGRKJKreft, § 832 Rn. 54; Niboyet, S. 154. Dahlgrün, S. 90 f; Schoof, S. 38; MünchKomm/Ste/>i, § 832 Rn. 29; Soergel/Zewner, § 832 Rn. 23; Schlegelmilch, ZAP Fach 2, S. 121 (128), IV 5; Wussow/Ä^fz, Rn. 553; Geigei /Haag, Kap. 16, Rn. 39; Scheffen/Pardey, Rn. 126; Berning/Vortmann, JA 1986, 12 (18 f). 618 Deerberg, S. 83 f. 619 Aden, MDR 1974, 9. 617
§ 4 Die Exkulpation der Kausalitätsvermutungen
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Borges stellen mit der Verwendung der Formulierung, „dass die Pflichtverletzung sich nicht in der Schadenszufügung niedergeschlagen hat", die tatsächliche Kausalitätsbeziehung deutlich heraus 620. In diese Richtung formuliert ebenfalls Teichmann, wonach der Aufsichtspflichtige den Nachweis fehlender haftungsbegründender Kausalität zwischen seiner Verletzung der Aufsichtspflicht und der Rechtsgutverletzung z. B. dadurch fuhren kann, dass sich das Kind bei pflichtgemäßer Aufsicht gleich verhalten hätte 621 . Thomas 622 und Kreft 623 sprechen von einer KausalitätsVermutung zwischen Unfall und Aufsichtspflichtverletzung. Exakt formuliert müsste § 832 Abs. 1 S. 2 F 2 BGB daher lauten: „Die Ersatzpflicht tritt nicht ein, ... wenn der Aufsichtsbedürftige die verletzende Handlung auch bei gehöriger Aufsichtsführung vorgenommen hätte 624 ." Hingegen arbeitet die Rechtsprechung in den veröffentlichten Urteilen teilweise ausdrücklich - heraus, dass nur die Kausalitätsvermutung zwischen Aufsichtspflichtverletzung und schädigender Handlung des Aufsichtsbedürftigen durch § 832 Abs. 1 S. 2 F 2 BGB widerlegt werden kann. So führte das RG aus: Der ursächliche Zusammenhang zwischen schuldhafter Verletzung der Aufsichtspflicht und der objektiv widerrechtlichen, schädigenden Handlung des Aufsichtsbefohlenen wird vom Gesetz vermutet 625 . Ebenso deutlich sprachen das OLG Frankfurt/M. 626 vom „schadensstiftenden Verhalten" des Aufsichtsbedürftigen, das OLG Celle 627 vom „zum Unfall führenden Verhalten" des Sohnes und das OLG Koblenz 628 von der „schadensursächlichen Unfallfahrt" des Sohnes. In der ersten Entscheidung, in welcher die Entlastung nach § 832 Abs 1 S. 2 F 2 BGB zum Zuge kam, formulierte das RG, es sei nicht einzusehen, wie die Verletzungshandlung des Kindes vom Vater hätte verhindert werden können 629 . Das OLG Karlsruhe 630 stellte in zwei Entscheidungen auf den
620 StaudingerWelling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 145. Hingegen verwenden die Autoren in Rn. 132 nur die Begriffe „Schaden" und „Schadenseintritt". Staudinger (in Hk, § 832 Rn. 12) verwendet ebenfalls diese Begriffe. 621 Jauernig/Teichmann, § 832 Rn. 7. 622 Palandt/Thomas, § 832 Rn. 14. 623 RGRK/Kreft, § 832 Rn. 54. 624 Deerberg (S. 84) schlägt folgende Formulierung vor: „Die Ersatzpflicht tritt nicht ein, ... wenn es zu der schadensstiftenden Handlung des Aufsichtsbedürftigen auch bei gehöriger Aufsichtsführung gekommen wäre". 625 RG Gruchot 55 Nr. 80, S. 997 (999) v. 22.05.1911. 626 OLG Frankfurt MDR 2001, 752 (753) v. 28.03.2001. 627 OLG Celle VersR 1976, 448 (449) v. 07.04.1975. 628 OLG Koblenz NJW-RR 2002, 900 v. 15.04.2002. 629 RG JW 1904 Nr. 6, S. 202 (203) v. 10.02.1904. Ein knapp 13-Jähriger hatte mittels eines dünnen Gummischnürchens einen zusammengefalteten Papierstreifen auf einen 10-Jährigen geschossen und diesen am Auge verletzt. 630 OLG Karlsruhe VersR 1975, 430 v. 21.12.1972; 1979, 58 v. 14.12.1977.
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
Zusammenhang zwischen Verhalten des Kindes und der gebotenen Aufsicht ab. Gleichfalls prüften das OLG Düsseldorf 631 und das LG Saarbrücken 632, ob die Handlungen der Kinder durch gehörige Erfüllung der Aufsichtspflicht verhindert worden wären. Wiederholt fragten sich die Gerichte 633 , ob sich „der Unfall" bzw. „das Schadensereignis" bei Beachtung der Aufsicht ereignet hätte, was ebenfalls die Annahme der Kausalitätsvermutung zwischen Aufsichtspflichtverletzung und Handlung des Aufsichtsbefohlenen nahe legt.
3. Die Exkulpation nach § 832 Abs. 1 S. 2 F 2 BGB a) Allgemeines Da es sich bei § 832 BGB um ein Unterlassungsdelikt handelt, ist die Kausalitätsfrage nach der abgewandelten conditio sine qua non Formel unter Berücksichtigung der gesetzlichen KausalitätsVermutung in § 832 Abs. 1 S. 2 F 2 BGB zu stellen. Danach ist die Nichtvornahme der gebotenen Aufsicht für die schädigende Handlung des Aufsichtsbedürftigen solange kausal, bis mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststeht, dass diese auch bei gehöriger Aufsicht vorgenommen worden wäre. Das entspricht der stdg. Rspr. Deshalb reicht die bloße Möglichkeit, dass die Schädigung möglicherweise auch bei gehöriger Beaufsichtigung eingetreten wäre, für den Beweis der fehlenden Kausalbeziehung nicht aus 634 . Bei diesen hohen Anforderungen an den Gegenbeweis handelt es sich aber nicht um eine spezifische Besonderheit von § 832 Abs. 1 BGB. Vielmehr ist eine Unterlassung nach feststehender Rechtsprechung nur dann für den Erfolg kausal, wenn pflichtmäßiges Handeln den Eintritt des schädigenden Erfolges mit Sicherheit verhindert hätte. Eine bloße Möglichkeit, ebenso eine gewisse Wahrscheinlichkeit genügt nicht, anders, wenn sich letztere in einem Ausmaß verdichtet, dass sie an Sicherheit grenzt. Hierüber hat der Tatrichter gemäß § 287 ZPO nach seiner freien Überzeugung zu befinden 635 . Aufgrund dieser hohen Anforderungen an den Gegenbeweis wird die praktische Bedeutung der Exkulpationsmöglichkeit nach § 832 Abs. 1
631
OLG Düsseldorf VersR 1976, 1133 v. 30.10.1975. LG Saarbrücken NJW-RR 1991, 543 (544) v. 07.11.1990. 633 RG Warn 1910 Nr. 60, S. 60 (61) v. 09.12.1909; 1912 Nr. 28, S. 31 (33) v. 19.10.1911; SeuffA 77 Nr. 75, S. 132 (133) v. 26.01.1922; 88 Nr. 39, S. 78 (80) v. 19.10.1933; BGH VersR 1973, 545 (546) v. 13.03.1973; OLG HammNZV 1995, 112 f v. 26.09.1994; KG MDR 1997, 840 v. 03.03.1997. 634 RG Warn 1910 Nr. 60, S. 60 (61) v. 09.12.1909; SeuffA 77 Nr. 75, S. 132 (133) v. 26.01.1922; so zuletzt OLG Frankfurt/M. MDR 2001, 752 (753) v. 28.03.2001. 635 BGHZ 34, 206 (215) v. 30.01.1961; OLG Oldenburg VersR 1975, 66 v. 05.03.1974. 632
§ 4 Die Exkulpation der Kausalitätsvermutungen
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S. 2 F 2 BGB überwiegend als gering beurteilt. So stellt Kuntz stellvertretend für die überwiegende Mehrheit im Schrifttum fest, der Beweis werde in der Praxis nur selten möglich sein. Deshalb komme der Bestimmung keine erhebliche praktische Bedeutung zu 636 . Nur Schlegelmilch führt aus, es komme in der Praxis häufiger als allgemein angenommen nicht nur auf die Frage der Erfüllung der Aufsichtspflicht an, sondern auch auf die Frage, ob es möglich sei, die Kausalitätsvermutung zu widerlegen. Dieser Teil der Problematik bewege sich oft zu sehr im Hintergrund der Überlegungen, könne aber letztlich entscheidende Bedeutung erlangen 637. Zwischen den beiden in § 832 Abs. 1 S. 2 BGB geregelten Entlastungsvarianten besteht ein Exklusivitätsverhältnis. Die Prüfung der zweiten Entlastungsvariante des § 832 Abs. 1 S. 2 BGB erfolgt in zwei denkbaren Konstellationen. In der ersten Konstellation schließt sie sich dem fehlgeschlagenen Exkulpationsversuch der Beklagten nach § 832 Abs. 1 S. 2 F 1 BGB an 638 . Bei der zweiten Konstellation stellt das erkennende Gericht seine klageabweisende Entscheidung auf eine sog. mehrfache Begründung. Dabei kommt es zuerst zu dem Ergebnis, dass die Beklagten ihrer Aufsichtspflicht genügt haben. Daran schließt sich die Feststellung an, auch bei höheren als vom Gericht gestellten Anforderungen an die Aufsichtspflicht würde die Haftung nach § 832 Abs. 1 S. 2 F 2 BGB mangels Kausalität entfallen 639 . Mit dieser Prüfungsfolge tragen die Gerichte dem Exklusivitätsverhältnis zwischen beiden Entlastungsmöglichkeiten in § 832 Abs. 1 S. 2 BGB Rechnung. Eine Begründung des Ausschlusses der Ersatzpflicht aus beiden Gründen ist nur in der Weise rechtlich denkbar, dass in erster Linie die gehörige Erfüllung der Aufsichtspflicht festgestellt und hilfsweise für den Fall gegenteiliger Annahme die Entstehung des Schadens trotz gehöriger Aufsichtsführung für erwiesen erachtet wird 6 4 0 .
636 Wussow/Ä^/z, Rn. 553. Nach Belling/Eberl-Borges (in Staudinger, § 832 Rn. 145) wird der Nachweis oftmals - aber keineswegs immer - kaum zu führen sein. Eckert (S. 166) hält ihn für schwierig zu führen. Teichmann (in Jauernig, § 832 Rn. 7) stuft den zu führenden Nachweis als schwierig ein. Berning/Vortmann (JA 1986, 12 [19]) schätzen die praktische Bedeutung des Entlastungsbeweises als gering ein, da es dem Aufsichtspflichtigen äußerst schwer falle, diesen Beweis zu erbringen. Zu dieser Einschätzung gelangt ebenfalls Niboyet (S. 153 f). Auch nach Dahlgrün (S. 90 f) und A. Fuchs (S. 251 f) konnte die zweite Entlastungsmöglichkeit nie eine nennenswerte praktische Bedeutung erlangen, weil die Beweiserbringung sich in der Praxis als nahezu unmöglich erweise. Als Folge der restriktiven Betrachtungsweise der Gerichte kommt der Exkulpationsvariante ImitAlbilt (S. 80) keine große praktische Bedeutung zu. 637 Schlegelmilch, ZAP Fach 2, S. 121 (128), IV 5. 638 OLG Hamm NZV 1995, 112 f v. 26.09.1994; KG MDR 1997, 840 v. 03.03.1997; LG Saarbrücken NJW-RR 1991, 543 (544) v. 07.11.1990. 639 BGH VersR 1973, 545 (546) v. 13.03.1973; OLG Frankfurt/M. MDR 2001, 752 (753) v. 28.03.2001. 640 So ausdrücklich RG SeuffA 88 Nr. 39, S. 78 (79) v. 19.10.1933.
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
b) Neuere Urteile Zahlreiche Stimmen in der Literatur verzichten in ihren Ausführungen zur Exkulpation nach § 832 Abs. 1 S. 1 F 2 BGB vollständig 641 auf Urteilszitate oder verweisen nur auf (teilweise frühe) Entscheidungen des RG 6 4 2 . Auf das Urteil des LG Saarbrücken v. 07.11.1990643 weisen dagegen nur wenige Autoren hin 644 . Dies ist verwunderlich, handelt es sich doch um das eingehendste Urteil zu § 832 Abs. 1 S. 2 F 2 BGB seit dem inhaltlich unzutreffenden Urteil des OLG Karlsruhe 645 aus dem Jahr 1977. Dem Urteil des LG Saarbrücken lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die drei altersgemäß entwickelten Kinder der beklagten Eltern im Alter von sieben, fünf und vier Jahren spielten am Sonn-
A. Fuchs (S. 252 Fn. 19) sieht in diesem Urteil irrtümlich einen Widerspruch zu der von ihm dargestellten Praxis, wonach die Gerichte die Kausalitätswiderlegung als Hilfsargument neben der Erfüllung der Aufsichtspflicht verwenden. 641 W\dStaudinger, § 832 Rn. 12; Wussow/Kwwfe, Rn. 553; Berning/Vortmann, JA 1986, 12 (19). Palandt/77zowas verzichteten noch in der 60. A. auf ein Zitat, verweisen aber nunmehr auf das Urteil des OLG Frankfurt/M v. 28.03.2001 in MDR 2001, 752 = NJW-RR 2002, 236. 642 Staudinger/Belling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 145; RGRKJKreft, § 832 Rn. 54; Jauemig/Teichmann, § 832 Rn. 7; Soergel/Zeuner, § 832 Rn. 23. 643 LG Saarbrücken NJW-RR 1991, 543 v. 07.11.1990. 644 Bzumgärtd/Baumgärtel, § 832 Rn. 9 Fn. 27; HkJStaudinger, § 832 Rn. 12; SchefRn. 126 Fn. 29; Pardey, DAR 2001, 1 (3); Schlegelmilch., ZAP Fach 2, fen/Pardey, S. 121 (128), IV 5. 645 OLG Karlsruhe VersR 1979, 58 v. 14.12.1977. Die beklagte Mutter hatte ihren I 4 /2-jährigen Sohn während ihres Tennisspieles auf einem Familien-Freizeit-Gelände ohne Aufsicht umherlaufen lassen. Dieser fügte dem Kläger mit einem Stock eine Augenverletzung zu. Nach Ansicht des OLG wäre eine - von der Mutter nicht vorgenommene - stichprobenartige Überwachung des Kindes als gebotene Aufsicht erforderlich gewesen. Der Senat verneinte jedoch daran anschließend die Haftung der Mutter wie folgt: Bei solcher Art Überwachung aber hätte der Schaden in gleicher Weise eintreten können, womit die Ursachenvermutung des § 832 BGB ausgeräumt sei. Damit ließ der Senat - entgegen der stdg. Rspr. - bereits die Möglichkeit der Vornahme der schädigenden Handlung bei gehöriger Beaufsichtigung zur Widerlegung der Kausalitätsvermutung ausreichen. Denn es ist nicht auszuschließen, dass die Mutter gerade im Zeitpunkt der schädigenden Handlung nach ihrem Sohn gesehen und somit den Unfall verhindert hätte (so auch Albilt [S. 80 ff], der das Urteil im Ergebnis für nicht haltbar erachtet). Vom Urteil des OLG Oldenburg v. 07.07.1986 wurden in VersR 1987, 915 L nur die Leitsätze veröffentlicht. L 2 lautet: Eine etwaige Aufsichtspflichtverletzung der Eltern eines fast siebenjährigen Jungen, der gleichaltrigen Spielgefährten Streichhölzer beschafft, ist für einen beim Spielen entstandenen Brand nicht ursächlich, wenn sich der Junge am Ort des Geschehens unter fremder Aufsicht befindet. Die in r+s 1987, 224 abgedruckten Entscheidungsgründe enthalten keine diesbezüglichen Ausführungen. Das Urteil des BGH in LM Nr. 14 zu § 832 BGB (= NJW 1985, 677 [679]) v. 19.01.1984 beinhaltet keine Ausführungen zum Entlastungsbeweis nach § 832 Abs. 1 S. 2 F 2 BGB.
§ 4 Die Exkulpation der Kausalitätsvermutungen
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tagnachmittag auf dem Bürgersteig vor der elterlichen Wohnung. Dieser Bereich war vom Fenster der Wohnung der Beklagten gut überschaubar. In einem unbeobachteten Augenblick begaben sich die Kinder in die von der Wohnung nicht einsehbare Hofeinfahrt. Dort bewarfen sie das verbotswidrig abgestellte Fahrzeug des Klägers mit herumliegenden Steinen. Nach Ansicht der Kammer erforderte die Aufsichtspflicht der Beklagten lediglich eine gelegentliche Beobachtung der Kinder in einem halbstündigen Zeitabstand vom Fenster aus. Den Beweis für die Vornahme dieser Aufsicht konnten die Beklagten nicht führen. Die Kammer sah jedoch die Kausalitätsvermutung nach § 832 Abs. 1 S. 2 F 2 BGB als widerlegt an und wies die Klage ab. Auch eine gehörige Aufsichtsführung hätte nicht verhindern können, dass sich die Kinder in die nicht einsehbare Hofeinfahrt begaben und mit Steinen auf das Fahrzeug warfen. Zudem mussten die beklagten Eltern nicht damit rechnen, dass sich in der Hofeinfahrt ein verbotswidrig abgestelltes Fahrzeug befand 646 . Baumgärtel hält das Urteil für nicht überzeugend. Nach seiner Ansicht ist der Nachweis der Unvermeidbarkeit dann erbracht, wenn der Aufsichtspflichtige beweist, dass sich der Aufsichtsbedürftige verkehrsrichtig verhalten habe und alle gebotene Sorgfalt habe walten lassen. Dies verkenne das Urteil des LG Saarbrücken 647. Baumgärtel übersieht dabei, dass die Widerlegung der Kausalitätsvermutung zwischen Aufsichtspflichtverletzung und schädigender Handlung des Aufsichtsbedürftigen in zweierlei Form möglich ist. Neben der von ihm genannten Exkulpationsmöglichkeit 648 ist die zweite Entlastungsmöglichkeit in § 832 Abs. 1 S. 1 F 2 BGB ausdrücklich geregelt. Danach entfällt die Kausalitätsvermutung, wenn der Aufsichtsbedürftige die verletzende Handlung auch bei gehöriger Aufsicht vorgenommen hätte. Die Bewertung der verletzenden Handlung des Aufsichtsbedürftigen ist dabei unerheblich, solange sie die Voraussetzungen einer widerrechtlichen Schadenszufügung i. S. v. §§ 823-826 BGB erfüllt und damit bei einem bestehenden Aufsichtsanlass die Vermutungswirkungen des § 832 Abs. 1 BGB auslöst. Aufgrund dieser Entlastungsvariante lehnte das LG Saarbrücken zutreffend die Haftung der Eltern für den verursachten Schaden ab. Das OLG Frankfurt/M. sah in seinem Urteil v. 28.03.2001 den Exkulpationsbeweis bereits über § 832 Abs. 1 S. 2 F 1 BGB geführt, stellte jedoch unter Berücksichtigung der von der Klägerin gestellten Anforderungen hilfsweise die Exkulpation auch auf § 832 Abs. 1 S. 2 F 2 BGB. Zunächst arbeitete der Senat den Umfang der gebotenen Aufsicht heraus. Dabei berücksichtigte er das Verständnis des 8-Jährigen bei den Bauarbeiten, so dass ihm seine beklagte Mutter weder die Gefährlichkeit des Eisenstampfers erklären noch ein Verbot, die Baustelle zu betreten, aussprechen musste. Zudem hatte ihn die geschädigte 646 647 648
LG Saarbrücken NJW-RR 1991, 543 f v. 07.11.1990. KmmgM.e\lBaumgärtel, § 832 Rn. 9 Fn. 27. Vgl. 1. Teil § 4 II.
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
Klägerin ermahnt und die Betätigung des Eisenstampfers untersagt, so dass die Beklagte ihren Sohn nicht auf Schritt und Tritt beaufsichtigen musste. Auf der Basis dieses Verhaltensmusters ging das OLG daher nicht nur von der bloßen Möglichkeit, wonach der 8-Jährige den Eisenstampfer auch bei einer zusätzlichen Belehrung durch seine Mutter betätigt hätte, sondern von einem Exzess des 8-Jährigen aus. Infolgedessen zeigte sich der Senat überzeugt, dass es auch bei der von der Klägerin geforderten weiteren Belehrung über die Gefahren des Umgangs mit einem Eisenstampfer durch die Beklagte zu dem Vorfall gekommen wäre, mithin dieser nicht auf eine Verletzung der Aufsichtspflicht zurückgeführt werden konnte 649 . Abschließend ein Fall, der durch das OLG Koblenz mit Urteil v. 15.04.2002 entschieden wurde. Der 16-Jährige Sohn der beklagten Eltern beging anlässlich der Fahrt mit einem gestohlenen Pkw binnen zweier Tage mit einem 14jährigen Freund mehrere Straftaten. Sie wurden von der Polizei aufgegriffen und zu ihren Eltern zurückgebracht. Am nächsten Tag beging der Sohn der Beklagten erneut einen Diebstahl und kehrte am Abend nicht mehr in die elterliche Wohnung zurück. In dieser Nacht stahl er mit seinem Freund den Pkw der Klägerin. Dadurch gelangten sie in den Besitz eines Kleinkalibergewehrs mit Munition und begingen mit der Waffe sodann einen schweren Raub. In den frühen Morgenstunden erschienen Polizeibeamte in der Wohnung der Beklagten, um die Anwesenheit ihres Sohnes zu überprüfen. Dieser erschien um 6 Uhr in der elterlichen Wohnung, weil er sich noch Sachen für seine Flucht holen wollte. Seiner allein anwesenden Mutter gelang es nicht, ihn in der Wohnung zurückhalten. Nach seiner Wegfahrt mit dem Pkw der Klägerin informierte sie die Polizei. Bei der anschließenden Verfolgungsjagd mit der Polizei wurde der von dem 16-Jährigen gefahrene Pkw der Klägerin beschädigt. Das LG verurteilte den 16-Jährigen zum Schadensersatz; das OLG Koblenz verneinte, wie zuvor das LG, eine Haftung der Eltern aus § 832 Abs. 1 BGB. Die erkennbaren Aufsichtsmängel der Beklagten waren nach Ansicht des Senats nicht schadensursächlich geworden. Auch bei Ausschöpfiing der zumutbaren Aufsichtsmaßnahmen hätte die schadensursächliche Unfallfahrt nicht abgewendet werden können. Da den Eltern die nächtlichen Streifereien und Straftaten ihres Kindes bekannt waren, hätten sie sein nächtliches Verlassen der Wohnung durch ge-
649 OLG Frankfurt/M. MDR 2001, 752 f v. 28.03.2001. Der Klage lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der 8-jährige Sohn der Beklagten besorgte dem 15-jährigen Nachbarsjungen für dessen Ausbesserungsarbeiten am Verbundpflaster Ohrenschützer und einen Eisenstampfer. Nach Abschluss der Arbeiten kehrte der 8-Jährige zurück und fragte dessen Mutter, die Klägerin, ob er den Eisenstampfer einmal betätigen dürfte. Obwohl ihm die Klägerin dies mit dem Hinweis auf die entstehende Lautstärke untersagte, nahm der Sohn der Beklagten den Eisenstampfer und ließ ihn auf ein Brett fallen. Der dabei entstehende Knall führte nach Behauptung der Klägerin bei ihr zu einem fortdauernden Tinnitus.
§ 4 Die Exkulpation der Kausalitätsvermutungen
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eignete Absperrmaßnahmen verhindern müssen, notfalls indem sie sein Zimmer versperrten. Diese Maßnahmen wären angemessen gewesen; die fortgesetzten Straftaten des Sohnes mussten schließlich mit dem Vollzug der Untersuchungshaft wegen Wiederholungs- und Fluchtgefahr gestoppt werden. Entscheidend für die Entlastung der Eltern sei aber, dass ihr Sohn in der entscheidenden letzten Nacht nicht mehr in die Wohnung zurückkehrte. Sie konnten deshalb die erforderliche Aufsichtsmaßnahme, ihren Sohn über Nacht ausbruchssicher einschließen, nicht erfüllen. Infolgedessen sei die unterlassene Aufsicht nicht für die rechtwidrige Handlung des Sohnes ursächlich gewesen. Der körperlich unterlegenen Mutter wäre es auch nicht möglich gewesen, die Wegfahrt ihres Sohnes am Morgen zu verhindern. Auch ihre Erklärung gegenüber ihrem Sohn, „wenn er jetzt gehe, brauche er nicht mehr zurückkommen", sei nicht als Aufsichtspflichtverletzung sondern als letzte hilflose Bemühung zu werten, den Sohn umzustimmen 650 .
II. Kausalitätswiderlegung aufgrund des Schutzzweckes der Norm 1. Allgemeines Die zweite Exkulpationsmöglichkeit bezüglich der Kausalität zwischen Aufsichtspflichtverletzung und schädigender Handlung ist nicht ausdrücklich im Gesetz geregelt. Sie ergibt sich vielmehr aus der Tatbestandsstruktur und dem Schutzzweck des § 832 BGB, nämlich Dritte vor Schäden durch fehlende oder unzureichende Beaufsichtigung eines Aufsichtsbedürftigen zu schützen. Das Schrifttum erläutert diese Entlastungsmöglichkeit meist nur knapp im Rahmen der unerlaubten Handlung des Aufsichtsbedürftigen, soweit es überhaupt darauf eingeht. Der rechtlichen Qualität der verletzenden Handlung des Aufsichtsbedürftigen kommt bei dieser Kausalitätswiderlegung entscheidende Bedeutung zu. Schon die Verwirklichung des Risikos der Schädigung Dritter durch einen Aufsichtsbedürftigen, der die Erfüllung der Aufsichtspflicht gerade vorbeugen soll, löst die Vermutungswirkungen des § 832 Abs. 1 BGB - und somit die Kausalitätsvermutung zwischen Aufsichtspflichtverletzung und schädigender Handlung des Aufsichtsbedürftigen - aus. Die Haftung des Aufsichtspflichtigen nach § 832 Abs. 1 BGB setzt dabei aber voraus, dass er durch eine Verletzung dieser Pflicht die Gefahr des eingetretenen Erfolges konkret erhöht hat. Das Gesetz kennt keine allgemeine Verkehrspflicht des Erziehungsberechtigten gegenüber Dritten, den Aufsichtsbedürftigen dahingehend zu erziehen, dass die von ihm ausgehenden Risiken so gering wie möglich sind 651 . Hat deshalb der
650 651
OLG Koblenz NJW-RR 2002, 900 f v. 15.04.2002. MünchKomm/Stew, § 832 Rn. 18; Soergel¡Zeuner, § 832 Rn. 13, § 831 Rn. 31 ff.
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
Aufsichtsbedürftige bei Vornahme der schädigenden Handlung mit aller erdenklichen Sorgfalt gehandelt, so ist durch die Aufsichtspflichtverletzung die Gefahr des Verletzungserfolges nicht erhöht worden. Darum entfällt trotz einer etwaigen Verletzung der Aufsichtspflicht die Haftung des Aufsichtspflichtigen, wenn sich das Kind bei der Schadensverursachung so verhalten hat, wie sich jedes normal erzogene und beaufsichtigte Kind gleichen Alters hätte verhalten können, ohne dass deshalb den Eltern eine Vernachlässigung ihrer Pflichten hätte vorgeworfen werden können 652 . Die Bewertung der Handlungsqualität des Aufsichtsbedürftigen entscheidet somit in dieser Exkulpationsvariante darüber, ob trotz Aufsichtspflichtverletzung die Kausalitätsvermutung als widerlegt angesehen werden kann. Insofern Belling/Eberl-Borges 653 und A. Fuchs 654 die erforderliche Ursächlichkeit der Aufsichtspflichtverletzung als Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen Pflichtverletzung und Schaden bezeichnen, ist damit in der Sache dasselbe gemeint. Denn der Rechtswidrigkeitszusammenhang erfasst nur die Schadensfolgen, vor deren Eintritt die verletzte Norm schützen soll 655 . Die Unterlassung der gebotenen Aufsicht hat sich in diesem Fall nicht in der schädigenden Handlung des Aufsichtsbefohlenen niedergeschlagen. Vielmehr besteht nur eine zufällige äußere Verbindung zwischen schädigender Handlung und Aufsichtspflichtverletzung. Damit steht jedoch der dem Dritten entstandene Schaden in keinem inneren Zusammenhang zu der von dem Aufsichtspflichtigen mit der Verletzung der gebotenen Aufsicht geschaffenen Gefahrenlage. Infolgedessen ist der konkrete Haftungsgrund des § 832 BGB und damit auch der Schutzzweck der Norm nicht tangiert. Teilweise wird im Schrifttum etwas kürzer greifend darauf abgestellt, ob sich bei einem Volljährigen, der in der Lage des kindlichen Schädigers gewesen wäre, ein Fahrlässigkeits- oder Vorsatzvorwurf feststellen ließe. Falls das nicht der Fall sei, greife die Vermutung eines Aufsichtsverschuldens nicht, da es sich nicht um kindtypisches unbesonnenes Verhalten handele656.
2. Urteile Es gibt nur wenige Entscheidungen, in denen die Gerichte auf die rechtliche Qualität der Handlung des Aufsichtsbedürftigen eingingen und die Eltern we652 BGH VersR 1957, 799 (800) v. 01.10.1957; BGH VersR 1964, 1023 (1024) v. 16.06.1964; MünchKomm/Ste/n, § 832 Rn. 16; RGRKJKreft, § 832 Rn. 28; Eckert, S. 163; Scheffen/Pardey, Rn. 125; Pardey, DAR 2001, 1 (2). 653 Staudinger/Belling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 132. 654 A. Fuchs, S. 251. 655 Palandt/Heinrichs, Vor § 249 Rn. 62. 656 Kötz/Wagner, Rn. 330; Haberstroh, VersR 2000, 806 (814); v. Bar, Gemeineuropäisches Deliktsrecht, Rn. 147; Schoof, S. 113.
§ 4 Die Exkulpation der Kausalitätsvermutungen
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gen der fehlenden Kausalität entlasteten. An neueren veröffentlichten Urteilen fehlt es. Die Entlastung der Eltern über den Schutzzweck der Norm bildet in der Rechtsprechung somit die Ausnahme, wobei ein Einfluss der eher stiefmütterlichen Behandlung der Entlastungsvariante im Schrifttum nicht auszuschließen ist. In einem BGH-Urteil v. 01.10.1957 hatte die beklagte Mutter ihrem 11jährigen Sohn einen großen Flitzbogen nebst Pfeilen mit Spitzen aus Eisen und Gummipfropfen geschenkt. Der Sohn warf einen Pfeil mit dem Gummipfropfen wie einen Stock auf einen Baum. Dieser prallte vom Baum ab und traf mit dem hinteren Ende das rechte Auge seines Spielkameraden, welcher in geringem Abstand von dem Baum auf einer kleinen Mauer saß. Nach Ansicht des Senats bestand eine Aufsichtspflichtverletzung der Mutter bereits darin, dass sie ihrem erst 11-jährigen Sohn ohne Beaufsichtigung die Benutzung der Pfeile gestattete. Denn dieser sei aufgrund seines Alters nicht in der Lage gewesen, die aus der Benutzung resultierenden Gefahren einzuschätzen und sich danach zu verhalten. Jedoch sei die Aufsichtspflichtverletzung nicht für den Unfall ursächlich gewesen. Der Junge habe den Pfeil wie einen Stock verwandt, den er überall im Freien hätte finden können, und sich dabei so benommen, wie es wohl manch anderer, gutartiger Junge seines Alters getan hätte 657 . Aus ganz ähnlichen Erwägungen verneinte der BGH in einem Urteil v. 16.06.1964 die Haftung des beklagten Vaters. Sein 7,/4-jähriger Sohn hatte mit einem vorn zugespitzten Holzstock gespielt. Die hinter ihm stehende 33/4-jährige Klägerin bemerkte er dabei nicht. Er erhob plötzlich den Stock und holte mit ihm wie zu einem Wurf aus. Dabei verletzte er mit dem Stockende die Klägerin am Auge. Der Senat wies die Klage aufgrund der fehlenden Kausalität zwischen Aufsichtspflichtverletzung und schädigender Handlung ab. Zwar habe eine Aufsichtspflicht des Vaters dahingehend bestanden, Würfe seines Sohnes mit dem zugespitzten Stock zu verhindern, aber diese Gefahr habe sich vorliegend nicht in der schädigenden Handlung ausgewirkt. Die Verletzung wurde durch das bloße Spiel mit dem Stock verursacht, wobei sich der Sohn des Beklagten wie jedes normal erzogene und beaufsichtigte Kind gleichen Alters verhalten habe 658 .
657 658
BGH VersR 1957, 799 f v. 01.10.1957. BGH VersR 1964, 1023 (1024) v. 16.06.1964.
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
§ 5 Die Einschätzung der Rechtsprechung zu § 832 BGB I. Die Bewertung der Anforderungen an die Aufsichtsführung /. Die Rechtsprechung Die Gerichte stufen die von ihnen gestellten Anforderungen in Brandfällen 659 , bei Schusswaffen 660 und bei gefährlichen Gegenständen661 selbst als streng ein. Wiederholt bezeichnen sie die Anforderungen an die Aufsichtspflicht allgemein als streng 662 , mitunter auch als sehr streng 663. Teilweise weisen sie aber daraufhin, dass die Eltern nur vernünftigen und keinen übertriebenen Anforderungen zu genügen haben 664 . Überwiegend gehen die Gerichte nicht darauf ein, wie der von ihnen gewählte Maßstab an die Aufsichtspflicht zu bewerten ist.
2. Das Schrifttum Die dargestellte Rechtsprechung zu § 832 BGB wird im Schrifttum unterschiedlich bewertet. Dahlgrün (1979) bemängelt, dass es zur Bestimmung der gebotenen Aufsichtspflicht in Rechtsprechung und Literatur weitestgehend an
659
BGH LM Nr. 9a zu § 832 BGB (= VersR 1969, 523 [524]) v. 28.02.1969; LM Nr. 13 zu § 832 BGB (= NJW 1983, 2821) v. 17.05.1983; LM Nr. 16 zu § 832 BGB (= NJW-RR 1987, 13 [14]) v. 01.07.1986; LM Nr. 19 zu § 832 BGB (= NJW 1993, 1003) v. 19.01.1993; LM Nr. 20 zu § 832 BGB (=NJW 1995, 3385) v. 10.10.1995; LM Nr. 21 zu § 832 BGB (= NJW 1996, 1404) v. 27.02.1996; LM Nr. 22 zu § 832 BGB (= NJW 1997, 2047 [2048]) v. 18.03.1997; OLG Karlsruhe VersR 1985, 599 v. 14.03.1984; OLG Oldenburg FamRZ 1994, 833 (834) v. 19.10.1993; OLG Hamm NJW-RR 1996, 153 v. 13.01.1995; VersR 1998, 722 (723) v. 15.04.1997; 1999, 843 (844) v. 11.02.1998; OLG Koblenz r+s 1995, 413 (414) v. 01.06.1994; OLG Düsseldorf VersR 1983, 89 v. 14.04.1981; 1992, 321 v. 14.09.1990; 1992, 310 (311) v. 23.11.1990; MDR 2001, 333 = NJW-RR 2002, 235 v. 15.09.2000. 660 BGH VersR 1962, 157 v. 14.11.1961; OLG Nürnberg FamRZ 1963, 367 (368) v. 05.02.1963; LG Aachen VersR 1971, 89 (90) v. 11.11.1969. 661 BGH VersR 1958, 563 v. 11.04.1958; 1962, 1088 (1089) v. 13.07.1962. 662 BGH FamRZ 1964, 84 (85) v. 19.11.1963; VersR 1965, 606 (607) v. 23.03.1965; LM Nr. 8c zu § 832 BGB (= VersR 1968, 903) v. 11.06.1968; OLG Köln VersR 1969, 88 v. 20.05.1968; OLG Hamburg VersR 1973, 828 (829) v. 02.09.1971; OLG Oldenburg VersR 1976, 199 v. 23.04.1975; LG Mönchengladbach NJW 1968, 1970 (1971) v. 19.03.1968. 663 OLG Hamburg NJW-RR 1988, 799 v. 08.04.1988. 664 LG Limburg/Lahn VersR 1972, 698 v. 06.01.1972; LG Aachen r+s 1987, 225 (226) v. 10.10.1986.
§ 5 Die Einschätzung der Rechtsprechung zu § 832 BGB
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einem systematischen Ansatz fehlt 665 . M. Schmid (1982) bezeichnet den Prozessausgang als in weiten Bereichen kaum vorhersehbar, weil es darauf ankomme, was das letztinstanzliche Gericht für erforderlich, verständig und zumutbar halte 666 . Schon 1968 hatte v. Hippel daraufhingewiesen, dass ein und derselbe Fall von verschiedenen Instanzen oft unterschiedlich beurteilt werde 667 . Eine Aussage, der sich Großfeld/Mund 1994 anschlossen. Dabei lasse sich weder sagen, der BGH urteile grundsätzlich härter als die Instanzgerichte noch umgekehrt 668. Anschaulich formuliert auch Scheffen 1995, wonach sich die Betroffenen oft „nur an den Knöpfen abzählen" könnten, ob der Rechtsstreit gegen die Eltern wegen der Verletzung der Aufsichtspflicht Erfolg haben werde oder nicht. So offenbare sich die Ungewissheit des Rechtsausgangs eines Prozesses wegen „zündelnder Kinder" in einer ungewöhnlich hohen Zahl derartiger Fälle, mit denen der BGH befasst war, nämlich zwanzig Fälle im Zeitraum 1982 bis 1994 669 . P. Huber gibt jedoch zu bedenken, dass die genaue Bestimmung von Maß und Intensität der Aufsichtspflicht immer nur im konkreten Einzelfall erfolgen kann. Deshalb lieferten allgemeine Aussagen ebenso wie Entscheidungen der Rechtsprechung nur Anhaltspunkte 670. Wiederholt wird im Schrifttum von einer Gefährdungshaftung der Eltern in § 832 BGB gesprochen. Bosch (1974) zufolge belastet die Praxis der Gerichte die elterliche Aufsichtspflicht aus § 832 BGB mit Schadensersatzsanktionen, die weithin einer rein objektiven Haftpflicht des „Kinderhalters" gleichkommen 671 . So kritisierte die Red. d. FamRZ das BGH-Urteil v. 06.04.1976 als Kinderhalterhaftung 672. Für Strätz grenzen die Urteile des BGH v. 07.07.1964 und des OLG Düsseldorf v. 08.03.1977 an eine Erfolgshaftung 673. Deerberg spricht von einer partiellen Gefährdungshaftung der Eltern in § 832 BGB, die der Gesetzgeber einkalkuliert habe. Denn bei § 832 BGB sei der Aufsichtspflichtige solange latent in Anspruch genommen, wie er sich nicht zu entlasten vermag. In den Fällen, in denen der Aufsichtspflicht genügt wurde, die Eltern dies aber nicht zu beweisen vermögen, hafteten sie verschuldensunabhängig.
665
Dahlgrün, S. 112. M Schmid, VersR 1982, 822. 667 v. Hippel, FamRZ 1968, 574 (575). 668 Großfeld/Mund, FamRZ 1994, 1504 (1506, 1509). 669 Scheffen, FS Steffen, S. 387 (392 f) . Dabei berücksichtigt sie jedoch auch die zahlreichen BGH-NA-Beschl. 670 MünchKomm/P. Huber, § 1631 Rn. 9. 67 1 Bosch, FamRZ 1974, 1 (4). 672 Anm. d. Red. d. FamRZ, FamRZ 1976, 332 zu BGH LM Nr. 11 zu § 832 BGB (= FamRZ 1976, 330) v. 06.04.1976 (vgl. 1. Teil § 3 II 3). 673 Soergel!Strätz, § 1631 Rn. 15 Fn. 31 unter Verweis auf BGH FamRZ 1964, 505 (= VersR 1964, 1085) v. 07.07.1964 (vgl. 1. Teil § 3 I 2) und OLG Düsseldorf FamRZ 1980, 181 (= VersR 1978, 352) v. 08.03.1977 (vgl. 1. Teil § 3 VI 3). 666
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
Deshalb habe bei § 832 BGB der non-liquet-YdW nicht anspruchsverneinende, sondern anspruchsbegründende und damit haftungskonstitutive Bedeutung. Daher neige § 832 BGB nicht nur zu Gefährdungshaftung, die Norm sei teilweise Gefährdungshaftung, was aber mit Art. 6 Abs. 1 GG kaum in Einklang zu bringen sei 674 . Daran anknüpfend weist A. Fuchs daraufhin, dass aufgrund der Beweislastverteilung in § 832 BGB in manchen Fällen der Schaden auch bei Schuldlosigkeit zu ersetzen sei. Insoweit hafteten die Eltern ohne eigenes Verschulden, wobei diese Gefahr um so größer sei, desto höher die Anforderungen an den Entlastungsbeweis sind 675 . Nach Schoof gelingt den Eltern wegen des strengen Maßstabes, den die Rechtsprechung an die Führung des Entlastungsbeweises anlegt, in vielen Fällen die Exkulpation nicht. Die Haftung aus § 832 Abs. 1 BGB sei de facto an eine Haftung ohne Verschulden angenährt. Die Tendenz gehe daher zu einer Gefährdungshaftung, was wegen der mangelnden Vergleichbarkeit der Tatbestandsumstände der Elternhaftung mit solchen der Gefährdungshaftung als rechtlich äußerst bedenklich erscheine 676. Auch für Haberstroh kommt die Haftung für vermutetes Verschulden in ihren praktischen Auswirkungen einer Gefährdungshaftung für das Risiko Kind nahe 677 . Hartmann zufolge hat § 832 BGB den Charakter einer eingeschränkten Erfolgseinstandspflicht, wie alle Verkehrssicherungspflichten. Wer für die Gefahrenquelle rechtlich zuständig sei, müsse konkret und tatsächlich gewährleisten, dass die getroffenen Schutzmaßnahmen getroffen werden. Fehle es daran, habe der Zuständige seine Pflicht verletzt 678 . Stürner (1984) charakterisiert die Rechtsprechung zur Aufsichtspflicht über Kinder als eine neue Haftungskategorie zwischen Risiko- und Verschuldenshaftung, welche als Haftung für optimale Sorgfalt bezeichnet werden könnte. Es bleibe insgesamt der Eindruck einer risikoüberwälzenden Rechtsprechung, die unter der falschen Flagge der Verschuldenshaftung segele und durch einzelne Rückfälle in die Maßstäblichkeit befolgbarer Verhaltensgebote nicht überzeugender wirke 679 . Coester-Waltjen tritt der Beurteilung entgegen, die Rechtsprechung zu § 832 BGB sei als Gefährdungshaftung der Eltern einzuschätzen. Zwar neige die Rechtsprechung unverkennbar dazu, die Pflicht der Eltern über das verkehrsüb-
67 4 Deerberg, S. 89 f, 113. Jayme (S. 153) zufolge verhindert der in § 832 BGB enthaltene Verfassungsgrundsatz Art. 6 Abs. 1 GG eine Auslegung der Norm, die durch eine Anspannung des Maßes der erforderlichen Aufsicht eine objektive Schadensverteilung zu Lasten der Eltern zur Folge hätte. 67 5 A. Fuchs, S. 118 f. 67 6 Schoof S. 115, 118. 67 7 Haberstroh, VersR 2000, 806 (812). 67 8 Hartmann, VersR 1998, 22 (23). 67 9 Stürner, VersR 1984, 297 (308, 299).
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liehe Maß hinaus zu steigern; von einer verdeckten Gefährdungshaftung Dritten gegenüber könne indessen nicht die Rede sein. Insbesondere sei der Rechtsprechung bewusst, dass elterliche Erziehung auch Gewöhnung des Kindes an Gefahrenlagen fordere und insoweit nicht durch ein Übermaß an Beaufsichtigung gehindert werden dürfe 680 . Salgo pflichtet dieser Würdigung der Rechtsprechung bei 681 . Aden 682 (1972) und Dahlgrün 683 (1979) sehen die gesamte Rechtsprechung zu § 832 BGB klar auf dem Boden der Verschuldenshaftung; die Gerichte halten sich ihrer Auffassung nach an das in § 832 BGB verankerte Verschuldensprinzip. In seinem Urteil v. 09.06.2000 betonte das OLG Hamm, die Aufsichtspflicht der Eltern in § 832 BGB finde nicht ihren Grund darin, dass jederzeit eine Haftpflicht im Falle der Schädigung durch ein Kind bereitstehe. Die Haftung für ein (vermutetes) Aufsichtsverschulden sei keine Gefährdungshaftung 684. In der Sache wird vom Schrifttum die gesamte Rechtsprechung zu § 832 BGB überwiegend als streng eingestuft. Die Red. d. FamRZ bezeichnete 1965 die Rechtsprechung zu § 832 BGB als derart hart, dass es kaum noch verantwortlich erscheine, ohne Haftpflichtversicherungsschutz Kinder zu haben685. Wenz (1987) kritisiert die Strenge der früheren Rechtsprechung, die mit anderen Aussagen wie z. B. in § 1626 Abs. 2 BGB oder BVerfGE 24, 119 (144) kaum zu vereinbaren sei 686 ; Strätz (1987) nimmt eine gelegentlich bedenkliche Schärfe der Rechtsprechung an 687 . Stürner (1984) zufolge legt die Rechtsprechung bei § 832 BGB einen Maßstab an, der in seiner Strenge unberechenbar ist. Sie habe so den zur Risikohaftung tendierenden § 832 BGB durch fortlaufende Betonung des strengen Maßstabes der Aufsichtspflicht noch verschärft 688. Scheffen (1995) spricht von der Lebenswirklichkeit widersprechenden Anfor-
680
Gernhuber/Coester-Waltjen, § 62 III 4. Staudinger/Sa/go, § 1631 Rn. 49. ^ Aden, S. 198. 683 Dahlgrün, S. 84. Als diesbezügliche Fehlentscheidungen führt Dahlgrün dort nur an: RG Warn 1916 Nr. 136, S. 216 v. 30.03.1916 (vgl. 1. Teil § 3 I 1 b) und OLG München VersR 1954, 544 v. 24.08.1954 (vgl. 1. Teil § 3 I 6). 684 OLG Hamm MDR 2000, 1373 (1374) = NJW-RR 2002, 236 (237) = OLGR 2000, 266 (267 f) v. 09.06.2000. 685 Anm. d. Red. d. FamRZ, FamRZ 1965, 76 unter Verweis auf BGH FamRZ 1964, 84 v. 19.11.1963 (vgl. 1. Teil § 3 III 2); 505 (= VersR 1964, 1085, vgl. 1. Teil § 3 I 2) v. 07.07.1964; 1965, 75 v. 24.11.1964 (vgl. 1. Teil § 3 VI 2). Der Verweis auf die Entscheidung in FamRZ 1964, 84 ist in diesem Zusammenhang aber unverständlich, da dort der Senat die haftungsbejahende Entscheidung der Vorinstanz aufhob, erfüllbare Aufsichtsanforderungen stellte und für Bosch (FamRZ 1964, 85) das Urteil in seiner Anmerkung als durchaus beifallswert im Lichte des Art. 6 Abs. 1 GG erschien. 686 RGRK/Wenz, § 1631 Rn. 16. 687 SocrgeVSträtz, § 1631 Rn. 15. 688 Stürner, VersR 1984, 297 (298). 681
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
derungen der Rechtsprechung; insbesondere bei den Haftpflichtfällen „zündelnder Kinder" seien die Forderungen lebensfremd 689. Für Coester-Waltjen (1994) neigt die Rechtsprechung unverkennbar dazu, die Pflicht der Eltern über das verkehrsübliche Maß hinaus zu steigern 690. Emmerich (1999) meint, entgegen einer verbreiteten Tendenz der Praxis dürfe namentlich bei Heranwachsenden von den Eltern nichts Unmögliches verlangt werden 691 . Pardey (1998) geht die Haftung aus § 832 BGB mit ihren abgestuften Anforderungen zu weit 6 9 2 ; Kötz/Wagner (2001) sprechen von oft außerordentlich hohen Anforderungen, welche die Praxis an den Entlastungsbeweis der Eltern stellt 693 . Gaisbauer (1975) stuft die Rechtsprechung als verhältnismäßig streng ein 694 . Immenga 695 (1969) bezeichnet den Maßstab der Rechtsprechung bei der Bestimmung des Aufsichtsmaßes als streng, eine Einschätzung, die auch Berning/Vortmann 696 (1986), Großfeld/Mund 697 (1994) und Schoof* 98 (1999) vertreten. Und nach Auffassung von Niboyet (2000) sind die Anforderungen der Rechtsprechung an die Erfüllung der Aufsichtspflicht hoch 699 . Kreft (1989) begrüßt die grundsätzlich strengen Anforderungen der Rechtsprechung an den Entlastungsbeweis. Er betont, dass bei dem Vorhandensein und der Benutzung von gefährlichen Gegenständen durch den Aufsichtsbedürftigen besonders strenge Anforderungen an die Ausübung der Aufsichtspflicht zu stellen sind 700 . Ebenso tritt Serwe (1993) dafür ein, hohe Anforderungen an die Aufsichtspflicht zu stellen 701 .
689 Scheffen, FS Steffen, S. 387 (393). Danach sind die Anforderungen an die Aufsichtspflichtigen, dem Spiel sieben- und achtjähriger Kinder nachzugehen, ebenso lebensfremd wie die Forderung, die Hosentaschen allabendlich oder mehrfach die Woche auf Feuerzeuge und Streichhölzer untersuchen zu müssen. 690 GernhuberICoester-Waltjen, § 62 III 4. 691
692
Emmerich, § 25 VI, Rn. 32.
Pardey, DAR 1998, 1 (3). Kötz/Wagner, Rn. 331. 694 Gaisbauer, VersR 1975, 387. Gaisbauer hält es für erstaunlich, welch übertriebene und praktisch unerfüllbare Anforderungen im Falle von Schadensverursachungen durch Kinder und Jugendliche seitens der Kläger an die Aufsichtspflicht der Eltern manchmal zu stellen versucht werden. 695 Immenga, FamRZ 1969, 313 (316). 696 Berning/Vortmann, JA 1986, 12 (17) unter Verweis auf BGH FamRZ 1964, 84 v. 19.11.1963. 697 Großfeld/Mund, FamRZ 1994, 1504 (1507). ™ Schoo/, S. 115. 699 Niboyet, S. 153, die zur Begründung auf BGH LM Nr. 8c zu § 832 BGB (= VersR 1968, 903) v. 11.06.1968 verweist (vgl. 1. Teil § 3 IV 2). 700 RGRKJKreft, § 832 Rn. 29, 36, unter Verweis auf BGH VersR 1955, 421 v. 11.05.1955 (vgl. 1. Teil § 3 I 2) und BGH FamRZ 1964, 84 v. 19.11.1963 (vgl. I.Teil §3111 2). 701 Serwe, SCHS-ZTG 1993, 129(130). 693
§ 5 Die Einschätzung der Rechtsprechung zu § 832 BGB
203
Zum Teil spricht das Schrifttum nur partiell von strengen Aufsichtsanforderungen in der Rechtsprechung, wobei in Brandfällen die Anforderungen nahezu einhellig als streng, besonders streng oder verschärft charakterisiert werden 702 . So sind nach Meinung von Canaris (1994) bei gefahrträchtigen Verhaltensweisen wie Ballspielen auf der Straße, Schießen mit Pfeil und Bogen oder Umgang mit Feuer die Anforderungen an die Aufsichtspflicht besonders streng 703. Nach Auffassung von Schiemann (2000) bestehen besondere Anforderungen bei der Teilnahme von Kindern am Straßenverkehr; und eine besonders strenge Aufsichtspflicht sei bei der Benutzung von gefahrlichem Spielzeug, Schusswaffen und Zündmitteln anzulegen704. Teichmann 705 (2003), Staudinger 706 (2002) und A. Fuchs 707 (1995) sehen ebenfalls in diesen Fallgruppen strenge Maßstäbe und Anforderungen der Rechtsprechung. Thomas (2003) spricht von strengen Anforderungen an die Aufsichtspflicht beim Gebrauch von Schusswaffen und dergleichen 703; v. Hippel (1999) sieht die Eltern im Straßenverkehr einer zu scharfen Haftung für ihre Kinder unterworfen 709 . Bei all diesen Einschätzungen muss aber ein von A. Fuchs aufgezeigter Aspekt beachtet werden. Er gibt zu bedenken, dass niemand begründe, warum nicht normale, sondern strenge Anforderungen beim Maß der gebotenen Aufsicht notwendig seien. Dabei habe die Rechtsprechung den Grundsatz der strengen Anforderungen nur in einigen Urteilen formuliert; zudem bedeute streng nicht übermäßig 710. Mitunter wollen Stimmen einen Wandel der Rechtsprechung erkennen. So vertritt M. Schmid (1982) die Auffassung, die neuere Rechtsprechung lasse die Tendenz erkennen, die früheren strengen Anforderungen aufzulockern 711. Schäfer erkennt 1986 in der neueren Rechtsprechung mildere Töne in der Strenge der elterlichen Aufsichtspflicht 712 . Nach Meinung von Albilt (1987) werden die Aufsichtspflichtigen seit 1945 viel häufiger entlastet. Die früher herrschende 702
Staudinger¡Belling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 109; Soergd/Zeuner, § 832 Rn. 21; BaumgärteVBaumgärte l, § 832 Rn. 8; Hk/Staudinger, § 832 Rn. 11; Jauernig¡Teichmann, § 832 Rn. 6; Erman ¡Schiemann, § 832 Rn. 8; Geigei ¡Haag, Kap. 16 Rn. 28; Scheffen/Pardey, Rn. 150; BerningfVortmann, JA 1986, 12(17). 703 LarenzJCanaris, Schuldrecht, § 79 IV 2 c. 704 Erman/Schiemann, § 832 Rn. 7 f. 705 ]mzm\g/Teichmann, § 832 Rn. 6. 706 H\dStaudinger, § 832 Rn. 11. 707 A. Fuchs, S. 129 ff 708 Palandt/77iomiw, § 832 Rn. 13. 709 v. Hippel, NZV 1999, 313 (314). 7.0 A. Fuchs, S. 134 f. 7.1 M. Schmid, VersR 1982, 822 (825). 712 Staudinger¡Schäfer, 12. A., § 832 Rn. 61a, unter Verweis auf die BGHEntscheidungen LM Nr. 11 zu § 832 BGB (= FamRZ 1976, 330) v. 06.04.1976 (vgl. 1. Teil § 3 II 3) und LM Nr. 12 zu § 832 BGB (= NJW 1980, 1044) v. 27.11.1979 (vgl. 1. Teil §3 VI 1).
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
Auffassung, die grundsätzlich einen strengen Maßstab angelegt habe, weiche richtigerweise langsam einer bewusst mehr differenzierenden Betrachtungsweise 713 . A. Fuchs sieht die Rechtsprechung im Bereich des Straßenverkehrs im Vergleich zu den fünfziger und sechziger Jahren liberalisiert, was zu einer vom Gesetzgeber nicht vorgesehenen Haftungslücke geführt habe. So dürften schon 3- bis 4-jährige Kinder ohne Aufsicht am Straßenverkehr teilnehmen. Der Grund der Liberalisierung liege jedoch nicht in erster Linie an der Änderung des Erziehungsideals durch das SorgeRG. Die milderen Anforderungen beruhten primär auf den geänderten Eigenschaften des Minderjährigen und der Mobilität der Gesellschaft; zudem sei die Straße für viele Kinder der einzige Ort, wo sie im Freien spielen könnten 714 . Stein (1997) zufolge legt die Rechtsprechung strenge Maßstäbe an. Doch zeigten sich erfreulicherweise in der jüngeren Judikatur des BGH Tendenzen, dem Gesichtspunkt Rechnung zu tragen, dass Erziehung auf Vertrauen gestützt sein muss und dass Kinder an den Umgang mit gefährlichen Gegenständen herangeführt werden müssen. Dabei sollte das Pendel aber nicht allzu weit zugunsten einer Berücksichtigung emanzipatorischer Pädagogik und praktischer Hilflosigkeit der Eltern ausschlagen715. Medicus (2003) schätzt die Anforderungen der Gerichte an die Eltern als eher streng ein. Andererseits lasse der BGH in neuerer Zeit auch die Neigung erkennen, den Eltern eine gewisse Freiheit zum erzieherischen Wagnis einzuräumen 716 . Nach Ansicht von Haberstroh (2000) stehen neben Entscheidungen, die den Rechtsbegriff der Aufsichtspflichtverletzung geradezu beispielhaft veranschaulichen und vernünftige gegen überzogenen Aufsichtsvorstellungen abgrenzen, solche, deren Akzeptanzchancen kaum über die Richterbank hinausgehen dürften. Letztere orientierten sich fast offen nicht an gesellschaftlich akzeptierten Anforderungen an elterliches Erziehungsverhalten, beanspruchten aber schon allein durch ihre Veröffentlichung Orientierungscharakter 717. m
Albilt, S. 226, 235. A.Fuchs, S. 315 f, 282 f. 715 MünchKomm/Stew, § 832 Rn. 19, unter Verweis auf die BGH-Entscheidungen LM Nr. 11 zu § 832 BGB (= FamRZ 1976, 330) v. 06.04.1976 (vgl. 1. Teil § 3 II 3) und Nr. 13 zu § 832 BGB (= NJW 1983, 2821) v. 17.05.1983 (vgl. 1. Teil §3 II 1 abb). In beiden Urteilen wurde die Haftung der Eltern aber bejaht. 7,6 Medicus, Schuldrecht BT, Rn. 861, unter Verweis auf BGH LM Nr. 11 zu § 832 BGB (= FamRZ 1976, 330) v. 06.04.1976 (vgl. 1. Teil § 3 II 3) und OLG Düsseldorf VersR 1988, 56 v. 03.06.1986 (vgl. 1. Teil § 3 II 1 abb). 717 Haberstroh, VersR 2000, 806 (812 f) . Positiv stellt Haberstroh in Fn. 78 heraus: BGH LM Nr. 15 zu § 832 BGB (= NJW 1984, 2574) v. 10.07.1984 (vgl. 1. Teil § 3 II 1 a aa, dd); LM Nr. 12 zu § 832 BGB (= NJW 1980, 1044) v. 27.11.1979 (vgl. 1. Teil § 3 VI 1); LM Nr. 19 zu § 832 BGB (= NJW 1993, 1003) v. 19.01.1993 (vgl. 1. Teil § 3 II 1 b). Sehr kritisch bespricht Haberstroh (S. 813 f) hingegen: OLG Düsseldorf VersR 1998, 721 v. 18.07.1997 (vgl. 1. Teil § 3 I 4 a); OLG Hamm VersR 1999, 843 v. 11.02.1999 (vgl. 1. Teil § 3 II 1 a bb); KG MDR 1997, 840 v. 03.03.1997 (vgl. 1. Teil § 3 III 3 b); LG Lüneburg VersR 1999, 102 v. 09.01.1997 (vgl. 1. Teil § 3 IV 1). 714
§ 5 Die Einschätzung der Rechtsprechung zu § 832 BGB
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Es charakterisieren aber auch Stimmen die Rechtsprechung zu § 832 BGB als normal. Lehmann betont 1958, es seien keine übermäßigen Anforderungen an die Aufsichtspflicht zu stellen 718 . Dahlgrün (1979) vertritt die Auffassung, entgegen den von Literatur und Rechtsprechung postulierten strengen Aufsichtsanforderungen, erwiesen sich die Anforderungen im praktischen Ergebnis als nicht allzu hoch. Eine Ausnahme bildeten nur die Fälle mit Waffenbesitz. Die Anforderungen der Rechtsprechung an die Eltern nach 1945 seien niedriger, praktisch eher durchführbar und zumutbarer als zuvor. So seien für den Zeitraum 1945-1978 7% der Entscheidungen als zu streng (1900-1945: 12,5%), 2,5% als praktisch nicht durchführbar (1900-1945: 9,4%) und 6,9% als unzumutbar (1900-1945: 9,1%) einzustufen. Die Rechtsprechung zeige mehr Verständnis für die Situation der Eltern, und das Kindesinteresse werde zu Lasten des Drittinteresses voll berücksichtigt 719 . Auch nach Ansicht von Eckert (1993) - der sich an den Ausführungen von Dahlgrün orientiert - stellt die Rechtsprechung nunmehr niedrigere und praktisch eher durchfuhrbare Anforderungen an die Eltern. Die Anforderungen an eine ordnungsgemäße Beaufsichtigung unterlagen danach im Laufe der Zeit einem gewissen Wandel, der in der Rechtsprechung der Nachkriegszeit gegenüber früher deutlich werde. Opferten früher die Gerichte die Kindesbelange weitgehend dem Sicherheits- und Schutzinteresse der Allgemeinheit, indem sie sehr strenge und praktisch kaum durchführbare Anforderungen an die Aufsichtsführung der Eltern stellten, so zeigten sie heute mehr Verständnis für die Situation der Eltern und berücksichtigten in zunehmenden Maße das Recht des Kindes. Neigte die Rechtsprechung vor 1945 eher dahin, Schäden dadurch zu verhüten, dass die Gefahr von vornherein vom Kind ferngehalten oder eine ständige Kontrolle ausgeübt wurde, halte sie seitdem die Erziehung zu verantwortungsbewussten, selbstständigen Handeln für den geeigneteren Weg, das Kind selbst und Dritte vor Schäden zu bewahren. So mischten sich in der neueren Rechtsprechung des BGH auch mildere Töne in
718
EnntccQVxis!Lehmann, § 242 II. Dahlgrün, S. 199 f. A. Fuchs (S. 306 ff) erhebt methodische und sachliche Bedenken gegen das von Dahlgrün gefundene Ergebnis. So müssten bei den von Dahlgrün berücksichtigten 167 Urteilen die Urteile außer Betracht bleiben, bei denen mangels Sachverhaltsangabe eine Beurteilung des angelegten Aufsichtsmaßstabes nicht möglich sei. Bei den als zu streng eingestuften Urteilen mache nur etwas mehr als ein Urteil die Differenz von 5,5 % aus. Zudem hänge die Einschätzung von Zufälligkeiten ab, wenn man wie Dahlgrün die Urteile pauschal in 5 Kategorien einstufe. Der entscheidende Einwand gegen das Ergebnis von Dahlgrün sei aber, dass sie die Wertungsgesichtspunkte nicht offen gelegt habe, warum ihrer Meinung nach die Rechtsprechung nach 1945 milder geworden sei. Sie habe weder die einzelnen Urteile aufgezählt, die sie als zu streng qualifiziere, noch habe sie die Gründe der angeblichen Liberalisierung dargelegt. 7,9
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
die bisherige Strenge der elterlichen Aufsichtspflicht 720 . Mertens (1997) sieht die Rechtsprechung zu § 832 BGB durchaus vom Bemühen um realistische Pflichtstandards beherrscht 721. Tacke kommt 2000 unter Verweis auf einige ältere Urteile und die Kommentarliteratur zu der Feststellung, der Entlastungsbeweis gelinge in der Praxis nicht selten 722 . Van Bühren (2002) hält die Anforderungen an die Rechtsprechung für nicht sehr hoch 723 . Und nach Auffassung von A. Fuchs (1995) findet die Rechtsprechung zu § 832 BGB breite Zustimmung. Niemand greife den Ausgangspunkt an, manche wollten aber die Akzente anders setzen724.
II. Die einzelnen Aufsichtsmaßnahmen Zutreffend stellt Salgo fest, angesichts der unzählig denkbaren Fälle können die Aussagen hinsichtlich der Mittel wie der Intensität der Aufsicht nur sehr allgemein ausfallen 725. Die reichhaltige Kasuistik lässt sich nach Meinung von Schiemann nur in einem „beweglichen System" erfassen, wobei Ausgangspunkt der Beurteilung die Umstände des Einzelfalls seien 726 . Es haben sich in der Rechtsprechung vier Gruppen von Aufsichtsmaßnahmen herausgebildet. So heißt es in einem Urteil des OLG Koblenz v. 15.04.2002: Die Aufsichtsmöglichkeiten umfassen abgestuft die Belehrung, die Überwachung, das Verbot, aber auch das Unmöglichmachen schadensgeneigter Handlungen, wenn dies erforderlich ist 727 . Und das OLG Celle führte in seinem Urteil v. 12.02.1997 aus: Welche Erziehungs- und Aufsichtsmaßnahmen jeweils in Betracht kommen, ist situativ abzustufen; die jeweils gebotenen Maßnahmen reichen von Gefahraufklärungen über Ermahnungen bis zu Verboten. Geboten sein können im Einzelfall ferner Überwachungsmaßnahmen, die allerdings eine Grenze an der praktischen Durchführbarkeit finden 728 . Welche der unterschiedlich intensiven Maßnahmen im Einzelfall geboten sind, bestimmt sich nach Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten, die Aufsichtsmaßnahme muss also geeignet, erforderlich und
720
Eckert, S. 62 ff, unter Verweis auf die BGH-Entscheidungen LM Nr. 11 zu § 832 BGB (= FamRZ 1976, 330 = NJW 1976, 1684) v. 06.04.1976 (vgl. 1. Teil § 3 II 3) und LM Nr. 12 zu § 832 BGB (= NJW 1980, 1044) v. 27.11.1979 (vgl. 1. Teil § 3 VI 1). 721 MünchKomm¡Mertens, Vor §§ 823-853 Rn. 58 a. E. 722 Tacke, S. 46. 723 Van Bühren, MDR 2002, 1410 (1414). Statt des Verweises auf Palandt/7Vio/mw, § 823 Rn. 8 muss es Palandt/77zomay, § 832 Rn. 8 heißen. 724 A. Fuchs, S. 138. 725 StaudingerASa/go, § 1631 Rn. 48. 726 Erman/Schiemann, § 832 Rn. 6. 727 OLG Koblenz NJW-RR 2002, 900 v. 15.04.2002. 728 OLG Celle FamRZ 1998, 233 v. 12.02.1997.
§ 5 Die Einschätzung der Rechtsprechung zu § 832 BGB
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angemessen sein, um den Aufsichtszweck zu erfüllen 729 . Dabei können diese Aufsichtsmöglichkeiten rechtlich einzeln ausreichend, aber auch zusammen erforderlich sein 730 . Die einzelnen Aufsichtsmaßnahmen sind im Schrifttum bereits umfassend erläutert worden, weshalb auf eine nähere Erläuterung und Aufgliederung verzichtet wird 7 3 1 .
III. Eigene Stellungnahme Der Wandel der sozialen Verhältnisse hat zu einer Verschiebung der Fallgestaltungen in den veröffentlichten Urteilen zu § 832 BGB gefuhrt 732 . Die Anforderungen an die Aufsichtspflicht bei dem Gebrauch von Schusswaffen wurden nach dem zweiten Weltkrieg noch verschärft. Der Fallgruppe kommt aber nur noch eine geringe Bedeutung zu. Die verschiedenen Schadenssituationen im Straßenverkehr und die von Kindern verursachten Brandschäden bilden heute den Schwerpunkt der veröffentlichten Rechtsprechung. Dabei sind die Anforderungen der Gerichte relativ konstant, soweit sich dies aufgrund der vielgestaltigen Sachverhalte sagen lässt; ein - grundlegender - Wandel lässt sich nicht feststellen. Die richterliche Praxis zu § 832 BGB war und ist vom zu entscheidenden Einzelfall geprägt. Eine generelle Verschärfung oder Milderung der Judikatur lässt sich nicht feststellen. Ebenso wenig lässt sich ein Unterschied zwischen den Anforderungen erkennen, die einerseits der BGH und andererseits die Instanzgerichte an das gebotene Aufsichtsmaß stellen 733 . Diese Anforderungen können Eltern, die beide berufstätig sind, oft nur schwer realisieren. Dasselbe gilt für berufstätige Alleinerziehende. Häufig stellen die Gerichte Belehrungs- und Überwachungspflichten auf, welche - schon rein zeitlich gesehen - nur schwer zu erfüllen sind. Die Gerichte orientieren sich damit - zumindest noch teilweise - am Familienleitbild der Alleinverdienerfamilie, in der sich ein Elternteil voll der Familienarbeit widmen konnte. Damit legen die Gerichte ihren Urteilen ein Familienbild zu Grunde, welches es heute nicht mehr gibt. Dabei ergehen auch immer wieder Urteile, die aus dem von der Rechtsprechung gesteckten Rahmen fallen und das gebotene Aufsichtsmaß ü729 StaudingerIBelling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 90; Eckert, S. 61 f; Albilt, S. 98; M. Schmid, VersR 1982, 822 (823), der von einem Stufenverhältnis spricht. 730 M. Schmid, VersR 1982, 822 (823). Das OLG Düsseldorf (NJW-RR 1997, 343 [344] v. 11.10.1996) spricht von einem Bündel von Aufsichtsmaßnahmen. 731 So von M Schmid, VersR 1982, 822 (823 f) ; Schoo/, S. 64 ff; Eckert, S. 50 ff; Albilt, S. 97 ff; StaudingerIBelling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 91-95; Berning/Vortmann, JA 1986, 12 (17 f) . Dabei wird die Inanspruchnahme von staatlichen Erziehungshilfen teilweise als weitere eigenständige Fallgruppe, teilweise unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit erläutert. 732 So auch A. Fuchs, S. 2. 733 So auch Groß/eld/Mund, FamRZ 1994, 1504 (1506).
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1. Teil: Die Erläuterung der Haftung nach § 832 BGB
berraschend mild bzw. hart bestimmen, wobei die letzteren Urteile dabei überwiegen. Zum Teil weist die Rechtsprechung bei der abstrakten Bestimmung der gebotenen Aufsicht auf das in § 1626 Abs. 2 BGB normierte Erziehungsziel hin, welches das Aufsichtsmaß mindert. Das hat aber nicht zwangsläufig zur Folge, dass bei der Subsumtion im konkreten Fall den Eltern ein größerer Freiraum pädagogisch vertretbarer Maßnahmen als in den Urteilen ohne Nennung von § 1626 Abs. 2 BGB zugestanden wird. Denn die abstrakten, das Aufsichtsmaß mindernden Ausführungen werden häufig bei der Subsumtion nicht umgesetzt; in mehreren Urteilen besteht regelrecht eine Zweiteilung der Entscheidungsgründe. Trotz der elternfreundlichen abstrakten Ausführungen zum Aufsichtsmaß legten die Gerichte in diesen Urteilen einen eher strengen Maßstab bei der konkreten Bestimmung der Aufsichtspflicht an 734 . Insgesamt überwiegen die Urteile, in deren - veröffentlichten - Entscheidungsgründen die elternfreundliche Berücksichtigung von § 1626 Abs. 2 BGB bzw. des in ihm wurzelnden Erziehungsleitbildes fehlt. Als herausragend positive Beispiele sind hingegen zwei neuere Urteile des OLG Hamm v. 16.09.1999 und 09.06.2000 zu nennen735. Daneben ergingen Urteile aller Spruchkörper, die tatsächlich erfüllbare und aus Sicht verständiger Eltern auch vernünftige Anforderungen an ihre Aufsichtspflicht und somit die Exkulpation stellten 736 . Dem stehen jedoch
734
BGH LM Nr. 11 zu § 832 BGB (= FamRZ 1976, 330) v. 06.04.1976 (vgl. 1. Teil § 3 II 3); KG MDR 1997, 840 v. 03.03.1997 (vgl. 1. Teil § 3 III 3 b). 735 OLG Hamm MDR 2000, 454 v. 16.09.1999 (vgl. 1. Teil § 3 III 3 a bb); MDR 2000, 1373 = NJW-RR 2002, 236 = OLGR 2000, 266 v. 09.06.2000 (vgl. 1. Teil § 3 III 3 a aa (1)). 736 Seit dem In-Kraft-Treten des SorgeRG: BGH LM Nr. 13 zu § 832 BGB (= NJW 1983, 2821) v. 17.05.1983 (vgl. 1. Teil § 3 II 1 a bb); LM Nr. 15 zu § 832 BGB (= NJW 1984, 2574) v. 10.07.1984 (vgl. 1. Teil § 3 II 1 add); LM Nr. 19 (=NJW 1993, 1003 v. 19.01.1993 (vgl. 1. Teil § 3 II 1 b); OLG Düsseldorf NJW 1986, 2512 v. 21.05.1986; VersR 1988, 56 v. 03.06.1986; NJW-RR 1997, 343 v. 11.10.1996 (vgl. 1. Teil § 3 II 2); OLG Celle NJW-RR 1988, 216 v. 27.05.1987 (vgl. 1. Teil § 3 III 3 a bb); FamRZ 1998, 233 v. 12.02.1997 (vgl. 1. Teil § 3 I 4 b); OLG München FamRZ 1990, 159 v. 21.12.1988 (vgl. 1. Teil § 3 I 5); OLG Hamm OLGZ 92, 95 v. 02.05.1991 (vgl. 1. Teil § 3 VI 1); OLG Köln VersR 1996, 586 v. 27.10.1995 (vgl. 1. Teil § 3 I 3); OLG Jena OLG-NL 1998, 101 v. 21.10.1997 (vgl. 1. Teil § 3 III 1 b bb); LG Hildesheim r+s 1985, 174 v. 14.03.1985 (vgl. 1. Teil § 3 III 1 a); LG Düsseldorf VersR 1994, 484 v. 03.03.1993 (vgl. l.Teil § 3 III 3 b); LG Arnsberg FamRZ 1995, 602 v. 05.08.1994 (vgl. 1. Teil § 3 II 2); LG Nürnberg-Fürth NZV 1996, 153 v. 20.04.1995 (vgl. 1. Teil § 3 III 3 b); LG München I VersR 2000, 1022 v. 18.09.1998 (vgl. 1. Teil § 3 III 3 b); LG Potsdam NJW-RR 2002, 1543 v. 12.08.2002 (1. Teil § 3 IV 2); AG Heilbronn r+s 1987, 226 v. 12.03.1985 (vgl. l.Teil § 3 III 1 a); AG Gummersbach MDR 1986, 237 v. 14.11.1985 (vgl. 1. Teil § 3 III 1 a); AG Meldorf DAR 1987, 388 v. 10.09.1986 (vgl. 1. Teil § 3 III 3 b); AG Darmstadt ZfS 1992, 3 v. 01.03.1991 (vgl. 1. Teil § 3 III 3 b); AG Augsburg ZfS 1992, 150 v. 28.03.1991 (vgl. 1. Teil § 3 VI 3); AG Bersenbrück VersR 1994, 108 v. 03.03.1993 (vgl. 1. Teil § 3 III 3 a bb); AG Frankfurt/M. 1997, 1314 v. 01.11.1996 (vgl. 1. Teil § 3 III 3 a aa (1)); AG Brühl ZfS 2002, 275 v. 01.02.2002 (vgl. 1. Teil § 3 III 1 a aa (1)). Nach der Ausfertigung des SorgeRG,
§ 5 Die Einschätzung der Rechtsprechung zu § 832 BGB
209
auch Urteile gegenüber, die von völlig überzogenen Aufsichtsanforderungen an die Eltern ausgingen und damit auch den Entwicklungs- und Freiraum des Kindes unzulässig einengten737. Von vereinzelten Urteilen abgesehen, besteht in der Rechtsprechung nur eine uneinheitliche Auffassung zu der Frage, ob es eine starre Altersgrenze für die selbstständige Benutzung eines Fahrrades durch das Kind geben soll. Die beiden Lösungsansätze der Gerichte sind beispielhaft für die divergierende Verteilung des von Kindern ausgehenden Schadensrisikos zwischen Eltern und Allgemeinheit und der unterschiedlichen Gewichtung des Erziehungsrechtes und -auftrages der Eltern. Die Ansicht, welche eine starre Altersgrenze befürwortet, rückt § 832 BGB in die Nähe einer Gefährdungshaftung. Denn durch diesen Lösungsansatz soll eine Haftungslücke vermieden werden, die bei Anwendung der allgemeinen Grundsätze zur Bestimmung der Aufsichtspflicht entstehen würde. Es gibt aber auch außerhalb dieser Fallgruppe in der neueren Rechtsprechung Urteile, die einer Gefahrdungshaftung nahe kommen. So dehnte das OLG Düsseldorf in seinem Urteil v. 18.07.1997 die Belehrungspflichten uferlos aus, um eine Aufsichtspflichtverletzung der Eltern annehmen zu können 738 . Im Schrifttum sind die Voraussetzungen für die Annahme einer vertraglichen Aufsichtsübernahme umstritten. Uneinheitlich wird ebenfalls beurteilt, welche Aufsichtspflicht beim originär Pflichtigen bei einer Übertragung der Aufsicht auf einen Dritten verbleibt.
aber vor dem In-Kraft-Treten: BGH LM Nr. 12 zu § 832 BGB (= NJW 1980, 1044) v. 27.11.1979 (vgl. 1. Teil §3 VI 1). Für ein Kinderheim: OLG Hamburg NJW-RR 1988, 799 v. 08.04.1988; OLG Hamm NJW-RR 1988, 798 v. 21.09.1987. Zum bezüglich der Aufsichtspflicht inhaltsgleichen § 839 BGB: OLG Düsseldorf VersR 1996, 710 v. 12.10.1995; NJW-RR 1996, 671 v. 14.12.1995; r+s 1997, 413 v. 19.09.1996; OLG Hamburg OLGR 1999, 190 v. 26.02.1999. Zum bezüglich der Aufsichtspflicht inhaltsgleichen § 831 BGB (für ein Ferienlager): OLG Hamm FamRZ 1995, 167 v. 07.12.1993. 737 BGH LM Nr. 21 (= NJW 1996, 1404) v. 27.02.1996 (vgl. 1. Teil § 3 II 2); OLG Oldenburg r+s 1987, 224 v. 07.07.1986 (vgl. 1. Teil § 3 II 1 a cc); FamRZ 1994, 833 v. 19.10.1993 (vgl. 1. Teil § 3 II 1 a aa); KG VersR 1992, 974 v. 16.04.1991 (vgl. 1. Teil §3 12); MDR 1997, 840 v. 03.03.1997 (vgl. 1. Teil § 3 III 3 b); OLG Düsseldorf VersR 1998, 721 v. 18.07.1997 (vgl. 1. Teil § 3 I 4 a); OLG Hamm VersR 1999, 843 v. 11.02.1999 (vgl. 1. Teil § 3 II 1 a bb); LG Lüneburg VersR 1999, 102 v. 09.01.1997 (vgl. 1. Teil § 3 IV 1); AG Detmold NJW 1997, 1788 v. 05.12.1996 (vgl. 1. Teil § 3 III 3 a aa (1)); AG Ettenheim ZfS 1999, 326 v. 30.04.1999 (vgl. 1. Teil § 3 III 3 a aa (1)). 738 OLG Düsseldorf VersR 1998, 721 V. 18.07.1997 (vgl. 1. Teil § 3 I 4 a).
2. Teil
Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB § 1 Die verfassungsrechtliche Entwicklung von Ehe und Familie Der verfassungsrechtliche Schutz von Ehe und Familie war im vergangenen Jahrhundert einem starken Wandel unterworfen. Die Stellung und der Schutz beider Institute in der Verfassung wurden erheblich aufgewertet; sie stehen seit 1949 gemäß Art. 6 Abs. 1 GG unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Die Elternautonomie und das Kindeswohl werden durch Art. 6 Abs. 2 GG geschützt. Das zeitigte Auswirkungen auf das bürgerliche Recht, sowohl bei den Familienrechtsreformen im BGB als auch bei der Rechtsanwendung durch die Gerichte. Auch das BVerfG hat mit seiner umfangreichen Rechtsprechung der hervorgehobenen Stellung von Art. 6 Abs. 1, 2 GG Rechnung getragen. Für § 832 BGB ergibt sich hingegen folgender Befund: Der besondere verfassungsrechtliche Schutz von Ehe und Familie wurde bei der elterlichen Aufsichtshaftung nicht verwirklicht. Dabei verpflichtet Art. 1 Abs. 3 GG die heutige Legislative und Judikative, den besonderen Schutz des Art. 6 GG umzusetzen. Denn Art. 6 GG ist gemäß Art. 1 Abs. 3 GG unmittelbar geltendes Recht. Das ist der entscheidende Unterschied zur Rechtslage bis zum In-KraftTreten des GG am 23.05.1949. Bis zu diesem Zeitpunkt brauchten Gesetzgebung und Rechtsprechung den verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie, der zudem substanziell hinter dem des GG zurückblieb, nicht zu beachten und umzusetzen. Ab dem In-Kraft-Treten des GG müssen sie diesen Wertentscheidungen der Verfassung Rechnung tragen, woran es aber fehlt. Durch Art. 6 GG ist es zu keiner Änderung der elterlichen Aufsichtshaftung gekommen. Dabei ist die durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Familiengemeinschaft in nahezu jeder Haftungskonstellation eines Elternteils aus § 832 BGB tangiert. Art. 6 Abs. 1 GG blieb jedoch bisher in den Urteilen zu § 832 BGB unerwähnt. Ein Einfluss von Art. 6 Abs. 1 GG auf die Rechtsprechung zu § 832 BGB ist ebenfalls nicht erkennbar, obwohl die Rechtsprechung in allen Bereichen an die Grundrechte gebunden ist, also auch im Deliktsrecht. Art. 6 Abs. 2 GG fließt zum Teil über die ihn konkretisierenden Normen des Familienrechts in die abstrakte Bestimmung des Aufsichtsmaßes bei § 832 BGB ein, entfaltet aber nur selten entscheidende Wirkung bei der konkreten Bestimmung der gebotenen Aufsicht im Einzelfall. Dabei zeigt die Rechtsprechung zu § 823
§ 1 Die verfassungsrechtliche Entwicklung von Ehe und Familie
211
Abs. 1 BGB, dass die Zivilgerichte Grundrechte - wie Artt. 5 und 8 GG - bei der Auslegung deliktischer Normen beachten und anwenden1.
I. Die Entwicklung von 1900 bis zum GG Als § 832 BGB am 01.01.1900 in Kraft trat, galt im Deutschen Reich die vom Kaiser am 16.04.1871 ausgefertigte Verfassung, die auf die des Norddeutschen Bundes zurückging. Diese Verfassung enthielt im Wesentlichen Staatsorganisationsrecht. Grundrechtsbestimmungen, und damit Regelungen zu Ehe und Familie, beinhaltete sie nicht. Die WRV v. 11.08.1919, in Kraft getreten am 14.08.1919, setzte zum ersten Mal für das gesamte Deutsche Reich ausdrücklich einen Katalog von Grundrechten in Kraft 2 . Unter dem Titel „Das Gemeinschaftsleben" statuierten die Artt. 119-122 WRV den verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe, Familie und Jugend. In Artt. 119 und 120 WRV wurde erstmals in der deutschen und europäischen Verfassungsgeschichte der Schutz von Ehe und Familie garantiert. Artt. 119 f WRV lauteten: Art. 119 WRV (1) Die Ehe steht als Grundlage des Familienlebens und der Erhaltung und Vermehrung der Nation unter dem besonderen Schutz der Verfassung. Sie beruht auf der Gleichberechtigung der beiden Geschlechter. (2) Die Reinerhaltung, Gesundung und soziale Förderung der Familie ist Aufgabe des Staats und der Gemeinden. Kinderreiche Familien haben Anspruch auf ausgleichende Fürsorge. (3) Die Mutterschaft hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge des Staats. Art. 120 WRV Die Erziehung des Nachwuchses zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit ist oberste Pflicht und natürliches Recht der Eltern, über deren Betätigung die staatliche Gemeinschaft wacht. Der Verfassungsausschuss der Nationalversammlung hatte den Schutz der bürgerlichen Ehe als Grundlage des Familienlebens im Sinne deutscher Sitte und Kultur und aus bevölkerungspolitischen Gründen auch die soziale Förderung der Familie vorgeschlagen 3. Dass der verfassungsmäßige Schutz der Ehe 1
BGHZ 31, 308 v. 22.12.1959; 36, 77 v. 24.10.1961; 39, 124 v. 05.03.1963; 45, 296 v. 21.06.1966; 59, 30 v. 30.05.1972; 63, 124 v. 29.10.1974; 65, 325 v. 09.12.1975; 73, 120 v. 19.12.1978; 78, 9 v. 08.07.1980; 80, 25 v. 20.01.1981; 89, 383 v. 24.01.1984; 90, 113 v. 07.02.1984; BGH MDR 1985, 1011 v. 29.01.1985; 1987, 1015 v. 12.05.1987; 1989, 981 v. 11.04.1989; 1993, 122 v. 17.11.1992; 1995, 266 v. 12.07.1994; 2000, 1316 v. 30.05.2000; OLG Brandenburg MDR 1996, 154 v. 13.12.1995; OLG Frankfurt/M. MDR 2000, 597 v. 23.09.1999; 2002, 640 v. 29.01.2002. 2 RGBl 1919, Nr. 152, S. 1383 ff. 3 AK/Richter, Art. 6 Rn. 1; V. Schmid, S. 246; HStR VIHecheler, § 133 Rn. 1.
212
2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
und die verfassungsmäßig auferlegte Förderung der Familie in der WRV eine konservative Prägung aufwies, ist die Deutung der meisten Interpreten der Reichsverfassung 4. So deutet Anschlitz den Schutz der monogamischen Ehe als bewusste und gewollte Ablehnung kommunistischer Lehren und den Familienschutz als Abwehrstellung gegen die Lehren des sozialistischen Radikalismus, der die Jugenderziehung unter Aufhebung des Elternrechts und Sprengung des Familienverbandes zur Staatssache machen wolle 5 . Die Aufnahme von Ehe und Familie in den Beratungen des Verfassungsausschusses erhielt weder eine spezifisch politische Bedeutung noch wurde sie von einer bestimmten sozialen oder kulturellen Deutung dieser Institute her abgelehnt6. In einer kompromisshaften Verbindung erhaltender und zukunftsgerichteter Gewährleistungen wurde der Schutz von Ehe und Familie in Art. 119 WRV schließlich angenommen. Er bildet einen Teil des Verfassungskompromisses von Weimar 7. Art. 119 Abs. 1 WRV sah die Ehe als alleinige Grundlage der Familie und betonte ihre Funktion für die Erhaltung und Vermehrung der Nation. Das Elternrecht in Art. 120 WRV beschränkte sich nur auf bestimmte Erziehungsziele und stand nur ehelichen Eltern zu. Grund dafür war die Spezialregelung in Art. 121 WRV. Im Verlauf von deren Entstehungsgeschichte wurde die Gleichstellung ehelicher und nichtehelicher Kinder mehrheitlich abgelehnt8. Jedoch entfalteten die Grundrechte keine Bindungswirkung für die öffentliche Gewalt. Trotz des teilweise verbalen Anspruchscharakters verstanden Rechtsprechung und Lehre die Grundrechte nicht als aktuelles Recht, sondern als unverbindliche Programmsätze und ließen sie deshalb bei der konkreten Rechtsanwendung außer Acht 9 . Unmittelbare Rechtsänderungen für Ehe und Familie bewirkten die Grundrechte deshalb nicht. Da es an gerichtlicher Erzwingbarkeit mangelte, wurde ihnen zum Teil auch der Charakter subjektiver Rechte abgesprochen. Vielmehr sollten die Artt. 119, 120 WRV primär Gesetzgebungsaufträge und Auslegungsregel sein 10 . Nach Abschluss der Verfassungsarbeiten fehlte es aber am politischen Willen und an parlamentarischen Mehrheiten, die Umgestaltungsaufträge der Artt. 119 ff WRV durch Umsetzung in das BGB zu erfüllen 11 . Die Wirkung der Verfassungsprinzipien als Auslegungsrichtlinie blieb
4
Schwab, FS Bosch, S. 893 (894) m. w. N. Anschütz, Art. 119 Anm. 1, Art. 120 Anm. 1. 6 Schwab, FS Bosch, S. 893 (895 ff). 7 v. Campenhausen, VVDStRL 45, 7(12). 8 Anschütz, Art. 121 WRV; V. Schmid, S. 262. 9 Frotscher, Rn. 497; Frank, AcP 200 (2000), 401 (404); V. Schmid, S. 259 f. 10 Anschütz, Art. 119 Anm. 3. 11 Gusy, S. 301; Derleder, Kriü 2000, 1 (6). 5
§ 1 Die verfassungsrechtliche Entwicklung von Ehe und Familie
213
deshalb auf ein Missbrauchsverbot begrenzt 12. Infolgedessen wurde Art. 119 Abs. 1, 2 WRV allein als Institutsgarantie verstanden 13. Durch die „Verordnung zum Schutze von Volk und Staat" v. 28.02.1933 wurden mehrere Grundrechtsartikel der WRV bis auf weiteres außer Kraft gesetzt. Die Artt. 119-122 WRV befanden sich nicht darunter. Dennoch wurde in der Zeit des Nationalsozialismus die gesamte WRV faktisch außer Kraft gesetzt. Das Verfassungsrecht ergab sich nach der damals herrschenden Lehre in seinem Kern nicht mehr aus der WRV, sondern aus Rechtsquellen wie dem Programm der NSDAP, Reden und Erlassen des Führers und Parteitagsbeschlüssen14. Über die Rechtsstellung des Einzelnen gegenüber dem Staat heißt es im damals fuhrenden Verfassungslehrbuch von E. R. Huber: „Es gibt keine persönliche, vorstaatliche und außerstaatliche Freiheit des Einzelnen, die vom Staat zu respektieren wäre. ... Es kann hier keine private staatsfreie Sphäre mehr bestehen, die der politischen Einheit gegenüber unantastbar und heilig wäre. ... Freiheitsrechte, Institutsgarantien und institutionelle Garantien fallen in der völkischen Verfassung dahin 15 ." So blieben Artt. 119 und 120 WRV zwar unverändert, doch wurden die durch sie geschützten Institute tiefgreifend verändert. Sie wurden zu Kernstellungen im „Aufbau der völkischen Gemeinschaft" entkleidet16. Durch die Förderung der kollektiven Formen der Jugenderziehung (HJ und BDM) versuchten die Nationalsozialisten, den Einfluss der familiären Erziehung zurückzudrängen. Die Ehe wurde zwar erhalten, durch die Einführung der Scheidung ohne Schuld, allein aufgrund einer unheilbaren Zerrüttung, jedoch als gesellschaftliches Strukturprinzip grundsätzlich umgeformt 17 . In den vorgrundgesetzlichen Landesverfassungen der Nachkriegszeit finden sich die Orientierungen der WRV weitgehend im gleichen Wortlaut wieder. Zacher fasst die Zielsetzungen der Landesverfassungen wie folgt zusammen: Alle Verfassungen stimmen bis auf eine Ausnahme darin überein, Elternrecht und -pflicht auf einen sachlich definierten Erziehungsauftrag hin zu orientieren. Grundsätzlich wird der Tenor der WRV - das Erziehungsziel der leiblich, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit - aufgenommen, variiert und angereichert. Entsprechendes gilt auch für die Aussagen zu Ehe und Familie. Beide Institutionen werden nicht nur garantiert, sondern als Grundwerte der Gesellschaft und der Verfassungsordnung anerkannt, freilich auch als autonome 12
Gusy, S. 301. Anschütz, Art. 119 Anm. 1, Art. 120 Anm. 3; Schwab, FS Bosch, S. 893 (894 f); Steiger, VVDStRL 45, 55 (65); Kingreen, Jura 1997, 401. 14 Kloepfer, FS Bettermann, S. 35 (47). 15 E. R. Huber, S. 361, 363; wiedergegeben auch bei Zippelius, S. 141 f. 16 Kröger, S. 2, 6. 17 AK/Richter, Art. 6 Rn. 4. 13
214
2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
Räume, die von äußerer Einmischung frei bleiben sollen 18 . Richter weist daraufhin, dass in den vorgrundgesetzlichen Landesverfassungen die bevölkerungspolitische Begründung der WRV aufgrund der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik entfallen ist und sich die Verfassungen neben der Gemeinschaftsbezogenheit auch auf das Naturrecht berufen 19.
II. Die Entstehungsgeschichte von Art. 6 Abs. 1,2 GG Anlässlich des Herrenchiemseer Verfassungskonvents vom 10. bis zum 23.08.1948 erstellten Sachverständige einen ersten Entwurf des GG als Diskussionsgrundlage. Im Gegensatz zu den vorgrundgesetzlichen Landesverfassungen enthielt dieser Entwurf keine Bestimmungen über Ehe, Familie und Elternrecht 20. Vom 01.09.1948 an erarbeitete der Parlamentarische Rat die endgültige Fassung des GG, welche er am 08.05.1949 annahm. Dabei wurde über die spezielle Materie des Elternrechts im späteren Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG eine schnelle Einigung erzielt. Aufgrund des nationalsozialistischen Hintergrundes der jüngsten Vergangenheit wurde eine Regelung des Elternrechts für notwendig erachtet. Der Staat sollte sich der Kinder nicht mehr über die Köpfe der Eltern hinweg mit der Rechtfertigung des „Staatswohls" bemächtigen können21 . Hinsichtlich der generellen Garantie von Ehe und Familie durch die Verfassung gab es einen längeren Dissens zwischen CDU und FDP auf der einen und der SPD auf der anderen Seite. Die CDU schlug einen verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie vor. Dies stieß auf starken Widerstand bei der SPD. Sie wollte keine Bestimmungen zu Ehe und Familie in das GG aufnehmen und verlangte, dem Grundsatz der Beschränkung auf klassische Grundrechte treu zu bleiben 22 . In der zweiten Lesung befasste sich der Hauptausschuss mit dem auf die CDU zurückgehenden Entwurf des Grundsatzausschusses zum Schutz von Ehe und Familie. Dieser lautete: Die Ehe ist die rechtmäßige Form der Lebensgemeinschaft von Mann und Frau. Sie bildet die Grundlage der Familie. Ehe und Familie und die damit verbundenen Rechte und Pflichten stehen unter dem Schutze der Verfassung 23.
18
HStR VI /Zacher, § 134 Rn. 18 mit Verweis auf die entsprechenden Artt. der Verfassungen von Bayern, Bremen, Hessen, Rheinland-Pfalz, Württemberg-Baden, Württemberg-Hohenzollern und des Saarlandes. Bei der genannten Ausnahme handelt es sich um die Verfassung Badens. 19 AK/Richter, Art. 6 Rn. 5. 20 HStR VI/Zacher, § 134 Rn. 24. 21 V. Schmid, S. 289. 22 AK/Richter, Art. 6 Rn. 6; V. Schmid, S. 266. 23 V. Schmid, S. 274.
§ 1 Die verfassungsrechtliche Entwicklung von Ehe und Familie
215
Der SPD-Abgeordnete Greve brachte daraufhin den Vorschlag des Redaktionsausschusses in die Beratungen ein, der dem Wortlaut des Art. 6 Abs. 1 GG entsprach und angenommen wurde 24 . Der Redaktionsausschuss - dessen Aufgabe in der politischen Harmonisierung der in den Fachausschüssen beschlossenen Entwürfe bestand - hat seinen Entwurf dabei mit folgender Anmerkung begründet: „Wenn Ehe und Familie unter dem Schutz der staatlichen Ordnung gestellt werden, so sind damit zugleich die aus ihnen fließenden Rechte unter deren Schutz gestellt. Im Übrigen bedarf es keines Hinweises auf die rechtmäßige Form der fortdauernden Lebensgemeinschaft von Mann und Frau, wenn die Ehe als solche unter den besonderen Schutz des Staates gestellt wird 2 5 ." Die zustandegekommene Fassung des Art. 6 Abs. 1 GG entbehrt damit der zunächst von der CDU angestrebten weiteren und rechtlich durchaus erheblichen Sicherung von Ehe und Familie, die, wie nach Art. 119 WRV, in ihren Grundlinien in bewusster und gewollter Ablehnung gewisser Strömungen zur Abschaffung der monogamischen Ehe gewährleistet werden sollte 26 . Der mit seinen Vorschlägen unterlegene CDU-Abgeordnete v. Mangoldt stellte fest, die Verhandlungen im Hauptausschuss ließen es offen, ob der beschlossenen Fassung des Redaktionsausschusses nicht die Absicht zugrunde liege, die in der Fassung des Grundsatzausschusses liegende Anerkennung der Ehe als rechtmäßige Form der Lebensgemeinschaft von Mann und Frau und als solcher der Grundlage der Familie zu umgehen27. Es fand letztlich nur eine Mindestaussage als Kompromiss Eingang in die Verfassung 28. Die tatsächliche Garantie des Art. 6 Abs. 1 GG blieb hinter der von der CDU angestrebten zurück. Nach V. Schmid lassen die Beratungen in den verschiedenen Ausschüssen (Grundsatz-, Haupt- und Redaktionsausschuss) des Parlamentarischen Rates Ansichten erkennen, die für alle Positionen bezüglich der Frage der in Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Kernund/oder erweiterten Familie, der Halbfamilien und/oder der nichtehelichen Lebensgemeinschaft verwendet werden können 29 . Das GG verzichtet somit wie die meisten europäischen Verfassungen auf eine ausdrückliche Aussage zu der Frage, ob die Familie aus der Ehe hervorgeht 30. Schwab und v. Campenhausen weisen auf Parallelen in den Beratungen zur WRV und im Parlamentarischen Rat hin. So standen sich jeweils die den Status quo wahrenden Bestrebungen und die Tendenzen zur Fortentwicklung des Familienrechts gegenüber; es wurde wenig über den konkreten Sinn des Art. 119 WRV bzw. Art. 6 Abs. 1 GG, außerordentlich viel jedoch über die Rechtsstellung des nichtehelichen Kindes 24 25 26 27 28 29 30
Parlamentarischer Rat, Verhandlungen, S. 554. Parlamentarischer Rat, Formulierungen, S. 87. Maunz/Dürig/ßaifora, Art. 6 Art. 1 Rn. 41. v. Mangoldt, S. 9. Ruland, FuR 1991, 307. V. Schmid, S. 277. Maunz/Dürig/Badura, Art. 6 Art. 1 Rn. 41; Dreier/Gröschner,
Art. 6 Rn. 17.
216
2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
gesprochen 31. Auf die dogmatischen Grundfragen des Art. 6 Abs. 1 GG gibt die grundgesetzliche Entstehungsgeschichte daher ebenso wenig eine Antwort wie die Weimarer Herkunftsgeschichte 32. Die Klärung der Rechtsnatur erfolgte vielmehr durch die Rechtsprechung des BVerfG.
III. Die Veränderungen des verfassungsrechtlichen Schutzes von Ehe und Familie im GG gegenüber der W R V Unabhängig von Rechtnatur und Tragweite des Art. 6 Abs. 1,2 GG bestehen erhebliche Veränderungen im verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie gegenüber der WRV. Art. 1 Abs. 3 GG bestimmt, die nachfolgenden Grundrechte binden den Staat in seinen Funktionen der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht. Damit trifft Art. 1 Abs. 3 GG eine klare Aussage zur Art der Bindung des Staates an die Grundrechte. Das ist eine bewusste Abkehr vom Rechtszustand unter der WRV, wo viele Grundrechte - und auch die Artt. 119 ff WRV - als bloße Programmsätze betrachtet wurden 33 . Zudem bringt Art. 1 Abs. 3 GG nochmals die Höherrangigkeit des Verfassungsrechts gegenüber dem sonstigen Recht zum Ausdruck: Für die Grundrechte als Teil des Verfassungsrechts gilt der Vorrang in gleicher Weise wie für sonstiges Verfassungsrecht. Das ist ein entscheidender verfassungsrechtlicher Fortschritt, weil zuvor die Grundrechte nur nach Maßgabe des Gesetzes galten, d. h. nur soweit wie der Gesetzgeber sie zur Geltung brachte. Speziell für die verfassungsrechtliche Kodifizierung von Ehe und Familie gilt: Zwar dienten die Artt. 119 ff WRV als Vorbild für die Regelungen in Art. 6 GG und die Verwandtschaft der Regelungen in WRV und GG ist unverkennbar 34. Jedoch hat Art. 6 GG in seinem Wortlaut gegenüber den Vorläufern in der WRV eine Entmaterialisierung erfahren. Ziele und Wertungen formuliert der Text in Art. 6 GG nicht mehr ausdrücklich 35. Dem Staat werden in Art. 6 GG nicht mehr die Aufgaben der „Reinerhaltung, Gesundung und sozialen Förderung der Familie" wie zuvor in Art. 119 Abs. 2 WRV zugewiesen. Auch der besondere soziale Schutz kinderreicher Familien aus Art. 119 Abs. 2 S. 2 WRV fehlt im GG. Die drei Grundbegriffe Ehe, Familie und Erziehung haben eine objektiv beachtliche Einschränkung durch das GG erfahren. So wird die
31
Schwab, FS Bosch, S. 893 (906 Fn. 68); v. Campenhausen, VVDStRL 45, 7 (13). Dreier/Gröschner, Art. 6 Rn. 10; AK/Richter, Art. 6 Rn. 6. 33 Pieroth/Schlink, Rn. 164. 34 v. Münch/Kunig/Coester- Waltjen, Art. 6 Rn. 131; Mmnz/DMg/Badura, Art. 6 Abs. 1 Rn. 22. 35 HStR VI/Zacher, § 134 Rn. 32. 32
§ 1 Die verfassungsrechtliche Entwicklung von Ehe und Familie
217
Ehe nicht mehr „als Grundlage des Familienlebens und der Erhaltung und Vermehrung der Nation" geschützt. Die Belastung der Ehe mit familiären und nationalen Pflichten ist somit entfallen. Der Schutz der Ehe in Art. 6 Abs. 1 GG erfolgt daher um ihrer selbst Willen und nicht der Kinder wegen36. Auch setzt Art. 6 Abs. 1 GG Ehe und Familie nebeneinander und verzichtet auf eine ausdrückliche Zuordnung der Ehe zur Familie 37 . Dieses durch ein „und" verbundenes Nebeneinander bezeichnet Gröschner als dogmatisch nichtssagend38. Robbers sieht hingegen in diesem Wortlaut eine enge Verknüpfung von Ehe und Familie 39 . Art. 6 Abs. 1 GG hebt im Unterschied zu Art. 119 WRV die Bedeutung der Ehe für das Gemeinschaftsleben nicht ausdrücklich hervor. Aus diesem Umstand kann nach Meinung von Pirson nicht gefolgert werden, dass durch die Formulierung des Art. 6 Abs. 1 GG eine sachliche Distanzierung von Art. 119 WRV bezweckt ist. Wegen des Fehlens der in Art. 119 WRV enthaltenen speziellen Kennzeichnungen sei die Aussage des Art. 6 Abs. 1 GG aber viel allgemeiner 40. Steiger weist auf die veränderte Stellung der verfassungsrechtlichen Garantie von Ehe und Familie im GG hin. Sie ist aus dem Bereich „Gemeinschaftsleben" in der WRV in die Nähe der subjektiven Freiheitsrechte, vor allem von Artt. 2 und 4 GG, gerückt 41 . Robbers betont hingegen aufgrund der systematischen Stellung von Art. 6 Abs. 1 GG einen überindividuellen Bezug desselben. Das Grundrecht ist systematisch in den Zusammenhang institutioneller, gesellschafts- und gemeinschaftsbezogener Grundrechte eingeordnet 42 . Art. 6 Abs. 2 GG führt die Verfassungstradition des Art. 120 WRV fort, indem er bestimmte Rechte und Pflichten der Eltern in Bezug auf Pflege und Erziehung der Kinder in den Rang des Verfassungsrechts erhebt. Die Veränderungen des Textes im Vergleich von Art. 6 Abs. 2 GG zu Art. 120 WRV sind die Reaktion des Verfassungsgebers auf die in der Weimarer Zeit versuchte Deutung des Elternrechts als gesellschaftlicher Auftrag 43 . So wurde die Reihenfolge von Recht und Pflicht umgekehrt, indem in Art. 6 Abs. 1 GG das Recht zuerst genannt wird. In Art. 6 Abs. 2 GG ist die Erziehung nicht mehr auf das Ziel der „leiblichen, seelischen und körperlichen Ertüchtigung" ausgerichtet, zum Elternrecht gehört nunmehr die Bestimmung von Erziehungsziel und -mittel. Die Inhalte der Erziehung werden in der Freiheitsordnung des GG also nicht vom Staat definiert, sondern dem Entwurf der Grundrechtsträger überlas-
36 37 38 39 40 41 42 43
v. Münch/Kunig/Coester-Waltjen, Art. 6 Rn. 131; DreierIGröschner, Art. 6 Rn. 4. Maunz/DürigIBadura, Art. 6 Abs. 1 Rn. 23; Schlüter, Rn. 2. Dreier/Gröschner, Art. 6 Rn. 4. v. Mangoldt/Klein//?o66er.s, Art. 6 Abs. 1 Rn. 17. BK/Pirson, Art. 6 Abs. 1 Rn. 7, 4. Steiger, VVDStRL 45, 55 (65). v. MangoldX/KltixrfRobbers, Art. 6 Abs. 1 Rn. 13. Reuter, AcP 192 (1992), 108 (113).
218
2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
sen44. Jedoch ist das elterliche Erziehungsrecht nicht völlig unbegrenzt. Die Bestimmung des Erziehungsziels unterliegt den Schranken des Art. 2 Abs. 1 GG. Die Rechte anderer, die verfassungsmäßige Ordnung und das Sittengesetz dürfen nicht verletzt werden 45 . Zudem müssen die angestrebten Erziehungsziele im „abendländischen Raum überhaupt diskutierbar sein" 46 .
I V . Art. 6 Abs. 1 GG 1. Der Schutzbereich von Ehe und Familie Das GG definiert Ehe und Familie nicht 47 . Die verfassungsrechtliche Begriffsbildung erfolgt deshalb durch das BVerfG, wobei sich eine schlichte Ableitung des Begriffsinhalts aus dem einfachen Gesetzesrecht aufgrund des Interesses an einer selbstständigen verfassungsrechtlichen Begriffsbildung verbietet 48 . Die Darstellung des verfassungsrechtlichen Ehebegriffes bleibt nachfolgend auf Kernaussagen beschränkt; die sich bei der Ausformung desselben ergebenden Problemstellungen sind für die Haftung verheirateter Eltern gemäß § 832 BGB nicht relevant. Zudem ist die Ehe kein Tatbestandsmerkmal des § 832 Abs. 1 BGB; es haften sowohl verheiratete als auch unverheiratete Eltern nach der Vorschrift. Es besteht jedoch eine Verflechtung von Ehe- und Familienschutz, deren Intensität umstritten ist. Nach dem Leitbild der Verfassung ist die Ehe die Grundlage der Familie, die Familie wächst grundsätzlich aus der Ehe 49 . Trotz Wandlung der gesellschaftlichen Verhältnisse und einer Zunahme nicht ehelich geborener Kinder trifft dieses Leitbild heute weiterhin zu. Für den Zeitpunkt der Familiengründung wird das aus den beiden nachfolgenden Tabellen deutlich. Und nach Angaben des Statistischen Bundesamtes lebten 1991 86,9% der Kinder unter 18 Jahren bei einem zusammenlebenden Ehepaar. Zwar sank diese Quote von 83,9% 1996 auf 81,4% im Jahr 2000 50 . Dennoch lebte damit 2000 nur jedes fünfte Kind nicht bei seinen verheirateten Eltern, weshalb die
44
Dreier/Gröschner, Art. 6 Rn. 4. v. Münch/Kunig/Coester-Waltjen, Art. 6 Rn. 64. 46 Gernhuber¡Coester-Waltjen, § 5 IV 8. 47 Lecheler (in HStR VI, § 133 Rn. 15) sieht in dieser Zurückhaltung keine Schwäche; sie zeuge vielmehr von einer Stärke, die darin besteht, außerrechtliche Sachverhalte in die Rechtsordnung aufzunehmen und ihnen rechtlichen Schutz zu gewähren. Nach Giesen (Rn. 6; JZ 1982, 817 [818, 820]) herrscht eine weitverbreitete Unklarheit über Inhalt und Tragweite der Begriffe „Ehe und Familie" im GG. 45
48
Sachs/Schmitt-Kammler,
49
v. Mangoldt/Klein/Zto^eri, Art. 6 Abs. 1 Rn. 17. BMFSFJ, S. 214, Quelle: Statistisches Bundesamt (vgl. 2. Teil § 4 III 2 b).
50
Art. 6 Rn. 2.
§ 1 Die verfassungsrechtliche Entwicklung von Ehe und F a m i l i e 2 1 9
Beschreibung der rechtlichen Entwicklung der Familie nicht die der Ehe aus den Augen verlieren darf.
Tabelle 1 Anteil der ehelich geborenen Kinder an den Lebendgeborenen im früheren Bundesgebiet vor der Wiedervereinigung^ Jahr
Ehelich geborene Kinder im früheren Bundesgebiet, in %
1950
90,3
1955
92,1
1960
93,7
1965
95,3
1970
94,5
1975
93,9
1980
92,4
1985
90,6
a ) Die Berechnung erfolgte anhand der Angaben aus Statistisches Bundesamt Bevölkerung und Erwerbstätigkeit, S. 50. Die Angaben für die Jahre 1950, 1960,1970 und 1980 finden sich auch in BMFSFJ, S. 71.
220
2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB Tabelle 2
Anteil der ehelich geborenen Kinder an den Lebendgeborenen in Deutschland nach der Wiedervereinigung^ Jahr
Ehelich geborene Kinder in den alten Bundesländern und West-Berlin, in %
Ehelich geborene Kinder in den neuen Bundesländern und Ost-Berlin, in %
Ehelich geborene Kinder in Deutschland nach der Wiedervereinigung, in %
1990
89,5
65,0
84,7
1991
88,9
58,3
84,9
1992
88,4
58,2
85,1
1993
88,1
58,9
85,2
1994
87,6
58,6
84,6
1995
87,1
58,2
83,9
1996
86,3
57,6
83,0
1997
85,7
55,9
82,0
1998
84,1
52,9
80,0
1999
82,3
50,1
77,9
2000
81,4
48,5
76,6
Die Berechnung erfolgte anhand der Angaben aus Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Erwerbstätigkeit, S. 49 ff für die Jahre 1990 bis 1999. Die Angaben für 2000 stammen aus BMFSFJ, S. 71. Dort finden sich auch die Angaben für die Jahre 1995 bis 1999 sowie 1990 (alte Bundesländer), 1991 (Deutschland) und 1992, 1994 (neue Bundesländer).
a) Der Ehebegriff Im Stichentscheid-Urteil des BVerfG heißt es: Welche Strukturprinzipien die Institute Ehe und Familie bestimmen, ergibt sich zunächst aus der außerrechtlichen Lebensordnung. Beide Institute sind von Alters her überkommen und in ihrem Kern unverändert geblieben. Insoweit stimmt der materielle Gehalt der Institutsgarantie aus Art. 6 Abs. 1 GG mit dem hergebrachten Recht überein. Ehe ist auch für das GG die Vereinigung eines Mannes mit einer Frau zur grundsätzlich unauflöslichen Lebensgemeinschaft. Dieser Ordnungskern des Instituts ist für das allgemeine Rechtsgefühl und -bewusstsein unantast-
§ 1 Die verfassungsrechtliche Entwicklung von Ehe und F a m i l i e 2 2 1
bar 51 . In späteren Entscheidungen heißt es: Art. 6 Abs. 1 GG schützt die Ehe als Lebensgemeinschaft, in der sich die Partner gleichberechtigt gegenüberstehen 52 . Unter Bezugnahme auf das Stichentscheid-Urteil führt das BVerfG in der Spanier-Entscheidung aus, der Verfassung liegt das Bild der „verweltlichten" bürgerlich-rechtlichen Ehe zugrunde, zu dem es auch gehört, dass die Ehegatten unter dem vom Gesetz normierten Voraussetzungen geschieden werden können und damit ihre Eheschließungsfreiheit wiedererlangen 53. Weiterhin gehört zu dem vom GG vorgefundenen und übernommenen weltlichen Ehebegriff die Mitwirkung des Staates sowohl an der Eheschließung als auch an der Ehescheidung54. Der Ehebegriff des BVerfG ist somit durch drei Begriffsmerkmale bestimmt: durch staatliche Mitwirkung, grundsätzliche Unauflöslichkeit und verschiedengeschlechtliche Gemeinschaft 55. Zur Verwirklichung der Wertentscheidung des Art. 6 Abs. 1 GG bedarf es aber einer familienrechtlichen Regelung, welche die von der Verfassung als Ehe geschützte Lebensgemeinschaft zwischen Mann und Frau rechtlich definiert und abgrenzt. Dabei muss die Regelung die wesentlichen, das Institut der Ehe bestimmenden Strukturprinzipien beachten. Diese ergeben sich aus der Anknüpfung des Art. 6 Abs. 1 GG an vorgefundene, überkommene Lebensformen in Verbindung mit dem Freiheitscharakter des verbürgten Grundrechts und anderen Verfassungsnormen, wie etwa dem Prinzip der Einehe 56 .
b) Der Familienbegriff aa) Der Familienbegriff
des BVerfG
In der Stichentscheid-Entscheidung bezeichnet das BVerfG die Familie als umfassende Gemeinschaft von Eltern und Kindern, in der den Eltern vor allem das Recht und die Pflicht zur Pflege und Erziehung der Kinder erwachsen. Es verweist darauf, dass der Ordnungskern dieses Institutes für das allgemeine Rechtsgefühl und -bewusstsein unantastbar ist 57 . Zuvor hatte das BVerfG im Steuersplitting-Beschluss v. 17.01.1957 ausgeführt, das GG sieht in der Ehe und Familie die Keimzelle jeder menschlichen Gemeinschaft, deren Bedeutung
51
BVerfGE 10, 59 (66) v. 29.07.1959. BVerfGE 35, 382 (408) v. 18.07.1973; 37, 217 (249) v. 21.05.1974; 103, 89 (101) v. 06.02.2001; 105, 1 (10) v. 05.02.2002. 53 BVerfGE 53, 224 (245) v. 28.02.1980. 54 BVerfGE 29, 166 (176) v. 07.10.1970. 55 Dreier/Gröschner, Art. 6 Rn. 26. 56 BVerfGE 31, 58 (69) v. 04.05.1971. 57 BVerfGE 10, 59 (66) v. 29.07.1959. 52
222
2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
mit keiner anderen menschlichen Bindung verglichen werden kann 58 . In einem Beschluss zur Nichtehelichkeit heißt es: Nach den in Art. 6 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich garantierten Wertvorstellungen ist die Ehe die einzige legitime Form umfassender Lebensgemeinschaft zwischen Mann und Frau und die gesunde körperliche und seelische Entwicklung des Kindes setzt grundsätzlich das Geborgensein in der nur in der Ehe verwirklichten vollständigen Familiengemeinschaft mit Vater und Mutter voraus 59. Noch deutlicher formuliert das BVerfG den Zusammenhang der Institute Ehe und Familie im Familiennachzug-Beschluss. Danach ist die Ehe die rechtliche Form umfassender Bindung zwischen Mann und Frau. Sie ist alleinige Grundlage einer vollständigen Familiengemeinschaft und als solche Voraussetzung für die bestmögliche körperliche, geistige und seelische Entwicklung von Kindern 60 . In einem Kammerbeschluss v. 04.10.1993 wies das BVerfG daraufhin, dass die Ehe vor allem deshalb verfassungsrechtlich geschützt wird, weil sie eine rechtliche Absicherung der Partner bei der Gründung einer Familie mit gemeinsamen Kindern ermöglichen soll. Diese Annahme werde auch nicht durch die zunehmende Anzahl kinderloser Ehen und die wachsende Zahl außerhalb einer Ehe geborenen Kinder widerlegt 61 . Trotz dieser Formulierungen sieht das BVerfG seit einem Beschluss aus dem Jahr 195862 die aus Mutter und nichtehelichem Kind bestehende Familiengemeinschaft vom Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG erfasst und hat diesen allgemein anerkannten Schutz mehrfach bestätigt63. Seit dem Wegfall des § 1589 Abs. 2 BGB, der eine Verwandtschaft zwischen dem nichtehelichen Kind und seinem Vater ausschloss, sieht das BVerfG auch diese Beziehung vom Familienbegriff in Art. 6 Abs. 1 GG erfasst 64. Um den nichtehelichen Vater und das Kind als eine von Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Gemeinschaft anzusehen, ist aber ein Zusammenleben der beiden erforderlich. Das stellte das BVerfG 1981 in einem Beschluss ausdrücklich fest 65. Zuvor ergab sich dies aus dem Schutzgedanken des Art. 6 Abs. 1 GG, wonach die Verfassungsnorm das Zusammen-
58 BVerfGE 6, 55 (71) v. 17.01.1957; bestätigt in BVerfGE 24, 119 (149) v. 29.07.1968. 59 BVerfGE 25, 167 (196) v. 29.01.1969. 60 BVerfGE 76, 1 (51) v. 12.05.1987. 61 BVerfG NJW 1993, 3058 v. 04.10.1993. An dieser Stelle ist anzumerken, dass die Ergebnisse und die richterliche Qualität der Kammerentscheidungen insbesondere seitens der Praxis vielfach kritisiert werden (Schlaich/£or/o//j, Rn. 257). 62 BVerfGE 8, 210 (215) v. 23.10.1958. 63 BVerfGE 18, 97 (105 f) v. 30.06.1964; 25, 167 (196) v. 29.01.1969; 45, 104 (123) v. 08.06.1977. 64 BVerfGE 45, 104 (123) v. 08.06.1977. 65 BVerfGE 56, 363 (383) v. 24.03.1981; bestätigt in 79, 203 (211) v. 30.11.1988.
§ 1 Die verfassungsrechtliche Entwicklung von Ehe und F a m i l i e 2 2 3
leben von Eltern und Kindern in einer häuslichen Gemeinschaft schlitzt66. Fehlt es an einem solchen Zusammenleben, kann sich der nichteheliche Vater nicht auf den Schutz der Familiengemeinschaft nach Art. 6 Abs. 1 GG berufen 67. Das Merkmal der häuslichen Gemeinschaft findet sich auch beim landesverfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie in den jungen LVerf der mitteldeutschen Bundesländer. So lautet Art. 24 Abs. 2 S. 1 LVerf S-A 68 : „Wer in häuslicher Gemeinschaft für Kinder oder Hilfsbedürftige sorgt, verdient Förderung und Entlastung." Zu den in einer Familiengemeinschaft aufwachsenden und damit vom Familienbegriff des BVerfG erfassten Kindern gehören auch Stief-, Adoptiv- und Pflegekinder 69. Art. 6 Abs. 1 GG erfasst hingegen nicht den Schutz der Generationen-Großfamilie. Familie i. S. v. Art. 6 Abs. 1 GG bedeutet vielmehr grundsätzlich die in der Hausgemeinschaft geeinte engere Familie, das sind die Eltern mit ihren Kindern, also die moderne Kleinfamilie 70 . Weil Art. 6 Abs. 1 GG die Einheit der Familie gewährleistet, schützt er nur die Familiengemeinschaft, nicht aber die einzelnen Familienangehörigen in ihrer Individualität 71 . Die Individuen werden somit nur in ihrer Eigenschaft als Mitglieder der Gemeinschaft geschützt. Der Schutzbereich der Familie reicht von der Familiengründung bis in alle Bereiche des familiären Zusammenlebens. In der Entscheidung zur Volljährigenadoption führt das BVerfG zum Schutzumfang aus: Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 GG schützt die Familie zunächst und zuvörderst als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft. Die leibliche und seelische Entwicklung der Kinder findet in der Familie und der elterlichen Erziehung eine wesentliche Grundlage. Eine Familie als verantwortliche Elternschaft wird von der prinzipiellen Schutzbedürftigkeit des heranwachsenden Kindes bestimmt. Mit wachsender Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des Kindes treten Verantwortlichkeit und Sorgerecht der Eltern zurück. Die Lebensgemeinschaft kann dadurch zur bloßen Hausgemeinschaft werden, die Gemeinsamkeiten des Zusammenwohnens wahrt, jedem Mitglied der Familie im Übrigen aber die unabhängige Gestaltung seines Lebens überlässt. Mit der Auflösung der Hausgemeinschaft kann sich die Familie sodann zur bloßen Begegnungsgemeinschaft wandeln, bei der Eltern und Kinder nur den gelegentlichen Umgang pflegen 72. Das BVerfG stuft somit die Schutzwirkung des Art. 6 66
BVerfGE 28, 104(112) v. 18.03.1970; 48, 327 (339) v. 31.05.1978. BVerfGE 79, 203 (211) v. 30.11.1988. 68 Ähnlich sind die Formulierungen in Art. 22 Abs. 2 LVerf Sa („Wer in häuslicher Gemeinschaft Kinder erzieht oder für Hilfsbedürftige sorgt, verdient Förderung und Entlastung.") und Art. 17 Abs. 2 LVerf Thür („Wer in häuslicher Gemeinschaft Kinder erzieht oder für andere sorgt, verdient Förderung und Entlastung."). 69 BVerfGE 18, 97 (106) v. 30.06.1964. 70 BVerfGE 10, 59 (66) v. 29.07.1959; 48, 327 (339) v. 31.05.1978; für das Verhältnis Großeltern-Enkelkind offengelassen in BVerfGE 39, 316 (326) v. 06.05.1975. 71 BVerfGE 78, 38 (49) v. 08.03.1988. 72 BVerfGE 80, 81 (90 f) v. 18.04.1989; bestätigt in 99, 145 (156) v. 29.10.1998. 67
224
2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
Abs. 1 GG je nach der verfassungsrechtlichen Relevanz der Familiengemeinschaft entsprechend dem Entwicklungsstand der Familie als Lebens- und Erziehungs-, als Haus- oder als Begegnungsgemeinschaft ab.
bb) Der Familienbegriff
im Schrifttum
Das Schrifttum referiert die vorgenannte Rechtsprechung des BVerfG zum Familienbegriff des Art. 6 Abs. 1 GG überwiegend zustimmend und weist dabei auf die Bedeutung der Familie für den personellen Fortbestand der Gesellschaft hin. Obwohl der Zweck der Volkserhaltung kein eigenständiger Legitimationsgrund für die verfassungsrechtliche Wertentscheidung in Art. 6 GG sei, werde durch die Regeneration der Gesellschaft zugleich ein Beitrag zur Bevölkerungspolitik geleistet73. Es bestehen aber die nachfolgenden Diskrepanzen zu der Familiendefinition des BVerfG. Deutlicher enger definieren Lecheler und v. Campenhausen den Familienbegriff in Art. 6 Abs. 1 GG. Für Lecheler - der dabei betont, dass die herrschende Lehre und die allgemeine Rechtsprechung anderer Auffassung sind 74 ist Familie im Sinne des GG nur die funktionsfähige vollständige Gemeinschaft aus verheirateten Eltern und ihren Kindern. Dies sei der Normalfall, mit dem die Verfassung wie jede andere Rechtsnorm zu tun habe. Ausgeschieden aus seinem Familienbegriff sind somit alle Formen der unvollständigen Familie (infolge der Scheidung oder des Todes eines Elternteils) ebenso wie die Gemeinschaft aus unehelicher Mutter bzw. unehelichen Vater mit ihrem Kind. Denn ihren besonderen Schutz verspricht die Verfassung nach Ansicht von Lecheler nur der in idealtypischer Weise geeigneten sozialen Einheit der Familie, nicht aber all denjenigen Personenverbindungen, die mehr oder weniger gut vergleichbare Funktionen ausüben. Zudem würden diese unvollständigen Erziehungseinheiten keineswegs jeden verfassungsrechtlichen Schutz verlieren, da Art. 6 Abs. 5 GG und das allgemeine Sozialstaatsgebot den Staat verpflichteten, sich um diese Erziehungsträger zu kümmern 75 . Obwohl Lecheler die Restfamilie, d. h. die durch Tod eines Ehepartners oder Scheidung unvollständige Familie, nicht in den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG aufnimmt, gesteht er ihr den Schutz der staatlichen Gemeinschaft zu, weil eine solche Familie i. S. d. Art. 6 Abs. 1 GG einmal bestanden hat 76 . Nach v. Campenhausen bilden alleinstehende Elternteile mit Kindern nach dem Tod des Ehegatten oder einer
73 BerlinKomm/tfwrgz, Art. 6 Rn. 38; BK/Pirson, Art. 6 Abs. 1 Rn. 29 f; Steiger, VVDStRL 45, 55 (85); Zuleeg, NVwZ 1986, 800 (806 f). 74 HStR VI/Lecheler, § 133 Rn. 46 Fn. 83. 75 HStR VI/Lecheler, § 133 Rn. 42-47 und Lecheler, DVB1 1986, 905 (907). 76 Lecheler, DVB1 1986, 905 (907).
§ 1 Die verfassungsrechtliche Entwicklung von Ehe und F a m i l i e 2 2 5
Scheidung zwar Familien, welche aber als defiziente Rest-Familien bzw. fragmentarisierte Familien nicht dem Leitbild der Verfassung entsprechen. Das Leitbild der Verfassung bleibe die auf Ehe gegründete Familie. Nichteheliche Familien bezeichnet v. Campenhausen als auf Konkubinat gegründete Gruppierungen. Diese faktische Familie sei zwar im Interesse der Kinder anzuerkennen und zu fördern. Dabei sei aber wichtig, dass der Rechtsgrund des Schutzes dieser Gemeinschaft nicht darauf beruhe, dass sie eine Familie i. S. d. Art. 6 Abs. 1 GG bilde, sondern dass die Verfassung in anderen Bestimmungen wie Art. 6 Abs. 5 GG ihren Schutz vorsehe. Es sei deshalb im Einzelfall zu prüfen, ob Schutz oder Förderung geboten sei. Keineswegs könne der bei Mutter und den nichtehelichen Kindern wohnende Vater generell wie der Vater einer auf Ehe begründeten Familie behandelt werden 77. Dieser restriktive Familienbegriff von Lecheler und v. Campenhausen ist jedoch mit den Argumenten der ganz herrschenden Lehre abzulehnen78. Stellvertretend sei auf die Argumentation von Robbers verwiesen. Danach verbietet es der Schutzzweck des Art. 6 Abs. 1 GG, nur nach herkömmlichen Vorstellungen intakten, leitbildkonformen Familien den verfassungsrechtlichen Schutz angedeihen zu lassen. Die Gemeinschaft des überlebenden Ehegatten mit den Kindern erfüllt grundsätzlich in besonderem Maße die soziale, schutzwürdige Funktion der Familie in der Stabilisierung bei seelischen Krisensituationen. Den Beteiligten den rechtlichen Schutz zu entziehen, wenn sie ihn am dringendsten brauchen, kann kaum sinnvolles verfassungsrechtliches Ziel sein. Dasselbe gilt für das Verhältnis zwischen nichtehelicher Mutter bzw. Vater und dem nichtehelichen Kind 79 . Denn gerade in diesen Halbfamilien wird wertvolle - und besonders schwierige - Erziehungsarbeit geleistet80. Umstritten ist in der verfassungsrechtlichen Literatur auch das Verhältnis der Begriffe Ehe und Familie in Art. 6 Abs. 1 GG. Primär geht es um die Frage, ob auch die kinderlose Ehe schütz- und förderungswürdig ist. Interessant ist der Ausgangspunkt des Meinungsstreits, den seit dem In-Kraft-Treten des GG gewandelten gesellschaftlichen Verhältnissen. Bezüglich deren Bedeutung für den verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie gehen die Auffassungen auseinander. Durch den Meinungsstreit wird die Tendenz im Schrifttum deutlich, den verfassungsrechtlichen Schutz jeder aus Eltern(-teil) und Kind bestehenden Familie aufgrund der sich wandelnden gesellschaftlichen Verhältnisse stärker zu gewichten. So wird teilweise die Ansicht vertreten, aufgrund der
77
v. Campenhausen, VVDStRL 45, 7 (21 ff). v. Mangoldt/Klein/ZtoMers, Art. 6 Abs. 1 Rn. 90; BKJPirson, Art. 6 Abs. 1 Rn. 24; M&unzJDürig/Badura, Art. 6 Abs. 1 Rn.61; HVerfR/E M. v. Münch, §9 Rn. 13; MünchKomm/Koc/i, Einl FamR Rn. 191. 79 v. Mangoldt/Klein//to¿>¿>er.y, Art. 6 Abs. 1 Rn. 90. 80 F. Klein, FS Zeidler, S. 771 (774 Fn. 10). 78
226
2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
Wandlung der sozialen Wirklichkeit müssen Ehe- und Familienschutz heute getrennt gesehen werden 81. Coester-Waltjen argumentiert, dass für die Väter und Mütter des GG Ehe und Familie nahezu identische Erscheinungen waren. Die Ehe galt als Grundlage der Familie, die Familie war die normale Folge der Ehe. Ehe- und Familienschutz waren miteinander verbunden, weil die Eheschließung normalerweise zur Geburt von Kindern führte und damit die Gründung der Familie vorbereitete. Heute zerbrechen die modernen Methoden der Empfängnisverhütung, neue Formen des Zusammenlebens und die Häufigkeit des Auseinandergehens von Ehepartnern diesen Zusammenhang. So gibt es in sehr viel größerer Zahl einerseits gewollte kinderlose Ehen und andererseits Kinder, die nicht in einer Ehe geboren werden bzw. in einer Elternehe aufwachsen. Für die Auslegung des Art. 6 Abs. 1 GG dürfe diese Wandlung nicht ohne Bedeutung bleiben82. Nach dieser Ansicht zwingt die steigende Anzahl von Halbfamilien und kinderlosen Ehen die Rechtspraxis dazu, jedes der beiden Tatbestandsmerkmale des Art. 6 Abs. 1 GG in seiner besonderen verfassungsrechtlichen Wertigkeit fassbar zu machen. Robbers lehnt dagegen die vorgenannte strikte Trennung von Ehe- und Familienschutz in Art. 6 Abs. 1 GG ab. Eine solche strikte Trennung der Interpretation beider Institute, eine Entkoppelung von Ehe und Familie leugne von vornherein verfassungsrechtliche Sinnzusammenhänge, die in der Struktur der Norm und ihrer Entstehungsgeschichte angelegt seien; sie sei schon mit dem Wortlaut nicht vereinbar. Das GG schütze und fördere mit Ehe und Familie das Leben positiv empfundener Normalität. Nach diesem Leitbild, deutlich ausgedrückt in Wortlaut und Systematik der Norm, seien Ehe und Familie aufeinander bezogen. Diese verfassungsrechtliche Grundsatzentscheidung dürfe auch angesichts mancher Wandlungen in den faktischen Verhältnissen nicht überspielt werden. Denn beide Institute ständen in derselben Wertschätzung der Verfassung, so dass sie nicht gegeneinander ausgespielt werden dürften und keines zugunsten des anderen benachteiligt werden dürfte 83. Einen vermittelnden Standpunkt zum Verhältnis der Institutionen Ehe und Familie nimmt Gröschner unter Berücksichtigung des FamiliennachzugBeschlusses des BVerfG 84 ein. Dort habe das Gericht den Zusammenhang der beiden Institute deutlich, wenn auch nicht eindeutig formuliert. Deutlich sei diese Formulierung, da die Ehe als Grundlage und Voraussetzung der Familie 81 v. Münch/Kunig/Coester- Waltjen, Art. 6 Rn. 4; Sachs/Schmitt-Kammler, Art. 6 Rn. 15; HVerfR/£. M. v. Münch, §9 Rn. 4, 14; F. Klein, FS Zeidler, S. 771 (775); UWerfR/Zeidler, 1. A., S. 555 (594 ff); Zuleeg, NVwZ 1986, 800 (806). 82 v. Münch/Kunig/Coester- Waltjen, Art. 6 Rn. 4. 83 v. Mangoldt/KleinJRobbers, Art. 6 Abs. 1 Rn. 17 f. Ebenso BerlinKomm/5wrg/, Art. 6 Rn. 22, 38. 84 BVerfGE 76, 1 (51) v. 12.05.1987: „Die Ehe ist die rechtliche Form umfassender Bindung von Mann und Frau; sie ist alleinige Grundlage einer vollständigen Familiengemeinschaft und als solche Voraussetzung für die bestmögliche körperliche, geistige und seelische Entwicklung von Kindern."
§ 1 Die verfassungsrechtliche Entwicklung von Ehe und Familie
227
bezeichnet wird; nicht eindeutig sei sie, weil die dogmatische Beziehung zwischen der alleinigen Grundlage und der vollständigen Familiengemeinschaft ebenso offen bleibt, wie der Zusammenhang zur bestmöglichen Entwicklung. Wegen dieser offen gebliebenen Zusammenhänge habe das Gericht nicht entschieden, dass jede Form der Familie auf die Ehe gegründet sein muss. Die tatsächlich feststellbare Entkopplung von Ehe und Familie dürfe als Wandel im Normbereich des Art. 6 Abs. 1 GG bei dessen Auslegung nicht unberücksichtigt bleiben. Diese Forderung werde durch die Rechtsprechung des BVerfG mit einem entscheidenden verfassungsrechtlichen Argument im FamiliennachzugsBeschluss unterstützt. Danach entsprechen Ehe und Familie der auf Dialog angelegten geistigen Natur des Menschen. Daneben ist die Lebenshilfe, die der Einzelne in Ehe und Familie erhalten kann, von grundlegender Bedeutung für die Ordnung des Gemeinschaftslebens 85. Gerade diese vom BVerfG herangezogene Natur des auf Dialog angelegten Menschen bedingt nach Ansicht von Gröschner eine Abkoppelung von allen Reproduktionsargumenten. Der fertilitätstheoretisch begründete Eheschutz lasse sich deshalb nicht auf den Schutz der Familie in Art. 6 Abs. 1 GG übertragen 86. Mitunter wird der Familienbegriff des Art. 6 Abs. 1 GG unabhängig vom Zusammenleben auf den Vater und sein nichteheliches Kind erstreckt. Diese Ansicht stellt allein auf das Verwandtschaftsverhältnis ab. Robbers begründet das mit einem durch die Verfassung vorgegebenen rechtlichen Verantwortungszusammenhang der Betroffenen, dem sie sich nicht ohne weiteres durch Nichtaufnahme bzw. Abbruch einer persönlichen Beziehung entziehen dürfen 87. Überwiegend wird mit Verweis auf die Rechtsprechung des BVerfG für ausschlaggebend gehalten, ob die uneheliche Vaterschaft zu tatsächlichen Beziehungen zum Kind geführt hat, die für familiäre Beziehungen charakteristisch sind, wie ein Zusammenleben von Vater und Kind 88 . Entgegen dem BVerfG will das Schrifttum den Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG nicht auf die Kleinfamilie beschränken. Die Erstreckung des Familienbegriffs in Art. 6 Abs. 1 GG auf die Generationen-Großfamilie wird mit der konsequenten Anwendung des Kriteriums einer gewachsenen Bindung 89 sowie der blutsmäßigen Verwandtschaft, sozialer Tradition und einem umfassenderen Verständnis von Familie im bürgerlichen Recht90 begründet. Der zumeist geringe85
BVerfGE 76, 1 (51) v. 12.05.1987. Dreier¡Gröschner, Art. 6 Rn. 43, 45. 87 v. Mango\dtiK\e'm/Robbers, Art. 6 Abs. 1 Rn. 90. Ohne Begründung: Pieroth/ Schlink, Rn. 642; v. Münch/Kunig/Coester-Waltjen, Art. 6 Rn. 11. 88 BKJPirson, Art. 6 Abs. 1 Rn. 24; Maunz/Dürig/^wra, Art. 6 Abs. 1 Rn. 61; Dreier¡Gröschner, Art. 6 Rn. 50. 89 Dreier/Gröschner, Art. 6 Rn. 50. 90 v. Msmgo\dt/K\e\n/Robbers, Art. 6 Abs. 1 Rn. 86-88. Auf den Einzelfall abstellend: BYJPirson, Art. 6 Abs. 1 Rn. 21. Ohne nähere Begründung: Maunz/Dürig/ 86
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2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
ren, in ihrer Intensität abnehmenden Nähe der Familienmitglieder zueinander im Rahmen der Großfamilie könne und müsse bei der Schutzintensität und der Konkretisierung der Schutzinhalte des Art. 6 Abs. 1 GG Rechnung getragen werden 91. Zusammenfassend lässt sich feststellen: Bis auf vereinzelte Stimmen findet sich in der verfassungsrechtlichen Literatur zum Familienbegriff in Art. 6 Abs. 1 GG ein gemeinsamer Nenner. Familie ist danach die häusliche Gemeinschaft zwischen Eltern bzw. Elternteil und Kind, die auf einer Ehe beruhen kann, aber nicht auf ihr beruhen muss. Jede häusliche Lebensgemeinschaft aus mindestens einem Elternteil und einem Kind fällt somit in den Schutzbereich des Familienbegriffs in Art. 6 Abs. 1 GG.
cc) Der Familienbegriff
und § 832 BGB
Legt man den Familienbegriff des BVerfG und der verfassungsrechtlichen Literatur zugrunde, so besteht bei einer Haftung der Eltern aus § 832 Abs. 1 BGB folgende verfassungsrechtliche Situation. Werden die kraft Gesetzes zur Aufsicht über ihr minderjähriges Kind verpflichteten Eltern aus § 832 Abs. 1 BGB in Anspruch genommen, wirkt sich die vermögensrechtliche Haftung der Eltern als einzelne Individuen auf die finanzielle und persönliche Lebensführung der gesamten Familiengemeinschaft aus. Die betroffene Familiengemeinschaft unterliegt bei der Elternhaftung aus § 832 Abs. 1 BGB fast immer dem Schutzbereich des Familienbegriffs in Art. 6 Abs. 1 GG. Zwar haften die Eltern nach § 832 Abs. 1 BGB als Individuen und werden deshalb als einzelne Familienangehörige nicht von Art. 6 Abs. 1 GG geschützt. Dies schließt freilich nicht aus, dass das einzelne Familienmitglied als solches ein individuelles Recht auf den Schutz der Gemeinschaft besitzt92. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass die Familie nach der Rechtsprechung des BVerfG zwar vor allem Erziehungsgemeinschaft, aber auch Wirtschaftsgemeinschaft ist 93 . Die Einheit der Familie aus Eltern bzw. Elternteil und Kind wird infolgedessen durch die Inanspruchnahme der Eltern bzw. des Elternteils aus § 832 Abs. 1 BGB gestört, die einzelnen Individuen sind ihrer Eigenschaft als Mitglieder der Familiengemeinschaft betroffen. Werden die Eltern aus § 832 Abs. 1 BGB in Anspruch genommen, bilden sie - obwohl nicht Tatbestandsvoraussetzung -
Badura, Art. 6 Abs. 1 Rn. 60; v. Milnch/Coester- Waltjen, Art. 6 Rn. 11; Jarass/Pieroth, Art. 6 Rn. 4; Pieroth/Schlink, Rn. 643; Lecheler, DVB1 1986, 905 (908). 91 v. Mangoldt/Klein/Robbers, Art. 6 Abs. 1 Rn. 89; v. Milnch/Kumg/Coester-Waltjen, Art. 6 Rn. 35. 92 v. Mangoldt/Klein! Robbers, Art. 6 Abs. 1 Rn. 14. 93 BVerfGE 99, 216 (231) v. 10.11.1998.
§ 1 Die verfassungsrechtliche Entwicklung von Ehe und F a m i l i e 2 2 9
und ihr die schädigende Handlung vornehmendes minderjähriges Kind in nahezu allen veröffentlichten Entscheidungen zu § 832 BGB 9 4 eine Haus- und Erziehungsgemeinschaft. Dieser Familiengemeinschaft kommt nach der Rechtsprechung des BVerfG im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 GG als verbindliche Wertentscheidung der umfänglichste verfassungsrechtliche Schutz zu. Den Schutz der Verfassung als Ehe und Familie genießen jedoch nur die Hausgemeinschaften mit verheirateten Eltern, ohne dass daraus eine qualitative Besserstellung im Rahmen des § 832 BGB zu folgern ist. Die Haftung eines Elternteils aus § 832 Abs. 1 BGB ist ohne gleichzeitige Tangierung einer von Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Familiengemeinschaft nur in folgender Konstellation denkbar: Das sorgeberechtigte Elternteil lebt mit seinem Kind nicht in häuslicher Gemeinschaft, d. h. es fehlt an einer auf Dauer angelegten gemeinschaftlichen Wirtschaftsführung, besitzt aber noch Belehrungs-, Aufsichts- und Überwachungsmöglichkeiten. Sämtliche Tatbestandsvoraussetzungen des § 832 Abs. 1 BGB könnten in dieser Situation erfüllt werden, ohne dass wegen der fehlenden häuslichen Gemeinschaft ein Schutz der Familiengemeinschaft nach Art. 6 Abs. 1 GG bestände. Eine solche Haftungskonstellation ist aus den veröffentlichten Urteilen nicht ersichtlich 95. Sie wäre denkbar, wenn verheiratete Eltern getrennt leben bzw. nicht miteinander verheiratete Eltern, denen die elterliche Sorge gemeinsam zusteht, nicht (mehr) zusammenleben und das Kind sich in der Einflusssphäre des außerhalb der häuslichen Gemeinschaft lebenden Elternteils aufhält, z. B. bei einem Tagesbesuch. Hingegen scheidet eine Haftung aus § 832 Abs. 1 BGB für den nicht mehr mit seinem Kind in häuslicher Gemeinschaft lebenden Sorgerechtsinhaber grundsätzlich aus, wenn er wegen seiner dauernden Abwesenheit gar nicht in der Lage ist, die laufende Beaufsichtigung seines minderjährigen Kindes durchzuführen. Nach Ansicht der Rechtsprechung ist bei der berufsbedingten Abwesenheit eines Elternteils davon auszugehen, dass die Eltern die während dieses Zeitraums auszuübende Aufsicht über das Kind dem den Haushalt führenden Elternteil allein übertragen. Für eine solche angenommene stillschwei-
94 Keine Hausgemeinschaft zwischen Eltern und Kind lag vor in: RG Warn 1914 Nr. 217, S. 307 v. 15.12.1913; OLG Köln VersR 1957, 401 v. 04.12.1956. Eine Ausnahme bildet das Urteil des LG Heilbronn (VersR 1955, 414 v. 26.04.1955). Die Kammer lehnte die Haftung eines Vaters aus § 832 BGB bereits deshalb ab, weil dieser aufgrund der räumlichen Entfernung zu seinem Kind - es befand sich zu Besuch bei Verwandten in einer anderen Stadt - die Aufsicht nicht führen konnte. 95 In der Entscheidung des OLG Jena (OLGR-NL 2002, 381 v. 29.11.2000) fehlte es an einer häuslichen Gemeinschaft zwischen Vater und Sohn. Der Sohn hielt sich nur zu einem längeren Besuch bei seinem sorgerechtslosen Vater auf. Das OLG Jena verurteilte den Vater aus § 832 Abs. 2 BGB (vgl. 1. Teil § 1 II a. E.; 1. Teil § 3 II 1 a bb).
230
2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
gende Übereinkunft bedarf es keiner ausdrücklichen Absprache 96. Dieser Grundsatz muss erst recht bei einem dauernden Auszug aus der häuslichen Gemeinschaft gelten. Jedoch kann sich der aus der häuslichen Gemeinschaft ausgezogene Sorgerechtsinhaber seiner generell weiter bestehenden gesetzlichen Aufsichtspflicht nicht vollständig entledigen97. Es hängt wesentlich vom Einzelfall ab, welche vorbeugenden, überwachenden und kontrollierenden Maßnahmen ihm weiterhin obliegen, obwohl sich sein Kind nicht in seiner Obhut befindet. Entscheidende Faktoren dürften dabei die räumliche Entfernung sowie die Häufigkeit und Dauer des persönlichen Kontaktes zwischen Elternteil und Kind sein. Insgesamt dürfte sich eine Haftung aus § 832 Abs. 1 BGB bei fehlender häuslicher Gemeinschaft und fehlender Obhut zum Zeitpunkt der schädigenden Handlung aber nur in seltenen Ausnahmefällen begründen lassen, so bei einer räumlichen Nähe von Elternteil und Kind sowie einem regelmäßigen Kontakt in kurzen Zeitabständen. Bei Großeltern, die aus § 832 Abs. 2 BGB haften, fuhren die Auffassungen von BVerfG und Schrifttum jedoch zu unterschiedlichen Ergebnissen. Nach Ansicht der Literatur, welche den Familienbegriff in Art. 6 Abs. 1 GG auf die Generationen-Großfamilie erstreckt, werden die haftenden Großeltern vom Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG erfasst. Hingegen genießen sie nach dem Standpunkt des BVerfG keinen verfassungsrechtlichen Schutz, weil nur die aus Eltern und Kindern bestehende moderne Kleinfamilie von Art. 6 Abs. 1 GG geschützt wird. In der - veröffentlichten - Gerichtspraxis spielt diese Haftungskonstellation nur eine untergeordnete Rolle. So wurden in den veröffentlichten Urteilen nur zweimal Großmütter für einen durch ihr Enkelkind verursachten Schadensfall aus § 832 Abs. 2 BGB in Anspruch genommen. Mangels Aufsichtspflichtverletzung wurde die Klage jeweils abgewiesen98.
2. Der besondere Schutz der staatlichen Ordnung Art. 6 Abs. 1 GG stellt Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Die Tragweite dieser staatlichen Schutzgarantie ist infolge der allgemein gehaltenen Formulierung nicht leicht zu ergründen 99. Nach
96 OLG Koblenz ZfS 1987, 162 v. 18.12.1984; OLG Düsseldorf VersR 1992, 321 (322) v. 14.09.1990; vgl. 1. Teil § 3 V 2 a. 97 So auch MünchKomm/Stew, § 832 Rn. 14. 98 OLG München FamRZ 1990, 159 v. 21.12.1988 (vgl. 1. Teil § 3 I 5); OLG Celle OLGR 1994, 221 v. 15.06.1994. In einer früheren Entscheidung hatte das OLG Celle (VersR 1969, 333 v. 08.04.1968) ausdrücklich offengelassen, ob die in Anspruch genommen Großeltern die Aufsicht i. S. v. § 832 Abs. 2 BGB übernommen hatten und anschließend eine Aufsichtspflichtverletzung verneint. 99 Schwab, Rn. 11.
§ 1 Die verfassungsrechtliche Entwicklung von Ehe und Familie
231
v. Campenhausen bestand schon im Parlamentarischen Rat bei den Verfassungsvätern Unklarheit darüber, was man sich unter dem Schutz der Familie durch die Verfassung vorzustellen habe 100 . Häufig fehlt es im Schrifttum an einer Erörterung über die bloße Wiedergabe des Wortlauts von Art. 6 Abs. 1 GG hinaus. Wenn auf die Bedeutung dieser staatlichen Schutzgarantie eingegangen wird, ist umstritten, welche Konsequenzen aus diesem vom Verfassungsgeber gewählten Wortlaut zu ziehen sind. Teilweise wird bereits mit dem Wortlaut von Art. 6 Abs. 1 GG eine Hervorhebung der verfassungsrechtlichen Bedeutung von Ehe und Familie gegenüber anderen Verfassungsgütern begründet 101. Dieser ausdrücklich normierte besondere Schutz reicht danach weiter als derjenige Schutz, der aus der allgemeinen Schutzpflichtfunktion der Grundrechte dem Staat bei allen grundrechtlichen Gewährleistungen ohnehin obliegt. Robbers weist daraufhin, dass bereits die allgemeine Schutzpflicht stets den im konkreten Fall bestmöglichen Schutz gebietet. Die Verpflichtung auf besonderen Schutz bedeute daher, dass in der Abwägung und Zusammenordnung verfassungsrechtlicher Schutzgüter Ehe und Familie ein erhöhter Rang zukomme 102 . Gröschner nimmt eine zurückhaltendere Position ein. Er sieht im besonderen Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG keine Steigerung der Grundrechtsqualität sondern vielmehr nur eine ausdrückliche Betonung der Wertqualität. Da letztere nicht das Maß an Verbindlichkeit erreiche, das der Institutsgarantie oder dem Freiheitsrecht eigen sei, sei mit Wortlautargumenten aus dem „besonderen" Schutz in Art. 6 Abs. 1 GG verfassungsdogmatisch größte Zurückhaltung geboten 103 . Pirson misst der Feststellung in Art. 6 Abs. 1 GG im Rahmen des materiellen Verfassungsrechts keine besondere Aussagekraft zu. Er argumentiert wie folgt: Der „besondere Schutz" ist als Institution des Staatsrechts unbekannt. Dem Staat als Garant der Rechtsordnung ist in seinem Schutz ohnehin alles anvertraut, was von der Rechtsordnung als Schutzobjekt bezeichnet wird. Ein gradueller Unterschied in der staatlichen Schutzverpflichtung mit der Folge, dass einzelne Rechtsgüter generell in einer Zone des intensiveren Schutzes angesiedelt wären, ist daher ausgeschlossen. Der Zusicherung des „besonderen Schutzes" kommt auch im Rahmen der verfassungsrechtlichen Güterabwägung kein stärkeres Gewicht als anderen Rechtsgütern zu, mithin scheidet dabei eine Bevorzugung des Schutzes von Ehe und Familie aus. Denn eine solche von der Verfassung selbst festgelegte Gewichtung würde den Wert der Güterabwägung als Mittel zur sachgerechten Lösung von Kollisionen in Frage stellen. Der Wert
100
v. Campenhausen, VVDStRL 45, 8 (34). v. Mango\d\/K\e'm/Robbers, Art. 6 Abs. 1 Rn. 20; BerlinKomm/ßwrgi, Art. 6 Rn. 51; HStR WVLecheler, § 133 Rn. 51; Sachs!Schmitt-Kammler, Art. 6 Rn. 17; Rohr, Rn. 368; I v. Münch, Rn. 436b. 102 v. Mangoldt/Klein/Zto^ers, Art. 6 Abs. 1 Rn. 20. 103 Dreier/Gröschner, Art. 6 Rn. 21, unter Heranziehung der Entscheidung in BVerfGE 80,81 (93) v. 18.04.1989. 101
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2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
des verfassungsmäßigen Schutzes anderer Rechtsgüter wäre durch die Zufälligkeit seiner Kollision mit den Rechtsgütern Ehe und Familie mitbedingt 104 . Aus Art. 6 Abs. 1 GG ist die staatliche Ordnung verpflichtet. Eine Besonderheit ist mit dieser Formulierung nicht verbunden, so dass wie bei anderen Grundrechten der Staat Grundrechtsadressat ist 105 . Neben der Gesetzgebung sind nach Art. 1 Abs. 3 GG auch Rechtsprechung und Verwaltung an das Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG als unmittelbar geltendes Recht gebunden106.
3. Die drei Dimensionen des Schutzes von Ehe und Familie in Art 6 Abs. 1 GG Grundlegend für die Klärung der Rechtsnatur des Art. 6 Abs. 1 GG ist die Entscheidung des BVerfG v. 17.01.1957 zur Zusammenveranlagung von Ehegatten bei der Einkommensteuer (Steuersplitting). Der fünfte Leitsatz des BVerfG lautet dabei: Art. 6 Abs. 1 GG ist nicht nur ein „klassisches Grundrecht" zum Schutze der spezifischen Privatsphäre von Ehe und Familie sowie Institutsgarantie, sondern darüber hinaus zugleich eine Grundsatznorm, d. h. eine verbindliche Wertentscheidung für den gesamten Bereich des Ehe und Familie betreffenden privaten und öffentlichen Rechts. Er ist mindestens insoweit den Gesetzgeber aktuell bindendes Verfassungsrecht, als er eine Beeinträchtigung von Ehe und Familie durch störende Eingriffe des Staates selbst verbietet 107. Der in Art. 6 Abs. 1 GG garantierte Schutz von Ehe und Familie hat nicht nur - wie noch in der WRV - programmatischen Charakter, sondern stellt seit dieser Entscheidung aktuell bindendes Verfassungsrecht dar 108 . Die vielfältigen Beziehungen zwischen den privatrechtlichen Bestimmungen des Familienrechts und dem Grundrecht sind den Gewährleistungsdimensionen Institutsgarantie und objektive Wertentscheidung zuzuordnen 109. Der Institutsgarantie kommt dabei aber nur der Schutz des Kernbestandes der Familienrechtsvorschriften zu. Deshalb ist für die gegenständliche Bearbeitung allein die von Art. 6 Abs. 1 GG getroffene Wertentscheidung für Ehe und Familie von Bedeutung, weshalb sich die nachfolgende Darstellung bezüglich der Wirkungsweise von Art. 6
104 105 106 107 108 109
BKJPirson, Art. 6 Rn. 2. v. Mangoldt/Klein/Robbers, Art. 6 Abs. 1 Rn. 25. BVerfGE 12, 151 (175) v. 21.02.1961. BVerfGE 6, 55 v. 17.01.1957. Dreier/Gröschner, Art. 6 Rn. 18. BerlinKomm/itorgi, Art. 6 Rn. 25.
§ 1 Die verfassungsrechtliche Entwicklung von Ehe und F a m i l i e 2 3 3
Abs. 1 GG als Abwehrrecht und Institutsgarantie auf einen kurzen Überblick beschränkt 110.
a) Art. 6 Abs. 1 GG als Abwehrrecht In seiner Eigenschaft als Grundrecht verstärkt Art. 6 Abs. 1 GG die Entfaltungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG im privaten Lebensbereich, indem er eine Sphäre privater Lebensgestaltung garantiert, die staatlicher Einwirkung entzogen ist 111 . Als klassisches Abwehrgrundrecht gewährleistet Art. 6 Abs. 1 GG nach außen hin einen negatorischen Schutz gegen staatliche Eingriffe, die Ehe und Familie im materiellen oder persönlichen Bereich beeinträchtigen würden 112 . Art. 6 Abs. 1 GG gewährt so jedem Einzelnen die Freiheit, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen und verteidigt diese gegen staatliche Eingriffe 113 . Diesem Schutz nach außen entspricht im Innenverhältnis das Recht der Grundrechtsträger, die ehelichen bzw. familiären Beziehungen eigenständig und selbstverantwortlich auszugestalten und zu regeln 114 . Obwohl Art. 6 Abs. 1 GG seine Grundrechtsverbürgung vorbehaltlos gewährleistet, ist der Gesetzgeber zur einfachrechtlichen Ausgestaltung der Begriffe Ehe und Familie berechtigt und verpflichtet. Dies ergibt sich aus der untrennbaren Verbindung des Grundrechts mit der Institutsgarantie, welche notwendig eine rechtliche Ordnung verlangt 115 . So haben beispielsweise der Unterhalt in der Familie durch die §§ 1360a ff BGB und die Rechtswirkungen in der Ehe durch die §§ 1353 ff BGB eine allgemeine familienrechtliche Ausgestaltung erfahren. Bei dieser Ausgestaltung steht dem Gesetzgeber ein erheblicher Gestaltungsspielraum zu. Er muss aber vom in Art. 6 Abs. 1 GG verankerten Leitbild von Ehe und Fami-
110 1. v. Münch (Rn. 441) weist daraufhin, dass sich wie bei anderen Grundrechten die drei Funktionen des Art. 6 Abs. 1 GG nicht immer scharf voneinander trennen lassen. Nach Zuleeg (FamRZ 1980, 210 [211]) lässt sich ein Wesensunterschied zwischen der Einrichtungsgarantie einerseits und der wertentscheidenden Grundsatznorm andererseits nicht erkennen. Beide laufen darauf hinaus, dass der Staat für die Entfaltung von Ehe und Familie sorgen muss. Und für Braun (JuS 2003, 21) lassen sich die Funktionen des Art. 6 Abs. 1 GG als Institutsgarantie und verbindliche Wertentscheidung nicht in jeder Beziehung trennscharf auseinander halten. Letztlich gehe es um unterschiedliche Aspekte eines an sich umfassend gedachten Schutzes. 1,1 BVerfGE 21, 329 (353) v. 11.04.1967; SachsJSchmitt-Kammler, Art. 6 Rn. 20; MünchKomm¡Koch, Einl FamR Rn. 193. 112 BVerfGE 55, 114 (126 f) v. 21.10.1980. 1.3 Papier, NJW 2002, 2129. 1.4 BVerfGE 80, 81 (92) v. 18.04.1989. 115 BVerfGE 31, 58 (69) v. 04.05.1971.
234
2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
lie ausgehen und darf es durch die einzelnen Regelungen im bürgerlichen Recht nicht antasten116.
b) Art. 6 Abs. 1 GG als Institutsgarantie Weiterhin umfasst das in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltene Bekenntnis zu Ehe und Familie eine Instituts- oder Einrichtungsgarantie. Diese bereits während der Geltung der WRV entwickelte Rechtsfigur sichert den Kern der das Familienrecht bildenden Vorschriften, insbesondere des bürgerlichen Rechts, gegen eine Aufhebung oder wesentliche Umgestaltung und schützt gegen staatliche Maßnahmen, die bestimmende Merkmale des Bildes von der Familie, das der Verfassung zu Grunde liegt, beeinträchtigen 117. Die Institutsgarantie schreibt somit den vom Verfassungsgeber vorgefundenen überkommenen Kernbestand der das Familienrecht bildenden Vorschriften fest und setzt so dem Gesetzgeber Maßstäbe fiir seinen Umgang mit Ehe und Familie 118 . Papier weist darauf hin, dass das BVerfG mit seiner vorgenannten Formel das Problem, den verfassungsfesten Wesensgehalt des Familienrechts zu bestimmen, nur bezeichnet und noch nicht wirklich gelöst hat. Die Feststellung des Wesensgehaltes muss letztlich am Einzelfall der zu überprüfenden Regelung erfolgen 119 . Das BVerfG hat sich dabei bislang mit der Feststellung eines Verstoßes des Gesetzgebers gegen die Institutsgarantie zurückgehalten. Einen solchen nahm es aber bei der Beurteilung der starren 5-Jahresfrist der Härteklausel in § 1568 Abs. 2 BGB 1 2 0 und der Unterhaltsregelung in § 1579 Abs. 2 BGB 1 2 1 an. Hier hatte der Gesetzgeber nach Ansicht des BVerfG den Ordnungskern des Familienrechts nicht beachtet. Hingegen gebietet der Ordnungskern des Art. 6 Abs. 1 GG nach Ansicht des BVerfG nicht die Wahl eines einheitlichen Familiennamens122 und auch die Ausgestaltung der ehelichen Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft durch § 1357 Abs. 1 BGB 1 2 3 verstößt nicht gegen Institutsgarantie des Art. 6 Abs. 1 GG. Bedenklich wäre im Hinblick auf die Institutsgarantie des Art. 6
1.6
Rohr, Rn. 365. BVerfGE 80, 81 (92) v. 18.04.1989. Weitergehend BVerfGE 76, 1 (49) v. 12.05.1987. Danach liegt eine Verletzung der Institutsgarantie bereits dann vor, wenn bestimmende Merkmale des Bildes von Ehe und Familie, das der Verfassung zugrunde liegt, mittelbar beeinträchtigt werden. 1.8 SachsISchmitt-Kammler, Art. 6 Rn. 27; Papier, NJW 2002, 2129. 1.9 Papier, NJW 2002, 2129 (2130). Ähnlich Gröschner in Dreier, Art. 6 Rn. 19. 120 BVerfGE 55, 134 (141 f) v. 21.10.1980. 121 BVerfGE 57, 361 (388) v. 14.07.1981. 122 BVerfGE 78, 38 (49) v. 08.03.1988. 123 BVerfGE 81, 1 (6 f) v. 03.10.1989. 1.7
§ 1 Die verfassungsrechtliche Entwicklung von Ehe und Familie
235
Abs. 1 GG nach Schmitt-Kammler eine Aushöhlung des Verwandtenunterhalts, weil Solidarität ein Strukturelement der Familie ist 124 .
c) Art. 6 Abs. 1 GG als objektive Wertentscheidung aa) Die Rechtsprechung des BVerfG Neben der Funktion als Abwehrrecht und Institutsgarantie stellt Art. 6 Abs. 1 GG eine verbindliche Wertentscheidung für den gesamten Bereich des Ehe und Familie betreffenden privaten und öffentlichen Rechts dar 125 . In der Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 6 Abs. 1 GG hat diese Gewährleistungskomponente eine überragende Bedeutung. Dies gilt nicht nur im Verhältnis zur abwehrrechtlichen und institutionellen Komponente, sondern auch im Vergleich mit anderen Freiheitsrechten 126. Die abstrakten Ausführungen des BVerfG lassen sich in den nachfolgenden Kernaussagen zusammenfassen. Überwiegend bezeichnet das BVerfG Art. 6 Abs. 1 GG als wertentscheidende Grundsatznorm 127 für das gesamte, Ehe und Familie betreffende Recht. Dies folgt für das Gericht bereits aus dem Wortlaut, der schlechthin den besonderen Schutz von Ehe und Familie gebietet. Mitunter bezeichnet das BVerfG diese Gewährleistungskomponente als grundlegende Wertentscheidung 128, als besondere Wertentscheidung 129, als verbindliche Wertentscheidung 130 oder nur als Wertentscheidung für die Familie 131 . Nach Jarass sollte diese unterschiedliche Terminologie des BVerfG nicht überschätzt werden. Unabhängig davon, ob die in Art. 6 Abs. 1 GG gesicherte Freiheit als verbindliche Wertentscheidung oder Grundsatznorm bezeichnet werde, sei damit (nur) die Verallgemeinerung des Grundrechts über die Rechtsfolge des
124
125
Suchst Schmitt-Kammler,
Art. 6 Rn. 29.
BVerfGE 80, 81 (92 f) v. 18.04.1989; Papier, NJW 2002, 2129 (2130); MünchKomm/Koch, Einl FamR Rn. 194. 126 Kingreen, Jura 1997, 401 (404); Sachs/Schmitt-Kammler, Art. 6 Rn. 30 Fn. 100. 127 BVerfGE 6, 55 (71 f) v. 17.01.1957; 9, 237 (242) v. 14.04.1959; 28, 324 (347) v. 27.05.1970; 31, 58 (67) v. 04.05.1971; 42, 95 (101) v. 06.04.1976; 76, 1 (49) v. 12.05.1987; 80, 81 (92 f) v. 18.04.1989; 87, 1 (35) v. 07.07.1992; 103, 242 (257 f) v. 03.04.2001; BVerfG FamRZ 2002, 601 (602) v. 30.01.2002. 128 BVerfGE 13, 290 (298) v. 24.01.1962. 129 BVerfGE 17, 210 (217) v. 12.02.1964; 18, 257 (269) v. 26.11.1964; 29, 71 (79) v. 14.07.1970; 29, 104(118) v. 22.07.1970. 130 BVerfGE 22, 93 (98) v. 07.06.1967; 28, 104 (112) v. 18.03.1970; 61, 18 (25) v. 23.06.1982. 131 BVerfGE 24, 119 (149) v. 29.07.1968; 36, 146 (162) v. 14.11.1973.
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2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
Abwehranspruchs hinaus gemeint 132 . Als wertentscheidende Grundsatznorm erreicht Art. 6 Abs. 1 GG für das BVerfG nicht das Maß an Verbindlichkeit, das der Institutsgarantie oder dem Freiheitsrecht eigen ist. Der zur Berücksichtigung familiärer Bindungen verpflichtende Schutzauftrag des Staates wirkt jedoch auf die gesamte die Familie betreffende Rechtsordnung ein, mag sie zu Eingriffen ermächtigen, zu Leistung und Teilhabe berechtigen oder zum Handeln, Dulden oder Unterlassen verpflichten 133 . Art. 6 Abs. 1 GG statuiert somit als objektive Norm ein Wertsystem, das als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts Geltung beansprucht 134. Er ist demgemäß bei der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts, insbesondere bei der Anwendung von Generalklauseln zu beachten135. Dies bedeutet jedoch nicht, dass jede Auslegung einer Vorschrift des einfachen Rechts, die für den betroffenen Familienangehörigen nachteilig ist, Art. 6 Abs. 1 GG widerspricht 136 . Der in der Verfassungsnorm vorgeschriebene Schutz von Ehe und Familie umfasst zweierlei: Art. 6 Abs. 1 GG umschließt für den Staat positiv die Aufgabe, Ehe und Familie vor Beeinträchtigung durch andere Kräfte zu bewahren und durch geeignete Maßnahmen zu fördern; zugleich enthält er das Verbot für den Staat selbst, Ehe und Familie zu schädigen oder sonst zu beeinträchtigen 137. Denn auf die Wertschöpfung durch heranwachsende Generationen ist jede staatliche Gemeinschaft angewiesen, an der Betreuungs- und Erziehungsleistung von Familien besteht ein allgemeines Interesse 138. Darum ist der Staat gehalten, eine kinderfreundliche Gesellschaft zu fördern. Aus Art. 6 Abs. 1 GG ergibt sich somit die Verpflichtung des Staates, die Ehe durch geeignete Maßnahmen zu fördern. Grundsätzlich kann der Gesetzgeber im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit bestimmen, auf welche Weise er den ihm aufgetragenen besonderen Schutz der Ehe verwirklichen will 1 3 9 . Aus der Wertentscheidung des Art. 6 Abs. 1 GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip lässt sich zwar die allgemeine Pflicht des Staates zu einem Familienlastenausgleich, d. h. zu Schutz und Förderung der Familie im materiell-wirtschaftlichen 132 Jarass, AöR 110 (1985), 363 (368, 371). Friauf(NJW 1986, 2595 [2600]) sieht in den verschiedenen Formulierungen lediglich eine anders formulierte Charakterisierung des objektivrechtlichen Gehalts des Grundrechts. 133 BVerfGE 80, 81 (92 f) v. 18.04.1989. 134 BVerfGE 21, 362 (372) v. 02.05.1967. 135 BVerfGE 22, 93 (98) v. 07.06.1967; 61, 18 (25) v. 23.06.1982. 136 BVerfGE 28, 104(112) v. 18.03.1970. 137 BVerfGE 6, 55 (76) v. 17.01.1957; 24, 104 (109) v. 24.07.1968; 28, 104 (112) v. 18.03.1970; 32, 260 (267) v. 25.01.1972; 55, 114 (126) v. 21.10.1980; 82, 60 (90) v. 29.05.1990; 84, 168 (184) v. 07.05.1991. 138 BVerfGE 88, 203 (258 f) v. 28.05.1993; 103, 242 (265) v. 03.04.2001. 139 BVerfGE 21, 1 (6) v. 14.12.1966.
§ 1 Die verfassungsrechtliche Entwicklung von Ehe und F a m i l i e 2 3 7
Bereich, entnehmen, nicht aber die Entscheidung darüber, in welchem Umfang und in welcher Weise ein sozialer Ausgleich vorzunehmen ist 140 . Für die Familie erwachsen aus dem Förderungsgebot der Verfassungsnorm somit weder konkrete Ansprüche auf bestimmte staatliche Leistungen noch ist der Staat verpflichtet, die Familie ohne Rücksicht auf sonstige öffentliche Belange zu fördern. Die staatliche Familienförderung durch finanzielle Leistungen steht unter dem Vorbehalt des Möglichen im Sinne dessen, was der Einzelne vernünftigerweise von der Gesellschaft beanspruchen kann. Ebenso wenig lassen sich aus dem Verfassungsauftrag konkrete Folgerungen für die einzelnen Rechtsgebiete und Teilsysteme, in denen der Familienlastenausgleich zu verwirklichen ist, ableiten 141 . Jedoch verfolgt die Verfassungsbestimmung mit dem Gebot positiver Förderung das Ziel, den materiell-wirtschaftlichen Zusammenhalt der Familie zu stärken 142. Diese grundsätzlich bestehende Pflicht geht aber nicht so weit, dass der Staat gehalten wäre, jegliche die Familie treffende finanzielle Belastung auszugleichen143 oder jeden Unterhaltspflichtigen zu entlasten144. Das auch als Benachteiligungs- oder Schädigungsverbot bezeichnete Beeinträchtigungsverbot bindet die öffentliche Gewalt wie folgt: Knüpft eine Benachteiligung an die Ehe oder an das Eltern/Kind-Verhältnis an, ist der spezielle Schutzgedanke des Art. 6 Abs. 1 GG verletzt 145 . Im Rahmen der verbindlichen Wertentscheidung entnimmt das BVerfG Art. 6 Abs. 1 GG somit eine Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes146, mithin einen besonderen Gleichheitssatz147. Dabei verwendet das BVerfG dafür auch die Formulierungen Diskriminierungs- 148 bzw. Differenzierungsverbot 149. Danach dürfen Ehe und Familie gegenüber anderen Lebens- und Erziehungsgemeinschaften bzw. kinderlosen Alleinstehenden nicht schlechter gestellt werden. Der nach dieser Vorschrift gebotene Schutz von Ehe und Familie gewährt Eheleuten einen Anspruch darauf, nicht allein deshalb, weil sie verheiratet sind, gegenüber Ledi140
BVerfGE 39, 316 (326) v. 06.05.1973. BVerfGE 87, 1 (35 f) v. 07.07.1992; 97, 332 (349) v. 10.03.1998; 103, 242 (259 f)v. 03.04.2001. 142 BVerfGE 28, 104 (112) v. 18.03.1970; 40, 121 (132) v. 18.06.1975; 61, 18 (25) v. 23.06.1982; 62, 323 (332) v. 30.11.1982; 75, 382 (392) v. 16.06.1987. 143 BVerfGE 23, 258 (264) v. 07.05.1968; 28, 104 (112) v. 18.03.1970; 40, 121 (132) v. 18.06.1975; 55, 114 (127) v. 21.10.1980; 103, 242 (259) v. 03.04.2001. 144 BVerfGE 43, 108 (121) v. 23.11.1976; 87, 1 (35) v. 07.07.1992. 145 BVerfGE 16, 203 (208) v. 10.06.1963. 146 BVerfGE 17, 210 (217) v. 12.02.1964. 147 BVerfGE 6, 55 (71, 82) v. 17.01.1957; 45, 104 (125) v. 08.06.1977; 76, 1 (72) v. 12.05.1987; 99, 216 (232) v. 10.11.1998. Für die interne Struktur von Ehe und Familie: BVerfGE 103, 89 (101) v. 06.02.2001; 105, 1 (11 ff) v. 05.02.2002. 148 BVerfGE 17, 210 (217) v. 12.02.1964; 28, 324 (347) v. 27.05.1970; 75, 382 (393) v. 16.06.1987; 81, 1 (7) v. 03.10.1989; 99, 216 (232) v. 10.11.1998. 149 BVerfGE 78, 128 (130) v. 26.04.1988; 87, 1 (37) v. 07.07.1992. 141
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gen benachteiligt zu werden 150 . Damit ist es jedoch vereinbar, dass der Gesetzgeber sie anders als Ledige behandelt, soweit diese Regelung ihren Grund in der durch die eheliche Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft gekennzeichneten besonderen Situation von Ehegatten hat und deren Berücksichtigung gerade in dem konkreten Sachverhalt der Natur des geregelten Lebensgebietes und den Gerechtigkeitsvorstellungen der Allgemeinheit entspricht 151. Ebenso untersagt der besondere Gleichheitssatz des Art. 6 Abs. 1 GG eine Schädigung der Familie 1 5 2 , also eine Beeinträchtigung von Eltern gegenüber Kinderlosen 153 . Der Staat muss die Entscheidung der Eltern zugunsten von Kindern achten und darf den Eltern im Steuerrecht nicht etwa die Vermeidbarkeit von Kindern in gleicher Weise entgegenhalten wie die Vermeidbarkeit sonstiger Lebensführungskosten, er darf also Kinder und private Bedürfnisbefriedigung nicht auf eine Stufe stellen 154 . Die Gerichte dürfen insbesondere das einfache Recht nicht in einer Weise anwenden und auslegen, die geeignet ist, den Bestand der Familie zu beeinträchtigen 155. Gerichtliche Entscheidungen müssen daher der Gewährleistung des Art. 6 Abs. 1 GG entsprechen 156. Das Beeinträchtigungsverbot erstreckt sich ebenfalls auf den materiell-wirtschaftlichen Bereich 157 . Ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 GG kommt daher in Betracht, wenn eine Gesetzesbestimmung oder deren Auslegung an das Bestehen einer Familienbeziehung zwischen Eltern und Kindern wirtschaftlich nachteilige Rechtsfolgen knüpft. Führt sie dagegen ohne Rücksicht auf das Bestehen einer Familienbeziehung zu einer solchen Rechtsfolge, würde also insbesondere ein Nichtfamilienmitglied denselben Rechtswirkungen unterworfen, so scheidet eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 GG in Form des Benachteiligungsverbotes aus 158 . Eine an die Familie anknüpfende Benachteiligung verstößt auch dann nicht gegen Art. 6 Abs. 1 GG, wenn diese im selben Sachzusammenhang eine Kompensation erfährt. Das BVerfG hat die Grenze des Sachzusammenhanges bei der Verteilung von Staatsmitteln im Leistungsbereich sehr weit gezogen. Es hat dabei das gesamte System staatlicher Subventionsleistungen und die Steueranforderungen an die Familie als Einheit angesehen. So kommt das Gericht in einer pauschalen Gegenüberstellung zu dem Ergebnis, dass die steuerliche Belastung Unterhalt zah-
150 BVerfGE 47, 1 (19) v. 11.10.1977; 75, 361 (366) v. 03.06.1987; 78, 128 (130) v. 26.04.1988. 151 BVerfGE 32, 260 (267 f) v. 25.01.1972; 75, 361 (366) v. 03.06.1987. 152 BVerfGE 18, 97 (105) v. 30.06.1964. 153 BVerfGE 82, 60 (80) v. 29.05.1990; 87, 1 (37) v. 07.07.1992; 99, 216 (232) v. 10.11.1998. 154 BVerfGE 82, 60 (87) v. 29.05.1990. 155 BVerfGE 28, 104(112) v. 18.03.1970. 156 BVerfGE 68, 256 (268) v. 14.11.1984. 157 BVerfGE 66, 84 (94) v. 10.01.1984. 158 BVerfGE 28, 104(112) v. 18.03.1970.
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lender Eltern durch die allgemeine Förderungsleistung der öffentlichen Hand für Kinder, insbesondere als Träger des Schul-, Bildungs- und Ausbildungssystems, wirtschaftlich kompensiert wird 1 5 9 .
bb) Das Schrifttum Das Schrifttum gibt die Rechtsprechung des BVerfG zur Bedeutung und Tragweite der verbindlichen Wertentscheidung in Art. 6 Abs. 1 GG zustimmend wieder. Zu konkreten Auswirkungen der verbindlichen Wertentscheidung über die Kernaussagen des BVerfG hinaus nehmen nur wenige Autoren Stellung. Die zivil- und familienrechtliche Literatur beschränkt sich fast ausnahmslos auf die Wiedergabe der Standardformulierungen des BVerfG. Lecheler 160 und Giesen161 verweisen darauf, dass Art. 6 Abs. 1 GG bei der tiefgreifenden Familienrechtsreform durch das 1. EheRG und das SorgeRG kaum eine Rolle gespielt habe. Giesen führt das auf erhebliche Unsicherheiten über Inhalt und Tragweite von Art. 6 GG zurück. Seiner Auffassung nach hat das BVerfG in seiner umfangreichen Rechtsprechung ein Bild von Ehe und Familie gezeichnet, welches im Wesentlichen von den Grundlagen der Wahlfreiheit und Solidarität im Innern sowie vom Subsidiaritätsprinzip bestimmt ist, das Staat und Gesellschaft Zurückhaltung gebietet und jede unnötige Einmischung untersagt. Damit sei die Verfassung ausgelegt162. Nach Lecheler ist die dreifache Rechtswirkung in Art. 6 Abs. 1 GG fast schon zu einem Gemeinplatz geworden, auch sei es schwer, die Wertentscheidung in Art. 6 Abs. 1 GG mit konkretem Inhalt zu füllen 163 . Coester-Waltjen betont, dass die verbindliche Wertentscheidung auch für die Rechtsprechung gilt, sich hingegen nicht direkt gegen Privatpersonen richtet. Die Judikatur sei deshalb an Art. 6 Abs. 1 GG als Interpretationsmaxime gebunden und habe ihn zudem bei der Rechtsfortbildung zu wahren und zu entfalten. Hinweise auf Art. 6 Abs. 1 GG sind nach ihrer Ansicht in der Rechtsprechung häufig, meist aber überflüssig, zuweilen sogar missbräuchlich. Auch habe sich Art. 6 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Grundsatznorm bisher im Privatrecht weit weniger bewähren müssen als im öffentlichen Recht, einschließlich des Sozialrechts. Abgeschlossen werde die praktische Bewährung aber nie sein 164 . Kingreen sieht privatrechtliche Rechtsbeziehungen auch außerhalb des Familienrechts durch die objektive Wertent159
BVerfGE 43, 108 (121) v. 23.11.1976; 45, 104 (125) v. 08.06.1977. Lecheler, FamRZ 1979, 1. 161 Giesen, JZ 1982, 817 (818). 162 Giesen, JZ 1982, 817 (828); ders., Rn. 6. 163 Lecheler, DVB1 1986, 905 (906); HStR VI/Lecheler, § 133 Rn. 58. 164 v. Münch/Kunig/Coester-Waltjen, Art. 6 Rn. 35, 42; Gernhuber/Coester-Waltjen, § 5 IV 4, 5. 160
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Scheidung des Art. 6 Abs. 1 GG, insbesondere über wertausfüllungsbedürftige Generalklauseln wie „sittenwidrig", „angemessen" und „berechtigte Interessen" beeinflusst 165. Schlüter weist unter Bezugnahme auf das BVerfG darauf hin, dass Art. 6 GG als wertentscheidende Grundsatznorm bei der Auslegung und Anwendung der zahlreichen familienrechtlichen Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffe heranzuziehen ist 166 . Für Loschelder figuriert Art. 6 Abs. 1 GG als Gültigkeits- und Auslegungsmaßstab für das unterfassungsrechtliche Recht 167 . Differenzierter äußert sich Pirson. In seinen allgemeinen Ausführungen zur Bedeutung von Art. 6 Abs. 1 GG für die Auslegung anderer Rechtsvorschriften merkt er an, dass unspezifische Hinweise auf die Wertentscheidung des Art. 6 Abs. 1 GG in Wirklichkeit kaum einen verwertbaren Gesichtspunkt für die Auslegung des einfachen Rechts liefern. Eine Einwirkung der in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltenen verfassungsrechtlichen Aussagen auf die Auslegung anderer, einfachrechtlicher Rechtsvorschriften sei nur dann in überzeugender Weise darzutun, wenn unter Bezugnahme auf den im Einzelfall ausschlaggebenden Bestandteil jener Verfassungsgarantie die Art und die Richtung der Einflussnahme bezeichnet werden kann. Der verpflichtende Gehalt des Art. 6 Abs. 1 GG werde dann für die Auslegung des einfachen Gesetzesrechts wesentlich, wenn ein gesetzlicher Tatbestand gerade in einer solchen Beziehung eine Unbestimmtheit entstehen lasse, in der das verfassungsrechtliche Gebot zum besonderen Schutz von Ehe und Familie einen Gesichtspunkt der Konkretisierung abgeben könne. Trotz des Verbotes der Schlechterstellung in Art. 6 Abs. 1 GG dürften an die Eigenschaft als Familienangehöriger verpflichtende und belastende Rechtsfolgen geknüpft werden, wenn einleuchtende Sachgründe 168 beständen169. An anderer Stelle geht Pirson dann auf die Wirkungen von Art. 6 Abs. 1 GG im bürgerlichen Recht ein. Soweit das Privatrecht ordnungspolitisch motivierte Generalklauseln oder unbestimmte Rechtsbegriffe enthalte, könne Art. 6 Abs. 1 GG die Auslegung solcher wertausfüllungsbedürftiger Vorschriften beeinflussen und in eine bestimmte Richtung weisen. Vor allem Begriffe 165
Kingreen, Jura 1997, 401 (406). Schlüter, Rn. 5. 167 Loschelder, FamRZ 1988, 333 (336). 168 Solche Sachgründe sind nach Coester-Waltjen (in v. Münch/Kunig, Art. 6 Rn. 37 f) beispielsweise die sich aus Familiengründung und familiärer Verbundenheit ergebenden Solidaritätspflichten oder die bestehende Wirtschaftsgemeinschaft zusammenlebender Familienangehöriger. So sei die Auferlegung von Unterhaltspflichten daher prinzipiell verfassungsgemäß. Allerdings habe der Staat dabei nicht nur die sich aus der Gemeinschaft ergebenden Grenzen zu beachten. Da die Investition in die junge Generation mindestens genauso viel wiege wie Investition in neue Maschinen, müsse der Staat derartige Belastungen entsprechend dem Schutzauftrag dort ausgleichen, wo sich solche Möglichkeiten bieten, insbesondere renten- und steuerrechtlich. 169 BKJPirson, Art. 6 Abs. 1 Rn. 75, 77. 166
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wie „sittenwidrig", „angemessen" und „berechtigte Interessen" eröffneten die Möglichkeit, die durch Art. 6 Abs. 1 GG besonders geschützten Rechtsgüter zu berücksichtigen 170. Soweit ersichtlich erläutert Pirson als einziger GGKommentator den Einfluss von Art. 6 Abs. 1 GG auf das Recht der unerlaubten Handlung. Er nennt als relevante Vorschriften die §§ 826 BGB und 823 Abs. 1 (sonstiges Recht) BGB. Jedoch geht Pirson nur auf die Bedeutung von Art. 6 Abs. 1 GG zur Anspruchsbegründung ein, nicht aber auf die zur Anspruchsabwehr 171 . Schmitt-Kammler merkt an, dass Ehe und Familie Anknüpfungspunkt für lästige Rechtsfolgen sein können, soweit das der Natur des geregelten Lebensbereichs entspricht. Auch verstoße eine nachteilige Regelung nicht gegen das Benachteiligungsverbot, wenn diese für denselben Personenkreis kompensierende Vergünstigungen enthält und sich damit im Ganzen als neutral darstelle 172 . Für Badura gehören die Einschränkungen und der Mehraufwand, den Kinder für die Eltern und die Familie zur Folge haben, zum Leben der Familie als Erziehungs- und Wirtschaftsgemeinschaft und sind ein wesentlicher Grund für deren besonderen Schutz durch die staatliche Ordnung. Sie könnten nicht schlechthin vom Schicksal der Familie getrennt und in die Zuständigkeit und Verantwortung der staatlichen Gemeinschaft verwiesen werden. Die Verwirklichung der grundrechtlichen Schutzpflicht in Form von Förderung und Ausgleich für die Familie beziehe sich auf den besonderen Schutz der Familie im Verhältnis zu unverheirateten Paaren und Einzelnen ohne Kinder. Sie gelte für das staatliche Handeln insgesamt und damit für Regelungen und Maßnahmen aller Art, sofern sie sich für die rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse von Ehe und Familie auswirken können 173 . Papier betont die Bedeutung des aus der verbindlichen Wertentscheidung von Art. 6 Abs. 1 GG folgenden besonderen Gleichheitssatzes. In dieser Hinsicht entfalte Art. 6 GG wahrscheinlich mehr Wirkung als über die Institutsgarantie und zeige, dass der Staat auf die freie Entscheidung seiner Bürger für die Familie baut. Entscheidend und daher zu fordern bleibe materielle Gerechtigkeit für Ehe und Familie 174 . Nach Ansicht von Loschelder darf sich die staatliche Förderung der Familie - bei aller Bedeutsamkeit - nicht nur in finanzieller Hilfe erschöpfen 175. Für Eichenhofer werden die familiären Belastungen durch ein Kind vor allem durch das Glück der Elternschaft aufgewogen. Jedoch sei 170
B¥JPirson, Art. 6 Abs. 1 Rn. 97, 150. BK/Pirson, Art. 6 Abs. 1 Rn. 156. 172 Sachs/Schmitt-Kammler, Art. 6 Rn. 33. 173 Maunz/Dürig/lWwra, Art. 6 Abs. 1 Rn. 75 f unter dem Gliederungspunkt Familienlastenausgleich. 174 Papier, NJW 2002, 2129 (2130, 2133). 175 Loschelder, FamRZ 1988, 333 (339). 171
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der Staat dazu be- und aufgerufen, die mit der Elternschaft verbundenen sozialen und ökonomischen Benachteiligungen zu lindern. Eltern übernähmen mit der Erziehung ihrer Kinder zugleich Aufgaben, deren Erfüllung sowohl im Interesse der Gemeinschaft als Ganzes als auch jedes Einzelnen gelegen sei. Darum sei der Staat gehalten, eine kinderfreundliche Gesellschaft zu fördern 176. Jarass hat die Rechtsprechung des BVerfG zu den Grundrechten als Wertentscheidung ausführlich analysiert. Danach bezieht sich das BVerfG auf Wertentscheidungen, wenn ihm der Grundrechtsschutz in seinem klassischem Gehalt zweifelhaft erscheint, es aber andererseits eine Verweigerung des grundrechtlichen Schutzes, nicht zuletzt wegen der gewichtigen Stellung der Grundrechte im GG, für nicht akzeptabel hält. Das BVerfG entnimmt dazu den grundrechtlichen Abwehrrechten Rechtsprinzipien bzw. Rechtsgrundsätze, die es dann zur Grundlage neuer Rechtsfolgen in der Wertentscheidungsseite macht. Diese Wertentscheidungsseite der Grundrechte ist damit zwangsläufig weniger präzise als die Abwehrseite, gleichzeitig aber auch erheblich entwicklungsfähiger und somit offener. Bei aller Unscharfe ist deshalb nach Meinung von Jarass der Bezug auf Wertentscheidungen keineswegs nur schmückendes Beiwerk 177 . In seiner Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 1 GG benutzt das BVerfG das Argument der grundrechtlichen Wertentscheidung zur Ausweitung des Grundrechtschutzes auf andere Beeinträchtigungen als den herkömmlichen klassischen Grundrechtseingriff. Entscheidend für den Rückgriff des BVerfG auf die Wertscheidung des Art. 6 Abs. 1 GG ist allein die relative Schlechterstellung, die bei Begünstigungen wie bei Belastungen auftreten kann. Den Bezug auf den Gleichheitssatz hält Jarass für nicht nötig, weil die Wertentscheidungsseite einen generell gegenüber der Abwehrkomponente reduzierten Schutz bietet sowie spezifische Spielräume eröffnet 178 .
d) Art. 6 Abs. 1 GG und § 832 BGB ad) Das Schrifttum Die Rechtsprechung ist bisher in keinem Urteil auf das Verhältnis von Art. 6 Abs. 1 GG zu § 832 BGB eingegangen. In der Literatur gibt es dazu einige wenige Stimmen. Dabei fällt auf, dass die inhaltlichen Ausführungen zu Art. 6 Abs. 1 GG überwiegend pauschal gehalten sind. Erstmals stellte Bosch 1957 in einer Urteilsanmerkung eine Beziehung zwischen Art. 6 Abs. 1 GG und § 832 BGB her. Danach dürfe die Aufsichtspflicht der Eltern nicht überspannt wer-
176 177 178
Eichenhofer, NJW-Beil 23/2002, 6 (10 f). Jarass, AöR 110 (1985), 363 (365 f). Jarass, AöR 110 (1985), 363 (375).
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den. Anderenfalls werde die „verbindliche Wertentscheidung" in Art. 6 Abs. 1 GG missachtet. Kurz gesagt gebe es eben de lege lata keine Veranlassungshaftung der Eltern, keine Verantwortlichkeit des Kinderhalters analog § 7 StVG. Die von den geltenden Gesetzen getroffene, im Einklang mit Art. 6 Abs. 1 GG stehende Wertentscheidung gehe dahin, dass der Geschädigte die Schäden, die nicht durch die Schuld der Eltern oder des Kindes (§ 828 BGB) hervorgerufen wurden, zu tragen habe. Deshalb sei die beliebt gewordene Frage: „Für anderer Leute Kinder zahlen?" durch einen Hinweis auf Art. 6 Abs. 1 GG zu beantworten 179. 1964 kommentiert Bosch erneut ein die Eltern entlastendes Urteil mit den Worten, das Urteil erscheine durchaus beifallswert, auch im Lichte des Art. 6 Abs. 1 GG 1 8 0 . A. Fuchs rügt diese beiden Urteilsanmerkungen von Bosch als sehr pauschal181. Jayme betonte 1971 die Bedeutung des verfassungsrechtlichen Schutzes, unter dem Ehe und Familie gemäß Art. 6 Abs. 1 GG stehen. Dieser Verfassungssatz schaffe einmal eine Institutsgarantie, zum anderen schütze er die einzelne Ehe und die einzelne Familie. Der letztgenannte Zweck des Art. 6 Abs. 1 GG spiele für das Deliktsrecht an verschiedenen Stellen eine Rolle, etwa im Bereich des § 832 BGB, und zwar als ein Interpretationsgrundsatz, welcher die Auslegung der bürgerlich-rechtlichen Bestimmung beeinflusse 182. Nach Meinung von Dahlgrün (1979) handelt es sich bei § 832 BGB immer um einen Konflikt zwischen mehreren, grundsätzlich gleichwertigen, schutzwürdigen Interessen; das Wesen der Aufsichtspflicht werde dementsprechend bestimmt durch eine sorgfältige und für jeden Fall neu vorzunehmende Abwägung dieser Interessen. Dem Recht des Geschädigten auf Garantie seiner körperlichen Integrität und auf Schutz seines Eigentums stehe das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit entgegen, das gemäß Art. 6 Abs. 1 GG jedes Glied der Familie und die Familie in ihrer Gesamtheit besitzt. Dieses Recht wäre im Hinblick auf die Eltern unzulässig beschnitten, wenn man sie bezüglich der Maßnahmen überfordere, die sie zum Schutz Dritter zu ergreifen haben. Und für die Kinder und Jugendlichen wäre das Recht aus Art. 6 Abs. 1 GG verletzt, wenn man übersehen würde, dass sie zur gesunden physischen und psychischen Entwicklung eines Mindestmaßes an freier und ungehemmter Bewegungsmöglichkeit bedürfen 183.
179
Bosch, FamRZ 1957, 207 (Anm. zu BGH LM Nr. 5 zu § 832 BGB [= VersR 1957, 340] v. 19.03.1957). Aden (S. 199) äußert sich sehr kritisch zu dieser Urteilsanmerkung, da der Geschädigte in dem Urteil leer ausgegangen ist. 180 Bosch, FamRZ 1964, 85 (Anm. zu BGH FamRZ 1964, 84 v. 19.11.1963). 181 A. Fuchs, S. 269. 182
183
Jayme, S. 42.
Dahlgrün, S. 93 f.
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Bei Jayme heißt es an anderer Stelle weiter: Eine „Veranlassungshaftung" in § 832 BGB zu sehen, scheide aus, da sie Art. 6 Abs. 1 GG widerspräche. Der in dieser Bestimmung enthaltene Verfassungsgrundsatz verhindere aber zugleich eine Auslegung des § 832 BGB, die durch eine Anspannung des Maßes der erforderlichen Aufsicht eine objektive Schadensverteilung zu Lasten der Eltern zur Folge hätte 184 . An diese Ausführung knüpfen Deerberg (1978) und Schoof (1999) an. Da bei § 832 BGB durch die Beweislastumkehr der Aufsichtspflichtige solange latent in Anspruch genommen ist, wie er sich nicht zu entlasten vermag, handelt es sich nach Deerberg um eine partielle Gefährdungshaftung. Diese sei mit Art. 6 Abs. 1 GG kaum in Einklang zu bringen und in verfassungsrechtlicher Hinsicht problematisch 185. Schoof kommt zu der Feststellung, eine haftungsrechtliche Angleichung von § 832 Abs. 1 BGB an eine Gefährdungshaftung verstieße gegen Art. 6 Abs. 1 GG. Die Eltern erführen gerade aufgrund ihrer Stellung als Eltern eine Benachteiligung und Belastung, die keine sachliche Rechtfertigung finde. Das widerspreche dem besonderen Schutz der Familie, den die Eltern nach Art. 6 Abs. 1 GG genießen würden 186 . Haberstroh hält die mit der Verschuldensvermutung verbundene Beweislastumkehr in § 832 Abs. 1 BGB für verfassungsrechtlich bedenklich. Die wertentscheidende Grundsatznorm Art. 6 Abs. 1 GG enthalte einen besonderen Gleichheitssatz, der durch § 832 BGB berührt werde. § 832 BGB belaste die Familie rechtlich mit einem Haftungsrisiko, das in dieser Reichweite den nur für sich selbst verantwortlichen Schädiger nicht treffe. Da Eltern und Kind regelmäßig eine Wirtschaftseinheit darstellten, hafte die Haftungseinheit Familie aus vermutetem Verschulden. Der von einem Kind Geschädigte müsse im Rechtsstreit daher weniger vorbringen und beweisen, als der, der von einem Erwachsenen geschädigt werde 187 . Der besondere Gleichheitssatz des Art. 6 Abs. 1 GG gebietet nach Auffassung von Haberstroh des Weiteren eine teleologische Reduktion des § 832 Abs. 1 S. 1 BGB dahingehend, dass neben die Verwirklichung des Tatbestandes einer objektiven widerrechtlichen Schadenszufügung durch das Kind Umstände treten müssen, die, falls an Stelle des Kindes ein durchschnittlicher Erwachsener gehandelt hätte, den Vorwurf einer Fahrlässigkeit rechtfertigen würden 188 . Belling/Eberl-Borges weisen auf den geänderten verfassungsrechtlichen Kontext von § 832 BGB seit seinem In-Kraft-Treten hin. Das Bestreben des Staates müsse es deshalb aufgrund des besonderen Schutzes von Ehe und Familie in Art. 6 GG sein, zur Elternschaft zu ermutigen. Der Gesetzgeber dürfe da184
Jayme, S. 153. Deerberg, S. 90, 113. m Schoof, S. 118, 125. 187 Haberstroh, VersR 2000, 806 (812, 815). 188 Haberstroh, VersR 2000, 806 (814). 185
§ 1 Die verfassungsrechtliche Entwicklung von Ehe und Familie
245
her die Erziehung von Kindern nicht mit unzumutbaren Haftungsrisiken belasten. Ausschlaggebend bei der Anwendung von § 832 BGB sei, ob der Aufsichtspflichtige seine Aufsichtspflicht erfüllt habe. An diesem Punkt sei die Norm für Wertungen offen, die sich aus Art. 6 GG und dem Familienrecht ergäben189. Hingegen gibt Hartmann - im Rahmen seiner Ausführungen zur Übertragung der Aufsichtspflicht aus § 832 BGB - zu bedenken, dass sich für die Begründung einer Harmonisierung von Familien- und Haftungsrecht zwar Art. 6 GG anführen lasse. Andererseits bleibe das Haftungsrecht eine eigenständige Materie, die primär anhand ihrer eigenen Normzwecke auszugestalten
bb) Eigene Stellungnahme Die in Art. 6 Abs. 1 GG getroffene Wertentscheidung darf bei der Anwendung von § 832 BGB nicht außer Acht gelassen werden. Das ergibt sich aus der folgenden Erwägung: Ein Einfluss der Verfassungsbestimmung auf die elterliche Aufsichtshaftung ist nicht erkennbar; in Hinblick auf § 832 BGB wurde Art. 6 Abs. 1 GG bisher weder durch den Gesetzgeber noch durch die kontinuierliche Rechtsprechung zu der Vorschrift umgesetzt. Im Gegensatz zur Legislative und Judikative bis 1949 sind sie heute aber durch Art. 1 Abs. 3 GG an die durch Art. 6 Abs. 1 GG getroffene Wertentscheidung gebunden, d. h. sie müssen die von der Verfassung getroffene Wertentscheidung umsetzen. Bei aller Unscharfe der Verfassungsnorm ist deshalb auch im Schrifttum ein Einfluss von Art. 6 Abs. 1 GG auf die Zivilrechtsordnung anerkannt. Die verfassungsrechtlichen Institute Ehe und Familie, auf die § 832 BGB Bezug nimmt, haben sich weiterentwickelt. Wie nachgezeichnet, vollzog sich die Entwicklung über mehrere Stationen. In der WRV erfolgte der erstmalige verfassungsrechtliche Schutz von Ehe und Familie, jedoch handelte es sich um bloße Programmsätze. Praktische Konsequenzen blieben aus. Im GG entfaltet der als Grundrecht, Institutsgarantie und verbindliche Wertentscheidung ausgestaltete Art. 6 Abs. 1 GG durch Art. 1 Abs. 3 GG unmittelbare Bindungswirkung für die öffentliche Gewalt. Aus dieser Bindungswirkung folgt auch die Verpflichtung für die Rechtsprechung, den verfassungsrechtlich garantierten Schutz angemessen umzusetzen. Seit dem grundlegenden Beschluss v. 17.01.1957 hat das BVerfG die Schutzwirkungen und Rechtsfolgen des Art. 6 Abs. 1 GG für Ehe und Familie immer weiter ausgeformt und ausdifferenziert. Das Bestreben des Staates, d. h. aller drei Staatsgewalten, muss deshalb dahin-
189 Staudingcr/Belling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 177. Die Autoren vertreten diese Auffassung seit der Übernahme der Bearbeitung 1997 (13. A.). 190 Hartmann, VersR 1998, 22 (26).
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2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
gehen, zur Elternschaft zu ermutigen. Dieser seit dem In-Kraft-Treten des § 832 BGB von Grund auf geänderte verfassungsrechtliche Hintergrund kann bei der Anwendung von § 832 BGB nicht ignoriert werden, weil in nahezu jeder Haftungssituation die in Anspruch genommene Familie den besonderen Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG genießt. Der verfassungsrechtliche Einfluss auf § 832 BGB ist damit nicht mehr von der Hand zu weisen. Ohne der Begründung des eigenen Reformvorschlages vorgreifen zu wollen 191 , sei auf eine Entscheidung des BVerfG v. 14.02.1973 verwiesen. Dort heißt es: „Die Auslegung einer Gesetzesnorm kann nicht immer auf die Dauer bei dem ihr zu ihrer Entstehungszeit beigelegten Sinn stehen bleiben. Es ist zu berücksichtigen, welche vernünftige Funktion sie im Zeitpunkt der Anwendung haben kann. Die Norm steht ständig im Kontext der sozialen Verhältnisse und der gesellschaftspolitischen Anschauungen, auf die sie wirken soll; ihr Inhalt kann und muss sich unter Umständen mit ihnen wandeln. Das gilt besonders, wenn sich zwischen Entstehung und Anwendung eines Gesetzes die Lebensverhältnisse und Rechtsanschauungen so tiefgreifend geändert haben wie in diesem Jahrhundert 192." Von den Ausformungen der verbindlichen Wertentscheidung des Art. 6 Abs. 1 GG durch das BVerfG sind verschiedene Gesichtspunkte für die Arbeit mit § 832 BGB von Bedeutung. Der die öffentliche Gewalt zur Berücksichtigung familiärer Bindungen verpflichtende Schutzauftrag wirkt auf die gesamte die Familie betreffende Rechtsordnung ein. Das muss also auch gelten, wenn die Eltern durch die Haftung aus § 832 BGB zu einem Handeln - der Ausübung der Aufsichtspflicht - verpflichtet werden. Der Einfluss der Wertentscheidung bei der Anwendung und Auslegung des einfachen Rechts beschränkt sich nach der Wortwahl des BVerfG („insbesondere") nicht nur auf die Generalklauseln; er erstreckt sich auch auf die sonstigen auslegungsfähigen und ausfüllungsbedürftigen Rechtsbegriffe 193. Deshalb ist - wie von Belling/EberlBorges 194 aufgezeigt - die Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Grundentscheidung in § 832 BGB bei der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs Aufsichtspflichtverletzung möglich. Dafür spricht auch das an den Staat gerichtete Förderungsgebot. In der Ausgestaltung dieser Förderungsverpflichtung ist die öffentliche Gewalt frei, d. h. sie ist weder an ein bestimmtes Rechtsgebiet noch an konkrete Folgerungen gebunden. Die Realisierung des Förderungsgebotes ist demnach auch durch eine familienfreundlichere Deliktshaftung möglich. Dies würde auch den materiell-wirtschaftlichen Zusammenhalt der Familie stärken, mithin ein weiteres 191 192
(807 f). 193 194
Vgl. 3. Teil § 2 II 4 a, c. BVerfGE 34, 268 (288 f) v. 14.02.1973; zustimmend Zippelius, DÖV 1986, 805 Vgl. 3. Teil § 2 II 1 aaa. Staudinger/Belling/Eberl-Borges,
§ 832 Rn. 177.
§ 1 Die verfassungsrechtliche Entwicklung von Ehe und F a m i l i e 2 4 7
Gebot der positiven Familienförderung verwirklichen. Öffentliche Belange blieben bei dieser Art der Förderung unberührt, ebenso die Leistungsfähigkeit der öffentlichen Hand. Hierbei wird nicht verkannt, dass eine daraus resultierende restriktivere Auslegung des § 832 BGB die Belange und Leistungsfähigkeit der geschädigten Privatpersonen beeinträchtigt. Deren in Artt. 2 Abs. 1, 14 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich verankerten Interessen sind deshalb bei einer restriktiveren Auslegung von § 832 BGB zu beachten. Grenzen für eine solche Auslegung ergeben sich weiterhin aus der Ausformung des Förderungsgebotes durch das BVerfG. Danach widerspricht nicht jede für die betroffene Familie nachteilige Auslegung einer Vorschrift der Wertentscheidung des Art. 6 Abs. 1 GG. Ebenso ist der Staat nicht gehalten, jegliche die Familie treffende Belastung auszugleichen. Auch die vom BVerfG zum Benachteiligungsverbot entwickelten Grundsätze sind für § 832 BGB von Belang. Das Beeinträchtigungsverbot - welches von den Gerichten ebenfalls bei der Anwendung und Auslegung des einfachen Rechts zu beachten ist - erstreckt sich wie das Förderungsgebot auf den materiell-wirtschaftlichen Bereich. Die Elternhaftung in § 832 Abs. 1 BGB entspricht den Regelungen in §§ 831 Abs. 1, 833, 834, 836 Abs. 1, 837 BGB, in denen die Haftung für den Verrichtungsgehilfen, Tiere und Gebäude kodifiziert ist. Damit stehen die Haftung für Kinder und für Gefahren aus materieller Bedürfnisrealisierung auf einer Stufe. Aus dem Beeinträchtigungsverbot folgt jedoch für das BVerfG, dass der Staat die Entscheidung der Eltern zugunsten von Kindern achten muss und Kinder nicht mit der privaten Bedürfnisbefriedung auf eine Stufe stellen darf. Es kommt deshalb ein Verstoß gegen das Beeinträchtigungsverbot in Betracht, weil § 832 Abs. 1 BGB an das Bestehen der Familienbeziehung zwischen Eltern und Kinder und die Wahrnehmung des Elternrechts wirtschaftlich nachteilige Rechtsfolgen knüpft. So ist es für den Geschädigten im Hinblick auf die Darlegungs- und Beweislast in § 832 Abs. 1 BGB günstiger, von einem Kind als von einer unbeschränkt deliktsfähigen Person geschädigt zu werden. Demnach kommt - wie von Haberstroh 195 angenommen - durch § 832 BGB des Weiteren ein Verstoß gegen das Beeinträchtigungsverbot in Form des besonderen Gleichheitssatzes infrage. Zwar werden vom Anwendungsbereich des § 832 BGB alle aus Eltern und Kindern bestehenden Erziehungsgemeinschaften erfasst. Gegenüber Kinderlosen werden die Eltern im Deliktsrecht durch die dreifache Vermutungswirkung in § 832 Abs. 1 BGB aber schlechter gestellt. Grundlage der Haftung in § 832 Abs. 1 BGB ist die Familienbeziehung zwischen Eltern und Kind. § 832 BGB statuiert selbst keine Aufsichtspflicht der Eltern für ihr minderjähriges Kind. Sie ergibt sich aus den im Familienrecht geregelten Sorgerechtsvorschriften. § 832 Abs. 1 BGB erfordert somit die Innehabung der elterlichen Sorge durch die in An195
Haberstroh, VersR 2000, 806 (812).
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2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
spruch genommenen Eltern. Der Rechtsnatur nach ist die elterliche Sorge ein dem Interesse des Kindes dienendes gesetzliches Schutzverhältnis. Sie ist Fürsorge der Eltern für ihr Kind und findet ihre Rechtfertigung in dem Bedürfnis des Kindes nach Schutz und Hilfe 196 . Die Begründung der Aufsichtspflicht knüpft somit an die Beziehung der Eltern zu ihrem Kind an. Dies wird auch daraus deutlich, dass ein Familienmitglied ohne Sorgerecht grundsätzlich nicht der Haftung aus § 832 Abs. 1 BGB unterworfen werden kann 197 . Das Benachteiligungsverbot wird damit tangiert. Des Weiteren gehen auch die Motive des historischen Gesetzgebers für die Ausgestaltung des § 832 Abs. 1 BGB als vermutete Verschuldenshaftung auf die Familienbeziehung zurück. Zu der Beweislastumkehr kam es, weil es der II. Kommission zweckmäßiger erschien, von dem Aufsichtspflichtigen die Erbringung des Entlastungsbeweises zu fordern. Dieser sei leicht im Stande, die Gründe seines Verhaltens darzulegen. Zudem entspreche es dem Wesen der Aufsichtspflicht als gesetzliche Pflicht, dass der Aufsichtspflichtige Rechenschaft über die Erfüllung seiner Pflicht ablege 198 . Das BVerfG lässt aufgrund der besonderen Hervorhebung von Ehe und Familie in Art. 6 Abs. 1 GG nicht jeden einleuchtenden Sachgrund für die Annahme einer Nachteilsbegründung zu. Vielmehr muss der Sachgrund für die Benachteiligung von Ehe und Familie in dem konkreten Sachverhalt der Natur des geregelten Lebensgebietes und den Gerechtigkeitsvorstellungen der Allgemeinheit entsprechen 199. Grund für die Haftung der Eltern aus § 832 Abs. 1 BGB sind ihre gesetzliche Pflicht und die tatsächliche Möglichkeit zur Aufsicht. Die Ausübung der Aufsichtspflicht und das Einstehen für durch Kinder verursachte Schäden gehört zu der von den Gerechtigkeitsvorstellungen der Allgemeinheit akzeptierten Gestalt der Familie. Durch die dreifache Beweislastumkehr in § 832 Abs. 1 BGB, in der sich die Vermutungswirkungen niedergeschlagen haben, geht das Haftungsrisiko aber über dass eines selbst verantwortlich handelnden Schädigers hinaus. An dieser Beweislastumkehr ist aus rechtlichen und praktischen Gründen nicht zu rütteln 200 . Es erscheint aber fraglich, ob das Gesamte aus § 832 Abs. 1 BGB für die Eltern folgende Haftungsrisiko den Gerechtigkeitsvorstellungen der Allgemeinheit entspricht. Denn Teile der neueren Rechtsprechung nehmen in ihren Urteilen eine Risikoverteilung zu Lasten der Eltern vor, die über die Beweislastumkehr in § 832 Abs. 1 BGB 196
Palandt¡Diederichsen, § 1626 Rn. 3; MünchKomm/P. Huber, § 1626 Rn. 6. Diesen Grundsatz schränkt die neuere Rechtsprechung durch Anwendung des § 832 Abs. 2 BGB auf Stiefeltern (OLG Düsseldorf VersR 1992, 310 [311] v. 23.11.1990, vgl. 1. Teil § 1 II 2 b bb (4)) und sorgerechtlose Elternteile (OLG Jena OLGR-NL 2002, 381 [382] v. 29.11.2000, vgl. 1. Teil § 1 II 1 a. E.) ein. 198 Protokolle, S. 2770 = Mugdan II, S. 1090. 199 Struck (AcP 187 [1987], 404 [408]) leitet aus dem besonderen Schutz des Staates ab, dass die nachteilsrechtfertigenden Gründe aus der akzeptierten Gestalt der Ehe und Familie selbst entspringen müssen. 200 Vgl. 3. Teil § 1 III 3 d, e. 197
§ 1 Die verfassungsrechtliche Entwicklung von Ehe und Familie
weit hinaus geht. Danach soll das Risiko, welches von den widerrechtlichen Handlungen spielender Kinder für Dritte ausgeht, nach dem Grundgedanken des § 832 BGB von den Eltern getragen werden 201 . Angesichts des besonderen verfassungsrechtlichen Schutzes ist ein einleuchtender Sachgrund i. S. d. BVerfG zumindest für eine solche Risikozuweisung, die über die gesetzliche Beweislastverteilung hinausgeht, zu verneinen. Die Benachteiligung der Familie erfährt im Sachzusammenhang mit der Haftung aus § 832 BGB auch keine, die Benachteiligung ausgleichende, Kompensation. Staatliche Zuwendungen an die Familie können in diesem Zusammenhang nicht berücksichtigt werden, weil es sich hier nicht um die Gewährung öffentlicher Mittel sondern um eine innerzivilrechtliche Entscheidung handelt. Struck hat in diesem Zusammenhang herausgearbeitet, dass das BVerfG das Benachteiligungsverbot aus Art. 6 Abs. 1 GG dann rigide handhabt, wenn der Gesetzgeber nicht zugleich in seiner Funktion als haushaltsverwaltendes Parlament betroffen ist. In diesen Fällen werde das Benachteiligungsverbot nicht durch den weitreichenden Einsatz des Kompensationsgedankens eingeschränkt 202. Dieser von Struck aufgezeigte Gesichtspunkt spricht ebenfalls für eine stärkere Berücksichtigung des Benachteiligungsverbotes bei der Anwendung von § 832 BGB.
V. Art. 6 Abs. 2 GG Das Elternrecht in Art. 6 Abs. 2 GG konkretisiert den Schutz der Familie aus Art. 6 Abs. 1 GG, es ist gegenüber dem Schutzbereich der Familie zu einem eigenen Schutzbereich verselbstständigt 203. Im bürgerlichen Recht ist das Elternrecht durch §§ 1626 f f BGB konkretisiert und ausgestaltet. Art. 6 Abs. 2 GG geht davon aus, dass Pflege und Erziehung des Kindes am besten in der Familie gewährleistet sind und dass die elterliche Zuwendung grundsätzlich durch keine andere Art der Fürsorge angemessen ersetzt werden kann. Dieses verfassungsrechtliche Leitbild vom vorrangigen Recht der Eltern nimmt somit in Kauf, dass dem Kind im Einzelfall nicht die aus staatlicher und gesamtgesellschaftlicher Sicht beste Pflege und Erziehung zukommen mag 204 . Wie auch Art. 6 Abs. 1 GG enthält Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG eine Institutsgarantie und ist eine wertentscheidende Grundsatznorm und Grundrecht im klassischen Sinne.
201
Vgl. 2. Teil § 4IV 1. Struck AcP 187 (1987), 404 (409). Hingegen relativiert das BVerfG nach Meinung von Struck das Benachteiligungsverbot durch die Zulässigkeit von Pauschalierungen und den weitreichenden Einsatz des Kompensationsgedankens dort, wo es um die politische Entscheidung des Gesetzgebers zur Verteilung von Staatshaushaltsanteilen geht. 203 Pieroth/Schlink, Rn. 645; Rohr, Rn. 369. 204 v. Mangoldt/Klein/Robbers, Art. 6 Abs. 2 Rn. 148. 202
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2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
Die Institutsgarantie stellt die Kindererziehung in der Familie als wesentliches Element des Elternrechts unter verfassungsrechtlichen Schutz. Diesen Ordnungsauftrag hat der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Elternrechts zu beachten 205 . Als wertentscheidende Grundsatznorm erzeugt Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG - über die notwendige Ausgestaltung durch den Gesetzgeber und das Wächteramt in Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG hinaus - Schutzverpflichtungen des Staates206. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG gewährt den Eltern weiterhin als klassisches Grundrecht ein Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe und lässt Maßnahmen des Staates, welche die Pflege und Erziehung der Kinder betreffen, nur im Rahmen seines ihm nach Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG zukommenden Wächteramtes zu 2 0 7 . Im Gegensatz zu Art. 6 Abs. 1 GG erfolgt im Schrifttum aber keine so trennscharfe Abgrenzung dieser drei Dimensionen des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG. Das Grundrecht steht als Individualrecht jedem Elternteil einzeln zu, wenn auch mit Gemeinschaftsbindung bei der Ausübung 208 . Träger des Grundrechts sind nach dem von der Verfassungsbestimmung vorausgesetzten Regelfall die Eltern ehelich geborener Kinder 209 . Aber auch Mutter 210 und Vater 211 des nichtehelichen Kindes werden vom Schutzbereich erfasst. Im Gegensatz zu Art. 6 Abs. 1 GG ist der Vater eines nichtehelichen Kindes nach einem neueren Beschluss des BVerfG 2 1 2 generell Träger des Elternrechts, unabhängig von einem Zusammenleben mit seinem Kind. Diese Zuordnung erfährt aber in derselben Entscheidung eine Einschränkung. Die Ausübung des Rechts auf Pflege und Erziehung des Kindes setzt ein Mindestmaß an Übereinstimmung der Eltern und eine soziale Beziehung jedes Elternteils zu dem Kind voraus. Fehlt es im konkreten Fall daran, können die einzelnen elterlichen Befugnisse weitgehend einem Elternteil zugewiesen werden. Durch Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG sind das elterliche Sorgerecht ebenso wie das Umgangsrecht des nichtsorgeberechtigten
205 Art. 6 BVerfGE 84, 168 (180) v. 07.05.1991; v. Umchl^yimglCoester-Waltjen, Rn. 58 f; Sachs/Schmitt-Kammler, Art. 6 Rn. 50; Drcizr/Gröschner, Art. 6 Rn. 79; Rohr, Rn. 373. 206 BVerfGE 4, 52 (57) v. 20.10.1954; v. Münch/KunigICoester-Waltjen, Art. 6 Rn. 60; Sachs/Schmitt-Kammler, Art. 6 Rn. 50; v. Mangoldt/Klein/Robbers, Art. 6 Abs. 2 Rn. 140; Rohr, Rn. 374. 207 BVerfGE 56, 363 (382) v. 24.03.1981; 61, 358 (371 f) v. 03.11.1982; HVerfRJEv. M. Münch, § 9 Rn. 16; v. Mangoldt/Klein/Robbers, Art. 6 Abs. 2 Rn. 140; Pieroth/Schlink, Rn. 634; Rohr, Rn. 371. 208 BVerfGE 47, 46 (76) v. 21.12.1977; 99, 145 (164) v. 10.11.1998; MünchKomm/Koch, Einl FamR Rn. 209; Sachs!Schmitt-Kammler, Art. 6 Rn. 48. 209 BVerfGE 31, 194 (205) v. 15.06.1971; 56, 363 (382) v. 24.03.1981; 61, 358 (372) v. 03.11.1982; 84, 168 (179) v. 07.05.1991. 2.0 BVerfGE 24, 119 (135) v. 29.07.1968. 2.1 BVerfGE 56, 363 (382) v. 24.03.1981; 79, 203 (211) v. 30.11.1988. 2.2 BVerfGE 92, 158 (177) v. 07.03.1995. Offengelassen noch in BVerfGE 84, 168 (179) v. 07.05.1991.
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Elternteils verfassungsrechtlich geschützt213. Das natürliche Recht zu Pflege und Erziehung der Kinder ist den Eltern nicht vom Staat verliehen, sondern vorgegebenes Recht, welches die staatliche Gemeinschaft in seinem Vorrang anerkennt 214. Der Verfassungsgeber ging davon aus, dass diejenigen, die einem Kinde das Leben geben, von Natur aus bereit und berufen sind, die Verantwortung für seine Pflege und Erziehung zu übernehmen 215. Coester-Waltjen charakterisiert Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG als ein in seinem Kern naturrechtlich unterlegtes positives Verfassungsrecht, welches auf einen natürlichen Sachverhalt Bezug nimmt und für die Geltungsdauer des GG Bestandskraft hat 2 1 6 . Die Auslegung der Begriffe Pflege und Erziehung variiert im Schrifttum. Mehrheitlich werden Pflege und Erziehung als einheitlicher Begriff aufgefasst 217. Abgesehen von verschiedenen Nuancierungen wird überwiegend unter Pflege die Sorge für das körperliche Wohl des Kindes, unter Erziehung die Sorge für die seelische und geistige Entwicklung des Kindes verstanden 218. Das verfassungsrechtlich geschützte Elternrecht und die einfachgesetzlichen Regelungen der elterlichen Sorge decken sich zwar in weiten Teilen, sind jedoch nicht zwingend identisch. Das Elternrecht bleibt auf die grundsätzliche funktionale Zuständigkeit der Eltern zu Pflege und Erziehung beschränkt, darüber hinausgehende Regelungen der §§ 1626 ff BGB sind einfachgesetzliche Ausgestaltungen des Grundrechts. Art. 6 Abs. 2 GG versteinert nicht das gesamte geltende Recht der elterlichen Sorge, sondern lässt dem Gesetzgeber einen Spielraum für die Ausgestaltung desselben219. Zu den Ausprägungen des verfassungsrechtlich festgeschriebenen Elternrechts gehören auch §§ 1626 Abs. 2 und 1631 Abs. 1, 2 BGB 2 2 0 , in denen der Gesetzgeber den Eltern konkrete Erziehungsanleitungen gibt 2 2 1 . Diese Normen bringen die Rahmenvorstellungen des freiheitlichen Staatswesens von den Erziehungszielen und vom Umgang 213
BVerfGE 31, 194 (206) v. 15.06.1971; MünchKomm/tfoc/i, Einl FamR Rn. 209; a. A. GsmXnibsxICoester-Waltjen (§ 5 IV 5), wonach nur die Sorgerechtsinhaber von Art. 6 Abs. 2 GG geschützt werden. 214 BVerfGE 60, 79 (88) v. 17.02.1982. 215 BVerfGE 24, 119 (150) v. 29.07.1968. 216 v. Münch/Kunig/Coester-Waltjen, Art. 6 Rn. 69; Gernhuber!Coester-Waltjen, 6 5 IV 2. 217 v. Münch/Kunig/Coester-Waltjen, Art. 6 Rn. 63; HStR VVZacher, § 134 Rn. 65; BKiJestaedt, Art. 6 Abs. 2 Rn. 102; a. A. Dreier/Gröschner, Art. 6 Rn. 77. 2,8 v. Münch/Kunig/Coester-Waltjen, Art. 6 Rn. 63; Sachs!Schmitt-Kammler, Art. 6 Rn. 52; Jarass/Pieroth, Art. 6 Rn. 32; Pieroth/Schlink Rn. 645; Rohr, Rn. 369. 219 Staudinger/Peschel-Gutzeit, § 1626 Rn. 4; v. Münch/Kunig¡Coester-Waltjen, Art. 6 Rn. 66; MünchKomm/P. Huber, Vor § 1626 Rn. 26; Gernhuber/Coester-Waltjen, § 5 IV 3. 220 Schwab, Rn. 545, 547; Rohr, Rn. 370, 372; v. Mangoldt/Klein/Robbers, Art. 6 Abs. 1 Rn. 144; Jarass/Pieroth, Art. 6 Rn. 36; Pieroth/Schlink, Rn. 648. 221 Frank AcP 200 (2000), 401 (415).
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der Eltern mit dem Kind zum Ausdruck 222 und setzen so die verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 6 Abs. 2 GG um. Schoof bezeichnet deshalb § 1626 Abs. 2 BGB als konkretisiertes Verfassungsrecht 223. Mit der Formulierung „zuvörderst ihnen obliegende Pflicht" legt Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG den Eltern - eine mit dem Elternrecht untrennbar verbundene Pflichtbindung zur Pflege und Erziehung des Kindes auf 224 . Diese Verknüpfung von Rechten und Pflichten unterscheidet das Elternrecht in Art. 6 Abs. 2 GG von allen anderen Grundrechten; hierbei ist die Pflicht nicht lediglich eine das Recht begrenzende Schranke, sondern ein wesensbestimmender Bestandteil dieses Elternrechts, das insoweit treffender als Elternverantwortung bezeichnet werden kann 225 . Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG statuiert damit Grundrecht und Grundpflicht zugleich 226 . Die Eltern können grundsätzlich frei von staatlichen Einflüssen und Eingriffen nach eigenen Vorstellungen darüber entscheiden, wie sie die Pflege und Erziehung ihrer Kinder gestalten und damit ihrer Elternverantwortung gerecht werden wollen. In der Beziehung zum Kind muss aber das Kindeswohl die oberste Richtschnur der elterlichen Pflege und Erziehung sein 227 . Das Kindeswohl ist letztlich bestimmend, ihm ist im Fall der Interessenkollision der Vorrang vor den Elterninteressen einzuräumen 228. Dem entspricht es, dass mit abnehmender Pflege- und Erziehungsbedürftigkeit sowie zunehmender Selbstbestimmungsfähigkeit des Kindes die im Elternrecht wurzelnden Rechtsbefugnisse zugunsten des allgemeinen Persönlichkeitsrechts desselben zurückgedrängt werden, bis sie schließlich mit Volljährigkeit des Kindes erlöschen 229. Regelungen wie § 1626 Abs. 2 BGB, die dieser abgestuften Grundrechtsmündigkeit Rechnung tragen, zeigen lediglich die immanenten Schranken des Elternrechts auf 230 . Dies verdeutlicht, dass der Grundgedanke des Elternrechts nicht die individuelle Freiheit der Eltern, sondern die Erziehung und Entwicklung des Kindes ist. Das Kindeswohl ist die zentrale Leitidee des Art. 6 Abs. 2 GG 2 3 1 . So charakterisiert das BVerfG das Elternrecht als fiduziarisches Recht, als dienendes Grundrecht sowie als eine im echten Sinne an222
Haberstroh, VersR 2000, 806 (810). Schoof, S. 87, 94. 224 Schlüter, Rn. 6. 225 BVerfGE 56, 363 (381 f) v. 24.03.1981. 226 BVerfGE 31, 194 (204 f) v. 15.06.1971; 59, 360 (376) v. 09.02.1982; 61, 358 (372) v. 03.11.1982; 76, 1 (48) v. 12.05.1987. 227 BVerfGE 60, 79 (88) v. 17.02.1982; 61, 358 (372) v. 03.11.1982. 228 BVerfGE 68, 176 (188) v. 17.10.1984; 75, 201 (218) v. 14.04.1987; 79, 203 (210 f) v. 30.11.1988; 99, 145 (156) v. 29.10.1998; MünchKomm/Koch, Einl FamR Rn. 215; Pieroth/Schlink, Rn. 658. 229 BVerfGE 59, 360 (382) v. 09.02.1982; 72, 122 (137) v. 18.06.1986. 230 Rohr, Rn. 372. 231 v. Mangoldt/Klein/Robbers, Art. 6 Abs. 2 Rn. 145. 223
§ 1 Die verfassungsrechtliche Entwicklung von Ehe und Familie
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vertraute treuhänderische Freiheit 232 . Frank kommt aufgrund der starken Betonung der Pflichtkomponente zu dem Schluss, Art. 6 Abs. 2 GG schütze nicht mehr das Elternrecht, sondern - überspitzt formuliert - das Kindeswohl 233 . Diese Verlagerung der Akzente von den Rechten der Eltern auf die Rechte der Kinder ist die Folge der Anerkennung der Persönlichkeit und der Würde des Einzelnen, die gemäß Artt. 1 Abs. 1, 2 GG im Mittelpunkt unserer Rechtsordnung steht 234 . Die aus den vorgenannten Grundrechten folgende Pflichtenbindung der elterlichen Sorge und des verfassungsrechtlich geschützten Elternrechts wird durch § 1626 Abs. 2 BGB verwirklicht 235 . Eine direkte Beziehung zwischen Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG und § 832 BGB hat bisher nur Haberstroh hergestellt. Danach umfasst die Aufsichtspflicht in § 832 BGB neben der direkten Aufsicht auch die Pflicht zu einer zeitlich übergreifenden Beobachtung der Gewohnheiten des Kindes und zu einer gefahrbezogenen Belehrung und Beeinflussung. In diesem Sinne werde das natürliche Recht der Eltern und die ihnen zuvörderst obliegende Pflicht, ihre Kinder zu erziehen (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) - und damit wohl zwangsläufig verbunden, sie erzieherisch zu belehren und zu beeinflussen - zum Anknüpfungspunkt deliktischer Haftung. Mehr theoretischer Natur bleibe hinter der Verknüpfung von Aufsichts- und Belehrungsanforderungen der Grundsatz, dass § 832 BGB nicht ein Erziehungs-, sondern ein Aufsichtsversagen mit Haftungssanktionen bedrohe 236 . Dogmatisch konsequenter ist es jedoch, nur von einem indirekten Einfluss des Art. 6 Abs. 2 GG auf § 832 BGB über die ihn konkretisierenden Normen, nämlich §§ 1626 Abs. 2, 1631 Abs. 1 BGB, zu sprechen 237.
232
BVerfGE 59, 360 (376 f) v. 09.02.1982; 61, 358 (372) v. 03.11.1982; 84, 168 (184) v. 07.05.1991. 233 Frank, AcP 200 (2000), 401 (415). 234 Jayme, S. 135. 235 StaudingerIPeschel-Gutzeit, § 1626 Rn. 110. 236 Haberstroh, VersR 2000, 806 (810). 237 Vgl. 2. Teil § 2 III.
254
2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
§ 2 Die Entwicklung von Ehe und Familie im bürgerlichen Recht Das dem Familienrecht gewidmete 4. Buch des BGB hat sich seit dem InKraft-Treten des BGB wesentlich verändert. Müller-Freienfels bewertete 1979 das mehrfach reformierte Familienrecht mit den Worten, hier „liegt kein Stein des Bauwerks vom Anfang des Jahrhunderts mehr auf dem anderen, wobei die meisten noch dazu durch neue ersetzt sind. Wichtige herausgebrochene Teile wurden sogar bereits mehrfach von Grund auf erneuert 238 ." Horn merkt an, kein Rechtsgebiet spiegele so sehr die Umwälzung der Lebensverhältnisse und Anschauungen im vergangenen 20. Jahrhundert wie das Familienrecht 239 . Nach Friauf hat der Gesetzgeber dabei kaum versucht, die in der Rechtswirklichkeit vorgefundenen familiären Wandlungsprozesse zu kanalisieren oder sie gar umzukehren. Er ist ihnen stattdessen gefolgt und hat teilweise sogar eine Vorreiterrolle eingenommen240. Das gesetzliche Eheleitbild hat sich seit 1900 grundlegend verändert und spiegelt die heute bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse und Anschauungen wider; Haushaltsführung und Kinderbetreuung werden im BGB und seit dem Jahre 2001 auch in der Rechtsprechung als gleichwertig zur Berufstätigkeit angesehen. Die Stellung des Kindes gegenüber seinen Eltern wurde im bürgerlichen Recht stetig aufgewertet. Heute steht das Wohl des Kindes im Mittelpunkt der gemeinschaftlichen elterlichen Sorge; betont wird in erster Linie die Verantwortung der Eltern für ihr Kind. Damit hat das BGB mit der Tradition und dem Leitbild der Erziehung von 1900 gebrochen. Damals war das Sorgerecht als väterlich dominiertes Gewaltverhältnis ausgestaltet, dem das Kind unterworfen war. Dieser Wandel führte zu einer Änderung des Beklagtenbildes in § 832 BGB. Aufgrund der Verzahnung von § 832 Abs. 1 BGB und §§ 1626, 1631 BGB können die Entwicklungen des Familienrechts auch in die Urteile zu § 832 BGB einfließen, was zum Teil auch geschieht. Jedoch fehlt es häufig an einer konsequenten Umsetzung des geänderten Reglungsgehaltes der familienrechtlichten Vorschriften im zu entscheidenden Einzelfall.
238 239 240
Müller-Freienfels, S. 125 (131). Horn, NJW 2000, 40 (42). Friauf, NJW 1986, 2595 (2598).
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im bürgerlichen Recht
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I. Die Entwicklung der Ehe im BGB 7. Das gesetzliche Eheleitbild Das Eheleitbild im bürgerlichen Recht hat sich seit dem In-Kraft-Treten des § 832 BGB grundlegend geändert. Bei In-Kraft-Treten des BGB am 01.01.1900 atmete das gesamte Eherecht in gewissem Sinne - parallel zur Verfassungslage - den Geist einer konstitutionellen männlichen Monarchie über Frau und Kinder 241 . Die Ehe war in § 1356 BGB zunächst als Hausfrauenehe ausgestaltet. §§ 1354, 1356 Abs. 1 BGB lauteten242: § 1354 BGB i. d. F. v. 01.01.1900 Dem Manne steht die Entscheidung in allen das gemeinschaftliche Leben betreffenden Angelegenheiten zu; er bestimmt insbesondere Wohnort und Wohnung. Die Frau ist nicht verpflichtet, der Entscheidung des Mannes Folge zu leisten, wenn sich die Entscheidung als Mißbrauch seines Rechts darstellt. § 1356 BGB i. d. F. v. 01.01.1900 Die Frau ist, unbeschadet der Vorschrift des § 1354, berechtigt und verpflichtet, das gemeinschaftliche Hauswesen zu leiten. Der Inhalt der Haushaltsführung ist bis heute abhängig vom Zuschnitt des Haushaltes. Was unter Hauswesen bzw. Haushalt zu verstehen ist, verdeutlicht ein historischer Rückblick. Gemeint ist der Bereich von Tätigkeiten, der nach der traditionellen Ehestruktur der nicht berufstätigen Hausfrau zugewiesen war und bis heute ist 243 . Zur Leitung des Haushaltes gehören neben rechtsgeschäftlichen auch tatsächliche Handlungen. Hübner/Voppel nennen dabei ausdrücklich die Kinderbetreuung 244. Auch aus den Ausführungen anderer Stimmen im Schrifttum wird deutlich, dass die Haushaltsführung die Kinderversorgung, -erziehung und -betreuung umfasst 245. Am 01.07.1957 trat das GleichberG 246 v. 18.06.1957 in Kraft. Der Gesetzgeber kam damit seinem Verfassungsauftrag aus Art. 117 Abs. 1 GG nach, das dem Grundsatz der Gleichberechtigung von Mann und Frau i. S. v. Art. 3 Abs. 2 GG entgegenstehende Recht der vorgenannten Verfassungsvorschrift anzupassen247. Das GleichberG modifizierte das Leitbild der Hausfrauenehe
241
Müller-Freienfels, S. 125 (132). BGB v. 18.08.1896, RGBl S. 195. 243 Schwab, Rn. 107. 244 Slmámgzvl Hübner/Voppel, § 1356 Rn. 6, 13. 245 MünchKomm/Wache, § 1356 Rn. 6; Erman/Heckelmann, § 1356 Rn. 3; RGRKJ Roth-Stielow, § 1356 Rn. 11; Palandt/Brudermüller, § 1356 Rn. 4; Schwab, Rn. 107. 246 BGBl I S. 609. 247 MünchKomm/tfoc/i, Einl FamR Rn. 82. 242
256
2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
teilweise (sog. modifizierte Hausfrauenehe). Das Direktionsrecht des Ehemannes aus § 1354 BGB wurde abgeschafft, § 1356 Abs. 1 BGB geändert. § 1356 BGB i. d. F. v. 01.07.1957 (1) Die Frau führt den Haushalt in eigener Verantwortung. Sie ist berechtigt, erwerbstätig zu sein, soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist. Zu eigener Erwerbstätigkeit war die Ehefrau demnach nur berechtigt, soweit die Erfüllung der ihr mit der Haushaltsführung obliegenden Kinderbetreuung sichergestellt war. Jedoch stärkte das Gesetz die Rechte der Frau. In §§ 1360, 1606 Abs. 3 S. 2 BGB wurden die Haushaltsführung und Kindererziehung auf der einen, die Erwerbstätigkeit auf der anderen Seite als gleichwertige Beiträge zum Familienunterhalt begriffen 248 . Formal war damit der Gleichberechtigung Genüge getan 249 . In der heutigen Fassung des § 1356 Abs. 1 BGB durch das 1. EheRG 250 , in Kraft seit dem 01.07.1977, ist das Leitbild der Hausfrauenehe aufgegeben und durch den Grundsatz der freistehenden Rollenverteilung ersetzt worden. Nach § 1356 Abs. 2 S. 1 BGB sind beide Ehegatten berechtigt, erwerbstätig zu sein. Der Gesetzgeber verzichtete damit auf die Fixierung eines neuen Eheleitbildes und überlässt die Aufgabenverteilung der einvernehmlichen Regelung durch beide Ehegatten251. Die Bestrebung, den veränderten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umständen gerecht zu werden 252 , begründete der Gesetzgeber wie folgt: Hausfrauenehe und Berufstätigenehe stehen gleichwertig nebeneinander. Sind beide Elternteile berufstätig, müssen sie sich die Hausarbeit und Kindererziehung teilen 253 . Durch die Hervorhebung der Haushaltsführung soll die gemeinsame Verantwortung der Ehegatten für die Versorgung des Haushalts, insbesondere auch für die Pflege und Erziehung der Kinder verdeutlicht werden. Die von den Ehegatten für die Haushaltsführung einmal getroffene Regelung ist nicht unabänderlich. So kann die Ehefrau, die im Einvernehmen mit dem Mann zunächst erwerbstätig war, bei der Geburt eines Kindes geltend machen, dass sie sich nunmehr ganz der Haushaltsführung und der Pflege des Kindes widmen wolle, sofern nicht aus ehebedingten Gründen die Fortsetzung der Erwerbstätigkeit notwendig ist. Die Pflicht zur Rücksichtnahme in § 1356 Abs. 2 S. 2 BGB trifft Mann und Frau in gleicher Weise. Jedoch hat die Ehefrau nach dem Willen des Gesetzgebers in verstärktem Maße auf die Belange
248
Schwab, FS 40 Jahre Familienpolitik, S. 63 (66). Frank, AcP 200 (2000), 401 (402). 250 BGBl IS. 1421. 251 BT-Drucks. 7/650, S. 97; MünchKomm/JFacte, § 1356 Rn. 3; Palandt/Brudermüller, § 1356 Rn. 1. 252 Erman/Heckelmann, § 1356 Rn. 2. 253 BT-Drucks. 7/650, S. 75. 249
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der Familie Rücksicht zu nehmen, wenn Kinder zu erziehen und zu pflegen sind 254 . Das Leitbild der Hausfrauenehe hat durch seine Aufgabe in § 1356 BGB aber nicht an Wertigkeit eingebüßt. Der Gesetzgeber wertet die Rolle desjenigen Ehegatten, der die Haushaltsführung übernimmt, als bedeutsam und unterstreicht diese Bedeutung in § 1356 Abs. 1 S. 2 BGB. Dort wird dem jeweiligen Ehegatten, wie bis zum 1. EheRG der Hausfrau, die Haushaltsführung zu „eigener Verantwortung" übertragen 255. Gemäß § 1356 Abs. 2 S. 2 BGB haben die Ehegatten bei der Wahl und Ausübung einer Erwerbstätigkeit auf die Belange der Familie Rücksicht zu nehmen. Die Entscheidung muss überwiegend zu einem familien- und ehefreundlichen Ergebnis führen. Leben Kinder im Haushalt, dürfen ihre Belange nicht durch eine berufliche Tätigkeit beider Elternteile vernachlässigt werden. Solange Kleinkinder zu betreuen sind, wird vom haushaltsführenden Ehegatten deshalb eine verstärkte Rücksichtnahme erwartet 256 . Kinder haben den mit Vorrang zu verwirklichenden Anspruch auf volle elterliche Zuwendung ohne Rücksicht auf die Art und Weise, wie die Eltern die Zuwendung unter sich aufteilen 257 . § 1356 Abs. 1 S. 2 BGB verdeutlicht, dass die Haushaltsführung und Kinderbetreuung für das gemeinsame Leben der Ehepartner keinen geringeren Wert haben als die Einkünfte, die dem Haushalt durch die Erwerbstätigkeit zur Verfügung stehen. Kein Beitrag eines Ehegatten darf höher oder niedriger bewertet werden als der des anderen. Dem tragen auch die Regelungen in §§ 1360 S. 2, 1606 Abs. 3 S. 2 BGB Rechnung, in denen die Gleichwertigkeit von Bar- und Betreuungsunterhalt der Eltern gegenüber ihren Kindern normiert wird.
2. Das Urteil des BGH v. 13.06.2001 Dieser gesetzlichen vermögensrechtlichen Gleichstellung von Hausarbeit inklusive Kinderbetreuung und Erwerbstätigkeit wurde die Rechtsprechung bei der Berechnung des nachehelichen Unterhalts lange nicht gerecht. Grundsätzlich steht jedem Ehegatten rund die Hälfte des die ehelichen Lebensverhältnisse prägenden Einkommens als nachehelicher Unterhalt zu. Bei der in der Rechtsprechung angewandten Anrechnungsmethode 258 wurde bei einer Alleinverdienerehe nur das Einkommen des Erwerbstätigen als die ehelichen Lebensver-
254
BT-Drucks. 7/650, S. 97 f. Erman!Heckelmann, § 1356 Rn. 7. 256 MünchKomm/Htote, § 1356 Rn. 14. 237 RGRK/Roth-Stielow, § 1356 Rn. 11. 258 BGHNJW 1981, 1609 (1611) v. 08.04.1981; 1982, 1873 (1875) v. 04.11.1981; 1983, 1483 (1484) v. 24.12.1982; seitdem stdg. Rspr. 255
258
2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
hältnisse (§ 1578 BGB) prägend angesehen. Erzielte der unterhaltsberechtigte Ehegatte, der während der Ehe „nur" den Haushalt geführt hatte, nach der Scheidung durch Aufnahme einer Erwerbstätigkeit (wieder) ein Einkommen, wurde dieses als nicht prägendes Einkommen angesehen und bei der Errechnung des ehelichen Familieneinkommens nicht berücksichtigt. Als Folge musste sich der unterhaltsberechtigte Ehegatte sein nunmehr erzieltes Einkommen bedarfsmindernd auf den nachehelichen Unterhaltsanspruch anrechnen lassen. Der Wert der Leistung des haushaltsfiihrenden Ehegatten, der sich u. a. in der Betreuung und Erziehung der gemeinsamen Kinder niederschlug, blieb somit bei der Unterhaltsberechnung unberücksichtigt. Diese Rechtspraxis ignorierte die gesetzlich vorgesehene Gleichwertigkeit von Kindesbetreuung und/oder Haushaltsführung einerseits und Erwerbstätigkeit andererseits. Mit Urteil v. 13.06.2001 wandte sich der für das Familienrecht zuständige XII. Zivilsenat des BGH in den Fällen von der Anrechnungsmethode ab, in denen sich die mit bzw. nach der Scheidung aufgenommene Erwerbstätigkeit als Surrogat für die vorherige Haushalts- und Betreuungstätigkeit einordnen lässt. Stattdessen nahm er die Berechnung des nachehelichen Unterhalts nach der Differenzmethode vor. Um den lebensstandarderhöhenden Wert der Haushaltsführung und Kinderbetreuung angemessen zu berücksichtigen, hat der BGH nunmehr bei der Unterhaltsbemessung der geschiedenen Ehefrau bei den ehelichen Lebensverhältnissen nicht nur das bereinigte Erwerbseinkommen des allein berufstätigen Ehemannes zugrunde gelegt, sondern auch das nach der Scheidung ersatzweise erzielte bzw. erzielbare Erwerbseinkommen der Ehefrau 259 . Ausgangspunkt der Erwägungen des BGH ist dabei die Wertentscheidung des Gesetzgebers, mit der er die Haushaltsführung des nicht erwerbstätigen Ehegatten im Grundsatz der Erwerbstätigkeit des anderen Ehegatten gleichstellt. Dieser Wertentscheidung wurde die Anrechnungsmethode nicht gerecht, da sie die anstelle der Haushaltsführung und Kinderbetreuung erzielten Erwerbseinkünfte der bisherigen Hausfrau als nicht prägendes Einkommen ansah. Das Maß der den Unterhalt bestimmenden ehelichen Lebensverhältnisse nach § 1578 BGB wird nicht nur durch die Bareinkünfte des erwerbstätigen Ehegatten, sondern auch durch den wirtschaftlichen Wert der Leistungen des anderen Ehegatten im Haushalt mitgeprägt. Der eheliche Lebensstandard erfährt auf diese Weise eine Verbesserung, weil dieser Ehegatte Dienst- und Fürsorgeleistungen erbringt, die anderenfalls durch Fremdleistungen erkauft werden müssen. Nimmt dieser unterhaltsberechtigte Ehegatte nach der Scheidung eine Erwerbstätigkeit auf, ist diese Tätigkeit als Surrogat für seine bisherige Familienarbeit anzusehen. Es ist deshalb gerechtfertigt, das nunmehr erzielte Einkommen, als die ehelichen Lebensverhältnisse prägend, in die Unterhalts-
259
BGHZ 148, 105 (=NJW 2001,2254) v. 13.06.2001.
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bedarfsmessung einzubeziehen260. Eine abschließende Entscheidung zur Monetarisierung der Haushaltstätigkeit ließ der BGH ausdrücklich offen 261 und bestätigte in weiteren Urteilen seine neue Rechtsprechung 262. Das Schrifttum hat die Aufgabe der Anrechnungsmethode für die Hausfrauenehe durch den BGH begrüßt, aber auch auf verbleibende Anwendungszweifel und Auslegungsprobleme verwiesen 263 . Rauscher hat grundsätzliche Bedenken gegen die Rechtsprechungsänderung erhoben und will die Differenzmethode nur auf die kindesbetreuungsbedingte Erwerbsunterbrechung anwenden264. Einigkeit besteht jedoch insoweit, dass der Familienarbeit in Form der Kinderbetreuung ein wirtschaftlicher Wert zuzurechnen ist. Diederichsen geht noch darüber hinaus und fragt, ob jemand im Ernst behaupten wolle, dass in unserer Wirtschaftsordnung Haushaltsführung und Kindesbetreuung einerseits und Erwerbstätigkeit andererseits wirtschaftlich gleichwertig seien. Ökonomisch betrachtet seien Haushaltsführung und Kindesbetreuung durch die Hausfrau in vielen Fällen um ein Vielfaches mehr wert als der Arbeitslohn des Mannes. Zudem müsse man zum ökonomischen Wert der Haushaltsführung noch anteilig hinzurechnen, was der Gesellschaft durch die Anstrengungen einer gut funktionierenden Familie an sonst fälligen Ersatzkosten für eine gescheiterte Sozialisation der Kinder und Jugendlichen erspart bleibe 265 .
3. Der Beschluss des BVerfG v. 05.02.2002 Mit Beschluss v. 05.02.2002 stellte das BVerfG 266 fest, dass die nacheheliche Unterhaltsrechtsprechung nach der Anrechnungsmethode gegen Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Art. 3 Abs. 2 GG verstößt. Die bisherige Auslegung des Begriffs der ehelichen Lebensverhältnisse wurde der von den vorgenannten Verfassungsvorschriften gebotenen Gleichwertigkeit von geleisteter Familienarbeit und ehelichem Erwerbseinkommen nicht gerecht. Sie führte zur Schlechterstellung des die Familienarbeit übernehmenden Ehegatten gegenüber dem, der kontinuierlich einer Erwerbsarbeit während der Ehe nachging. So kam es im Nachhinein zur Missachtung des Wertes der geleisteten Familienarbeit zu Lasten dessen, der sie in der Ehe erbracht hatte. Ausführlicher als der BGH im vorgenannten Urteil zieht das BVerfG das geänderte Ausbildungs-, Erwerbs260
BGHZ 148, 105 (114 ff) (= NJW 2001,2254 [2256 ff]) v. 13.06.2001. BGHZ 148, 105 (120 f) (=NJW 2001, 2254 [2258]) v. 13.06.2001. 262 BGH FamRZ 2001, 1687 (1690 f) v. 05.09.2001; 2001, 1693 f v. 05.09.2001; 2002, 88 (90 f)v. 31.10.2001. 263 Statt vieler Scholz, FamRZ 2001, 1061; Luthin, FamRZ 2001, 1065. 264 Rauscher, FuR 2002, 337 (341). 265 Diederichsen, FuR 2002, 289 (296). 266 BVerfGE 105, 1 v. 05.02.2002. 261
260
2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
und Familiengründungsverhalten von Frauen zur Begründung heran. Danach ist die in den 50-er und 60-er Jahren dominierende Hausfrauenehe einem nunmehr vorherrschenden Ehebild gewichen, das auf Vereinbarkeit von Beruf und Familie setzt und in dem die Mehrheit der Frauen eine Verbindung von privater Kinderbetreuung und Erwerbstätigkeit anstrebt. Es ist deshalb davon auszugehen, dass der zeitweilige Verzicht eines Ehegatten auf Erwerbstätigkeit, um die Aufgabe der Kindererziehung zu übernehmen, ebenso die ehelichen Verhältnisse prägt wie die vorher ausgeübte Berufstätigkeit und die danach wieder aufgenommene oder angestrebte Erwerbstätigkeit. Dies verkennt die Anrechnungsmethode, bei der allein auf den Zeitpunkt der Scheidung abgestellt wird, vor dem eine Erwerbstätigkeit wieder aufgenommen werden muss, um bei der unterhaltsrechtlichen Bestimmung des die ehelichen Verhältnisse prägenden Gesamteinkommens Berücksichtigung zu finden. Den nunmehr vom BGH gewählten Weg, die neue Berufstätigkeit als Surrogat der bisher geleisteten Haushaltsführung und Kinderbetreuung anzusehen, hält das BVerfG für verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden267. Papier 268 und Hohloch 269 besprechen das Urteil des BVerfG zustimmend. Scholz findet an dem Urteil nur erstaunlich, dass die Unterhaltsbemessung nach der Anrechnungsmethode erst jetzt verfassungsrechtlich beanstandet wird. Schließlich gelte Art. 6 GG seit 1949 in unveränderter Fassung270.
4. Lehren für § 832 BGB Das BGB hat sich bezüglich der Wertigkeit von Haushaltsführung und Kinderbetreuung den gewandelten gesellschaftlichen Verhältnissen angepasst. Aus der BVerfG-Entscheidung wird der verfassungsrechtliche Einfluss der von Art. 6 Abs. 1 GG getroffenen Wertentscheidung bei der Auslegung und Weiterentwicklung der Ehe und Familie betreffenden bürgerlich-rechtlichen Normen deutlich. Dieser Einfluss ist gegenwärtig und kann zur Änderung einer kontinuierlichen Zivilrechtsprechung führen. Die beiden genannten Urteile des BVerfG und des BGH veranschaulichen die Offenheit der Rechtsprechung für gesellschaftliche Veränderungen. Die Bedeutung der Kindererziehung und -betreuung wurde durch die Rechtsprechung entsprechend den geänderten gesellschaftlichen Verhältnissen und Anschauungen aufgewertet, die gesetzlich normierte Gleichwertigkeit der Familienarbeit tatsächlich umgesetzt.
267 268 269 270
BVerfGE 105, 1 (10 ff) v. 05.02.2002. Papier, NJW 2002, 2129 (2133), der dem Senat vorsaß. Hohloch, JuS 2002, 816 f. Scholz, FamRZ 2003, 265 (267).
§ 2 Die Entwicklung von Ehe und Familie im bürgerlichen Recht
261
II. Die Entwicklung des elterlichen Sorgerechts im BGB § 832 BGB selbst statuiert keine Aufsichtspflicht. Vielmehr werden die Personen, denen nach den familienrechtlichen Vorschriften die Sorge über den Minderjährigen zusteht, mit der schadensrechtlichen Verantwortlichkeit belegt. Eine Veränderung der elterlichen Sorge als familienrechtliches Innenverhältnis kann deshalb nicht ohne Wirkung auf das haftungsrechtliche Außenverhältnis in § 832 BGB bleiben. Dies gilt um so mehr, da sich die Regelungen über das Recht der elterlichen Sorge seit dem 01.01.1900 von Grund auf gewandelt haben. Der Schwerpunkt der relativ rasch aufeinander folgenden gesetzgeberischen Reformen lag dabei in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts.
/. Die Rechtslage bis zum 31.03.1953 Das BGB ging bei In-Kraft-Treten am 01.01.1900 grundsätzlich von der elterlichen Gewalt über eheliche Kinder aus. Dabei unterschied das Gesetz zwischen der elterlichen Gewalt des Vaters und der Mutter. Die relevanten Vorschriften lauteten271: 4. Titel: Rechtliche Stellung der ehelichen Kinder II. Elterliche Gewalt § 1626 BGB i. d. F. v. 01.01.1900 Das Kind steht, solange es minderjährig ist, unter elterlicher Gewalt. 1. Elterliche Gewalt des Vaters § 1627 BGB i. d. F. v. 01.01.1900 Der Vater hat kraft der elterlichen Gewalt das Recht und die Pflicht, für die Person und das Vermögen des Kindes zu sorgen. § 1631 BGB i. d. F. v. 01.01.1900 (1) Die Sorge für die Person des Kindes umfaßt das Recht und die Pflicht, das Kind zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen. (2) Der Vater kann kraft des Erziehungsrechts angemessene Zuchtmittel gegen das Kind anwenden. Auf seinen Antrag hat das Vormundschaftsgericht ihn durch Anwendung geeigneter Zuchtmittel zu unterstützen. § 1634 BGB i. d. F. v. 01.01.1900 Neben dem Vater hat während der Dauer der Ehe die Mutter das Recht und die Pflicht, für die Person des Kindes zu sorgen; zur Vertretung des Kindes ist sie nicht berechtigt, unbeschadet der Vorschrift des § 1685 Abs. 1. Bei einer Meinungsverschiedenheit zwischen den Eltern geht die Meinung des Vaters vor.
271
BGB v. 18.08.1896, RGBl S. 195.
262
2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
2. Elterliche Gewalt der Mutter § 1684 BGB i. d. F. v. 01.01.1900 Der Mutter steht die elterliche Gewalt zu: 1. wenn der Vater gestorben oder für todt erklärt ist; 2. wenn der Vater die elterliche Gewalt verwirkt hat und die Ehe aufgelöst ist. Im Falle der Todeserklärung beginnt die elterliche Gewalt der Mutter mit dem Zeitpunkte, der als Zeitpunkt des Todes des Vaters gilt. § 1685 BGB i. d. F. v. 01.01.1900 Ist der Vater an der Ausübung der elterlichen Gewalt thatsächlich verhindert oder ruht seine elterliche Gewalt, so übt während der Dauer der Ehe die Mutter die elterliche Gewalt mit der Ausnahme der Nutznießung aus. 6. Titel: Rechtliche Stellung der unehelichen Kinder § 1707 BGB i. d. F. v. 01.01.1900 Der Mutter steht nicht die elterliche Gewalt über das uneheliche Kind zu. Sie hat das Recht und die Pflicht, für die Person des Kindes zu sorgen; zur Vertretung des Kindes ist sie nicht berechtigt. Der Vormund des Kindes hat, soweit der Mutter die Sorge zusteht, die rechtliche Stellung eines Beistandes. Aus den Normen wird deutlich, dass die elterliche Gewalt in erster Linie dem Vater zustand und durch ihn geprägt wurde. Der Begriff elterliche Gewalt ist insofern irreführend, als er den Eindruck erweckt, die Gewalt über das Kind stehe beiden Elternteilen gemeinsam und gleichmäßig zu. Zur Begründung heißt es im damaligen Schrifttum: Wie unter den Ehegatten selbst nur einer das Haupt sein könne, so sei auch bei der elterlichen Gewalt eine natürliche Unterordnung der Frau unter den Mann verfügt. Auch den Kindern gegenüber könne nur einer der Ehegatten das Familienhaupt sein, und dies sei der Vater 272 . Gemäß § 1631 Abs. 2 S. 1 BGB hatte der Vater das Recht und die Pflicht, die als angemessen angesehenen Zuchtmittel (Züchtigungen, Einsperrung, Einschränkungen) anzuwenden. Die Mutter besaß nur eine Personennebensorge und musste sich nach § 1634 S. 2 BGB den Entscheidungen des Vaters fügen. Sie besaß zwar ebenfalls ein Züchtigungsrecht, durfte es aber nicht gegen den Willen des Vaters ausüben. Ihre elterliche Gewalt konnte erst voll wirksam werden, wenn die des Vaters erlegen war. Trat die Mutter nach § 1685 BGB bei der tatsächlichen Verhinderung des Vater an dessen Stelle, unterlag sie dennoch gewissen Beschränkungen nach §§ 1687 ff BGB 2 7 3 . In den Motiven wurde die elterliche Gewalt als vormundschaftlich ausgestaltet charakterisiert, d. h. es handelte sich um ein dem Interesse des Kindes dienendes Schutzinstitut. Wegen ihrer natürlich-sittlichen Bindung zum Kind wurden die Eltern als Gewaltinhaber aber erheblich freier als ein Vormund gestellt. Die durch das Vor-
272
Crome, Bd. 2, § 606 II. Erman!Michalski, Vor § 1626 Rn. 3; RGRK/Wenz, Vor § 1626 Rn. 4; Soergel/Strätz, Vor § 1626 Rn. 2; Lüderitz, Rn. 796; Derleder, KriÜ 2000, 1 (5). 273
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263
mundschaftsgericht ausgeübte staatliche Aufsicht war daher auch weniger scharf 274. Diese patriarchalische Ausgestaltung der elterlichen Gewalt, in der die väterliche Autorität stark betont wurde, überdauerte die Weimarer Republik und die Zeit des Nationalsozialismus sowie die ersten Jahre des GG bis zum 31.03.1953. Das uneheliche Kind stand bezüglich der Vermögens- und zum Teil bei der Personensorge nicht unter elterlicher Gewalt. Mit dem Vater war es nach § 1589 Abs. 2 BGB nicht verwandt. § 1707 S. 1 BGB schloss die elterliche Gewalt der Mutter aus. Als Rest der elterlichen Gewalt stand ihr lediglich das Recht und die Pflicht zu, die tatsächliche Personensorge unter Beistand des stets zu bestellenden Vormunds auszuüben275.
2. Die Rechtslage vom 01.04.1953 bis zum 30.06.1957 Am 23.05.1949 trat mit dem GG Art. 3 Abs. 2 GG in Kraft, der die Gleichberechtigung von Mann und Frau verfassungsrechtlich bindend normierte. Das GG hatte dem Gesetzgeber in Art. 117 Abs. 1 GG bis zum 31.03.1953 eine Frist gesetzt, das Art. 3 Abs. 2 GG entgegenstehende überkommene Recht anzupassen. Der Gesetzgeber ließ diese Frist verstreichen, so dass das gleichberechtigungswidrige Ehe- und Familienrecht mit Ablauf des 31.03.1953 durch Art. 117 Abs. 1 GG außer Kraft gesetzt wurde 276 . Außer Kraft gesetzt wurden im Bereich der elterlichen Sorge u. a. die Beschränkung der Mutter auf die Nebensorge und ihr Ausschluss von der gesetzlichen Vertretung ihres Kindes 277 . Das BVerfG bestätigte mit Urteil v. 18.12.1953 die Wirksamkeit und die vorgenannte Rechtsfolge des Art. 117 Abs. 1 GG 2 7 8 . Damit galt ab dem 01.04.1953 im Familienrecht unmittelbar die Verfassungsnorm Art. 3 Abs. 2 GG und damit waren Männer und Frauen im Bereich von Ehe und Familie gleichberechtigt. Es oblag der Zivilrechtsprechung, in Form von Richterrecht die so entstandenen Gesetzeslücken im Sinne der Gleichberechtigung auszufüllen. Das bestätigte das BVerfG in der vorgenannten Entscheidung ausdrücklich 279. Während nach Michalski 280 diese rechtsfindende Lückenausfüllung zu Entscheidungen führte, die in bedenklichem Maße auseinander gingen, sind nach der überwie-
274
Mugdan IV, S. 384; Crome, Bd. 2, § 606 I.
275
BT-Drucks. 13/4899, S. 40. Schwab, FS 40 Jahre Familienpolitik, S. 63; MünchKomm/£oc/j, Einl FamR Rn. 82. 277 SoergeVSträtz, Vor § 1626 Rn. 3. 278 BVerfGE 3, 225 (237 ff) v. 18.12.1953. 279 BVerfGE 3, 225 (242 ff) v. 18.12.1953. 276
280
Exmzxd Michalski, Vor § 1626 Rn. 5.
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2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
genden Ansicht des Schrifttums die Gerichte der gestellten Aufgabe gerecht geworden 281. Auch das BVerfG sieht das von der Verfassung und von ihm in die Richter gesetzte Vertrauen gerechtfertigt. Weder sei ein Rechtschaos eingetreten noch hätten die Richter anstelle objektiver Maßstäbe eine subjektive, politisch-weltanschaulich bestimmte Willensrichtung zur Grundlage ihrer Entscheidung gemacht 282 . Der BGH kam bei dieser Rechtsfortbildung zu dem Ergebnis, dass beiden Eltern das Sorgerecht gemeinschaftlich zusteht und grundsätzlich gemeinsam auszuüben ist 283 . In einer späteren BGH-Entscheidung, die nach In-Kraft-Treten des GleichberG erging, heißt es: „Jedenfalls für die Zeit, für die der Gesetzgeber keine gegenteilige Bewertung der verschiedenen Grundsätze (nämlich der Gleichberechtigung und des Schutzes von Ehe und Familie) 284 vorgenommen hat, ist in der Frage des Entscheidungsrechts in den Angelegenheiten des ehelichen Kindes und seiner gesetzlichen Vertretung dem Grundsatz der Gleichberechtigung der Geschlechter in der ihn voll verwirklichenden Weise Geltung zu verschaffen, nämlich dadurch, dass das gemeinsame Entscheidungsrecht der Eltern und die Gesamtvertretung des Kindes durch sie angenommen wird 2 8 5 ."
3. Die Rechtslage vom 01.07.1957 bis zum 31.12.1979 Am 01.07.1957 trat das GleichberG 286 v. 18.06.1957 in Kraft und beseitigte damit die gesetzliche Vakanz im Bereich der elterlichen Gewalt. Die §§ 1626 ff BGB wurden unter dem Gesichtspunkt der Gleichberechtigung von Mann und Frau neugefasst, § 1627 BGB ersetzte § 1634 BGB. Die Vorschriften lauteten nunmehr: II. Elterliche Gewalt § 1626 BGB i. d. F. v. 01.07.1957 (1) Das Kind steht, solange es minderjährig ist, unter der elterlichen Gewalt des Vaters und der Mutter. (2) Der Vater und die Mutter haben, soweit sich aus den folgenden Vorschriften nichts anderes ergibt, kraft der elterlichen Gewalt das Recht und die Pflicht, für die Person und das Vermögen des Kindes zu sorgen; die Sorge für die Person und das Vermögen umfaßt die Vertretung des Kindes.
281 MünchKomm/toc/*, Einl FamR Rn. 82; Schwab, FS 40 Jahre Familienpolitik, S. 63 (64); Derleder, KritJ 2000, 1 (11); BT-Drucks. 8/2788, S. 45 f. 282 BVerfGE 25, 167 (182) v. 29.01.1969. 283 BGHZ 20, 313 (320) v. 02.05.1956. 284 Klammerzusatz durch Verfasser eingefügt. 285 BGHZ 30, 306 (311) v. 13.07.1959. 286 BGBl I S. 609.
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§ 1627 BGB i. d. F. v. 01.07.1957 Die Eltern haben die elterliche Gewalt in eigener Verantwortung und in gegenseitigem Einvernehmen zum Wohle des Kindes auszuüben. Bei Meinungsverschiedenheiten müssen sie versuchen, sich zu einigen. § 1628 BGB i. d. F. v. 01.07.1957 (1) Können sich die Eltern nicht einigen, so entscheidet der Vater; er hat auf die Auffassung der Mutter Rücksicht zu nehmen. § 1629 BGB i. d. F. v. 01.07.1957 (1) Die Vertretung des Kindes steht dem Vater zu; die Mutter vertritt das Kind, soweit sie die elterliche Gewalt allein ausübt oder ihr die Entscheidung nach § 1628 Abs. 2, 3 übertragen ist. § 1631 BGB i. d. F. v. 01.07.1957 (2) Das Vormundschaftsgericht hat die Eltern auf Antrag bei der Erziehung des Kindes durch geeignete Maßnahmen zu unterstützen. Nach Schwab war das GleichberG ein erster, nicht voll gelungener Versuch, Frau und Mann im Familienrecht gleichzustellen287. Das GleichberG beseitigte die Aufteilung in „väterliche Gewalt" und „mütterliche Gewalt". Nach § 1626 Abs. 1 BGB stand die elterliche Gewalt nun grundsätzlich beiden Eltern zu und die elterliche Gewalt der Mutter war damit nicht mehr subsidiär. Gemäß § 1627 S. 2 BGB hatte jeder Elternteil von jetzt an auf die Auffassung des anderen Rücksicht zu nehmen. Das GleichberG übernahm damit im Allgemeinen die Grundsätze der Rechtsprechung seit dem 01.04.1953. Eine Ausnahme bildeten der sog. Stichentscheid des Vaters in § 1628 BGB und seine Alleinvertretung des Kindes nach § 1629 Abs. 1 BGB 2 8 8 . Der Gesetzgeber rechtfertigte die §§ 1628, 1629 BGB als notwendige Einschränkung der gemeinsamen elterlichen Gewalt, um Folgen zu vermeiden, die den Erfordernissen des Familienlebens und der Kindererziehung nicht entsprechen 289. Schwab bezeichnet diese beiden Vorschriften als den Höhepunkt fortgesetzter Diskriminierung der Ehefrau und als Versuch des Gesetzgebers, die patriarchalische Familienstruktur aufrechtzuerhalten. So brachte das GleichberG zwar eine Stärkung der Rechte der Frau, eine wirkliche Gleichberechtigung in der Familie war ihr indes nicht zugedacht290. Wie nicht anders zu erwarten 291 , hatten die §§ 1628 und 1629 Abs. 1 BGB vor dem BVerfG keinen Bestand. Mit Urteil v. 29.07.1959 erklärte das BVerfG beide Normen wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 2, 3 GG für nichtig 292 . In der Begründung der Entscheidung heißt es, das Gleichberechti287
Schwab, Rn. 9. SoQTgd/Strätz, Vor § 1626 Rn. 4. 289 BT-Drucks. 2/224, S. 56 f. 290 Schwab, FS 40 Jahre Familienpolitik, S. 63 (66 f). 291 Horn, NJW 2000, 40 (43); Erman/Michalski, Vor § 1626 Rn. 6; Schwab, FS 40 Jahre Familienpolitik, S. 63 (67). 292 BVerfGE 10, 59 (60) v. 29.07.1959. 288
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gungsgebot des Art. 3 Abs. 2, 3 GG wirke über Art. 6 Abs. 1, 2 GG auch in die Ordnung der elterlichen Gewalt. Zwar erlaube Art. 3 Abs. 2, 3 GG im Bereich des Familienrechts eine vom Differenzierungsverbot abweichende rechtliche Regelung im Hinblick auf biologische oder funktionale Unterschiede der Geschlechter, aber bei der elterlichen Gewalt seien die bestehenden Verschiedenheiten - mag man sie biologisch oder funktional nennen - der Beziehungen von Vater und Mutter zu den Kindern keineswegs so entscheidend verschieden geprägt, dass die vergleichbaren Elemente daneben zurücktreten müssten. Die rechtliche Behandlung der elterlichen Gewalt in den §§ 1628, 1629 BGB sei deshalb uneingeschränkt an Art. 3 Abs. 2, 3 GG zu messen und benachteilige die Frau als Mutter. Sie stärke rechtlich die schon faktisch stärkere Position des Mannes und schwäche die Stellung der Frau gerade im Bereich der Mutterschaft, in welchem ihr Wesen am tiefsten wurzle und sich entfalte. Diese Zurücksetzung der Mutter werde auch nicht durch das neue Leitbild in § 1627 BGB aufgewogen. Das Gebot gleicher Verantwortung für Erziehung und Sorge werde vielmehr entwertet, wenn letztlich der Vater - wie in § 1628 Abs. 1 BGB vorgesehen - bei Meinungsverschiedenheiten entscheide293. So blieb es auch nach dem 30.06.1958 bei der gemeinschaftlichen gleichberechtigten elterlichen Gewalt beider Elternteile; in diesem Punkt galt für zwei Jahrzehnte wiederum Richterrecht anstelle des Gesetzes294. Durch die Aufhebung des § 1631 Abs. 2 S. 1 BGB entfiel die positive gesetzliche Ermächtigung von Zuchtmitteln. Der Gesetzgeber sah aber dadurch den sachlichen Inhalt des aufgehobenen § 1631 Abs. 2 S. 1 BGB nicht berührt 295 . Ebenso gestand das damalige Schrifttum den Eltern das Recht angemessener Züchtigungen zu 2 9 6 . Das Recht der Eltern zur körperlichen Züchtigung galt somit fort und wurde weiterhin anerkannt. Im Vordergrund des GleichberG stand die Gleichstellung der Erziehungsbefugnisse der Eltern und nicht die Verbesserung der Rechtsstellung des Kindes 297 . Durch das FamÄndG 298 v. 11.08.1961, in Kraft getreten am 01.01.1962, wurde in § 1707 BGB ein Abs. 2 eingefügt. Mittels dieser Norm konnte der Mutter des unehelichen Kindes auf ihren Antrag hin durch das Vormundschaftsgericht die elterliche Gewalt übertragen werden, wobei aber auch einzelne oder ein bestimmter Kreis von Angelegenheiten ausgenommen werden konnten 299 . 293 294 295 296 297 298 299
BVerfGE 10, 59 (72 ff) v. 29.07.1959. RGKKJWenz, Vor § 1626 Rn. 6; Schwab, FS 40 Jahre Familienpolitik, S. 63 (67). BT-Drucks. 2/224, S. 60. Donau, MDR 1958, 6 (9); BT-Drucks. 8/2788, S. 35. P Huber/Scherer, FamRZ 2001, 797. BGBl IS. 1221. BT-Drucks. 13/4899, S. 40.
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Das NEhelG 3 0 0 v. 19.08.1969, in Kraft getreten am 01.07.1970, behielt die grundsätzliche Unterscheidung zwischen ehelichen und nichtehelichen 301 Kindern bei. Jedoch wurde die bisherige Amtsvormundschaft beseitigt und der Mutter durch § 1705 BGB von der Geburt an die elterliche Gewalt über das nichteheliche Kind zugewiesen. Der Vater des nichtehelichen Kindes konnte nach der gesetzlichen Regelung weiterhin nicht Träger der elterlichen Gewalt sein. Die Vorschrift lautete nunmehr: 6. Titel: Elterliche Gewalt über nichteheliche Kinder § 1705 BGB i. d. F. v. 01.07.1970 Das nichteheliche Kind steht, solange es minderjährig ist, unter der elterlichen Gewalt der Mutter. Die Vorschriften über die elterliche Gewalt für eheliche Kinder gelten im Verhältnis zwischen dem nichtehelichen Kinde und seiner Mutter entsprechend, soweit sich nicht aus den Vorschriften dieses Titels ein anderes ergibt.
4. Die Rechtslage vom 01.01.1980 bis zum 30.06.1998 Das SorgeRG 302 trat am 01.01.1980 in Kraft und brachte in den geänderten Vorschriften ein neues, grundlegend verändertes Verständnis des elterlichen Sorgerechts zum Ausdruck. § 1626 Abs. 2 BGB erhielt seine bis heute gültige Fassung. Die Vorschriften lauteten nunmehr: 5. Titel: Elterliche Sorge für eheliche Kinder 303 § 1626 BGB i. d. F. v. 01.01.1980 (1) Der Vater und die Mutter haben das Recht und die Pflicht, für das minderjährige Kind zu sorgen (elterliche Sorge). Die elterliche Sorge umfaßt die Sorge für die Person des Kindes (Personensorge) und das Vermögen des Kindes (Vermögenssorge). (2) Bei der Pflege und Erziehung berücksichtigen die Eltern die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbständigem verantwortungsbewußtem Handeln. Sie besprechen mit dem Kind, soweit es nach dessen Entwicklungsstand angezeigt ist, Fragen der elterlichen Sorge und streben Einvernehmen an. § 1631 BGB i. d. F. v. 01.01.1980 (1) Die Personensorge umfaßt insbesondere das Recht und die Pflicht, das Kind zu pflegen, zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen. (2) Entwürdigende Erziehungsmaßnahmen sind unzulässig. 300
BGBl IS. 1243. Das NEhelG ersetzte die Bezeichnung „Unehelichkeit" durch den Begriff „Nichtehelichkeit", weil der ersteren Vorsilbe etwas Abwertendes anhaftete. Die neue Formulierung beschränkte sich auf eine bloße Negation (MünchKomm///z>zz, 3. A., Vor § 1705 Rn. 1 Fn. 2). 302 BGBIIS. 1061. 303 Aus systematischen Gründen hatte das NEhelG den bisherigen 2. Untertitel des 4. Titels zum 5. Titel erhoben und ihm die Überschrift „Elterliche Gewalt über eheliche Kinder gegeben" (Erman/Michalski, Vor 1626 Rn. 8). 301
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§§ 1627, 1705 BGB wurden sprachlich angepasst, der Begriff elterliche Gewalt durch elterliche Sorge ersetzt. Der Ansatz des Gesetzgebers bestand in der Erkenntnis, dass das Kindschaftsrecht des BGB in der Terminologie und in der Ausgestaltung verschiedener Vorschriften nur noch unvollkommen dem damaligen Verständnis über das Verhältnis von Eltern und Kindern sowie ihrer gegenseitigen Rechte und Pflichten entsprach 304. Das Gesetz ist deshalb von einem neuen Verständnis des elterlichen Sorgerechts gekennzeichnet und enthält u.a. in §§ 1626 Abs. 2, 1631 Abs. 2 BGB neue, das Eltern-Kind-Verhältnis grundlegend umgestaltende Leitlinien. Kernanliegen des Gesetzes war es, das Sorgerecht der Eltern als bloßes Mittel zum Zweck des Kindeswohls darzustellen und innerhalb der Erziehungsverhältnisse die Selbstbestimmungsrechte des jungen Menschen zu stärken 305. Dazu wurde der Begriff der „elterlichen Gewalt" durch den der „elterlichen Sorge" in den jeweiligen Vorschriften ausgewechselt, um den Sprachgebrauch des Gesetzes dem allgemeinen Sprachgefühl der Gegenwart anzupassen306. Diederichsen hält es für bemerkenswert, wie stark der Ausdruck der elterlichen Gewalt in der Gesellschaft in Misskredit geraten war. Dabei habe der historische Gesetzgeber im Jahre 1896 den Ausdruck deswegen gewählt, weil der damit die elterliche Verantwortung gegenüber dem Kinde nach der damaligen Auffassung am besten zum Ausdruck zu bringen meinte 307 . Der BGH bezeichnete bereits 1976 den gesetzlichen Begriff „elterliche Gewalt" als eine Reminiszenz an das römische Recht. Den damaligen Rechtszustand gab dieser Ausdruck nach Ansicht des Senats nur in einer wenig passenden Weise wieder, da es sich in Wirklichkeit um ein dem Interesse des Kindes dienendes Schutzverhältnis handelt 308 . Der Gesetzgeber wollte mit dem neuen Begriff der „elterlichen Sorge" zum Ausdruck bringen, dass die Eltern-Kind Beziehung nicht als Herrschaftsrecht über das Kind angesehen werden kann. Zudem sollte durch den Begriffswechsel die Elternverantwortung gegenüber dem Kind und der Pflichtcharakter der elterlichen Rechtsstellung betont werden 309 . Walter bezeichnet diese sprachliche Korrektur des Gesetzgebers als konsequent. Ein neuer Geist verlange eine neue Sprache, weil die Sprache den Geist des Sprechenden spiegele. Für eine geänderte Anschauung brauche man daher einen neuen Ausdruck, der alte Ausdruck beginne dann zu stören 310 .
304
BT-Drucks. 8/2788, S. 1; MünchKomm/P. Huber, Vor § 1626 Rn. 4. Schwab, FS 40 Jahre Familienpolitik, S. 63 (80). 306 BT-Drucks. 8/2788, S. 36. 307 Diederichsen, NJW 1980, 1 (2) unter Verweis auf Motive IV, S. 724; BT-Drucks. 8/2788, S. 36. 308 BGHZ 66, 334 (337) v. 28.05.1976. 309 BT-Drucks. 8/2788, S. 43 f. 3,0 Walter, S. 208. 305
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Ziel des neuen Erziehungsleitbildes in § 1626 Abs. 2 BGB war es, den Eltern die Entwicklung des Kindes zur selbstverantwortlichen Persönlichkeit als wichtigstes Erziehungsziel nahe zu bringen 311 . Bereits 1968 hatte das BVerfG ausgeführt: „Die Anerkennung der Elternverantwortung findet ihre Rechtfertigung darin, daß das Kind des Schutzes und der Hilfe bedarf, um sich zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft zu entwickeln, wie sie dem Menschenbilde des Grundgesetzes entspricht 312 ." Für die Realisierung einer solchen Kindesentwicklung sah der Gesetzgeber ElternKind-Beziehungen, die vorherrschend von Befehl und Gehorsam geprägt sind, als ungeeignet an. Vielmehr müsse das Kind mit zunehmendem Alter und wachsender Einsicht an die altersgemäße Selbstständigkeit herangeführt werden. Deshalb sollte die Neufassung des § 1626 Abs. 2 BGB dazu beitragen, dass die Eltern die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis ihres Kindes zu selbstständigem und verantwortungsbewusstem Handeln anerkennen und bei der Pflege und Erziehung berücksichtigen 313. § 1626 Abs. 2 BGB folgte damit dem bereits zuvor in Rechtsprechung und Schrifttum vertretenem Leitbild von der sich wandelnden Intensität elterlicher Rechte und Pflichten 314 . Dabei kommt in § 1626 Abs. 2 S. 1 BGB zum Ausdruck, dass das Eltern-KindVerhältnis von der Entwicklung des Kindes geprägt ist, während § 1626 Abs. 2 S. 2 BGB die Berücksichtigung des jeweiligen Entwicklungsstandes hervorhebt. Die neugefassten §§ 1628 und 1629 BGB beseitigten die seit dem Stichentscheid-Urteil des BVerfG bestehende Gesetzeslücke und bestätigten die bisherige lückenfüllende Rechtsprechung. In § 1629 Abs. 1 S. 2 BGB wurde die gemeinschaftliche Vertretung des Kindes durch seine Eltern normiert. § 1631 Abs. 1 BGB wurde nur unwesentlich geändert 315. Der Umfang der Personensorge wurde um den Begriff der Pflege erweitert, da diese neben der Erziehung für die Entwicklung des Kindes besonders wichtig ist und auch in Art. 6 Abs. 2 GG neben der Erziehung des Kindes genannt wird. Die Aufnahme des Wortes „insbesondere" verdeutlicht, dass der Umfang der Personensorge nicht abschließend bestimmt werden kann und die Aufzählung deshalb beispielhaft bleibt 316 . In § 1631 Abs. 2 BGB konkretisierte das SorgeRG den Inhalt der elterlichen Sorge, indem entwürdigende Erziehungsmaßnahmen geächtet 311
Dabei wurde § 1626 Abs. 2 BGB teilweise für verfassungswidrig gehalten (Blau, JA 1982, 575 [578 f m. w. N.]). Die Vorschrift ist aber verfassungsgemäß, denn sie statuiert nur ein verfassungsrechtlich unbedenkliches Erziehungsziel. Dabei ist es unerheblich, dass mit dem formalen Erziehungsziel zwangsläufig zugleich ein daran ausgerichteter Erziehungsstil normiert wird (MünchKomm/P. Huber, § 1626 Rn. 63). 312 BVerfGE 24, 119 (144) v. 29.07.1968. 3,3 BT-Drucks. 8/2788, S. 34. 314 BT-Drucks. 8/2788, S. 44; MünchKomm/P. Huber, § 1626 Rn. 4. 3,5 RGKXJWenz, § 1631 Rn. 1; Soergel/Strätz, § 1631 Rn. 1. 316 BT-Drucks. 8/2788, S. 47 f.
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2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
wurden 317 . Der Gesetzgeber wählte damit einen Mittelweg zwischen den Forderungen nach Verbot jeglicher Gewaltanwendung bzw. körperlicher Züchtigung auf der einen und der Ablehnung jedweder gesetzlichen Beschränkung von Erziehungsmaßnahmen auf der anderen Seite 318 . Vom Normcharakter her war §1631 Abs. 2 BGB aber keine sanktionsbewehrte Verbotsnorm. Vielmehr kam der Vorschrift eine Leitbildfunktion zu, deren Aufgabe es war, das Bewusstsein für die Grenze zwischen Erziehungsmaßnahmen und Kindesmisshandlungen in Öffentlichkeit und Rechtsprechung zu schärfen 319. In den obengenannten Zeitraum fallen des Weiteren mehrere Entscheidungen des BVerfG zur elterlichen Sorge über das nichteheliche Kind. Mit Urteil v. 24.03.1981 erklärte das BVerfG § 1705 BGB für verfassungsgemäß. Der Senat hielt die in § 1705 BGB vorgesehene Alleinsorge der Mutter auch für den Fall verfassungskonform, dass die Eltern des nichtehelichen Kindes gemeinsam die mit der Pflege und Erziehung des Kindes verbundenen Aufgaben wahrnähmen und die Mutter die Mitübertragung des Sorgerechts auf den Vater wünsche. Das beim Vater verbleibende rechtliche Defizit rechtfertige sich daraus, dass sich die Eltern gegen eine rechtsverbindliche Ausgestaltung ihrer Beziehung entschieden hätten. Aufgrund der Belastung des nichtehelichen Kindes mit der jederzeit ohne Folgen möglichen einseitigen Beendigung der Elternbeziehung sei es besonders schutzbedürftig. Die allein auf das Kindeswohl abgestellte Entscheidung des Gesetzgebers in § 1705 BGB, das Kind allein einem Elternteil fest zuzuordnen, sei deshalb - auch unter Beachtung des dem Vater aus Art. 6 Abs. 2 GG zustehenden Erziehungsrechts - verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden320. Am 03.11.1982 erklärte das BVerfG § 1671 Abs. 4 S. 1 BGB für verfassungswidrig. Die Regelung in § 1671 Abs. 4 S. 1 BGB, wonach ein gemeinsames Sorgerecht geschiedener Ehegatten für ihre Kinder selbst dann ausgeschlossen war, wenn sie willens und geeignet waren, die Elternverantwortung zum Wohle des Kindes weiterhin zusammen zu tragen, verletzte nach Auffassung des BVerfG das Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG. Der Senat bekräftigte aber, dass diese Entscheidung nicht zu einer abweichenden Beurteilung der elterlichen Sorge für das nichteheliche Kind führe. Grund dafür sei die bewusste Ablehnung der Eltern, mit der Ehe eine feste rechtliche Bindung miteinander einzugehen. Der Gesetzgeber sei deshalb nicht von Verfassungs wegen gehalten, eine Regelung zu schaffen, welche die Möglichkeit eines gemeinsamen Sorgerechts für nichteheliche Eltern eröffne 321 . In einem Senatsbeschluss v. 07.05.1991 erklärte das BVerfG § 1738 Abs. 1 BGB wegen
3.7
Erman/Michalski, Vor § 1626 Rn. 8b; MünchKomm/Koc/i, Einl FamR Rn. 132. Diederichsen, NJW 1980, 1 (3). 3.9 BT-Drucks. 8/2788, S. 35, 48. 320 BVerfGE 56, 363 (380, 384 ff) v. 24.03.1981. 321 BVerfGE 61, 358 (371 ff) v. 03.11.1982. 3.8
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Unvereinbarkeit mit Art. 6 Abs. 2, 5 GG für verfassungswidrig. Nach dieser Norm verlor die Mutter im Fall der Ehelicherklärung des nichtehelichen Kindes das Recht zur Ausübung der elterlichen Sorge. Abweichend von dem obengenannten Urteil v. 24.03.1981 stellte der Senat fest, die in § 1738 Abs. 1 BGB zwingend vorgesehene Rechtsfolge, das nichteheliche Kind auch beim Zusammenleben von Eltern und Kind ausnahmslos nur einem Elternteil zuzuordnen, lasse sich nicht mit der Erwägung rechtfertigen, die nichteheliche Lebensgemeinschaft könne scheitern und das Kind solle nach der Trennung nicht in den Mittelpunkt eines Streits seiner Eltern geraten. Vielmehr habe ein Kind, welches in der nichtehelichen Lebensgemeinschaft seiner Eltern aufwachse, ein erhebliches Interesse daran, dass seine emotionalen Bindungen an seine beiden Elternteile durch eine gemeinsame elterliche Sorge rechtlich abgesichert werden 322 . Im Schrifttum werden diese drei Entscheidungen als Appell des BVerfG an den Gesetzgeber verstanden, die Fälle des harmonischen und verantwortungsbewussten Zusammenlebens der Eltern mit dem Kind zu revidieren 323 .
5. Die Rechtslage ab dem 01.07.1998 Mit dem KindRG 324 v. 16.12.1997, in Kraft getreten am 01.07.1998, reagierte der Gesetzgeber u. a. auf die zuvor genannten Reformvorgaben des BVerfG und schuf ein einheitliches Kindschaftsrecht für eheliche und nichteheliche Kinder. Das KindRG sollte generell die Rechtsstellung des Kindes stärken und die Eltern-Kind-Beziehung unter anderem auch dann durch ein gemeinsames Sorgerecht schützen, wenn die Lebensgemeinschaft der Eltern nicht mehr besteht325. Der 5. Titel des 4. Buches trägt seit dem die Überschrift „Elterliche Sorge", die §§ 1626 Abs. 1, 1631 Abs. 1 BGB erhielten ihre bis heute unveränderten Fassungen. In § 1626 Abs. 1 S. 1 BGB wird nunmehr der Begriff Eltern statt Vater und Mutter gebraucht. Dies soll die Gemeinsamkeit der elterlichen Sorge verdeutlichen. Durch Aufgabe des jahrhundertelang Sinn und Richtigkeit beanspruchenden Differenzierungskriteriums Nichtehelichkeit/Ehelichkeit spielt die Tatsache des Verheiratetseins der Eltern per se keine Rolle mehr für die Regelung der personensorgerechtlichen Position des Kindes 326 . Die §§ 1626, 1626a BGB weisen das elterliche Sorgerecht - unabhängig vom Bestehen einer Ehe - grundsätzlich beiden Eltern gemeinsam zu. Nur wenn die bei Geburt ihres Kindes nicht miteinander verheirateten Eltern keine Sorgeer322 323
Rn. 12. 324 325 326
BVerfGE 84, 168 (174, 179 ff) v. 07.05.1991. MünchKomm///wz, 3. A., Vor § 1705 Rn. 9; MünchKommAP. Huber, Vor § 1626 BGBl I S. 2942. Frank, AcP 200 (2000), 401 (403). MünchKomm/ZCoc/z, Einl FamR Rn. 166.
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2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
klärung abgegeben haben oder einander später nicht heiraten, steht der Mutter nach § 1626a Abs. 2 BGB das Sorgerecht allein zu. Weiterhin wurde in § 1626 Abs. 1 BGB - wie auch in § 1631 Abs. 1 BGB - die Reihenfolge „das Recht und die Pflicht" verändert in „die Pflicht und das Recht". Dies entspricht der Lebenswirklichkeit, in der mit der elterlichen Sorge wesentlich mehr Pflichten als Rechte verbunden sind. Zudem wird damit einer verbreiteten Tendenz entgegengewirkt, den Begriff der elterlichen Sorge auf ein Sorgerecht zu verkürzen 327 . Durch diese Umformulierungen wird der Pflichtcharakter der elterlichen Sorge nochmals betont 328 . Durch eine erneute Änderung des § 1631 Abs. 2 BGB versuchte der Gesetzgeber den Unterschied zwischen erlaubten und verbotenen Erziehungsmaßnahmen noch anschaulicher zu verdeutlichen und den Appell der Norm zu präzisieren 329. Die durch das SorgeRG eingeführte Fassung des § 1631 Abs. 2 BGB war dieser Aufgabe nicht gerecht geworden 330 . Die Norm lautete jetzt: § 1631 BGB i. d. F. v. 01.07.1998 (2) Entwürdigende Erziehungsmaßnahmen, insbesondere körperliche und seelische Mißhandlungen, sind unzulässig. Durch das Abstellen auf den Begriff der körperlichen Misshandlung erteilte der Gesetzgeber der geforderten Aufnahme eines absoluten Gewaltverbotes eine Absage. Zur Begründung wies er auf die Flexibilität des Misshandlungsbegriffs hin, der eine Überprüfung der elterlichen Maßnahmen auf ihre Unangemessenheit voraussetze, wobei Anlass und Motive der Eltern bei der körperlichen Einwirkung berücksichtigt werden können. Aufgrund der Verwendung des Begriffs körperliche Misshandlung i. S. v. § 223 StGB zur Präzisierung des Begriffs entwürdigende Erziehungsmaßnahmen 331 war nicht jede körperliche Züchtigung des Kindes durch die Eltern verboten bzw. als Körperverletzung einzuordnen 332. Jedoch machte der Gesetzgeber mit der Gesetzesänderung deutlich, dass sein Erziehungsleitbild von der gewaltfreien Erziehung geprägt sein sollte und die Reform gleichzeitig als Beitrag zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt gegen Kinder verstanden werden sollte 333 . Ungeachtet dessen hielt sich nach Auffassung von Kellner in der Bevölkerung und zum Teil auch
327 328 329 330 331 332 333
BT-Drucks. 13/4899, S. 93. MünchKomm/P. Huber, § 1626 Rn. 3; Hk/Kemper, Vor 1626-1704 Rn. 2. BT-Drucks. 13/8511, S. 65; P. Huber/Scherer, FamRZ 2001, 797 (798). BT-Drucks. 13/4899, S. 152 f; MünchKomm/P. Huber, § 1631 Rn. 16. BT-Drucks. 13/4899, S. 65. Erman/Michalski, § 1631 Rn. 9. P. Huber/Scherer, FamRZ 2001, 797 (798).
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bei den Juristen die Meinung, körperliche Bestrafungen von Kindern zum Zwecke der Erziehung seien keine Misshandlungen334.
6. Das Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung v. 02.11.2000 Durch das Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung 335 v. 02.11.2000, in Kraft seit dem 08.11.2000, erhielt § 1631 Abs. 2 BGB seine derzeit gültige Fassung336. § 1631 Abs. 2 S. 1 BGB gewährt den Kindern ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind nach § 1631 Abs. 2 S. 2 BGB unzulässig. Indem der Gesetzgeber dem Kind ein Recht auf eine gewaltfreie Erziehung gewährt, will er verdeutlichen, dass die gewaltfreie Erziehung um des einzelnen Kindes wegen festgeschrieben wird. Das Kind soll als Person mit eigener Würde und als Träger von Rechten und Pflichten die Achtung seiner Persönlichkeit auch von den Eltern verlangen können. Zudem befürchtete der Gesetzgeber, ein schlichtes Gebot der gewaltfreien Erziehung könne von den Eltern relativ leicht als zwar staatlich gebotener, aber bei ihrem Kind nicht durchführbarer Erziehungsstil abgetan werden. Ziel des § 1631 Abs. 2 S. 1 BGB ist aber nicht die Strafverfolgung und Kriminalisierung der Eltern. Vielmehr soll er zu einer Bewusstseinsänderung der Eltern führen, weil das Ziel einer gewaltfreien Erziehung nicht erzwungen werden kann. Entscheidend ist die Einsicht der Erziehungsberechtigten, weshalb Hilfen für die Eltern in Krisen- und Konfliktsituationen im Vordergrund stehen. Dieser Appellcharakter der Norm ergibt sich auch aus der Klarstellung des Gesetzgebers, dass der verwendete Begriff der gewaltfreien Erziehung nicht an den strafrechtlichen Gewaltbegriff anknüpft, sondern in § 1631 Abs. 2 S. 2 BGB allgemeinverständlich konkretisiert wird 3 3 7 . Nach § 1631 Abs. 2 S. 2 BGB gelten körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen zumindest nicht als gewaltfrei. P. Huber/Scherer sehen in dieser ausdrücklichen Festlegung des Prinzips der Gewaltfreiheit und durch dessen Ausgestaltung als Recht des Kindes den Versuch des Gesetzgebers, die Zielsetzung der Gewaltfreiheit in der Kindererziehung nun noch deutlicher und eindringlicher ins Bewusstsein der Bevölkerung zu bringen 338 . Diese Ächtung der Gewalt in der Erziehung muss nach Motzer aber erst in das allgemeine Bewusstsein der Bevölkerung Eingang fin334
Kellner, NJW 2001, 796 (797). BGBl I S. 1479. 336 Frank (AcP 200 [2000], 401 [424]) nennt diesen Gesetzesentwurf ein Beispiel dafür, wie prinzipienbehaftet und obendrein überflüssig reformerisches Bemühen sein kann. 337 BT-Drucks. 14/1247, S. 5 ff. 338 P. Huber/Scherer, FamRZ 2001, 797 (798). 335
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2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
den, bevor sie eine Verhaltensänderung auslösen kann 339 . Kellner weist auf den Gesetzeszweck hin, der Argumentation, nicht jede körperliche Bestrafung sei entwürdigend, den Boden zu entziehen. So wolle der Gesetzgeber endgültig klarstellen, dass körperliche Bestrafungen in der Erziehung nicht vom Gesetz gedeckt werden 340 . Körperliche Einwirkungen auf das Kind ohne Strafabsicht zu präventiven Zwecken, wie z. B. das Festhalten eines Kindes an einer roten Ampel, die Wegnahme von Streichhölzern oder anderen Gegenständen, mit denen es sich oder andere schädigen kann, sind hingegen weiter zulässig341.
7. Zusammenfassung der Sorgerechtsentwicklung Burgi sieht in der langen Reihe der familienrechtlichen Reformgesetzte nicht nur das Produkt veränderter gesellschaftlicher Anschauungen und Verhältnisse sondern auch die Reaktion des Gesetzgebers auf verfassungsrechtliche, vielfach durch das BVerfG konkretisierte und formulierte Impulse 342 . Inhalt und Reichweite der elterlichen Sorge haben sich geändert. Nachdem das Sorgerecht ursprünglich ganz im Zeichen der väterlichen Gewalt gestanden hatte und auch noch nach der Gleichstellung der Mutter als Gewaltverhältnis verstanden wurde, dem das Kind unterworfen war, wird heute die Verantwortung der Eltern für ihre Kinder betont und die elterliche Sorge in erster Linie als Pflichtenbeziehung angesehen343. Entscheidend ist dabei, was dem Wohl des Kindes am besten entspricht. So übertrug das OLG Karlsruhe einem Vater gegen dessen ausdrücklichen Willen das Sorgerecht. Zur Begründung führte der Senat aus, § 1626 Abs. 1 S. 1 BGB spreche nicht mehr wie vor dem KindRG von Sorgerecht und Sorgepflicht der Eltern, sondern in umgekehrter Reihenfolge von Sorgepflicht und Sorgerecht 344. Dem heutigen Sorgerecht wohnt ein völlig anderes Menschen- und Erziehungsleitbild inne als 1900. In § 1626 Abs. 2 BGB wird der bisher rein auf Gehorsam ausgerichtete und auf Unterwerfung unter den Willen der Eltern abzielende autoritäre Erziehungsstil gesetzlich untersagt und durch eine partnerschaftliche Erziehung ersetzt 345. Damit wird mit der Tradition und dem Leitbild der Erziehung von 1900 gebrochen. § 1626 Abs. 2 BGB gibt als Grundsatz339
Motzer, FamRZ 2001, 1034 (1039). Kellner, NJW 2001, 796 (797). 341 Schwab, Rn. 548; Kellner, NJW 2001, 796 (797); P. Huber/Scherer, FamRZ 2001, 797 (799). 342 BerlinKomm/ßwrg/, Art. 6 Rn. 14. 343 Hk¡Kemper, Vor 1626-1704 Rn. 2. 344 OLG Karlsruhe FamRZ 1999, 801 (802) v. 27.08.1998. 345 OLG Karlsruhe NJW 1989, 2398 (2399) v. 02.06.1989; MünchKomm/P. Huber, § 1626 Rn. 61. 340
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norm seit dem SorgeRG den Eltern ein Leitbild für die Erziehung vor, welches im Lichte des verfassungsrechtlichen Erziehungsziels des selbstbestimmungsund gemeinschaftsfähigen Staatsbürgers formuliert wurde 346 . Die Kinder bekommen damit durch § 1626 Abs. 2 BGB die Gelegenheit, sich zu mündigen, selbstständigen Bürgern zu entwickeln. Eine solche Entwicklung wird von der Privatrechtsordnung auch vorausgesetzt. Denn mit Beendigung der elterlichen Sorge bei Erreichen der Volljährigkeit wird dem jungen Menschen gleichzeitig die volle Geschäfts- und Deliktsfähigkeit zuerkannt. Bis dahin muss er zu einer selbstständig handlungsfähigen Person erzogen sein 347 . Zudem werden dem Kind auch schon zuvor durch §§ 106, 107, 828 Abs. 3 BGB zivilrechtliche Rechte und Pflichten auferlegt. § 1631 Abs. 2 BGB verdeutlicht den geringeren Einfluss der Eltern auf ihr Kind, die ihnen zur Verfugung stehenden Erziehungsmittel wurden beschnitten. Dies ist zum einen Ausdruck eines im Laufe des letzten Jahrhunderts gewandelten Menschenbildes. Wie bei § 1626 Abs. 2 BGB ist es aber auch zum anderen die Konsequenz der verfassungsrechtlichen Entwicklung seit 1900, denn beide Vorschriften sind Ausgestaltungen des in Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG verfassungsrechtlich festgeschriebenen Elternrechts und entsprechen dem in Artt. 1, 2 GG zum Ausdruck gekommenen Menschenleitbild. Im Schrifttum wird außerdem noch daraufhingewiesen, dass die grundgesetzlich geschützten Werte von Freiheit und Demokratie sich nicht besser und nicht eher als in der familiären Erziehung erlernen und einüben lassen348.
8. Die Auswirkungen der Sorgerechtsentwicklung
auf § 832 BGB
Die Aufsichtspflicht über minderjährige Kinder in § 832 Abs. 1 BGB knüpft an die bereits bestehende, außerdeliktsrechtlich in § 1631 Abs. 1 F 3 BGB ausdrücklich angeordnete Aufsichtspflicht an. Sie ist ein Element der Personensorge in § 1631 Abs. 1 BGB und somit Teil der elterlichen Sorge, § 1626 Abs. 1 BGB. Die nachgezeichnete Sorgerechtsentwicklung hat die gerichtliche Inanspruchnahme der Eltern für Verletzungen der Aufsichtspflicht verschoben. Ursprünglich stand im BGB dem Vater gemäß § 1627 BGB allein kraft elterlicher Gewalt das Recht und die Pflicht zu, für die Person des Kindes zu sorgen. Der Mutter fiel nach § 1634 S. 1 BGB die Personensorge nur neben dem Vater zu. Die Verantwortlichkeit des Vaters stand als Folge dieser hierarchischen Stufung zwischen den Ehegatten im Vordergrund. Auch in den Fragen der Be-
346 347 348
StaudingerIPeschel-Gutzeit, § 1626 Rn. 110. Lüderitz, AcP 178 (1978), 263 (274 f); ders., Rn. 844. G. Müller, DRiZ 1979, 169 (171); RGRKIWenz, § 1626 Rn. 28; Staudinger/Pe-
schel-Gutzeit, § 1626 Rn. 115.
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2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
aufsichtigung des Kindes besaß er gemäß § 1634 S. 2 BGB die Entscheidungsund Weisungsgewalt, weshalb die Rechtsprechung die Haftung der Mutter aus § 832 BGB zunächst als nachrangig ansah349. Das spiegelt sich zum einen im Beklagtenbild wider, wonach fast ausschließlich der Vater allein für die Aufsichtspflichtverletzung in Anspruch genommen wurde 350 . In nur wenigen Urteilen wurden beide Elternteile 351 bzw. nur die Mutter verklagt, überwiegend weil sie verwitwet oder alleinstehend war 352 . Zum anderen wird die nachrangige Haftung der Mutter auch aus den Entscheidungsgründen der Urteile deutlich. So bezeichnete das RG den Vater als „in erster Linie aufsichtspflichtig 353 ". Das OLG Koblenz gelangte 1953 nach der Vernehmung der Mutter als Zeugin zu der Auffassung, sie sei zur Führung der Aufsicht über ihren 5-jährigen Sohn in der Lage und den gestellten Anforderungen gewachsen gewesen354. Ein Jahr später prüfte das LG Lüneburg, ob eine Mutter von acht Kindern zur Ausübung der Aufsicht tatsächlich befähigt sei 355 . Hingegen führte das OLG München 1940 aus, die Mutter habe gemäß § 1634 BGB neben, nicht nach dem Vater die Pflicht, für die Person des Kindes zu sorgen und es dementsprechend zu beauf-
349
Immenga, FamRZ 1969, 313 (315); Dahlgrün, S. 28 f. Nach Ansicht von A. Fuchs (S. 105) weitete die Rechtsprechung bisweilen die Aufsichtspflicht des allein verklagten Mannes unzulässig aus; sie führte im Ergebnis zu einer verschuldensunabhängigen Haftung des Ehemanns für die Verletzung der Aufsichtspflicht der Ehefrau. Dabei verweist A. Fuchs auf die Urteile RG LZ 1919 Nr. 8, S. 695 (696 f) v. 25.11.1918; RG Warn 1910 Nr. 60, S. 60 f v. 09.12.1909. 351 So RGZ 50, 60 v. 30.12.1901; RG JW 1914 Nr. 14, S. 198 v. 08.12.1913; 1926 Nr. 7, S. 1149 v. 01.03.1926; RG Warn 1934 Nr. 155, S. 322 v. 18.06.1934 (Schwester und Schwager des Aufsichtsbedürftigen); OLG Dresden HRR 1940 Nr. 606 v. 28.12.1939; OLG München HRR 1940 Nr. 1021 v. 22.01.1940; OLG München ZBIJugR 1954, 179 v. 18.03.1953 (Mutter und Stiefvater); BGH LM Nr. 3 zu § 832 BGB (= VersR 1954, 118) v. 16.12.1953 (Mutter und Stiefvater); OLG München VersR 1954, 544 v. 24.08.1954; OLG Köln VersR 1955, 347 v. 11.03.1955; 1957, 401 v. 04.12.1956; LG Stuttgart VersR 1957, 711 v. 29.05.1956; BGH VersR 1960, 355 v. 26.01.1960; 1961, 838 v. 27.06.1961. 352 So OLG Zweibrücken SeuffA 57 Nr. 216, S. 404 v. 09.04.1902 (verwitwet); Nachschlagewerk des RG, § 832 Nr. 18 (bis 31.12.1912) v. 17.01.1907 (verwitwet); OLG Colmar Das Recht 1907 Nr. 3650 v. 31.10.1907; RG Das Recht 1908 Nr. 516 v. 16.12.1907; RG Warn 1910 Nr. 33, S. 40 v. 10.11.1910 (geschieden); RG SeuffA 88 Nr. 39, S. 78 v. 19.10.1933 (verwitwet); OGHZ 1, 159 v. 14.10.1948; OLG Freiburg VersR 1957, 87 v. 12.11.1953 (verwitwet); LG Bückeburg DAR 1954, 297 v. 01.04.1954; AG Mellrichstadt VersR 1955, 464 v. 12.07.1954 (unverheiratet); AG Schwäbisch-Hall DAV XXVIII, S. 12 v. 08.02.1955 (verwitwet); OLG Bremen VersR 1958, 64 v. 25.05.1956; BGH VersR 1957, 799 v. 01.10.1957 (geschieden); OLG Düsseldorf NJW 1959, 2120 v. 09.06.1959; BGH VersR 1960, 495 v. 24.11.1959; OLG München VersR 1960, 1055 v. 14.07.1960. 353 RG Warn 1911 Nr. 241, S. 267 (268) v. 16.02.1911; RG JW 1914 Nr. 14, S. 198 v. 08.12.1913. 354 OLG Koblenz VersR 1953, 369 v. 08.07.1953. 355 LG Lüneburg VersR 1954, 533 v. 16.09.1954. 350
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sichtigen 356 . Die Beschränkung der Mutter auf die Nebensorge wurde durch Art. 117 GG ab dem 01.04.1953 außer Kraft gesetzt. Die nun geltende gleichberechtigte Ausübung der elterlichen Gewalt wurde durch das GleichberG kodifiziert und durch das Stichentscheid-Urteil des BVerfG v. 29.07.1959 tatsächlich hergestellt. Dadurch veränderte sich auch das Beklagtenbild; in ca. 60% der Urteile werden seitdem beide Elternteile verklagt, in etwa drei Viertel der verbleibenden Fälle ist die Mutter allein verklagt 357 . Das veränderte Verhältnis der elterlichen Gewalt bzw. Sorge spiegelt sich auch in den Entscheidungsgründen der Urteile wieder. Der BGH formulierte bereits 1961, nach §§ 1626, 1631 BGB sind Vater und Mutter in gleicher Weise zur Beaufsichtigung der minderjährigen Kinder verpflichtet 358 . Und das OLG Hamm bezeichnete 1992 Vater und Mutter als gleichberechtigte Partner bei der Ausübung der Aufsichtspflicht 359 . In der Rechtsprechung wird § 1626 Abs. 2 BGB zunehmend in den abstrakten Ausführungen zur gebotenen Aufsichtspflicht angeführt. An einer konsequenten, durchgehenden Umsetzung in der konkreten Entscheidungsfindung fehlt es bisher aber noch häufig.
I I I . Das Verhältnis zwischen § 832 Abs. 1 BGB und §§ 1626 Abs. 1, 2,1631 Abs. 1, 2 BGB § 1626 Abs. 2 BGB konkretisiert in S. 1 die Personensorge, an die über §1631 Abs. 1 BGB die Aufsichtspflicht in § 832 Abs. 1 BGB anknüpft, und enthält darüber hinaus ein von den Eltern anzustrebendes gesetzliches Erziehungsleitbild. Die Vorschrift kann bei der Bestimmung des für eine Exkulpation gebotenen Aufsichtsmaßes in § 832 Abs. 1 S. 2 BGB über zwei verschiedene Wege berücksichtigt werden. Dadurch wird die Verzahnung zwischen der deliktischen Norm § 832 BGB und der familienrechtlichen Vorschrift § 1626 BGB deutlich, welche es konsequent erscheinen lässt, die Wertungen der familienrechtlichen Vorschrift noch häufiger und stärker gewichtet in die Rechtsprechung zu § 832 BGB einfließen zu lassen. 356
OLG München HRR 1940 Nr. 1021 v. 22.01.1940. In den Urteilen mit Sachverhalten zwischen dem 01.07.1957 und dem 01.01.1980 waren diese verbleibenden Fälle nahezu paritätisch zwischen alleinverklagter Mutter und alleinverklagtem Vater aufgeteilt. Ab 1980 wurde der Vater aber nur noch in wenigen Fällen allein verklagt (so AG Aalen M-s 1987, 226 v. 18.12.1985; AG Starnberg VersR 1988, 637 v. 08.03.1988; OLG Hamm NJW-RR 1996, 153 v. 13.01.1995; AG Ettenheim ZfS 1999, 326 v. 30.04.1999; OLG Jena OLGR-NL 2002, 381 v. 29.11.2000 [Fall des § 832 Abs. 2 BGB]), was zu dem o. g. prozentualen Verhältnis über den gesamten Zeitraum führt. 358 BGH VersR 1962, 157 (158) v. 14.11.1961; seitdem stdg. Rspr. 359 OLG Hamm OLGR 1993, 223 L v. 07.07.1992. 357
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2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
1. Die Einwirkung des § 1626 Abs. 2 S. 1 BGB auf § 832 Abs. 1 S. 2 BGB über § 1631 Abs. 1 F 3 BGB Die Grundsatznorm § 1626 Abs. 2 BGB kann über den Begriff Beaufsichtigung in § 1631 Abs. 1 F 3 BGB in die Bestimmung des Aufsichtsmaßes einfließen. Trotz der vorgenannten Herleitung sind die Schutzrichtungen der beiden Aufsichtspflichten in § 832 Abs. 1 BGB und in § 1631 Abs. 1 F3 BGB nicht identisch. Die Schutzrichtung des § 832 BGB wird ausschließlich als drittschützend angesehen360. Bei § 1631 Abs. 1 F3 BGB gehen hingegen die Ansichten zum Schutzzweck der Norm auseinander. Die Väter des BGB wollten durch die Aufnahme der Aufsichtspflicht in § 1631 BGB hervorheben, dass die Pflicht der Sorge für das minderjährige Kind auch im Interesse Dritter durch Beaufsichtigung zu erfüllen ist 361 . Die Rechtsprechung ist nur in wenigen Urteilen zu § 832 BGB auf die Schutzrichtungen von §§ 1631 und 832 BGB eingegangen. Das RG bezeichnete die in § 1631 Abs. 1 BGB aufgezählten Rechte und Pflichten als erziehliche Befugnisse, die lediglich den Interessen des Kindes dienten 362 . Der BGH bewertete in einem Urteil v. 23.03.1965 hingegen die familienrechtliche und die deliktsrechtliche Aufsichtspflicht als kongruent. In dem der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt hatten die beklagten Eltern ihre Kinder über die Gefahren im Straßenverkehr belehrt. Diese Belehrungen dienten nach Ansicht des Senats sowohl der Sicherheit der Kinder als auch dem Schutz der übrigen Verkehrsteilnehmer 363. An diese Aussage knüpfte das Urteil des OLG Celle v. 12.02.1997 an. Danach verdeutlicht § 832 BGB, dass es sich bei der familienrechtlichen Aufsichts- und Erziehungspflicht gegenüber dem Kind zugleich haftungsrechtlich um eine Pflicht mit Außenwirkung gegenüber Dritten handelt 364 . Auch Teile des Schrifttums sehen neben dem Kindesschutz den Schutz Dritter von der familienrechtlichen Aufsichtspflicht in § 1631 Abs. 1 BGB umfasst 365. Deerberg 366 und Jayme 367 sprechen
360
Vgl. 1. Teil § 1 III 1 a. Mugdan IV, S. 400. 362 RG Warn 1914 Nr. 217, S. 307 (308) v. 15.12.1913. 363 BGH VersR 1965, 606 (607) v. 23.03.1965. Wiederholt (Schoof S. 86 Fn. 386; A. Fuchs, S. 155 Fn. 13; Dahlgrün, S. 54 Fn. 1) wird in diesem Zusammenhang angenommen, der BGH habe in seiner Entscheidung v. 03.12.1957 (VersR 1958, 85) die Rechtsprechung des RG (Warn 1914 Nr. 217, S. 307 [308] v. 15.12.1913) bestätigt. Der BGH führte jedoch unter Verweis auf das RG nur aus, dass die Aufsichtspflicht in § 832 BGB nicht das Kind sondern den Geschädigten schützt. 364 OLG Celle FamRZ 1998, 233 v. 12.02.1997. 365 SXaud'mger/Belling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 11, 80; Erman/Michalski, §1631 Rn. 11 f; Hk¡Kemper, §1631 Rn. 5; Jauernig/ßerger, §§ 1631-1633 Rn. 4; Schoof, S. 87 f; Lüderitz, Rn. 854; Schlüter, Rn. 366. 366 Deerberg, S. 36 ff. 367 Jayme, S. 151 ff. 361
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dabei ausdrücklich von einer inhaltlichen Identität der Aufsichtspflichten in den §§ 832 und 1631 Abs. 1 BGB 3 6 8 . Diese Stimmen erläutern den Inhalt der Aufsichtspflicht in § 1631 Abs. 1 BGB konsequenterweise anhand der Rechtsprechung zu § 832 BGB. Dagegen beschränken einige Autoren den Schutzzweck der Aufsichtspflicht in § 1631 Abs. 1 BGB ausschließlich auf das Kind 3 6 9 . Begründet wird das mit dem Schutzzweck der elterlichen Sorge, wonach die §§ 1626 f f BGB nur den Interessen des Kindes und nicht denjenigen von Dritten dienen 370 . A. Fuchs fuhrt als weitere Argumente die Doppelbedeutung des Wortes Aufsicht und die gesetzliche Systematik mit der Stellung der Normen im Familien- bzw. Deliktsrecht an 371 . Im Rahmen von § 1631 Abs. 1 BGB wird der Dritte nach dieser Ansicht nicht vor Gefährdungen und Schäden geschützt, die von dem Kind ausgehen. Der Drittschutz wird nur durch § 832 BGB gewährleistet. Mitunter wird in Kommentierungen zu § 1631 Abs. 1 BGB diese Aussage abgeschwächt, in denen es heißt, die Aufsichtspflicht dient dem Kind, zugleich aber auch im Rahmen von § 832 BGB dem Schutz Dritter 372 . Inkonsequenterweise erläutert auch diese Ansicht, die nur das Kind geschützt sieht, den Umfang der Aufsichtspflicht in § 1631 Abs. 1 BGB mithilfe der Rechtsprechung zu § 832 BGB 3 7 3 . Dies erfolgt teilweise kommentarlos oder unter dem lapidaren Hinweis, trotz der unterschiedlichen Schutzrichtungen könne 368 Dagegen wendet sich A. Fuchs, S. 155 ff. Die Annahme einer inhaltlichen Identität der Aufsichtspflichten verkenne unter anderem die unterschiedlichen Haftungsmaßstäbe. Die erforderliche Aufsichtspflicht bei § 832 BGB werde nach objektiven Maßstäben bestimmt, während den Eltern bei der Aufsicht im innerfamiliären Bereich gemäß §§ 1664, 277 BGB eine größere Entscheidungsfreiheit zustehe. Weiterhin verstoße die Auffassung, jede Verletzung der familienrechtlichen Aufsichtspflicht führe zu einem Anspruch aus § 832 BGB, gegen den allgemeinen Grundsatz, dass der Schutzzweck der Norm den Umfang der Haftung bestimme. Bei diesem Argument von A. Fuchs handelt es sich jedoch um einen Zirkelschluss. Sieht man wie Jayme und Deerberg den Dritten vom Schutzbereich der familienrechtlichen Aufsichtspflicht erfasst, ist der Schutzzweck der Norm bei Schädigung des Dritten tangiert. 369 Staudinger/Stf/go, § 1631 Rn. 34; A. Fuchs, S. 154; GernhuberICoester-Waltjen, § 57 IV 7; MünchKomm/P. Huber, § 1631 Rn. 6; RGRK¡Wem, § 1631 Rn. 14; Dahl-
grün, S. 54. 370
BGHZ 100, 313 (316) v. 02.04.1987. A. Fuchs, S. 154 f. Dabei geht er von einer einheitlichen Meinung in Rechtsprechung und Schrifttum zum Verhältnis der Aufsichtspflichten in §§ 1631, 832 BGB aus. 371
372
?a\3iidX/Diederichsen,
§ 1631 Rn. 5, 7; Soergel/Strätz,
§ 1631 Rn. 15.
373
MünchKomm/P. Huber, §1631 Rn. 8-13; RGRK/¡Venz, §1631 Rn. 16; Palandt/Diederichsen, § 1631 Rn. 7; SoergelISträtz, § 1631 Rn. 15; Gernhuber/CoesterWaltjen,
§ 62 III 4.
Nach Salgo (in Staudinger, § 1631 Rn. 35, 43-48) kann für die elterliche Aufsichtspflicht nur in Grenzen auf die teilweise überzogene Rechtsprechung nach § 832 BGB zurückgegriffen werden. A. Fuchs (S. 156) kritisiert diese Widersprüchlichkeit der Kommentierungen. Jayme (S. 151 Fn. 93) führt eine solche Vorgehensweise darauf zurück, dass das Verhältnis des § 832 BGB zu § 1631 BGB in seiner Bedeutung verkannt oder übersehen wird.
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2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
auf die Judikatur zu § 832 BGB zurückgegriffen werden. Schon aufgrund dieser Widersprüchlichkeit ist die Ansicht, welche Kind und Dritten durch die Aufsichtspflicht in § 1631 Abs. 1 BGB geschützt sieht, vorzugswürdig. Zudem lässt sich eine eindimensionale familienrechtliche Aufsicht praktisch nicht von der drittschützenden deliktsrechtlichen Aufsicht trennen, da Eltern ihr Kind nicht auf verschiedene Art und Weise beaufsichtigen können 374 . Infolge des Drittschutzes der familienrechtlichen Aufsichtspflicht entfaltet das Leitbild des § 1626 Abs. 2 BGB deshalb seine Wirkung über § 1631 Abs. 1 F 3 BGB auf die ebenfalls drittschützende Aufsichtspflicht in § 832 Abs. 1 BGB. Der Wortlaut des § 1626 Abs. 2 S. 1 BGB beschränkt den Anwendungsbereich zwar nur auf die Pflege und Erziehung des Kindes, er darf jedoch nach P. Huber um den Normzweck willen nicht zu eng ausgelegt werden. Denn bei der Beaufsichtigung handelt es sich nur um die negativ-verbietende Komplementärfunktion zur positiv-anleitenden Erziehung und als solche stellt sie zugleich eine vom Erziehungszweck bestimmte Erziehungsaufgabe dar. Deshalb muss § 1626 Abs. 2 S. 1 BGB auch für die elterliche Aufsicht gelten, deren Abbau mit wachsender Reife des Kindes die notwendige Voraussetzung für dessen Herbeiführung zu selbstständigem verantwortungsbewusstem Handeln ist 375 . Auch nach Ansicht von Peschel-Gutzeit erstreckt sich der Grundsatz des § 1626 Abs. 2 S. 1 BGB auf die gesamte elterliche Sorge, mithin auch auf die Aufsichtspflicht in § 1631 Abs. 1 BGB 3 7 6 . Und das OLG Düsseldorf führt in einem Urteil v. 03.06.1986 aus, die allgemeine Aufsichtspflicht des § 832 Abs. 1 BGB stehe im Dienst der elterlichen Erziehungsaufgabe, das Kind gemäß § 1626 Abs. 2 BGB zu selbstständigem und verantwortungsbewusstem Handeln anzuleiten377. Die Veränderung des Erziehungsleitbildes seit dem Entstehen der Vorschrift kann und muss deshalb bereits über die Normenkette §§ 1626 Abs. 2 S. 1, 1631 Abs. 1 F 3, 832 Abs. 1 S. 1 BGB bei der Bestimmung des gebotenen Aufsichtsmaßes in § 832 Abs. 1 S. 2 BGB berücksichtigt werden.
374 375 376 377
So auch Schoof, S. 87. MünchKomm/P. Huber, § 1626 Rn. 64, § 1631 Rn. 7. StaudingerIPeschel-Gutzeit, § 1626 Rn. 112. OLG Düsseldorf VersR 1988, 56 v. 03.06.1986.
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2. Die Einwirkung des § 1626 Abs. 2 S. 1 BGB auf § 832 Abs. 1 S. 2 BGB über § 1631 Abs. 1 F 2 BGB Der Aufsichtspflichtige hat in § 832 BGB nur für ein Aufsichts-, nicht aber für Erziehungsverschulden einzustehen378. Dabei hat die Aufsichtspflicht in § 832 Abs. 1 BGB lediglich zum Ziel, Dritte vor Schaden zu bewahren, nicht aber dem Kind Erziehung und Fürsorge angedeihen zu lassen379. Jedoch stehen Aufsicht und Erziehung in einer Wechselbeziehung, worauf die Gerichte in ihren Ausführungen wiederholt hinweisen 380 . Deswegen überprüfen die Gerichte im Rahmen der Aufsichtspflicht auch, ob und welche Erziehungsmaßnahmen die Eltern vor dem schädigenden Ereignis vorgenommen haben 381 . Seit der Einführung des gesetzlichen Erziehungsleitbildes in § 1626 Abs. 2 BGB durch das SorgeRG gehen die Gerichte bei der Bestimmung des Aufsichtsmaßes in § 832 BGB häufiger auf den nunmehr normierten, das Aufsichtsmaß mindernden, Erziehungsauftrag der Eltern ein. Das Maß der durch § 832 BGB gebotenen Aufsicht muss danach mit dem in §§ 1626 Abs. 2, 1631 Abs. 1 BGB umschriebenen Erziehungsziel, den Jugendlichen an ein selbstständiges verantwortungsbewusstes Handeln heranzuführen, in Einklang gebracht werden 382 . Dabei ergeben sich für die Eltern aus dem in §§ 1626 Abs. 2, 1631 Abs. 1 BGB umschriebenen Erziehungsziel gewisse Freiräume pädagogisch vertretbarer Maßnahmen 383 . In diesen muss den Kindern die Gelegenheit eingeräumt werden,
378 RGZ 50, 60 (62) v. 30.12.1901; RG Warn 1914 Nr. 217, S. 307 (308) v. 15.12.1913; OLG Koblenz, VersR 1980, 752 (753) v. 06.07.1979. 379 OLG Köln VersR 1975, 162 v. 12.06.1974; OLG Koblenz VersR 1980, 752 (753) v. 06.07.1979; LG Arnsberg FamRZ 1995, 602 v. 05.08.1994. 380 Vgl. 1. Teil §2 II 2. 381 BGH LM Nr. 5 zu § 832 BGB (= VersR 1957, 340 [341]) v. 19.03.1957; LM Nr. 13 zu § 832 BGB (= NJW 1983, 2821) v.17.05.1983; LM Nr. 15 zu § 832 BGB (= NJW 1984, 2574 [2575]) v. 10.07.1984; LM Nr. 18 zu § 832 BGB (= NJW 1990, 2553 [2554]) v. 29.05.1990; OLG Celle NJW-RR 1988, 216 v. 27.05.1987. 382 BGH LM Nr. 12 zu § 832 BGB (= NJW 1980, 1044 [1045]) v. 27.11.1979; OLG Düsseldorf NJW 1986, 2512 (2513) v. 21.05.1986; VersR 1988, 56 v. 03.06.1986; OLG Celle NJW-RR 1987, 1384 (1385) v. 01.07.1987; 1988, 216 v. 27.05.1987; FamRZ 1998, 233 v. 12.02.1997; OLG Hamm FamRZ 1995, 167 v. 07.12.1993; MDR 2000, 1373 (1374) v. 09.06.2000. Ohne Nennung der §§ 1626, 1631 BGB: OLG Düsseldorf NJW-RR 1996, 671 v. 14.12.1995; 1999, 1620 v. 18.12.1997; r+s 1997, 413 v. 19.09.1996; OLG Oldenburg r+s 1987, 224 v. 07.07.1986; OLG Hamm OLGZ 92, 95 (96) v. 02.05.1991; OLG Dresden NJW-RR 1997, 857 (858) v. 04.12.1996 (Verweisung auf § 1 SGB VIII); LG Arnsberg FamRZ 1995, 602 v. 05.08.1994; AG Bersenbrück VersR 1994, 108 v. 03.03.1993; AG Ansbach VersR 1994, 1197 L v. 02.04.1993. 383 BGH LM Nr. 12 zu § 832 BGB (= NJW 1980, 1044 [1045]) v. 27.11.1979; OLG Hamm MDR 2000, 454 (455) v. 16.09.1999. Ohne Nennung der §§ 1626, 1631 BGB: BGH LM Nr. 15 zu § 832 BGB (= NJW 1984, 2574 [2576]) v. 10.07.1984; OLG Hamm NJW-RR 1988, 798 v. 21.09.1987;
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2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
Neuland zu entdecken384 oder sich an eine Gefahrenlage zu gewöhnen385. Hingegen ist ein übermäßiges Fernhalten des Kindes von Gefahren, sog. overprotection, dem von § 1626 Abs. 2 BGB angestrebten Ziel der Selbstständigkeit des Kindes ebenso abträglich wie eine übermäßige Überwachung 386. Wie die Rechtsprechung trennt das Schrifttum bei § 832 BGB zunächst formal zwischen Aufsicht und Erziehung, um dann auf die enge Verknüpfung von Aufsicht und Erziehung hinzuweisen 387 . Salgo hält eine Abgrenzung von (familienrechtlicher) Aufsicht und Erziehung für schwierig, da Maßnahmen der Eltern in Ausübung ihrer Aufsichtspflicht zumeist auch in erzieherischer Absicht erfolgen 388. Nach P. Huber ist die (familienrechtliche) Beaufsichtigung des Kindes zugleich Erziehungsaufgabe und wird bestimmt vom Wohlergehen des Kindes und dem Erziehungsziel des § 1626 Abs. 2 BGB 3 8 9 . Für Belling/EberlBorges stehen Aufsicht und Erziehung in den §§ 1631 Abs. 1, 832 BGB in einer komplexen Beziehung, die durch zwei verschiedene Einwirkungsweisen des Erziehungs- auf den Aufsichtsaspekt gekennzeichnet ist. Das Maß des bisherigen Erziehungserfolges und der zukunftsgerichtete Erziehungsauftrag in § 1626 Abs. 2 BGB bestimmten so Art und Maß der gebotenen Aufsicht in § 832 BGB entscheidend mit 3 9 0 . Weil alle Einzelbereiche der Personensorge bei der Entwicklung des Kindes zu einer eigenständigen Persönlichkeit zusammenwirken, ist nach Ansicht von Schoof eine eindeutige Abgrenzung von Beaufsichtigung und Erziehung kaum möglich. Die in § 1626 Abs. 2 BGB formulierten Anforderungen an die elterliche Erziehung müssten deshalb auch im Be-
OLG Hamburg NJW-RR 1988, 799 v. 08.04.1988; OLGR 1999, 190 (192) v. 26.02.1999; OLG Düsseldorf VersR 1996, 710 (711) v. 12.10.1995; NJW-RR 1996, 671 v. 14.12.1995; r+s 1997, 413 v. 19.09.1996. 384 BGH LM Nr. 15 zu § 832 BGB (= NJW 1984, 2574 [2575]) v. 10.07.1984. 385 BGH LM Nr. 11 zu § 832 BGB (= FamRZ 1976, 330 [331]) v. 06.04.1976. 386 MünchKomm/P. Huber, §1631 Rn. 8; Staudinger/ta/go, §1631 Rn. 43, 48; Gernhuber/Coester-Waltjen, § 62 III 4; Lüderitz, Rn. 854. 387 RGRK/Kreft, § 832 Rn. 11; Soergel/Zeuner, § 832 Rn. 14; MünchKomm/Stew, § 832 Rn. 18; Albilt, S. 63 f, 73; Dahlgrün, S. 55 f; Schlegelmilch, ZAP Fach 2, S. 121 (128), II 1 c; Haberstroh, VersR 2000, 806 (810); Berning/Vortmann, JA 1986, 12(17). A. Fuchs (S. 163, 173) rügt, dass weder Rechtsprechung noch herrschende Lehre diese Unterscheidung bei der praktischen Anwendung beachten und plädiert für eine klare Trennung von Aufsicht und Erziehung. A. A. Pardey (DAR 2001, 1 [3]), der die versäumte Erziehung durch § 832 BGB sanktioniert sieht. Nach Auffassung von Albilt (S. 100) verpflichtet die Aufsicht in § 832 BGB die Eltern ganz allgemein zu einer Erziehung ihres Kindes. Auch Großfeld/Mund (FamRZ 1994, 1504 [1507]) setzen Aufsicht mit Erziehung gleich, verweisen aber hilfsweise auf die zumindest bestehende Wechselbeziehung. 388 Staudinger/Sa/go, § 1631 Rn. 32. 389 MünchKomm/P. Huber, § 1631 Rn. 7. 390 StdxidingQT/Belling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 78-80.
§
Die Entwicklung
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im bürgerlichen Recht
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reich der Aufsichtsführung nach § 832 Abs. 1 BGB Geltung haben 391 . Für Eckert bietet das in §§ 1626 Abs. 2, 1631 Abs. 1 BGB angestrebte Erziehungsziel einen wesentlichen Anhaltspunkt für die an eine ordnungsgemäße Beaufsichtigung zu stellenden Anforderungen 392 . Auch Albilt und A. Fuchs weisen auf die enge Verknüpfung der Elternhaftung aus § 832 BGB mit dem Erziehungsverhältnis hin. Die dem Minderjährigen seit dem SorgeRG gewährten größeren Freiräume zur Entwicklung der eigenen Persönlichkeit müssten daher bei der Interessenabwägung in § 832 BGB beachtet werden 393 . Aufgrund dieser in Rechtsprechung und Literatur nahezu einhellig anerkannten und vorausgesetzten Verzahnung von Aufsicht und Erziehung wirkt das gesetzliche Erziehungsleitbild des § 1626 Abs. 2 BGB auch über § 1631 Abs. 1 F 2 BGB auf die Aufsichtspflicht in § 832 Abs. 1 BGB.
3. Das Verhältnis zwischen § 1631 Abs. 2 BGB und § 832 Abs. 1 BGB Die den Eltern zur Verfügung stehenden Erziehungsmittel wurden durch die aufgezeigten Gesetzesreformen zu §1631 Abs. 2 BGB schrittweise eingeschränkt. Auf das Verhältnis zwischen § 1631 Abs. 2 BGB in seiner heutigen Fassung und § 832 Abs. 1 BGB ist nur Hoyer in seinem Aufsatz zur strafrechtlichen Bedeutung der Vorschrift ausdrücklich eingegangen394. Ausgangspunkt seiner Betrachtungen ist, dass den Eltern seit der Neufassung des § 1631 Abs. 2 BGB durch das Gesetz zur Ächtung der Gewalt bei der Wahl entsprechender Erziehungsmethoden eine Strafbarkeit wegen Körperverletzung, Freiheitsberaubung und Nötigung droht. Grund dafür sei der eigenständige zivilrechtliche Gewaltbegriff in § 1631 Abs. 2 BGB, welcher sehr viel weiter als der strafrechtliche Gewaltbegriff gefasst sei. Damit verstärke sich der staatliche Eingriff in Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG, da vom grundgesetzlich garantierten Elternrecht prinzipiell sowohl die Auswahl der Erziehungsziele als auch der -mittel umfasst werde. Der verfassungsrechtlichen und kriminalpolitischen Bedenklichkeit solcher strafrechtlicher Konsequenzen lasse sich nur durch eine restriktive Auslegung des § 1631 Abs. 2 BGB, d. h. einer Anpassung des zivil- an den strafrechtlichen Unrechtsbegriff, begegnen. Im Rahmen von § 1631 Abs. 2 BGB sei deshalb die Erziehung von der Beaufsichtigung als weiterem Bestandteil der elterlichen Sorge abzugrenzen. Ziele eine elterliche Züchtigung im Rahmen der Aufsichtspflicht von § 832 BGB darauf ab, Rechtsgüter Dritter zu schützen, sei demzufolge § 1631 Abs. 2 BGB nicht einschlägig. Denn eine solche Züchti-
391 392 393 394
Schoof, S. 91 f. Eckert, S. 30. Albilt, S. 251; A. Fuchs, S. 317 f. Hoyer, FamRZ 2001, 521.
284
2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
gung verfolge keinen Erziehungszweck. Zudem werde den Eltern der Schutz von Rechtsgütern Dritter in § 832 BGB nicht unter Anknüpfung an deren Erziehungs-, sondern an deren Aufsichtspflicht abverlangt. Elterliche Züchtigungsmaßnahmen, die das Kind z. B. motivieren sollen, nicht auf der Straße bzw. mit dem Feuer zu spielen, unterliegen demzufolge nach Ansicht von Hoyer nicht dem Anwendungsbereich des § 1631 Abs. 2 BGB 3 9 5 . Weniger deutlich formuliert Schwab. Demnach ist bei der Auslegung von § 1631 Abs. 2 BGB zu beachten, dass sich das Gewaltverbot auf Erziehungsmaßnahmen bezieht, nicht unbedingt also auf Maßnahmen der Pflege und des Schutzes396. Die von Hoyer vertretene strikte Trennung von Aufsicht und Erziehung bei § 832 BGB ist abzulehnen. Die Eltern sind bei der Beaufsichtigung ihres Kindes an die Schranken der Erziehungsbefugnisse und -möglichkeiten gebunden. Wie bereits dargestellt, überschneiden sich die einzelnen Teilbereiche der elterliche Sorge, d. h. Erziehungsmaßnahmen können gleichzeitig der Beaufsichtigung dienen. Eine trennscharfe Abgrenzung zwischen diesen Bestandteilen der elterlichen Sorge ist nicht möglich. Es wäre deshalb systemwidrig, körperliche Züchtigungen als Erziehungsmaßnahmen gesetzlich zu verbieten, um sie dann durch eine restriktive Auslegung des § 1631 Abs. 2 BGB unter dem Deckmantel der Aufsichtsführung im Rahmen der §§ 832 Abs. 1, 1631 Abs. 1 BGB zuzulassen. Zudem ist die Wechselbeziehung von Aufsichtsmaß und Erziehungserfolg im Rahmen von § 832 Abs. 1 BGB in Rechtsprechung und Literatur allgemein anerkannt. Dies lässt Hoyer bei seiner, sich ausschließlich an den Erfordernissen des Strafrechts orientierenden, restriktiven Auslegung des § 1631 Abs. 2 BGB außer Acht. Gegen Hoyers Nivellierung des Gewaltbegriffs in §1631 Abs. 2 S. 1 BGB spricht weiterhin der Wille des Gesetzgebers. Ausweislich der Gesetzgebungsmaterialien knüpft der Begriff der gewaltfreien Erziehung gerade nicht an einen strafrechtlichen Gewaltbegriff an, sondern wird durch § 1631 Abs. 2 S. 2 BGB konkretisiert 397 . § 1631 Abs. 2 BGB ist deshalb über § 1631 Abs. 1 F 2 und 3 BGB bei der Bestimmung des gebotenen Aufsichtsmaßes in § 832 Abs. 1 BGB zu beachten. Diese Feststellung ist aber eher theoretischer Natur. Es ist nur schwer vorstellbar, dass ein Gericht das Maß der gebotenen Aufsicht in einem Grenzbereich von § 1631 Abs. 2 BGB ansiedeln würde.
395 396 397
Hoyer, FamRZ 2001, 521 (522 ff). Schwab, Rn. 548. BT-Drucks. 14/1247, S. 7.
§
Die Entwicklung
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im bürgerlichen Recht
4. Das Verhältnis zwischen Erziehungsauftrag
285
und Aufsichtspflicht
Das Verhältnis zwischen der Aufsichtspflicht des § 832 Abs. 1 BGB und dem Erziehungsauftrag des § 1626 Abs. 2 BGB wird in der Literatur uneinheitlich beurteilt. Eine Ansicht geht von einer Pflichtenkollision der Eltern aus 398 . Die auf das minderjährige Kind bezogene familienrechtliche Erziehungspflicht und die drittgerichtete deliktsrechtliche Aufsichtspflicht stehen sich danach widerstreitend gegenüber. Die Autoren lösen die nach ihrer Ansicht bestehende Kollisionslage zugunsten des Erziehungsauftrages auf, für den sie auch die Termini Erziehungspflicht, -zweck und -recht verwenden. Sie sehen in §§ 1626 Abs. 2, 1631 BGB die Grenze des Maßes an Aufsicht, welches die Gerichte im Rahmen von § 832 Abs. 1 BGB von den Eltern verlangen können. Eine über die Erziehungsanforderungen der §§ 1626 Abs. 2, 1631 Abs. 1 BGB hinausgehende Reglementierung des Kindes in § 832 Abs. 1 BGB ist so ausgeschlossen. Denn gemäß Art. 6 Abs. 2 GG, §§ 1626 Abs. 2, 1631 BGB ist oberstes Gebot der Personensorge die Pflege und Erziehung des Kindes. An diesem erzieherischen Leitbild des Familienrechts muss sich deshalb das Aufsichtsrecht, welches nur Teilrecht der übergeordneten Personensorge ist, orientieren. Schoof begründet den Vorrang des § 1626 Abs. 2 BGB gegenüber § 832 Abs. 1 BGB des Weiteren damit, dass es sich bei der Norm um konkretisiertes Verfassungsrecht handelt. Das Deliktsrecht darf demnach von den Eltern kein Verhalten fordern, das ihnen bei Betrachtung des familienrechtlichen Erziehungszwecks verboten ist 399 . Für eine solche, zugunsten der Erziehungspflicht aufzulösende, Kollisionslage zwischen delikts- und familienrechtlichen Anforderungen findet sich in der Judikatur zu § 832 BGB jedoch kein Anhaltspunkt. Wie bereits dargestellt, stehen nach Auffassung der Rechtsprechung Aufsicht und Erziehung in einer Wechselbeziehung400 und das in § 832 BGB gebotene Aufsichtsmaß muss mit dem in 1626 Abs. 2, 1631 Abs. 1 BGB umschriebenen Erziehungsziel in Einklang gebracht werden 401 . Diese wiederkehrenden Formulierungen legen einen
398
Jayme, S. 154; Deerberg, S. 43 f; Kötz/Wagner, Rn. 315; Großfeld/Mund, 1994, 1504 (1507); A. Fuchs, S. 157 f; Schoof, S. 94 f. 399 Schoof, S. 94. 400 BGH LM Nr. 12 zu § 832 BGB (= NJW 1980, 1044 [1045]) v. 27.11.1979; LM Nr. 15 zu § 832 BGB (= NJW 1984, 2574 [2575]) v. 10.07.1984; LM Nr. 19 zu § 832 BGB (= NJW 1993, 1003) v. 19.01.1993; OLG München FamRZ 1990, 159 v. 21.12.1988; OLG Hamm VersR 1990, 743 (744) v. 27.04.1989; OLG Oldenburg FamRZ 1994, 833 (834) v. 19.10.1993; OLG Celle OLGR 1994, 221 v. 15.06.1994; OLG Düsseldorf NJW-RR 1997, 343 v. 11.10.1996; OLG Jena OLG-NL 1998, 101 v. 21.10.1997. 401 BGH LM Nr. 12 zu § 832 BGB (= NJW 1980, 1044 [1045]) v. 27.11.1979; OLG Celle NJW-RR 1987, 1384 (1385) v. 01.07.1987; 1988, 216 v. 27.05.1987; FamRZ
FamRZ
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2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
gegenseitigen und sich ausgleichenden Einfluss von Aufsichtspflicht und Erziehungsrecht nahe. So leiten Belling/Eberl-Borges aus den Formulierungen der Rechtsprechung her, dass bereits die Rechtsordnung keine Kollisionslage zwischen Erziehungsrecht und Aufsichtspflicht entstehen lässt. Vielmehr ist ein Ausgleich zwischen den beiden Aspekten der elterlichen Sorge herzustellen 402. Dieses vorzugswürdige Verständnis der beiden elterlichen Pflichten findet sich auch bei weiteren Autoren. So spricht Schlegelmilch von der erforderlichen Harmonisierung der Aufsichtspflicht des § 832 BGB mit dem gesetzlich anzustrebenden Erziehungsziel 403. Und nach Haberstroh ergänzen und bedingen die haftungsrechtliche Aufsichts- und die Erziehungspflicht einander 404. In einer Interessenabwägung muss deshalb zwischen Aufsichts- und Erziehungspflicht ein schonender Ausgleich herbeigeführt werden, ohne dass dabei per se einer Pflicht der Vorrang gebührt. Denn die Allgemeinheit besitzt sowohl an der Entwicklung von Kindern zu selbstständigen und verantwortungsbewussten Menschen als auch an einem wirksamen Rechtsgüterschutz gleichermaßen Interesse 405.
5. Zusammenfassung Die familienrechtlichen Vorschriften zur Personensorge müssen bei der Anwendung von § 832 BGB beachtet werden. Dadurch wird auch Art. 6 Abs. 2 GG berücksichtigt, denn die §§ 1626, 1631 BGB konkretisieren diese Verfassungsbestimmung. Die Rechtsprechung zu § 832 BGB trägt dem auch schon Rechnung, indem sie § 1626 Abs. 2 BGB - und zuvor mitunter die in ihm Gesetz gewordenen Gedanken - bei der abstrakten Bestimmung des Aufsichtsmaßes berücksichtigt. Es fehlt jedoch häufig an einer konsequenten Umsetzung bei der Entscheidungsfindung im Einzelfall.
1998, 233 v. 12.02.1997; OLG Hamm FamRZ 1995, 167 v. 07.12.1993; vgl. 1. Teil § 2 II 2; 2. Teil § 2 III 2. 402 StmdXngQv!Belling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 80. 403 Schlegelmilch, ZAP Fach 2, S. 121 (122), II 1 c. 404 Haberstroh, VersR 2000, 806 (811). 405 SXaudinger/Belling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 80.
§ 3 Die Entwicklung der Minderjährigenhaftung im bürgerlichen Recht
287
§ 3 Die Entwicklung der Minderjährigenhaftung im bürgerlichen Recht Zur Begründung einer veränderten Auslegung des § 832 Abs. 1 BGB kann des Weiteren die Reform der Minderjährigenhaftung im BGB herangezogen werden. Die deliktsrechtliche Haftung der Eltern aus § 832 Abs. 1 BGB und die des Minderjährigen aus § 828 BGB weisen eine Schnittmenge auf. Es handelt sich jeweils um die Haftung für denselben Schaden. In finanzieller Hinsicht ist die gesamte Familie betroffen. Dies gilt auch dann, wenn nur die Eltern oder nur der Minderjährige für den Schaden haften. Die Schadenskompensation wirkt sich in tatsächlicher Hinsicht auf die Lebensführung der gesamten Familie aus. Zudem werden durch die Haftung die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander berührt, so dass sich diese über die finanziellen Folgen hinaus negativ auf das Familienleben niederschlagen kann 406 . Das gilt auch für die rechtsgeschäftliche Eigenhaftung des Minderjährigen. Sowohl die rechtsgeschäftliche als auch die deliktsrechtliche Haftung des Minderjährigen war in den vergangenen Jahrzehnten Gegenstand von Diskussionen in Rechtsprechung und Schrifttum, welche schließlich in Gesetzesreformen mündeten. Die tragenden, speziell auf die Person des Minderjährigen bezogenen, Reformgedanken lassen erkennen, dass die Haftungsvorschriften des BGB den veränderten Gegebenheiten und neuen Erkenntnissen angepasst werden müssen. Darüber hinaus wurden Reformgedanken vertreten, die eine Umgestaltung oder eine veränderte Auslegung des § 832 BGB nahe liegend erscheinen lassen.
I. Der Beschluss des BVerfG v. 13.05.1986 Richtungsweisend für die Reform der Minderjährigenhaftung im BGB war der Beschluss des BVerfG zur unbeschränkten Haftung Minderjähriger aus dem Jahr 1986 407 . In ihm hielt es das BVerfG für unvereinbar mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht Minderjähriger aus Artt. 2 Abs. 1 i. V. m. 1 Abs. 1 GG, dass Eltern ihre Kinder kraft gesetzlicher Vertretungsmacht gemäß §§ 1629 Abs. 1 i. V. m. 1643 Abs. 1 BGB bei Fortführung eines ererbten Handelsgeschäfts in ungeteilter Erbengemeinschaft finanziell unbegrenzt verpflichten können. Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die Klägerinnen waren die minderjährigen Töchter eines verstorbenen Einzelkaufmanns. Zusammen mit ihrer Mutter hatten sie ihren Vater beerbt und führten den Betrieb in ungeteilter Erbengemeinschaft fort. Der Betrieb geriet in Zahlungs406 407
Ähnlich Niboyet, S. 194. BVerfGE 72, 155 v. 13.05.1986.
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2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
Schwierigkeiten. Die Mutter gab daraufhin im eigenen Namen und im Namen ihrer Töchter gegenüber der Gläubigerin ein notarielles Schuldanerkenntnis ab. Dabei unterwarf sie sich namens aller Beteiligten der sofortigen Zwangsvollstreckung. Jedoch erteilte das Vormundschaftsgericht die zu dieser Urkunde erbetene Genehmigung nicht, sondern entzog der Mutter unter gleichzeitiger Pflegerbestellung die Vermögenssorge über ihre Töchter. Der Pfleger bestritt für die Töchter gegenüber der Gläubigerin die Wirksamkeit des Schuldanerkenntnisses. Die Gläubigerin erhob daraufhin Klage auf Feststellung der Wirksamkeit des Schuldanerkenntnisses, welcher der BGH stattgab. Nach Ansicht des Senats konnte die Mutter ihre Töchter im Rahmen ihrer gesetzlichen Vertretungsmacht wirksam verpflichten. Keiner der in § 1643 BGB geregelten Fälle war einschlägig. Aus Gründen der Rechtssicherheit und -klarheit lehnte der BGH auch eine analoge Anwendung der §§ 1643, 1821, 1822 BGB ab 408 . Auf die Verfassungsbeschwerde der Klägerinnen hob das BVerfG das Urteil des BGH auf und verwies die Sache zurück. Zur Verfassungsmäßigkeit des unbegrenzten Vermögenssorgerechts der Eltern gemäß § 1629 Abs. 1 BGB heißt es: „Mit der Anordnung des gesetzlichen Vertretungsrechts der Eltern soll insbesondere verhindert werden, daß Kinder Verträge abschließen, die nicht in ihrem wohlverstandenen Interesse liegen. Soweit sich Fremdbestimmung der Kinder durch ihre Eltern danach als Minderjährigenschutz erweist, entspricht dies dem Kindeswohl, so daß eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts ausscheidet. Mit der Einräumung der gesetzlichen Vertretungsmacht ist aber gleichzeitig die Gefahr verbunden, daß sich eine unkontrollierte Entscheidungsbefugnis der Eltern nachteilig für die Kinder auswirken kann. Zwar haben Eltern ihre Rechte uneigennützig und verantwortungsbewußt wahrzunehmen. Dies bedeutet auch Berücksichtigung der im Zeitpunkt der Volljährigkeit grundsätzlich eingetretenen Entscheidungsfreiheit des Kindes über die von ihm vorzunehmenden Handlungen und Unterlassungen. Indessen kann nicht ausgeschlossen werden, daß Eltern nicht fähig oder nicht bereit sind, den Anforderungen des Elternrechts zu entsprechen. Insoweit ist der Gesetzgeber aufgerufen, in Wahrnehmung seines Wächteramts (Art. 6 II 2 GG) Regelungen zu treffen, die verhindern, daß der volljährig Gewordene nicht mehr als nur eine scheinbare Freiheit erreicht. Das Recht zur Selbstbestimmung ist zwar nicht identisch mit der Freiheit von allen Bindungen, die kraft elterlichen Vertretungsrechts geschaffen wurden. Nachwirkungen der elterlichen Sorge sind auch im rechtsgeschäftlichen Bereich vielfach ebenso notwendig wie ungefährlich ... Sie sind verfassungsrechtlich noch hinnehmbar, wenn sich die Haftung des Minderjährigen bei einem ererbten und fortgeführten Handelsgeschäft auf das im Wege der Erbfolge erworbene Vermögen beschränkt. Wenn aber der Gesetzgeber den Eltern das Recht einräumt, ihre Kinder in einem weitergehen-
408
BVerfGE 72, 155 (160 ff) v. 13.05.1986; BGHZ 92, 259 (266 f) v. 08.10.1984.
§ 3 Die Entwicklung der Minderjährigenhaftung im bürgerlichen Recht
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den Maße zu verpflichten, dann muß er gleichzeitig dafür Sorge tragen, daß den Volljährigen Raum bleibt, um ihr weiteres Leben selbst und ohne unzumutbare Belastungen zu gestalten, die sie nicht zu verantworten haben. Diese Möglichkeit ist ihnen jedenfalls dann verschlossen, wenn sie als Folge der Vertretungsmacht ihrer Eltern mit erheblichen Schulden in die Volljährigkeit »entlassen4 werden. Etwaige Schadensersatzansprüche des Minderjährigen gegenüber seinem gesetzlichen Vertreter ... reichen dabei nicht aus, um dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Kindes zu entsprechen, zumal diese Ansprüche in der Regel wertlos sind 409 ." Das BVerfG stellte mit diesem Urteil einen Mindeststandard für den verfassungsrechtlich gebotenen Überschuldungsschutz Minderjähriger auf. Lösungswege zur Beseitigung des Verfassungsverstoßes sah das BVerfG in der Fortschreibung des Katalogs der Geschäfte, die nach §§ 1643 i. V. m. 1821, 1822 BGB der vormundschaftlichen Genehmigung bedürfen, oder in der Einführung einer Haftungsbeschränkung zugunsten des Kindes 410 . Stürner hält es für zweifelhaft, ob das BVerfG seine Entscheidung auch gefasst hätte, wenn es 1986 schon die InsO gegeben hätte 411 .
II. § 1629a BGB Der Gesetzgeber kam diesem Regelungsauftrag des BVerfG nach zwölf Jahren 412 zum 01.01.1999 mit dem MHbeG 4 1 3 v. 25.08.1998 nach. Er stellte dabei das Modell der Fortschreibung des Katalogs der vormundschaftsgerichtlich genehmigungsbedürftigen Rechtsgeschäfte aus praktischen Erwägungen zu Gunsten der Einführung einer Haftungsbeschränkung zurück 414 . § 1629a BGB räumt dem Minderjährigen die Möglichkeit ein, die Haftung für die von seinen Eltern im Rahmen ihrer gesetzlichen Vertretungsmacht begründeten Verbindlichkeiten bei Erreichen der Volljährigkeit auf das zu diesem Zeitpunkt vorhandene Vermögen zu beschränken. Der Kreis der Altverbindlichkeiten ist in § 1629a
409
BVerfGE 72, 155 (172 f) v. 13.05.1986. Kritisch dazu Medicus, AcP 192 (1992), 35 (63). Er weist daraufhin, dass bei einem günstigen Geschäftsverlauf den volljährigen Töchtern die daraus erwachsenden Vorteile unentziehbar zugeflossen wären. Deshalb störe ein solch hinkendes Geschäft, nachdem eine Partei zwar den Gewinn behalten könne, den Verlust aber nicht zu tragen brauche, die Privatrechtsdogmatik empfindlich. 410 BVerfGE 72, 155 (174) v. 13.05.1986. 411 Stürner, GdS Lüderitz, S. 789 (791). 412 Bereits 1992 war im Bundesrat der Entwurf eines Gesetzes über die Beschränkung der rechtsgeschäftlichen Haftung Minderjähriger (BR-Drucks. 623/92) vorgelegt worden. 413 BGBl I S. 2487. 4,4 BT-Drucks. 13/5624, S. 2.
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2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
Abs. 1 BGB sehr weit gezogen, d. h., es spielt keine Rolle, ob die Verbindlichkeit des Minderjährigen durch Rechtsgeschäft oder eine sonstige Handlung begründet worden ist. Bis auf die Einschränkungen in § 1629a Abs. 2 BGB hat der volljährig Gewordene weiterhin das Recht, sich seiner Haftungsrisiken aus selbst abgegebenen Willenserklärungen für die Zukunft zu entledigen415. Mit dieser allgemeinen Haftungsbeschränkung ist der Gesetzgeber deutlich über die Vorgaben des BVerfG hinausgegangen416. Der Schutz des Minderjährigen vor seinen eigenen Handlungen wurde so über die §§2, 104 ff, 828 Abs. 1 BGB hinaus ausgeweitet. Das Haftungsrecht gestattet ihm so den Neuanfang aus dem rechtsgeschäftlichem Ruin 417 . Im Deliktsrecht blieb es jedoch bei der unbegrenzten Haftung des Minderjährigen im Rahmen des § 828 Abs. 2 BGB a. F. Deliktische Ansprüche werden von § 1629a BGB nicht erfasst 418. Die Gefahr der übermäßigen Verschuldung des Minderjährigen beim Eintritt in die Volljährigkeit wurde somit durch das MHbeG nicht gebannt419. Der daraus resultierende Wertungsunterschied zwischen deliktischer und vertraglicher Haftung Minderjähriger entfachte die Diskussion um die unbegrenzte Haftung nach § 828 Abs. 2 BGB a. F. neu.
I I I . § 828 Abs. 2 BGB a. F. Die Deliktsfähigkeit von Kindern beginnt gemäß § 828 Abs. 1 BGB mit der Vollendung des siebenten Lebensjahres. Diese Vorschrift ist seit dem In-KraftTreten des BGB unverändert geblieben. § 828 Abs. 3 BGB 4 2 0 , der inhaltlich § 828 Abs. 2 S. 1 BGB a. F. 421 entspricht, geht von der Verantwortlichkeit des Schädigers mit Vollendung des 7. Lebensjahres aus. Für die Deliktsfähigkeit ist ausreichend, aber auch notwendig, dass der Minderjährige seiner geistigen Entwicklung nach in der Lage ist zu erkennen, dass sein Verhalten Unrecht ist und er für die negativen Folgen dieses Verhaltens die Konsequenzen tragen muss. Bei fahrlässigem Handeln genügt ein allgemeines Verständnis dafür, dass ein bestimmtes Verhalten irgendwelche Gefahren herbeiführen kann, ohne dass die rechtliche Fähigkeit zur realen Vorstellung von den rechtlichen und wirtschaftlichen Folgen dieses Verhaltens vorhanden sein muss 422 . §§ 828
4,5
Palandt¡Diederichsen, § 1629a Rn. 6, 9; Habersack, FamRZ 1999, 1. Habersack, FamRZ 1999, 1; Müller-Feldmann, FamRZ 2002, 13 (14). 417 Stürner, GdS Lüderitz, S. 789 (790). 418 ?2\mdHDiederichsen, § 1629a Rn. 2, 13. 419 Eckebrecht, MDR 1999, 1248; Glöckner, FamRZ 2000, 1397 (1405). 420 SchadÄndG v. 19.07.2002, in Kraft seit dem 01.08.2002, BGBl I S. 2674. 421 § 828 Abs. 2 BGB a. F. galt vom 01. 01.1900 bis zum 31.07.2002. 422 BGH NJW 1984, 1958 v. 28.02.1984; P&\mdt/Thomas, § 828 Rn. 6. 416
§ 3 Die Entwicklung der Minderjährigenhaftung im bürgerlichen Recht
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Abs. 2 BGB a. F., 828 Abs. 3 BGB stellen somit allein auf die intellektuelle Fähigkeit ab, nicht aber auf die individuelle Steuerungsfähigkeit, sich dieser Einsicht gemäß zu verhalten. Für einen nach diesen Grundsätzen verschuldeten Schaden muss ein Minderjähriger nach Vollendung des siebenten Lebensjahres nach §§ 823 Abs. 1, 828 Abs. 3 BGB - bzw. 828 Abs. 2 BGB a. F. - unbegrenzt einstehen. Diese unbegrenzte Haftung ist in Rechtsprechung und Literatur auf scharfe Kritik gestoßen.
1. In der Rechtsprechung a) Der Vorlagebeschluss des OLG Celle v. 26.05.1989 Mit Vorlagebeschluss v. 26.05.1989 leitete das OLG Celle ein konkretes Normenkontrollverfahren beim BVerfG zur Verfassungsmäßigkeit des § 828 Abs. 2 BGB i. d. F. v. 01.01.1900 423 ein. Dem Beschluss lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die beiden knapp 15 und 16 Jahre alten Beklagten verursachten aus leichter Fahrlässigkeit einen schweren Brandschaden, indem sie in einer Halle mit Holzfußboden ein Telefonbuch anzündeten und das Feuer nicht sorgfältig austraten. Die Feuerversicherung regulierte den Schaden und nahm die beiden Jugendlichen in Höhe von je 330.000 D M in Regress. Nur einer der Beklagten besaß eine Haftpflichtversicherung, die seine Eltern für ihn abgeschlossen hatten. Bezüglich dieses Jugendlichen gab der Senat der Klage unter Berücksichtigung eines Mitverschuldenanteils des Halleneigentümers statt. Bezüglich des nichtVersicherten Jugendlichen hielt das OLG die unbegrenzte Haftung aus § 828 Abs. 2 BGB i. d. F. v. 01.01.1900 jedenfalls dann für verfassungswidrig, wenn seitens des Minderjährigen nur leichte Fahrlässigkeit vorliegt, die uneingeschränkte Haftung des Minderjährigen zu einer wirtschaftlichen Existenzvernichtung führen würde und das Opfer von dritter Seite, z. B. durch eine Versicherung, befriedigt ist. Mit letzterer Voraussetzung trug das OLG Celle dem Ausgleichsinteresse des Geschädigten Rechnung, indem es die Auferlegung einer unbegrenzten Haftung für deliktische Handlungen nicht in jedem Fall als unverhältnismäßigen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Minderjährigen aus Artt. 2 Abs. 1 i. V. m. 1 Abs. 1 GG qualifizierte. Zu der Begründung des Vorlagebeschlusses zog der Senat auch die vorgenannte Entscheidung aus BVerfGE 72, 155 heran. Das OLG räumte aber ein, dass während in dem vom BVerfG entschiedenen Fall die Kinder überhaupt keinen Einfluss auf die wirtschaftlichen Dispositionen ihrer Mutter nehmen konnten, dem Beklagten im gegenständlichen Verfahren immerhin ein gewisses Ver423
Bei der Erläuterung der Urteile und der Beiträge aus dem Schrifttum, in denen § 828 Abs. 2 BGB a. F. noch geltendes Recht war, wird zur Verdeutlichung die Formulierung § 828 Abs. 2 BGB i. d. F. v. 01.01.1900 statt § 828 Abs. 2 BGB a. F. verwandt.
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2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
schulden im Sinne eines „Dummenjungenstreichs" vorzuwerfen sei 424 . Es kam zu keiner Entscheidung des BVerfG, weil sich die Parteien verglichen und der Vorlagebeschluss durch Beschluss des OLG Celle aufgehoben wurde 425 .
b) Das Urteil des LG Bremen v. 15.02.1991 Ein ähnlicher Sachverhalt lag dem Urteil des LG Bremen 426 v. 15.02.1991 zugrunde. Dort brannten die damals 9- und lOVi-jährigen Beklagten eine Lagerhalle nieder. Der lO'/z-Jährige warf Streichhölzer durch ein Loch in der Hallenwand und der 9-Jährige warf eine Hand voll Heu hinterher. Die klagende Versicherung nahm bei den Beklagten für die an ihren Versicherungsnehmer erbrachten Leistungen in Höhe von 31.300 D M Regress. Wegen des Brandes waren die Beklagten bereits zuvor zu Schadensersatzleistungen von ca. 91.900 D M bzw. 62.700 D M verurteilt worden; der lOVi-Jährige war weiteren Schadensersatzforderungen von ca. 416.000 D M ausgesetzt. Das LG Bremen bejahte eine Haftung der Beklagten gemäß §§ 823 Abs. 1, 823 Abs. 2 BGB i. V. m. 309 StGB, 828 Abs. 2 BGB i. d. F. v. 01.01.1900, 67 VVG. Es knüpfte an den vom OLG Celle abgesteckten Bereich an und hielt die unbegrenzte deliktsrechtliche Haftung Minderjähriger bei Fahrlässigkeit mit dem GG dann für unvereinbar, wenn sie die Existenz des Schädigers vernichte und die Entschädigung des Opfers von dritter Seite gewährleistet sei. Die Kammer sah aber von einer ihrer Ansicht nach unzulässigen Vorlage an das BVerfG ab, da den Ansprüchen der Gläubiger der Einwand des Rechtsmissbrauches gemäß § 242 BGB entgegengehalten werden könne. Gestützt auf eine nach § 242 BGB vorzunehmende Haftungsbegrenzung wies das LG die Zahlungsklage als zur Zeit unbegründet ab und entsprach dem hilfsweise gestellten Feststellungsantrag der Klägerin. Denn es sei nicht auszuschließen, dass in den wirtschaftlichen Verhältnissen der Beklagten in Zukunft eine wesentliche Verbesserung eintrete, aufgrund dessen der Einwand des Rechtsmissbrauchs gegenüber der auf die Klägerin übergegangenen Schadensersatzansprüche nicht oder nicht mehr in vollem Umfang greifen würde. In der Begründung übertrug das LG die in der Entscheidung BVerfGE 72, 155 angesprochenen Gesichtspunkte auf den gegenständlichen deliktsrechtlichen Sachverhalt. Danach sei zwar die Verantwortung Minderjähriger nach der in §§ 276 Abs. 1 S. 1 i. d. F. v. 01.01.1900, 828 Abs. 2 BGB i. d. F. v. 01.01.1900 getroffenen gesetzlichen Regelung gegeben. Die individuelle Zurechenbarkeit stehe jedoch bei dem gegenständlichen Sachverhalt in krassem Missverhältnis zu den Folgen einer unbegrenzten Haftung.
424 425 426
OLG Celle VersR 1989, 709 f v. 26.05.1989. Scheffen, DAR 1991, 121 (125). LG Bremen NJW-RR 1991, 1432 ff v. 15.02.1991.
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Auch für den deliktsrechtlichen Haftungsfall sei kennzeichnend, dass die Eltern des minderjährigen Schädigers ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden seien oder nicht gerecht werden konnten. Entweder seien die Eltern nicht zu einer sachgerechten Erziehung und Aufsicht willens oder fähig gewesen, oder sie hätten eine Haftpflichtversicherung zur weitgehenden Freistellung des Minderjährigen von den haftungsrechtlichen Folgen seines schädigenden Verhaltens nicht abgeschlossen bzw. aus wirtschaftlichen Gründen nicht abschließen können. Deshalb erreiche der Minderjährige beim Eintritt in das Erwachsenenleben im Falle unbegrenzter deliktsrechtlicher Haftung nur eine Scheinfreiheit, weil der vom Gesetzgeber in diesem Bereich zur Verfügung gestellte Minderjährigenschutz nicht ausreiche. Auf dem Gebiet leichterer Rechtsverstöße Minderjähriger sei es daher geboten, mit Hilfe der Generalklauseln des geltenden Rechts zu einer verfassungskonformen, der veränderten verfassungsrechtlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit und den gewandelten Gerechtigkeitsvorstellungen Rechnung tragenden Beschränkung von Schadensersatzansprüchen in Teilbereichen zu kommen 427 .
c) Der Vorlagebeschluss des LG Dessau v. 25.09.1996 In einer Wiederholung des Vorlagebeschlusses des OLG Celle leitete das LG Dessau 1996 erneut ein konkretes Normenkontrollverfahren ein. Es legte dem BVerfG die Frage vor, ob § 828 Abs. 2 BGB i. d. F. v. 01.01.1900 auch in denjenigen Fällen mit dem GG vereinbar ist, in denen ein fahrlässiges Verhalten eines Kindes oder Jugendlichen, das eine typische Jugendverfehlung darstellt, zu einer existenzvernichtenden Haftung führen würde und die Befriedigung des Opfers von dritter Seite gewährleistet ist 428 . Das LG Dessau hatte über die persönliche Haftung eines 16-jährigen Mopedfahrers zu entscheiden. Ohne im Besitz einer Fahrerlaubnis zu sein, hatte der 16-jährige Beklagte mit einem unversicherten Moped einen schweren Verkehrsunfall verschuldet. Dabei zog sich seine 13-jährige Beifahrerin - die ohne Helm auf dem Soziussitz saß - schwere Kopfverletzungen zu. Ihre gesetzliche Krankenkasse machte den auf sie übergegangenen deliktischen Anspruch aus §§ 823 Abs. 1 BGB, 116 SGB X vorerst in Höhe von mehr als 153.000 D M geltend. Die Kammer stufte § 828 Abs. 2 BGB i. d. F. v. 01.01.1900 als nachkonstitutionelles Recht ein und sah sich gehindert, durch eine verfassungskonforme Auslegung eine Haftungsbegrenzung auf ein vertretbares Maß selbst herbeizuführen. Nach Überzeugung der Kammer verstieß die unbegrenzte Haftung Minderjähriger gegen deren allgemeines Persönlichkeitsrecht, Artt. 1 Abs. 1 i. V. m. 2 Abs. 1 GG. Die Kammer griff 427
LG Bremen NJW-RR 1991, 1432 (1434 f) v. 15.02.1991. LG Dessau VersR 1997, 242 ff v. 25.09.1996. Kritisch zu den Vorlagebeschlüssen des OLG Celle und des LG Dessau Ahrens, VersR 1997, 1064 ff. 428
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dabei auf die Argumente des OLG Celle und des LG Bremen zurück und hielt ebenfalls die in BVerfGE 72, 155 aufgestellten Grundsätze auf die deliktische Verantwortung des Minderjährigen für übertragbar. Wie schon vom OLG Celle vertreten, rechtfertigte dabei nach Ansicht des LG Dessau der Umstand, dass der Minderjährige die Haftung durch seine eigene Handlung herbeigeführt hatte, im Ergebnis keine andere Beurteilung. Des Weiteren lief nach Auffassung des LG die unbegrenzte Haftung dem insbesondere im Jugendstrafrecht dominanten Gedanken der Spezialprävention in einem unerträglichem Maß zuwider und führte so zu einem unrechtmäßigen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht.
2. Der Beschluss des BVerfG v. 13.08.1998 Die Hoffnung auf ein Eingreifen des BVerfG erfüllte sich jedoch nicht 429 . Mit Kammerbeschluss v. 13.08.1998 erklärte das BVerfG die Richtervorlage des LG Dessau wegen der vorkonstitutionellen Herkunft des § 828 Abs. 2 BGB i. d. F. v. 01.01.1900 für unzulässig430. Im Übrigen erfüllte die Richtervorlage nach Auffassung der Kammer nicht die Begründungsanforderungen des § 80 Abs. 2 BVerfGG. Zwar habe das LG plausibel ausgeführt, dass die unbegrenzte Haftung Minderjähriger im Hinblick auf Artt. 1 Abs. 1 i. V. m. 2 Abs. 1 GG verfassungsrechtlichen Bedenken begegne, jedoch habe es nicht ausreichend geprüft, welche einfachrechtlichen Möglichkeiten ihm zur Korrektur der Minderjährigenhaftung zur Verfügung ständen. Zunächst seien als Entlastungsalternativen Regressansprüche nach §§ 840, 426 BGB sowie die Möglichkeit eines Forderungserlasses nach §§ 116 SGB X, 76 Abs. 2 SGB I V 4 3 1 oder einer Entschuldung nach der InsO 432 in Betracht zu ziehen. Führe die unbegrenzte 429
v. Hippel, FamRZ 2001, 748. BVerfG NJW 1998, 3357 v. 13.08.1998. 431 Auf die Regressbeschränkung nach § 76 Abs. 2 Nr. 3 SGB IV hatte bereits Ahrens (VersR 1997, 1064) in seiner Besprechung des Vorlagebeschlusses des LG Dessau hingewiesen. Gegen das BVerfG und Ahrens wendet sich Rolfs, JZ 1999, 233 (235 f). Danach konnte das LG Dessau die Norm aus verfahrensrechtlichen Gründen nicht anwenden, da nach Auffassung des BGH und des Großteils des Schrifttums diese Reduktionsklausel erst nach Titulierung und nur im sozialrechtlichen Verfahren erhoben werden kann. Zudem komme die vom LG Dessau angestrebte vollständige Entlastung bei § 76 Abs. 2 SGB IV nicht in Betracht, da Teilerlass und Stundung vorrangig seien. Weiterhin sei die Vorschrift nicht geeignet, die schwelende Diskussion über eine Begrenzung der Minderjährigenhaftung dauerhaft zu befrieden. Bei Sachschäden wie im Sachverhalt des OLG Celle sei sie nicht anwendbar und im Privatversicherungsrecht fehle es an einer entsprechenden Norm. 432 Nach Ansicht des Schrifttums lassen sich die Einwände gegen die unbegrenzte deliktische Haftung Minderjähriger nicht mit dem Hinweis auf die InsO entkräften. Das Verfahren der Restschuldbefreiung nach §§ 286 ff InsO sei mit so vielen Unwägbarkeiten belastetet, dass sie dem Minderjährigen keine nennenswerte Erleichterung bringe 430
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Haftung trotz dieser aufgezeigten Lösungsmöglichkeiten zu einer Existenzvernichtung des Jugendlichen, bleibe noch der Weg einer Haftungseinschränkung aus Billigkeitsgründen gemäß § 242 BGB 4 3 3 . Das begründet die Kammer wie folgt: „Das BVerfG hat gerade im Hinblick auf die deliktischen Haftungsbestimmungen des BGB ausgeführt, daß die Auslegung einer Gesetzesnorm nicht immer auf die Dauer bei dem ihr zu ihrer Entstehungszeit beigelegten Sinn stehen bleiben kann ... Angesichts des beschleunigten Wandels der gesellschaftlichen Verhältnisse und der begrenzten Reaktionsmöglichkeiten des Gesetzgebers sowie der offenen Formulierung zahlreicher Normen gehört die Anpassung des geltenden Rechts an veränderte Verhältnisse im Gegenteil zu den Aufgaben der Dritten Gewalt. Das gilt insbesondere bei zunehmendem zeitlichen Abstand zwischen Gesetzeserlaß und richterlicher Einzelfallentscheidung ... Demnach stehen aus verfassungsrechtlicher Sicht weder der Wille des vorkonstitutionellen Gesetzgebers noch der Wortlaut des § 828 Abs. 2 BGB einer Einschränkung der Minderjährigenhaftung aus Billigkeitsgründen zwingend entgegen. Ob eine solche Einschränkung nach § 242 BGB im konkreten Fall geboten ist, haben die für den Zivilrechtsstreit zuständigen Gerichte zu entscheiden434." Über drei Jahre nach dem Urteil des BVerfG entschied das OLG Celle am 17.10.2001 über die von einem 143/4-Jährigen begangene fahrlässige Körperverletzung. Aufgrund der mehrfach anders gelagerten Fallkonstellation ließ der Senat ausdrücklich offen, ob die Haftung Minderjähriger in bestimmten Fällen aus verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten einzuschränken sei 435 .
CLooschelders, VersR 1999, 141 [149]; Goecke, S. 69 ff; ders., NJW 1999, 2305 [2308]; Rolfs, JZ 1999, 233 [237]). Stürner (GdS Lüderitz, S. 789 [790]) bezeichnet die InsO deshalb als schlecht passende Notlösung. Hingegen tritt das OLG Celle (VersR 2002, 241 v. 17.10.2001) den Bedenken des Schrifttums gegen die faktische Durchführbarkeit des Restschuldbefreiungsverfahrens ausdrücklich entgegen. 433 So schon Canaris (JZ 1990, 679 [681]) zum Vorlagebeschluss des OLG Celle, während Mediucs (AcP 192 [1992], 35 [65 ff]) die sich daraus ergebende Vorverlagerung des Schuldnerschutzes vom Vollstreckungsrecht in das Schadensersatzrecht kritisiert. Goecke (NJW 1999, 2305 [2307]) weist in diesem Zusammenhang daraufhin, dass es deshalb der Darlegung zusätzlicher Umstände bedarf, welche die Untragbarkeit und offensichtliche Ungerechtigkeit einer Inanspruchnahme des Schuldners begründen, oder des Nachweises, dass die Schutzvorschriften des Verfahrensrechts im konkreten Fall den Schuldner nicht ausreichend zu schützen in der Lage sind. 434 BVerfG NJW 1998, 3357 (3358) v. 13.08.1998. 435 OLG Celle VersR 2002, 241 f v. 17.10.2001. Im Rahmen einer scherzhaft gemeinten Geste hatte der 143/4-jährige Beklagte dem 14-jährigen Kläger seine Schreckpistole vor das Gesicht gehalten und versehentlich abgedrückt. Der Kläger, der ebenfalls über eine solche Waffe verfügte, verlor ein Auge und erlitt diverse weitere Verletzungen. Am 17.10.2001 verurteilte das OLG Celle gemäß §§ 823, 847 BGB, 828 Abs. 2. BGB i. d. F. v. 01.01.1900 den mittlerweile WA Jahre alten Beklagten zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 75.000 DM und stellte fest, dass der Beklagte zum Ersatz der weiteren Schäden verpflichtet ist. Das OLG grenzte die gegenständliche Fallkonstellation gegen den Sachverhalt ab, der demselben Gericht in seinem Vorlagebeschluss v.
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3. Im Schrifttum Das BVerfG hat damit in der Sache bedeutsame Hinweise gegeben, ohne aber die Diskussion im Schrifttum zu beenden. Aufgrund der Einstufung der Norm als vorkonstitutionell fiel die Prüfungs- und Verwerfungskompetenz nunmehr zwingend in die Zuständigkeit der Fachgerichte. Sie hatten somit selbst die Möglichkeit, § 828 Abs. 2 BGB i. d. F. v. 01.01.1900 - und damit die Grundlage der unbegrenzten deliktsrechtlichen Haftung Minderjähriger - als verfassungswidrig zu verwerfen 436 . Rolfs rügte die Einstufung von § 828 Abs. 2 BGB i. d. F. v. 01.01.1900 als vorkonstitutionelles Recht und wies daraufhin, dass divergierende Entscheidungen der Instanzgerichte kaum zu vermeiden seien 437 . Nach der Änderung des § 828 BGB durch das Zweite Gesetz zur Änderung schadensrechtlicher Vorschriften zum 01.08.2002 handelt es sich nunmehr um nachkonstitutionelles Recht. Falls erneut ein Fachgericht § 828 Abs. 3 BGB für verfassungswidrig hält, ist eine erneute Vorlage der Norm im Wege eines konkreten Normenkontrollverfahrens damit nicht nur möglich sondern zwingend 438 . Stürner ist der Auffassung, das BVerfG habe mit seinem Urteil schon unter geltendem Recht die Tür zur Schadensreduktion bei der Haftung Minderjähriger weit aufgestoßen 439. De lege lata kann nach Ansicht von Looschelders den Interessen des minderjährigen Schädigers nur durch die Reduktionsmöglichkeit gemäß § 242 BGB - die er als bloßen Notbehelf bezeichnet - Rechnung getragen werden. Der Ersatzanspruch sei durch den Richter insoweit herabzusetzen, wie die unbegrenzte Haftung nicht durch den Schutzanspruch des Geschädigten
26.05.1989 zugrunde gelegen hatte. Zum einen sah sich der Beklagte hier nicht Regressansprüchen einer Versicherung ausgesetzt, sondern Schmerzensgeldansprüchen des unmittelbar Geschädigten. Den Grundrechten des Beklagten, insbesondere mit Blick auf seine spätere wirtschaftlich freie Persönlichkeitsentfaltung, standen somit auf der anderen Seite die den Kläger in seiner körperlichen Integrität schützenden Rechte gegenüber, für deren Verletzung er Ausgleich verlangte. Weiterhin war nicht von einer nur geringen Fahrlässigkeit des Beklagten auszugehen, sondern von einem erheblich größeren Verschulden. Denn der Beklagte hatte dem Kläger die Schreckschusspistole trotz des ihm unbekannten Ladezustands vor dessen Gesicht gehalten. Hinsichtlich der wirtschaftlichen Belastung des Beklagten sah der Senat zwischen beiden Sachverhalten einen entscheidenden Unterschied darin, dass dem wirtschaftlichen Existenzinteresse des Schuldners mittlerweile durch die Einführung des Verbraucherinsolvenzverfahrens mit Restschuldbefreiung Rechnung getragen wird. Zudem besaß der Beklagte im gegenständlichen Sachverhalt eine Haftpflichtversicherung, die jedoch wegen der besonderen Umstände den Versicherungsschutz versagt hatte. 436 Looschelders, VersR 1999, 141 (142); Eckebrecht, MDR 1999, 1248; Goecke, NJW 1999, 2305 (a. A. noch in Goecke, S. 96 ff). 437 Rolfs, JZ 1999, 233 (235 f). 438 So schon Rolfs, JZ 1999, 233 (235 Fn. 22). 439 Stürner, GdS Lüderitz, S. 789 (794).
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legitimiert werde. Damit werde dem Gläubiger eine beträchtliche Einschränkung seiner Rechtsposition zugemutet, die aber bei wirtschaftlicher Betrachtung seinem Ausgleichs- und Präventionsinteresse - anders als etwa bei einer Anhebung der Altersgrenze der Deliktsfähigkeit - in einem realistischen Umfang Rechnung trage 440 . Rolfs will die Reduktionsklausel § 242 BGB nur dann nicht anwenden, wenn der Minderjährige den Schaden vorsätzlich herbeigeführt hat 441 . Kötz/Wagner stehen dagegen der vom BVerfG angeregten Reduktion im Einzelfall ablehnend gegenüber. Sie sehen das Feld der richterlichen Rechtsfortbildung überschritten, wenn Schadensersatzansprüche des Geschädigten unter Berufung auf § 242 BGB reduziert oder gänzlich ausgeschlossen werden 442 . Für Wagner ist in der Diskussion der Blick zu sehr auf den Minderjährigen und dessen Schutz vor unbegrenzter Haftung verengt. Es werde zu wenig berücksichtigt, dass der Schutz nicht ohne weiteres auf Kosten des Geschädigten gehen sollte. Darüber hinaus sei auch die Verantwortlichkeit der Eltern nach § 832 BGB in Rechnung zu stellen, denen die entsprechenden haftungsrechtlichen Anreize zur Erziehung und Beaufsichtigung ihrer Kinder im Interesse der Schadensvermeidung vermittelt werden sollten 443 . Das Schrifttum sieht aber mehrheitlich weiterhin den Gesetzgeber gefordert 444. Lüderitz hält
440 Looschelders, VersR 1999, 141 (149, 151). Nach Looschelders (VersR 1999, 141 [148]), der de lege ferenda eine obligatorische Haftpflichtversicherung für Jugendliche und Kinder anregt, müssen die in BVerfGE 72, 155 entwickelten Bedenken erst recht im Deliktsrecht gelten. Im Vertragsrecht des BGB könne es keine Verbindlichkeiten geben, die der Minderjährige selbst zu verantworten habe. Die durch das MHbeG verwirklichten Einschränkungen dienten daher nur der Vervollkommnung dieses Schutzkonzeptes. Hingegen gebe es im Deliktsrecht für Minderjährige ab sieben Jahre überhaupt keinen effektiven Schutz vor übermäßigen Belastungen. Wenn das BVerfG schon das Schutzkonzept des Gesetzgebers im Vertragsrecht beanstande, weil es im Einzelfall nicht verhindere, dass der Minderjährige mit übermäßigen Schulden belastet werde, so müsse das gesetzgeberische Konzept zum Schutz von Minderjährigen gegenüber übermäßigen deliktischen Ersatzpflichten aus verfassungsrechtlicher Sicht erst recht auf Bedenken stoßen. 441 Rolfs, JZ 1999, 233 (241 f). Im Übrigen knüpft er an die vom OLG Celle und LG Dessau aufgestellten Voraussetzungen an. Vor der Anwendung des § 242 BGB sei jedoch der Versuch einer verfassungskonformen Auslegung des § 828 Abs. 2 BGB i. d. F. v. 01.01.1900 in zwei Richtungen vorzunehmen. Zum einen sei im Rahmen der Prüfung der Einsichtsfähigkeit statt auf die durchschnittliche Entwicklungsreife eines Jugendlichen auf die konkrete Zurechenbarkeit in der Person des Schädigers abzustellen; zum anderen lasse sich eine Analogie zu den §§20 StGB, 3 JGG erwägen, die neben der intellektuellen Einsichtsfähigkeit auch die voluntative Steuerungsfähigkeit voraussetzten. Goecke (NJW 1999, 2305 [2310]) orientiert sich an den vom BVerfG für eine Anwendung des § 242 BGB aufgestellten Voraussetzungen. 442 Kötz/Wagner, Rn. 332. 443 Wagner, S. 61 f. 444 v. Hippel, FamRZ 1998, 26 (27); ders., FamRZ 2001, 748; Däubler, JuS 2002, 625 (628); Glöckner, FamRZ 2000, 1397 (1405); Klüsener, Rpfleger 1999, 55 (59); a. A. Wagner, S. 62.
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den Gesamtbereich von Elternhaftung im Innen- und Außenverhältnis und Eigenhaftung des Minderjährigen für reformbedürftig, weil Risiko und faktische Einflussmöglichkeiten der Eltern auseinander klafften 445 . Lorenz hatte bereits 1989 die Gesetzeslage als eine „schwärende ,offene Stelle4 im Körper des geltenden Deliktsrechts" bezeichnet446. Diese will Glöckner durch eine umfassende Haftungsverfassung für Minderjährige schließen, in welcher deren Haftung für vertragliche wie auch für andere Verbindlichkeiten systematisch normiert wird 4 4 7 . Nach Ansicht von Coester könne man über ein solch übergreifendes System der Minderjährigenhaftung weiter nachdenken. Die schlichte Erstreckung des § 1629a BGB auf andere Haftungsgründe sei dabei aber nicht der richtige Weg - sachgerechter Minderjährigenschutz könne nur aus dem jeweiligen Sachzusammenhang heraus entwickelt werden 448 . Und Stürner charakterisiert den vorgenannten Gesamtbereich wie folgt: Das deutsche Recht verwirkliche kein klares Konzept, sondern lasse einer eigenartigen gedanklichen Mischung aus Verschuldenselementen, Risikoerwägungen und Versicherbarkeitskriterien Raum; es entscheide auch nicht klar, wer das Risiko kindlichen Fehlverhaltens eigentlich tragen soll: das Kind selbst, die Eltern oder der geschädigte Dritte bzw. die jeweils dahinter stehende Versicherung 449.
IV. Das SchadÄndG v. 19.07.2002 Am 01.08.2002 trat der neue § 828 Abs. 2 BGB in Kraft. Gemäß § 828 Abs. 2 BGB sind Kinder im motorisierten Straßen- und Schienenverkehr erst ab Vollendung des 10. Lebensjahres deliktsfähig 450 . Diese sektorale Ausnahme ist im Bereich der Deliktsfähigkeit neu 451 . Das Privileg gilt jedoch nicht bei vorsätzlichem Verhalten des Kindes. Bereits in der 13. Legislaturperiode hatte die Bundesregierung 1998 den Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung schadensersatzrechtlicher Vorschriften vorgelegt. Ziel des Gesetzesentwurfs war es, das außervertragliche Schadensersatzrecht unter Berücksichtigung der Interessen aller Betroffenen fortzuschreiben und neueren Entwicklungen anzupassen. Einer der Schwerpunkte des Entwurfs war die haftungsrechtliche Besserstellung von Kindern im Straßenverkehr durch eine entsprechende Privilegierung im StVG und HPflG. Danach sollte die Verantwortlichkeitsschwelle 445
Lüderitz, Rn. 809. Lorenz, VersR 1989, 711 (712). 447 Glöckner, FamRZ 2000, 1397 (1405); so auch Klüsener, Rpfleger 1999, 55 (59). 448 Coester, FS Lorenz, S. 113 (128 ff). 449 Stürner, GdS Lüderitz, S. 789 (798). 450 BGBl I S. 2674. § 828 Abs. 3 BGB entspricht dabei inhaltlich § 828 Abs. 2 S. 1 BGB a. F. 451 Däubler, JuS 2002, 625 (628). 446
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von Kindern für Unfälle im Straßen- und Schienenverkehr von sieben auf zehn Jahre angehoben werden. Der Gesetzesentwurf fiel jedoch der Diskontinuität anheim und erledigte sich mit dem Ende der 13. Legislaturperiode. Die neue Bundesregierung verfolgte die Reform des Schadensersatzrechtes in der 14. Legislaturperiode weiter und so trat am 01.08.2002 das Zweite Gesetz zur Änderung schadensersatzrechtlicher Vorschriften in Kraft. Zum allgemeinen Ziel des Gesetzes heißt es in der Begründung des Gesetzgebers: „Die Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches, die das Recht der unerlaubten Handlungen und das Schadensersatzrecht regeln, sind seit dessen Inkrafttreten zum 1. Januar 1900 nahezu unverändert geblieben. Zwar war es der Rechtsprechung auf Grund des hohen Abstraktionsgrades der Vorschriften möglich, durch entsprechende Auslegung, aber auch durch richterliche Rechtsfortbildung, eine Reihe von Anpassungen an die gewandelten Verhältnisse vorzunehmen. Dieser Weg stößt jedoch dort an seine Grenzen, wo das Gesetz selbst Entscheidungen vorgibt. Im Laufe der Zeit zeigte sich zunehmend deutlicher, dass manche dieser Grundsatzentscheidungen zum Schadensersatzrecht nur noch schwer mit den heutigen Verhältnissen und Wertvorstellungen in Übereinstimmung zu bringen sind. Auch die Veränderungen auf Grund des technischen Fortschritts lassen sich mit den bestehenden Vorschriften nicht immer befriedigend lösen. So sind Haftungslücken, vereinzelt auch Gerechtigkeitsdefizite entstanden, die dieses Gesetz beseitigen will. Dies gilt etwa für die Verantwortlichkeit von Kindern bei der Teilnahme am motorisierten Verkehr, die nach geltendem Recht ab dem vollendeten 7. Lebensjahr für den verursachten Schaden verantwortlich sind, obwohl sie nach den inzwischen vorliegenden Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie auf Grund ihrer physischen und psychischen Fähigkeiten regelmäßig frühestens ab dem vollendeten 10. Lebensjahr imstande sind, die besonderen Gefahren des motorisierten Verkehrs zu erkennen und sich den erkannten Gefahren entsprechend zu verhalten 452 ." An diese Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie anknüpfend heißt es in der Begründung des § 828 Abs. 2 BGB weiter: „Dies liegt zum einen an den körperlichen Bedingungen, auf Grund derer es Kindern bis zum 10. Lebensjahr nicht möglich ist, Entfernungen und Geschwindigkeiten richtig einzuschätzen. Zum anderen stehen kindliche Eigenheiten wie Lauf- und Erprobungsdrang, Impulsivität, Affektreaktionen, mangelnde Konzentrationsfähigkeit und gruppendynamisches Verhalten oft einem verkehrsgerechten Verhalten entgegen. Hieraus zieht der Entwurf mit dem neuen § 828 Abs. 2 S. 1 BGB die Konsequenz und setzt die Deliktsfähigkeit für Schäden, die einem anderen bei Unfällen im motorisierten Straßen- oder Bahnverkehr zugefügt werden, auf das voll452
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2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
endete 10. Lebensjahr herauf. Kinder bis zum vollendeten 10. Lebensjahr werden damit einerseits von einer Haftung für von ihnen verursachte Unfallschäden befreit. Sie müssen sich andererseits ihren eigenen Ansprüchen, gleichviel ob sie aus allgemeinem Deliktsrecht hergeleitet werden oder aus den Gefährdungstatbeständen des StVG oder des HPflG, ein Mitverschulden bei der Schadensverursachung nicht entgegenhalten lassen. Denn § 828 BGB ist auch für die Frage des Mitverschuldens nach § 254 BGB maßgeblich ..., der über die entsprechenden Verweisungsnormen (§ 9 StVG, § 4 HPflG) auch für die sondergesetzlichen Gefährdungshaftungen gilt. Ergänzt wird diese Neuregelung der Deliktsfähigkeit für den motorisierten Verkehr durch eine Änderung des § 7 Abs. 2 StVG und des § 1 Abs. 2 HPflG ...: Mit der Ersetzung des Einwands eines ,unabwendbaren Ereignisses' durch den Einwand ,höherer Gewalt' wird insbesondere bei Unfallbeteiligung von Kindern sichergestellt, dass die durch den neuen § 828 Abs. 2 BGB bewirkte Verbesserung der Haftungssituation von unfallbeteiligten Kindern nicht durch den Unabwendbarkeitsnachweis nach § 7 Abs. 2 StVG bzw. § 1 Abs. 2 HPflG i. V. m. 7 Abs. 2 StVG wieder konterkariert wird 4 5 3 ." Das neue Recht erhebt somit den Anspruch, den geänderten Lebensumständen und den wachsenden technischen Herausforderungen des Straßenverkehrs gerecht zu werden 454 . Aus der Gesetzesbegründung geht hervor, dass primäres Ziel des neuen § 828 Abs. 2 BGB nicht der Schutz des Kindes vor untragbaren Ersatzansprüchen ist. Vielmehr ist das Hauptanliegen von § 828 Abs. 2 BGB, bei Straßenverkehrsunfällen im Verhältnis zu Kindern unter zehn Jahren den Mitverschuldenseinwand des Kraftfahrzeughalters gemäß § 9 StVG, § 254 BGB auszuschließen455. Anders als im Entwurf in der 13. Legislaturperiode wählte der Gesetzgeber als Standort für die Heraufsetzung der Deliktsfähigkeit das allgemeine Deliktsrecht. Wegen der Maßgeblichkeit des § 828 BGB für das Mitverschulden gemäß § 254 BGB und den bereits in den Sondergesetzen vorhandenen Verweisungsnormen bedurfte es keiner weiteren Aufnahme in die Vorschriften des StVG und HPflG. Dies stieß auf Zustimmung im Schrifttum 456 . In seiner Terminologie lehnt sich § 828 Abs. 2 BGB an die Haftungsnormen des StVG und des HPflG an. Dazu heißt es in den Gesetzgebungsmaterialien: „So wird die Deliktsfähigkeit nur für solche Schäden heraufgesetzt, die aus einem Unfall herrühren, der sich mit einem Kraftfahrzeug, einer Schienen- oder Schwebe-
453
BT-Drucks. 14/7752, S. 26. Jaeger/Luckey, MDR 2002, 1168. 455 Wagner, NJW 2002, 2049 (2060). 456 Freise, VersR 2001, 539 (546); Wagner, NJW 2002, 2049 (2060); Rauscher jun., Jura 2002, 577 (581); a. A. Greger (NZV 2002, 222 [224]), der aus rechtssystematischen Gründen eine Regelung in den Sondergesetzen forderte. 454
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bahn ereignet hat, und die von dem Kind verursacht oder mitverursacht wurden. Damit soll die Heraufsetzung der Deliktsfähigkeit auf im motorisierten Straßen- oder Bahnverkehr plötzlich eintretende Schadensereignisse begrenzt werden, bei denen die altersbedingten Defizite eines Kindes, wie z. B. Entfernungen und Geschwindigkeiten nicht richtig einschätzen zu können, regelmäßig zum Tragen kommen. Außerhalb dieses Bereichs, z. B. auch im nicht motorisierten Verkehr, sind die Anforderungen, denen das Kind ausgesetzt ist, im Allgemeinen geringer. Das Kind wird auf Grund seiner altersbedingten Defizite seltener überfordert sein. Daher erscheint auch eine generelle Heraufsetzung der Deliktsfähigkeit nach Absatz 2 nicht notwendig 457 ." Damit erteilte der Gesetzgeber den Stimmen eine Absage, die über Jahre hinweg für eine generelle Heraufsetzung der Deliktsfähigkeit eingetreten waren. So hatte Scheffen wiederholt die generelle Anhebung der Deliktsfähigkeit auf zehn Jahre 458 vorgeschlagen und dabei teilweise eine solche bis zum Alter von 14 Jahren 459 zur Diskussion gestellt. Hingegen kam der Gesetzgeber der vom Schrifttum geforderten Anhebung der Deliktsfähigkeit auf zehn Jahre im Bereich des motorisierten Straßenverkehrs nach 460 . Das Kind wird aber bei vorsätzlichem Tun nicht freigestellt, § 828 Abs. 2 S. 2 BGB. Bei vorsätzlicher Verletzung deliktisch geschützter Rechtsgüter ist die Überforderungssituation des Kindes im motorisierten Verkehr nicht mehr in dem Maße schadensursächlich, dass eine generelle Heraufsetzung der Deliktsfähigkeit geboten erscheint. In diesen Fällen sind Schadensursachen nicht altersbedingte Defizite bei der Einschätzung von Entfernungen und Geschwindigkeiten während der Teilnahme am Straßenverkehr, sondern ein bewusst und offensichtlich zu Schäden führendes Verhalten. Das kann auch von einem 7- bis 9-Jährigen erkannt werden, so dass die vorgenommene Einschränkung interessengerecht ist 461 . Eisner äußert sich kritisch zu der Haftungsprivilegierung des Kindes als Täter. Bei einem Haftungsausschluss für das Kind verbleibe für den Geschädigten nur der Anspruch aus § 832 Abs. 1 BGB gegen die Eltern. Dieser werde bei der Teilnahme von Kindern am Straßenverkehr ab sechs Jahren regelmäßig ver-
457
BT-Drucks. 14/7752, S. 26 f. Scheffen, ZRP 1991, 458 (461); dies., DAR 1991, 121 (124 f); dies., FuR 1993, 82; dies., FS Steffen, S. 387 (388, 397); Scheffen/Pardey, Rn. 677; ebenso Kuhlen, JZ 1990, 273 (276). 459 Scheffen, ZRP 1991, 458 (463); Scheffen/Pardey, Rn. 677. 460 Mehlmann, 29. VGT (1991), S. 63 (68); Steffen, VersR 1998, 1449 (1450 ff); ders., ZRP 1998, 147 (148); H. Müller, 36. VGT (1998), S. 231 (233); Bericht aus dem Arbeitskreis III des 38. VGT (2000), DAR 2000, 108 (110); Pardey, DAR 2001, 1 (6 f); weitergehend: ders., DAR 1998, 1 (2, 7): bis 14 Jahre; für den gesamten Straßenverkehr bis mindestens zwölf Jahre: Limbourg, 36. VGT (1998), S. 211 (220). 461 BT-Drucks. 14/7752, S. 27; Eisner, ZfS 2000, 233; Wagner, NJW 2002, 2049 (2060). 458
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2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
sagt. Wenn weder das Kind noch die Eltern gemäß § 832 BGB hafteten, sei aber eine bestehende Haftpflichtversicherung nicht eintrittspflichtig. Der Geschädigte habe dann den fremdverschuldeten Schaden selbst zu tragen, was für diesen eine Härte darstellen könne und deshalb berücksichtigt werden müsse. Dies sei nicht sinnvoll, da für 2/3 der privaten Haushalte ein Haftpflichtversicherungsschutz bestehe. Für verbleibende Fälle könnten Härten für die Zukunft der Kinder durch die Restbeschuldbefreiung im Insolvenzverfahren beschränkt werden. Zudem stellt sich für Eisner die Frage, ob angesichts des allmorgendlich zu betrachtenden provozierend lässigen verkehrswidrigen Verhaltens von Schülern, eine völlige Haftungsbefreiung das richtige Signal für die Erziehung zu eigenverantwortlichem Verhalten im Straßenverkehr ist 462 . Rauscher jun. bemängelt hingegen, dass § 828 Abs. 2 BGB eine Neuregelung nur für den Teilbereich des motorisierten Straßenverkehrs trifft und es für alle anderen Gebiete bei der bisherigen Regelung bleibt 463 . Diametral entgegengesetzt äußert sich Tacke in ihrer 2000 erschienen Diss. Sie verfolgt mit ihrer Arbeit das Ziel, dem berechtigten Interesse des Geschädigten an einem Ersatz seines Schadens verstärkt Aufmerksamkeit zu gewähren. Aufgrund der Entwicklung im französischen Recht sollte nach ihrer Auffassung der Anachronismus des Minderjährigenschutzes in der deutschen Rechtsordnung umgekehrt werden, indem die Interessen des Geschädigten eine stärke Berücksichtigung als bisher erfüh-
V. Der Einfluss des § 828 Abs. 2 BGB auf die Aufsichtspflicht in § 832 Abs. 1 BGB Es ist umstritten, welche Konsequenzen für die Aufsichtshaftung der Eltern nach § 832 BGB aus der Haftungserleichterung in § 828 Abs. 2 BGB zu ziehen sind.
1. Der Meinungsstand Nach M. Schmid sind insbesondere dann, wenn der Aufsichtsbedürftige selbst nach § 828 Abs. 2 BGB i. d. F. v. 01.01.1900 haftet, die Anforderungen an die Aufsichtspflicht herabzusetzen 465. Schiemann spricht sich unter entgegengesetzten Vorzeichen allgemein für dasselbe Haftungsverhältnis zwischen
462 463 464 465
Eisner, ZfS 2000, 233; ders. in 38. VGT (2000), DAR 2000, 108 (109). Rauscher jun., Jura 2002, 577 (581). Tacke, S. 191, 194. M. Schmid, VersR 1982, 822 (823).
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§ 832 BGB und § 828 Abs. 2 BGB i. d. F. v. 01.01.1900 aus. Danach muss mit der Senkung der Anforderungen an die Aufsicht eine Steigerung des Verantwortungsgrades des Minderjährigen nach § 828 Abs. 2 BGB i. d. F. v. 01.01.1900 einhergehen 466. Scheffen hat in der Diskussion um die generelle Anhebung der Deliktsfähigkeit auf zehn Jahre mehrfach als Konsequenz die Einführung einer Gefährdungshaftung der Eltern vorgeschlagen. Danach sollte mit der Reform des § 828 Abs. 1 BGB eine Reform des § 832 BGB Hand in Hand einhergehen. Mit der Haftungsfreistellung des Kindes müssten die Rechte des geschädigten Dritten abgesichert werden. Dazu schlug Scheffen vor, die Elternhaftung entsprechend der Freistellung des Kindes auszuweiten. Die Eltern müssten folglich bis zum 10. Lebensjahr ihres Kindes an dessen Stelle haften und zwar ohne Exkulpationsmöglichkeit 467 . Später forderte Scheffen unter Verweis auf die Rechtslage in den Niederlanden die Haftung aus § 832 BGB noch weiter auszuweiten. Danach sollten Eltern für unerlaubte Handlungen der Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres ohne Exkulpationsmöglichkeit haften 468 . In der Diskussion um die Anhebung der Deliktsfähigkeit von Kindern im Straßenverkehr wurde im Schrifttum hingegen die Einführung einer partiellen Gefahrdungshaftung der Eltern abgelehnt. Nach Pardey ist ein solches Sonderrecht im allgemeinen Straßenverkehr nicht gerechtfertigt, jede Verschärfung der Haftung der Inhaber des Sorgerechts sei daher abzulehnen. Die aufsichtspflichtigen Personen für alle Schäden haften zu lassen, die durch Einwirkungen eines Kindes erwachsen, vertrage sich nicht mit der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung für die Kinder in der Gesellschaft 469. Auch Steffen sprach sich mangels Zurechnungsgrund gegen eine Gefährdungshaftung der Eltern aus. Die angestrebte Anhebung der Deliktsfähigkeit im motorisierten Straßenverkehr beruhe auf der Erkenntnis, dass Kinder den Gefahren des motorisierten Straßenverkehrs erst ab einem bestimmten Alter gewachsen seien. Das elterliche Pflichtenprogramm müsse deshalb dementsprechend verschärft werden, ohne die Aufsichtspflichten im Straßenverkehr dabei überzustrapazieren. So wäre es lebensfremd, von den Eltern die ständige Begleitung ihres 8-jährigen Kindes auf dem Schulweg zu verlangen 470 . Ebenso vertrat der Arbeitskreis III des 38. VGT die Auffassung, die Rechtsprechung zu § 832 BGB müsse sich den neuen Erkenntnissen der physischen und psychischen Fähigkeiten von Kindern im motorisierten Verkehr anschließen. Eine Schadensersatzpflicht der Aufsichtspflichtigen
466
Erman/Schiemann, § 832 Rn. 6.
467
Scheffen, DAR 1991, 121 (124); dies., ZRP 1991, 458 (463).
468
Scheffen, FuR 1993, 82 (88); dies., FS Steffen, S. 387 (392, 397); Scheffen/Pardey, Rn. 677. 469 Pardey, DAR 1998, 1 (2 f); ders., DAR 1997, 243 (245). 470
Steffen,
VersR 1998, 1449 (1451); ders., ZRP 1998, 147 (148).
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2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
bei Verkehrsunfällen ihrer Kinder im Straßenverkehr sei deshalb eher anzunehmen als nach bisheriger Rechtsprechung 471. Haberstroh und Pardey sind der Ansicht, bei einem solchen Ansatz darf die Haftungsverschärfung in § 832 BGB konsequenterweise nur Fälle erfassen, in denen das Kind mangels Deliktsfähigkeit oder Verschuldens nicht einstandspflichtig ist 472 . Nach Auffassung von Pardey ist eine Eingrenzung der Haftungsentlastung bei den Eltern geboten. Damit rückt Pardey von seiner o. g., ursprünglichen Position ab, als er jede Haftungsverschärfung für Eltern ablehnte. Das Anliegen, welches die Entlastung der Kinder zur Haftung bei Unfällen trägt, legitimiere es jedoch nicht, die Aufsichtsschuld auszudehnen. Sachgrund für die Besserstellung der Kinder sei ihre körperliche Benachteiligung gegenüber Erwachsenen, wie ihr anderes Blickfeld, eine längere Reaktionszeit oder die schlechtere Ortung von Geräuschen. Daran änderten aber Erziehung und Aufsicht nichts 473 . In einem späteren Aufsatz Pardeys zum SchadÄndG findet sich hingegen kein Hinweis auf etwaige Auswirkungen der geänderten Eigenhaftung des Minderjährigen auf die Elternhaftung aus § 832 BGB 4 7 4 . Jaeger/Luckey erwarten aufgrund der Gesetzesänderung, dass nunmehr der nicht verursachende Geschädigte vermehrt selbst die Kostenlast zu tragen haben wird, wenn auch eine Haftung der Aufsichtspflichtigen nach § 832 BGB ausscheidet475. Eindeutiger formuliert Buschbell. So bedeute die Neuregelung, dass auch derjenige, der unverschuldet einen Schaden bei einem Straßenverkehrsunfall erleide, diesen im Regelfall, quasi als Teil eines allgemeinen Lebensrisikos, selbst tragen müsse. Die Haftung aus Verletzung der Aufsichtspflicht gemäß § 832 BGB gelte unverändert weiter. Dabei verweist Buschbell auf seine Ausführungen zu § 832 BGB vor der Gesetzesänderung476. Nach Rauscher jun. werden durch § 828 Abs. 2 BGB beträchtliche Haftungslücken entstehen. Da er zur Begründung auf die zurückliegende Rechtsprechung zu § 832 BGB verweist, ergibt sich, dass er ebenfalls nicht von einer Verschärfung der Aufsichtsanforderungen ausgeht. Dabei weist Rauscher jun. aber auch auf die einseitige Risikoverteilung zu Lasten des Kfz-Halters durch die Neuregelung hin. Bei einem durch kindtypische Defizite verursachten Verkehrsunfall werde die Gefahr des Schadenseintritts eindeutig durch das Kind bzw. seine Eltern gesetzt477. Unter dem Prüfpunkt „Verschulden des Aufsichtsbedürftigen" erläu-
471
Bericht aus dem Arbeitskreis III des 38. VGT (2000), DAR 2000, 108 (110). Allgemein: Haberstroh, VersR 2000, 806 (814 f); bezogen auf die Haftungserleichterung im motorisierten Straßenverkehr: Pardey, DAR 2001, 1 (7). 473 Pardey, DAR 2001, 1 (7). 474 Pardey, ZfS 2002, 264 (268). 475 Jaeger/Luckey, MDR 2002, 1168 (1172). 476 Buschbell, § 1 Rn. 3, 6. 477 Rauscher jun., Jura 2002, 577 (581). 472
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tern Belling/Eberl-Borges in ihrer Kommentierung den Normzweck des § 832 BGB. Dieser bestehe gerade darin, die Verantwortlichkeit der Aufsichtspflichtigen zu gewährleisten, wenn die Haftung des Schädigers nach §§ 827, 828 Abs. 1 BGB wegen Deliktsunfähigkeit oder nach § 828 Abs. 2 BGB i. d. F. v. 01.01.1900 wegen fehlender Einsichtsfähigkeit bzw. mangels sorgfaltswidriger Verkennung der Gefährlichkeit der unerlaubten Handlung ausgeschlossen sei 478 . Eine Haftung um jeden Preis ergibt sich aus diesen Ausführung aber ebenso wenig wie eine Verschärfung des Aufsichtsmaßes aufgrund der Einführung des § 828 Abs. 2 BGB 4 7 9 . So findet sich auch in den Kommentierungen von Thomas 480 und Teichmann 481 zu §§ 828 BGB, 832 BGB und dem aktuellen Beitrag von Eggert 482 kein Anhaltspunkt für eine Haftungsverschärfung des § 832 BGB aufgrund der Gesetzesänderung. In der Rechtsprechung hat bisher nur das OLG Hamm in einem Urteil v. 09.06.2000 zu diesem Haftungsverhältnis Stellung bezogen. Demnach sind die aktuellen Empfehlungen des 37. VGT (1999) an den Gesetzgeber, die Haftung von Kindern im Straßenverkehr auf das vollendete 10. Lebensjahr anzuheben, zum Schutz der Kinder gedacht und besagen indes nichts über die Aufsichtspflicht der Eltern. Die Aufsichtspflicht ist nicht auszuweiten, weil das Kind sich mit zunehmendem Alter gerade selbstständig bewähren können muss 483 .
2. Eigene Stellungnahme Den zuletzt genannten Stimmen ist beizupflichten. Die geänderte Eigenhaftung des Aufsichtsbedürftigen in § 828 Abs. 2 BGB hat keinen Einfluss auf das Maß der gebotenen Aufsicht in § 832 BGB. Der entfallende Anspruch des Geschädigten gegen das Kind bis zum Alter von zehn Jahren darf nicht zur Begründung einer Verschärfung der Elternhaftung in § 832 Abs. 1 BGB herangezogen werden. Die fehlende Eigenhaftung des Minderjährigen ist keine Tatbestandsvoraussetzung des § 832 Abs. 1 BGB, d. h., es ist für die Anspruchsentstehung unerheblich, ob der Minderjährige selbst deliktisch haftet 484 . Dabei ist
478
Staudinger/Belling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 51. Auskunft von Belling am 18.12.2002 auf Anfrage des Verfassers. 480 Palandt/77*omas, §§ 828, 832. 481 JauernigITeichmann, §§ 828, 832. 482 Eggert, ZAP Fach 9, S. 647 (654), IV. 483 OLG Hamm OLGR 2000, 266 (268) = NJW-RR 2002, 236 (237 f) v. 09.06.2000. Das Urteil ist auch in MDR 2000, 1373 abgedruckt. Jedoch fehlen dort der entsprechende L und die dazugehörigen Ausführungen in den Entscheidungsgründen. 484 RGZ 50, 60 (65) v. 30.12.1901; 53, 312 (315) v. 19.01.1903; BGH VersR 1954, 558 (559) v. 29.09.1954; BGHZ 111, 282 (284) (= LM Nr. 18 zu § 832 BGB = NJW 1990, 2553 [2554]) v. 29.05.1990; KG MDR 1997, 840 v. 03.03.1997; OLG Celle 479
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aber zwischen verschiedenen Gesichtspunkten zu unterscheiden. Unstreitig ist ein Verschulden des Aufsichtsbedürftigen für die Aufsichtshaftung aus § 832 BGB nicht erforderlich, die Deliktsunfähigkeit daher ohne Bedeutung485. Und nach nahezu einhelliger Auffassung stehen die Haftung der Eltern und die Eigenhaftung des Minderjährigen selbstständig nebeneinander 486. Die Eigenhaftung des Aufsichtsbedürftigen entlastet die Eltern daher nicht. Im Umkehrschluss muss das aber auch heißen, die fehlende Eigenhaftung des Minderjährigen darf die Eltern nicht noch mehr belasten, d. h. nicht automatisch zu einer Aufsichtsverschärfung fuhren. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Normzweck des § 832 BGB. Zwar betonen die Gerichte wiederholt, dass mit § 832 BGB das Risiko, das von den Handlungen von Kindern für unbeteiligte Dritte ausgeht, in erster Linie den Erziehungsberechtigten auferlegt wird 4 8 7 . Über diese Hintertür darf die fehlende Eigenhaftung des Minderjährigen aber nicht in die Bestimmung des Aufsichtsmaßes eingeführt werden. Die Fragen der Deliktsunfähigkeit und der eigenen haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit des Aufsichtsbedürftigen sind für die Anwendung von § 832 BGB ohne Bedeutung 488 . Deshalb ist es systemwidrig, die fehlende Eigenhaftung zur Begründung einer Aufsichtsverschärfung heranzuziehen. Zudem geben die Gesetzesmaterialien für eine solche Vorgehensweise keinen Anhaltspunkt, eher ist das Gegenteil der Fall. In dem von der Bundesregierung an den Bundesrat übersandten Gesetzesentwurf heißt es: Die Folge der Verbesserung der Rechtsstellung von Kindern im Straßenverkehr werde eine vermehrte Kostentragung des anderen Unfallbeteiligten sein. Damit sei die schwierige Frage nach einer inte§ 832 Rn. 51; FamRZ 1998, 233 v. 12.02.1997; Stmidinger/Belling/Eberl-Borges, A. Fuchs, S. 189. 485 Palandt/7720/way, § 832 Rn. 10; StaudingerIBelling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 51; Hk/Staudinger, § 832 Rn. 9; IdMQvmg! Teichmann, § 832 Rn. 5. 486 Wussow/Kuntz, Rn. 540; Hk/Staudinger, § 832 Rn. 9; Scheffen/Pardey, Rn. 229; a. A. Haberstroh, VersR 2000, 806 (815). 487 BGH LM Nr. 15 zu § 832 BGB (= NJW 1984, 2574 [2576]) v. 10.07.1984; LM Nr. 16 zu § 832 BGB (= NJW-RR 1987, 13 [14]) v. 01.07.1986; LM Nr. 18 zu § 832 BGB (= NJW 1990, 2553 [2554]) v. 29.05.1990; LM Nr. 19 zu § 832 BGB (= NJW 1993, 1003) v. 19.01.1993; LM Nr. 20 zu § 832 BGB (= NJW 1995, 3385 [3386]) v. 10.10.1995; BGH LM Nr. 21 zu § 832 BGB (= NJW 1996, 1404) v. 27.02.1996; LM Nr. 22 zu § 832 BGB (= NJW 1997, 2047 [2048]) v. 18.03.1997; OLG Hamm VersR 1998, 722 (723) v. 15.04.1997; OLG München FamRZ 1997, 740 (741) v. 18.06.1996; vgl. 2. Teil § 4 IV 1 a. 488 BGH VersR 1954, 558 (559) v. 29.09.1954; BGHZ 111, 282 (284) (= LM Nr. 18 zu § 832 BGB = NJW 1990, 2553 [2554]) v. 29.05.1990; KG MDR 1997, 840 v. 03.03.1997. Eher missverständlich ist daher auch die Formulierung in RGZ 50, 60 (67) v. 30.12.1901. Danach werde der Aufsichtsbedürftige im Falle des § 832 BGB nicht selten überhaupt nicht deliktsfähig sein. In diesen Fällen habe aber gerade der Aufsichtspflichtige die ihm obliegende Aufsicht gewissenhaft auszuüben und hafte, wenn er dies nicht tue.
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ressengerechten Verteilung der Kostenlast zwischen dem nicht verantwortlichen Schadensverursacher und dem - abgesehen von der gesetzten Betriebsgefahr - nicht verursachenden Geschädigten gestellt. Sie sei grundsätzlich Letzterem zuzuweisen489. Die Begründung der sodann von der Bundesregierung im Bundestag eingebrachten Gesetzesvorlage enthielt wörtlich die vorgenannten Ausführungen 490. Und der Rechtsausschuss des Bundestages erörterte in seinem Bericht und in seiner Beschlussempfehlung die durch das Gesetz entstehenden Kosten nicht 491 . § 828 Abs. 2 BGB hat infolgedessen keine Auswirkungen auf das Maß der gebotenen Aufsicht in § 832 Abs. 1 BGB.
VI. Die Auswirkungen der Reformgedanken zur Minderjährigenhaftung auf § 832 BGB Die Diskussion zu § 828 Abs. 2 BGB a. F. und die Einführung von § 828 Abs. 2 BGB machen deutlich, dass im Deliktsrecht nicht immer dem Interesse des Geschädigten der Vorrang gegenüber dem des Kindes (und seiner Eltern) einzuräumen ist. In Bezug auf Kinder haben sich im Deliktsrecht teilweise die Wertungsgesichtspunkte verschoben. Es wurde in einem Teilbereich die Rechtsposition des Geschädigten grundsätzlich beschnitten und somit eine seit 1900 unverändert bestehende Rechtsposition eingeschränkt. Die Reform der Minderjährigenhaftung hat gezeigt, dass das Deliktsrecht für veränderte gesellschaftliche Verhältnisse offen ist. Der Minderjährige wurde in §§ 1629a BGB, 828 Abs. 2 BGB aufgrund seiner Grundrechte und der veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse in Form des motorisierten Verkehrs haftungsrechtlich privilegiert. Diese Gedanken müssen bei einer künftigen Auslegung von § 832 Abs. 1 BGB beachtet werden. Darüber hinaus wurden in der Diskussion um eine haftungsbegrenzende Auslegung der deliktrechtlichen Minderjährigenhaftung Reformgedanken vertreten, welche ebenfalls für die künftige Auslegung von § 832 BGB von Belang sind. Aufgrund der Kammerentscheidung des BVerfG v. 13.08.1998492 ist § 832 BGB als vorkonstitutionelles Recht einzustufen. Dass ein Fachgericht die Norm als verfassungswidrig verwirft, ist nicht zu erwarten und wäre auch nicht gerechtfertigt. Es kann aufgrund des vorkonstitutionellen Charakters der Vorschrift selbst eine Einschränkung der Elternhaftung aus § 832 Abs. 1 BGB herbeiführen. Aufgrund des hohen Abstraktionsgrades des entscheidenden Tatbestandsmerkmales „Aufsichtspflichtverletzung" in § 832 Abs. 1 BGB kann die 489 490 491 492
BR-Drucks. 742/01, S. 37. BT-Drucks. 14/7752, S. 16. BT-Drucks. 14/8780, S. 2. BVerfG NJW 1998, 3357 v. 13.08.1998 (vgl. 2. Teil § 3 III 2).
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2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
Haftungsbegrenzung durch eine einschränkende Auslegung desselben vorgenommen werden. So kann zur Begründung der haftungsbegrenzenden Auslegung des § 832 BGB die Rechtsfigur der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte herangezogen werden. Goecke begründet die Haftungsreduktion des § 828 Abs. 2 BGB i. d. F. v. 01.01.1900 mittels § 242 BGB in einem weiteren Begründungsstrang mit der Drittwirkung der Grundrechte in das Privatrecht. Er greift dabei auf die Rechtsprechung des BVerfG zurück. Danach muss der Staat bei der Auferlegung privatrechtlicher Verpflichtungen unverhältnismäßige Belastungen des einen gegenüber dem anderen Bürger vermeiden sowie der Gesetzgeber berücksichtigen, dass weder Freiheitsbeschränkung noch Freiheitsschutz in der Wechselbeziehung unverhältnismäßig sein dürfen 493 . Diese Grundrechtsabwägung komme damit der letztlich bei § 242 BGB vorzunehmenden Interessenabwägung gleich. Durch die Auferlegung existenzgefährdender Zahlungspflichten werde das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Minderjährigen erheblich beeinträchtigt. Dies sei nur dann gerechtfertigt, wenn gewichtige Gründe für die Grundrechte des Geschädigten auf Schutz seines Lebens, seiner Gesundheit oder seines Eigentums sprechen. Die Abwägung der beiderseitigen Grundrechte müsse - unter Heranziehung der im Rahmen von § 242 BGB aufgezeigten Umstände - jedenfalls in Fällen existenzbedrohender Schadenshöhen zugunsten des Minderjährigen ausfallen, solange nicht seinerseits dem geschädigten Gläubiger die Existenzgefährdung drohe 494 . Bei einer Übertragung dieser Gedanken zu der Minderjährigenhaftung auf die Elternhaftung ist zu beachten, dass für eine elternfreundlichere Auslegung des § 832 Abs. 1 BGB keine so extensive finanzielle Belastung der Eltern erforderlich ist. Denn im Gegensatz zu den starren §§ 828 Abs. 2 BGB a. F., 828 Abs. 3 BGB handelt es sich bei § 832 Abs. 1 BGB um einen offenen Tatbestand, so dass die Einwirkung der Grundrechte bereits im Rahmen des Tatbestandes über den unbestimmten Rechtsbegriff „Genügen der Aufsichtspflicht" - bzw. der „Aufsichtspflichtverletzung" - möglich ist. Weiterhin kann eine elternfreundlichere Auslegung des § 832 Abs. 1 BGB durch die nachfolgenden Ausführungen des LG Bremen, des BVerfG und des Gesetzgebers legitimiert werden. Das LG Bremen bezeichnete 1991 die Fortgeltung der vom Gesetzgeber des 19. Jahrhunderts bestimmten starren und unbegrenzten deliktsrechtlichen Haftungsmaßstäbe als in Teilbereichen dringend korrekturbedürftig. Die Haftungsmaßstäbe seien rechtshistorisch nur bedingt legitimiert, in ihrem Gerechtigkeitsgehalt auch beim Vergleich mit anderen Rechtsordnungen fragwürdig und hinter der gesellschaftlichen Entwicklung zurückgeblieben. Zudem disharmonierten sie mit Grundrechtsbestimmungen, so u. a. mit Art. 6 Abs. 1 GG, und dem Sozialstaatsprinzip der seit 1949 geltenden 493 494
BVerfGE 57, 361 (388) v. 14.07.1981; 87, 114(148f)v. 23.09.1992. Goecke, NJW 1999, 2305 (2309 f).
§ 3 Die Entwicklung der Minderjährigenhaftung im bürgerlichen Recht
309
Verfassung 495. Das BVerfG habe in seinem Beschluss zu der Frage der Verfassungswidrigkeit von § 828 Abs. 2 BGB a. F. ausdrücklich darauf verwiesen, dass angesichts des beschleunigten Wandels der gesellschaftlichen Verhältnisse eine Norm an die veränderten Verhältnisse angepasst werden müsse. Angesichts der begrenzten Reaktionsmöglichkeiten des Gesetzgebers sei das eine Aufgabe der Rechtsprechung 496. Und der Gesetzgeber selbst sieht im Jahr 2001 manche Grundsatzentscheidung des Schadensersatzrechts nur noch schwer mit den heutigen Verhältnissen und Wertvorstellungen in Übereinstimmung zu bringen. Durch eine entsprechende Auslegung und richterliche Rechtsfortbildung sei es aber möglich, Anpassungen an das geltende Recht vorzunehmen. Dieser Weg stoße jedoch dort an seine Grenzen, wo das Gesetz selbst Entscheidungen vorgebe 497 . Diese vom Gesetzgeber aufgezeigte Grenze der Auslegung ist bei einer einschränkenden Auslegung des Tatbestandsmerkmales „Aufsichtspflichtverletzung" nicht einschlägig. § 832 Abs. 1 BGB enthält nur eine dreifache Umkehr der Beweislast. Eine Tendenz für die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs „Aufsichtspflichtverletzung" - bzw. des „Genügens der Aufsichtspflicht" - gibt die Vorschrift hingegen nicht vor. Auf das Spannungsverhältnis zwischen den veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen und dem nahezu unverändert gebliebenen Recht der unerlaubten Handlung wird auch im Schrifttum hingewiesen. So bezeichnet Kuhlen (1990) das Deliktsrecht des BGB als antiquiert, weil es der sozialen Konzeption und Realität der Kindheit in einer modernen Industriegesellschaft nicht mehr entspreche. Die dem § 828 Abs. 2 BGB i. d. F. v. 01.01.1900 zugrundeliegende Konzeption des 7-jährigen „kleinen Erwachsenen" habe sich weit von der sozialen Realität entfernt. Die moderne Konzeption der Kindheit habe sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts erheblich entwickelt. Sie wurde durch Zurückdrängung der Kinderarbeit sozial generalisiert, durch Verlängerung und verstärkte Praktizierung der Schulpflicht quantitativ ausgeweitet und durch eine enorme und breite Pädagogisierung der Einstellung zu Kindern und Jugendlichen qualitativ intensiviert. A l l das habe dazu geführt, dass Kinder und Jugendliche „sozial jünger" geworden seien 498 . Looschelders, der Kuhlen zustimmt, weist daraufhin, dass mit diesen tatsächlichen Veränderungen in rechtlicher Hinsicht der Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Minderjährigen korrespondiert. Während das Vertragsrecht die persönliche Entfaltungsfreiheit des Minderjährigen nach In-Kraft-Treten des MHbeG in umfassender Weise verwirkliche, sei das Deliktsrecht der Bereich der Rechtsordnung, in welchem der Entfaltungsfreiheit des Minderjährigen die geringste Bedeutung beigemessen
495 496 497 498
LG Bremen, NJW-RR 1991, 1432 (1433 f) v. 15.02.1991. BVerfG NJW 1998, 3357 (3358) v. 13.08.1998. BT-Drucks. 14/7752, S. 11. Kuhlen, JZ 1990, 273 (276 Fn. 43).
310
2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
werde 499 . Dem ist zuzustimmen. Die Entfaltungsfreiheit des Kindes ist im Wesentlichen davon abhängig, welche Anforderungen an das Maß der gebotenen Aufsicht in § 832 Abs. 1 BGB gestellt werden. Die Anforderungen an das gebotene Aufsichtsmaß in § 832 Abs. 1 BGB sind relativ konstant geblieben, so dass der Stellenwert der Entfaltungsfreiheit des Minderjährigen auf dem von 1900 verharrt. Eine maßvolle Senkung des Maßes der gebotenen Aufsicht fuhrt dementsprechend zur Aufwertung der Persönlichkeit des Kindes, die den heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen und Wertvorstellungen sowie dem anzustrebenden Stellenwert des Kindes in unserer Gesellschaft entspricht. Diesen Stellenwert umriss Scheffen in Bezug auf § 828 Abs. 2 BGB i. d. F. v. 01.01.1900 mehrfach. Sie gab 1991 im Hinblick auf die Folgen, die eine Entlastung Minderjähriger mit sich bringt, zu bedenken, dass die durch Kinder und Jugendliche verursachten Schäden auch teilweise zum allgemeinen Lebensrisiko gehören. Eine Gemeinschaft müsse bedenken, dass die wirtschaftliche Basis der Gesamtentwicklung ohne Kinder nicht mehr zu gewährleisten sei. Der Schutz Minderjähriger sei deshalb eine alle betreffende Aufgabe 500 . 1993 knüpfte Scheffen an diese Gedanken an, indem sie darauf hinwies, dass das Großziehen von Kindern und das damit verbundene Risiko nicht allein den Eltern obliege, sondern ein elementares Anliegen der ganzen Gesellschaft sein müsse. Hieran zeige sich, welchen Stellenwert eine Gesellschaft ihren Kindern einräume 501. Bezogen auf die Haftungssituation bei von Kindern verursachten Verkehrsunfällen hatte Scheffen bereits 1987 die Hoffnung geäußert, dass der Schutz der kleinen Kinder weiter ein besonderes Anliegen der Gesellschaft bleibe. Das dem Kindsein immanente Risiko dürfe nicht allein dem Aufsichtspflichtigen oder dem Kind aufgebürdet werden. Denn es sei gerade der Kraftfahrer, der mit seinem Kfz ein außerordentlich hohes Risiko für Leben und Gesundheit der Kinder erwachsen lasse. Von einer kinderfreundlichen Gesellschaft solle man daher erwarten, dass sie dieses Risiko eher auf alle Kraftfahrzeughalter und deren Haftpflichtversicherer verteile, als das betreffende Kind und seine Eltern den Schaden als Verursacher oder Opfer des modernen Straßenverkehrs allein tragen zu lassen502. So sind seit dem In-Kraft-Treten des BGB Gerechtigkeitsdefizite entstanden. Sie gehen jedoch - wie sich aus dem nachfolgenden Kapitel ergibt - über den Bereich des Straßenverkehrs weit hinaus und sind tiefgreifend und umfassend. Auch der wahre Stellenwert eines Kindes wird vom Gesellschaftssystem nicht anerkannt.
499 500 501 502
Looschelders, VersR 1999, 141 (150). Scheffen, DAR 1991, 121 (126). Scheffen, FuR 1993, 82 (89). Scheffen, VersR 1987, 116 (123).
§ 3 Die Entwicklung der Minderjährigenhaftung im bürgerlichen Recht
311
V I I . Zusammenfassung Die Reformgedanken zur deliktsrechtlichen Haftung Minderjähriger lassen sich zu folgenden Stichworten zusammenfassen: Der Wandel der Minderjährigenhaftung kann mit den Grundrechten des Haftenden, der mittelbaren Grundrechtswirkung in das Zivilrecht, den veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen und Wertvorstellungen sowie deren Beachtung bei der Rechtsfortbildung begründet werden. Diese Reformgedanken sind bei einer künftigen Auslegung von § 832 Abs. 1 BGB zu beachten. Sie weisen den Weg für eine anzustrebende Gesetzesänderung dahingehend, die deliktische Aufsichtshaftung der Eltern maßvoll abzusenken.
2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
312
§ 4 Die gesellschaftliche Entwicklung von Ehe und Familie Im Rahmen der Reform der Minderjährigenhaftung haben die Gerichte und das Schrifttum wiederholt auf die notwendige Berücksichtigung der gewandelten gesellschaftlichen Verhältnisse verwiesen. Diese müssen auch bei der Elternhaftung in § 832 BGB berücksichtigt werden. Seit In-Kraft-Treten der Vorschrift sind Gerechtigkeitsdefizite entstanden, weil § 832 BGB auf den gesellschaftlichen Verhältnissen und Vorstellungen der vorindustriellen Zeit beruht. Der Präsident des BVerfG Papier konstatierte am 03.05.2002: „Die Lage der Familie ist schlecht, ... Sie wäre aber noch deprimierender, hätte das Bundesverfassungsgericht nicht immer wieder eingegriffen und die grundgesetzliche Wertentscheidung zur Geltung gebracht 503 ." Und Hahne, die Abteilungsvorsitzende Zivilrecht des 64. DJT, fuhrt in ihrem abschließenden Statement zum 64. DJT 2002 aus: „Seit Schaffung des BGB haben ... die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der Bevölkerung einen erheblichen Wandel erfahren. Ehe und Familie bilden zwar nach wie vor mehrheitlich die tragenden Elemente des sozialen Zusammenlebens. Auch sind nach dem soziologischen Befund das Verantwortungsgefühl innerhalb des familiären Verbandes und das Füreinandereinstehen in tatsächlicher und wirtschaftlicher Hinsicht noch ungebrochen. Andererseits aber nimmt die finanzielle Belastung der so genannten Sandwichgeneration zu, die sich nicht nur den Unterhalts- und Ausbildungskosten ihrer Kinder, sondern in zunehmenden Maße den anstehenden Pflegekosten ihrer immer älter werdenden Eltern ausgesetzt sieht 504 ." Diese gewandelten gesellschaftlichen Verhältnisse verknappt M. Böhmer auf die prägnante Aussage: „Wer früher keine Kinder hatte, war zur Armut verdammt. Heute ist es oft umgekehrt 505 ."
I. Die gesellschaftlichen Verhältnisse bei In-Kraft-Treten des § 832 BGB Großfeld/Mund beschreiben die § 832 BGB zugrundeliegenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wie folgt: Das Leben von Eltern und Kindern war ländlich oder handwerklich geprägt. Wohnung und Arbeitsplatz gingen oft ineinander über, so dass die Kinder neben den arbeitenden Eltern oder unter der Aufsicht von Hilfspersonal oder unverheirateten Familienmitgliedern spielten. Zudem arbeiteten die Kinder schon früh unter den Augen ihrer Eltern mit. Die 503
FAZ v. 04.05.2002, S. 4; Papier, NJW 2002, 2129. Hahne, NJW-Doku NJW 2002, H 42, XXVIII. 505 M. Böhmer, PM Nr. 394, September 2002, S. 5 (7); ebenso der ehemalige Bundesverfassungsrichter Kirchhof, Magdeburger Volksstimme v. 05.08.2002, S. 4. 504
§ 4 Die gesellschaftliche Entwicklung der Familie
313
Aufsicht war so kein Problem, nur selten konnte Schlimmes passieren. Des Weiteren sicherten die Kinder die Altersversorgung ihrer Eltern. Darin bestand der Vorteil, den die Eltern aus ihren Kindern zogen und der durch die Schadensersatzpflicht aus § 832 Abs. 1 BGB ausgeglichen werden sollte 506 . Die Familie war ein tragendes Bauelement des vorindustriellen Sozialgefüges im 18. und 19. Jahrhundert. Sie bildete nicht nur eine soziale Einheit, sondern auch eine rechtliche, politische und insbesondere wirtschaftliche Einheit, die primär für die Selbstversorgung produzierte 507. Bis in das 19. Jahrhundert hinein stellte die vorindustrielle Gesellschaft für mehr als 90% der Bevölkerung eine kleine Welt von Dörfern, Marktgenossenschaften und Gutshöfen dar. Die Wirtschaftsweise vollzog sich - zumindest außerhalb der Städte - weitgehend als Subsistenzwirtschaft, d. h. mit dem Ziel möglichst vollständiger Selbstversorgung kleinerer Wirtschaftseinheiten (Haus-, Guts-, Dorfwirtschaft). Unter diesen Bedingungen der Selbstversorgung waren neben dem Gutshof vor allem Verwandtschaftsgruppen die gesellschaftlichen Gebilde, welche die Fülle der zum Leben notwendigen Funktionen (Produktion, Erziehung) trugen, und der familiäre Großhaushalt war in den mittleren und höheren Schichten wahrscheinlich recht weit verbreitet. Im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts wurde diese Grundstruktur der vorindustriellen Gesellschaft mehr und mehr zerstört 508 ; dieser Struktur- und Funktionswandel der Familie war aber ein langfristiger und vielschichtiger Vorgang 509 . Die vorindustrielle Großfamilie besaß 506
Großfeld/Mund, FamRZ 1994, 1504 (1505, 1508). Geißler (S. 43 f) beschreibt Struktur und Funktion der Familie vor dem Wandel der ständischen Gesellschaft zur Industriegesellschaft im 19. Jahrhundert wie folgt: Die erweiterte Drei-Generationen-Familie, bei der Großeltern, Eltern und Kinder zusammen mit dem Dienstpersonal oder den Gesellen und Lehrlingen unter einem Dach wohnten, entwickelte sich nur dort, wo es die ökonomischen Bedingungen zuließen oder sinnvoll machten: bei ertragskräftigen Bauern, Handwerkern und Kaufleuten. Bei den verarmten Kleinbauern, proletaroiden Handwerkern und Kleinhändlern sowie bei den unteren Schichten der Landarbeiter, Heimarbeiter und Tagelöhner fehlten dazu die materiellen Voraussetzungen. Große Teile der Bevölkerung waren gezwungen, ohne eigene Familie zu leben; dem Gesinde, den Lehrlingen und Gesellen war die Heirat rechtlich untersagt, anderen verelendeten Gruppen mangelte es an den erforderlichen finanziellen Mitteln zum Aufbau einer Familie. Auch im gutgehenden städtischen Handwerk und im Kleinhandel hatten sich vorindustrielle Familienbetriebe herausgebildet, die mit ihrer Einheit von Werkstatt und Wohnung und mit der Aufnahme von Gesellen und Lehrlingen in den Familienverband dem skizzierten Typ der Bauernfamilie strukturell ähnlich waren. 507 Geißler, S. 42. 508 Neidhardt, S. 28, 30. So arbeiteten im Jahr 1860 nur 7% der preußischen Erwerbstätigen in Fabriken oder im Bergbau; die Industriearbeiterschaft - mit der einhergehenden Trennung von Arbeits- und Wohnstätte - war erst noch eine im Entstehen begriffene Gruppe. Im Zuge der Hochindustrialisierung schwoll diese Schicht stark an. Zwischen 1882 und 1907 verdoppelte sich die Zahl der Arbeiter in Industrie und Gewerbe und umfasste sodann 22% der Erwerbstätigen {Geißler, S. 36). 509 Geißler, S. 43.
3 1 4 2 . Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
somit im ausgehenden 19. Jahrhundert - zumindest noch teilweise - die gesellschaftliche Funktion einer Wirtschaftseinheit; die Familie war ein viel engerer wirtschaftlicher Verband als heute, von dem alle Mitglieder abhingen. Wirtschaftliche Basis war in der geringeren Anzahl der Fälle das Familienvermögen, sodann die Produktionsgemeinschaft der Ehegatten, z. B. im bäuerlichen Betrieb und im Übrigen die Berufsarbeit des Vaters als des typischerweise einzigen Ernährers 510. Kaufmann misst den Kindern in der vor- und frühindustriellen Zeit einen doppelten ökonomischen Nutzen für ihre Eltern bei. Sie leisteten in jungen Jahren zunächst durch Kinderarbeit einen Beitrag für das Haushaltsbudget, um als Erwachsene die Altersversorgung ihrer Eltern zu sichern 511 . So bezeichnet Schwarz die Kinder um 1900 als billige Arbeitskräfte und als Garant dafür, dass die Eltern in Not, Krankheit und Alter versorgt wurden 512 . Das sind auch für Geißler die damaligen Motive für hohe Kinderzahlen 513 . Borchert charakterisiert die Ende des 19. Jahrhunderts in ¡Stadt und Land vorherrschende Mehrgenerationenfamilie als kollektiven Unterhaltsverband. Diese kollektiven Unterhaltsverbände, die auch das Gesinde miteinbezogen, waren die Sicherungsinstitutionen für die Wechselfälle des Lebens und sorgten ebenso für Erziehung wie für Alterssicherung. In ihnen kam die Funktion und Bedeutung von Kindern unmittelbar zum Ausdruck. Die mittlere Generation sorgte solange für die Kinder, wie diese noch nicht in den Wirtschaftsprozess einbezogen waren. Damit sicherte sie sich zugleich ihre eigene Sicherung im späteren Krankheits- bzw. Altersfall. Zwischen den Generationen waren die Beziehungen in diesen Unterhaltsverbänden nach Borchert vollkommen wechselseitig ausgestaltet. Wer sich nicht am Aufziehen der Kinder beteiligte, hatte im Alter niemanden, der ihm Unterhalt leistete. Hingegen hatte der, der für viele Kinder sorgte, dafür entsprechend seiner Vorsorgeleistung um so größere Aussichten, im Alter versorgt zu sein 514 . Die große Haushaltsfamilie, als Produktions-, Arbeits- und Lebenseinheit ökonomische Grundeinheit der vorindustriellen Gesellschaft, bildete somit das ursprüngliche Leitbild des BGB bei seinem InKraft-Treten 515 .
510
Horn, NJW 2000, 40 (42 f). Kaufmann, FamRZ 1995, 129 (132). 512 Schwarz, ZfBW 1999, 229 (243). 513 Geißler, S. 57. 514 Borchert, FuR 1990, 78 (79 f). 515 HVerfRJZeidler, 1. A., S. 559. Zeidler (a. a. O., S. 559 f) selbst sieht dieses Leitbild bei dem In-Kraft-Treten des BGB als von der sozialen Wirklicht überholt an. So zeige sich in der bürgerlichen Kleinfamilie, dass sich das Famifienrecht zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Anfang an in einem Rückstand zu der Wirklichkeit befand. Auch nach Meinung von Lüderitz (Rn. 49) und Schwab (Rn. 5) dominiert die Großfamilie als Wirtschaftseinheit die Hausverfassung (nur) bis in das 19. Jahrhundert. 511
§ 4 Die gesellschaftliche Entwicklung der Familie
315
II. Die gesellschaftlichen Verhältnisse im Jahr 2003 Kinder zu bekommen ist heute nicht mehr selbstverständlich. Hatte 1900 noch fast jedes zweite Ehepaar (47%) vier oder mehr Kinder, war es 70 Jahre später nach Aussage von v. Campenhausen nur noch bei jeder zwanzigsten Familie so 516 . Im Jahr 2001 zogen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes lediglich 5,5% der Ehepaare drei Kinder und nur 1,6% der Ehepaare vier oder mehr Kinder auf. 20,70% lebten mit zwei Kindern und 22,85% mit einem Kind. Mit 49,35% war knapp die Hälfte der Ehepaare kinderlos 517 . Damit sind die Zeiten der kinderreichen Familien nicht nur vorbei, sondern es besteht eine steigende Tendenz zur kinderlosen Ehe. Insgesamt hat sich heute bei den Familien die 1-Kind-Familie durchgesetzt. Von den 12,7 Mio. Familien in Deutschland hatten - nach einer im Februar 2003 veröffentlichten Statistik des Statistischen Bundesamtes - 50,5% nur ein Kind. In 37,1% der Familien lebten zwei Kinder. Lediglich in 9,6% der Familien wuchsen drei Kinder auf. Nur noch in 2,8% der Familien in Deutschland lebten vier oder mehr Kinder 518 . Bei InKraft-Treten des BGB 1900 wurden von jeder Frau durchschnittlich vier Kinder geboren 519. Heute liegt das Geburtenniveau in Deutschland stabil niedrig bei 1,4 Kinder je Frau 520 . Der demographische Gleichgewichtswert von 2,1 Kindern je Frau 521 wird damit deutlich verfehlt. Auf zwei geborene Kinder kam in den achtziger Jahren nach v. Campenhausen eine Abtreibung 522 . Blieben 1962 nur 10% der Paare lebenslang kinderlos, sind es heute fast 40% 523 . Das ist u. a. eine Reaktion der Familien auf die derzeitigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. So hat die Bevölkerungsentwicklung in den neuen Bundesländern in den Jahren nach der Wiedervereinigung gezeigt, wie sehr grundsätzlich eine Bevölkerung in der Lage ist, auf veränderte wirtschaftliche und soziale Verhältnisse zu reagieren 524. Die Geburtenzahl ging im Beitrittsgebiet nach 1990 drastisch zurück. Gemessen an der Zahl der Neugeborenen von 1990 betrug sie 1991 60,4%, 1992 49,5%, 1993 45,1% und am Tiefpunkt 1994 nur 5.6
v. Campenhausen, VVDStRL 45, 7 (9). Die Welt v. 26.05.2001, S. 4, Quelle: Statistisches Bundesamt. 518 FOCUS v. 09.02.2003, Nr. 9/2003, S. 15, Quelle: Statistisches Bundesamt. 519 Höhn, ZfBW 2000, 375 (379). Zu beachten ist aber, dass 1900 im Reichsgebiet 23% der neugeborenen Knaben und 20% der Mädchen im ersten Lebensjahr starben. Heute trifft dieses Schicksal nur noch 0,5% der Neugeborenen (Schwarz, ZfBW 1999, 229 [233]). 520 Roloff/Schwarz, ZfBW 2002, 3; Höhn, ZfBW 2000, 375 (379). In Frankreich (1,88), den Niederlanden (1,72) und Dänemark (1,77) liegen die Vergleichswerte hingegen deutlich höher (Die Welt v. 07.06.2003, S. 10). 521 Schwarz, ZfBW 1999, 229 (235). 522 v. Campenhausen, VVDStRL 45, 7 (8). 523 van hier, PM Nr. 394, September 2002, S. 41 (42). 524 Geißler, S. 56; Kaufmann, FamRZ 1995, 129 (130). 5.7
3 1 6 2 . Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
noch 44,1% 525 . Danach stieg die Geburtenrate kontinuierlich an und erreichte 2000 wieder 62,3% 526 . Mitverantwortlich für diesen Geburtenknick ist jedoch auch die drastische Abwanderung junger Menschen in die alten Bundesländer. 104 Jahre nach In-Kraft-Treten des § 832 BGB haben sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für Familien und Kinder grundlegend gewandelt. Das Leben und die Umwelt von Eltern und Kindern beschreiben Großfeld/Mund 1994 so: Heute sind Wohn- und Arbeitsplatz von Eltern und Kindern getrennt; die Welt der Familie und die Berufswelt fallen gewollt auseinander. Aufgrund des steigenden Verkehrs, der sich ausdehnenden Besiedelung und der Verstädterung können sich die Kinder immer weniger auf Grün- und Spielflächen zurückziehen. Wegen der größeren Entfernungen müssen Kinder häufig mit Fahrrad oder Bus zum Kindergarten und zur Schule fahren. Im Straßenverkehr können Kinder hohe Schäden verursachen. Auch die Rolle von Frau und Mutter hat sich verändert, da Mütter oft außerhäuslich berufstätig sind. So besteht eine Doppelbelastung für die Mütter, die auch durch außerhäusliche Kinderbetreuung und Haushaltshilfen nicht ausgeglichen wird 5 2 7 . Lecheler 528 (1986) und Kaufmann (1995) weisen auf die schlechte Wohnungssituation für Familien hin. So hätten sich die Chancen junger Paare, eine für das Erziehen von Kindern geeignete Wohnung zu finden, im letzten Jahrzehnt drastisch verschlechtert 529. Der Einfluss der Eltern auf ihr Kind ist angesichts der veränderten Umwelt relativ gering, jedenfalls geringer als es sich der Gesetzgeber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorstellte. So liegt heute die Gestaltung des Tagesablaufes des Kindes nur bedingt in den Händen der Eltern 530 , die Kinder sind häufig allein und stehen nicht mehr unter Beobachtung und Obhut älterer Familienmitglieder 531 . Zudem wird die Kleinfamilie immer mehr auseinandergerissen, da die Familienmitglieder nur noch sehr wenige Stunden am Tag zusammen sind 532 . Weiterhin tragen ein Autoritätsschwund der Eltern und eine frühere Persönlichkeitsentwicklung der Jugend zu geringeren Einwirkungsmöglichkeiten der Eltern bei, was die Aufsichtsführung zusätzlich erschwert 533. Insgesamt werden die heutigen Lebensbedingungen als kinder525
Die Berechnung erfolgte anhand der Angaben aus: Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Erwerbstätigkeit, S. 44. 526 Die Berechnung erfolgte anhand der Angaben aus: Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Erwerbstätigkeit, S. 44 sowie BMFSFJ, S. 71, Quelle: Statistisches Bundesamt. 527 Großfeld/Mund, FamRZ 1994, 1504 (1505). 528 Lecheler, DVB1 1986, 905 (908). 529 Kaufmann, FamRZ 1995, 129(135). 530 Großfeld/Mund, FamRZ 1994, 1504 (1508). 531 Schoof S. 42. 532 A.Fuchs, S. 317. 533 Deerberg, S. 17.
§ 4 Die gesellschaftliche Entwicklung der Familie
317
feindlich charakterisiert. Die Kinder haben häufig weite Schulwege, wodurch sie verstärkt am Straßenverkehr teilnehmen müssen534. Die technisierte Umwelt des Kindes hält dabei für die Eltern qualitativ und quantitativ völlig andere Haftungsrisiken bereit als noch 1900. Damals war - wie dargestellt - der typische Schadensfall, dass ein Minderjähriger einen Dritten mit einer Waffe oder einem gefährlichen Gegenstand verletzte 535 . Heute liegt der Schwerpunkt der (veröffentlichten) Urteile bei Schadensfällen im Straßenverkehr oder Brandschäden. Der heutige, hochmotorisierte und sehr viel schnellere Straßenverkehr ist mit dem von 1900 nicht zu vergleichen 536 ; er bricht vielmehr brutal in die Welt des Kindes ein. Denn der kindliche Erprobungsdrang steht in einem diametralen Gegensatz zu den erforderlichen Verkehrsregeln und -anforderungen 537 ; jedoch können die Eltern das Verhalten ihrer Kinder im Straßenverkehr immer weniger steuern 538. Dabei kann eine minimale Unaufmerksamkeit des Kindes im heutigen Straßenverkehr zu einem Millionenschaden führen, so z. B. zum rund um die Uhr zu betreuenden Pflegefall, zur Massenkarambolage oder zur Umweltkatastrophe durch die Havarie eines Gefahrguttransporters 539. Und bei Brandschäden gehen die streitgegenständlichen Schadenshöhen häufig weit über 25.000 EUR hinaus 540 . Die durch Kinder verursachten Schäden sind so in Größenordnungen geraten, welche die Fähigkeit der Eltern zur Ersatzleistung leicht übersteigen können 541 .
534
Schoof, S. 42. Vgl. 1. Teil § 3 I; ähnlich A. Fuchs, S. 223. 536 Scheffen, FS Steffen, S. 387 (388). 537 Scheffen, FuR 1993, 82. 538 Pardey, DAR 1997, 243 (245). 539 Steffen, VersR 1998, 1449 (1451). 540 OLG Jena OLGR-NL 2002, 381 v. 29.11.2000: 1,5 Mio. DM; BGH LM Nr. 22 zu § 832 BGB (= NJW 1997, 2047) v. 18.03.1997: 507.000 DM; LM Nr. 21 zu § 832 BGB (= NJW 1996, 1404) v. 27.02.1996: 431.000 DM; LM Nr. 18 zu § 832 BGB (= NJW 1990, 2553) v. 29.05.1990: 200.000 DM; Nr. 15 zu § 832 BGB (= NJW 1984, 2574) v. 10.07.1984: 132.000 DM; LM Nr. 20 zu § 832 BGB (= NJW 1995, 3385) v. 10.10.1995: über 100.000 DM; LM Nr. 19 zu § 832 BGB (= NJW 1993, 1003) v. 19.01.1993: 92.000 DM; LM Nr. 16 zu § 832 BGB (= NJW-RR 1987, 13) v. 01.07.1986: 66.000 DM; OLG Düsseldorf VersR 1992, 321 v. 14.09.1990: 120.000 DM; VersR 1992, 310 v. 23.11.1990: 58.000 DM; OLG Karlsruhe VersR 1985, 599 v. 14.03.1984: 64.000 DM; OLG Oldenburg FamRZ 1994, 833 v. 19.10.1993: 64.000 DM. 541 Deerberg, S. 112. 535
2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
318
III. Die Ursachen für die heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse 1. Das soziale Sicherungssystem a) Die Kollektivierung der Altersversorgung Der Übergang zu der heutigen Kernfamilie, bestehend aus Eltern und Kind, war mit einem Funktionsverlust für die Familie verbunden. Mit der fortschreitenden Industrialisierung zerfiel die Wirtschafts- und Sicherungsgemeinschaft. Durch die Trennung von Wohn- und Arbeitsplatz verlor die Familie ihre Funktion als Produktionsgemeinschaft 542. Borchert nennt Landflucht, Verstädterung und soziale Entwurzelung als Stichworte, die diesen Vorgang aus gesamtgesellschaftlicher Betrachtung umschreiben. Die Auflösung der Familienverbände führte dazu, dass die Sicherungs- und Fürsorgefunktion von der verbleibenden Kernfamilie nicht mehr wahrgenommen werden konnte. Sie wurde weitgehend von der öffentlichen Hand übernommen, wobei für den Bereich der Altersversorgung die Errichtung der Arbeiterrentenversicherung im Jahr 1889 den Ausgangspunkt dieser Entwicklung bildete 543 . Bis zur Rentenreform im Jahr 1957 waren die Rentenleistungen nach Borchert aber nur Zuschüsse zum Lebensunterhalt, die eine überwiegend familiäre Absicherung stillschweigend voraussetzten. So betrug die Rente eines Arbeiters 1891 nur 16% und 1955 nur 22% des durchschnittlichen Arbeitsentgeltes. Die intergenerationelle Solidarität war noch deutlich familiär ausgeprägt, was auch die Bedeutung der Kindererziehung für die Alterssicherung entsprechend hervortreten ließ. Durch die Einführung des Umlageverfahrens kehrte die Rentenreform 1957 die Problematik der Altersarmut um. Das Alterssicherungsniveau wurde an das Einkommensniveau des Erwerbstätigen gekoppelt, das sogenannte Nettorentenniveau schnellte sofort auf 66% hoch. Seitdem sind die Kinderlosen mit ununterbrochenen Erwerbskarrieren voll versorgt, während die nichterwerbstätigen Mütter auf den Unterhalt durch Ehegatten und Kinder bzw. auf die Witwenrente als Unterhaltsersatz angewiesen sind 544 . Die Alterslast wurde so kollektiviert, die Kinderlast blieb Privatsache 545. Das Rentenrecht als vergesellschaftete Altersversorgung behandelt Kinderlose und Kindererziehende gleich. Es bestraft die nicht (durchgängig) berufstätige Mutter, indem sie selbst keine oder nur eine geringere Altersversorgung bekommt, obgleich die von ihr großgezogenen Kinder als künftige Beitragszahler zur Stabilisierung und Aufrechterhaltung
542
Rn. 1. 543
Gernhuber/Coester-Waltjen,
§ 1 I 3; Lecheler, DVB1 1986, 905 (909); Schlüter,
Borchert, FuR 1990, 78 (80). Borchert, FuR 1990, 78 (81); ders., PM Nr. 394, September 2002, S. 19 (24 f). 545 HVerfRIE. M. v. Münch, § 9 Rn. 37; v. Campenhausen, VVDStRL 45, 7 (43); Borchert, FuR 1990, 78 (84). 544
§ 4 Die gesellschaftliche Entwicklung der Familie
319
des Sicherungssystems beitragen. Die Kinderlosen bauen so ihre Zukunft auf den Kinder der anderen auf 646 . Hingegen wird die Bedeutung der Leistung der Familie für den Fortbestand der Gesellschaft hartnäckig geleugnet. Vielmehr wird sie dafür benachteiligt. Dieser Strukturfehler bewirkt, dass Familien mit Kindern eindeutig zu Gunsten von kinderlosen Menschen benachteiligt werden. Denn in Deutschland macht das Paar, das auf Kinder verzichtet, nach Meinung von Adam gleich drei Mal ein gutes Geschäft: Es erhöht seine Aussicht, zwei Einkommen statt nur eines zu erzielen; es braucht dieses doppelte Einkommen mit keinen weiteren Personen zu teilen; und es wird für so viel eigennütziges Verhalten von der Sozialbürokratie mit Versorgungsansprüchen belohnt, von denen eine Mutter nur träumen kann 547 . Der deutsche Sozialstaat gräbt sich so nach Meinung von Adam selbst das Wasser ab, indem er sich mit den Kindern von heute der Beitragszahler von morgen beraubt 548 . So wird der Altersquotient der deutschen Gesellschaft zwischen 2010 und 2030 sprunghaft ansteigen. Diese Kennzahl beziffert das Verhältnis der Rentner über 60 zu den Erwerbsfähigen im Alter zwischen 20 und 59 Jahren. Im Jahr 2003 liegt der Altersquotient nach Angaben und Berechnungen des Statistischen Bundesamtes bei 44, d. h. 100 Menschen im erwerbsfähigen Alter stehen 44 Rentnern gegenüber. Bis 2010 wird der Altersquotient auf 46 ansteigen, im Jahr 2020 wird er schon bei 54,8 liegen, um von 70,9 im Jahr 2030 auf 78,0 2050 zu steigen549.
b) Die Konsequenzen für die Eltern Aufgrund der geänderten Lebensbedingungen haben die Eltern von ihren Kindern in materieller Hinsicht nicht mehr viel zu erwarten. Diese arbeiten kaum noch auf dem Hof oder im Handwerksbetrieb mit, bessern selten die Haushaltskasse mit Geld auf, welches sie außerhalb des Hauses verdienen, und tragen nur selten zur Altersversorgung ihrer Eltern bei 550 . Zudem werden die Ausbildungszeiten junger Menschen immer länger. Die spätere Unterhaltspflicht der Kinder gegenüber ihren betagten Eltern muss als Kompensation außer Betracht bleiben. Denn der Mindestunterhalt wird den Eltern in jedem Fall durch die Sozialhilfe gewährt. Nur im Verhältnis Sozialhilfeträger/unter-
546
v. Campenhausen, VVDStRL 45, 7 (42 0; Sachs/Schmitt-Kammler, Art. 6 Rn. 41. Adam, Die Welt v. 03.04.2003, S. 9. 548 Adam, Die Welt v. 21.11.2002, S. 2. 549 Die Welt v. 07.06.2003, S. 1, 10, Quelle: Statistisches Bundesamt. Noch dramatischer fällt der Altersquotient nach Angaben des Instituts für Bevölkerungsforschung aus. Er lag danach im Jahr 2000 bei 43 und wird nach den heutigen Berechnungen 2030 auf 88 und im Jahr 2050 auf 104 steigen (Institut für Bevölkerungsforschung, FOCUS v. 06.01.2003, Nr. 2/2003, S. 88). 550 Dieckmann, AcP 178 (1978), 298 (301). 547
3 2 0 2 . Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
haltpflichtiges erwachsenes Kind ist es von Belang, in welcher Höhe der Elternunterhalt vom Kind geschuldet wird. Dabei muss der Unterhaltspflichtige nur die Hälfte des Einkommens, das seinen Mindestselbstbehalt nach den Unterhaltstabellen übersteigt, für den Elternunterhalt einsetzen551. Die Eltern erhalten auch keinen nennenswerten finanziellen Ausgleich durch den Familienlastenausgleich (Steuer-, Renten-, Sozialrecht), der die besonderen Leistungen der Familie bei der Kindererziehung ausgleichen soll. Borchert und E. M. v. Münch haben die Äußerungen der einschlägig befassten Fachleute zu der transferrechtlichen Situation zusammengefasst. Danach charakterisieren Experten den Familienlastenausgleich mit Begriffen wie „Ungeheuerlichkeit", „soziales Chaos", „Umverteilungssystem von äußerster Asozialität", „himmelschreiendes Unrecht", „Wechselreiterei zu Lasten der neuen Generation", „Generationsbetrug", „Frondienst der Familien", „sozialpolitisches Desaster" und „verfassungsrechtlicher GAU", der völlig ungeeignet sei, um Familienleistungen auszugleichen552. So müssen nach Auffassung von Lecheler drei viertel der durch Kinder verursachten Mehrausgaben von den Eltern selbst aufgebracht werden 553 . Ruland bezeichnete 1986 den Familienlastenausgleich durch Kinderund Erziehungsgeld, Erziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung und ähnliche Leistungen lediglich als „Anerkennung" 554 . Und Borchert kam 1990 zu dem Ergebnis, dass kein Ausgleich der materiellen Familienlasten nachweisbar sei, nicht einmal eine nennenswerte Milderung derselben 555. Auch das staatliche Kindergeld ist kaum geeignet, eine spürbare Entlastung der Eltern zu bewirken. Trotzdem nahm die Bundesregierung in der 14. Legislaturperiode dritte und weitere Kinder von der Kindergelderhöhung aus 556 . Ein Kind zu haben, ist deshalb in Deutschland zum Armutsrisiko Nummer eins geworden 557 . Kind zu sein und Kinder zu haben ist damit in einer der reichsten Gesellschaften der Welt der sicherste Weg in die relative Armut 5 5 8 . So schreibt Eichenhofer in seinem sozialrechtlichen Teilgutachten zum 64. DJT 2002: „Gegenwärtig sind unter den Armen Kinder und Alleinerziehende am stärksten vertreten. Auch kinderreiche Erwerbstätige sind vom Armutsrisko überdurchschnittlich betroffen. Eltern sehen sich durch den Unterhalt ihrer Kinder wie wachsende Anforderungen für die Finanzierung sozialer Sicherheit zunehmend
551
BGHZ 154, 247 (259) (= NJW 2003, 2306[2309]) v. 19.03.2003. Borchert, FuR 1992, 88; HVerfRIE. M. v. Münch, § 9 Rn. 35. 553 HStR VI/Lecheler, § 133 Rn. 67. 554 Ruland, NDV 1986, 164 (168). 555 Borchert, FuR 1990, 78 (86). 556 M. Böhmer, PM Nr. 394, September 2002, S. 5 (8). 557 Kirchhof, Magdeburger Volksstimme v. 05.08.2002, S. 4. 558 Adam, Die Welt v. 03.04.2003, S. 9; ders., Die Welt v. 04.02.2002, S. 4; v. Campenhausen, VVDStRL 45, 7 (49). 552
321
§ 4 Die gesellschaftliche Entwicklung der Familie
in die Enge getrieben 559 ." Die nachfolgende Tabelle signalisiert deutlich, dass das Armutsrisiko der Familien mit steigender Kinderzahl wächst.
Tabelle 3 Anteil der in relativer Einkommensarmut lebenden Bevölkerung nach Haushaltstypen, 2000560 Typ des Privathaushalts, in der Bevölkerung in relativer Einkommesarmut50 nach Haushaltstyp, 2000, in % die Person lebt Deutschland
Neue Bundesländer
Insgesamt
9,1
11,7
Single-Haushalte
6,6
9,4
Paarhaushalte ohne Kinder
3,7
4,5
Paarhaushalte mit minderjährigen Kindernb)
11,9
15,2
Ein-Eltern-Haushalte
30,6
42,6
Elternhaushalte mit erwachsenen Kindern
8,9
7,5
Anteil der Bevölkerung in Privathaushalten mit einem bedarfsgewichteten Pro-Kopf-Einkommen von weniger als der Hälfte des nationalen Durchschnitts. Paare = Ehepaare und nichteheliche Lebensgemeinschaften, Kinder = Kinder unter 18 Jahren.
Am Jahresende 2000 haben in Deutschland 24% der Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern Sozialhilfe erhalten. Von den Alleinerziehenden mit drei und mehr Kindern waren 42,7% Sozialhilfeempfänger. Demgegenüber betrug die Empfängerquote bei den Ehepaaren mit einem oder zwei Kindern 1,5%, bei den Ehepaaren mit drei oder mehr Kindern 4,1% 561 . Aus der sich anschließenden Tabelle ergeben sich die Konsumausgaben privater Haushalte für
559 560 561
Eichenkofen NJW-Beil 23/2002, 6. BMFSFJ, S. 154, Quelle: Statistisches Bundesamt. BMFSFJ, S. 156, Quelle: Statistisches Bundesamt.
3 2 2 2 . Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
Kinder im Jahre 1998. Daraus wird deutlich, wie sehr das Haushaltsnettoeinkommen durch kindbezogene Konsumausgaben belastet wird.
Tabelle 4 Haushaltseinkommen und Konsumausgaben privater Hauhalte für Kinder nach Haushaltstypen, 1998562 Haushaltstyp
Kindbezogene Konsumausgaben des Haushaltsnettoeinkommens, in % Deutschland
Alte Bundesländer und WestBerlin
Paare ohne Kinda)
Neue Bundesländer und OstBerlin —
Alleinerziehende mit einem Kindb)
31,5
30,7
34,1
Alleinerziehende mit zwei Kindernb)
41,5
40,8
43,7
Paare mit einem Kind b)
16,4
15,9
18,3
Paare mit zwei Kindernb)
24,4
24,1
26,9
Paare mit drei Kindern^
30,7
30,5
35,9
a) Haupteinkommensbezieher(in) unter 50 Jahren. Ledige Kinder unter 18 Jahren.
Auch wenn sich die Familie als privater Lebensbereich von Eltern und Kindern nicht allein auf ökonomische Belastungen reduzieren lässt, können die familiären Belastungen nicht allein durch den Hinweis auf das Glück der Elternschaft aufgewogen werden. Der besondere Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG soll
562
BMFSFJ, S. 265, Quelle: Statistisches Bundesamt (Ohne Haushalte mit einem monatlichen Nettoeinkommen von 17.895,00 EUR (= 35.000,00 DM) und mehr und ohne Personen in Anstalten und Gemeinschaftsunterkünften).
§ 4 Die gesellschaftliche Entwicklung der Familie
323
gerade diesen privaten Lebensbereich sichern, und dazu gehört vor allem auch die Sicherung des ökonomischen Rahmens563.
c) Die Korrekturen durch das BVerfG Deshalb hat das BVerfG immer wieder korrigierend eingegriffen und dem Gesetzgeber eine Reihe von Gesetzgebungsaufträgen erteilt. So untersagte das BVerfG dem Gesetzgeber in dem Kindergeld-Beschluss 564 v. 29.05.1990 bzw. im Kinderfreibetrags-Beschluss 565 v. 12.06.1990 die Besteuerung des familiären Existenzminimums. Dabei bezog es aber den strukturellen Mangel des Rentenversicherungssystems ausdrücklich nicht mit ein, weil insofern nach Ansicht des Senats keine sachliche Beziehung bestand566. Im Beschluss vom 10.11.1998 präzisierte und erweiterte das Gericht seine Rechtsprechung zum familiären Existenzminimum im Einkommenssteuerrecht. Danach muss der Bedarf fiir die Kinderbetreuung steuerlich unbelastet bleiben, ohne dass danach unterschieden werden dürfe, ob die Eltern das Kind persönlich betreuen oder eine Fremdbetreuung in Anspruch nehmen. Aus Art. 6 Abs. 1 GG ergebe sich die Pflicht des Staates, die von den Eltern im Dienst des Kindeswohls getroffene Entscheidung für die Art des Kindeswohls anzuerkennen, ohne daran nachteilige Rechtsfolgen zu knüpfen 567 . Im Trümmerfrauen-Urteil v. 07.07.1992 betonte das BVerfG, dass die Kindererziehung für die Rentenversicherung bestandssichernde Bedeutung habe. Deshalb sei es mit der Verfassung nicht vereinbar, dass diejenigen, die durch Kindererziehung dazu beitragen würden, dass später die Rentenkassen gefüllt werden, weit weniger Rentenansprüche erzielten, als diejenigen, die keine Kinder erziehen würden. Die Kindererziehung sei zwar, neben der Zahlung von Rentenversicherungsbeiträgen, nur eine der beiden Leistungen für das Rentensystem und könne nicht sogleich wieder in Form von Rentenzahlungen an die ältere Generation ausgeschüttet werden. Trotz der unterschiedlichen Funktion der beiden Leistungen für das Rentensystem müsse aber die Benachteiligung der Kindererziehung bei der Begründung von Rentenanwartschaften ausgeglichen werden. Die Familienbenachteiligung sei immerhin schon durch das HEZG von 1985, das KLG von 1987 und das RRG von 1992 abgemildert worden, da diese Gesetze Kindererziehungszeiten rentenbegründend und -steigernd 563 HVerfR/E M. v. Münch, § 9 Rn. 37; Eichenhofer, NJW-Beil 23/2002, 6; HVerfR/ Zeidler, 1. A , S. 600. 564 BVerfGE 82, 60 v. 29.05.1990. 565 BVerfGE 82, 198 v. 12.06.1990. 566 BVerfGE 82, 60 (81) v. 29.05.1990. Kritisch dazu HVerfR/E M. v. Münch, § 9 Rn. 41. 567 BVerfGE 99, 216 (234) v. 10.11.1998.
324
2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
anrechneten. Die Gesetze machten aber neben den anderen Leistungen im Familienlastenausgleich die Einbußen der Eltern in der Alterssicherung gegenüber Kinderlosen nicht wett. Auf der Grundlage einer umfassenden transferrechtlichen Analyse verpflichtete der Senat den Gesetzgeber infolgedessen, die Benachteiligung in weiterem Umfang als bisher schrittweise abzubauen568. In einem der vier Urteile v. 03.04.2001 zur Pflegeversicherung erkannte das BVerfG an, dass Kindererziehung und monetäre Beitragsleistungen für die Funktionsfähigkeit eines um lagefinanzierten Sozialversicherungssystems gleichwertig sind. Des Weiteren erteilte der Senat dem Gesetzgeber einen Korrekturauftrag bis zum 31.12.2004, wobei die Bedeutung des vorliegenden Urteils auch für andere Zweige der Sozialversicherung zu prüfen sein werde 569 . Der Präsident des BVerfG Papier fasst die Kernaussagen des Urteils in vier Punkten zusammen: „ - Die Erziehungsleistung versicherter Eltern begünstigt innerhalb eines umlagefinanzierten Sozialversicherungssystems, das der Deckung eines maßgeblich vom Älterwerden der Versicherten bestimmten Risikos dient, in spezifischer Weise Versicherte ohne Kinder. Wird ein solches allgemeines, regelmäßig erst in höherem Alter auftretendes Lebensrisiko durch ein Umlageverfahren finanziert, so hat die Erziehungsleistung konstitutive Bedeutung für die Funktionsfahigkeit dieses Systems. - Versicherten ohne Kinder erwächst im Versicherungsfall ein Vorteil aus der Erziehungsleistung anderer beitragspflichtiger Versicherter, die wegen der Erziehung zu ihrem Nachteil auf Konsum und Vermögensbildung verzichten. Dieser Vorteil kinderloser Beitragspflichtiger wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass ein Teil der heutigen Kinder, deren Eltern derzeit versichert sind, in Zukunft vielleicht überhaupt nicht oder nur vorübergehend versicherungspflichtige Beitragszahler sein werden. - Die Benachteiligung der beitragspflichtigen Versicherten mit Kindern gegenüber kinderlosen Mitgliedern kann der Gesetzgeber so lange vernachlässigen, wie eine deutliche Mehrheit der Versicherten Erziehungsleistungen erbringt. Diese Voraussetzung ist in Deutschland jedoch schon seit längerer Zeit nicht mehr gegeben. - Die gleiche Belastung mit Versicherungsbeiträgen fuhrt nach alledem zu einem erkennbaren Ungleichgewicht zwischen dem Gesamtbeitrag, den Kindererziehende in die Versicherung einbringen, und dem Geldbeitrag der Kinderlosen. Hierin liegt eine Benachteiligung von erziehenden Versicherten, die im Beitragsrecht auszugleichen ist 570 ." Im Januar 2003 kündigte die Bundesregierung die Umsetzung des Urteils an und will nach einer angestrebten Gesetzesreform in Zukunft von Eltern geringere Beiträge zur Pflegeversicherung verlangen. Die Erziehung von Kindern soll bei der künftigen Beitragsbemessung berücksichtigt werden; im Gegenzug
568 BVerfGE 87, 1 (37 ff) v. 07.07.1992. Das HZEG und das KLG werden auch in BVerfGE 94, 241 (242 ff) v. 12.03.1996 erläutert. 569 BVerfGE 103, 242 v. 03.04.2001. 57 0 Papier, NJW 2002, 2129 (2131).
§ 4 Die gesellschaftliche Entwicklung der Familie
325
sollen Kinderlose höhere Pflegeversicherungsbeiträge zahlen 571 . Obwohl sich die Kernaussagen des Pflegeversicherungs-Urteils nahezu unverändert auf das Rentenversicherungssystem übertragen lassen, stellte ein Mitglied der Bundesregierung schon wenige Tage nach Verkündung des Urteils fest, dass das Rentenversicherungsrecht nicht berührt werde 572 . Dabei hatte das BVerfG ausdrücklich auf den beispielhaften Charakter des Urteils hingewiesen573. So wird sich in naher Zukunft nichts an der Struktur in der Rentenversicherung ändern. Die Kosten der Kindererziehung werden weiter zu Lasten der Eltern privatisiert; der Nutzen der Erziehungsarbeit weiterhin zu Gunsten der Allgemeinheit sozialisiert. Und so wird auch künftig bei der Rentenberechnung einer Mutter ihre geleistete Erziehungsarbeit nur ungenügend berücksichtigt.
2. Weitere
Ursachen für den Geburtenrückgang
Geißler zufolge (2002) ist der Geburtenrückgang ein offensichtlich unumkehrbarer Prozess, dem ein vielschichtiges Ursachengefüge zu Grunde liegt. Eine wesentliche Rolle spielen dabei: der Funktions- und Strukturwandel der Familie, die Emanzipation und Enthäuslichung der Frau, das Konsumdenken und der anspruchsvollere Lebensstil sowie die strukturelle Rücksichtslosigkeit gegenüber der Familie. Darüber hinaus lassen sich nach Auffassung von Geißler sechs weitere Ursachenkomplexe ausmachen, wobei unklar bleibe, welches Gewicht den verschiedenen Faktoren zukommt: Scheu vor langfristigen Festlegungen, emotionalisierte und verengte Paarbeziehungen, zunehmende gesellschaftliche Akzeptanz von Kinderlosigkeit, gestiegene Ansprüche an die Elternrolle, Rationalisierung der Familienplanung und die ungünstige Wirtschaftslage und die Arbeitslosigkeit 574 . Familiengründung und -große sind so zu einer Frage der individuellen Entscheidung geworden und stellen sich als Gebrauch der Freiheit von Art. 6 Abs. 1 GG dar 575 . Zudem bedeutet die Entscheidung für Ehe und Elternschaft für viele Konsumverzicht in einer Gesellschaft, die zum Konsum auffordert und für mehr Konsum wirbt 5 7 6 ; die Massenkommunikationsmittel, insbesondere Fernsehen und Telefon, haben den Lebensraum der Familie geöffnet und beeinflussen die familiären Konsumentscheidungen erheblich mit 5 7 7 . Dasselbe gilt nach Meinung von Münder (2000) für die gesamte Sozialisation von Kindern und Jugendlichen. Die Verbreitung 571 572 573 57 4 57 5 57 6 577
Die Welt v. 11.01.2003, S. 11. FAZ v. 04.05.2002, S. 4. BVerfGE 103, 242 (270) v. 03.04.2001. Geißler, S. 57 ff. Kaufmann, FamRZ 1995, 129 (134); Eichenhofer, Henrich, FS Lerche, S. 239 (243). AKJRichter, Art. 6 Rn. 13b; Münder, S. 15.
NJW-Beil 23/2002, 6(10).
3 2 6 2 . Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
von Medien in der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen bedeute einerseits, dass ihnen ein offener Zugang zu Informationen möglich ist. Andererseits werde durch den Einfluss der Medien der Raum für selbst zu erfahrende Gestaltungsräume, für ein Möglichkeiten ausprobierendes Umfeld geringer 578 .
a) Die zunehmende Bildungsbeteiligung und Erwerbstätigkeit der Frau Eine entscheidend wichtige Rolle für den Geburtenrückgang spielt die zunehmende Bildungsbeteiligung und Erwerbstätigkeit der Frau, von Geißler unter den Stichworten Emanzipation und Enthäuslichung der Frau als eine wesentliche Ursache des Geburtenrückgangs benannt. Fast die Hälfte aller akademisch ausgebildeten Frauen haben nach Aussage von M. Böhmer (2002) keine Kinder 579 . Die stärkere Bildungs- und Berufsorientierung der Frauen hat häufig zur Folge, dass die Realisierung bestehender Kinderwünsche so weit hinausgeschoben wird, dass nur noch ein Kind geboren werden kann oder auch auf ein Kind gänzlich verzichtet wird 5 8 0 . So ist der Prozentsatz der Frauen, die innerhalb eines Jahrgangs kinderlos bleiben, von 14,9% des Geburtsjahrganges 1950, über 19,4% des Jahrgangs 1955 und 23,3% des Jahrgangs 1960 auf 31,2% des Geburtsjahrganges 1965 emporgeschnellt 581. Welche wichtige Rolle die Berufstätigkeit im Leben der Mütter spielt, ergibt sich aus der nachfolgenden Tabelle (S. 327). Durch die Berufstätigkeit ergeben sich zusätzliche Probleme bei der Verteilung der häuslichen Lasten und Erziehung der Kinder 582 . So muss das berufliche Vordringen von den Frauen und ihren Angehörigen noch immer mit großen Opfern und Belastungen erkauft werden. Für die Familie und das Aufziehen von Kindern bleibt nach Meinung von Köbl wenig Zeit und Kraft 583 . Es stehen oft nicht ausreichend außerfamiliäre Kinderbetreuungseinrichtungen zur Verfügung, was aus Tabelle 6 (S. 328) deutlich wird. Und bei der Einkommensteuer ist ein steuerlicher Abzug der tatsächlich entstandenen berufsbedingten Betreuungskosten nicht möglich 584 .
57 8 57 9 580 581 582 583 584
Münder, S. 15. M Böhmer, PM Nr. 394, September 2002, S. 5 (6). Geißler, S. 57. BMFSFJ, S. 74, Quelle: Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung. Lecheler, DVB1 1986, 905 (908). Köbl, JZ 1994, 840 (841). BVerfGE 99, 216 v. 10.11.1998; BFH BStBl II 1998, 211 v. 05.12.1997.
§ 4 Die gesellschaftliche Entwicklung der Familie
327
Tabelle 5 Erwerbsbeteiligung der 15- bis 64-jährigen Mütter nach Alter des jüngsten Kindes im Haushalt, 1991, 200058S Alter des jüngsten Kindes im Haushalt, in Jahren unter 3
3-5
6-14
15 und mehr
Zusammen
Deutschland, 2000, in %
48,3
56,7
69,5
65,3
62,8
Alte Bundesländer und West-Berlin, 2000, in %
47,7
55,7
67,6
62,9
60,8
Alte Bundesländer und West-Berlin, 1991, in %
37,3
47,6
59,2
53,7
51,5
Neue Bundesländer und Ost-Berlin, 2000, in %
52,2
63,7
76,5
73,3
71,3
Neue Bundesländer und Ost-Berlin, 1991, in %
75,9
82,8
86,6
74,9
80,6
585 BMFSFJ, S. 245, Quelle: Statistisches Bundesamt (einschließlich der Personen, die ihre Erwerbstätigkeit vorübergehend nicht ausüben, weil sie sich z. B. im Erziehungsurlaub oder in der Elternzeit befinden).
3 2 8 2 . Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
Tabelle 6 Verfügbare Kinderbetreuungseinrichtungen nach Bundesländern zum 31.12.1998586 Verfügbare Krippenplätze20 Verfügbare Kindergarten-
Verfügbare Hort-
je 1.000 Kinder im Alter
plätze je 100 Kinder im
plätze50 je 1.000
von ... bis unter... Jahren
Alter von ... bis unter ...
Kinder im Alter
(Platz-Kinder-Relation)
Jahren (Platz-KinderRelation)
Jahren (Platz-
50
von ... bis unter ... Kinder-Relation)
0-3
X
A - 3 1-3
11/2-3 3 - 6
3-6/4 31/2-
3-7
6-8
6-10
12
6V2
Anzahl je 100
Anzahl
Anzahl B-W
13
16
19
26
125
107
124
93
65
Bay
14
16
20
27
97
83
96
72
116
Bin
322
388
487
653
91
78
91
Bbg
519
626
788
1058
127
107
125 96
Brem
68
82
102
137
97
82
Hbg
117
141
176
237
77
65
Hess
26
31
38
51
108
92
6-
32
22
57
38
717
317 201
93 2329
823 472
68 72
331
164 109
76
57
464
230 154
107
81
169
83
55
M-V
308
372
469
632
126
106
124
91
1819
Nds
18
21
27
36
90
77
89
67
70
35
23
N-W
25
30
37
49
96
82
95
71
91
45
30
632 360
R-P
14
17
21
28
120
102
118
88
67
33
22
Saar
25
29
36
48
115
97
112
84
71
35
23
Sa
241
292
370
498
135
114
134
99
1912
S-A
472
570
719
967
129
109
126
94
457
166
97
S-H
23
28
34
45
90
77
89
67
97
48
32
Thür
259
312
393
531
153
129
151
112
139
50
29
Gesamt
70
83
104
139
a)
105
90
104
78
266
692 403
126
82
Platzangaben auf volle Zahlen auf- bzw. abgerundet.
586
BMFSFJ, S. 253 f, Quelle: Statistisches Bundesamt, Bundesministerium für Bildung und Forschung.
§ 4 Die gesellschaftliche Entwicklung der Familie
329
Trotz der deutlich höheren Kinderbetreuungsdichte weisen die neuen Bundesländer die geringeren Geburtenzahlen auf 687 . Auch das ist ein weiteres Indiz für die vielschichtigen Gründe des Geburtenrückgangs.
b) Der Wertewandel der Gesellschaft Die zunehmende Berufstätigkeit der Frau geht auch mit einem Wertewandel in der Gesellschaft einher, einer weiteren Ursache des Geburtenrückgangs. Zuleeg weist daraufhin, dass nur die berufliche Tätigkeit mit Verdienstmöglichkeit die volle gesellschaftliche Anerkennung gewährt 588 . In diese Richtung geht auch der Hinweis von van Lier, wonach Mütter, die bei ihren kleinen Kindern zu Hause bleiben, in der Regel belächelt werden 589 . So erscheint der Bundesregierung der 14. und 15. Legislaturperiode nur die ganztägige Berufstätigkeit außer Hause als anerkennungs- und förderungsfähige Form der Arbeit 590 . Die von ihr propagierte Werteskala hat Adam zutreffend beschrieben. An der Spitze steht das erwerbstätige Paar mit ganztägig betreutem Kind. Danach kommt die allein erziehende, berufstätige Mutter, gefolgt von den Singles und den Leuten mit doppeltem Einkommen und ohne Kinder. Die vom GG als Regel unterstellte Lebensform, die klassische Familie mit Ehemann und Ehefrau und mehr als 1,3 Kindern, besetzt nur noch den letzten Platz. Mit Kindern kann eine solche Gesellschaft, die Arbeit nur noch als bezahlte Berufstätigkeit gelten lässt, nicht viel anfangen 591. Mitunter wird von gewählten Volksvertretern jede Besinnung auf eine wertbezogene Familienpolitik als ein Rückfall in das Mittelalter abgetan592. So versteht sich ein Drittel der Frauen nicht mehr genuin als Mütter, sondern definierten sich van Lier zufolge mehr denn je über Beruf, Karriere und Lifestyle. Bei den akademisch gebildeten Frauen steigt dieser Anteil auf 41% 593 . Deshalb müssen nach Auffassung von Kaufmann alle Überlegungen, die familiären Zusammenhänge in der Gesellschaft zu fördern und zu stabilisieren, die Tatsachen der gestiegenen biographischen Möglichkeiten junger Menschen und den Verlust traditioneller Selbstverständlichkeiten ins Auge fassen 594. Geiger sprach schon 1979 von einem gründlich veränderten Verhältnis der Elterngeneration zum Kind. Es bestehe nunmehr die Haltung, sich ein Kind erst zu leisten, wenn alle anderen Wünsche wie Lebenskomfort und Beruf 587 588 589 590 591 592 593 594
van Lier, PM Nr. 394, September 2002, S. 41 (43). Zuleeg, NVwZ 1986, 800 (807). van Lier, PM Nr. 394, September 2002, S. 41 (44). Adam, Die Welt v. 29.10.2002, S. 9. Adam, Die Welt v. 21.07.2003, S. 8. van Lier, PM Nr. 394, September 2002, S. 41 (42 ff). van Lier, PM Nr. 394, September 2002, S. 41. Kaufmann, FamRZ 1995, 129(134).
3 3 0 2 . Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
befriedigt seien bzw. weiter befriedigt werden könnten 595 . Zeidler merkte 1984 an, die soziale Geltung in der Gesellschaft werde vorrangig durch sichtbaren Wohlstand und Geltungskonsum vermittelt 596 . Auch Ruland machte 1986 für den Geburtenrückgang einen schwer zu definierenden Wertewandel verantwortlich, der u. a. auf den hohen wirtschaftlichen Belastungen beruhe, die mit dem Aufziehen von Kindern verbunden seien597. Loschelder sah 1988 die Gesellschaft in einem Wertewandel, der zu einer Verarmung und Reduzierung auf materielle Gehalte führe. Im Hinblick auf Ehe und Familie bestehe die Wirkung in einer empfindlichen Störung des Gleichgewichts zwischen dem Streben des Einzelnen, seine eigenen subjektiven Interessen zu verwirklichen, und der Bereitschaft, sich aus überindividuellen Bezügen in die Pflicht nehmen zu lassen598. Lecheler betonte 1986, dass Herkommen und Sitte, die in typischen Konfliktsituationen ganz bestimmte konkrete Verhaltensmuster bereit hielten, stark an Bedeutung verloren hätten. Jeder Einzelne wolle heute die Richtigkeit und Sinnhaftigkeit seines Handelns für sich persönlich bejahen. Es sei daher heute schwer vorstellbar, den Ehepartner aus anderen als persönlichen Gründen, etwa mit Rücksicht auf die Familie, zu wählen 599 . Henrich konstatiert für den Zeitraum zwischen 1963 bis 1975 einen Wertewandel, der sich anschließend stabilisiert habe. In diesem hätten die sog. Pflicht- und Akzeptanzwerte an Bedeutung verloren, die Selbstentfaltungswerte an Bedeutung gewonnen. Im Jahr 1993 will Henrich jedoch eine gewisse Trendwende erkennen. Unter den Pflicht- und Akzeptanzwerten seien die Werte zu verstehen, die von Pflichtbewusstsein und der Hinnahme eines gegebenen Zustands bestimmt werden, wie Gehorsam, Pflichterfüllung, Treue, Unterordnung, Fleiß, Selbstbeherrschung und Anpassungsbereitschaft. Selbstentfaltungswerte seien demgegenüber Emanzipation, Anspruch auf Gleichbehandlung, Autonomie des Einzelnen, Genuss, Abwechslung, Selbstverwirklichung, Ungebundenheit und Eigenständigkeit. Ehe und Familie seien von diesem Wertewandel ungeheuren Ausmaßes besonders betroffen, der sich u. a. neben der Abnahme von Eheschließungen und Zunahme von Ehescheidungen in einer gestiegenen Zahl von Abtreibungen niedergeschlagen habe 600 . Kirchhof widerspricht hingegen der These, wonach der Wert von Ehe und Familie im Jahr 2002 nicht mehr anerkannt werde. Der These fehle die tatsächliche Grundlage. Die Fehlentwicklung bei den Geburtenzahlen sei nicht mit einem entsprechenden Wertewandel gleichzusetzen. Empirische Erfahrungen
595 596 597 598 599 600
Geiger, FamRZ 1979, 457. HVerfR¡Zeidler, 1. A., S. 598. Ruland, NDV 1986, 164 (167 f). Loschelder, FamRZ 1988, 333 (334). Lecheler, DVB1 1986, 905 (908). Henrich, FS Lerche, S. 239 f.
§ 4 Die gesellschaftliche Entwicklung der Familie
331
lehrten, dass die jungen Menschen sich vor allem ein Kind wünschten, die älteren ein Enkelkind 601 . In der 14. Shell Jugendstudie (2002) räumen die befragten Jugendlichen im Alter von zwölf bis 25 Jahren der Familie einen hohen Stellenwert ein. So geben 70% der Jugendlichen an, dass man eine Familie zum Glücklichsein braucht. Von den Jugendlichen im Alter von 16 bis 25 Jahren ohne eigene Kinder verneinen nur 5% den Wunsch nach eigenen Kindern. Während es 28% noch nicht wissen, geben 67% an, später eigene Kinder haben zu wollen. Eigene Kinder haben nur 4% der Befragten zwischen 16 und 25 Jahren; bei den Älteren zwischen 22 und 25 Jahren sind es 7%. Kinderwunsch und Kinderkriegen sind demnach zwei verschiedene Dinge 602 . Andererseits werden von den Jugendlichen Wertorientierungen mit Bezug auf die eigene Person und die Auslebung eigener Bedürfnisse stärker betont als in der gesamten, insbesondere älteren Bevölkerung. So finden Jugendliche Kreativität und Lebensgenuss wichtiger als die gesamte Bevölkerung. Insgesamt kommen die Autoren der 14. Shell Jugendstudie aber zu der Feststellung, dass die Aspekte der Selbstentfaltung und der Selbstzurücknahme in der heutigen Jugend eher im Einklang als in Opposition stehen603. Für Kaufmann (1995) haben sich die moralischen Prioritäten der Eltern gesteigert. Wer heute ein Kind in die Welt setze, glaube damit eine wesentlich höhere persönliche Verantwortung zu übernehmen, als dies in früheren Generationen der Fall gewesen sei. So werden Kinder heute nicht mehr als Schicksal angesehen, sondern Eltern rechneten sich die Existenz, Erfolge und Misserfolge ihrer Kinder in weit höherem Maße zu als zu früheren Zeiten. Weiterhin sieht Kaufmann die spezifischen Belastungen der Eltern und ihren gesellschaftlichen Nutzen zwar theoretisch, aber nicht alltagspraktisch anerkannt 604. Diese Aussage von Kaufmann wird durch das Urteil des BVerfG 605 v. 17.07.2002 zur Verfassungsmäßigkeit des LPartDisBG bestätigt. Die drei Antragsteller, die Freistaaten Bayern, Thüringen und Sachsen, hatten u. a. das Abstandsgebot des Art. 6 Abs. 1 GG durch das LPartDisBG als verletzt gesehen. Denn die Ehe sei zur Gewährleistung der Bedingungen ftlr die Pflege und Erziehung von Kindern im Interesse von Eltern und Kindern, aber auch der staatlichen Gemeinschaft besonders geschützt. Das BVerfG hat das LPartDisBG für verfassungsgemäß erklärt. Der besondere Schutz der Ehe in Art. 6 Abs. 1 GG hindere den Gesetzgeber nicht, für die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft Rechte und Pflichten vorzusehen, die der Ehe gleich oder nahe kommen. Auf die von
601 Kirchhof, PM Nr. 394, September 2002, S. 12; ebenso HVerfRIZeidler, S. 597 f. 602 Deutsche Shell, S. 18, 58. 603 Deutsche Shell, S. 144, 146. 604 Kaufmann, FamRZ 1995, 129(130, 135). 605 BVerfG NJW 2002, 2543 v. 17.07.2002.
I.A.,
3 3 2 2 . Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
den Antragstellern aufgeworfene Frage, warum Ehe und Familie in Art. 6 Abs. 1 GG privilegiert sind, ist der Senat dabei nicht eingegangen. So erwähnt das BVerfG nicht die eigentliche Funktion von Ehe und Familie, nämlich die Pflege und Erziehung von Kindern, in seiner ausführlichen Begründung zur Vereinbarkeit des LPartDisBG mit Art. 6 Abs. 1 GG. In seinem Urteilskommentar, der den Titel „Kommen die Kinder aus der Klinik?" trägt, bezeichnet Roellecke das als leicht zu erkennenden Fehler des BVerfG. Denn das BVerfG habe dem LPartG seinen verfassungsmäßigen Segen gegeben, obwohl das Gesetz von der gesellschaftlichen Relevanz der Zweigeschlechtigkeit der Ehe völlig absehe. Auf die künftige Geburtenrate werde das Urteil nach Ansicht von Roellecke aber keinen Einfluss haben. Deshalb gehöre es wahrscheinlich zu den sozial und politisch irrelevantesten Entscheidungen des Gerichts 606 . Braun kritisiert, dass der verfassungsrechtliche Stellenwert der Ehe, auf der die generative Zukunft der Gesellschaft beruht, durch das in rechtlicher Hinsicht sehr ähnliche Institut der eingetragenen Partnerschaft nachdrücklich verändert wird. Das BVerfG habe deshalb mit seinem Urteil v. 17.07.2002 den Schritt vom inhaltlichen zum bloß formellen Schutz des Instituts Ehe vollzogen 607 . Auf die vom BVerfG übergangenen Funktionen von Ehe und Familie für die Gesellschaft ist Ruland 1991 zutreffend eingegangen. So komme der Familie bei dem Aufziehen der Kinder mehr als eine nur rein biologische Funktion zu. Das Kind müsse in die Gesellschaft und Kultur durch Vermittlung von Werten und Werthaltungen eingeführt werden. Die Erziehung und Ausbildung werde in zunehmenden Maße von staatlichen Institutionen übernommen. Dennoch trage die Familie bei der Sozialisation des Kindes die wesentliche Verantwortung. Sie präge Charakter und Persönlichkeit des Kindes in der ersten entscheidenden Entwicklungsphase, wo die Weichen für ein späteres Leben gestellt würden 608 . Gernhuber sieht Teile der Wissensvermittlung neben der Sozialisierung der Kinder als weitere Aufgabe der Familie an, die sie sich trotz der veränderten Umwelt bewahrt habe 609 . Die Familie darf dabei aufgrund der tatsächlichen Verhältnisse nicht isoliert von der Ehe betrachtet werden, denn im Jahr 2000 lebte nur jedes fünfte Kind nicht bei seinen verheirateten Eltern. Das ergibt sich aus der nachfolgenden Tabelle:
606
Roellecke, NJW 2002, 2539 f. Braun, JuS 2003, 21 (22). 608 Ruland, FuR 1991, 307 (309); ebenso M. Böhmer, PM Nr. 394, September 2002, S.5(6). 609 Gerrt/iw&er/Coester-Waltjen, § 1 I 3. 607
333
§ 4 Die gesellschaftliche Entwicklung der Familie
Tabelle 7 Familienstand der Mütter und Väter von Kindern unter 18 Jahren 610 Kind unter 18 Jahren wohnt bei Jahr
zusammenlebendem Ehepaar
lediger oder verheiratet getrennt ledigem oder verheiratet getrenntlebendem Vater 0 lebender Mutter2* ledig
v b) g 1
g c) e
ver-
ge-
wit-
samt
s
wet
ledig
vb> g
g c) e
ver-
ge-
wit-
samt
1
s
wet
in % Früheres Bundesgebiet 0,5
2,4
2,3
2,5
1,6
4,6
1,1
9,8
0,3
0,3
0,7
0,3
1,6
3,0
2,3
5,2
1,1
11,6
0,7
0,4
0,8
0,3
2,3
83,9
3,6
2,7
6,2
1,0
13,5
0,9
0,4
1,0
0,3
2,6
1991
81,2
6,3
0,6
8,8
1,0
16,7
0,8
0,1
0,9
0,3
2,1
1996
74,9
8,9
2,4
9,3
1,4 22,0
1,1
0,5
1,1
0,4
3,1
2000
69,0 12,6
2,9
9,8
1,4 26,7
1,9
0,6
1,4
0,3
4,2 1,7
1972
93,4
0,7
1991
88,6
1996
86,1
2000
5,9
0,0
0,2
0,3
0,3
0,8
Neue Länder und Ost-Berlin
Deutschland 1991
86,9
3,4
1996
83,9
2000
81,4
1,4
5,6
1,1
11,5
0,4
0,3
0,7
0,3
4,2
2,3
6,0
1,2
13,6
0,8
0,5
0,9
0,3
2,4
5,2
2,7
6,8
1,1
15,7
1,1
0,5
1,0
0,3
2,9
a)
Bei unverheirateten Müttern und Vätem kann auch der andere Elternteil zum Haushalt gehören.
b)
vgl = verheiratet getrennt lebend.
c
) g e s = geschieden.
IV. Gesellschaftlicher Wandel und § 832 BGB 1993 befand das BVerfG: Eltern übernehmen mit der Erziehung ihrer Kinder zugleich Aufgaben, deren Erfüllung sowohl im Interesse der Gemeinschaft als Ganzes als auch jedes Einzelnen gelegen ist. Darum ist der Staat gehalten, eine kinderfreundliche Gesellschaft zu fördern. Mit Blick darauf hat der Gesetzgeber im Bereich des Privatrechts Regelungen mit besonderer Rücksicht 610
BMFSFJ, S. 214, Quelle: Statistisches Bundesamt.
3 3 4 2 . Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
auf Familien mit Kindern zu erwägen 611 . An einer solchen Rücksichtnahme fehlt es hingegen teilweise bei der Anwendung von § 832 Abs. 1 BGB. Teile von Rechtsprechung und Schrifttum beachten heute weder die herrschenden Rahmenbedingungen für die Familien noch die Bedeutung der Familie für die Allgemeinheit. Diese Stimmen orientieren sich noch immer am ursprünglichen Leitbild des § 832 Abs. 1 BGB statt den gesellschaftlichen Wandel seit 1900 in die Anwendung der Vorschrift einfließen zu lassen. Eine solche Vorgehensweise ist aufgrund der veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse nicht länger haltbar. Sie wird der gesellschaftlichen Bedeutung der Familie und ihren aktuellen Lebensbedingungen nicht gerecht. Weiterhin lässt sie die vielgestaltigen Fremdeinflüsse außer Acht, die auf die Familie einwirken. Gegenüber den Lebensumständen am Ende des 19. Jahrhunderts haben die Eltern heute weitaus geringere Möglichkeiten, die von dem Kind ausgehenden Gefahren zu beherrschen oder zu beeinflussen 612.
1. Der Grundgedanke des § 832 BGB a) In der Rechtsprechung Die Spruchpraxis der Gerichte orientiert sich bei der Risikoverteilung in § 832 BGB heute teilweise noch stark an den historischen Grundlagen der Vorschrift, den gesellschaftlichen Verhältnissen am Ende des 19. Jahrhunderts. Dabei hat die Rechtsprechung zunächst nur selten ausdrücklich zur Frage der generellen Risikoverteilung in dem Interessendreieck Kind/Aufsichtsperson/ geschädigter Dritter Stellung genommen 613 . So befand das LG Berlin in einem Urteil v. 29.04.1966, ein fast 7-jähriges überdurchschnittlich veranlagtes Kind, dem die wichtigsten Regeln im Großstadtverkehr bekannt sind, müsse auf dem Schulweg nur stichprobenartig überwacht werden. Soweit dennoch von Kindern auf Grund ihrer naturbedingten lebhafteren Verhaltensweise Gefahren ausgingen, müssten diese Gefahren von der Allgemeinheit, deren wertvollstes Gut die Jugend sei, hingenommen und durch ein entsprechend vorsichtiges und verantwortungsbewusstes Verhalten jedes einzelnen Verkehrsteilnehmers ausgeschaltet werden 614 . Diese Risikoverteilung findet sich auch in einem Urteil des OLG Celle v. 12.01.1978 zur Verursachung eines Verkehrsunfalls durch
611
BVerfGE 88, 203 (259 f) v. 28.05.1993. Großfeld/Mund, FamRZ 1994, 1504 (1508); Lüderitz, Rn. 809. Weitergehend Pardey (DAR 1998, 1 [3]), wonach es die Eltern nicht mehr entscheidend in der Hand haben, von dem Kind ausgehende Gefahren beherrschen, steuern oder auch nur prägen zu können. 613 Albilt, S. 230 f. 614 LG Berlin VersR 1967, 237 f v. 29.04.1966 (vgl. 1. Teil § 3 III 1 a). 612
§ 4 Die gesellschaftliche Entwicklung der Familie
335
einen 53/4-Jährigen. Danach muss die Gefahr eines kindertypischen Fehlverhaltens im Straßenverkehr in Kauf genommen werden und ist nicht durch überspitzte Anforderungen an die Aufsichtspflicht der Eltern auszuräumen 615. Diametral entgegengesetzt verteilte der BGH in einem Urteil v. 05.12.1967 das von einem Kind ausgehende Schadensrisiko in § 832 BGB. Die 4,/2-jährige Tochter der Beklagten hatte mit ihrem luftbereiften Roller die Klägerin auf dem Fußweg von hinten angefahren; der Senat verurteilte die Eltern aus § 832 Abs. 1 BGB. Nach seiner Auffassung konnte die gesteigerte Gefahr des technisierten Kinderspiels auch nicht teilweise auf unbeteiligte Fußgänger abgewälzt werden, zumal diese völlig schuldlos verletzt würden 616 . 1983 betrat die Rechtsprechung schließlich Neuland und begann in ihren abstrakten Ausfuhrungen zum gebotenen Aufsichtsmaß mit dem Grundgedanken des § 832 BGB zu argumentieren, über 83 Jahre nach In-Kraft-Treten der Vorschrift. Der BGH verurteilte Eltern aus § 832 Abs. 1 BGB wegen eines von ihrem Sohn verursachten Brandschadens. Dabei verwandte der Senat erstmals die Formulierung: Das Risiko, das von Kindern für unbeteiligte Dritte ausgeht, soll nach dem Grundgedanken des § 832 BGB von den Eltern getragen werden, denen es eher zuzurechnen ist als dem unbeteiligten Dritten, zumal es in zumutbarer Weise versicherbar ist. Der BGH verwies dabei auf die gleichlautenden Ausführungen von Kreit 6 1 7 und schloss seine Entscheidungsgründe mit dem nochmaligen Hinweis: Nach § 832 BGB sollen im Allgemeinen gerade dritte Personen von dem Risiko, das von widerrechtlichen Handlungen spielender Kinder ausgeht, zu Lasten der Aufsichtspflichtigen befreit sein 618 . Daran anknüpfend argumentierte die Rechtsprechung in Brandfällen immer häufiger mit dem Grundgedanken der Vorschrift, wonach Eltern das von ihren Kindern ausgehende Risiko zu tragen haben 619 . Wiederholt verwiesen die Gerichte dabei
6,5
OLG Celle VersR 1979, 476 v. 12.01.1978 (vgl. 1. Teil § 3 III 1 a). BGH VersR 1968, 301 (302 f) v. 05.12.1967 (vgl. 1. Teil § 3 III 2). 6.7 RGRK/Kreft, § 832 Rn. 29. 6.8 BGH LM Nr. 13 zu § 832 BGB (=NJW 1983,2821 f)v. 17.05.1983. 6.9 BGH LM Nr. 15 zu § 832 BGB (E) (= NJW 1984, 2574 [2576]) v. 10.07.1984; LM Nr. 16 zu § 832 BGB (V) (= NJW-RR 1987, 13 [14]) v. 01.07.1986; OLG Hamm VersR 1990, 743 (744) v. 27.04.1989; BGH LM Nr. 18 zu § 832 BGB (E) (= NJW 1990, 2553 [2554]) v. 29.05.1990; OLG Düsseldorf VersR 1992, 310 (311) (V) v. 23.11.1990; BGH LM Nr. 19 zu § 832 BGB (E), (V) (= NJW 1993, 1003) v. 19.01.1993; OLG Oldenburg FamRZ 1994, 833 (834) (E), (V) v. 19.10.1993; OLG Koblenz r+s 1995, 413 (414) (V) v. 01.06.1994; BGH LM Nr. 20 zu § 832 BGB (E), (V) (= NJW 1995, 3385 [3386]) v. 10.10.1995; LM Nr. 21 zu § 832 BGB (E), (V) (= NJW 1996, 1404) v. 27.02.1996; LM Nr. 22 zu § 832 BGB (E) (= NJW 1997, 2047 [2048]) v. 18.03.1997; OLG Hamm VersR 1998, 722 (723) (E) v. 15.04.1997; OLG Jena OLGR-NL 2002, 381 (385) (E) v. 29.11.2000. 616
3 3 6 2 . Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
auch auf die Möglichkeit der Eltern, sich entsprechend zu versichern 620. Mitunter leiteten die Gerichte ihre Ausführungen mit dem Hinweis ein, dass die nicht seltene Verursachung eines Brandes durch spielende Kinder nicht primär zum von der Allgemeinheit zu tragenden Lebensrisiko gehört. Schließlich berücksichtigten die Gerichte bei der Bestimmung des Aufsichtsmaßes auch bei anderen Schadenskonstellationen diese nunmehr gefestigte Rechtsprechung 621. Zum Teil ergänzten sie die o. g. Formulierung um den Zusatz, die Eltern hätten überdies als Sorgeberechtigte und Erziehungsverpflichtete die Möglichkeit, in der gebotenen Weise auf ihr Kind einzuwirken 622 . So formulierte das OLG München: „Das Risiko, welches für Dritte von Kindern ausgeht, soll nach dem Grundgedanken des § 832 BGB in erster Linie von den Eltern getragen werden, denen es eher zumutbar ist als dem außenstehenden Geschädigten, und die überdies als Sorgeberechtigte und Erziehungsverpflichtete auch die Möglichkeit haben, in der gebotenen Weise auf ihr Kind einzuwirken 623 ." Und das OLG Hamm rundet - wie der BGH in seinem ersten, o. g. Urteil - seine Entscheidungsgründe mit den Worten ab: „Nach § 832 BGB sollen gerade dritte Personen von dem Risiko, das von widerrechtlichen Handlungen spielender Kinder ausgeht, zu Lasten der Aufsichtspflichtigen befreit sein 624 ." Die Verwendung dieser Formulierungen hatte jedoch nicht zwangsläufig die Haftung der Eltern aus § 832 BGB zur Folge. In fünf der 17 zitierten Urteile, mithin 29,4%, wurden haftungsbejahende Urteile aufgehoben und zurückverwiesen bzw. die Eltern entlastet625. Nur aus der vom OLG Celle verwandten Formulierung wird deutlich, dass die Gerichte den immer wieder zitierten Grundgedanken des § 832 BGB in dessen Beweislastumkehr erblicken. So heißt es dort: Deliktisch
620 Es handelt sich dabei um die mit (V) gekennzeichneten Urteile in der vorgehenden Fn. Das Versicherungsargument verwendet auch das OLG Hamm NJW-RR 1996, 153 v. 13.01.1995. 621 OLG München FamRZ 1997, 740 (741) (E) v. 18.06.1996; OLG Celle FamRZ 1998, 233 v. 12.02.1997; LG Lüneburg VersR 1999, 102 (E), (V) v. 09.01.1997; AG Flensburg NJW-RR 1999, 1041 (1042) v. 05.11.1998. 622 Es handelt sich dabei um die mit (E) gekennzeichneten Urteile in den vorgehenden Fn. 623 OLG München FamRZ 1997, 740 (741) v. 18.06.1996. 624 OLG Hamm VersR 1990, 743 (744) v. 27.04.1989. 625 Dabei handelt es sich um die Urteile: BGH LM Nr. 15 zu § 832 BGB (= NJW 1984, 2574) v. 10.07.1984; LM Nr. 16 zu § 832 BGB (= NJW-RR 1987, 13) v. 01.07.1986; LM Nr. 18 zu § 832 BGB (= NJW 1990, 2553) v. 29.05.1990; LM Nr. 19 zu § 832 BGB (= NJW 1993, 1003) v. 19.01.1993; LM Nr. 22 zu § 832 BGB (= NJW 1997, 2047) v. 18.03.1997. Bei der Prozentangabe blieb das ebenfalls zitierte Urteil des OLG Celle v. 12.02.1997 (FamRZ 1998, 233) außer Betracht. Dort prüfte der Senat nur § 823 Abs. 1 BGB als Anspruchsgrundlage, da der Aufsichtsbedürftige selbst verletzt wurde. Das OLG verwies jedoch auf die hinsichtlich des Pflichtinhalts identische Haftung aus § 832 BGB und griff auf die dementsprechenden abstrakten Ausfuhrungen zurück.
§ 4 Die gesellschaftliche Entwicklung der Familie
337
wird für vermutete Aufsichtspflichtverletzung gehaftet. Darlegung und Beweis der Pflichterfüllung obliegen dem Aufsichtspflichtigen, der sich entlasten muss. Mit dieser Regelung wird das Risiko, das von Handlungen von Kindern für unbeteiligte Dritte ausgeht, in erster Linie dem Erziehungsberechtigten auferlegt 626 . Die Gerichte ziehen sich somit auf den Standpunkt zurück, die Vorschrift belaste den Aufsichtspflichtigen bewusst, weshalb strenge Anforderungen an eine mögliche Entlastung zu stellen seien. Sie verteilen damit das Haftungsrisiko über die gesetzliche Vorgabe in Form der Beweislastumkehr hinaus. Den entgegengesetzten Weg hat das OLG Hamm mit seinem Urteil v. 16.09.1999 eingeschlagen. Der Senat verwies zunächst darauf, dass ein normal entwickeltes 5-jähriges Kind gewisse Freiräume pädagogisch vertretbarer Maßnahmen brauche. Das ergebe sich aus den Erziehungszielen der §§ 1631 Abs. 1, 1626 Abs. 2 BGB. Daran anschließend heißt es: „Kommt es dennoch im Rahmen dieser vertretbaren Freiräume zu schädigenden Ereignissen, so müssen diese von der Allgemeinheit und auch vom Geschädigten als allgemeines Lebensrisiko entschädigungslos hingenommen werden 627 ." Diese Risikoverteilung des Senats trägt den heutigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Rechnung; der Allgemeinheit wird ein Teil des Schadensrisikos zugewiesen, welches von Kindern ausgeht. Zuvor hatte schon das LG Hildesheim in einem Urteil v. 14.03.1985 kritisiert, dass dem Straßenverkehr gegenüber dem Recht der Kinder, auf den Straßen zu spielen, in der Regel der absolute Vorrang eingeräumt werde. Der Vorrang des Straßenverkehrs dürfe nicht soweit gehen, dass ihm die gedeihliche Entwicklung des Kindes untergeordnet werde 628 . Und das LG Düsseldorf 629 und die AGe Gummersbach 630 und Meldorf 631 hatten bei der Subsumtion zu Bedenken gegeben, dass sich kindtypisches Fehlverhalten und Unvermögen im Straßenverkehr selbst bei sorgfältiger Ausübung der Aufsicht nie ganz verhindern lasse.
b) In den Gesetzesmaterialien In den historischen Gesetzesmaterialien zu § 832 BGB findet sich nur an einer Stelle ein ausdrücklicher Hinweis auf das von Kindern für Dritte ausgehende Risiko. In den Erwägungen der I. Kommission zu § 710 Abs. 1 E I heißt es:
626 627 628 629 630 631
OLG Celle FamRZ 1998, 233 v. 12.02.1997. OLG Hamm MDR 2000, 454 (455) v. 16.09.1999 (vgl. 1. Teil § 3 III 3 abb). LG Hildesheim r+s 1985, 174 v. 14.03.1985. LG Düsseldorf VersR 1994, 484 (485) v. 03.03.1993 (vgl. 1. Teil § 3 III 3 b). AG Gummersbach MDR 1986, 237 v. 14.11.1985 (vgl. 1. Teil § 3 III 1 a). AG Meldorf DAR 1987, 388 (389) v. 10.09.1986 (vgl. 1. Teil § 3 III 3 b).
338
2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
„Die Minderjährigen ... seien wegen ihrer Beschaffenheit, die in ihrem eigenen Interesse die Aufsicht über sie nothwendig mache, gefährlich und die Aufsichtsfiihrung müsse sich deshalb auch darauf erstrecken, den Gefahren vorzubeugen, welche von Seiten der zu Beaufsichtigenden Andere, die sich nicht um sie zu bekümmern hätten, bedrohten 632 ." Dabei folgte die Beweislast in § 710 Abs. 1 E I den allgemeinen Grundsätzen, so dass der Geschädigte die Aufsichtspflichtverletzung und deren Kausalität für die schädigende Handlung des Aufsichtsbedürftigen zu beweisen hatte 633 . Diese Beweislastverteilung stieß im Allgemeinen auf die Kritik des Schrifttums 634 und führte zur Umkehr der Beweislast. In § 755 Abs. 1 E II wurde nunmehr die schuldhafte Aufsichtspflichtverletzung und deren Kausalität für die Schadenszufügung widerleglich vermutet. Durch weitere sprachliche Überarbeitungen erhielt § 816 Abs. 1 E III den Wortlaut des § 832 Abs. 1 BGB. Die II. Kommission begründete die Abänderung der Beweislast wie folgt: Es erscheine zweckmäßiger, „von dem Aufsichtspflichtigen, der leicht im Stande sei, die Gründe seines Verhaltens darzulegen, die Erbringung des Entlastungsbeweises zu fordern, als von dem Beschädigten die Herbeischaffung der belastenden Momente. Der Beschädigte sei nach dem Entw. der Gefahr ausgesetzt, seines Anspruchs schon deshalb verlustig zu gehen, weil es ihm nicht gelungen sei, die Nachlässigkeit des Aufsichtspflichtigen klarzustellen. Dem Wesen der Aufsichtspflicht als einer gesetzlichen Pflicht, die auch dem Beschädigten gegenüber bestehe, entspreche es auch, daß der Aufsichtspflichtige über das, was er zur Erfüllung seiner Verpflichtung gethan habe, Rechenschaft ablegen müsse 635 ." Neben der Beweisnähe der Eltern ist der Grundgedanke des historischen Gesetzgebers für die Elternhaftung in § 832 BGB demnach, dass Minderjährige generell gefährlich und aufsichtsbedürftig sind. Die Aufsichtsführung soll deshalb den Gefahren vorbeugen, die von ihnen ausgehen können. Jeder Minderjährige muss unabhängig von seinem Entwicklungsstand beaufsichtigt werden, wie sich aus der vom Gesetzgeber in § 1631 Abs. 1 BGB ohne Ausnahme aufgestellten Pflicht zur Aufsicht ergibt 636 . Dieser gesetzgeberische Wille für den Grund der Haftung ergibt sich nach Auffassung des RG deutlich aus der Fassung des § 832 BGB. So beständen Aufsichtsrecht und Aufsichtspflicht über den Minderjährigen wegen seines Zustandes, weil er eben minderjährig sei. Für § 832 Abs. 1 BGB erscheine somit hinsichtlich des Minderjährigen der Beisatz „die der Beaufsichtigung bedarf 4 überflüssig 637. Dass neben der mangelnden 632
Protokolle, S. 2768 = Mugdan II, S. 1089. Mugdan II, S. 410 f. 634 v. Gierke, S. 260 f; Fels, Gruchot 35, Nr. 1, S. 1 (2 f); Jakubezky, S. 167; Mataja, ArchBürgR 1, 267 (273). 635 Protokolle, S. 2770 = Mugdan II, S. 1090. 636 BGH FamRZ 1965, 75 v. 24.11.1964. 637 RGZ 52, 69 (73) v. 23.06.1902; zustimmend A. Fuchs, S. 190. 633
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Reife des Minderjährigen § 832 BGB auch der Vorteilsgedanke der §§831, 833-838 BGB inne wohnt, ergibt sich nicht ausdrücklich aus den Gesetzesentwürfen. Die Einbettung von § 832 BGB in die §§ 831-838 BGB legt diesen Gedanken aber nahe. Zudem erläuterten mehrere Autoren im damaligen Schrifttum die entsprechenden Gesetzesentwürfe bzw. die §§ 831, 832 BGB gemeinsam638; denn beide Vorschriften handeln von der Haftung für Menschen, deren Verhalten Schäden für Dritte befürchten lässt 639 . Im Ergebnis fehlt es aber an einer eindeutigen Aussage des Gesetzgebers, welche die unbedingte, einseitige Risikozuweisung der Rechtsprechung aufgrund der Beweislastumkehr - und über dieselbe hinaus - stützt 640 .
c) Im Schrifttum Im Schrifttum wird die ratio des § 832 BGB unterschiedlich interpretiert. Viele der Stimmen lassen dabei die gewandelten gesellschaftlichen Rahmenbedingung außer Acht, stellen - zuweilen sehr pauschal - auf den Schutzzweck der Vorschrift ab oder geben ausschließlich die zuvor genannte Rechtsprechung zustimmend wieder. So stellen Kreft 641 , Haag 642 , Scheffen 643 und Berning/Vortmann 644 ohne weitere Begründung fest, dass § 832 BGB dem Aufsichtspflichtigen das Risiko von Schädigungen Dritter durch den Aufsichtsbedürftigen auferlegt. Stein begründet diese Aussage mit der dem Aufsichtspflichtigen durch § 832 BGB auferlegten Verkehrspflicht, dafür Sorge zu tragen, dass der Aufsichtsbedürftige Dritten keinen Schaden zufügt 645 . Auch nach Auffassung von M. Fuchs besteht die historische und in der Gesetzesformulierung zum Ausdruck gekommene ratio des § 832 BGB in der Gefahrenabwehr, 638 v. Gierke, S. 260 f; Jakubezky, S. 167 f; Nöldeke, Gruchot 41, Nr. 21, S. 766; Crome, Bd. 2, § 333. 639 v. Bar, Verkehrspflichten, § 1 III 3. 640 A. A. Schoof, S. 37. Sie gelangt zu der Auffassung, gesetzgeberisches Motiv für die Ausgestaltung der Verschuldenshaftung sei auch der Grundgedanke, dass das Risiko, das für Dritte von Kindern ausgeht, in erster Linie von den Aufsichtspflichtigen getragen werden soll. Diese Aussage stützt sie jedoch nur auf einige der o. g. Urteile aus den Jahren 1996, 1997. Gänzlich anders und so nicht haltbar Deerberg, S. 17: Danach verbleibe ein Großteil der von Kindern angerichteten Schäden de lege lata ohnehin mit Willen des historischen Gesetzgebers beim Geschädigten. Eine Überwälzung scheide immer aus, wenn der Schaden auf jenem allseits bekannten kindtypischen Hang zu spontan unbedachten und deshalb nicht vorhersehbaren Handlungen beruhte. 641 RGRiUKreft, § 832 Rn. 29. 642 Gtigd/Haag, Kap. 16, Rn. 28 unter Verweis auf die Rechtsprechung. 643 Scheffen, ZRP 1991, 458 (463) unter Berufung auf RGRK/Kreft, § 832 Rn. 29. 644 Berning/Vortmann, JA 1986, 12(14) unter Verweis auf die Rechtsprechung. 645 MünchKomm/Ste/«, § 832 Rn. 32, 18.
3 4 0 2 . Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
in dem Bemühen um Verhinderung von Schäden, welche aus der Gefährlichkeit aufsichtsbedürftiger Personen drohten. Dabei stehe das Interesse des Geschädigten primär im Vordergrund der Haftungsregelung 646. Pardey führt aus, durch § 832 BGB treffe den Dritten das kindtypische Risiko nicht als sein Lebensrisiko 647 . Eckert begründet die Risikoverteilung der Rechtsprechung damit, dass der geschädigte Dritte ohne eigenes Verschulden Opfer des von Kindern ausgehenden Risikos werde, welches für die Eltern zudem voll versicherbar sei 648 . Nach Auffassung von Canaris enthält § 832 BGB insofern eine wesentliche Vorgabe, als er den Grundsatz aufstelle, dass vom Bestehen einer Aufsichtspflicht auszugehen sei. Für die Konkretisierung des Pflichteninhalts sei der Vorschrift folglich die Leitmaxime zu entnehmen, dass die Risiken, die von Kindern für Dritte ausgingen, nach dem Grundgedanken des Gesetzes in erster Linie von den Eltern getragen werden sollten, also nicht primär zu den von jedermann hinzunehmenden Lebensrisiken gehörten. Dabei verweist Canaris auf die entsprechende Rechtsprechung des BGH 6 4 9 . Steffen äußert sich sinngemäß, um aber einschränkend festzustellen, dass die Risikozuweisung nur solche Risiken erfasst, die durch Erfüllung der Erziehungs- und Aufsichtspflicht vermeidbar sind. Nicht erfasst würden hingegen die Risiken, die beispielsweise auch durch beste Verkehrserziehung und kindgerechte Beaufsichtigung nicht vermieden werden könnten 650 . Hingegen problematisiert ein Teil des Schrifttums den Einfluss der geänderten gesellschaftlichen Verhältnisse auf die ratio legis von § 832 BGB und widerspricht der einseitigen Risikozuweisung in der Rechtsprechung. Deutsch kritisierte bereits 1969 - ähnlich zuvor v. Caemmerer 651 - die einseitige Risikozuweisung in § 832 Abs. 1 S. 2 BGB in Form der Beweislastumkehr, also noch lange bevor die Rechtsprechung begann, mit dem Grundgedanken der Risikozuweisung zu argumentieren. Jede Auslegung der Vorschrift habe zu fragen, weshalb die Beweislast prinzipwidrig umgekehrt sei, d. h. dem Aufsichtsführenden zur Last gelegt werde. Deshalb könnten die Grundlagen der vergleichbaren Regelungen in §§ 831 Abs. 1 S. 2, 833 S. 2, 834 S. 2, 836 Abs. 1 S. 2 BGB nicht zur Begründung herangezogen werden. Dort werde die Gefahr freiwillig geschaffen oder zu beruflicher oder sonst vorteilhafter Gestaltung der Verhältnisse des Haftenden ausgenutzt. Dagegen werde die von Kindern ausgehende Gefahr bei § 832 BGB von den Eltern nicht zum eigenen Nutzen aus-
646
M. Fuchs, NZV 1998, 7 (8). Pardey, DAR 2001, 1. 648 Eckert, S. 165. 649 LsrenzJ Canaris, Schuldrecht, § 79 IV 1 c. 650 Steffen, VersR 1998, 1449(1451 Fn. 16). 651 v. Caemmerer, DJT-FS, Bd. II, S. 49 (126, 117), der aber nur kurz auf § 832 BGB eingeht. 647
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geübt. Vielmehr erfüllten die Eltern eine öffentliche Aufgabe, wozu sie kraft Gesetzes verpflichtet seien, § 1626 Abs. 2 BGB. Zwar trage der Umstand, dass das Fehlverhalten in der Sphäre des Aufsichtsführenden liege, in vielen Fällen einen Beweis des ersten Anscheins; es reiche aber nicht aus, das Unaufklärbarkeitsrisiko bei jeder Schadenszufügung durch ein Kind auf die Eltern abzuwälzen. Die im Gesetz tatsächlich erfolgte Zuweisung dieses Risikos an die Eltern könne deshalb nur aus reinen Veranlassungs- und Präventionserwägungen erklärt werden. Da die vorwiegende Prävention im Zivilrecht aber nur in engen Grenzen anerkannt sei, fehle es an einem tragenden legislatorischen Grund für die Umkehr der Beweislast652. Dahlgrün - die Deutsch zustimmt - weist zudem daraufhin, dass sich in den Gesetzesmaterialien zu § 832 BGB kein Hinweis auf Präventionserwägungen findet. Sie vertritt (1979) des Weiteren den Standpunkt, die von Kindern ausgehende Gefahr werde von den Eltern ebenso sehr im Interesse der Allgemeinheit eröffnet und aufrechterhalten wie zum eigenen Nutzen, der in einem weiteren Sinn zu verstehen sei. Die ratio der Verschuldensvermutungen in §§ 831, 833 S. 2, 834 und 836 bis 838 BGB treffe daher für § 832 BGB nicht zu 6 5 3 . 2002 forderten Deutsch/Ahrens die Abschaffung des § 832 BGB. Hinter der Vorschrift habe sich früher der Zugriff auf das Familienvermögen verborgen, eine Funktion, die wegen der Schadensstreuung durch die Haftpflichtversicherung weggefallen sei 654 . Großfeld/Mund griffen als erste die Problematik der veränderten Verhältnisse bei der Altersversorgung auf. Sie gingen dabei ausführlich auf die Folgen einer künftigen Anwendung des § 832 Abs. 1 BGB ein. Danach kompensierte früher der Vorteil der Eltern bei der Altersversorgung ihre Schadensersatzpflicht aus § 832 Abs. 1 BGB. Dieser Vorteil und somit auch der tragende Gedanke für die Beweislastumkehr sei weggefallen. So zahlten die Kinder aufgrund des fälschlich so bezeichneten Generationenvertrages in die Rentenversicherung, die nicht ihren Eltern, sondern ganz überwiegend fremden Leuten, vor allem Kinderlosen, zugute komme. Die Familien mit Kindern subventionierten so die Kinderlosen bei der staatlichen Altersversorgung. Daneben hätten die Kinderlosen einen Vorteil in der Vermögensbildung, der von Eltern mit Kindern nicht aufgeholt werden könne. So werde anhand der Altersversorgung, bei der früher der Vorteil der Eltern lag, heute ihr Nachteil besonders deutlich. Ein Kinderloser erwerbe heute Rentenansprüche in einer Höhe, die für eine Mutter unerreichbar seien. Hingegen könnten die Eltern bei einer Haftung aus § 832 652
Deutsch, JZ 1969, 233 f. Dahlgrün, S. 76 ff. Zuvor hatte auch Jayme (S. 153 f, 166) die beiden tragenden Gedanken des §831 BGB - wirtschaftlicher Vorteil und Weisungsgebundenheit des Verrichtungsgehilfen - für nicht auf § 832 BGB übertragbar gehalten. Tragender Grund des § 832 BGB sei vielmehr die sich aus dem Familienrecht ergebende Rechtsmacht, die Erziehung der Kinder zu lenken. 654 Deutsch/Ahrens, Rn. 332. 653
3 4 2 2 . Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
Abs. 1 BGB auch noch ihre Ersparnisse für die Altersversorgung verlieren. In seiner jetzigen Fassung sei § 832 Abs. 1 BGB deshalb nicht haltbar, weil Kinder heute mehr als früher für die Allgemeinheit von Nutzen seien. Durch einen Vergleich mit den §§ 831, 833, 834 BGB sei eine einseitige Risikozuweisung der Gerichte infolgedessen nicht mehr zu rechtfertigen. Zudem sei die Elternhaftung weiter als die Haftung für den Verrichtungsgehilfen in § 831 Abs. 1 BGB. Dort müsse der Schaden bei der Ausführung einer Verrichtung verursacht werden, weshalb der Bereich der Haftung für den Geschäftsherrn überschaubar sei; hingegen hafteten Eltern grundsätzlich für alle Schäden, die ihr Kind verursache. Ebenso scheide das Veranlasserprinzip wegen Art. 6 Abs. 1 GG als Rechtfertigungsgrund aus. Zwar beruhe die Umkehr der Beweislast weiterhin auf dem Gedanken, dass die Gestaltung der Abläufe bei den Eltern liege, mithin die Eltern ihre Kinder beeinflussen und Schäden verhindern könnten. Dieser Einfluss sei aber heute viel geringer, als es sich der historische Gesetzgeber vorstellte. Infolgedessen treten Großfeld/Mund für eine geänderte Risikoverteilung und eine Abschaffung der Beweislastumkehr ein. Da die Allgemeinheit die Vorteile aus der Existenz von Kindern ziehe, müsse sie auch für die Nachteile aufkommen. Die von den Kindern verursachten Schäden sollten deshalb nicht von den Eltern, sondern von der Allgemeinheit getragen werden. Denn ihr komme die Geburt, Versorgung und Erziehung der Kinder zugute 655 . Auch A. Fuchs 656 , Belling/Eberl-Borges 657 und Schoof 658 halten aufgrund der kollektiven Alterssicherungssysteme den Vorteilsgedanken des § 831 BGB nicht mehr auf § 832 BGB übertragbar. Schoof betont die im gesamtgesellschaftlichen Interesse liegende soziale Aufgabe der Familiengründung. Die Eltern erfüllten so eine Aufgabe im öffentlichen Interesse, da nur durch die folgende Generation die Aufrechterhaltung des Sozialsystems und damit des Staatswesens garantiert bleibe. Wegen dieser Leistung der Eltern müssten Schädigungen von der Gesellschaft in Kauf genommen werden, möge dies für den betroffenen Geschädigten auch nur schwer hinnehmbar sein 659 . Belling/Eberl-Borges weisen weiterhin auf die geänderte Aufgabenverteilung innerhalb der Familie seit dem In-Kraft-Treten von § 832 BGB hin. So habe sich das Eltern-Kind Verhältnis und die Stellung der Familie in der Gesellschaft gewandelt. Als Konsequenz daraus seien die Schadensrisiken, die von Minderjährigen ausgingen, heute anders zwischen dem Aufsichtspflichtigen und der Gesellschaft zu verteilen 660 . Und auch Albilt zufolge müssen die Risiken, die trotz „genügender Beaufsichtigung" die Allgemeinheit bedrohen, von niemand 655 656 657 65i 659 660
Großfeld/Mund, FamRZ 1994, 1504, 1508 f. A. Fuchs, S. 188. StdLMdmgcrlBelling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 3. Schoof, S. 109 ff. Schoof, S. 118, 125 f. SXm&mgtxlBelling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 177.
§ 4 Die gesellschaftliche Entwicklung der Familie
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anderem als eben der Allgemeinheit getragen werden 661 . In diese Richtung argumentiert ebenfalls Haberstroh, der auf die o. g. Rechtsprechung eingeht. Es gehe zu weit, wenn der tragende Gedanke des § 832 BGB gemeinhin dahin formuliert werde, dass das Risiko, das von Kindern ausgehe, in erster Linie von den Eltern getragen werden solle. Mit der im Familienrecht in § 1626 Abs. 2 S. 1 BGB formulierten Vorgabe, bei der Erziehung die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbstständigem Handeln zu berücksichtigen, verpflichte der Gesetzgeber die Eltern im Gegenteil sogar fast ausdrücklich, gewisse Risiken einzugehen662.
2. Eigene Stellungnahme Die Gesetzesverfasser haben Minderjährige für generell gefährlich und aufsichtsbedürftig gehalten. Mit der Beweislastumkehr in § 832 Abs. 1 BGB haben die Gesetzesverfasser deutlich gemacht, dass ihres Erachtens ein Schaden, der durch einen Minderjährigen verursacht wird, i. d. R. auf einer unzureichenden Aufsichtsführung beruht. Diese Einschätzungen treffen weiterhin zu. Der primäre Schutzzweck des § 832 BGB geht deshalb auch heute dahin, die Allgemeinheit vor Schädigungen durch den Aufsichtsbedürftigen zu bewahren. Des Weiteren tragen heute die Gedanken der Familiensolidarität und der persönlichen Nähe zwischen Eltern und Kind die Haftung der Eltern aus § 832 Abs. 1 BGB 6 6 3 . Ihr Grund besteht somit auch in der durch die §§ 1626, 1631 Abs. 1 BGB bestimmten Pflicht der Eltern 664 . Die tragenden Gründe der Elternhaftung rechtfertigen die anzutreffende Praxis aber nicht, jegliches Unaufklärbarkeitsrisiko bei der Schadensverursachung durch ein Kind den Eltern aufzubürden. Denn die Beweislastverteilung beantwortet nicht die materielle Vorfrage, was die Aufsichtspflicht der Eltern im Einzelnen umfasst 665. Durch eine so starr angewandte Risikozuweisung fließen die gesellschaftlichen Gegebenheiten und Vorstellungen aus der Entstehungszeit des § 832 BGB in die heutige Entscheidungsfindung der Gerichte ein. Eine den heutigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Rechnung tragende Risikoverteilung bildet in der Rechtsprechung indessen die Ausnahme, obwohl es entsprechend begründete Forderungen im Schrifttum gibt. Dabei ist die einseitige Risikozuweisung in § 832 Abs. 1 BGB durch Teile von Rechtsprechung und Schrifttum in mehrfacher Hinsicht unverständlich. 661
Albilt, S. 234. Haberstroh, VersR 2000, 806 (811). 663 Scheffen/Pardey, Rn. 127. 664 OLG Hamm MDR 2000, 1373 (1374) = NJW-RR 2002, 236 (237) = OLGR 2000, 266 (268) v. 09.06.2000. 665 Medicus, Gesetzliche Schuldverhältnisse, S. 58. 662
3 4 4 2 . Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
Die Argumentation geht in Richtung einer Gefährdungshaftung der Eltern für die von ihren Kindern ausgehenden Risiken. Das wird der Stellung von § 832 BGB im Haftungssystem des BGB nicht gerecht. Die Haftung im Deliktsrecht lässt sich in die beiden Gruppen Verschuldenshaftung und Gefährdungshaftung unterteilen, welche sich jeweils erneut untergliedern lassen. Das Wesen der (vermuteten) Verschuldenshaftung besteht darin, dass jede Person nur für ihr eigenes Handeln verantwortlich ist. Bei der Gefährdungshaftung hat hingegen eine Person für ein sachlich begrenztes Risiko einzustehen, ohne Rücksicht darauf, wer die Gefahr verwirklicht hat. Insoweit umfasst die Gefährdungshaftung auch eine Haftung für fremdes Handeln, ohne dass es einer besonderen Zurechnungsnorm bedarf 666 . Die Verschuldenshaftung unterteilt sich in die Gruppen Haftung für nachgewiesenes Verschulden und Haftung für vermutetes Verschulden, in welche § 832 Abs. 1 BGB einzuordnen ist. Durch § 832 Abs. 1 S. 1 BGB wird bei einer widerrechtlichen Schädigung eines Dritten durch den Aufsichtsbedürftigen eine dreifache widerlegbare Vermutung aufgestellt. Es wird vermutet, der Aufsichtspflichtige habe seine Aufsichtpflicht (pflichtwidrig) verletzt (§ 832 Abs. 1 S. 2 F 1 BGB), diese Aufsichtspflichtverletzung sei kausal für die schädigende Handlung des Aufsichtsbedürftigen (§ 832 Abs. 1 S. 2 F 2 BGB) und zudem schuldhaft erfolgt. Die Existenz der letzten Vermutung ergibt sich nicht ausdrücklich aus dem Gesetz. Mehrheitlich wird aber von einer Vermutung der Schuldhaftigkeit der Aufsichtspflichtverletzung ausgegangen667. Durch diese dreifache Vermutung in § 832 Abs. 1 BGB 666
Medicus, Bürgerliches Recht, Rn. 778. BGH LM Nr. 11 zu § 832 BGB (= VersR 1976, 878 [879]) v. 06.04.1976; RGRK/Kreft, § 832 Rn. 2; Uk/Staudinger, § 832 Rn. 1; Erman/Schiemann, § 832 Rn. 1; BaumgOrtd/Baumgärtel, § 832 Rn. 3; Kötz/Wagner, Rn. 330; A. Fuchs, S. 116 f, 206; Dahlgrün, S. 71; Haberstroh, VersR 2000, 806 (811). Belling/Eberl-Borges (in Staudinger, § 832 Rn. 6, 146, 152) stimmen dem Ergebnis zu, halten jedoch die Formel „§ 832 regele eine Haftung für vermutetes eigenes Verschulden" für etwas voreilig. Sie verweisen darauf, dass in § 832 BGB - entgegen dem Beschluss der II. Kommission (Protokolle II, S. 593 = Mugdan II, S. 1088 f) und den §§ 831, 833, 834, 836 BGB - die Bestimmung fehle, wonach sich die Entlastung auf die Beobachtung der „im Verkehr erforderlichen Sorgfalt" und damit auch auf das Verschulden zu beziehen habe. Die Verschuldensvermutung ergebe sich jedoch aus einem erst recht Schluss, da § 832 BGB bereits die Pflichtwidrigkeit und ihre Kausalität für den Schaden vermute und der Gesetzgeber - wie in §§ 282, 285 BGB a. F. - am ehesten geneigt sei, Beweiserleichterungen bei der Kategorie des Verschuldens zuzulassen. Schoof(S. 37 Fn. 81) hält die Auffassung, die Vermutungswirkung des § 832 Abs. 1 BGB erstrecke sich auf die dritte Vermutung, die Eltern hätten die Aufsichtspflicht schuldhaft verletzt, für eine künstliche Aufspaltung des § 832 Abs. 1 BGB. Denn die Vermutung der Aufsichtspflichtverletzung enthalte bereits ein Verschuldenselement. Ihr ist zuzugeben, dass das Fehlen des Verschuldens von der Rechtsprechung i. d. R. nicht gesondert festgestellt wird (Jmemig/Teichmann, § 832 Rn. 7; A. Fuchs [S. 119]: „in der Praxis ohne Bedeutung"), nur wenige Gerichte deshalb auf den Prüfpunkt Schuld eingehen (so OLG Stuttgart, VersR 1963, 888 v. 29.06.1961; OLG München HRR 1940 Nr. 1021 v. 22.01.1940; LG Frankfurt/M. VersR 1960, 1025 v. 24.06.1960) und auch 667
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wird deutlich, dass die Eltern weder für die Handlungen noch für das Verschulden ihrer Kinder haften 668 . Vielmehr haften sie für ihr eigenes, pflichtwidriges Unterlassen der im konkreten Fall gebotenen Aufsichtsführung, welches vermutet wird. Somit hat § 832 Abs. 1 BGB das Prinzip der Verschuldenshaftung nicht verlassen, es handelt sich nicht um eine Gefährdungshaftung. Die unbedingt einseitige Risikozuweisung der Gerichte ist daher mit der Stellung der Vorschrift im Haftungssystem des BGB nur schwer zu vereinbaren. Keineswegs ist im Rahmen von § 832 BGB dem Interesse des Geschädigten an der Schadensvermeidung der absolute Vorrang vor dem Entfaltungsspielraum des Aufsichtsbedürftigen einzuräumen 669. Denn das Verschuldensprinzip bezweckt den Schutz der Handlungsfreiheit. Innerhalb eines begrenzten Freiraums muss der Mensch tätig werden können, ohne wegen der Folgen seines Tuns Ersatzverpflichtungen oft erheblicher Höhe gewärtigen zu müssen. Nicht wegen jeder Schadensgefahr soll ein sozialförderliches Tun unterbleiben oder mit weitreichender Vorsicht belastet werden. Jede Freiheit wird entwertet, soweit ihre Ausübung mit einer Schadensersatzpflicht belastet ist 670 . Deshalb sollen Eltern nicht mit einer Haftung rechnen müssen, wenn zwar durch ihr Kind ein Schaden verursacht wurde, sie aber ihre Aufsichtspflicht nicht unter Außerachtlassung der erforderlichen Sorgfalt verletzt haben. Die einseitige Risikozuweisung in Teilen der Rechtsprechung stößt wegen des Normcharakters der Vorschrift ebenfalls auf Bedenken. Bei § 832 BGB handelt es sich um eine eigenständige Anspruchsgrundlage in Form eines Unterlassungsdeliktes 671. In ihr wird die Haftung für die Verletzung der Aufsichtspflicht als spezielle, präventiv orientierte Ausformung einer Verkehrspflicht 672
mehrere Stimmen nur von einer doppelten Vermutung in § 832 Abs. 1 BGB sprechen (OLG Jena OLG-NL 1998, 101 v. 21.10.1997; AG Königswinter NJW-RR 2002, 748 v. 17.10.2001; Palandt/7Viomay, § 832 Rn. 1; Geigei /Haag, Kap. 16, Rn. 39; Schlegelmilch, ZAP Fach 2, S. 121 [126], III 2; ders., ZAP Fach 2, S. 227 [231 f], VII 2 b aa). 668 Deshalb ist das häufig anzutreffende Schild mit der Aufschrift „Eltern haften für ihre Kinder" unzutreffend (statt vieler Deutsch/Ahrens, Rn. 335). 669 ErmanJSchiemann, § 832 Rn. 6; SoergelIZeuner, § 832 Rn. 14. 67 0 Deutsch, Allgemeines Haftungsrecht, Rn. 22; Medicus, Jura 1996, 561. 671 Hk/Staudinger, § 832 Rn. 1; Steudinger/Belling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 2; Schoof, S. 122. 672 Rechtsprechung und Literatur differenzieren häufig zwischen Verkehrspflichten und Verkehrssicherungspflichten. Die Bezeichnung Verkehrssicherungspflicht wird oft dort verwandt, wo sich die abzuwendenden bzw. zu mindernden Gefahren aus der Beschaffenheit von Straßen, Wegen, Häusern, Grundstücken usw. ergeben. Geht es um den Schutz vor anderen Gefahren, bezeichnet man diese als Verkehrspflichten. In der Sache hängt von dieser sprachlichen Unterscheidung nichts ab (Kötz/Wagner, Rn. 233). Es geht bei den Verkehrspflichten in einem umfassenden Sinne um die Steuerung von Gefahren, unabhängig davon, aus welcher Quelle sie stammen (v. Bar, Verkehrspflichten, § 1 III 3). Die Verkehrspflicht, die dem Pflichtigen ein gefahrvermeidendes oder -abwendendes Verhalten auferlegt, findet ihre Rechtfertigung in den Gedanken der Ri-
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2. Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
statuiert 673. Daraus ergibt sich die Spezialität der Norm bei der Verletzung der Aufsichtspflicht gegenüber der allgemeinen (beweisrechtlich ungünstigeren) Haftungsnorm des § 823 Abs. 1 BGB. Die Funktion des § 832 BGB besteht somit darin, specialiter ein bestimmtes Unterlassen - die fehlerhafte Beaufsichtigung eines Aufsichtsbedürftigen - mit einer Schadensersatzpflicht zu bewehren 674 . Jedoch geht die Spezialität des § 832 Abs. 1 BGB gegenüber § 823 Abs. 1 BGB nur soweit, wie die gegenständliche Unterlassung als eine Aufsichtspflichtverletzung i. S. d. § 832 Abs. 1 BGB einzuordnen ist, der Schaden also auf mangelhafter elterlicher Aufsicht beruht. § 832 Abs. 1 BGB bedroht die Eltern daher nicht mit einer umfassenden Haftungssanktion; für andere Verkehrspflichtverletzungen kommt eine Haftung des Aufsichtspflichtigen aus § 823 Abs. 1 BGB in Betracht 675 . Die pauschale Risikozuweisung der Rechtsprechung berücksichtigt diese Spezialität des § 832 BGB hingegen nicht. Auch die zeitliche Abfolge der Argumentation ist nicht verständlich. Die Rechtsprechung besann sich in ihren grundsätzlichen Ausführungen zu § 832 BGB sehr spät auf das Argument, wonach das von Kindern ausgehende Risiko von den Eltern getragen werden soll. So kamen die Gerichte zunächst über 80 Jahre in der Entscheidungsfindung aus, ohne ausdrücklich auf den vorgenannten Grundgedanken zurückzugreifen. Sie zogen ihn erst nach einer Vielzahl
sikoveranlassung, -beherrschung, der Einheit von Risiko und Vorteil sowie dem Vertrauensgedanken (Raab, JuS 2002, 1041 [1045]). 67 3 Pardey, DAR 2001, 1; M Fuchs, NZV 1998, 7 (8); Schlegelmilch, ZAP Fach 2, S. 121 f, II 1 a, b; LarenzICanaris, Schuldrecht, § 79 IV 1 a. A. A. Schoo/(S. 111), die es ablehnt, § 832 Abs. 1 BGB als Haftungstatbestand für eine gesetzliche Verkehrspflicht zu qualifizieren. Das werde den tatsächlichen Gegebenheiten nicht gerecht und sollte unterbleiben. Eltern eröffneten durch ihre Kinder keine besondere Gefahrenquelle; auch sei der Umstand der Familiengründung für sich genommen kein gefährliches Handeln. 674 v. Bar, Verkehrspflichten, § 1 III 3 a. 675 Staudinger/Belling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 163; Hk/Staudinger, § 832 Rn. 3. In der Entscheidung des BGH in LM Nr. 10 zu § 832 BGB v. 02.12.1975 (= VersR 1976, 435) wird diese Spezialität deutlich. Ein ebenfalls im Krankenhaus untergebrachter 7Jähriger hatte zwei Säuglinge - darunter den Kläger - aus ihren Bettchen genommen und fallen gelassen. Diese trugen durch den Sturz körperliche und geistige Dauerschäden davon. Der BGH führte aus, die beklagte Krankenhausträgerin träfe aus § 823 Abs. 1 BGB die Pflicht, die Schädigung der aufgenommenen Patienten durch Dritte zu verhindern. Die Verschuldensprüfung könne aber dahinstehen, da der Beklagten die Aufsichtspflicht aus § 832 BGB über den Schädiger oblag. Schon deshalb sei sie verpflichtet, jeden durch ihn verursachten Schaden zu ersetzen, da der Entlastungsbeweis nach § 832 Abs. 1 S. 2 BGB nicht geführt worden sei. Offengelassen: KG KGR 1997, 245 (247) v. 14.07.1997. A. A. Schlegelmilch (ZAP Fach 2, S. 121 f, II 1 a), der die §§ 832, 823 Abs. 1 BGB in einer Konkurrenzsituation sieht. Aufgrund der Verschuldensvermutung sei die Haftung aus § 832 BGB jedoch leichter durchzusetzen als aus § 823 Abs. 1 BGB.
§ 4 Die gesellschaftliche Entwicklung der Familie
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von Urteilen zur Begründung heran. Logisch und konsequenter wäre dagegen ein genau entgegengesetztes Vorgehen gewesen. Für die unteren Instanzen ist die wiederkehrende Argumentation des BGH zu einem „Totschlagargument" geworden, auf welches sie sich zu Lasten der Eltern zurückziehen können. Denn gerade in der strukturierenden Leitlinienfunktion sah 1997 der Präsident des BGH Geiss die Aufgabe der zivilrechtlichen Revisionspraxis seines Gerichtshofs 676. Und nach Brüggemeier ist die höchstrichterliche Leitentscheidung das dynamische Element des Haftungsrechts. Sie verteile u. a. neu aufgetretene Schadensrisiken, definiere Handlungsspielräume neu und formuliere neue Grundsätze 677. So setzte das LG Lüneburg in einem Urteil v. 09.01.1997 konsequent die einseitige Risikoargumentation des BGH um. Die Kammer bejahte eine Aufsichtspflichtverletzung der Eltern, weil sie nur im Abstand von 5 Minuten nach ihrer 4-jährigen Tochter gesehen hatten, welche auf einer öffentlichen Straße spielte. Die Entscheidungsgründe der Kammer schließen mit den Worten: „Für die Richtigkeit des zuvor gefundenen Ergebnisses spricht schließlich auch folgende Erwägung ..." Es folgt der Verweis auf den o. g. Grundgedanken des § 832 sowie das Einwirkungs- und das Versicherungsargument 678. Des Weiteren steht die Argumentation der Rechtsprechung im Widerspruch zu den Vorgaben des § 1626 Abs. 2 BGB, wie Haberstroh 679 zutreffend angemerkt hat. Die Aufsichtspflicht muss mit dem insgesamt anzustrebenden Erziehungsziel des § 1626 Abs. 2 BGB in Einklang gebracht werden, dem Minderjährigen zur Entwicklung seiner Persönlichkeit zu verhelfen und ihn zu selbstständigem verantwortungsbewusstem Handeln zu erziehen. Wie dargestellt 680 greifen die Gerichte bei der abstrakten Bestimmung des Aufsichtsmaßes wiederholt auf das in § 1626 Abs. 2 BGB umschriebene Erziehungsziel zurück 681 und rechtfertigen damit auch gewisse pädagogisch vertretbare Freiräume für die Eltern 682 . Von den Urteilen mit der abstrakten einseitigen Risikozuweisung
67 6
Geiss, ZRP 1997, 165. Brüggemeier, Haftungsrecht, S. 26. 678 LG Lüneburg VersR 1999, 102 v. 09.01.1997 (vgl. 1. Teil § 3 IV 1). 67 9 Haberstroh, VersR 2000, 806 (811). 680 Vgl. 1. Teil §2 II 2. 681 BGH LM Nr. 12 zu § 832 BGB (= NJW 1980, 1044 [1045]) v. 27.11.1979; OLG Düsseldorf NJW 1986, 2512 (2513) v. 21.05.1986; VersR 1988, 56 v. 03.06.1986; NJW-RR 1996, 671 v. 14.12.1995; 1999, 1620 v. 18.12.1997; r+s 1997, 413 v. 19.09.1996; OLG Oldenburg r+s 1987, 224 v. 07.07.1986; OLG Celle NJW-RR 1987, 1384 (1385) v. 01.07.1987; 1988, 216 v. 27.05.1987; FamRZ 1998, 233 v. 12.02.1997; OLG Hamm OLGZ 92, 95 (96) v. 02.05.1991; FamRZ 1995, 167 v. 07.12.1993; MDR 2000, 1373 (1374) v. 09.06.2000; LG Arnsberg FamRZ 1995, 602 v. 05.08.1994; AG Bersenbrück VersR 1994, 108 v. 03.03.1993; AG Ansbach VersR 1994, 1197 L v. 02.04.1993. 682 BGH LM Nr. 12 zu § 832 BGB (= NJW 1980, 1044 [1045]) v. 27.11.1979; LM Nr. 15 zu § 832 BGB (= NJW 1984, 2574 [2575]) v. 10.07.1984; OLG Hamm NJW-RR 67 7
3 4 8 2 . Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
zu Lasten der Eltern berücksichtigt nur das OLG Celle § 1626 Abs. 2 BGB und die daraus zu ziehenden Konsequenzen für das Maß der gebotenen Aufsicht 683 ; und der BGH gesteht den Kindern in einem Urteil zu, Neuland zu entdecken und zu erobern. Anderenfalls würde jede vernünftige Entwicklung des Kindes, insbesondere der Umgang mit der Gefahr, gehemmt 684 . Die Tatsache, dass in fünf Urteilen die Schäden durch schwer erziehbare bzw. einschlägig aufgefallene Kinder verursacht wurden, erklärt die fehlende Berücksichtigung von § 1626 Abs. 2 BGB nur bedingt 685 . Denn nur ein Gericht stellte bei der einseitigen abstrakten Risikozuweisung auf diese negativen Kindeseigenschaften ab 686 ; zwei weitere beendeten ihre Subsumtion mit dem Hinweis, das besondere Schadensrisiko sei nach dem gesetzgeberischen Willen nicht dem Geschädigten aufzubürden 687. Der gesellschaftliche Wandel und die heute herrschenden Rahmenbedingungen für Familien werden so in der Spruchpraxis nur unzureichend berücksichtigt; die Risikoverteilung beruht teilweise noch stark auf dem überholten Familien- und Gesellschaftsbild des historischen Gesetzgebers. Sie orientiert sich an einem Bild der Gesellschaft, welches es heute nicht mehr gibt, wobei u. a. das Urteil des OLG Hamm v. 16.09.1999 eine Ausnahme bildet 688 . Dadurch wird die Familie mit einem Haftungsrisiko belastet, das abschreckend wirkt. Kinder haben ihren Preis. Nur verteilt die Rechtsprechung mit ihrer unbedingten Risikozuweisung diesen Preis im Deliktsrecht sehr einseitig, und zwar zu Lasten der Eltern. Damit fügt sie sich nahtlos in das Gesellschaftssystem ein, welches ebenfalls nicht nach dem Umstand differenziert, ob Menschen die Verantwortung für Kinder übernehmen oder nicht. Kinderlose profitieren heute von den persönlichen Einschränkungen sowie finanziellen Belastungen der Eltern. Die einseitige Interpretation der vermuteten Verschuldenshaftung aus § 832 Abs. 1
1988, 798 v. 21.09.1987; MDR 2000, 454 (455) v. 16.09.1999; OLG Hamburg NJWRR 1988, 799 v. 08.04.1988; OLGR 1999, 190 (192) v. 26.02.1999; OLG Düsseldorf VersR 1996, 710 (711) v. 12.10.1995; NJW-RR 1996, 671 v. 14.12.1995; r+s 1997, 413 v. 19.09.1996. 683 OLG Celle FamRZ 1998, 233 v. 12.02.1997. Der Senat wies die Klage ab. 684 BGH LM Nr. 15 zu § 832 BGB (= NJW 1984, 2574 [2575]) v. 10.07.1984. Der BGH hob das haftungsbejahende Urteil der Vorinstanz auf und verwies zurück. 685 BGH LM Nr. 20 zu § 832 BGB (= NJW 1995, 3385 [3386]) v. 10.10.1995; BGH LM Nr. 21 zu § 832 BGB (= NJW 1996, 1404) v. 27.02.1996; LM Nr. 22 zu § 832 BGB (= NJW 1997, 2047 [2048]) v. 18.03.1997; OLG Hamm VersR 1990, 743 (744) v. 27.04.1989; AG Flensburg NJW-RR 1999, 1041 (1042) v. 05.11.1998. 686 AG Flensburg NJW-RR 1999, 1041 (1042) v. 05.11.1998. Dort heißt es: „Das Risiko, das Dritten durch schwererziehbare Kinder droht, kann nicht dem Geschädigten aufgebürdet werden." (vgl. 1. Teil § 3 IV 2). 687 BGH LM Nr. 20 zu § 832 BGB (= NJW 1995, 3385 [3386]) v. 10.10.1995; BGH LM Nr. 21 zu § 832 BGB (= NJW 1996, 1404) v. 27.02.1996. 688 OLG Hamm MDR 2000, 454 (455) v. 16.09.1999.
§ 4 Die gesellschaftliche Entwicklung der Familie
349
BGB ist für die Eltern eine zusätzliche Last, ein zusätzliches finanzielles Risiko. Dabei werden Kinder für den Fortbestand der Gesellschaft und die Funktionsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme immer wichtiger. Die einseitige Risikozuweisung in § 832 Abs. 1 BGB durch Teile von Rechtsprechung und Schrifttum, wonach Eltern über das allgemeine Haftungsrisiko hinaus für ihre Kinder einstehen müssen, passt deshalb nicht mehr in eine Zeit, in der die Allgemeinheit die Lasten der sozialen Sicherungssysteme auf die Eltern überträgt. Dieser grundlegende Wandel muss bei einer künftigen Auslegung des offenen Tatbestands § 832 Abs. 1 BGB berücksichtigt werden. Die Familie ist die Basis der Gesellschaft, heute mehr denn je. Es ist eine verfassungskonforme, an den tatsächlichen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen orientierte Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs „Aufsichtspflichtverletzung" vorzunehmen. Die berechtigten Interessen des Geschädigten werden durch die Beweislastumkehr in § 832 Abs. 1 BGB weiterhin hinreichend berücksichtigt. Wie bereits von Belling/Eberl-Borges ausgeführt, muss es Aufgabe des Staates sein, zur Elternschaft zu ermutigen. Infolgedessen darf die Erziehung von Kindern nicht mit unzumutbaren Haftungsrisiken belastet werden 689 ; den Eltern darf in § 832 Abs. 1 BGB nicht mehr jegliches Unaufklärbarkeitsrisiko auferlegt werden. Vielmehr muss ihnen - vor allem den Berufstätigen - die Erfüllung ihrer elterlichen Pflichten erleichtert werden. Die gewandelten gesellschaftlichen Verhältnisse und die Bedeutung der Kindererziehung müssen deshalb bei einer künftigen Auslegung von § 832 Abs. 1 BGB beachtet werden. Einschränkend ist aber anzumerken, dass bei der zukünftigen Auslegung nicht bereits der Umstand, Kinder in die Welt gesetzt zu haben, haftungsmindernd heranzuziehen ist. Erforderlich ist vielmehr, dass die Eltern ihren Kindern die bestmögliche Entfaltung der eigenen Persönlichkeit ermöglichen und sie zu verantwortungsvollen, leistungsfähigen und -willigen Gliedern der Gesellschaft erziehen 690. Nur dann profitiert auch die Allgemeinheit von ihnen; nur in diesem Fall ergibt sich die nachgezeichnete Schieflage aufgrund der Belastung der Eltern zugunsten der Gesellschaft einerseits und dem sich aus § 832 Abs. 1 BGB ergebenden Haftungsrisiko andererseits. Gleichgültige Eltern verdienen deshalb auch künftig keine Haftungserleichterung; ebenso wenig ist ein höheres Maß an Erziehungsfreiheit mit einem erziehungsfreien bzw. -losen Aufwachsen des Kindes gleichzusetzen. Die körperliche Integrität und das Eigentum Dritter sind durch die Eltern und das Kind zu respektieren, daran darf kein Zweifel bestehen. Eine Vernachlässigung der Kinder muss weiterhin haftungsbegründend wirken. Infolgedessen dürfen Eltern in Zukunft ihre Aufsichtspflicht nicht zu Lasten Dritter außer Acht lassen; eine Haftung ist in jedem Fall anzunehmen, wenn die Eltern eine bewusste oder leichtfertige Ge-
689 690
Staudinger1 Belling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 177; ebenso Schoof, S. 119. Das fordert auch Zuleeg, NVwZ 1986, 800 (806).
3 5 0 2 . Teil: Der rechtliche und gesellschaftliche Kontext von § 832 BGB
fährdung fremder Rechtsgüter durch ihr Kind zulassen oder tolerieren. Deshalb ist z. B. eine Haftung aus § 832 Abs. 1 BGB anzunehmen: Das schulpflichtige Kind beschädigt eine gestrichene Wand, indem es sie als Fußballtor nutzt oder an ihr lehnend seinen Schuhabdruck hinterlässt. Oder es benutzt eine Grünanlage als Abkürzung bzw. Spielplatz und tritt dabei Pflanzen nieder oder knickt deren Äste und Zweige ab. Deswegen zur Rede gestellt, lässt das Kind keinerlei Unrechtsbewusstsein erkennen. Eine Haftungsentlastung der Eltern wäre hier unangemessen; damit würde nur ihre bisherige Gleichgültigkeit bezüglich der Erziehung und des Verhaltens ihres Kindes honoriert.
3. Teil
Die Reformgedanken zu § 832 BGB § 1 Die bisher vertretenen Reformvorschläge Die Kritik an § 832 BGB reicht weit zurück. Die Reformvorschläge umfassen dabei ein weites Spektrum. Sie reichen von der unveränderten Beibehaltung des § 832 BGB bei elternfreundlicherer Auslegung bis zu seiner Abschaffung und Ersetzung durch eine Gefahrdungshaftung der Eltern. Dazwischen stehen die Vertreter einer Versicherungslösung.
I. Der Gesichtspunkt des Privathaftpflichtversicherungsschutzes Heute ist es üblich geworden, dass Eltern Haftpflichtversicherungsverträge abschließen. Dieser Aspekt ist bei den nachfolgenden Reformvorschlägen zu beachten. 1979 besaßen nach Angaben von Schlegelmilch fast 80% aller Haushalte mit Kindern unter zehn Jahren eine Privathaftpflichtversicherung 1. Die Versicherungsdichte der deutschen Haushalte ab 1982 ergibt sich aus den beiden nachfolgenden Tabellen (S. 352, 353). Schoof zufolge sind nach Schätzungen des GDV private Haftpflichtversicherungen in Haushalten mit Kindern stärker verbreitet. Dort liege der Verbreitungsgrad etwa 10% über dem Durchschnitt 2. Schlegelmilch beziffert 1999 die Versicherungsdichte im Bereich der privaten Haftpflichtversicherung auf 70% bis 80% der Bevölkerung 3; Niboyet spricht für diesen Zeitpunkt unter Berufung auf den GDV von einer Versicherungsdichte von ca. 70% aller Haushalte4. Demgegenüber sprechen Kötz/Wagner für 2000 von rund 60% durch eine Privathaftpflichtversicherung geschützten Haushalten5.
1 Schlegelmilch, 17. VGT (1979), S. 204 (206) unter Berufung auf die Ergebnisse der Marktforschung eines größeren Versicherers. 2 Schoof, S. 133, ohne Quellenangabe. 3 Schlegelmilch, ZAP Fach 2, S. 227 (232), VII 2 a bb, ohne Quellenangabe. 4 Niboyet, S. 191. 5 Kötz/Wagner, Rn. 229, ohne Quellenangabe.
352
3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
Tabelle 8 Verbreitung der Privathaftpflichtversicherung in deutschen Haushalten im Bundesgebiet vor der Wiedervereinigung Bundesgebiet vor der
Jahr
Wiedereinigung, in % 19826
50,3
7
1983
57,1
19848
58,1
9
52,5
1985
198610
53,0
11
1987
55,0
198812
56,0
13
57,0
14
59,0
1989
1990
6
Die deutsche Versicherungswirtschaft: Jahrbuch des GDV 1982, S. 29, Quelle: Allensbacher Werbeträger-Analyse. 7 Die deutsche Versicherungswirtschaft: Jahrbuch des GDV 1984, S. 28, Quelle: Allensbacher Werbeträger-Analyse. 8 Die deutsche Versicherungswirtschaft: Jahrbuch des GDV 1984, S. 28, Quelle: Allensbacher Werbeträger-Analyse. 9 Die deutsche Versicherungswirtschaft: Jahrbuch des GDV 1985, S. 26, Quelle: Allensbacher Werbeträger-Analyse. 10 Die deutsche Versicherungswirtschaft: Jahrbuch des GDV 1986, S. 28, Quelle: Allensbacher Werbeträger-Analyse. 11 Die deutsche Versicherungswirtschaft: Jahrbuch des GDV 1987, S. 108, Quelle: Allensbacher Werbeträger-Analyse. 12 Die deutsche Versicherungswirtschaft: Jahrbuch des GDV 1988, S. 116, Quelle: Allensbacher Werbeträger-Analyse. 13 Die deutsche Versicherungswirtschaft: Jahrbuch des GDV 1989, S. 120, Quelle: Allensbacher Werbeträger-Analyse. 14 Die deutsche Versicherungswirtschaft: Jahrbuch des GDV 1990, S. 40, Quelle: Allensbacher Werbeträger-Analyse.
§ 1 Die bisher vertretenen Reformorschläge
353
Tabelle 9 Verbreitung der Privathaftpflichtversicherung in deutschen Haushalten nach der Wiedervereinigung Jahr
199115 199216 199317 199418 199519 199620 199721 199822 ! 99923
200024 2000/200125 2001/200226 15
Alte Bundesländer Neue Bundeslänund West-Berlin, der und Ostin % Berlin, in % 60,0 61,8 62,9 63,9 61,1 61,4 60,2 61,5 60,2 61,6 64,6 65,3
—
31,3 36,5 — — —
68,0 57,9 65,3 66,3 67,4 68,8
Deutschland nach der Wiedervereinigung, in % — — —
68,0 66,0 65,0 63,0 60,8 61,3 62,5 65,2 66,0
Die deutsche Versicherungswirtschaft: Jahrbuch des GDV 1991, S. 38, Quelle: Allensbacher Werbeträger-Analyse. 16 Die deutsche Versicherungswirtschaft: Jahrbuch des GDV 1992, S. 120, Quelle: Allensbacher Werbeträger-Analyse. 17 Die deutsche Versicherungswirtschaft: Jahrbuch des GDV 1993, S. 42, Quelle: Allensbacher Werbeträger-Analyse. 18 Die deutsche Versicherungswirtschaft: Jahrbuch des GDV 1994, S. 28, Quelle: Allensbacher Werbeträger-Analyse, GDV-Schätzung für Gesamtdeutschland. 19 Die deutsche Versicherungswirtschaft: Jahrbuch des GDV 1995, S. 156, Quelle: Allensbacher Werbeträger-Analyse, GDV-Schätzung für Gesamtdeutschland. 20 Die deutsche Versicherungswirtschaft: Jahrbuch des GDV 1996, S. 106, Quelle: Allensbacher Werbeträger-Analyse, GDV-Schätzung für Gesamtdeutschland. 21 Die deutsche Versicherungswirtschaft: Jahrbuch des GDV 1997, S. 32, Quelle: Allensbacher Werbeträger-Analyse, GDV-Schätzung für Gesamtdeutschland und neue Bundesländer und Ost-Berlin. 22 Die deutsche Versicherungswirtschaft: Jahrbuch des GDV 1998, S. 37, Quelle: Allensbacher Werbeträger-Analyse. 23 Die deutsche Versicherungswirtschaft: Jahrbuch des GDV 1999, S. 37, Quelle: Allensbacher Werbeträger-Analyse. 24 Die deutsche Versicherungswirtschaft: Jahrbuch des GDV 2000, S. 53, Quelle: Allensbacher Werbeträger-Analyse. 25 Die deutsche Versicherungswirtschaft: Jahrbuch des GDV 2001, S. 59, Quelle: Allensbacher Werbeträger-Analyse. 26 Die deutsche Versicherungswirtschaft: Jahrbuch des GDV 2002, S. 51, Quelle: Allensbacher Werbeträger-Analyse.
354
3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
Nach dem GDV vorliegenden Informationen ist derzeit eine Police für eine Jahresprämie ab ca. 60 EUR erhältlich 27 , v. Hippel (1998, 2001) zufolge kostete eine Haftpflichtversicherung damals jährlich nur 100 bis 150 DM 2 8 . Kötz/Wagner bezifferten 2001 die Höhe einer Jahresprämie auf 90 bis 120 DM. Aufgrund der Verbreitung von Haftpflichtversicherungsverträgen sei nach ihrer Annahme in der ganz überwiegenden Zahl der von der Rechtsprechung entschiedenen einschlägigen Fälle der „wahre" Beklagte nicht der Minderjährige oder seine Eltern, sondern ihr Haftpflichtversicherer. Das liege vor allem daran, dass nicht selten die Eltern zur Leistung von Schadensersatz nicht imstande seien und eine Klage gegen sie allein sinnlos wäre, möge sie auch noch so aussichtsreich sein29. Hingegen setzt Niboyet bei ihrer Betrachtung unter umgekehrten Vorzeichen an und betont, dass fast ein Drittel aller Haushalte gegen das Risiko einer zivilrechtlichen Haftung der Eltern nicht abgesichert ist 30 . Abschließend ist anzumerken, dass die Deckungssumme üblicherweise 2 Mio. EUR für Personenschäden und 1 Mio. EUR für Sachschäden beträgt 31. Aber auch eine Haftpflichtversicherung schützt die Eltern nicht immer vollständig vor den gegen sie gerichteten Zahlungsforderungen. Großfeld/Mund verweisen auf die beiden folgenden Urteile, in denen die Eltern trotz des Bestehens einer Privathaftpflichtversicherung nicht vollumfänglich geschützt waren 32 . Im Urteil des OLG Düsseldorf v. 14.09.1990 ging es um 120.000 DM, die nicht durch die Feuerversicherung des Klägers und die Haftpflichtversicherung der Eltern gedeckt waren. Die Mutter wurde gemäß § 832 Abs. 1 BGB zur Zahlung verurteilt 33 . Anders entschied der BGH mit Urteil v. 19.01.1993. Dort hatte die klagende Feuerversicherung von der Haftpflichtversicherung der beklagten Eltern 81.000 D M erhalten. Die Klägerin begehrte von den Eltern außerdem die Zahlung von 92.000 DM. Der BGH wies die Klage ab 34 .
27
E-Mail des GDV v. 11.02.2003 auf Anfrage des Verfassers. v. Hippel, VersR 1998, 26; ders., FamRZ 2001, 748. Sein Verweis auf Goecke (S. 209) trägt bezüglich dieser Angabe nicht, da Goecke an der zitierten Stelle keine Aussagen zu den entstehenden Kosten trifft. 29 Kötz/Wagner, Rn. 316. 30 Niboyet, S. 191. 31 E-Mail des GDV v. 11.02.2003 auf Anfrage des Verfassers. 32 Großfeld/Mund, FamRZ 1994, 1504 (1506 f). 33 OLG Düsseldorf VersR 1992, 321 v. 14.09.1990 (vgl. 1. Teil § 3 II 1 a bb). 34 BGH LM Nr. 19 zu § 832 BGB (= NJW 1993, 1003) v. 19.01.1993 (vgl. 1. Teil § 3 II 1 b). Weitere Urteile mit einer solchen Sachverhaltskonstellation sind nicht ersichtlich. 28
§ 1 Die bisher vertretenen Reformorschläge
355
II. Die einzelnen Reformvorschläge 1. Keine Änderung der Haftungslage a) Beibehaltung des § 832 BGB In seinem Urteil v. 12.02.1997 fuhrt das OLG Celle aus: Haftungsrechtlich ist bei der Ausbildung von Aufsichtspflichten darauf Rücksicht zu nehmen, dass die Haftungsanforderungen des deutschen Rechts beim Einstand für die eigenen minderjährigen Kinder im Vergleich mit einzelnen anderen europäischen Rechtsordnungen eher geringen Umfang haben und zu ihrer Absenkung auch deshalb kein Anlass besteht35. Für Foerste ist es dem Bürger allgemein nicht zuzumuten, etwaige Erziehungsdefizite durch immer größere eigene Anstrengungen auszugleichen. Wollte man der Gesellschaft eine Art Erziehungsausfallhaftung auferlegen, so würde nach seiner Auffassung das elterliche Pflichtbewusstsein auch nicht gestärkt werden 36. In einem ADACExpertengespräch am 21.03.1997 in München bestand unter den teilnehmenden Praktikern im Wesentlichen Einigkeit darüber, dass nicht der Gesetzgeber § 832 BGB ändern solle, sondern dass die Rechtsprechung Kriterien diesbezüglich entwickeln und anwenden müsse, die zu einer Lösung führen 37. Steffen hat sich in seinem Aufsatz zur Haftung von Kindern im Straßenverkehr gegen einen weiteren Ausbau der Aufsichtshaftung der Eltern nach § 832 BGB ausgesprochen. Schadenslasten aus dem Hineinwachsen des Kindes in den Straßenverkehr, die Eltern trotz größter Sorgfalt nicht verhindern könnten, sind Lasten der Gesellschaft, die der Betroffene als sein allgemeines Lebensrisiko selbst tragen müsse38. V. Bar hatte in seinem Gutachten zur Überarbeitung des Schuldrechts 1981 zwar die Streichung von § 832 BGB vorgeschlagen; eine sachliche Änderung war damit aber nicht beabsichtigt. Vielmehr sollte in einem künftigen § 824 BGB die Verletzung sämtlicher Verkehrspflichten unter Umkehrung der Beweislast haftungsrechtlich erfasst werden, so auch die gesetzliche und vertragliche Aufsichtspflicht über eine Person. Eine Haftungsausweitung war bezüglich der tatsächlichen Übernahme der Aufsicht geplant, die nunmehr ebenfalls vom Anwendungsbereich der Beweislastumkehr erfasst werden sollte 39 .
35
OLG Celle FamRZ 1998, 233 v. 12.02.1997 unter Verweis auf v. Bar, Gemeineuropäisches Deliktsrecht, Rn. 131 ff. 36 Foerste, NJW 1995, 2605 f. 37 ADAC-Expertengespräch, DAR 1997, 243 (246). 38 Steffen, VersR 1998, 1449(1451). 39 v. Bar, Gutachten, S. 1760 f, 1765 f.
356
3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
b) Beibehaltung des § 832 BGB mit Plädoyer für eine freiwillige Haftpflichtversicherung Nach M. Schmid (1982) sollte bereits die Beweislastverteilung in § 832 BGB für die Aufsichtspflichtigen Anlass zum Abschluss einer Haftpflichtversicherung sein. Die Beweislastregelung belaste die Eltern sehr stark, weil die Aufsichtsmaßnahmen nicht in aller Öffentlichkeit getroffen würden und deshalb nur schwer zu beweisen seien40. Praktiker in einem ADAC-Expertengespräch am 21.03.1997 und Schoof (1999) forderten in diesem Zusammenhang eine verstärkte Öffentlichkeitsarbeit, um die Eltern zum Abschluss einer Privathaftpflichtversicherung zu veranlassen 41. Für Stein (1997) drängt sich den Eltern im Rahmen des Möglichen ein Haftpflichtversicherungsschutz auf, dessen Inanspruchnahme den Opfern nicht durch ein allzu ausgeprägtes pädagogisches Verständnis der Rechtsprechung versagt bleiben sollte 42 . Wolf spricht sich in seiner Besprechung des Urteils des OLG Düsseldorf v. 18.07.199743 gegen die anzutreffende Tendenz aus, vor dem Hintergrund einer Haftpflichtversicherung der Eltern den Anwendungsbereich des § 832 Abs. 1 BGB durch übersteigerte Anforderungen an die Aufsichtspflicht auszudehnen. Das erscheine rechtspolitisch völlig verfehlt und könne zu grob unbilligen Ergebnissen führen. Statt § 832 BGB extensiv auszulegen sei deshalb das Bestehen einer Familienhaftpflichtversicherung im Rahmen der Billigkeitshaftung des Kindes nach § 829 BGB als Haftungsgrund zu berücksichtigen 44.
2. Die Verschärfung
der Elternhaftung
a) Exkulpation nur bei Unvermeidbarkeit des Schadens Schlegelmilch zufolge befindet sich das Haftungsrecht in einem Umbruch mit der Tendenz der Haftungsverschärfung, was letztlich einem gesteigerten und verbesserten Verbraucherschutz diene. Deshalb hat er sich 1992 dafür ausgesprochen, die Haftung aus der Verletzung der elterlichen Aufsichtspflicht entsprechend der französischen Regelung des Art. 1384 Cc zu verschärfen. Nach diesem Reformvorschlag soll eine Haftung der Eltern nur noch dann entfallen, wenn sie nachweisen, dass sie den Schadenseintritt nicht haben vermeiden können45 . 1999 hat Schlegelmilch seinen Lösungsvorschlag erneuert. Die 40 41 42 43 44 45
M. Schmid, VersR 1982, 822 (825). ADAC-Expertengespräch, DAR 1997, 243 (246); Schoof, S. 139 f. MünchKomm/Stew, § 832 Rn. 18 a. E. OLG Düsseldorf VersR 1998, 721 v. 18.07.1997 (vgl. 1. Teil § 3 14 a). Wolf VersR 1998, 812 (814, 819). Schlegelmilch, ZAP Fach 2, S. 121 (128), V.
§ 1 Die bisher vertretenen Reformorschläge
357
Haftungsverschärfung könne zudem die Eltern veranlassen, sich aus Sorge um ihr eigenes Vermögen durch eine private Haftpflichtversicherung zu schützen. Zwar sei es richtig, dass die deutsche Deliktshaftung nach Maßgabe der §§ 823 ff BGB grundsätzlich ein Verschulden voraussetze, doch stehe dies einer eingeschränkten Entlastungsmöglichkeit der Eltern nicht per se entgegen. Immerhin hafte, ohne dass damit Vergleiche zwischen Kindern und Tieren gezogen werden sollten, der Halter eines sog. Luxustieres i. S. d. § 833 S. 1 BGB ohne Entlastungsmöglichkeit auch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes, was bekanntlich zumindest bis jetzt noch stets das Verschulden des Haftpflichtigen voraussetze. Keinesfalls wäre es mit den Prinzipien des deutschen Haftungsrechts unvereinbar, die Haftung der Eltern wegen einer Aufsichtspflichtverletzung dahin zu verschärfen, dass sie sich künftig bei Vorliegen einer objektiven Aufsichtspflichtverletzung nicht mehr mit dem Argument fehlenden Verschuldens entlasten könnten, das Verschulden also unwiderlegbar vermutet werde. Das würde auch die Unzuträglichkeiten beseitigen, die es bis heute in der täglichen Regulierungspraxis der Haftpflichtversicherer gebe und die immer dann aufträten, wenn der Versicherer die gegen seine Versicherungsnehmer als Eltern erhobenen Ansprüche mit der Begründung zurückweise, diese hätten ihre Aufsichtspflicht nicht schuldhaft verletzt. Denn dieses Argument sei im Rechtsbewusstsein der Allgemeinheit nicht vorhanden 46.
b) Objektive Gefährdungshaftung mit Plädoyer für eine freiwillige Haftpflichtversicherung Dinslage bezeichnete auf dem 17. VGT (1979) die Exkulpationsmöglichkeit der Eltern nach § 832 BGB als einen Mangel des Haftpflichtrechts. In seinem auf den Straßenverkehr mit Fahrrädern begrenzten - Vortrag fordert er eine Einstandspflicht der Eltern ohne Entlastungsmöglichkeit für die Schäden, welche von Kindern bis zur Vollendung des 7. Lebensjahres mit dem Fahrrad verursacht werden. Dabei betonte Dinslage, dass dieser neue Tatbestand einer Gefährdungshaftung sehr stark die Interessen der Haftpflichtversicherer berührt 47. Auch Scheffen ist 1991 und 1993 für eine objektive Einstandspflicht der Eltern eingetreten. Im Rahmen ihrer Vorschläge zur Anhebung der Deliktsfähigkeit Minderjähriger auf zehn Jahre hat sie eine Reform des § 832 BGB zur Schließung der so entstehenden Haftungslücken gefordert. Die Eltern müssten dann bis zum 10. Lebensjahr ihres Kindes an dessen Stelle ohne Exkulpationsmöglichkeit haften. Der ausgeweiteten Haftung könnten die Eltern dabei durch den Abschluss einer Familienhaftpflichtversicherung entgegentreten, wobei so-
46 47
Schlegelmilch, ZAP Fach 2, S. 227 (231 f), VII 2. Dinslage, 17. VGT (1979), S. 186 (193).
358
3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
zial schwachen Familien die hierfür erforderlichen Mittel zweckgebunden zur Verfügung gestellt werden sollten. Eine solche Regelung der Elternhaftung hätte Scheffen zufolge des Weiteren den Vorteil, dass Identität zwischen dem Haftenden und demjenigen besteht, der für den Abschluss der Familienhaftpflichtversicherung zuständig ist. Damit wäre auch dem derzeitigen Missstand vorgebeugt, dass das zum Schadensersatz verpflichtete Kind es überhaupt nicht in der Hand habe, ob ein Haftpflichtversicherer an seine Stelle tritt 48 . Nach Ansicht von Stürner (2000) braucht das Kind aufgrund der Bedeutung kindlicher Entfaltungsfreiheit und Selbstbestimmung für die Persönlichkeitsentwicklung einen größeren Freiraum vor der Haftung. Eine beschränkte Elternhaftung garantiere diesen Freiraum des Kindes auf Kosten Dritter, die das Risiko der Schädigung durch ein Kind dann nur selbst im Rahmen einer allgemeinen und unspezifischen Versicherung abdecken könnten. Besser sei es, das Risiko kindlichen Fehlverhaltens bei ihrem Verursacher zu versichern, um ihre finanziellen Kosten transparent zu halten und Anreize für ihre Beherrschbarkeit zu schaffen, gegebenenfalls durch Eigenbeteiligung und ein Bonus- und Malussystem. Es sei interessant, dass diesen Weg sowohl das moderne französische Recht als auch das niederländische Recht gingen. Die französische objektive Unrechtshaftung des Kindes zwinge ebenso zur Versicherung wie die niederländische Elternhaftung für objektives kindliches Unrecht. In den Niederlanden habe man dieses Konzept aber besser durchdacht, weil die Eltern rechtsgeschäftlich zum Versicherungsschluss auch tatsächlich in der Lage sind. Das niederländische Recht sei deshalb das geeignete Vorbild für eine künftige deutsche Reform 49. Nach Buch 6 Art. 164 NBW haften Kinder unter 14 Jahren überhaupt nicht für ihre Handlungen. Stattdessen haften gemäß Buch 6 Art. 169 Abs. 1 NBW die Eltern uneingeschränkt verschuldensunabhängig für Handlungen ihres Kindes bis zum Alter von 14 Jahren, falls das Kind ohne diesen altersbedingten Haftungsausschluss Anspruchsschuldner wäre. Im Ergebnis wird so die Haftung des Kindes durch eine Risikohaftung der Eltern ersetzt, die Versicherungen abschließen müssen, wenngleich es gesetzliche Versicherungspflichten nicht gibt. Bei 14- bis 16-jährigen Kindern besteht neben der eigenen Verschuldenshaftung des Kindes (Buch 6 Art. 162 NBW) eine elterliche Haftung mit der Exkulpationsmöglichkeit sorgfältiger Aufsicht (Buch 6 Art. 169 Abs. 2 NBW) 5 0 . Den Einwänden gegen seinen Reformvorschlag, die auf sozialstaatlichen Erwägungen beruhen, tritt Stürner entgegen. Zwar sei richtig, dass ein Kind nicht nur Aufgabe und Verpflichtung für die Eltern sei, sondern auch für die Allgemeinheit. Eine Umverteilung kindlicher Risiken auf Dritte und all-
48
(88).
49 50
Scheffen, DAR 1991, 121 (124 f); dies., ZRP 1991, 458 (463); dies., FuR 1993, 82 Stürner, GdS Lüderitz, S. 789 (806 f). Stürner, GdS Lüderitz, S. 789 (803 f).
§ 1 Die bisher vertretenen Reformorschläge
359
gemeine Versicherungen Dritter könne deshalb auch als sozialstaatlich geboten betrachtet werden. Jedoch müssten die Kosten und Risiken kindlicher Existenz transparent gemacht werden und nicht blind, zufällig oder versteckt auf Dritte oder Gesamtsysteme abgewälzt werden. Das Haftungsrecht müsse deshalb die Kosten transparent werden lassen und erst dann einem Kostenträger zuweisen. Nur so könne man wissen, was Kinder wirklich kosten. Haftpflicht- und Unfallversicherung von Kindern gehörten zum notwendigen rechtlichen und wirtschaftlichen Standard, weshalb der Sozialstaat die so transparent gewordenen Kosten bei Freibeträgen und Kindergeld rechnerisch zu berücksichtigen habe51.
c) Objektive Gefährdungshaftung i. V. m. einer Pflicht-Haftpflichtversicherung Den Ausgangspunkt für diesen Reformvorschlag bildet eine Urteilsanmerkung von v. Hippel aus dem Jahr 1968. V. Hippel hielt bereits damals die Form des Schadensausgleiches nach § 832 BGB für fragwürdig. Das Prozesssystem sei kompliziert, kostspielig und schwerfällig, wobei ein und derselbe Fall von den verschiedenen Instanzen oft unterschiedlich beurteilt werde. Auch inhaltlich sei § 832 BGB unbefriedigend. Die überkommene Haftpflichtnorm stelle den Richter vor die Alternative, entweder das Unfallopfer leer ausgehen zu lassen oder die Eltern des Kindes für den Schaden haftbar zu machen. Einerseits erscheine es unbillig, das Unfallopfer leer ausgehen zu lassen, andererseits könne die Haftung Aufsichtspflichtiger zu unerträglichen Härten führen und ganze Familien an den Bettelstab bringen. Diese missliche Lage lasse sich dadurch bereinigen, indem man die Haftung Aufsichtspflichtiger durch ein System des Versicherungsschutzes ersetze, welches aufgrund fehlender Erfahrung und Umsicht bei den Eltern mit einem Versicherungszwang ausgestaltet werden sollte. Bei der sich ergebenden Verteilung des Risikos auf ein Kollektiv könne man dann zur objektiven Einstandspflicht (Gefährdungshaftung) der Eltern für Schäden übergehen, die ihre Kinder rechtswidrig anrichteten. Bei Verkehrsunfällen wäre es nach Ansicht von v. Hippel aber unbillig, das Schadensrisiko derart weitgehend den Eltern aufzubürden, da hier die Kraftfahrer die Gefahrenlage schaffen. Bei einer allgemeinen Reform des Schadensausgleichs bei Verkehrsunfällen sollte deshalb bedacht werden, die Eltern für Verkehrsunfallschäden, die Kinder anrichteten, nur haften zu lassen, wenn sie ein extremes Verschulden trifft 52 . 1998 und 2001 trat v. Hippel erneut für seinen Reform Vorschlag ein und befürwortete die Einführung des Versicherungszwanges verbunden mit einer objektiven Gefährdungshaftung der Eltern 53 .
51 52 53
Stürner, GdS Lüderitz, S. 789 (808 f). v. Hippel, FamRZ 1968, 574 (575). v. Hippel, VersR 1998, 26; ders., FamRZ 2001, 748.
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3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
Nach v. Hippel sprach sich Deerberg 1978 dafür aus, die Problematik der Elternhaftung nach § 832 BGB durch eine pflichtversicherungsrechtliche Lösung i. V. m. einer Gefährdungshaftung der Eltern zu lösen54. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die These, dass es sich bei dem von einem Kind verursachten Schaden zum Teil um einen vorgezogenen Erwachsenenschaden handelt. Mit dem Problem des Kinderschadens müsse man deshalb leben, weshalb sich das Hauptaugenmerk nicht auf die Verhinderung von Schäden sondern auf deren Folgenbewältigung richten müsse55. Dabei würden nur zwei Schadenstragungssysteme den Anforderungen eines Ausgleiches von Kinderschäden gerecht werden. Neben der bereits genannten Lösung komme nur ein System der allgemeinen Unfall- und Sachversicherung infrage, also eine Art Volksversicherung 56. Dabei habe keine der beiden Lösungsmöglichkeiten entscheidende Vorteile, weshalb es sich bei der zu treffenden Entscheidung zwischen ihnen um eine politische Frage handele57. Nach Berning/Vortmann 58 (1986) trat Scheffen 1995 in zwei Veröffentlichungen ebenfalls für eine Haftung der Eltern ohne Exkulpationsmöglichkeit verbunden mit der Verpflichtung zum Abschluss einer Haftpflichtversicherung ein. Entsprechend dem niederländischen Recht sollte sich die Gefährdungshaftung der Eltern auf die unerlaubten Handlungen ihrer Kinder bis zu 14 Jahren erstrecken. Sozial schwachen Eltern könnte und müsste nach Auffassung von Scheffen durch Gewährung der Haftpflichtprämien geholfen werden 59. Kötz hatte bis zur 8. A. (1998) seines Lehrbuches „Deliktsrecht" im Rahmen seiner Ausführungen zur Reform der Minderjährigenhaftung u. a. diesen Reformvorschlag angeführt 60. In der 9. A. (2001), des nunmehr von Kötz/Wagner betreuten Werkes, fehlt dieser Lösungsvorschlag jedoch bei der Darstellung des Diskussionsstandes61. Zuletzt hat sich Niboyet (2000) für die Einführung einer Gefährdungshaftung der Eltern gekoppelt an eine Pflicht-Haftpflichtversicherung ausgesprochen. Dies erfordere der optimale Schutz des Geschädigten ebenso wie der Schutz von Eltern und Kindern. Weiterhin würde die Einführung einer elterlichen Gefährdungshaftung mit großer Wahrscheinlichkeit dazu beitragen, den Eltern die Bedeutung einer Versicherung vor Augen zu führen 62.
54 55 56 57 58 59 60 61 62
Deerberg, S. 170. Deerberg, S. 141 f. Deerberg, S. 156. Deerberg, S. 165 f. Berning/Vortmann, JA 1986, 12 (20). Scheffen, FS Steffen, S. 387 (392, 394, 397); Scheffen/Pardey, Kötz, Deliktsrecht, Rn. 332. Kötz/Wagner, Rn. 332. Niboyet, S. 192, 195 f.
Rn. 677.
§ 1 Die bisher vertretenen Reform Vorschläge
361
3. Die Milderung der Elternhaftung a) Abschaffung des § 832 BGB Deutsch hat sich in den verschiedenen Auflagen seines Lehrbuches „Deliktsrecht" wiederholt für die Abschaffung des § 832 BGB ausgesprochen. So halten die Autoren Deutsch/Ahrens in der 4. A. (2002) die rechtspolitische Bedeutung des § 832 BGB für zweifelhaft. Wer kraft Gesetzes die Aufsicht zu führen hat, sollte nicht stets noch mit einer besonderen Haftung belegt werden. Hinter § 832 BGB habe sich früher der Zugriff auf das Familienvermögen verborgen, eine Funktion, die heute wegen Schadensstreuung durch die Haftpflichtversicherung weggefallen sei. § 832 BGB sollte deshalb abgeschafft werden 63. In seiner Buchbesprechung bedauert Kern, dass A. Fuchs in seiner Diss. leider § 832 BGB nicht grundsätzlich in Frage gestellt habe. Für eine Abschaffung der Elternhaftung sprechen nach Ansicht von Kern nicht wenige Gesichtspunkte des heutigen Entwicklungsstandes des Deliktsrechts, die er aber nicht näher benennt64. Auch Lüderitz (1999) hält die Haftung der Eltern wegen Aufsichtspflichtverletzungen - wie den gesamten Bereich des außergeschäftlichen Verkehrs von Eltern und Minderjährigen - für reformbedürftig, vor allem wegen des Auseinander klaffens von Risiko in Form steigender Schadenshöhen und (geminderten) faktischen Einflussmöglichkeiten 65.
b) Abschaffung der Beweislastumkehr i. V. m. der Haftungsbeschränkung auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit Großfeld/Mund forderten 1994, die Umkehr der Beweislast in § 832 Abs. 1 BGB abzuschaffen und die Elternhaftung auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu beschränken. Die Beweislastumkehr beruhe auf dem Gedanken, dass die Gestaltung der Abläufe bei den Eltern liege. Jedoch lägen die Abläufe heute nicht mehr in ihren Händen, weil sie nicht ständig bei den Kindern seien und diese wegen der freieren Erziehung nicht immer überwachen wollten. Auch angesichts der veränderten Umwelt sei ihr Einfluss relativ gering - jedenfalls viel geringer, als es sich der Gesetzgeber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorgestellt habe. Die Beweislastumkehr sei deshalb nicht mehr haltbar. Sie verweisen zur Begründung ihres Vorschlages weiter auf die Rechtsprechung des BAG zur Haftung von Arbeitnehmern. Danach ist die Haftung von Arbeitnehmern für leichte Fahrlässigkeit ausgeschlossen, weil sich im Schaden nur ein allgemeines betrieblich bedingtes Schadensrisiko verwirkliche und das 63
Deutsch/Ahrens, Rn. 335. "Kern, FamRZ 1997, 474. 65 Lüderitz, Rn. 809 a. E.
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3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
zur Existenzvernichtung fuhren könne. Diese Situation wäre bei der Elternhaftung vergleichbar. Von Kindern verursachte Schäden seien das verwirklichte allgemeine (familien-) betrieblich bedingte Schadensrisiko. Lasse man Eltern für leichte Fahrlässigkeit haften, werde nicht berücksichtigt, was sie bei der Erziehung der Kinder leisteten; ihre Haftung beruhe zudem auf biologischen Abläufen und sie könnten dieser weder tatsächlich noch rechtlich ausweichen. Beschränke man die Haftung der Eltern nicht auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit, könnten die Eltern das Kinderrisiko heute nicht mehr tragen 66. Bereits 1979 hatte Dahlgrün die Verschuldensvermutung in § 832 BGB für Hauskinder kritisiert, d. h. für die mit ihren Eltern in einer Hausgemeinschaft lebenden Kinder. Denn in dieser ganz überwiegenden Zahl der Fälle hafteten die Eltern genauso wie Verkehrssicherungspflichtige in § 823 BGB. Die Benachteiligung in § 832 Abs. 1 BGB durch die Beweislastumkehr lasse sich jedoch nicht mit stichhaltigen Argumenten rechtfertigen, weshalb sie nicht beizubehalten sei 67 .
c) Ergänzung des § 832 BGB um das Erfordernis einer schuldhaften unerlaubten Handlung des Aufsichtsbedürftigen Lemhöfer hielt es 1967 für sachwidrig, die Verschuldensvermutung in § 832 BGB schon an die Schadensverursachung ohne Rechtfertigungsgrund anzuknüpfen. Sachlich vertretbar sei die Verschuldensvermutung erst, wenn das Kind sich nachweislich in einer Weise verhalten habe, die durch gehörige Aufsicht vermieden werden solle. Das sei im Wesentlichen der Fall, wenn das Kind vorsätzlich oder objektiv fahrlässig einen der Tatbestände der §§ 823 ff BGB erfülle; allerdings gelte das auch dann, wenn es nach § 828 BGB oder § 827 BGB nicht selbst verantwortlich sei. Deshalb schlug Lemhöfer folgende Fassung des § 832 Abs. 1 BGB vor (beabsichtigte Änderungen kursiv) 68 : Wer kraft Gesetzes zur Führung der Aufsicht über eine Person verpflichtet ist, die wegen Minderjährigkeit oder wegen ihres geistigen oder körperlichen Zustandes der Beaufsichtigung bedarf, ist zum Ersatz des Schadens verpflichtet, den diese Person 66
Großfeld/Mund, FamRZ 1994, 1504 (1508 f). Dabei nehmen Großfeld/Mund zur Haftung der Eltern für normale Fahrlässigkeit keine Stellung. Kritisch zu diesem Vorschlag äußern sich Scheffen/Pardey (Rn. 132). Der geschädigte Dritte habe seinerseits gar keine Möglichkeit zur Einflussnahme und Gefahrsteuerung. Sein Schutz könne nicht deswegen geringer eingeschätzt werden, weil die Familie - in den Grenzen des § 277 BGB - sich selbst gegenüber sorgloser sei, als es der Verkehrserwartung entspreche. Verständnisvolle Eltern könnten sich haftungsrechtlich nicht auf jede gesellschaftliche Toleranz einrichten, das Selbstverständnis der Eltern könne nicht letztlich ausschlaggebend sein. 67 Dahlgrün, S. 43, 89, 74 ff. 68 Lemhöfer, VersR 1967, 1126 (1131).
§ 1 Die bisher vertretenen Reformorschläge
363
einem Dritten durch eine vorsätzlich oder fahrlässig begangene unerlaubte Handlung zufügt. Die Ersatzpflicht tritt auch ein, wenn die zu beaufsichtigende Person f den Schaden auf Grund der §§827, 828 nicht verantwortlich ist. Die Ersatzpflicht tritt nicht ein, wenn der Aufsichtspflichtige seiner Aufsichtspflicht genügt oder wenn der Schaden auch bei gehöriger Aufsichtsführung entstanden sein würde.
d) Elternfreundlichere Auslegung des unveränderten § 832 BGB mit Plädoyer für eine Pflicht-Haftpflichtversicherung Pardey hält es in mehreren Stellungnahmen nicht für erforderlich, die gegenwärtige gesetzliche Regelung der Elternhaftung zu ändern. Dabei spricht er sich (1997) aber für eine Pflichtversicherung für alle Inhaber des Sorgerechts aus, wobei die Prämienzahlung über den Familienausgleich oder das Kindergeld erfolgen könnte 69 . 1998 lehnte Pardey jede Verschärfung der Haftung der Sorgerechtsinhaber ab; schon die jetzige Haftung der Eltern für eigenes Verschulden gehe zu weit. Das persönliche Haftungsmaß für aufsichtspflichtige Personen solle deshalb reduziert werden, wobei § 1664 BGB ein Vorbild gebe 70 . An anderer Stelle in diesem Aufsatz weist Pardey daraufhin, dass der Abschluss einer Haftpflichtversicherung durch die Inhaber des Personensorgerechts für sich und ihre Kinder einem Gebot der wirtschaftlichen Einsicht und Notwendigkeit entspreche. Ein faktisch hoher Anteil an privaten Haftpflichtversicherungen zugunsten von Kindern beruhige in diesem Zusammenhang nicht. Von größeren Schadensbelastungen wären erfahrungsgemäß gerade Bevölkerungskreise betroffen, die ohnehin eine eher weniger ausgeprägte Wirtschaftskraft hätten und bei denen ein Haftpflichtversicherungsschutz eher fehle. Bis zur Einführung einer Pflicht-Haftpflichtversicherung sollte deshalb die soziale Akzeptanz einer Privathaftpflichtversicherung erhöht werden 71. 2001 betont Pardey erneut, dass an die Entlastung der Eltern im Rahmen von § 832 BGB kein zu strenger Maßstab anzulegen sei, weil Aufsicht und Erziehung innerfamiliär stattfanden und zeitlich selten exakt zu fixieren seien. Eine PflichtHaftpflichtversicherung für Kinder mit einem Direktanspruch der Verletzten bezeichnet er als begrüßenswert, da es dann nicht notwendig wäre, die Haftungslage zu ändern 72.
69 70 71 72
Pardey, Pardey, Pardey, Pardey,
DAR 1997, 243 (245). DAR 1998, 1 (2 f). DAR 1998, 1 (7). DAR 2001, 1 (3, 7).
364
3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
e) Elternfreundlichere Auslegung des unveränderten § 832 BGB v. Bar, Schoof und Haberstroh haben sich dafür ausgesprochen, in § 832 Abs. 1 BGB eine - ungeschriebene - tatbestandliche Einschränkung dahingehend vorzunehmen, dass für die Drittschädigung ursächliches Handeln nur in einem kindestypischen unbesonnenen Verhalten bestehen kann. Der Schaden muss danach dem Minderjährigen zum natürlichen Verschulden in dem Sinne zuzurechnen sein, dass einem in der ansonsten gleichen Situation handelnden Erwachsenen ein FahrlässigkeitsVorwurf zu machen wäre 73 . Schoof verweist zur Begründung auf ein vergleichbares Tatbestandsverständnis in § 833 BGB. Nach § 833 S. 2 BGB haftet der Tierhalter bei vermutetem Verschulden nur für Schäden, wenn sich darin die durch die Unberechenbarkeit des tierischen Verhaltens hervorgerufene spezifische Gefährdung verwirklicht hat. Für Schädigungen, die in gleicher Weise von Nichtminderjährigen hätten verursacht werden können, seien deshalb die §§ 823 ff BGB anzuwenden74. Außerdem fordern Schoof und Haberstroh, den Eltern ein Erziehungs- sowie ein Aufsichtsund Belehrungsermessen einzuräumen. Sofern die Gewährung des Freiraumes für das Kind nicht zu beanstanden sei, bestehe darin ein erlaubtes Risiko, das den Eltern nicht als konkretes Fehlverhalten vorgeworfen werden könne. Mit der im Familienrecht durch § 1626 Abs. 2 S. 1 BGB formulierten Vorgabe verpflichte der Gesetzgeber die Eltern sogar fast ausdrücklich, gewisse Risiken einzugehen75. Ähnlich formuliert v. Bar. Danach darf sich das Haftungsrecht mit seinen Wertungen nicht von denen eines modernen Familienrechts abkoppeln, weshalb § 1626 Abs. 2 S. 1 BGB auch für das Haftungsrecht eine verbindliche Vorgabe beinhalte76. Den Freiraum des Kindes, an dem sich die Aufsichtsführung der Eltern zu orientieren habe, will Schoof im Rahmen des Zivilprozesses mit Hilfe eines Sachverständigen bestimmen. Dieser solle feststellen, welche Maßnahmen im Einzelfall aus dem Katalog der potentiellen Aufsichtsmaßnahmen aufgrund ihrer pädagogischen Unvertretbarkeit und Untauglichkeit ausschieden77. Für Albilt (1987) ist die haftungsrechtliche Grundkonzeption des § 832 BGB auch in der heutigen Zeit modernster Technisierung und fortschreitender Entwicklung in sämtlichen Bereichen noch längst nicht an ihrer „Leistungsgrenze" angelangt. Als „taugliche Waffe" gegen den Vorwurf „unwägbaren Prozessausgangs" könne sich das Bestreben erweisen, klarere Richtlinien zu
73
v. Bar, Gemeineuropäisches Deliktsrecht, Rn. 147; Schoof, S. 112 f, 142; Haberstroh, VersR 2000, 806 (814 f). 74 Schoof, S. 112 f, 142. 75 Schoof, S. 125 f, 142; Haberstroh, VersR 2000, 806 (811,815). 76 v. Bar, Gemeineuropäisches Deliktsrecht, Rn. 142. 77 Schoof, S. 141 f.
§ 1 Die bisher vertretenen Reformorschläge
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schaffen, die im Rahmen des § 832 BGB dem fraglos „weitherzigen" Tatbestandsmerkmal des „Maßes genügender Aufsicht" in den einzelnen Lebensbereichen schärfere Konturen verleihen würden, was letztlich der Einheitlichkeit und Kontinuität der gesamten Rechtsprechung zugute käme 78 . Schiemann gibt zu bedenken, dass im Rahmen der Entlastungsmöglichkeit nach § 832 Abs. 1 S. 2 BGB dem Interesse des Geschädigten an der Schadensvermeidung keineswegs absoluter Vorrang vor dem Entfaltungsspielraum des Aufsichtsbedürftigen zukomme 79 . Aus Sicht von Belling/Eberl-Borges spricht für eine Reform des § 832 BGB zunächst, dass der verfassungs- und familienrechtliche Kontext, auf den die Norm Bezug nimmt, sich seit seinem In-Kraft-Treten geändert hat. Auch hätten sich die Aufgabenverteilung innerhalb der Familie, das ElternKind-Verhältnis und die Stellung der Familie in der Gesellschaft seitdem grundlegend gewandelt. Als Konsequenz daraus seien die Schadensrisiken, die von Minderjährigen ausgingen, heute anders zwischen dem Aufsichtspflichtigen und der Gesellschaft zu verteilen als noch bei In-Kraft-Treten von § 832 BGB. Belling/Eberl-Borges halten es aber für fraglich, ob § 832 BGB reformiert werden muss. Die Vorschrift sei zwar alt, aber durch ihre Anpassungsfähigkeit nicht überholt. Ausschlaggebend sei, welche Anforderungen daran gestellt werden, ob der Aufsichtspflichtige seine Aufsichtspflicht erfüllt habe. An diesem Punkt sei die Norm für Wertungen offen, die sich aus Art. 6 GG und dem Familienrecht ergäben. Sie legten es nahe, eine Verletzung der Aufsichtspflicht nur noch bei groben Verstößen des Aufsichtspflichtigen anzunehmen80.
I I I . Das Für und Wider der Reformvorschläge 1. Die Einführung einer Gefährdungshaftung
der Eltern
a) Die Argumente für eine Gefährdungshaftung der Eltern Für die Einführung einer objektiven Elternhaftung sprechen mehrere beachtenswerte Gründe. Sie führt nach Auffassung von Deerberg, Goecke und Niboyet zu einer wesentlichen Vereinfachung der Rechtslage. Die schwierige Rechtsfrage, wie weit die Aufsichtspflicht der Eltern reicht, entfällt bei einer gefährdungsrechtlichen Konzeption. Dadurch gewinnt die Spruchpraxis der Gerichte an Berechenbarkeit und Klarheit. Der Schutz des Geschädigten wird durch diese Neuerung wesentlich gestärkt. Zufallsschäden, d. h. Fälle, in denen die Eltern ihre Aufsichtspflicht nicht verletzt haben, gehen nicht mehr zu seinen Lasten. Mittelbar trägt diese neue Konzeption der elterlichen Haftung auch 78 79 80
Albilt, S. 323. Erman/Schiemann, § 832 Rn. 6. Belling/Eberl-Borges, Rn. 177.
366
3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
zum besseren Schutz des Minderjährigen bei, denn der Geschädigte wird sich verstärkt an die typischerweise leistungsfähigeren Eltern wenden und diese werden i. d. R. keinen Regressanspruch gegen ihr Kind geltend machen. Weiterhin würde die Einfuhrung einer objektiven Einstandspflicht der Eltern nach Meinung der Befürworter dazu beitragen, ihnen die Bedeutung einer Versicherung vor Augen zu fuhren 81. Deerberg betont außerdem, dass durch eine Gefährdungshaftung dem - in der heutigen Zeit (1978) - geringeren Einfluss der Eltern auf ihre Kinder Rechnung getragen wird. Und auch die berufliche Tätigkeit beider Elternteile lässt keine Haftungslücken mehr entstehen. Außerdem räumt nach Meinung von Deerberg eine gefährdungsrechtliche Konzeption der Elternhaftung die verfassungsrechtlichen Bedenken aus, denen § 832 BGB ausgesetzt ist. Denn § 832 BGB tendiere zur Gefährdungshaftung und sei teilweise eine solche, weil die Eltern bei nicht beweisbarer Schuldlosigkeit hafteten 82 . Sollte sich der Gesetzgeber zur Einführung einer elterlichen Gefährdungshaftung entschließen, werden die Privathaftpflichtversicherer nach Einschätzung von Schlegelmilch (1979) auch diese Haftpflichtgefahr tragen 83.
b) Die Argumente gegen eine Gefährdungshaftung der Eltern Die besseren Argumente sprechen gegen die Einführung einer elterlichen Gefährdungshaftung. Auch Befürworter einer objektiven Einstandspflicht der Eltern räumen ein, dass die elterliche Haftung keinen typischen Fall einer Gefährdungshaftung bilden kann 84 . Die Gefährdungshaftung setzt voraus, dass sich eine bestimmte, von dem Verantwortlichen beherrschte Gefahr verwirklicht hat und der Verantwortliche aus der geschaffenen Gefahr einen (finanziellen) Nutzen zieht. Zurechnungsgrund der Gefährdungshaftung ist, dass es die Gesellschaft dem Verantwortlichen erlaubt, sie mit einem schwer beherrschbaren Risiko zu belasten; als Gegenleistung haftet er für dieses von ihm gesetzte Risiko auch ohne Verschulden 85. Bei der Gefährdungshaftung geht es deshalb primär um die gerechte Verteilung von Unglücksschäden, während der verschuldensabhängigen Deliktshaftung der Gedanke des Ausgleichs für Unrecht zugrunde liegt 86 . Mit Einführung einer objektiven Elternhaftung würde das Aufziehen von Kindern mit den Betätigungen gleichgestellt, für welche schon eine Gefähr-
81 82 83 84 85 86
Deerberg, S. 170 f; Goecke, S. 234; Niboyet, S. 194 f. Deerberg, 170 f, 151 f. Schlegelmilch, 17. VGT (1979), S. 204 (205). Niboyet, S. 182 f. Steffen, VersR 1998, 1449 (1451). Wussow/Kürschner, Rn. 6.
§ 1 Die bisher vertretenen Reformorschläge
367
dungshaftung besteht, so u. a. für das Halten eines Kfz (§ 7 StVG), das Betreiben einer Eisenbahn (§ 1 HaftpflG), eines Flugzeugs (§§ 33 ff LuftVG), eines Atomkraftwerkes (§§ 25 ff AtomG), das Herstellen eines Produkts (§§ 1 ff ProdHaftG) oder eines Arzneimittels (§ 84 AMG), das Verschmutzen eines Gewässers (§ 22 WHG) sowie das Halten von Luxustieren (§ 833 S. 1 BGB). Kinder sind aber menschliche Individuen, denen es an einer solchen spezifischen Gefährlichkeit fehlt. Aus der Existenz und Anwesenheit von Kindern ergibt sich keine potentiell gesteigerte Gefahr, welche mit der von Tieren und Fahrzeugen ausgehenden Gefahr vergleichbar ist 87 . Es ist mit der Menschenwürde des Kindes aus Art. 1 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren, seine Existenz auf die von einer unbeherrschbaren Gefahrenquelle ausgehende abstrakte Gefahr zu reduzieren 88. Auch fehlt es im Verhältnis zwischen Eltern und Kind an einer absoluten Einwirkungsmöglichkeit, die dem Betreiber von gefährlichen Gegenständen und Anlagen gegeben ist 89 . Eine solche Einwirkungsmöglichkeit würde auch dem Gedanken des § 1626 Abs. 2 BGB widersprechen, wonach den Kindern in zunehmendem Alter ein Freiheitsraum und die Möglichkeit zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit zugestanden werden muss. Zudem ziehen - wie bereits erläutert - die Eltern kaum einen finanziellen Nutzen aus ihren Kindern. Vielmehr setzen sie sich erheblichen finanziellen Lasten aus, von denen hauptsächlich die Allgemeinheit profitiert. Die Einführung einer Gefährdungshaftung für Eltern würde außerdem die Bedeutung der Familie für den Fortbestand der Gesellschaft und die Funktionsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme völlig außer Acht lassen. Die Möglichkeit eines gerechten Schadensausgleiches - der den gesellschaftlichen Nutzen der Elternschaft einbeziehen kann - würde so der Rechtssicherheit geopfert. Diese und die Rechtsklarheit darf aber nicht per se höher gewichtet werden als eine interessengerechte Einzelfallentscheidung. Goecke weist zutreffend daraufhin, dass der Gesetzgeber auch sonst den sozialen Stellenwert einer Betätigung berücksichtigt. So ist die Tierhalterhaftung nur bei den sog. Luxustieren gemäß § 833 S. 1 BGB eine Gefährdungshaftung. Bei den Haustieren, die dem Beruf, der Erwerbstätigkeit oder dem Unterhalt des Tierhalters dienen, ordnet der Gesetzgeber gemäß § 833 S. 2 BGB dagegen lediglich eine Haftung für vermutetes Verschulden an. Schließlich lässt sich auch die leichte Versicherbarkeit des Schadensrisikos nicht zur Rechtfertigung einer Gefährdungshaftung heranziehen. Denn diese enthebt den Gesetzgeber nicht der Notwendigkeit, einen Haftungsgrund zu benennen. Das Bestehen einer Versicherung oder die Versicherbarkeit sind aber allein kein Grund für die Zurechnung des Schadens zur versicherten Person 90.
87 M 89 90
Albilt, S. 322. Schoo/, S. 119. Goecke, S. 237. Goecke, S. 238 f.
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3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
Überdies würde sich ein verstärkter Opferschutz wahrscheinlich in erhöhten Versicherungsprämien niederschlagen. In der Privathaftpflichtversicherung kann es nur so sein, dass die Gemeinschaft der Versicherungsnehmer die aus der Einführung der Gefährdungshaftung folgende Mehrbelastung durch höhere Prämien auffängt 91.
2. Die Einführung einer Pflicht-Haftpflichtversicherung
für Kinder
a) Der Leistungsumfang der Haftpflichtversicherung Die Haftpflichtversicherung deckt im Rahmen des Versicherungsvertrages das Risiko ab, dass der Versicherungsnehmer von einem Dritten - zu Recht oder Unrecht - aufgrund gesetzlicher Haftpflichtbestimmungen privatrechtlichen Inhalts auf Schadensersatz in Anspruch genommen wird 92 . Versichert ist die gesetzliche Haftpflicht des Versicherungsnehmers als Privatperson aus den Gefahren des täglichen Lebens, insbesondere nach Ziffer I. 1. BBR als Familienund Haushaltungsvorstand (z. B. aus der Aufsichtspflicht über Minderjährige). Die Haftpflichtversicherung deckt somit die Schadenersatzansprüche aus § 832 BGB ab 93 . Gemäß Ziffer II. 1. b) BBR sind unverheiratete minderjährige Kinder, auch Stief-, Adoptiv- und Pflegekinder, bei den Eltern mitversichert, so dass auch sie gegen das Risiko einer gesetzlichen Eigenhaftung geschützt werden. Die Haftpflichtversicherung gibt dem Versicherungsnehmer Anspruch auf Befreiung von berechtigten Schadensersatzansprüchen des Dritten (Befreiungsanspruch) und auf Gewährung von Rechtsschutz gegenüber den Ansprüchen des Dritten, mögen sie berechtigt oder unberechtigt sein (Rechtsschutzanspruch). Gegenüber dem Rechtsschutzanspruch kann der Haftpflichtversicherer nicht mit Erfolg einwenden, der Haftpflichtanspruch des Dritten sei unbegründet 94 .
b) Die Argumente für die Einführung einer Pflicht-Haftpflichtversicherung für Kinder Die Einführung einer Pflicht-Haftpflichtversicherung gewährleistet eine reibungslose Schadensabwicklung. Nach Ansicht von Scheffen erfordert eine solche Pflichtversicherung auch keinen unangemessenen Verwaltungsaufwand. Eine Kontrolle wäre ihrer Meinung nach bei der Auszahlung des Kindergeldes 91 92 93 94
Schlegelmilch, 17. VGT (1979), S. 204 (205). Prölss/Fo/7, Vorbem zu §§ 149-158k Rn. 1. Berliner KommentarIBaumann, § 149 Rn. 52; Dengler, S. 300. Prölss/Fo//, Vorbem zu §§ 149-158k Rn. 3.
§ 1 Die bisher vertretenen Reformorschläge
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leicht möglich, indem die Auszahlung vom Nachweis des Abschlusses der Versicherung abhängig gemacht wird 95 . Für Deerberg setzt eine Pflichtversicherung einen sozialen Akzent im Haftpflichtrecht, denn sie sichert den Verletzten ab und bewahrt die Eltern vor einer existenzgefährdenden Belastung. Des Weiteren sei eine Pflichtversicherung auch der Erziehung des Kindes förderlich. Befreit von dem Damoklesschwert einer Haftung vermögen die Eltern das Kind im Sinne ihres erzieherischen Leitbildes aufwachsen zu lassen. Nach Auffassung von Deerberg fuhrt eine Pflichtversicherung auch zu einer einheitlicheren Rechtsprechung. Ob die Eltern versichert sind, entscheide gerade bei § 832 BGB oft darüber, ob es sich um eine fahrlässige Aufsichtspflichtverletzung handelt. Zudem würden die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die vermutete Verschuldenshaftung in § 832 BGB beseitigt. Mit Art. 6 Abs. 1 GG vertrage es sich schlecht, dass die Eltern bei nicht beweisbarer Schuldlosigkeit haften. Hingegen stoße die geringfügige finanzielle Belastung der Eltern durch die Pflichtversicherung auf keine verfassungsrechtlichen Bedenken, da diese durch eine steuerliche Berücksichtigung kompensiert werden könnten96. Die Prämienzahlung will Deerberg durch die Versicherungsgesellschaften überwachen lassen. Daneben schlägt er eine steuerliche Sanktion für säumige Prämienzahler vor. Danach könnten die Eltern den Kinderfreibetrag nur noch beanspruchen, wenn sie die jährliche Prämienzahlung nachweisen97. Organisatorisch hilfreich wären aus Sicht von Pardey auch die Schul- und Meldepflicht 98 . Niboyet schlägt darüber hinaus vor, einen vom Staat finanzierten Garantiefonds einzurichten. Dieser soll für Fälle zuständig sein, bei denen die Eltern nicht über ein Mindesteinkommen verfügen oder keinen eigenen Versicherungsschutz nachweisen. Im letzteren Fall sollen die Eltern einer pauschalen Geldstrafe unterworfen werden. Der Fonds soll nach dem Vorschlag von Niboyet auch in Schadensfällen greifen, die vom Versicherungsschutz berechtigterweise ausgeschlossen wurden 99 . Ein Nachlassen der Anspannung der Eltern bei der Leitung und Lenkung ihrer Kinder ist nach Auffassung von Deerberg bei der Einführung eines Versicherungszwanges nicht zu erwarten. Dem Gedanken der Schadensprophylaxe komme bei Kinderschäden nur untergeordnete Bedeutung zu, wie überhaupt der Präventionsgesichtspunkt oft überbewertet werde. Prävention soll durch Belastung erreicht werden, Verteilung will hingegen die Belastung beseitigen oder mindern. Die Angst um die persönliche Integrität und das persönliche Vermögen sei immer noch das beste Regulativ zur Schadensverhinderung. Wenn aber die Angst um die persönliche Integrität die Schadensprophylaxe nicht oder nicht genügend bewirken könne, dann könne es erst 95 96 91 98 99
Scheffen, FS Steffen, S. 387 (397). Deerberg, S. 151 f. Deerberg, S. 161. Pardey, DAR 2001, 1 (7). Niboyet, S. 193.
370
3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
recht nicht die Angst vor der Vermögenseinbuße. Ausschlaggebende Motivation zur Prävention werde deshalb die natürliche Eltern-Kind-Beziehung sein und bleiben 100 .
c) Die Argumente gegen die Einfuhrung einer Pflicht-Haftpflichtversicherung für Kinder De lege lata gibt es keine Rechtspflicht der Eltern, eine Haftpflichtversicherung für ihr Kind abzuschließen. Dem Unterhalts- oder Sorgerecht ist eine Pflicht der Eltern zum Abschluss einer Haftpflichtversicherung nicht zu entnehmen. Der BGH bezeichnete in seinem Urteil v. 04.06.1980 den Abschluss einer solchen Versicherung zwar als ratsam, aber auch als nicht allgemein anerkannt. Zudem sei eine solche Pflicht der Eltern bisher weder in der Rechtsprechung noch im Fachzeitschrifttum bejaht oder nur erwogen worden 101 . Das Schrifttum teilt diese Rechtsauffassung des BGH bis heute 102 . Eine Ausnahme bildet nur Peters (1997), der eine Verpflichtung der Eltern zum Abschluss einer Haftpflichtversicherung (nur) zugunsten ihres Kindes annimmt. Das folge einerseits aus ihrer Pflicht zur Sorge für das Vermögen des Kindes, die sie optimal wahrzunehmen hätten, selbst wenn sie in eigenen Angelegenheiten einen solchen Versicherungsschutz für entbehrlich hielten. Andererseits ergebe sich die Verpflichtung aus ihrer Unterhaltspflicht, § 1610 Abs. 1 BGB 1 0 3 . Gegen die Einführung einer Pflicht-Haftpflichtversicherung sprechen jedoch gewichtige Argumente. So führt sie zu noch mehr Verstaatlichung, überdies gerade in einem privaten Lebensbereich. Das widerspricht dem Freiheitsgedanken des GG. Eine Regelung, wonach die persönliche Haftung durch Gewährung von Versicherungsschutz ersetzt wird, stellt das schlechtestmögliche Anreizsystem zur Verhütung von Schäden dar 104 . Für die Selbstverantwortung der Eltern ist eine solche Pflichtversicherung kontraproduktiv. Sie schwächt nach Ansicht von Schlegelmilch die private Eigenverantwortlichkeit der Eltern 105 . Albilt, Schoof und Goecke zufolge würde ein zwangsweiser Versicherungsschutz als Freibrief zur schrankenlosen Drittschädigung aufgefasst werden, da dann die Versicherung einstandspflichtig wäre. Eine mangelnde Motivation zur Aufsichtsführung wäre deshalb die Konsequenz einer Zwangsversicherung, weil 100
Deerberg, S. 167 ff. BGHZ 77, 224 (227 f) v. 04.06.1980. 102 Staudinger/Sa/go, § 1631 Rn. 49; RGKXJWenz, § 1631 Rn. 16 a. E.; StaudingtxlSchäfer, 12. A., § 832 Rn. 58 a. E.; A. Fuchs, S. 320; Lüderitz, Rn. 809; Pardey, DAR 1998, 1 (7). 103 Peters, FamRZ 1997, 595 (598 ff). 104 Katzenmeier, VersR 2002, 1449 (1456). 105 Schlegelmilch, ZAP Fach 2, S. 227 (231), VII 2 a. 101
§ 1 Die bisher vertretenen Reformorschläge
371
die Eltern der Notwendigkeit enthoben würden, die sozialen Kosten ihrer Aufsichtsführung in Form der zu erwartenden Unfallschäden in ihre Überlegungen einzubeziehen106. Auch weniger hart formuliert hat eine zwangsweise Vergemeinschaftung der Elternhaftung die Konsequenz, dass die einzelnen Eltern nicht ihr volles Haftungsrisiko tragen müssen. Dem Anliegen eines gerechten Schadensausgleiches ist damit nicht gedient, denn dadurch wird der Anreiz zur Risikominderung abgeschwächt. Für Stürner - der für den Abschluss einer freiwilligen Haftpflichtversicherung eintritt - ist deshalb jedes Versicherungssystem unvollkommen, wenn es keine gesetzlich vorgeschriebene Eigenbeteiligung und ein Bonus- und Malussystem vorsieht 107 . Mit Deerberg weist auch ein Vertreter der Zwangsversicherung auf die Möglichkeit zusätzlicher formeller Anreize zur Schadensverhütung hin, so z. B. durch Selbstbeteiligungen, Prämienstaffelungen und Rückvergütungen 108. Großfeld/Mund bezeichnen es als grotesk, wenn Eltern ihre Kinder nur noch unter dem Schutz einer Zwangs-Haftpflichtversicherung großziehen können. Eine Zwangs-Haftpflichtversicherung sei deshalb nur eine Scheinlösung; sie fange die Folgen der Elternhaftung auf, löse aber nicht das Problem selbst 109 . Schoof hält eine Zwangsversicherung für Familien neben den bestehenden Pflichtversicherungen für systemwidrig. Sie nennt dabei die Pflichtversicherungen für Rechtsanwälte und Notare, für Jäger, Halter von Kraftfahrzeugen und Betreibern von Atomanlagen. Mit der Verpflichtung zum Abschluss einer Kinderhaftpflichtversicherung würde das Kind deshalb nicht als eigene Persönlichkeit begriffen, sondern gleichgestellt mit der Ausübung verantwortungsvoller Berufe oder gefährlicher Tätigkeiten, dem Halten von Kfz sowie dem Betreiben gefahrlicher Anlagen. Das sei mit der Menschenwürde des Kindes gemäß Art. 1 Abs. 1 GG nicht vereinbar, denn das Kind würde als zu versicherndes Risiko zum Objekt abgestuft. Der Einschluss der Kinder in die elterliche Haftpflicht mache überdies deutlich, dass Kinder zumindest versicherungstechnisch nicht als gesteigerte Gefahrenquelle anzusehen seien. Dass ein Versicherungszwang für Eltern systemwidrig ist, ergibt sich des Weiteren aus der folgenden Überlegung von Schoof. Der Abschluss der vorgenannten Pflichtversicherungen wird im Rahmen eines staatlichen Zulassungsverfahrens geprüft. Die Zulassung wird nur bei Versicherungsschutz erteilt. Hingegen ist die
m
Albilt, S. 321; Schoof, S. 139; Goecke, S. 208 f. Stürner, GdS Lüderitz, S. 789 (807). So geben nach Auffassung von Stürner (a. a. O., S. 807 f) Versicherungen mit Eigenbeteiligung und einem Bonus- und Malussystem zwar ein gewisses Maß an Freiheit und Sicherheit, hielten aber Sorglosigkeit und Übermut zurück. Es sei auch eigenartig, dass viele Familien eine Gebäudehaftpflichtversicherung bezahlen würden, aber keine Haftpflicht- und Unfallversicherung für ihre Kinder. 108 Deerberg, S. 169. 109 Großfeld/Mund, FamRZ 1994, 1504 (1507); ebenso Schoof, S. 136. 107
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3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
Elternschaft nicht an eine staatliche Zulassung geknüpft. Auch die übliche Sanktion bei unzureichendem Versicherungsschutz, nämlich der Entzug der gefahrenspezifischen Erlaubnis, entfallt im Rahmen des Eltern-Kind-Verhältnisses. Die Elternschaft kann nicht aufgrund fehlender Haftpflichtversicherung entzogen werden 110 . Belling/Eberl-Borges - die einer Pflichtversicherung ablehnend gegenüberstehen - halten jedenfalls eine private Pflichtversicherung für nicht angezeigt. Da Eltern mit der Erziehung von Kindern eine gesellschaftlich wichtige Aufgabe erfüllen, sollte man eher an eine staatliche Haftpflichtversicherung denken 111 . Für Pardey besteht aus verfassungsrechtlichen Gründen keine Grundlage dafür, das Risiko aus §§ 823, 832 BGB durch eine Pflicht-Hafitpflichtversicherung abzudecken. Eine Gefahr für die Allgemeinheit, deren Ausmaß das allgemeine Lebensrisiko für betroffene Personen erheblich übersteigt, zeige sich bei der Haftung der sorgeberechtigten Personen nicht 112 . Weiterhin sprechen auch praktische Erwägungen gegen die Einführung einer Pflichtversicherung. E.Böhmer (1981) hält es für unmöglich, zu verlangen, dass jedes radfahrende Kind durch eine Haftpflichtversicherung gedeckt ist 113 . Schlegelmilch wies auf dem 17. VGT (1979) - in seinem Referat über die Straßenverkehrsteilnahme mit Fahrrädern - auf die erheblichen Verwaltungskosten einer Pflichtversicherung hin. Außerdem würde nach seiner Prognose auch der Schadensaufwand steigen, was zwangsläufig zu einer maßgeblichen Verteuerung der Privathaftpflichtversicherung führen würde 114 . Eine Beitragssteigerung hält auch Albilt (1987) für zwangsläufig 115 . Nach Meinung der Praktiker im ADAC-Expertengespräch am 21.03.1997 in München lässt sich eine Pflichtversicherung weder durchsetzen noch sei sie kontrollierbar 116 . Goecke führt als weiteres Gegenargument die sich bei einer Pflichtversicherung ergebenden Missbrauchsmöglichkeiten an. Seiner Einschätzung nach lädt dieses Versicherungssystem in besonderer Weise zum Missbrauch ein. In vielen Haushalten wären bei einer obligatorischen Haftpflichtversicherung nur noch die Kinder versichert. Damit wäre die Möglichkeit eröffnet, als Schadensverursacher möglichst die Kinder - auch wenn sie es nicht waren - anzugeben, um in den Genuss der Versicherungsleistung zu kommen. Ein weiteres Argument von Goecke basiert auf der von ihm angenommenen Versicherungsdichte von über 70% an haftpflichtversicherten Kindern in Deutschland. Die verbleibenden wenigen 1.0
Schoof, S. 137 f. Staudinger/Belling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 177. 112 Pardey, DAR 1998, 1 (7 Fn. 88). 113 £ Böhmer, DAR 1981, 146 (147). 1,4 Schlegelmilch, 17. VGT (1979), S. 204 (206). 115 Albilt, S. 323. 1,6 ADAC-Expertengespräch, DAR 1997, 243 (246, a. A. Pardey, DAR, 243 [245]).
1.1
§ 1 Die bisher vertretenen Reformorschlge
373
Fälle von ungedeckten, durch Kinder verursachten erheblichen Schäden könnten es daher nicht rechtfertigen, ein aufwendiges und teures, entweder den Staat und/oder die Eltern erheblich belastendes System einzuführen 117. So ist ein staatlicher Garantiefonds - wie von Niboyet vorgeschlagen - ein solch aufwendiges System und ein weiterer Schritt zu mehr Bürokratie und Verstaatlichung. Außerdem wäre es ein falsches Signal, wenn der Staat wie vorgeschlagen (nur) für Wohngeld- und Sozialhilfeempfänger die Prämienzahlung übernimmt. Es ist Aufgabe des Staates, die Familien zu entlasten. Doch würde eine solche gruppenspezifische Prämienübernahme dem Alimentierungsdenken von Teilen der vorgenannten Bevölkerungsgruppe weiter Vorschub leisten. V. Bar hat 1980 die Bedenken gegen eine Haftungsersetzung durch Versicherungsschutz prägnant zusammengefasst: Sie bestehen nicht nur in der Frage der Kosten und des Problems der Ermittlung des richtigen Risikoträgers, sie zeigen sich auch an der Minderung des Rechtsschutzes (Ausschluss des Schmerzensgeldes, Höchstbeträge) sowie in der Sorge vor einem bürokratisierten Versorgungsapparat 118. Die Vertreter einer Pflichtversicherungslösung berücksichtigen die Versicherungsmöglichkeiten darüber hinaus nur einseitig zu Lasten der schädigenden Eltern. Jedoch besitzt jeder potentiell Geschädigte die Möglichkeit, sich zu versichern. Versicherungsprämien sind im Verhältnis Schädiger/Geschädigter grundsätzlich beiden Seiten zumutbar 119 . So ist für Stürner die Versicherbarkeit des Geschädigten ein legitimes Argument zur Einordnung in die Fallgruppe klassischer Verschuldenshaftung, was auch für § 832 BGB gelte 120 .
3. Die Beweislastumkehr
in § 832 Abs. 1 BGB
a) Die Darlegungs- und Beweislast in § 832 Abs. 1 BGB Die Folge der vermuteten Verschuldenshaftung ist eine Umkehr der Beweislast soweit die Vermutungen des § 832 Abs. 1 S. 2 BGB reichen. Die nicht vom Vermutungsumfang umfasste Darlegungs- und Beweislast richtet sich nach den allgemeinen Grundsätzen. Vorzutragen und zu beweisen - soweit sie bestritten werden - sind folgende Haftungsvoraussetzungen: Aufsichtsbedürftiger, Aufsichtspflichtiger, tatbestandliche und widerrechtliche Schadensverursachung i. S. d. § 823 Abs. 1 BGB durch den Aufsichtsbedürftigen, Aufsichtspflichtver-
1,7
Goecke, S. 209.
118
v. Bar, Verkehrspflichten, S. 42. v. Bar, AcP 181 (1981), 289 (327). Stürner, VersR 1984, 297 (300).
1,9 120
374
3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
letzung, deren Kausalität für den entstandenen Schaden, Rechtswidrigkeit und Schuldhaftigkeit der Aufsichtspflichtverletzung. Bis auf die Haftungsvoraussetzung der Aufsichtspflichtverletzung bereitet die Verteilung der Beweislast keine Probleme. Der geschädigte Kläger hat vorzutragen und gegebenenfalls zu beweisen, dass ihm durch ein widerrechtliches Verhalten des Aufsichtsbedürftigen ein Schaden zugefügt worden ist. Um einer Haftung aus § 832 Abs. 1 BGB zu entgehen, muss der Aufsichtspflichtige den Entlastungsbeweis nach § 832 Abs. 1 S. 2 BGB führen, also entweder nachweisen, dass er die in der konkreten Schadenssituation gebotene Aufsichtspflicht erfüllt bzw. schuldlos nicht erfüllt hat oder dass der Schaden auch bei gehöriger Aufsichtsführung entstanden wäre 121 .
b) Die Darlegungs- und Beweislast für die Aufsichtspflichtverletzung in § 832 Abs. 1 BGB Problematisch ist aber die Darlegungs- und Beweislast hinsichtlich der Haftungsvoraussetzung der Aufsichtspflichtverletzung. Nach dem Wortlaut des § 832 Abs. 1 BGB ist diese eindeutig. Der Gesetzeswortlaut knüpft die Verschuldens» und Kausalitätsvermutung mit der daraus resultierenden Beweislastumkehr nur an den Tatbestand der widerrechtlichen Schadenszufügung durch eine aufsichtsbedürftige Person. Die Darlegungs- und Beweislast des Klägers reicht jedoch weiter.
aa) Der Aufsichtsanlass (1) Die Rechtsprechung Die Rechtsprechung verwendet nur selten eindeutige und unmissverständliche Formulierungen zur Verteilung der Darlegungs- und Beweislast für das Tatbestandsmerkmal der Aufsichtspflichtverletzung. Die Gerichte definieren regelmäßig nur die Aufsichtspflicht i. S. d. § 832 Abs. 1 S. 2 BGB, um dann zu prüfen, ob der beklagte Aufsichtspflichtige in Bezug auf die konkrete Schadenssituation die erforderlichen und verhältnismäßigen Aufsichtsmaßnahmen schuldhaft unterlassen hat 122 . Jedoch finden sich teilweise Urteile, aus denen
121
Baumgärtel/Baumgärtel, § 832 Rn. 1, 3. BGH LM Nr. 16 (= NJW-RR 1987, 13 [14]) v. 01.07.1986; LM Nr. 20 zu § 832 BGB (= NJW 1995, 3385 f) v. 10.10.1995; LM Nr. 21 zu § 832 BGB (= NJW 1996, 1404 [1405]) v. 27.02.1996; OLG Düsseldorf VersR 1992, 321 v. 14.09.1990; OLG Nürnberg FamRZ 1992, 549 v. 19.03.1991; OLG Köln FamRZ 1994, 831 (832 f) v. 05.05.1993; OLG Oldenburg FamRZ 1994, 833 (834) v. 19.10.1993; OLG München 122
§ 1 Die bisher vertretenen Reformvorschlge
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sich Schlüsse für die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast ziehen lassen. So formuliert das OLG Koblenz, an der Einstandspflicht der beklagten Mutter nach § 832 Abs. 1 S. 1 BGB sei nicht zu rütteln, da der minderjährige Sohn der aufsichtspflichtigen Beklagten den Brandschaden unstreitig herbeigeführt habe. Sie sei nunmehr für die Widerlegung der Vermutungen des § 832 Abs. 1 S. 2 BGB darlegungs- und beweispflichtig 123 . Das Urteil legt die Annahme nahe, der Kläger müsse nur die Voraussetzungen des § 832 Abs. 1 S. 1 BGB, entsprechend dem Wortlaut, vortragen. Ohne das ausdrücklich zu formulieren, legen weitere Urteile anscheinend diese Darlegungs- und Beweislast ihren Entscheidungsgründen zugrunde 124 . Der BGH hat bisher zur Darlegungs- und Beweislast des Klägers nicht ausdrücklich Stellung genommen. In einer BGHEntscheidung v. 10.07.1984 heißt es: Wenn sich die Gefahr der Brandverursachung durch spielende Kinder verwirklicht hat, gehört es zum Entlastungsbeweis der Eltern nach § 832 BGB, im Einzelnen darzulegen und nachzuweisen, dass sie der Aufklärungspflicht über die Gefahren eines Brandes nachgekommen sind 125 . Und doch folgt aus § 832 BGB lediglich, dass der beklagte Aufsichtspflichtige die Erfüllung seiner Aufsichtspflicht beweisen muss. Ob eine solche Aufsichtspflicht überhaupt bestand, hat hingegen der geschädigte Kläger nachzuweisen126. Das ist dann der Fall, wenn ein Aufsichtsanlass für den Aufsichtspflichtigen in der konkreten Situation bestand. Unter dem sog. normalen Aufsichtsanlass ist dabei die Aufsicht zu verstehen, die sich bei Kindern aufgrund ihres Alters in der speziellen Lebenssituation regelmäßig von selbst versteht127. Führt man sich die neue und alte Formel der Rechtsprechung 128 zur Definition des gebotenen Aufsichtsumfangs vor Augen, so erhellt sich, dass die Tatsachen, die einen normalen Aufsichtsanlass begründen, durch den Geschädigten bereits mit dem Vortrag des konkreten Schadensgeschehens dargelegt und gegebenenfalls unter Beweis gestellt werden. Denn der Umfang der gebotenen Aufsicht über Minderjährige bestimmt sich bei beiden Formeln nach deren Alter, Eigenart und Charakter. Die Grenze der erforderlichen und zumutba-
FamRZ 1997, 740 (741) v. 18.06.1996; LG Saarbrücken NJW-RR 1991, 543 v. 07.11.1990; LG Berlin VersR 1999, 2906 (2907) v. 29.10.1998; AG Frankfurt/M. NJW-RR 1997, 1314 v. 01.11.1996; AG Flensburg NJW-RR 1999, 1041 v. 05.11.1998. 123 OLG Koblenz r+s 1995, 413 (414) v. 01.06.1994. 124 OLG Hamm VersR 1976, 392, 393 v. 18.04.1975; 1998, 722 (723) v. 15.04.1997; OLG Oldenburg VersR 1976, 199 v. 23.04.1975; OLG Karlsruhe VersR 1979, 58 v. 14.12.1977; OLG Düsseldorf VersR 1983, 89 v. 14.04.1981; LG Münster VersR 1978, 69 f v. 16.11.1976; LG Saarbrücken NJW-RR 1991, 543 v. 07.11.1990; LG Düsseldorf VersR 1994, 484 v. 03.03.1993. 125 BGH LM Nr. 15 zu § 832 BGB (= NJW 1984, 2574 [2576]) v. 10.07.1984; ebenso BGH LM Nr. 18 zu § 832 BGB (= NJW 1990, 2553 [2554]) v. 29.05.1990. 126 OLG Celle VersR 1979, 476 v. 12.01.1978. 127 OLG Celle a. a. O. 128 Vgl. 1. Teil § 2 I 2.
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3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
ren Maßnahmen richtet sich dabei danach, was verständige Eltern nach vernünftigen Anforderungen in der konkreten Situation tun müssen, um Schädigungen Dritter durch ihr Kind zu verhindern 129 . Prägnant heißt es in einem neuen Urteil des OLG Hamm v. 09.06.2000: Die Aufsichtspflicht wird zum einen durch die Eigenschaften des aufsichtsbedürftigen Kindes und zum anderen durch die Schadensgeneigtheit des Unfallbereiches und der danach gegebenen und zu erwartenden konkreten Gefahrensituation bestimmt 130 . Bei einem sog. normalen Aufsichtsanlass genügt deshalb der Kläger seiner Darlegungs- und Beweislast bereits durch den Vortrag des konkreten Schadensgeschehens, indem er also Alter des Kindes, die tatsächliche Situation und den Geschehensablauf vorträgt und beweist. Diese von der Rechtsprechung praktizierte Vorgehensweise wird in einem Urteil des OLG Düsseldorf eindeutig systematisch herausgearbeitet. Darin fuhrt das OLG aus, § 832 Abs. 1 BGB sei nicht dahin zu verstehen, dass die Verschuldenshaftung des Aufsichtspflichtigen schon an die bloße Tatsache der Minderjährigkeit und der widerrechtlichen Schadenszufügung anknüpfe. Der Kläger habe deshalb mehr vorzutragen, als die Tatsache, dass er durch minderjährige Kinder widerrechtlich geschädigt worden sei, um die beklagten Eltern zum Entlastungsbeweis zu zwingen. Die Vorschrift des § 832 Abs. 1 BGB knüpfe an die Verletzung der Aufsichtspflicht gegenüber Kindern an, die wegen der Minderjährigkeit der Beaufsichtigung bedürfen. Dementsprechend habe der BGH die Minderjährigkeit als solche nicht schlechthin als alleinige Voraussetzung einer Verschuldensvermutung des Aufsichtspflichtigen genügen lassen. Vielmehr habe er in stdg. Rspr. entschieden, dass sich das Maß der gebotenen Aufsicht über Minderjährige nach deren Alter, Eigenart und Charakter bestimme und es darauf ankomme, ob die Eltern ihrer Aufsichtspflicht im konkreten Fall in Bezug auf die zur widerrechtlichen Schadenszufügung führenden Umstände genügt haben. Weiter weist das OLG Düsseldorf darauf hin, dass zwischen der allgemeinen Aufsicht und der, durch einen besonderen Aufsichtsanlass gebotenen, erhöhten Aufsichtspflicht zu un-
129
Stdg. Rspr., so zuletzt die neue Formel bei: BGHZ 111, 282 (285) (= LM Nr. 18 zu § 832 BGB = NJW 1990, 2553 [2554]) v. 29.05.1990; BGH LM Nr. 19 zu § 832 BGB (= NJW 1993, 1003) v. 19.01.1993; LM Nr. 15 zu § 832 BGB (= NJW 1984, 2574 [2575]) v. 10.07.1984; LM Nr. 12 zu § 832 BGB (= NJW 1980, 1044 [1045]) v. 27.11.1979; OLG Düsseldorf NJW-RR 2002, 235 v. 15.09.2000; OLG Hamm VersR 2001, 386 v. 16.09.1999; so zuletzt die alte Formel: BGH LM Nr. 17 (= NJW-RR 1987, 1430 [1431]) v. 07.07.1987; LM Nr. 16 (= NJW-RR 1987, 13 [14]) v. 01.07.1986; OLG Koblenz NJW-RR 2002, 900 v. 15.04.2002; OLG Frankfurt/M. MDR 2001, 752 (753) v. 28.03.2001; OLG Hamm MDR 2000, 1373 (1374) v. 09.06.2000. 130 OLG Hamm OLGR 2000, 266 (267) = NJW-RR 2002, 236 (237) v. 09.06.2000 (Diese Formulierung fehlt in den in MDR 2000, 1373 abgedruckten Entscheidungsgründen.); ähnlich OLG Schleswig NJW-RR 1999, 606 (607) v. 12.11.1998.
§ 1 Die bisher vertretenen Reformvorschlge
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terscheiden sei. Den besonderen Aufsichtsanlass habe der Kläger schlüssig darzulegen 131 . Die Darlegungs- und Beweislastverteilung für einen solchen besonderen Aufsichtsanlass wird durch die Rechtsprechung deutlich herausgestellt. Entscheidend für das Gewicht dieses Aufsichtsanlasses ist das Ausmaß der Gefahr, die außenstehenden Dritten durch den Aufsichtsbedürftigen droht 132 . So führt das OLG Celle aus, behaupte der Kläger, die beklagten Eltern seien zu einer verschärften Aufsicht verpflichtet gewesen - also einer Aufsicht, die über das hinausgeht, was sich bei Kindern aufgrund ihres Alters regelmäßig von selbst verstehe - so müsse er die tatsächlichen Grundlagen einer derartigen verschärften Pflicht im Einzelnen darlegen und beweisen 133 . Diese eindeutige Aussage zur Darlegungs- und Beweislast des Klägers findet sich in Urteilen über das gesamte vergangene Jahrhundert 134 .
(2) Das Schrifttum Ein Teil des Schrifttums orientiert sich am Wortlaut des § 832 Abs. 1 BGB und entnimmt der Vorschrift, der geschädigte Kläger habe hinsichtlich der Aufsichtspflichtverletzung keinerlei Darlegungs- und Beweislast 135 . Überwiegend wird im Schrifttum jedoch, über den Gesetzeswortlaut hinaus, eine weitaus differenzierte Einteilung der Darlegungs- und Beweislast bezüglich der 131 OLG Düsseldorf VersR 1988, 56 v. 03.06.1986. A. Fuchs (S. 213) äußert sich kritisch zu diesem Urteil. Ein Aufsichtsanlass ist nach seiner Ansicht nicht erforderlich. Das OLG setze die Schlüssigkeit einer Klage mit dem Eingreifen der gesetzlichen Beweislastumkehr gleich und übersehe, dass die Reichweite der gesetzlichen Vermutung entscheidend von der Rechtsprüfung des Gerichts abhängt. Belling/Eberl-Borges (Staudinger/Belling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 152) weisen zutreffend darauf hin, dass diese Auffassung von A. Fuchs eine Beweislastumkehr wegen Nichterfüllung der gebotenen Aufsicht auslöst, ohne dass feststeht, dass überhaupt eine konkrete Aufsicht geboten war. 132 OLG Schleswig NJW-RR 1999, 606 (607) v. 12.11.1998. 133 OLG Celle VersR 1979, 476 v. 12.01.1978. 134 RGZ 50, 60 (63) v. 30.12.1901; RG JW 1905 Nr. 21, S. 21 (22) v. 03.11.1904; OLG Zweibrücken SeuffA 63 Nr. 114, S. 191 (193) v. 25.02.1908; OLG Oldenburg SeuffA 75 Nr. 159, S. 282 (283) v. 01.03.1919; BGH VersR 1955, 421 v. 11.05.1955; VersR 1957, 131 (132) v. 08.01.1957; LG Bielefeld MDR 1968, 1010 v. 31.01.1968; OLG Düsseldorf VersR 1988, 56 v. 03.06.1986; OLG München FamRZ 1997, 740 (742) v. 18.06.1996; LG Bayreuth DAR 1998, 143 (144) v. 23.07.1997; LG Landau NJW 2000, 2904 v. 16.06.2000. A.A. RG v. 15.12.1910 in: Nachschlagewerk des Reichsgerichts, § 832 BGB A. Nr. 27. Danach muss der Aufsichtspflichtige behaupten und beweisen, dass er es nicht an der nötigen Aufsicht hat fehlen lassen und dass er Beobachtungen, die ihn zu besonders strenger Aufsicht veranlasst haben würden, nicht gemacht hat. 135
Deerberg, S. 76 f, 80; Kötz/Wagner,
Rn. 330; Enneccerus/Lehmann,
§ 242 I.
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3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
Aufsichtspflichtverletzung vorgenommen. Danach hat der Kläger einen Anlass zur Beaufsichtigung des Aufsichtsbedürftigen zu beweisen 136 . Das ergibt sich aus dem Normcharakter des § 832 BGB als Unterlassungsdelikt. Anknüpfungspunkt der Haftung ist das Unterlassen der gehörigen Aufsicht. Die Haftung für ein Unterlassen erfordert regelmäßig ein konkretes Bedürfnis zum Tätigwerden des Aufsichtspflichtigen in der gegenständlichen Lebenssituation, den sogenannten Aufsichtsanlass. Darunter sind solche Umstände zu verstehen, die typischerweise eine rechtsgutverletzende Kindeshandlung wie die geschehene erwarten lassen137. Den konkreten Aufsichtsanlass - der die allgemeine Aufsichtspflicht zu einem bestimmten Handlungsgebot verdichtet - bestimmt das Schrifttum wie die Rechtsprechung durch die Eigenschaften des Aufsichtsbedürftigen sowie die Schadensgeneigtheit des Umfeldes bzw. der Gefährlichkeit des Verhaltens 138 . Regelmäßig legt der Kläger diese Tatsachen schon durch den Vortrag des konkreten Schadensgeschehens dar, nämlich durch das Alter des Kindes, die Tatsituation und den genauen Geschehensablauf 139. Die Fragen, ob und welche Aufsichtsmaßnahmen erforderlich und geboten waren, werden nicht von der Beweislastumkehr erfasst. Das ist eine Rechtsfrage, die der Richter aufgrund der vorgetragenen Tatsachen entscheidet. Ein wichtiges Indiz ist dabei aber die Tatsache, dass das Kind die gefahrenträchtige Situation objektiv nicht bewältigt hat 140 . Konsequenterweise wird im Schrifttum die Darlegungs- und Beweislastverteilung für einen besonderen Aufsichtsanlass überwiegend ebenfalls dem Kläger zugewiesen 141. Das sind Umstände, die verschärfte Aufsichtsmaßnahmen
136 Si&udmgzx/Belling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 148, 149; Aden, S. 145 f, 151 ff; ders., MDR 1974, 9 (10); Eckert, S. 164; A. Fuchs, S. 215 ff; Albilt, S. 235 ff; Scheffen/Pardey, Rn. 138; Baumbach¡Hartmann, Anh. § 286 Rn. 74; Pardey, DAR 2001, 1 (3); Berning/Vortmann, JA 1986, 12(16); Rauscher, JuS 1985, 757 (761). Sehr weitgehend ist der Standpunkt von Schoof (S. 127 f). Sie hält den Beweis eines Aufsichtsanlasses durch den Kläger für nicht ausreichend, um die Vermutungswirkung des § 832 Abs. 1 S. 2 BGB auszulösen. Vielmehr müsse ein konkretes elterliches Fehlverhalten dargetan und bewiesen werden. 137 Aden, MDR 1974,9(10). 138 Staudinger/Belling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 55, 58; M. Fuchs, NZV 1998, 7 (8). 139 Staudinger/Belling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 149; Dahlgrün, S. 113, 174. 140 Staudinger/Belling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 54, 149; Haberstroh, VersR 2000, 806 (812 Fn. 65). 141 Staudinger/Belling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 149; Eckert, S. 164 f; A.Fuchs, S. 220, 227 f, 231; Scheffen/Pardey, Rn. 138; Pardey, DAR 2001, 1 (3). Keine Differenzierung zwischen den Aufsichtsanlässen nehmen Aden (MDR 1974, 9 ff) und Rauscher (JuS 1985, 757 ff) vor. Dahlgrün (S. 113) verwendet das Begriffspaar normale und besondere Aufsichtssituation, wobei nur bei letzterer Aufsichtssituation ein Aufsichtsanlass bestehen soll. Albilt (S. 246) und Niboyet (S. 151) legen dem Aufsichtspflichtigen die Beweislast für den besonderen Aufsichtsanlass auf. Erstens sei die Beweislastverteilung in § 832 BGB eindeutig. Zweitens stützten sich die Eltern mit ihrer
§ 1 Die bisher vertretenen Reformvorschlge
379
gebieten, wie gefahrsteigernde Eigenschaften des Aufsichtsbedürftigen, eine besondere Gefahrträchtigkeit seines Verhaltens oder eine besondere Schadensgeneigtheit des Umfelds 142 . Dabei beziehen auch Autoren Stellung, die eine über den Wortlaut der Norm hinausgehende Aussage bezüglich der Darlegungsund Beweislastverteilung bei einem normalen Aufsichtsanlass vermissen lassen 143 . Für Dahlgrün 144 und Rauscher 145 ist § 832 BGB deshalb keine so klägerfreundliche Vorschrift wie es nach dem Gesetzeswortlaut erscheint. Beruft sich hingegen der Aufsichtspflichtige auf gefahrmindernde Eigenschaften des Aufsichtspflichtigen, so ist er für diese zur Minderung des Aufsichtsumfanges führenden Tatsachen darlegungs- und beweispflichtig 146 .
bb) Die Vorhersehbarkeit
des Aufsichtsanlasses
(1) Die Rechtsprechung Die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast für die Vorhersehbarkeit des Aufsichtsanlasses wird in der Rechtsprechung vereinzelt dem Kläger auferlegt 147 . Herrschend ist jedoch in der Judikatur die Auffassung, dem beklagten Aufsichtspflichtigen die Darlegungs- und Beweislast für die Vorhersehbarkeit der den Aufsichtsanlass bestimmenden Tatsachen aufzuerlegen 148. Der beklagte Aufsichtspflichtige ist deshalb nicht nur bezüglich seiner Unkenntnis vom Aufbehaupteten Unkenntnis der erhöhten Gefahr auf eine neue Tatsache, so dass es ihnen obliegen müsse, diese zu beweisen. A. Fuchs (S. 235) teilt die Beweislast für eine erhöhte Aufsichtspflicht zwischen den Parteien auf. Die objektiven Voraussetzungen hat danach der geschädigte Kläger, die subjektiven Voraussetzungen haben die Eltern zu beweisen. 142
143
Stdiud'mgQr/Belling/Eberl-Borges,
§ 832 Rn. 62, 68.
MünchKomm/Stew, § 832 Rn. 30; RGRK¡Kreft,
§ 832 Rn. 29; Baumgärtel/
Baumgärtel, § 832 Rn. 7. 144 Dahlgrün, S. 179 f. 145
Rauscher, JuS 1985, 757 (761).
146
SteudmgexIBelling/Eberl-Borges,
147
§ 832 Rn. 149; A. Fuchs, S. 228.
RGZ 50, 60 (63) v. 30.12.1901: Der Kläger muss die Kenntnis des beklagten Vaters vom Aufsichtsanlass - sein Sohn war im Besitz eines Bogens - beweisen. OLG Hamm OLGZ 92, 95 (96) v. 02.05.1991: Die Beweislast für die Vorhersehbarkeit der konkreten Handlung des Minderjährigen - ein Raubmordversuch - obliegt der geschädigten Klägerin. 148 RG v. 15.12.1910 in: Nachschlagewerk des Reichsgerichts, § 832 BGB A. Nr. 27; OLG Köln VersR 1955, 347 (349) v. 11.03.1955; OLG Düsseldorf VersR 1988, 56 (57) v. 03.06.1986; OLG Nürnberg FamRZ 1992, 549 v. 19.03.1991; OLG Köln FamRZ 1994, 831 (833) v. 05.05.1993; OLG Frankfurt/M. MDR 1997, 1028 (1029) v. 27.03.1997; OLG Düsseldorf VersR 1998, 721 (722) v. 18.07.1997; OLG Schleswig NJW-RR 1999, 606 (607) v. 12.11.1998; LG Arnsberg FamRZ 1995, 602 v. 05.08.1994.
3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
380
sichtsanlass und der ihn bestimmenden Tatsachen beweispflichtig. Vielmehr muss er weiterhin beweisen, dass diese für ihn ohne Verschulden nicht erkennbar waren. Das wird deutlich aus den folgenden wiederkehrenden Ausführungen des BGH: Auch wenn der Aufsichtspflichtige von dem gefährlichen Spiel der Kinder, der den Aufsichtsanlass bestimmenden Tatsache, nichts gewusst habe, könne diese Unkenntnis durch mangelnde Aufmerksamkeit und Uninteressiertheit zu erklären sein. Der beklagte Aufsichtspflichtige müsse daher nachweisen, dass er von diesen Spielen ohne Verschulden keine Kenntnis erlangen konnte und somit seiner Aufsichtspflicht genügt habe 149 . In einem Urteil v. 01.07.1986 formuliert der BGH: Wolle sich die beklagte Aufsichtspflichtige damit entschuldigen, sie habe vom besonderen Aufsichtsanlass, dem Spiel des Minderjährigen mit einem Feuerzeug, nichts gewusst, so sei es ihre Sache, dies zu beweisen150. Die Verschuldensvermutung des § 832 Abs. 1 S. 2 BGB wird somit durch den Vortrag und gegebenenfalls Beweis eines Aufsichtsanlasses, neben den Voraussetzungen des § 832 Abs. 1 S. 1 BGB, durch den Kläger ausgelöst.
(2) Das Schrifttum Hinsichtlich der Darlegungs- und Beweislast für die Vorhersehbarkeit des Aufsichtsanlasses gehen die Stimmen im Schrifttum auseinander. Aden 151 , Dahlgrün 152 und Berning/Vortmann 153 nehmen an, diese treffe den geschädigten Kläger. Er müsse beweisen, dass verantwortungsbewusste Eltern den Aufsichtsanlass erkannt hätten, also eine generelle Erkennbarkeit der den Aufsichtsanlass bestimmenden Tatsachen dartun 154 . Mehrheitlich ordnet das
149
BGH VersR 1955, 421, 422 v. 11.05.1955; VersR 1961, 838 (839) v. 27.06.1961; BGH LM Nr. 8a zu § 832 BGB (= FamRZ 1966, 228 [229]) v. 01.02.1966. 150 BGH LM Nr. 16(=NJW-RR 1987, 13 [14]) v. 01.07.1986. 151 152
153
Aden, S. 149 f, 154 ff; ders., MDR 1974, 9 (11 f). Dahlgrün, S. 114, 176 f.
Berning/Vortmann, JA 1986, 12(16). Aden stützt seine Ansicht auf zwei BGH-Urteile (BGH JZ 1955, 500 = [VersR 1955, 421 f] v. 11.05.1955 [vgl. 1. Teil §3 12]; BGH LM Nr. 8a zu § 832 BGB [= FamRZ 1966, 228 {229}] v. 01.02.1966 [vgl. 1. Teil § 3 I 3]). Weiter zitiert Aden zur Begründung seiner Ansicht (S. 155 Fn. 3, S. 157 Fn. 1 sowie in MDR 1974, 9 [12 Fn. 24, 26]) eine BGH-Entscheidung in FamRZ 1964, 228. Dabei handelt es sich um die Entscheidung des BGH in FamRZ 1966, 228 (= LM Nr. 8a zu § 832 BGB) v. 01.02.1966. Zur Begründung seiner Auffassung bezieht sich Aden auf folgende Passage aus dem BGH-Urteil v. 11.05.1955: „Wenn der Beklagte von einer nachgewiesenen allgemeinen Verwendung von Pfeil und Bogen durch die Dorfjugend nichts gewußt haben sollte, dann kann das durch Unaufmerksamkeit erklärt werden ... und der Beklagte hat nachzuweisen, daß er ohne Verschulden davon keine Kenntnis erlangen konnte." Anschließend verweist Aden auf die entsprechenden Ausführungen des BGH in FamRZ 154
§ 1 Die bisher vertretenen Reformvorschlge
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Schrifttum - dogmatisch überzeugend - die Erkennbarkeit des Aufsichtsanlasses aber allein als Verschuldensaspekt ein 1 5 5 . Sie wird damit zu Lasten der Aufsichtspflichtigen von der Beweislastumkehr in § 832 Abs. 1 S. 2 BGB erfasst. Die Rechtsprechung und die überwiegenden Stimmen im Schrifttum gehen somit von derselben Darlegungs- und Beweislastverteilung in § 832 Abs. 1 BGB aus. Anzumerken ist abschließend, dass ein umfangreicher Teil der Kommentierungen zu § 832 BGB zur Darlegungs- und Beweislast über den Wortlaut des § 832 BGB hinaus keinerlei Aussage trifft 1 5 6 .
c) Die Handhabung der Beweislastumkehr in § 832 Abs. 1 BGB durch die Rechtsprechung Nur in wenigen Urteilen finden sich Hinweise darauf, wie sich im Zivilprozess die Beweislast hinsichtlich der Aufsichtspflicht konkret auswirkt. Die nachfolgenden, tendenziell elternfreundlichen Ausfuhrungen können deshalb nicht stellvertretend für die gesamte Gerichtspraxis zu § 832 BGB stehen. Bei manchen prozessualen Ausfuhrungen der Gerichte handelt es sich zudem nur um die Anwendung allgemeiner Prozessgrundsätze auf einen Sachverhalt, bei dem § 832 BGB als Anspruchsgrundlage einschlägig ist.
1966, 228. Aus dieser zitierten Passage leitet er das Ergebnis her, der Kläger habe nach der Rechtsprechung die Umstände darzutun, die einen verantwortungsbewussten Vater auf das Vorliegen eines Aufsichtsanlasses hinweisen könnten. Raum für die Beweislastumkehr bleibe nur in Bezug auf die Schuld und die Kausalität hinsichtlich der Tatbestandserfüllung. So werde vermutet, dass der Aufsichtspflichtige einen - vom Kläger darzulegenden und zu beweisenden - generell erkennbaren Aufsichtsanlass schuldhaft nicht erkannt hat. Dahlgrün (S. 176 ff) führt zur Begründung ihrer Auffassung, neben den vorgenannten Urteilen noch ein weiteres BGH-Urteil an (VersR 1961, 838 [839] v. 27.06.1961). Die von Aden und Dahlgrün zitierten Urteile tragen aber nicht den von ihnen gezogenen Schluss, dass der Kläger eine generelle Vorhersehbarkeit des Aufsichtsanlasses darzulegen und zu beweisen habe (so auch schon Staudinger/Belling/EberlBorges, § 832 Rn. 147; Albilt, S. 241 ff; Deerberg, S. 77 ff, der jedoch auch den Beweis eines Aufsichtsanlasses durch den Kläger für nicht erforderlich hält). Eine dahingehende Formulierung ist in keinem der Urteile ersichtlich. Vielmehr beziehen sich die jeweiligen Ausführungen des BGH nur auf Tatsachen, die einen besonderen Aufsichtsanlass begründen. Aden und Dahlgrün spalten diese Tatsachen jedoch, ohne einen Anhaltspunkt im jeweiligen Urteil zu benennen, in einen besonderen Aufsichtsanlass begründende Tatsachen und eine generelle Vorhersehbarkeit begründende Tatsachen auf. Die von Aden zitierte Urteilspassage macht aber gerade deutlich, dass bereits mit dem Vortrag eines besonderen Aufsichtsanlasses die Verschuldensvermutung nach § 832 Abs. 1 S. 2 BGB ausgelöst wird. 155
Staudinger/Belling/Eberl-Borges,
§ 832 Rn. 136, 147; RGRK/Kreft,
Albilt, S. 246; A. Fuchs, S. 234 f. 156 W\JStaudinger, § 832; lautmig/Teichmann,
landt¡Thomas, § 832; SoergelIZeuner, § 832.
§ 832 Rn. 32;
§ 832; Erman/Schiemann,
§ 832; Pa-
382
3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
aa) Die Aufldärungs-
und Hinweispflicht
gemäß § 139 ZPO
Gemäß § 139 ZPO hat das Gericht die Parteien zu vollständiger Erklärung über alle erheblichen materiellen und prozessualen Tatsachen zu veranlassen. So hat das Gericht auf übersehene Umstände und Unvollständigkeiten hinzuweisen und zur Erklärung und etwaiger Vervollständigung anzuregen, z. B. eine zu allgemein gehaltene Darstellung zu substanziieren. Auch bei einer Vertretung durch einen Rechtskundigen ist ein solcher Hinweis grundsätzlich nötig, jedenfalls dann, wenn der Prozessbevollmächtigte die Rechtslage ersichtlich falsch beurteilt oder darauf vertraut, sein Vortrag sei ausreichend 157. In einem BGH-Urteil v. 19.09.1961 kam als Rechtsgrundlage für die Klage gegen den Vater nur § 832 BGB in Betracht. Die Klägerin hatte sich zudem ausdrücklich auf § 832 BGB berufen. Nach Ansicht des Senats konnte deshalb für den, durch einen Rechtsanwalt vertretenen, beklagten Vater kein Zweifel darüber bestehen, dass es seine Aufgabe war, im Einzelnen vorzutragen, in welcher Weise er seine Aufsichtspflicht erfüllt hatte. Für die Vorinstanz war aus dem Vorbringen des Vaters nicht ersichtlich gewesen, dass er noch weitere relevante Tatsachen für die Bestimmung der Aufsichtspflicht vortragen konnte. Der BGH verneinte deshalb eine Pflicht des OLG, den beklagten Vater zur Ergänzung seines Vortrages aufzufordern und verwarf die auf § 139 ZPO gestützte Revisionsrüge 158. Hingegen führte in einem BGH-Urteil v. 10.07.1984 die u. a. auf § 139 ZPO gestützte Revision der Eltern zum Erfolg. Der BGH befand, auch wenn der Vortrag der beklagten Eltern zu ihrer Aufklärungs- und Aufsichtspflicht nicht erschöpfend gewesen sei, wäre es die Pflicht des Berufungsgerichts gewesen, nach § 139 ZPO daraufhin zu wirken, dass die Eltern ihren Vortrag ergänzten und vertieften. Die Beklagten konnten danach im Berufungsverfahren darauf vertrauen, ihr Vortrag würde den strengen Anforderungen des Entlastungsbeweises nach § 832 Abs. 1 S. 2 BGB genügen. Wenn das Berufungsgericht in dieser Hinsicht Zweifel hatte, gebot es die Aufklärungspflicht gemäß § 139 ZPO, den beklagten Eltern aufzugeben, sich hierzu vollständig zu erklären. Denn Zweck des § 139 ZPO ist es, die Parteien vor einem bloßen Versehen zu schützen, wie es nach Ansicht des BGH nahe lag 159 . Nach Auffassung des BGH muss das Gericht in der Tatsacheninstanz die beklagten Eltern gemäß § 139 ZPO klar genug daraufhinweisen, dass es auf Grund der Beweislastverteilung des § 832 BGB ihre Aufgabe ist, umfassend und konkret darzulegen und notfalls zu beweisen, was sie zur Erfüllung der ihnen obliegenden Aufsichtspflicht im Einzelnen unternommen haben 160 .
157 158 159 160
Thomas/Putzo//te/c/zo/4 § 139 Rn. 3, 5, 12. BGH VersR 1961, 998 (999) v. 19.09.1961. BGH LM Nr. 15 zu § 832 BGB (= NJW 1984, 2574 [2576]) v. 10.07.1984. BGH LM Nr. 16 zu § 832 BGB (=NJW-RR 1987, 13 [14]) v. 01.07.1986.
§ 1 Die bisher vertretenen Reformvorschlge
383
Lebensnah führte das OLG Köln in einem Berufungsurteil v. 27.10.1995 aus: Die beklagten Eltern haben fünf Kinder. In einer solchen Familie ist es selbstverständlich, dass Kinder häufig ermahnt werden und dass die Geschwister die Ermahnungen der anderen Kinder mitbekommen. Das LG hätte deshalb die Eltern zu einem entsprechenden Vortrag anregen sollen, um dann aufgrund eines ergänzten Sachvortrages, der nun in der zweiten Instanz erfolgt ist, entscheiden zu können 161 .
bb) Die Berücksichtigung der Beweisschwierigkeiten
der Eltern
Das LG Berlin entschied mit Urteil v. 29.04.1966 einen Fall, in dem ein fast 7-jähriges Kind einen Verkehrsunfall verursachte. Dabei stellte die Kammer folgende Anforderungen an den Entlastungsbeweis der beklagten Mutter: Sie musste erstens beweisen, dass sie ihre Tochter im ersten Vierteljahr ihres ersten Schuljahres täglich in die Schule gebracht und von dort wieder abgeholt hatte. Zweitens musste die Mutter beweisen, dass sie ihre Tochter auch nach der Schule regelmäßig beobachtet hatte. Die Kammer entlastete nach der Beweisaufnahme die Mutter. Sie ging bei der Beweiswürdigung davon aus, dass es der Mutter praktisch unmöglich sei, für jeden in Betracht kommenden Tag einen lückenlosen Beweis zu erbringen. Aufgrund der stichprobenartigen Beobachtungen einer Zeugin konnte hinsichtlich einiger Tage festgestellt werden, dass die beklagte Mutter sich zuverlässig und verantwortungsbewusst um ihre Tochter gekümmert hatte. Daraus zog die Kammer die Schlussfolgerung, dass sie ihre Tochter auch an den übrigen Tagen hinreichend beaufsichtigt habe 162 . Im Urteil des BGH v. 10.07.1984 hatte der 8'/2-jährige Sohn der Beklagten gemeinsam mit anderen Kindern einen Brand verursacht. Der Senat wies zunächst daraufhin, dass die Eltern als Erziehungspflichtige die Möglichkeit haben, ihrem Kind die notwendigen Erkenntnisse über die Gefährlichkeit eines Feuers zu vermitteln. Dann heißt es: Hat sich die Gefahr einer Brandverursachung durch spielende Kinder verwirklicht, gehört es zur Darlegungspflicht und zum Entlastungsbeweis der Eltern, im Einzelnen darzulegen und nachzuweisen, dass sie ihrer Aufklärungspflicht nachgekommen sind. Dabei hat das Gericht allerdings der Schwierigkeit der Beweisführung über derartige, sich im Allgemeinen innerfamiliär vollziehende Erziehungsmaßnahmen, die zudem breitflächig angelegt sein werden und sich deshalb schwerlich zeitlich genau fixieren lassen, Rechnung zu tragen. Das kann es rechtfertigen, an die Parteivernehmung der Eltern keine zu strengen Anforderungen zu stellen. Sie ist insbesondere dann zuzulassen, wenn einiger Beweis dafür erbracht ist, dass die El-
161 162
OLG Köln VersR 1996, 588 v. 27.10.1995. LG Berlin VersR 1967, 237 v. 29.04.1967.
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3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
tern im Allgemeinen ihre Aufsichtspflicht ernst genommen haben 163 . Diese Ausfuhrungen bestätigte der BGH nahezu wortgleich in einem Urteil v. 29.05.1990 zu einem Brandschaden 164. Das OLG Nürnberg legte bei einem Grillunfall diese von der höchstrichterlichen Rechtsprechung aufgestellten Grundsätze seiner Beweiswürdigung zugrunde 165. Ein eher geringes Gewicht maß das OLG Celle in seinem Urteil v. 27.05.1987 den Beweisschwierigkeiten der Eltern bei. Die radfahrende Klägerin war mit dem ebenfalls radfahrenden 53/4-jährigen Sohn der Beklagten am 20.05.1985 zusammengestoßen. Den beklagten Eltern gelang es in der vor dem Senat durchgeführten Beweisaufnahme nicht, zu beweisen, dass sie den Anforderungen des Gerichts an die Aufsichtspflicht genügt hatten. Die Beweisaufnahme ergab nicht, was für Radtouren die Eltern nach dem Ende des Winters 1985 mit ihrem Sohn unternommen und welche Belehrungen sie ihm erteilt hatten. Auch konnten sie nicht mehr beweisen, ob sich ihr Sohn insbesondere bei Fahrten auf dem späteren Unfallweg schon so bewährt hatte, dass sie verantworten konnten, ihn dort unbeaufsichtigt fahren zu lassen166. Die Beweisaufnahme des OLG Celle bezog sich somit auf Tatsachen, die mindestens zwei Jahre zurücklagen. Ob der Senat dieser Zeitspanne im Rahmen der Beweisaufnahme Rechnung trug, lässt sich den veröffentlichten Entscheidungsgründen nicht entnehmen. Die Gerichte nehmen wiederholt Parteivernehmungen der beklagten Eltern vor 167 . Der BGH betont, dass an die Voraussetzungen einer Parteivernehmung der beklagten Eltern keine zu hohen Anforderungen zu stellen sind 168 . Die Mindestvoraussetzungen für eine solche Parteivernehmung der Eltern hat das LG Saarbrücken mit Urteil v. 07.11.1990 herausgearbeitet. Sie entsprechen den allgemeinen zivilprozessualen Grundsätzen 169. Im Prozess hatten die beklagten Eltern angeregt, sie gemäß § 448 ZPO als Partei zu vernehmen. Nach Ansicht des LG lagen die Voraussetzungen für eine derartige Parteivernehmung von Amts wegen nicht vor. Die Kammer gestand den Eltern zu, dass sie sich in Beweisnot befänden und dass die Erfüllung der elterlichen Aufsichtspflicht regelmäßig nur schwer durch andere Beweismittel nachgewiesen werden könne. Deshalb seien an die Zulässigkeit einer Parteivernehmung von Amts wegen
163
BGH LM Nr. 15 zu § 832 BGB (=NJW 1984, 2574 [2576]) v. 10.07.1984. BGH LM Nr. 18 zu § 832 BGB (= NJW 1990, 2553 [2554]) v. 29.05.1990 (insoweit nicht abgedruckt in BGHZ 111, 282). 165 OLG Nürnberg FamRZ 1992, 549 v. 19.03.1991. 166 OLG Celle NJW-RR 1988, 216 v. 27.05.1987 (vgl. 1. Teil § 3 III 3 abb). 167 OLG Celle NJW 1970, 202 v. 05.06.1969; OLG Köln VersR 1970, 1163 v. 22.09.1970; OLG Düsseldorf r+s 1990, 372 v. 21.11.1988. 168 BGH LM Nr. 15 zu § 832 BGB (= NJW 1984, 2574 [2576]) v. 10.07.1984; LM Nr. 18 zu § 832 BGB (= NJW 1990, 2553 [2554]) v. 29.05.1990 (insoweit nicht abgedruckt in BGHZ 111,282). 169 Thomas/Putzo//te/c/ioW § 448 Rn. 2. 164
§ 1 Die bisher vertretenen Reformvorschlge
385
keine zu hohen Anforderungen zu stellen. Andererseits sei jedoch zu berücksichtigen, dass die Parteivernehmung von Amts wegen gemäß § 448 ZPO voraussetze, dass der in Beweisnot befindliche Beweisfiihrer bereits anderweit einigen Beweis für die Richtigkeit seiner Behauptung erbracht habe, so dass eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit der zu beweisenden Tatsache bestehe. Auch wenn man keine zu hohen Anforderungen an das Vorliegen dieser Voraussetzung stelle, so dürfe das nicht dazu führen, dass allein die Beweisnot ausreichend sei, den Beweisführer selbst zu Beweiszwecken zu vernehmen. Denn die Beweisnot allein führe grundsätzlich zur Beweisfälligkeit und eine regelmäßige auf die Beweisnot gestützte Vernehmung des Beweisführers als Partei würde den Grundsätzen des Beweisrechts der ZPO widersprechen. Aufgrund des Vortrages der Parteien sprach aus Sicht des LG Saarbrücken keine auch nur irgendwie geartete Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit der Behauptung der beklagten Eltern, sie hätten ihrer Aufsichtspflicht genügt. Die verbleibende Beweisnot der Eltern allein rechtfertigte aber keine Parteivernehmung von Amts wegen gemäß § 448 ZPO 170 . In einem Brandfall, der dem OLG Jena zur Entscheidung vorlag, war der beklagte Vater bereits in einem anderen Zivilverfahren gemäß § 448 ZPO als Partei vernommen worden. Das OLG verwertete die Parteivernehmung des Beklagten in seinem Verfahren im Wege des Urkundsbeweises, nachdem das vorherige Verfahren zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurde und der beklagte Vater auf eine erneute Vernehmung als Partei zum gleichen Beweisthema verzichtete 171. Von der Parteivernehmung als Beweismittel für die behauptete, streitige Tatsache ist die Anhörung der Partei nach § 141 ZPO zu unterscheiden, die der Aufklärung des Sachverhaltes dient. Mit ihr sollen Unklarheiten und Lücken im Parteivortrag beseitigt werden 172 . Eine solche Anhörung der beklagten Mutter nahm das OLG Oldenburg in seinem Urteil v. 19.10.1993 vor 173 . Im Urteil des OLG Koblenz v. 18.12.1984 legte ein 6V2-Jähriger ein Feuer, durch das die Scheune der Kläger abbrannte. Der Senat stützte die Verurteilung der Mutter wie die Vorinstanz - im Wesentlichen auf die Feststellungen, die sich aus der Befragung des Kindes unmittelbar nach dem Tatgeschehen ergaben. Die Befragung hatte die Polizei mit dem Einverständnis der Eltern durchgeführt. Für eine erneute Anhörung des Kindes sah der Senat deshalb keinen Anlass 174 .
170 171 172 173 174
LG Saarbrücken NJW-RR 1991, 543 (544) v. 07.11.1990 (vgl. 1. Teil § 4 I 3 b). OLG Jena OLGR-NL 2002, 381 (385) v. 29.11.2000. Thomas/Putzo//te/c/ioW Vorbem § 445 Rn. 2. OLG Oldenburg FamRZ 1994, 833 v. 19.10.1993. OLG Koblenz ZfS 1987, 162 v. 18.12.1984.
386
3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
d) Die Argumente gegen die Beibehaltung der Beweislastumkehr in § 832 Abs. 1 BGB Das Schrifttum trägt eine ganze Reihe von Argumenten vor, die gegen die Beibehaltung einer Beweislastumkehr zu Lasten der Eltern in § 832 Abs. 1 BGB sprechen. So muss der Aufsichtspflichtige vortragen und beweisen, welche Aufsichtsmaßnahmen er getroffen hat. Der geschädigte Kläger kann sich dabei fast immer auf ein Bestreiten mit Nichtwissen beschränken, § 138 Abs. 4 ZPO 175 . Die Eltern befinden sich dabei in einer schwachen Position. Die zu beweisenden Aufsfchtsmaßnahmen finden i. d. R. nicht in der Öffentlichkeit statt. Zeugen fehlen deshalb häufig. Schriftliche Unterlagen scheiden ebenfalls aus, wie sie etwa Betriebe über die regelmäßige Unterweisung und Überwachung ihres Personals fuhren können. Infolgedessen geraten die Eltern fast regelmäßig in Beweisnot. Außerdem enthält gerade eine gute Erziehung viele unausgesprochene Einwirkungen, die sich kaum zeitlich fixieren und substanziieren lassen176. Für Haberstroh kommt die Haftung für vermutetes Verschulden wegen der Beweislastumkehr in ihren praktischen Auswirkungen einer Gefährdungshaftung für das Risiko Kind gleich, auch unter Beachtung der erleichterten Voraussetzungen der Rechtsprechung zur Parteivernehmung der Eltern. Denn wer von einem Kind geschädigt werde, müsse im Rechtsstreit weniger vorbringen und beweisen als der, der von einem Erwachsenen geschädigt werde. Der Hinweis auf die typische Beweisnot des Geschädigten trage dabei nicht; die typische Beweisnot unterscheide sich in ihrem Gewicht nicht von der fast spiegelbildlichen Beweisnot der Eltern. Soweit die Beweislastregelung in § 832 Abs. 1 S. 2 BGB eine Verschuldensvermutung begründe, sei dies verfassungsrechtlich fragwürdig 177 . Solche verfassungsrechtlichen Bedenken äußerte zuvor schon Deerberg (1978) 178 . Schoof gibt zu bedenken, dass der Inanspruchgenommene bei jedem gegen ihn gerichteten deliktischen Anspruch in der Lage ist, ihn betreffende - beson-
175
M. Schmid, VersR 1982, 822 (825). Als Gegenbeispiel ist ein Urteil des OLG Jena (OLG-NL 1998, 101 v. 21.10.1997, vgl. 1. Teil § 3 III 1 b bb) anzuführen. Dort hatten die beklagten Eltern behauptet, die Verkehrserziehung ihrer 7-jährigen Tochter sei vom Kindergartenalter an erfolgt. So hätten sie bei allen sich bietenden Gelegenheiten ihre Tochter belehrt, wie sie sich beim Überqueren einer Straße zu verhalten habe und welche Gefahren der Straßenverkehr mit sich bringe. Darüber hinaus hätten sie ein drei viertel Jahr vor der Einschulung ihrer Tochter systematisch damit begonnen, mit ihr den Schulweg zu üben. Der Kläger bestritt diese Behauptungen nicht, die damit gemäß § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden galten. 176 Lehmhöfer, VersR 1967, 1126 (1131); M Schmid, VersR 1982, 822 (825); Großfeld/Mund,
FamRZ 1994, 1504 (1506); Scheffen/Pardey,
berstroh, VersR 2000, 806 (811 f, 815). 177 Haberstroh, VersR 2000, 806 (811 f). 178
Deerberg, S. 90, 113.
Rn. 139; Schoof, S. 117; Ha-
§ 1 Die bisher vertretenen Reformvorschlge
387
ders subjektive - Tatumstände darzulegen, ohne dass dies dazu führt, dass er grundsätzlich dafür verantwortlich ist. Das alleinige Argument der Beweisnähe rechtfertige infolgedessen die Beweislastumkehr nicht 179 . Dahlgrün hält die Eltern zwar i. d. R. für beweisnäher als den Geschädigten; das Argument der Beweisnähe sei aber nicht stichhaltig, die Beweislastumkehr zu Lasten der Eltern folglich nicht haltbar. Die Eltern seien bei Hauskindern, also in der überwältigenden Anzahl der Fälle, nicht mehr und nicht weniger beweisnah bezüglich des Aufsichtsbedürftigen als Verkehrssicherungspflichtige in § 823 BGB 1 8 0 . Einen gänzlich anderen Ansatzpunkt für seine Kritik an der Beweislastumkehr in § 832 BGB wählt Deerberg. Er sieht einen prinzipiellen Vorteil für den Geschädigten darin, dass dieser bei der Entstehung des Schadens regelmäßig zugegen sei. Wegen dieser Schadensnähe sei es ihm oft besser möglich, das elterliche Unterlassen darzulegen. Die Eltern würden hingegen oft nicht die äußeren Umstände der Kindeshandlung kennen. Entsprechend schwierig falle es ihnen, zu beweisen, das getan zu haben, was verständige Eltern in dieser Situation getan hätten. Ein weiterer Vorteil ergebe sich für den erwachsenen Geschädigten aus seiner intellektuellen Überlegenheit gegenüber dem Kind. Die das Geschehen nicht miterlebenden Eltern seien bereits bezüglich der in die Darlegungsund Beweislast des Geschädigten fallenden Kindeshandlung auf die Darstellung des Klägers angewiesen. Stelle das Kind einen anderen Geschehensablauf dar, habe der Kläger möglicherweise bereits aufgrund seines Alters einen Glaubwürdigkeitsvorsprung. Zudem könne der Kläger mit einer geschickten und für ihn günstigen Darstellung der Kindeshandlung die Verteidigungslinie der Eltern beeinflussen, da er so Art und Inhalt der elterlichen Entlastung bestimme. Deerberg hält deshalb die Beweislastumkehr nur dann für gerechtfertigt, wenn der Schaden im häuslichen Überwachungsfeld der Eltern eingetreten ist 181 . Nach A. Fuchs belastet die Rechtsprechung die Eltern heute mit einem Beweislastrisiko, welches über das vom Gesetzgeber beabsichtigte hinaus geht. Denn die Gerichte forderten zunehmend den Beweis von weit vor dem Unfall liegenden Belehrungen. Die Beweislastumkehr beruht auf dem Gedanken des historischen Gesetzgebers, dass die Eltern den Nachweis ordnungsgemäßer Aufsicht leicht erbringen können. Leicht seien aber nur Maßnahmen zu beweisen, die noch einen engen zeitlichen Bezug zu der unerlaubten Handlung haben, was nur bei den klassischen Aufsichtsmaßnahmen der Fall wäre. Deshalb habe der Gesetzgeber unter Aufsicht i. S. d. § 832 Abs. 1 nur die klassischen Aufsichtsmaßnahmen verstanden. Das ergebe sich aus mehreren Indizien. So habe die Rechtsprechung des gemeinen Rechts, welche die BGB-Verfasser
179 180 181
Schoof, S. 117. Dahlgrün, S. 43, 73. Deerberg, S. 87 f.
388
3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
kannten, von den Eltern nur konkrete, auf die Tat des Kindes bezogene Maßnahmen verlangt. Allgemeine Vorsorgemaßnahmen verlangte die Rechtsprechung nicht. Es ging immer um das konkrete Verhindern der schädigenden Handlung. Auch im Verständnis der BGB-Kommissionen waren Aufsichtsmaßnahmen nur die Überwachung, das Verbot und die Wegnahme gefährlicher Gegenstände. Diese Auffassung von Aufsicht hat sich nach Meinung von A. Fuchs noch lange Zeit nach dem Erlass des BGB gehalten, denn die Rechtsprechung des RG habe fast ausschließlich die klassischen Aufsichtsmaßnahmen für erforderlich, aber auch für ausreichend gehalten 182 .
e) Die Argumente für die Beibehaltung der Beweislastumkehr in § 832 Abs. 1 BGB Die Beweisschwierigkeiten der Eltern sind der Rechtsprechung bekannt und werden von ihr (teilweise) berücksichtigt, so durch eine erleichterte 183 und verstärkt durchgeführte 184 Parteivernehmung. Tatsachen, die im Einzelfall eine verschärfte Beaufsichtigung erforderlich werden lassen, muss der Verletzte ohnehin darlegen und beweisen. Dem Kläger ist es so nicht möglich, durch einen unsubstanziierten und unbewiesenen Tatsachenvortrag dem Aufsichtspflichtigen eine über das übliche Maß hinausgehende Aufsichtspflicht aufzubürden 185 . Auch spricht indiziell eine im Allgemeinen verständige Aufsicht für die Erfüllung der konkret wesentlichen Aufsicht 186 . Weiterhin trägt der Umstand, dass das Fehlverhalten in der Sphäre des Aufsichtsführenden liegt, in vielen Fällen den Beweis des ersten Anscheins. Der Aufsichtspflichtige hat überdies am ehesten Einblick in die Sphäre, aus der die Schädigung stammt 187 . Belling/Eberl-Borges verweisen auf einen weiteren Gedanken, der bei den Gesetzesverfassern angeklungen ist. Danach entspricht es dem Wesen der Aufsichtspflicht als einer gesetzlichen Pflicht gegenüber dem Geschädigten, dass der Pflichtige Rechenschaft darüber ablegt, was er zur Erfüllung seiner Pflicht getan hat. Das entspricht allgemeinen Grundsätzen, die ihren Niederschlag in §§ 282, 285 BGB a. F. gefunden haben. Ferner ist die beweisnähere Position der Eltern zwar vergleichbar mit den anderen Konstellationen der Garantenstellung für Gefahrenquellen, für welche bei der Haftung aus § 823 Abs. 1 BGB
182
A.Fuchs, S. 222 ff.
183
Staudinger/Belling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 142; Haberstroh, (811 f); Schlegelmilch, ZAP Fach 2, S. 121 (127), IV 1. 184 Geigei /Haag, Kap. 16, Rn. 39. 185 MünchKomm/Stew, § 832 Rn. 30. 186 187
Scheffen/Pardey, Rn. 139. Erman/Schiemann, § 832 Rn. 1.
VersR 2000, 806
§ 1 Die bisher vertretenen Reformvorschlge
389
gerade keine generelle Beweislastumkehr gefordert wird 1 8 8 . Doch ergibt sich bei der elterlichen Aufsichtspflicht eine Besonderheit. Würde man die Beweislastumkehr abschaffen, müsste der Geschädigte nachweisen, dass der Aufsichtspflichtige seine Aufsichtspflicht nicht gehörig erfüllt habe. Dazu müsste er nachforschend in die familiäre Sphäre eindringen, die ihm aber nach Art. 6 GG verschlossen ist, wie von Belling/Eberl-Borges 189 zutreffend in die Diskussion eingeführt wird. Außerdem wäre es für den Geschädigten kaum möglich, seinen Vortrag zu substanziieren, da sich gerade viele Maßnahmen im täglichen Leben der Familie abspielen. Gelingt es schon den Eltern in vielen Fällen nicht, Zeugen für ihr richtiges Verhalten aufzubieten, ist das für den Geschädigten nahezu unmöglich. Er würde aus Beweisnot fast nie seinen Schadensersatzanspruch durchsetzen können. So belastend die Beweislastumkehr für die Familie auch ist, so muss doch immer beachtet werden, welche Auswirkungen ihre Abschaffung mit sich bringen würde. Der Kläger hätte nur eine Chance seinen Anspruch durchzusetzen, wenn die Aufsichtspflichtverletzung der Eltern gerade in der konkreten Schadenssituation bestände. Bei Schadenssituationen, in denen die Aufsichtspflichtverletzung nicht in der unmittelbaren Beaufsichtigung besteht, hat der Kläger aber kaum die Möglichkeit seinen Vortrag zu substanziieren, da die Gerichte in solchen Konstellationen weit zurückliegende Aufsichtsmaßnahmen der Eltern für erforderlich halten. Beim Fehlen der Beweislastumkehr wäre die Rechtslage deshalb nicht weniger misslich, weil dann die Eltern trotz einer schuldhaften Aufsichtspflichtverletzung von der Haftpflicht verschont blieben. Dass dieses Unaufklärbarkeitsrisiko vom Verletzten zu tragen ist, folgt keineswegs zwingend aus dem Verschuldensprinzip 190. Der Grundgedanke der Beweislastumkehr des § 832 BGB - dass der Dritte keinen Einblick in die Sphäre hat, aus der die Schädigung resultiert - trägt deshalb immer noch.
4. Die Einführung einer Haftungserleichterung
für Eltern
a) Die Argumente gegen die Einführung einer Haftungserleichterung für Eltern Gegen eine erleichterte deliktische Haftung spricht der Umstand, dass der geschädigte Dritte keine Möglichkeit hat, auf das Kind allgemein bzw. seine schädigende Handlung Einfluss zu nehmen. Sein Schutzbedürfnis ist nicht geringer als das der Eltern und des Kindes 191 . Für den Geschädigten macht es darüber hinaus keinen Unterschied, ob der Schädigende minderjährig oder voll188 189
190 191
Staud'mger/Belling/Eberl-Borges, Steud'mger/Belling/Eberl-Borges,
§ 832 Rn. 3. § 832 Rn. 177.
Lai&nzJCanaris, Schuldrecht, § 75 I 2 f. Scheffen/Pardey, Rn. 132.
390
3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
jährig war und ob sein Klagegegner die Eltern eines Minderjährigen sind oder der Volljährige selbst 192 . Eine den Elternbelangen weit entgegenkommende Anwendung von § 832 BGB würde letztlich zu Lasten des Integritätsinteresses Dritter gehen 193. Auch die Überlegung, den Haftungsmaßstab aus § 1664 BGB auf § 832 BGB zu übertragen, ist nicht überzeugend. Denn dann würden aufsichtspflichtige Eltern, die in eigenen Angelegenheiten sorgfältig sind, gegenüber Dritten wegen Verletzung ihrer Aufsichtspflicht schärfer haften als nachlässige Eltern 194 . Als weiteres Argument gegen eine Haftungserleichterung der Eltern wird angeführt, dass die Haftungsanforderungen des deutschen Rechts beim Einstand für die eigenen minderjährigen Kinder im Vergleich mit einzelnen anderen europäischen Rechtsordnungen eher geringen Umfang haben 195 . Wiederholt fordern Autoren im Hinblick auf eine europäische Harmonisierung des Haftungsrechts eine Anpassung der deutschen Elternhaftung an die deliktische Haftung der Eltern in Frankreich 196 und in den Niederlanden 197. Ursprünglich handelte es sich bei der Haftung der Eltern für ihre Kinder im französischen Recht nach Art. 1384 IV, V I I Cc um eine Haftung für vermutetes Verschulden. Durch eine neue Auslegung dieser Vorschrift führte der französische Kassationshof 1997 eine objektive verschuldensunabhängige Haftung der Eltern, mithin eine elterliche Gefährdungshaftung ein. In Frankreich können sich Eltern deshalb erst dann von ihrer Haftung befreien, wenn sie einen Fall höherer Gewalt nachweisen oder den Beweis eines Mitverschuldens des Geschädigten erbringen 198. Das Deliktsrecht in den Niederlanden sieht eine elterliche Gefährdungshaftung für Kinder unter 14 Jahren vor. Bei 14- bis 16-jährigen Kindern besitzen die Eltern die Exkulpationsmöglichkeit der sorgfältigen Aufsicht 199 . Diese Stimmen begründen die Haftungsverschärfung mit einem daraus resultierenden besseren Schutz des Geschädigten und einem mittelbar besseren Schutz des Minderjährigen. Denn die Geschädigten werden sich verstärkt an die Eltern wenden und die Eltern i. d. R. keinen Regressanspruch gegen ihre Kinder geltend machen.
192 193
Großfeld/Mund, FamRZ 1994, 1504 (1509); Kötz/Wagner, Motzer, FamRZ 1997, 330 (331).
Rn. 314.
194
Staudinger/Belling/Eberl-Borges,
195
OLG Celle FamRZ 1998, 233 v. 12.02.1997. Schlegelmilch, ZAP Fach 2, S. 121 (128), V; ders., ZAP Fach 2, S. 227 (232), VII
196
§ 832 Rn. 177 a. E.
2 b bb; Niboyet, S. 194 ff. 197
Scheffen, FS Steffen, S. 387 (394); Stürner, GdS Lüderitz, S. 789 (807).
198
Niboyet, S. 114, 178, 194.
199
Stürner, GdS Lüderitz, S. 793 (803 f) (vgl. 3. Teil § 1 I 2 b).
§ 1 Die bisher vertretenen Reformvorschlge
391
b) Die Argumente für die Einführung einer Haftungserleichterung der Eltern Nach Belling/Eberl-Borges ist aus rechtspolitischer Sicht eine kinderfreundliche Gesellschaft anzustreben 200. Scheffen/Pardey wollen das Deliktsrecht in der modernen Welt kindgerecht und kindgemäß verstanden und praktiziert sehen. Dies müsse für die Haftung und Mithaftung von Kindern und Jugendlichen untereinander gelten wie auch bei der Haftung Erwachsener gegenüber Minderjährigen und der Mithaftung der Minderjährigen 201 . Eine mildere deliktische Haftung der Eltern streben Scheffen/Pardey in diesem Zusammenhang aber nicht an. Belling/Eberl-Borges verweisen auf die besondere verfassungsrechtliche Stellung der Familie. Gemäß Art. 6 GG steht die Familie unter dem besonderen Schutz des Staates, dessen Bestreben es deshalb sein müsse, zur Elternschaft zu ermutigen. Daher dürfe der Gesetzgeber die Erziehung von Kindern nicht mit unzumutbaren Haftungsrisiken belasten. Die Eltern nähmen selbstlos Aufgaben wahr, die von hohem Wert für die Gesellschaft seien. Das gesetzliche Leitbild für die Erziehung bestehe darin, Kinder zu befähigen, selbstverantwortlich und eigenständig zu leben. Dazu müssten ihnen Freiheitsräume in einer kinderfreundlichen Gesellschaft überlassen werden. Dabei müsse die Gesellschaft akzeptieren, dass daraus Gefahren erwachsen, die sich in Schäden Dritter realisieren können, ohne dass stets jemand dafür haftet 202 . Auch die Argumentation, eine Haftungserleichterung der Eltern mit Blick auf die anderen europäischen Rechtsordnungen abzulehnen, verfängt nicht. Die Vertreter lassen offen, warum eine Harmonisierung des europäischen Haftungsrechts 203 zu Lasten der (deutschen) Eltern gehen soll und nicht der umgekehrte 200
Staudinger/Belling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 91. Scheffen/Pardey, S. V, Vorwort. 202 Staudinger/Belling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 177. 203 Einen Überblick über die europäische Deliktshaftung geben: Stürner, GdS Lüderitz, S. 789 (800 ff): Frankreich, Schweiz, Großbritannien, Niederlande (Stand: 2000). Dabei berücksichtigt Stürner den in Frankreich 1997 vollzogenen Rechtsprechungswandel nicht. Infolge einer neuen Auslegung des Art. 1384 IV, VII Cc durch den französischen Kassationshof wurde die elterliche Haftung für ein vermutetes Aufsichts- bzw. Erziehungsverschulden 1997 durch eine Gefährdungshaftung der Eltern für unerlaubte Handlungen ihrer Kinder ersetzt (Niboyet, S. 175 f, 178, 194; kritisch zu dieser Abkehr von dem traditionellen Verständnis der Elternhaftung äußert sich 201
Tacke, S. 188 f)
v. Bar, Gemeineuropäisches Deliktsrecht, Rn. 131 ff: Frankreich, Belgien, Luxemburg, Spanien, Österreich, Griechenland, Italien, Portugal, Niederlande, Rn. 330 f: Großbritannien, Schweden, Dänemark (Stand 1996). Goecke, S. 226 f mit Nachweisen und Fundstellen für: Frankreich, Belgien, Italien, Spanien, Portugal, Schweiz, Österreich, Niederlande, Griechenland, Polen, Russland, Ungarn, Schweden, Dänemark, Finnland, Norwegen sowie für Mexiko, Chile, Kolumbien, Taiwan, Japan, USA, China und einen Teil Kanadas, nämlich Quebec (Stand: 1995).
392
3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
Weg beschritten werden kann. Zudem lässt eine solche Forderung nach einer Haftungsverschärfung die Entwicklungen im deutschen Verfassungsrecht und bürgerlichen Recht sowie die gewandelten gesellschaftlichen Verhältnisse außer Betracht, die eine mildere Elternhaftung nahe legen. So ist für Stürner § 832 Abs. 1 BGB eine Regelung, die sich aus dem reichen Kindersegen der Jahrhundertwende erklären mag und das Kind als knappes Gut der Allgemeinheit noch nicht entdeckt hatte 204 . Nach den Worten von v. Bar (1981) ist unsere Welt in den letzten 100 Jahren durch tiefgreifende soziale, politische und technische Umwälzungen, von denen die Verfasser des BGB teils keine Notiz nehmen wollten, teils keine Notiz nehmen konnten, verändert worden. Technische Einrichtungen, die dem Gesetzgeber des ausgehenden 19. Jahrhunderts noch unbekannt waren, sind heute u. a. in Verkehr, Haushalt und Freizeit allgegenwärtig und haben das Unfallgeschehen erheblich verändert 205. Die Erziehungsund Aufsichtsmöglichkeiten der Eltern sind gegenüber dem Ende des 19. Jahrhunderts wesentlich reduziert. Das beruht auf vielschichtigen Gründen, so der Lockerung der familiären Bindungen, der sichtbar größeren Freizügigkeit der Eltern und der Aufsplitterung des Familienlebens wegen der Berufstätigkeit beider Elterteile außerhalb des Hauses. Auch können heute Fehler unterlaufen, deren Konsequenzen in unangemessenem Verhältnis zum Verschulden der Eltern bei der Aufsichtspflichtverletzung stehen. Das bürgerliche Recht hat sich teilweise den veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen bereits angepasst; die kontinuierliche Auslegung von Rechtsnormen hat sich unter diesem Eindruck gewandelt, wie z. B. zum Begriff der ehelichen Lebensverhältnisse in § 1578 BGB 2 0 6 . Die vielfältigen Veränderungen der rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse haben der gesetzgeberischen Entscheidung in § 832 BGB teilweise - die Geschäftsgrundlage entzogen. Diese Veränderungen müssen eine mildere deliktische Haftung der Eltern zur Folge haben, die aber auch dem Interesse des Geschädigten Rechnung tragen muss.
IV. Ergebnis Die besseren Argumente sprechen im Ergebnis gegen die Einführung einer elterlichen Gefährdungshaftung und Pflicht-Haftpflichtversicherung und für die Beibehaltung der Beweislastumkehr in § 832 BGB, verbunden mit der Einführung einer Haftungserleichterung für die Eltern. Das ergibt sich aus dem veränderten rechtlichen und gesellschaftlichen Kontext von § 832 BGB, der im 2. Teil dieser Arbeit dargestellt worden ist. Die dort nachgezeichnete verfas-
204 205 206
Stürner, VersR 1984, 297 (298). v. Bar, Gutachten, S. 1681 (1689). Vgl. 2. Teil § 2 I 2, 3.
§ 1 Die bisher vertretenen Reform vorschlage
393
sungsrechtliche Entwicklung seit 1900, die aufgezeigten Veränderungen im Familienrecht und die gesellschaftliche Entwicklung legen eine mildere deliktische Elternhaftung nahe. Die verfassungsrechtliche Garantie des Art. 6 Abs. 1 GG in Form des besonderen Schutzes der Familie darf nicht leer laufen und sich im Haftungsalltag als wertlos erweisen. Eine gewisse Kindergefahr ist von der Allgemeinheit deshalb als gegeben hinzunehmen. Aus diesem Grunde sind die mit der Erziehung des Kindes zu Verantwortungsbewusstsein und Selbstständigkeit verbundenen Risiken künftig bei der deliktischen Haftung der Eltern verstärkt zu berücksichtigen. Daraus ergibt sich zugleich auch die Grenze einer Haftungserleichterung. Wird aus der unerlaubten Handlung des Kindes sein fehlender Respekt vor den Rechtsgütern Anderer, wie körperliche Unversehrtheit und Eigentum, deutlich, ist eine Exkulpation der Eltern abzulehnen. Schiemann drückt dies treffend aus, indem er formuliert: Erziehung zur Freiheit ist kein Freibrief für Gleichgültigkeit 207 . Diese Berücksichtigung des Erziehungsstandes des Kindes rechtfertigt sich aus der stdg. Rspr. zu § 832 BGB, wonach sich Aufsichtsumfang und Erziehungsstand wechselseitig beeinflussen. Des Weiteren ist die Abgrenzung von Aufsicht und Erziehung ohnehin schwierig, da Aufsichtsmaßnahmen der Eltern i. d. R. in erzieherischer Absicht erfolgen.
207
Erman/Schiemann, § 832 Rn. 6.
394
3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
§ 2 Der eigene Reformvorschlag v. Caemmerer beschreibt den Wandel des Deliktsrechts 1960 wie folgt: „Mit wachsendem zeitlichem Abstand von der Kodifikation ändert sich die Haltung ihr gegenüber. Das ist ein natürlicher und notwendiger Vorgang. Das Gesetzbuch wird als Ausdruck der Rechtsüberzeugung seiner Zeit verstanden und in seiner gegenwärtigen Anwendung mit größerer Freiheit behandelt. Es bleibt das feste Fundament der Rechtsentwicklung. Aber die Korrektur zeitbedingter Fehler wird leichter 208 ." Die geltende deliktische Haftung der Eltern ist aus rechtspolitischen Erwägungen zu korrigieren. Eine geänderte Auslegung des unveränderten § 832 BGB ist eine schnelle Lösung, welche aber mit einer einhergehenden Rechtsunsicherheit belastet ist. Eine Gesetzesänderung ist hingegen eine sichere Lösung für die Zukunft. De lege ferenda ist § 832 BGB deshalb dahingehend abzuändern, dass die Haftung der Eltern für leicht fahrlässige Aufsichtspflichtverletzungen ausgeschlossen ist. Die Aussichten für eine zeitnahe Kodifikation sind jedoch gering. Eine Bewusstseinsänderung braucht viel Zeit, wie anhand der langjährigen Diskussion deutlich wird, die der Reform von § 828 BGB vorausging. Ferner hat § 832 BGB bei der Schadensrechtsreform im Jahr 2002 keine Rolle gespielt. Die Haftung der Eltern nach § 832 BGB muss infolgedessen bis zu der anzustrebenden Gesetzesänderung korrigiert werden. Der Reformvorschlag sieht nur eine haftungsrechtliche Besserstellung der Eltern vor. Nur die Gemeinschaft aus Eltern und Kind genießt als Familie den besonderen verfassungsrechtlichen Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG. Und nur die Eltern nehmen aus dem Kreis der Aufsichtspflichtigen in § 832 BGB mit der Kindererziehung uneigennützig eine Aufgabe wahr, die für die Gesellschaft eminent wichtig ist.
I. Der Reformvorschlag 7. De lege ferenda In § 832 BGB ist de lege ferenda ein Abs. 3 einzufügen. § 832 BGB de lege ferenda: (3) 1Lebt der aufsichtspflichtige Elternteil mit dem minderjährigen Aufsichtsbedürftigen in einer häuslichen Gemeinschaft, so haftet er nicht für eine 2 leicht fahrlässige Aufsichtspflichtverletzung. Die Bestimmung des Fahrlässigkeitsgrades hat unter Berücksichtigung von § 1626 Abs. 2 BGB zu erfolgen. 208
v. Caemmerer, DJT-FS, Bd. II, S. 49 (51).
§ 2 Der eigene Reformorschlag
395
2. De lege lata Bis die anzustrebende Haftungserleichterung der Eltern in Gesetzesform gefasst wird, ist § 832 BGB de lege lata entsprechend der nachfolgenden Grundsätze anzuwenden: 1. Keine Haftung der Eltern für leicht fahrlässige Aufsichtspflichtverletzungen, wenn sie mit ihrem Kind eine häusliche Gemeinschaft, mithin eine Familiengemeinschaft i. S. d. Art. 6 Abs. 1 GG bilden. Dies gilt unabhängig von der durch den minderjährigen Aufsichtsbedürftigen verursachten Schadenshöhe. 2. Aufgabe der unbedingten, einseitigen Risikoargumentation in der Rechtsprechung, nach der den Eltern jegliches von ihrem Kind ausgehende Schadensrisiko zugewiesen wird. Dieser Grundsatz ist auch nach In-Kraft-Treten von §. 832 Abs. 3 BGB de lege ferenda anzuwenden. 3. Konsequente Berücksichtigung des § 1626 Abs. 2 BGB bei der Bestimmung des gebotenen Aufsichtsmaßes.
Anknüpfungspunkt dafür ist der unbestimmte Rechtsbegriff des „Genügens der Aufsichtspflicht" bzw. negativ formuliert der „Aufsichtspflichtverletzung" in § 832 Abs. 1 S. 2 F 1 BGB. Die Amts- und Landgerichte sind als Eingangsinstanzen nicht daran gehindert, die vorgeschlagenen Thesen bei der Urteilsfindung anzuwenden. Denn die Verpflichtung der Gerichte, gemäß Artt. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG nach ihrer rechtlichen Überzeugung zu entscheiden, schließt eine Bindung an die höchstrichterliche Rechtsprechung grundsätzlich aus. Der Richter ist für seinen Rechtsstreit selbst verantwortlich. Er hat deshalb nicht nur zu prüfen, ob ein Präjudiz vorliegt und für seinen Fall passt, sondern auch und vor allem, ob das Präjudiz noch haltbar ist. Das gilt um so mehr, als gerade durch eine abweichende Entscheidung der unteren Instanzen die vielleicht fällige Änderung der Rechtsprechung eingeleitet werden kann 209 . Die hier vorgeschlagene Lösung ist elastisch genug, um sämtliche tatsächlichen und rechtlichen Gründe des Einzelfalls aufzunehmen und zu verwerten, sowohl de lege ferenda als auch de lege lata. Sie ermöglicht die angestrebte angemessene - Haftungserleichterung der Eltern. Trotz seiner inhaltlichen Weite liefert der unbestimmte Rechtsbegriff der leichten Fahrlässigkeit eine tragfähige und brauchbare Subsumtionsgrundlage.
209
HStR III ¡Maurer, § 60 Rn. 102.
396
3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
3. Erläuterung Die Grundlage des Reformvorschlages bilden Gerechtigkeitsüberlegungen, die auf den Entwicklungen in der Verfassung, im bürgerlichen Recht und in der Gesellschaft im Kontext der Familie beruhen. Dem Gesetzes Vorschlag liegt der Gedanke zugrunde, dass Kinder von Eltern auch im Interesse der Allgemeinheit großgezogen werden. Einen nennenswerten finanziellen Vorteil ziehen die Eltern daraus nicht; ebenso wenig verschafft ihnen das (schadensverursachende) Verhalten ihres Kindes einen solchen. Die Allgemeinheit muss sich deswegen bis zu einem bestimmten Grad den Schaden zurechnen lassen, der sich aus der Verwirklichung dieses - andauernden, permanent vorhandenen - Schadensrisikos ergibt. Durch andere soziale Leistungen, wie z. B. Kinder- und Erziehungsgeld, ist das Risiko noch nicht abgegolten210.
a) Keine Haftung für leichte Fahrlässigkeit aa) Der Umfang der Haftungsprivilegierung Die Bewertung der Reform Vorschläge sollte immer mit Blick auf die folgende Fragestellung erfolgen: Fällt eine leicht fahrlässige Aufsichtspflichtverletzung der Eltern gegenüber ihrer Leistung für die Allgemeinheit derart in das Gewicht, dass sie schon bei diesem geringfügigen Versagen vollumfänglich haften müssen? Es geht bei der vorgeschlagenen Haftungserleichterung zugunsten der Eltern nicht um Schäden, welche die Elternschaft typischerweise mit sich bringt, sondern um durch das Kind verursachte Schäden, welche die Eltern durch ihre fehlerhafte Aufsicht erst ermöglicht haben. Die Eltern sollen von Schadensfolgen entlastet werden, die auf ihrem Fehlverhalten beruhen. Das deliktische Haftungsrisiko soll zwischen den Eltern und der Allgemeinheit künftig angemessen verteilt werden, entsprechend den in dieser Arbeit aufgezeigten rechtlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Denn die summenmäßig unbegrenzte Haftung der Eltern für jede nur leicht fahrlässige Aufsichtspflichtverletzung wird ihrer besonderen Situation nicht gerecht, besonders bei Berufstätigen und Alleinerziehenden. Deshalb muss die Haftung auf die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit zugeschnitten werden. Der Grund für die Modifizierung des haftungsrelevanten Fahrlässigkeitsmaßstabes der Eltern liegt nicht darin, dass die Eltern weniger Sorgfalt schulden als andere Aufsichtspflichtige. Er besteht vielmehr in der Natur des Aufsichtsverhältnisses als eine Art Dauerschuldverhältnis zum potentiell Geschä2,0
Vgl. 2. Teil § 4 III 1 b.
§ 2 Der eigene Reformorschlag
397
digten und damit der Allgemeinheit. Dass eine einmalige geringfügige Missachtung bzw. Unaufmerksamkeit der erforderlichen Sorgfalt bei der Aufsichtsausübung zu verheerenden haftungsrechtlichen Folgen fuhren kann, wird der Komplexität der Aufsichtsaufgabe nicht gerecht. Der Eintritt eines derartigen Verschuldens ist aufgrund der dauerhaft auszuübenden Aufsicht wahrscheinlich, jedoch wegen der Unvollkommenheit der menschlichen Natur nur mit einem geringen Unwerturteil verbunden. Die Eltern sind rein tatsächlich nicht in der Lage, die Verwirklichung sämtlicher von ihrem Kind ausgehenden Risiken sicher auszuschließen. Sie können nach ihrer Entscheidung für das Kind dem daraus entstehenden Haftungsrisiko nicht mehr entgehen. Ebenso wenig können sie in jedem Augenblick die Sorgfalt aufbieten, die von besonnenen und gewissenhaften Eltern erwartet wird. Ihnen soll aus diesem Grunde kein Aufsichtsversagen angelastet werden, das jedem einmal passieren kann und letztlich bei der über Jahre hinweg erforderlichen Aufsicht nahezu unvermeidlich ist. Aus diesem Grunde ist für ein geringfügiges Aufsichtsversagen ein entschuldigendes Verständnis aufzubringen. Denn Eltern, denen nur gelegentlich ein solches Aufsichtsverschulden unterläuft, handeln im Ganzen nicht schlecht, sondern im Gegenteil recht gut. Sie haben alles getan, was von Eltern verlangt werden kann, wenn man bedenkt, dass Fehler und Unzulänglichkeiten zum Wesen des Menschen gehören. Ihr Handeln bewegt sich noch im Rahmen der erforderlichen Sorgfalt und ist ihnen nicht vorwerfbar. Weiterhin üben die Eltern die Aufsicht - wie bereits mehrfach erwähnt - auch im Interesse der Gesellschaft aus. Aufgrund ihrer Leistung für die Gesellschaft sind sie selbst schutzbedürftig. Eine generelle Risikozuweisung an die Allgemeinheit ist die daraus zu ziehende Konsequenz. Da gleichfalls die berechtigten Interessen der potentiell Geschädigten berücksichtigt werden müssen, ist die Risikozuweisung an die Gesellschaft auf leicht fahrlässige Aufsichtspflichtverletzungen zu begrenzen, so dass die Eltern an der unteren Grenze der Fahrlässigkeit nicht mehr haften. Durch diese moderate Fahrlässigkeitsmodifizierung wird darüber hinaus verhindert, dass bei den so haftungsrechtlich besser gestellten Eltern der Eindruck entsteht, auch bewusste Nachlässigkeiten bei der Beaufsichtigung würden durch das Deliktsrecht toleriert. Jedoch kann ihnen so die Angst genommen werden, bereits für jedes noch so kleine Aufsichtsversäumnis zu haften. Der Reformvorschlag erfolgt in dem Bewusstsein, dass in einem gewissen Maß Schädigungen Dritter nicht zu vermeiden sind. Eine abgeschwächte Elternhaftung bedeutet infolgedessen eine Verlagerung der Belastung auf den Geschädigten. Darum wird es nach der Umsetzung des Reformvorschlages vermehrt Fälle geben, in denen dem Geschädigten kein Ersatz für den erlittenen Schaden gewährt wird und er dies als ungerecht empfindet. Es liegt aber in der menschlichen Natur, dass die Interessen von Eltern und Allgemeinheit im Rahmen einer angemessenen Schadensteilung von verschiedenen Positionen aus unterschiedlich gewichtet und beurteilt werden. Die Gesellschaft - und damit
398
3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
der einzelne Geschädigte - wird durch diese Haftungsprivilegierung aber nicht mit dem allgemeinen Lebensrisiko der Eltern belastet. Denn für eine Haftung der Eltern aus § 832 BGB muss der Fehler gerade im Zusammenhang mit der Beaufsichtigung ihres Kindes stehen.
bb) Die leichte Fahrlässigkeit Der Reformvorschlag sieht eine punktuelle, gruppenspezifische Haftungsmilderung vor; für die Gruppe der Eltern soll der maßgebliche Sorgfaltsmaßstab abgesenkt werden. Gemäß § 276 Abs. 1 S. 1 BGB kann der Sorgfaltsmaßstab auf den jeweiligen Verkehrskreis ausgerichtet werden. Er ist nunmehr formbar 211 , die angestrebte Milderung ist somit möglich. Die Unterteilung der normalen Fahrlässigkeit in eine normal leichte und eine leichteste ist dem BGB fremd, da es den Schädiger grundsätzlich bei jedem Grad von Fahrlässigkeit für den gesamten Schaden einstehen lässt 212 . Der Gedanke eines Haftungsausschlusses für eine leicht fahrlässige Schadenszufügung ist aber in der schadensrechtlichen Rechtsprechung nicht gänzlich neu. Bereits das OLG Celle hat in seinem Vorlagebeschluss an das BVerfG v. 26.05.1989 ausdrücklich diese Fahrlässigkeitsstufe unter Verweis auf die Grundsätze der Arbeitnehmerhaftung erwähnt. Allerdings ging es dort um die wirtschaftliche Existenzvernichtung von Minderjährigen 213 . Die I. Kommission der BGB-Verfasser verwarf die im gemeinen Recht bekannte leichteste Fahrlässigkeit als eigenständige Fahrlässigkeitsstufe aus Gründen der Vereinfachung. Von der geringen Fahrlässigkeit sei als der Fahrlässigkeit schlechthin zu reden. Das dem preußischen A L R in I 3 § 22 geläufige geringe Versehen i. S. d. culpa levissima sei deshalb dem Entwurf fremd 214 . Die Rechtsprechung nahm die Dreiteilung der Fahrlässigkeit in eine leichte, eine mittlere und eine grobe Fahrlässigkeit im Arbeitsrecht bei der Arbeitnehmerhaftung wieder auf 2 1 5 . Die niedrigste Fahrlässigkeitsstufe wird dabei auch als leichteste und geringe Fahrlässigkeit bezeichnet. Das BAG entschied erstmals mit Urteil v. 19.03.1959, bei gefahrgeneigter Arbeit treffe einen Arbeitnehmer, dem geringe Fahrlässigkeit vorzuwerfen sei, keine Schadensersatzpflicht 216. Der Große Senat des BAG dehnte diese Haftungserleichterung für Arbeitneh-
211
MünchKomm/Grundmann, § 276 Rn. 57.
212
Larenz, § 20 V; Esser/Schmidt,
2,3
§ 26 II 3 c.
OLG Celle VersR 1989, 709 v. 26.05.1989 (vgl. 2. Teil § 3 III 1 a). 214 Motive I, S. 279 f. 215 Den Ausgangspunkte bildet ein Urteil des ArbG Plauen ARS 29, 62 v. 04.11.1936. 216 BAGE 7, 290 (300 f) v. 19.03.1959.
§ 2 Der eigene Reformorschlag
399
mer in seinem Beschluss v. 12.06.1992 auf alle betrieblich veranlassten Tätigkeiten aus 217 . Mayer-Maly befürwortete 1963 angesichts der sich verfestigenden Rechtsprechung des BAG de lege ferenda die Rückkehr des allgemeinen Zivilrechts zu drei Fahrlässigkeitsgraden 218. Diese rechtspolitische Empfehlung fand aber keinen Anklang. Die Zivilrechtslehre beharrt auf dem Standpunkt der I. Kommission und lehnt die leichteste Fahrlässigkeit als eigenständige Fahrlässigkeitsstufe ab 219 . Mehrere Autoren nehmen die Rechtsprechung bezüglich des Arbeitsrechts zum Anlass, eine Relativierung des Fahrlässigkeitsbegriffes bei Dauergefährdungslagen zu fordern. Ausgangspunkt der Überlegungen ist, dass sich bei einer Dauerbetätigung die Gefahr von Fehlleistungen notwendig steigere, weshalb der Fahrlässigkeitsstandard gesenkt werden müsse. Steindorff will den Fahrlässigkeitsbegriff des § 276 BGB an das Arbeitsrechtsverhältnis anpassen. Die Ermittlung der üblichen Sorgfalt dürfe nicht das einzelne Versehen für sich betrachten, sondern müsse Dauerrechtsverhältnisse als Gesamtheiten vergleichen und die bei solchen Verhältnissen gelegentlich vorkommenden Versehen als normal entschuldigen. Dem Arbeitsverhältnis sei darum ein revidierter, auf die Unvermeidbarkeit typischer Abirrungen ausgerichteter Sorgfaltsbegriff zugrunde zu legen, in dem das typische Abirren der Dienstleistung und das unvermeidbare gelegentliche Versehen keinen Fahrlässigkeitsvorwurf beinhalte 220 . Nach Ansicht von Grunsky darf bei Sportveranstaltungen der Schädiger bei einem leichten Regelverstoß nicht haften. Immer dann, wenn ein potentieller Schadensersatzgläubiger über einen längeren Zeitraum hinweg Gefährdungen durch einen möglichen Schädiger ausgesetzt ist, müsse er damit rechnen, dass sich die Gefahr realisiere, ohne dass man daraus dem Schädiger einen Vorwurf machen könne 221 . Schmidt stimmt den beiden vorgenannten Autoren zu. Die isolierte Herausnahme gerade des zu der Verletzung führenden Akts würde sonst die Komplexität der jeweiligen Dauergefährdungslage negieren. Stattdessen müsse die Unrechtsbewertung das Gesamtverhalten und nicht den 217 BAG (GS) NJW 1993, 1732 (1733) v. 12.06.1992. Diese innerbetriebliche Haftungsprivilegierung des Arbeitnehmers gegenüber seinem Arbeitgeber gilt für alle Anspruchsgrundlagen, mithin auch gegenüber Ansprüchen aus unerlaubter Handlung (BAG NZA 1999, 141 [144] v. 17.09.1998). Der BGH hat sich dezidiert dagegen ausgesprochen, die Grundsätze der beschränkten Arbeitnehmerhaftung zu Lasten außenstehender Dritter anzuwenden. Wortlaut und Systematik des positiven Deliktsrechts böten für eine haftungsrechtliche Sonderbehandlung von Schäden durch Arbeitnehmer keinen Ansatz (BGHZ 108, 305 [308 ff] v. 19.09.1989; BGH NJW 1994, 852 [855] v. 21.12.1993). 2,8 Mayer-Maly, AcP 163 (1963), 114 (134). 219 Deutsch, Allgemeines Haftungsrecht, Rn. 433; Lorenz, § 20 V; Staudinger/Lö-
wisch, § 276, Rn. 29 f. 220 221
Steindorff, JZ 1958, 1 (4 ff). Grunsky, JZ 1975, 109 (111 f).
400
3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
singulären Schadensfaktor, wie das einmalige Versehen oder die momentane Unaufmerksamkeit, zum Gegenstand haben. Diese Beurteilungsweise sei aber nicht bei Fremdschädigungen anzulegen, bei denen den Geschädigten die betrieblichen oder sonstigen Interna nichts angehen 222 . Diese Relativierung des Fahrlässigkeitsbegriffes ist auf Ablehnung gestoßen, da sie dem bürgerlichen Recht fremd ist. Auch beruht die Haftungsbegrenzung im Arbeitsrecht nicht darauf, dass der Arbeitnehmer bei der Arbeitsleistung weniger sorgfältig sein darf als sonst ein Schuldner. Es wird außerdem eine allgemeine Aufweichung der Sorgfaltsanforderungen im Verkehr befurchtet 223 . Die von den Arbeitsgerichten vorgenommene Dreiteilung der Fahrlässigkeit ist nicht unumstritten, v. Hoyningen-Huene hält die konkrete Bewertung des Verschuldens im Grenzbereich zwischen leichter und mittlerer Fahrlässigkeit für praktisch nicht durchführbar. Es fehle an genauen, justiziablen Kriterien 224 . Diese Kritik übt auch Blomeyer. Weiterhin sei die Trichotomie der Verschuldensgrade nicht frei von Bedenken, welche sich auf der „unnatürlichen" Dreiteilung, der unklaren dogmatischen Begründung und der mangelnden Praktikabilität der Ergebnisse gründeten. Besonders die Zweiteilung der Fahrlässigkeit in eine mittlere und leichte sei mit dem BGB unvereinbar 225 . Nach der Änderung des § 276 Abs. 1 BGB durch das SMG v. 26.11.2001 ist die Fahrlässigkeitsmodifizierung jedoch gesetzlich abgesichert. Gemäß § 276 Abs. 1 S. 1 BGB hat der Schuldner nur dann Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten, wenn eine mildere Haftung weder bestimmt noch aus dem sonstigen Inhalt des Schuldverhältnisses zu entnehmen ist. Ein direkter Rückgriff auf § 276 Abs. 1 S. 1 BGB scheidet jedoch aus, da erst mit der vollständigen Verwirklichung des Tatbestandes von § 832 Abs. 1 BGB eine pflichtenbegründende Sonderbeziehung zwischen den Eltern und dem Geschädigten entsteht. Bei der Verletzung von Rechtsgütern des Geschädigten durch den Aufsichtsbedürftigen besteht noch kein gesetzliches Schuldverhältnis zwischen dem Geschädigten und den aufsichtspflichtigen Eltern. Das gesetzliche Schuldverhältnis gelangt erst durch die Aufsichtspflichtverletzung - und die kausale schädigende Handlung des Kindes - zur Entstehung. Die allgemeine Pflicht, sich so zu verhalten, dass die Rechtsgüter eines anderen nicht verletzt werden, begründet noch kein gesetzliches Schuldverhältnis. Dessen ungeachtet kann auf den Rechtsgedanken des § 276 Abs. 1 S. 1 BGB zurückgegriffen werden, der eine vom üblichen Verschuldensmaßstab abweichende Haftung gerade vorsieht. Im Gegensatz zur Regelung in § 276 Abs. 1 S. 2 BGB a. F. widerspricht ein vom Normalfall abweichender Fahrlässigkeitsmaßstab nicht mehr dem Willen des Gesetzes. Der 222
Esser/Schmidt,
223
Staudinger/Richardi, § 611 Rn. 506 f; Staudinger/Löwwc/i, § 276 Rn. 30. v. Hoyningen-Huene, BB 1989, 1889 (1893).
224 225
§ 26 I I 3 c.
MilnchHdb/Blomeyer,
§ 59 Rn. 46 f.
401
§ 2 Der eigene Reformorschlag
besondere (Rechts-)Grund, den jede Durchbrechung der allgemeinen privatrechtlichen Haftungsordnung benötigt, kann in der aufgezeigten Entwicklung im Kontext von § 832 BGB, der Wertordnung des GG und der derzeitigen demographischen Lage erblickt werden. Hauptproblem der Trichotomie der Fahrlässigkeit ist die Qualifizierung des Verschuldens, insbesondere die Abgrenzung zwischen leichter und normaler Fahrlässigkeit. Eine allgemeingültige Definition der leichten Fahrlässigkeit fehlt in der Rechtsprechung, sie wird jeweils einzelfallbezogen vorgenommen. Leichte Fahrlässigkeit wurde von der arbeitsrechtlichen Judikatur bisher eher selten angenommen, eventuell auch weil die Fälle kaum vor Gericht kamen 226 . Die culpa levissima bezweckt nach Auffassung von Richardi, dass nach der Besonderheit des Rechtsverhältnisses die Grenze der Fahrlässigkeit gefunden wird, von der an den Schuldner der Vorwurf der Nachlässigkeit trifft 2 2 7 . Ein zurechenbares, zum Schadensersatz führendes Verschulden ist nach Kraft erst dann anzuerkennen, wenn es sich nicht mehr um bloß leichteste Unachtsamkeit handelt 228 . Junker nimmt leichteste Fahrlässigkeit bei kleineren Fehlern oder Versehen an 2 2 9 . Wiederholt wird von einer culpa levissima bei einfachem „Sich-Vergreifen", „Sich-Versprechen" oder „Sich-Vertun" gesprochen 230. Müller-Glöge gibt eine allgemeine Definition. Während bei der normalen Fahrlässigkeit die im Verkehr erforderliche Sorgfalt das entscheidende Merkmal ist, geht die leichteste Fahrlässigkeit noch darüber hinaus. Sie erfordert nur, dass einem durchschnittlich sorgfältig Arbeitenden die schädigende Handlung nicht unterlaufen wäre 231 . Mayer-Maly versucht die Grenze zwischen leichter und leichtester Fahrlässigkeit mittels des Zeitfaktors und der dem jeweiligen Lebensverhältnis immanenten Risikenverteilung zu konkretisieren. Danach sei jedes in Zeitnot oder sonst unverschuldeter Hast gesetzte Verhalten milder zu beurteilen. Da aber viele Handlungen nicht aus ihrer temporalen Verflechtung isoliert werden könnten, erscheine eine einheitliche Würdigung der Tätigkeiten mit Dauercharakter geboten. Darüber hinaus müsse die vielen Lebensverhältnissen immanente Risikenverteilung aufgedeckt werden. A u f diese sei zu achten, wenn es zu entscheiden gelte, ob fiir jede Fahrlässigkeit gehaftet werden solle oder ob Haftungsgrenzen angenommen werden könnten 232 .
226
MünchKomm/Grundmann, § 276 Rn. 108, ohne jedoch ein entsprechendes Urteil zu nennen. Nach v. Hoyningen-Huene (BB 1989, 1889 [1893]) war bis 1989 kein Urteil ersichtlich, in dem das BAG leichteste Fahrlässigkeit angenommen hatte. 227 Staudinger¡Richardi, § 611 Rn. 518. 228 SoergeUKraft, § 611 Rn. 133. 229 230
231 232
Junker, Rn. 299. ErftUPreis, § 611 Rn. 1045; MünchHdblBlomeyer,
MünchKomm/Müller-Glöge, § 611 Rn. 471. Mayer-Maly, AcP 163 (1963), 114 (134 f).
§ 59 Rn. 45.
402
3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
Alle allgemeinen Definitionsversuche bleiben aber Stückwerk. Eine scharfe Grenze zwischen einer normalen und einer leichten Fahrlässigkeit lässt sich nicht ziehen 233 . Die Abgrenzung kann letztlich nur anhand aller Umstände des Einzelfalls, also mittels einer situationsbezogenen Betrachtungsweise erfolgen. Von einer leichten Fahrlässigkeit kann man nur solange sprechen, wie die Voraussetzungen der normalen Fahrlässigkeit noch nicht vollständig vorliegen. Das bedeutet, die Eltern haben in diesem Fall mit (etwas) weniger Umsicht und Sorgfalt gehandelt, als es besonnene und gewissenhafte Eltern in diesem Moment getan hätten. Sie haben somit in der konkreten Aufsichtssituation nicht für alle möglichen Situationen vorgesorgt, obwohl es ihnen möglich war, sind mithin im geringen Umfang vom sachgemäßen Umgang mit der Aufsichtssituation abgewichen. Eine solche momentane kleine Unaufmerksamkeit, die menschlich nachvollziehbar ist, soll künftig keine Schadensersatzpflicht mehr auslösen. Hingegen sind weiter jedem einleuchtende Aufsichtsmaßnahmen von den Eltern zu erwarten; nachlässiges, unpassendes Aufsichtsverhalten der Eltern und fehlender Respekt des Kindes vor den Rechtsgütern Dritter sind auch in Zukunft nicht entschuldbar. Die Haftungsprivilegierung in § 832 Abs. 3 BGB de lege ferenda kann nicht durch Anwendung des § 823 Abs. 1 BGB umgangen werden. Eine Haftung der Eltern aus § 823 Abs. 1 BGB wegen Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht kommt dann nicht in Betracht, wenn die gegenständliche Unterlassung zugleich eine Aufsichtspflichtverletzung i. S. d. § 832 BGB ist. § 832 BGB verdrängt in diesem Fall § 823 Abs. 1 BGB als lex specialis 234
cc) Der begünstigte Personenkreis De lege ferenda ist für das Elternprivileg ein eigener, dritter Absatz einzufügen, um zu verdeutlichen, dass die Haftungserleichterung die beiden vorstehenden Absätze umfasst. Es kommen nur Familien in den Genuss der Haftungsprivilegierung, die den besonderen verfassungsrechtlichen Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG genießen. Art. 6 Abs. 1 GG schützt das Zusammenleben von Eltern und Kindern in einer häuslichen Gemeinschaft. Familie i. S. v. Art. 6 Abs. 1 GG bedeutet grundsätzlich die in der Hausgemeinschaft geeinte engere Familie, das sind die Eltern mit ihren Kindern, also die moderne Kleinfamilie 235 . Fehlt es an einem solchen Zusammenleben, kann sich das entsprechende Elternteil nicht auf den Schutz der Familiengemeinschaft nach Art. 6 Abs. 1
233
Staudinger/Richardi,
234
Staudinger/Belling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 163; vgl. 2. Teil § 4 IV 2. BVerfGE 10, 59 (66) v. 29.07.1959; 48, 327 (339) v. 31.05.1978.
235
§ 611 Rn. 518.
§ 2 Der eigene Reformorschlag
403
GG berufen 236 und deshalb auch nicht auf das Haftungsprivileg des § 832 Abs. 3 BGB de lege ferenda. Aufgrund der Rechtsprechung des BVerfG zum Familienbegriff in Art. 6 Abs. 1 GG ist das ein handhabbares Kriterium zur Abgrenzung des privilegierten Personenkreises. Unter den Familienbegriff der Verfassungsnorm fallen auch Eltern mit Stief-, Adoptiv- und Pflegekindern, wenn eine Familiengemeinschaft besteht. Nicht erfasst vom Anwendungsbereich des § 832 Abs. 3 BGB de lege ferenda werden hingegen die Fallkonstellationen, in denen das aufsichtsführende Elternteil mit dem der Aufsicht bedürfenden Minderjährigen keine Hausgemeinschaft bildet. Als Beispiel hierfür ist die Familiensituation im Urteil des OLG Jena v. 29.11.2000 anzuführen. Dort hielt sich der einen Brand verursachende 6-Jährige seit einer Woche bei seinem sorgerechtslosen Vater zu Besuch auf. Der Vater haftete für den Brandschaden aus § 832 Abs. 2 BGB 2 3 7 . Es bestand keine häusliche Gemeinschaft zwischen Vater und Sohn, da es an einer auf Dauer angelegten gemeinschaftlichen Wirtschaftsführung fehlte. Mangels bestehender Hausgemeinschaft wäre der Schutz der Familiengemeinschaft gemäß Art. 6 Abs. 1 GG nicht einschlägig und § 832 Abs. 3 BGB de lege ferenda infolgedessen nicht anzuwenden gewesen. Hingegen genießen leibliche Eltern ohne Sorgerecht bzw. Stiefeltern, bei denen die Rechtsprechung eine stillschweigende Aufsichtsübernahme i. S. v. § 832 Abs. 2 BGB annimmt, das Haftungsprivileg des neuen § 832 Abs. 3 BGB de lege ferenda, wenn sie mit dem zu beaufsichtigenden Kind in einer Hausgemeinschaft leben. Für die Richtigkeit dieses Differenzierungskriteriums sprechen auch die Formulierungen in Artt. 24 Abs. 2 S. 1 LVerf S-A, 22 Abs. 2 LVerf Sa, 17 Abs. 2 LVerf Thür 238 . Die Haftungsprivilegierung für Eltern, deren Familie durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützt wird, ist de lege lata schon mit einer sinnvollen Gesetzesauslegung möglich. § 832 Abs. 1 BGB ist ein offener Tatbestand und so für die Berücksichtigung der Wertentscheidung des Art. 6 Abs. 1 GG zugänglich. Bis zur Schaffung des § 832 Abs. 3 BGB de lege ferenda wird die Haftungserleichterung der Eltern also zunächst mittels Richterrecht vorgenommen werden müssen. So ist bei § 832 Abs. 1 BGB die Antwort auf die Rechtsfrage, wann eine Aufsichtspflichtverletzung vorliegt, infolgedessen nicht nur im Wortlaut des Gesetzes zu suchen; eine solche Vorgehensweise ist im bürgerlichen Recht nicht selten 239 . Die Umsetzung der aufgestellten Grundsätze in der Praxis ist auch keine Auslegung des § 832 BGB contra legem, da Wortlaut und Ziel der Norm nicht in einem wesentlichen Punkt verfälscht oder verfehlt werden. Die 236
Vgl. 2. Teil § 1 IV 1 b aa. OLG Jena OLGR-NL 2002, 381 f v. 29.11.2000 (vgl. 1. Teil § 1 II a. E.; 1. Teil §3 111 abb). 238 Vgl. 2. Teil § 1 IV 1 b aa. 239 Schmude, NJW 1982, 2017 (2018). 237
404
3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
Beweislastumkehr wird beibehalten, die Eltern tragen infolgedessen weiterhin grundsätzlich das von ihrem Kind ausgehende Schadensrisiko. Den Reformvorschlag de lege lata umzusetzen, heißt im Ergebnis, eine richterliche Rechtsfortbildung am untätigen Gesetzgeber vorbei vorzunehmen.
b) Die Aufgabe der unbedingten, einseitigen Risikozuweisung Es ist nicht zu rechtfertigen, unter Berufung auf den Grundgedanken der Vorschrift eine unangemessene Entscheidung zu Lasten der Eltern zu treffen und zu begründen. Denn es ist nicht Aufgabe der Eltern, dem Geschädigten sein allgemeines Lebensrisiko abzunehmen. Das ist aber die derzeitige Vorgehensweise von Teilen der Rechtsprechung, welche jegliches Unaufklärbarkeitsrisiko bei der Schadensverursachung durch ein Kind den Eltern aufbürdet 240. Diese unbedingte, einseitige Risikozuweisung ist aufgrund des Wesens von § 832 BGB als Verschuldenshaftung, des Normcharakters der Vorschrift, der zeitlichen Abfolge der Argumentation in der Rechtsprechung, der Vorgaben des § 1626 Abs. 2 BGB sowie des gesellschaftlichen Wandels und der heute für Familien herrschenden Rahmenbedingungen aufzugeben 241.
c) Die konsequente Beachtung des § 1626 Abs. 2 BGB bei der Bestimmung des gebotenen Aufsichtsmaßes Das in § 1626 Abs. 2 BGB normierte Erziehungsziel ist künftig konsequent bei der Bestimmung des gebotenen Aufsichtsmaßes umzusetzen. Dadurch kann und muss den Eltern ein größerer Freiraum an pädagogisch vertretbaren Maßnahmen zugestanden werden. Die elternfreundlichen - auf § 1626 Abs. 2 BGB beruhenden - abstrakten Ansätze in den Urteilen dürfen bei der Subsumtion nicht durch überzogene Aufsichtspflichten in dem zu entscheidenden Fall konterkariert werden. Vielmehr muss die Berücksichtigung von § 1626 Abs. 2 BGB bei der Subsumtion zu tatsächlich erfüllbaren Anforderungen an die Aufsichtspflicht fuhren, die aus Sicht verständiger Eltern auch nachvollziehbar sind 242 .
240 241 242
Vgl. 2. Teil § 4 IV 1 a. Vgl. die ausführliche Begründung in 2. Teil § 4 IV 2. Vgl. 1. Teil § 5 III; 2. Teil § 2 III 1, 2, 4, 5.
405
§ 2 Der eigene Reform Vorschlag
II. Die dogmatischen Grundlagen des Reformvorschlages Der Reform Vorschlag - sowohl de lege ferenda als auch de lege lata - lässt sich auf dem Boden der Rechtsordnung begründen. Dogmatische Anknüpfungspunkte dafür sind die (mittelbare) Drittwirkung der Grundrechte, die Haftungsgrundsätze des Deliktsrechts und die Grundsätze der richterlichen Rechtsfortbildung. Der Rückgriff auf diese Teile der Rechtsordnung zur Begründung einer deliktischen Haftungserleichterung der Eltern ist nicht zwingend, aber ist zumindest möglich und in sich schlüssig. Die Darstellung der Grundsätze und die Auswahl der Rechtsprechungs- und Literaturnachweise beschränkt sich auf das für den Reform Vorschlag notwendige Maß.
/. Die Grundsätze der Grundrechtswirkung
im Zivilrecht
Über die Frage, ob die Grundrechte unmittelbar oder nur mittelbar im einfachen Recht wirken, wurde im Schrifttum ein jahrzehntelanger Streit geführt, dem aber kaum praktische Bedeutung zukam 243 . Die dazu vertretenen Theorien stehen sich gar nicht so fern und haben sich - wie auch die praktische Handhabung - in gemäßigter Position eingependelt 244 . Im Kern versuchen die verschiedenen Drittwirkungslehren eine mehr oder minder starke Bindung der Privatrechtssubjekte an die Grundrechte zu begründen. Den Ansatzpunkt der Überlegungen bildet dabei nicht nur die Beziehung der Privatrechtssubjekte untereinander, sondern auch die Stellung des Gesetzgebers, der das Zivilrecht setzt, und des Richters, der den Zivilrechtsstreit entscheidet. Im Ergebnis führen die Drittwirkungslehren stets dazu, das Maß der Grundrechtsbindung von Privaten festzulegen, und zwar vermittelt entweder durch grundrechtskonforme Privatrechtsgesetzgebung oder durch die gesetzesanwendende Zivilgerichtsbarkeit 2 4 5 . Nach der Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung gelten privatrechtsverkehrsfähige Grundrechte ohne weiteres im Privatrechtsverkehr als gesetzliche Verbote und Schutzgesetze. Das soll sich aus ihrer Funktion als Grundsatznormen für die gesamte Rechtsordnung ergeben. Zu diesen Grundrechten, deren Adressat nicht nur der Staat sein kann, gehört auch Art. 6 Abs. 1 GG 2 4 6 . Die Lehre von der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte auf die Privatrechtsordnung benutzt ausfüllungsbedürftige, offene Rechtsbegriffe, um grundrechtliche Wertungen in die Auslegung privatrechtlicher Normen einfließen zu lassen. Diese Lehre basiert auf dem Ansatz, dass Privatrecht und Verfassung nicht 243
Lepa, FS Steffen, S. 261, 272.
244
Sendler, NJW 1994, 709.
245
v. Mangoldt/Klein/Stardt Art. 1 Abs. 3 Rn. 262. v. Mangoldt/Klein/StarcJt Art. 1 Abs. 3 Rn. 263, 270; Palandt/Heinrichs,
246
Rn. 7; v. Münch, Rn. 185 ff.
§ 242
3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
406
beziehungslos nebeneinander stehen, sondern die Grundrechte als objektive Wertordnung für alle Bereiche des Rechts Geltung haben 247 . Säcker zufolge (2001) handelt es sich bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung um die Wirkungsausdehnung der Grundrechte im Wesentlichen nur noch um ein Formulierungsproblem. Zudem sei die Diskussion um die Einwirkungsintensität der Grundrechte auf das Privatrecht weniger durch allgemeine Lehren als durch die Erörterung konkreter Problemkreise gefördert worden 248 .
a) Die Rechtsprechung aa) Das BVerfG Das BVerfG hat sich schon im Lüth-Urteil v. 15.01.1958 zur mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte in das Zivilrecht bekannt. Dort heißt es: Das GG will keine wertneutrale Ordnung sein und hat in seinem Grundrechtsabschnitt eine objektive Wertordnung aufgerichtet. Dieses Wertsystem beeinflusst selbstverständlich auch das bürgerliche Recht; keine bürgerlich-rechtliche Vorschrift darf in Widerspruch zu ihm stehen, jede muss in seinem Geiste ausgelegt werden. Der Einfluss der Grundrechte als objektive Normen entfaltet sich im Privatrecht durch das Medium der dieses Rechtsgebiet unmittelbar beherrschenden Vorschriften. Der Einfluss grundrechtlicher Wertmaßstäbe wird sich vor allem bei denjenigen Vorschriften des Privatrechts geltend machen, die zwingendes Recht enthalten, d. h. der Prinzipien, die aus Gründen des gemeinen Wohls auch für die Gestaltung der Rechtsbeziehungen zwischen den Einzelnen verbindlich sein sollen und deshalb der Herrschaft des Privatwillens entzogen sind. Diese Bestimmungen haben nach ihrem Zweck eine nahe Verwandtschaft mit dem öffentlichen Recht. Das muss sie in besonderem Maße dem Einfluss des Verfassungsrechts aussetzen. Der Rechtsprechung bieten sich zur Realisierung dieses Einflusses vor allem die Generalklauseln an. Denn bei der Entscheidung darüber, was diese sozialen Gebote jeweils im Einzelfall fordern, muss in erster Linie von der Gesamtheit der Wertvorstellungen ausgegangen werden, die das Volk in einem bestimmten Zeitpunkt seiner geistigkulturellen Entwicklung erreicht und in seiner Verfassung fixiert hat. Deshalb sind mit Recht die Generalklauseln als die Einbruchstellen der Grundrechte in das bürgerliche Recht bezeichnet worden 249 . In einem Beschluss v. 07.06.1967 führt das BVerfG aus: Art. 6 Abs. 1 GG stellt eine verbindliche Wertentscheidung für den gesamten Bereich des Ehe und Familie betreffenden privaten und 247
v. Mangoldt/Klein/Stardt Art. 1 Abs. 3 Rn. 264; Palandt/Heinrichs, § 242 Rn. 7;
v. Münch, Rn. 189 ff. 248 249
MünchKomm/Säcker, Einl AT, Rn. 55 f. BVerfGE 7, 198 (205 f) v. 15.01.1958.
§ 2 Der eigene Reform Vorschlag
407
öffentlichen Rechts dar; sie ist demgemäß bei der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts, insbesondere bei der Anwendung von Generalklauseln, zu beachten250. Unter Verweis auf das Lüth-Urteil formuliert das BVerfG in einem Beschluss v. 11.05.1976: Auch wenn die ordentlichen Gerichte grundrechtlich verbürgte Positionen Privater gegeneinander abzugrenzen haben und dabei - vor allem bei der Interpretation von Generalklauseln und anderer Einbruchstellen der Grundrechte in das bürgerliche Recht - grundrechtsbezogen argumentieren, wenden sie Privatrecht an. Wie die richtige Lösung einer bürgerlich-rechtlichen Streitigkeit konkret auszusehen hat, ist im GG nicht vorgeschrieben. Es enthält nur verfassungsrechtliche Grundentscheidungen, die sich erst durch das Medium der das jeweilige Rechtsgebiet unmittelbar beherrschenden Vorschriften entfalten 251 . In einem Beschluss v. 23.04.1986 nannte das BVerfG neben den Generalklauseln als unmittelbar beherrschende Vorschriften auch die sonstigen auslegungsfähigen und ausfiillungsbedürftigen Begriffe des Rechtsgebietes, die im Sinne des Rechtsgehalts der Grundrechte ausgelegt werden müssen252. Nach der grundgesetzlichen Kompetenzverteilung obliegt zunächst den Instanzgerichten die Aufgabe, die Grundrechte zu wahren und durchzusetzen 253. Denn das GG ist Teil der Gesamtrechtsordnung, die als Sinnganzes verstanden werden muss und jeglicher Auslegung innerstaatlichen Rechts zugrunde zu legen ist 254 . Der Richter hat deswegen kraft Verfassungsgebots zu prüfen, ob von der Anwendung zivilrechtlicher Vorschriften im Einzelfall Grundrechte berührt werden. Trifft das zu, so hat er diese Vorschriften im Lichte der Grundrechte auszulegen und anzuwenden255. Dazu bedarf es einer Abwägung zwischen den widerstreitenden grundrechtlichen Schutzgütern, die im Rahmen der auslegungsfähigen Tatbestandsmerkmale der zivilrechtlichen Vorschriften vorzunehmen ist und die besonderen Umstände des Falles zu berücksichtigen hat 256 . Das gilt gleichfalls für vorkonstitutionelle Gesetze, die ebenfalls von den Wertvorstellungen des GG her ausgelegt werden müssen257. Daraus wird deutlich, dass sich der durch die Grundrechte vermittelte Schutzauftrag auch an den Richter wendet. Im Wege der Auslegung darf allerdings nicht das nach Wortlaut und Sinn eindeutige gesetzgeberische Ziel der Norm in
250
BVerfGE 22, 93 (98) v. 07.06.1967. BVerfGE 42, 143 (148) v. 11.05.1976; ebenso 53, 257 (298) v. 28.02.1980; 58, 377 (396) v. 03.11.1981; 75, 201 (218) v. 14.04.1987; 81, 242 (254) v. 07.02.1990; 89, 214 (229) v. 19.10.1993; 101, 361 (388) v. 15.12.1999; 103, 89 (100) v. 06.02.2001. 252 BVerfGE 73, 261 (269) v. 23.04.1986. 253 BVerfGE 49, 252 (258) v. 10.10.1978. 254 BVerfGE 51, 304 (323) v. 19.06.1979; 75, 201 (218) v. 14.04.1987. 255 BVerfGE 84, 192(195) v. 11.06.1991; ebenso 96,375 (398) v. 12.11.1997. 256 BVerfGE 101, 361 (388) v. 15.12.1999. 257 BVerfGE 19, 1 (8) v. 28.04.1965. 251
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3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
einem wesentlichen Punkt verfehlt oder verfälscht oder der normative Regelungsgehalt grundlegend neu bestimmt werden 258 .
bb) Der BGH Der BGH hat zu dem Theorienstreit zur Grundrechtswirkung nicht ausdrücklich Stellung genommen 259 . Er geht ohne weitere Erörterung in stdg. Rspr. davon aus, dass der Wertordnung des GG, wie sie insbesondere in den Grundrechten niedergelegt ist, bei der Auslegung einfachrechtlicher Normen, insbesondere der Generalklauseln, wesentliche Bedeutung zukommt 260 .
cc) Das BAG Dogmatisch stützt sich die Begrenzung der Arbeitnehmerhaftung überwiegend auf das Gebot einer angemessenen Verteilung des Betriebsrisikos analog § 254 BGB und auf den allgemeinen Rechtsgedanken des § 254 BGB. Für den Großen Senat des BAG ist die Begrenzung der Arbeitnehmerhaftung ein Drittwirkungsproblem der Grundrechte. Mit seinem Beschluss v. 12.06.1992 wollte der Große Senat die Beschränkung der Arbeitnehmerhaftung auch in den Fällen anwenden, in denen der Arbeitnehmer nicht in Ausübung gefahrgeneigter Arbeit handelte. Da diese Rechtsauffassung von der Rechtsprechung des BGH abwich, rief er mit seinem Vorlagebeschluss den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes zur Klärung dieser Rechtsfrage an. In dem Beschluss v. 12.06.1992 greift der Große Senat des BAG zur Begründung einer eingeschränkten Arbeitnehmerhaftung zusätzlich umfassend auf die grundrechtlichen Positionen der Beteiligten zurück. Der Schutzumfang der Regelung des § 254 BGB im Arbeitsverhältnis wird danach durch verfas-
258 BVerfGE 8, 28 (34) v. 11.06.1958; 8, 71 (78 f) v. 10.07.1958; 9, 83 (87) v. 08.01.1959; 11, 77 (84 ff) v. 10.05.1960; 18, 97 (111) v. 30.06.1964; 33, 52 (69) v. 25.04.1972; 34, 165 (200) v. 06.12.1972; 35, 263 (280) v. 19.06.1973; 48, 40 (47) v. 01.03.1978; 54, 277 (299) v. 11.06.1980; 78, 20 (24) v. 24.02.1988. 259 Heinrichs, § 242 Rn. 7 260 BGHZ 13, 334 (338) v. 25.05.1954; 15, 250 (257 f) v. 26.11.1954; 26, 349 (354) v. 14.02.1958; 45, 296 (308) v. 21.06.1966; 33, 145 (149) v. 06.04.1960; 38, 317 (319 0 v. 24.10.1962; 59, 30 (35 f) v. 30.05.1972; 80, 25 (28) v. 20.01.1981; 90, 113 (116) v. 07.02.1984; 132, 13 (21) v. 30.01.1996; BGH NJW 1986, 2944 v. 28.04.1986; 1999, 1326 v. 23.11.1998 (weitere Nachweise bei MünchKomm/Säcter, Einl AT, Rn. 54 Fn. 137, 139 f). Dabei ist im Schrifttum strittig, ob in den BGH-Urteilen ein Wirkungsverständnis durchschimmert, das einer unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte gleich- oder nahe kommt (ablehnend Palandt¡Heinrichs, § 242 Rn. 7; Lepa, FS Steffen, S. 261 [262]).
§ 2 Der eigene Reformorschlag
409
sungsrechtliche Gewährleistungen aus Artt. 12 Abs. 1 S. 2 i. V. m. 2 Abs. 1 GG beeinflusst. Je nach rechtlicher Ausgestaltung des Arbeitnehmerhaftungsrechts werde tendenziell in die wirtschaftliche Handlungs- und Betätigungsfreiheit des Arbeitgebers, die Entfaltung der Persönlichkeit des Arbeitnehmers sowie die Berufsausübung von Arbeitgeber und Arbeitnehmer eingegriffen. Hafte der Arbeitnehmer für von ihm zu vertretende Schäden, so wirke sich dies auf die Entfaltung seiner Persönlichkeit aus und berühre seine Berufsausübung. Hafte der Arbeitgeber ganz oder teilweise, so greife dies in seine wirtschaftliche Handlungs- und Betätigungsfreiheit und die Berufsausübung ein. Art. 2 Abs. 1 GG gewährleiste die allgemeine Handlungsfreiheit im umfassenden Sinn. Sie umfasse einmal die Freiheit zur wirtschaftlichen Betätigung als Arbeitgeber und gebe damit zugleich einen angemessenen Spielraum zur Entfaltung der Unternehmerinitiative, zum anderen schütze dieses Grundrecht das allgemeine Persönlichkeitsrecht und damit die Entfaltung des Arbeitnehmers, die gerade im Hinblick auf die moderne Entwicklung im Arbeitsleben und die damit verbundenen neuen Gefährdungen der menschlichen Persönlichkeit an Bedeutung gewinnt. Die berufliche Tätigkeit, für die Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG den erforderlichen Freiraum sowohl für den Arbeitgeber als auch für den Arbeitnehmer gewährleistet, diene nicht nur der persönlichen Entfaltung des arbeitenden Menschen in der Gesellschaft, sondern gewährleiste den auf die Verwertung ihrer Arbeitskraft angewiesenen Bürgern die Möglichkeit, sich eine wirtschaftliche Existenzgrundlage zu schaffen. Ausgehend von dieser verfassungsrechtlichen Grundlage stelle eine unbeschränkte Schadenshaftung des Arbeitnehmers einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) und in sein Recht auf freie Berufsausübung (Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG) dar. Aufgrund der Wertordnung der grundrechtlichen Schutzgüter sei eine unverhältnismäßige Beeinträchtigung der Berufsausübung dann anzunehmen, wenn es in einem Arbeitsverhältnis durch allgemeine betrieblich bedingte Schadensrisiken zu unzumutbaren finanziellen Belastungen oder zur Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz des Arbeitnehmers kommen könne. Das sei im Arbeitsverhältnis der Fall, wenn der Arbeitnehmer für jeden auch nur leicht fahrlässig verursachten Schaden unbeschränkt haften müsse. Der Arbeitnehmer sei durch die Organisation der Arbeit sowohl hinsichtlich der tatsächlichen und rechtlichen Gestaltung der Tätigkeit als auch durch die Eingliederung in die Betriebsorganisation Risiken ausgesetzt, denen er nicht ausweichen könne. Diese vom Arbeitgeber geschaffenen Bedingungen und der Wert der eingesetzten Betriebsmittel bestimmten Maß und Umfang der Haftungsrisiken des Arbeitnehmers. Bei einer solchen weitgehenden Fremdbestimmtheit der Arbeit seien grundrechtliche Schutzgüter des Arbeitnehmers beeinträchtigt, wenn das Arbeitseinkommen in einem erheblichen Missverhältnis zur Höhe des zu ersetzenden Schadens steht oder wenn die Ersatzpflicht des Arbeitnehmers zu einer Gefährdung seiner wirtschaftlichen Existenz führt. Demgegenüber würden Grundrechtspositionen des Arbeitgebers durch die
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3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
Aufbürdung von Haftungsrisiken in dem hier in Rede stehenden Umfang nicht unangemessen berührt. Der Arbeitgeber müsse sich Beschränkungen seiner grundrechtlich geschützten Handlungs- und Betätigungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und seiner Berufsausübung (Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG) gefallen lassen, weil er die Arbeits- und Betriebsbedingungen selbst eigenverantwortlich setze und dadurch Schadensrisiken des Arbeitnehmers mitzuverantworten habe. Daher sei die Zurechnung der durch den Arbeitgeber eigenverantwortlich geschaffenen Risikolage als sozialadäquate Ausgestaltung der wirtschaftlichen Handlungs- und Betätigungsfreiheit und der Berufsausübung des Arbeitgebers anzusehen. Eine solche Zurechnung sei im Hinblick auf die zugunsten des Arbeitgebers in Frage stehenden verfassungsrechtlichen Rechtspositionen nicht unzumutbar. Die Frage, ob und ggf. in welcher Höhe dem Arbeitgeber der Schaden zugerechnet werde, richte sich nach den Gesamtumständen des Einzelfalls hinsichtlich Schadensanlass und Schadensfolgen. Um den Arbeitgeber nicht mit dem allgemeinen Lebensrisiko des Arbeitnehmers zu belasten, müsse die Tätigkeit, die zu dem Schaden geführt habe, aufgrund des Arbeitsverhältnisses betrieblich veranlasst sein 261 . Im Verfahren des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes fragte dieser beim zuständigen VI. Zivilsenat des BGH an, ob er an seiner Rechtsprechung festhalte. Der VI. Zivilsenat schloss sich mit Beschluss v. 21.09.1993 im Ergebnis der Ansicht des Großen Senats des BAG an, die Beschränkung der Arbeitnehmerhaftung auf sämtliche betrieblich veranlasste Tätigkeiten auszudehnen. Den verfassungsrechtlichen Ausführungen des Großen Senats des BAG folgte der BGH-Senat aber nicht in allem. Die betroffenen Rechtspositionen des Arbeitgebers und des Arbeitnehmers wiesen Bezüge zu Artt. 2 und 12 GG in ihrer objektiv-rechtlichen Wirkungsdimension auf. Diese bedürfe aber nicht der besonderen Hervorhebung bei der Gewichtung der Abwägungsfaktoren im Rahmen des § 254 BGB in der Bedeutung, die der Große Senat des BAG ihnen beimessen wolle. Eine solche Hervorhebung könne sogar zu Missverständnissen führen, denn mit dieser Argumentation ließe sich die Gewährung von Haftungserleichterungen bis hin zur Haftungsfreistellung auch ohne Rücksicht auf das Verschulden begründen. Damit wäre die gesetzgeberische Konzeption der vollen Haftung für jedes Verschulden (§§ 249, 276 BGB) nicht mehr nur modifiziert, sondern aufgehoben. Nach Auffassung des BGH ist eine solche Fortentwicklung durch Richterrecht von Verfassungs wegen deshalb weder geboten noch zulässig 262 . Der Gemeinsame Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes stellte daraufhin das Verfahren bei ihm ein. Infolgedessen konnte der Große Senat des BAG das Erfordernis der Gefahrgeneigtheit in seinem Beschluss v. 27.09.1994 261 262
BAG (GS)NJW 1993, 1732 (1734 f) v. 12.06.1992. BGHNJW 1994, 856 v. 21.09.1993.
§ 2 Der eigene Reformorschlag
411
fallen lassen. Dort bezeichnet der Große Senat des BAG die Bedenken des BGH gegen die verfassungsrechtlichen Erwägungen seines Vorlagebeschlusses als nicht überzeugend. Denn die Berücksichtigung des Betriebsrisikos im Rahmen des § 254 BGB könne nicht zu einer Haftungsfreistellung ohne Rücksicht auf das Verschulden des Arbeitnehmers führen und in der Konsequenz die gesetzgeberische Konzeption der §§ 249, 276 BGB vollständig aufheben. Im Übrigen müsse sich auch die Grundkonzeption des BGB an den Grundrechten messen lassen263. Für R. Krause lassen sich die Ausfuhrungen des BAG nur dahin verstehen, dass eine Rechtsgewinnung auf der Ebene des einfachen Rechts, nach welcher der Arbeitnehmer unbeschränkt haften würde, gegen die Verfassung verstoße. Gehe man mit dem Großen Senat des BAG zumindest im Grundsatz davon aus, dass die Belastung des Schädigers mit einer zivilrechtlichen Schadensersatzverpflichtung unter Berücksichtigung der Interessen des Geschädigten gegen das verfassungsrechtliche Übermaßverbot verstoßen könne, so lasse sich dieser Gedanke nicht von vornherein auf das Arbeitsrecht beschränken. Vielmehr dränge dieser Gedanke auf eine das gesamte Haftungsrecht erfassende Anwendung, selbst wenn in vielen Fällen auf beiden Seiten nur die allgemeine Handlungsfreiheit und nicht (zusätzlich) spezielle Grundrechte berührt würden. Knüpfe der Privatgesetzgeber an ein Verhalten nachteilige Rechtsfolgen wie die Schadensersatzpflicht, so müsse er dabei die zugunsten des Betroffenen bestehenden verfassungsrechtlichen Gewährleistungen unmittelbar beachten. Der Ansatz des BAG, in der Auferlegung einer gesetzlichen Haftpflicht zumindest einen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit zu sehen, sei deshalb im Grundsatz durchaus zutreffend. Damit gerate das Alles-oder-Nichts-Prinzip des § 249 Abs. 1 BGB unweigerlich auf den Prüfstand des verfassungsrechtlichen Übermaßverbotes und Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Da der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz einen lediglich formalen Charakter aufweise, führe seine Anwendung konsequenterweise dazu, dass es bei einem Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG in umfassender Weise darauf ankomme, welche Umstände zur Rechtfertigung der Beeinträchtigung vorgebracht würden. Es solle deswegen daran gedacht werden, nicht nur an die Gefahrdung der wirtschaftlichen Existenz aufgrund extrem belastender Haftungsfolgen anzuknüpfen. Vielmehr könne man danach - wie vom BAG angedeutet - fragen, ob eine finanziell an sich durchaus tragbare Schadensersatzpflicht bereits außer Verhältnis zu einzelnen Haftungsvoraussetzungen stehe. So wäre dann u. a. die ständige Ausdehnung der deliktsrechtlichen Verkehrspflichten einer Verhältnismäßigkeitsprüfung zu unterziehen. Einer solchen - weitergedachten - verfassungsrechtlichen Ableitung der Haftungsreduktion ist aber nach Ansicht von R. Krause die Gefolgschaft zu versagen. Diese Sichtweise 263
BAGE (GS) 78, 56 (65 ff) (=NJW 1995, 210 [212 f]) v. 27.09.1994.
412
3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
verstricke sich leicht in Ausweglosigkeiten, da sie mit Hilfe des Übermaßverbotes sämtliche auf der Ebene des einfachen Rechts zu entscheidenden Fragen verfassungsrechtlich überhöhen würde. Es spreche daher vieles dafür, in Anlehnung an einen Gedanken des BVerfG 264 aus der Minderjährigen-Entscheidung die Prüfung der Grundrechtsgemäßheit der Haftungsvoraussetzungen lediglich darauf zu erstrecken, ob den „Betroffenen" eine wie auch immer geartete „Verantwortung" für das Schadensgeschehen treffe. Von solchen äußersten Grenzen abgesehen, müssten sämtliche die Haftungsvoraussetzungen betreffenden Fragen hingegen auf der Ebene des einfachen Gesetzes gestellt und beantwortet werden. Darum seien alle im Einzelfall aus guten Gründen zu rechtfertigenden Einschränkungen des Alles-oder-Nichts-Prinzips als verfassungsrechtlich zwar mögliche, nicht aber als zwingend gebotene Fortbildungen des einfachen Rechts zu begreifen. Zudem würde eine verfassungsrechtliche Ableitung der Haftungsreduktion nach Auffassung von R. Krause zu einer zunehmenden Versteinerung der Rechtsordnung durch ein ständig enger werdendes Geflecht an vermeintlich unverrückbaren Vorgaben der Verfassung führen, die mit einer Erosion zivilrechtlicher Denkstrukturen verbunden wäre 265 . Vor dem BAG ist Canaris mehrfach für die Anwendung des verfassungsrechtlichen Übermaßverbotes im allgemeinen Schadensersatzrecht eingetreten 266 . Sein Vorschlag betrifft aber nur einen Teilbereich der Thematik einer schadensersatzrechtlichen Reduktion, nämlich die Konstellation der ruinösen Ersatzpflicht gegenüber einem „reichen" Geschädigten. Den Überlegungen von Canaris liegt der Ansatz zugrunde, dass schadensersatzrechtliche Normen, wie z. B. § 823 Abs. 1 BGB, Eingriffe in die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Handlungsfreiheit darstellen. Gleiches gelte für die daraus entspringenden Zahlungsverpflichtungen des Schädigers i. V. m. der starren Anordnung von Totalersatz durch § 249 BGB. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung stellt Canaris sodann im Rahmen der Abwägung vor allem das Bedürfnis des Geschädigten nach Ausgleich für den erlittenen Schaden den ruinösen Wirkungen für den Schädiger gegenüber. Dabei differenziert er, ob dem Geschädigten eine Einschränkung der Ausgleichszahlung wirtschaftlich zumutbar ist oder nicht. Für den ersten Fall zieht Canaris eine Reduktion der Schadenersatzpflicht in Betracht. Könne der Geschädigte den erlittenen Schaden auch ohne Ersatzleistung voll oder teilweise befriedigen, ist sein Anspruch gemäß § 242 BGB jedenfalls dann höhenmäßig zu reduzieren, wenn seine volle Befriedigung für den Schädiger ruinös wäre, diesen also zeitlebens in den wirtschaftlichen Ruin stürzen würde. Gleiches gelte, wenn die Ersatzpflicht das gesamte, in Jahrzehnten erworbene Vermögen des Schädigers aufzehre. In diesen Fällen rechtfertig264
BVerfGE 72, 155 (173) v. 13.05.1986 (vgl. 2. Teil § 3 I).
265
R. Krause, JR 1994, 494 ff.
266
Canaris, AcP 184 (1984), 201; ders., JZ 1987, 993; ders., JZ 1990, 679.
§ 2 Der eigene Reformorschlag
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ten weder die Präventions- noch die Ausgleichsfunktion des Schadensrechts die Einstandspflicht des Schädigers. Sei der Geschädigte hingegen auf die Ersatzleistung des Schädigers angewiesen, könne eine für diesen ruinöse Ersatzleistung nicht als verfassungswidrig angesehen werden. Eine Haftungsreduktion über § 242 BGB in seiner Ausformung als Rechtsmissbrauchsein wand sei in einem solchen Fall abzulehnen267. Gegen diese Überlegungen von Canaris wendet sich insbesondere Medicus. Nach seiner Ansicht ist die Grenze zwischen dem, was man noch durch Interpretation aus der Verfassung ableiten kann, und demjenigen, was dem Gesetzgeber überlassen bleiben muss, deutlich überschritten. Die Ausfüllung der durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip gelassenen Freiräume stehe in erster Linie dem Fachgesetzgeber zu; das Verfassungsrecht könne dazu nur Argumente liefern oder vielleicht ein Minimum vorgeben, mehr aber nicht. Die verfassungskräftige Forderung nach der Gewährleistung eines der Menschenwürde entsprechenden Lebens mit den gebotenen Entfaltungsmöglichkeiten sei daher in erster Linie an das Vollstreckungsrecht zu richten bzw. mit der Einführung der Möglichkeit einer Restschuldbefreiung sicherer zu befriedigen 268 .
b) Die Auswirkungen der Grundrechtswirkung für die Rechtsanwendung im Zivilrecht aa) Die allgemeinen Auswirkungen Grundrechtsadressat ist auch hinsichtlich der Grundrechtswirkung im Privatrecht die staatliche Gewalt 269 . Legislative und Judikative wollen und müssen grundrechtskonform arbeiten. Für die gegenständliche Bearbeitung ist die Arbeit des Richters von besonderem Interesse, der grundrechtsverpflichtet ist, wenn er das Privatrecht auslegt und anwendet. Verwendet der Gesetzgeber bei seinen Regelungen unbestimmte Rechtsbegriffe, fehlt es an einer gesetzlichen Konkretisierung. Es ist dann Aufgabe des Richters, dem Einfluss der Grundrechte in der notwendigen Differenzierung gerecht zu werden 270 . Der Richter tritt im Rechtsstreit aber nicht als Urheber der Grundrechtsbeschränkung des Geschädigten, sondern in seiner Funktion als Schlichter eines Konflikts zwischen Privaten auf. Das Privatrecht realisiert die Ergebnisse gesellschaftlicher Entwicklung schneller als Verfassungsrecht, darf jedoch nicht dulden, dass die verfassungs-
267
Canaris, S. 52 f; ders., JZ 1987, 993 (1001 f).
268
Medicus, AcP 192 (1992), 35 (66 ff). HStR V/Rüfner, § 117 Rn. 59.
269 270
Hesse, Rn. 356.
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3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
rechtliche Garantie im Alltag wertlos wird 2 7 1 . Bei der Ausfüllung der privatrechtlichen Begriffe mit den in den Grundrechten ausgeformten Wertgehalten wird es sich nach Dürig angesichts des vorhandenen durchgebildeten privatrechtlichen Schutzsystems um bloße Wertdifferenzierung und Wertverdeutlichung handeln. Bei jedem Fall der Schadensabwehr bekomme die Anwendung der Abwehrnorm eine ganz andere Verständlichkeit, wenn der Richter Wertgehalte der Verfassung zur Begründung ihrer Anwendung benutze. Jedes Grundrecht sei in dieser Weise geeignet, die Anwendung einer zivilrechtlichen Wendung durch Heranziehung von aus der Verfassung bekannten Wertvorstellungen plastischer und lebensnäher zu gestalten 272 . Rüfner merkt in diesem Zusammenhang an, dass möglicherweise die weitgefassten Grundrechte oft nur bemüht würden, um die Anpassung der Rechtsprechung an neue gesellschaftliche Entwicklungen zu rechtfertigen. Die allgemein gefassten Grundrechtsnormen könnten die Feinarbeit des Zivilrechts und dessen Interpretation nicht ersetzen oder verdrängen. Generelle Aussagen, welche Auswirkungen einzelne Grundrechte im Zivilrecht hätten, seien im Übrigen schwierig, weil regelmäßig eine Abwägung mit einer grundrechtlich geschützten Gegenposition erforderlich sei 273 . Die Ausfüllung der einzelnen Institutsgarantien im bürgerlichen Recht kann nicht allein von einem Grundrecht her und nicht einseitig von dem Interesse eines der Betroffenen gesteuert werden 274 . Da sich jedoch die verfassungsrechtlichen Wertungen mit den gesellschaftlichen Anschauungen ändern, ist nach Meinung von Rüfner (1992) auch mit Änderungen der Entscheidung über einzelne Drittwirkungsfragen zu rechnen 275 .
bb) Die Auswirkungen im Deliktsrecht V. Bar zufolge ist es die vordringliche Aufgabe des Deliktsrecht, die außervertragliche Haftung auf die objektive Wertordnung der Verfassung auszurichten. Das Deliktsrecht werde als eine Konkretisierung der verfassungsrechtlich verbürgten Freiheitsrechte begriffen. So bestehe der verfassungsrechtliche Einfluss u. a. auf der Pflichtenebene, auf der das haftungsbegründende Verhalten von dem haftungsfreien getrennt werde. Von der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte sei gemeinhin dann die Rede, wenn ein bereits existierender Haftungstatbestand im Geiste der Freiheitsrechte ausgelegt werden müsse. Dabei komme es darauf an, die heutigen verfassungsrechtlichen Vorgaben für die vom Deliktsrecht schon immer verwandten Begriffe zu ermitteln und in ihm 271 272 273 274 275
HStR V¡Rüfner, § 117 Rn. 62 f. MmnzJDürig, Art. 1 Abs. 3 Rn. 133; ähnlich HStR MlRüfner, HStR VI Rüfner, § 117 Rn. 72 Fn. 215, Rn. 75, 77. P. Krause, JZ 1984, 711 (716). HStR V/Rüfner, § 117 Rn. 79.
§ 117 Rn. 72 f.
§ 2 Der eigene Reformorschlag
415
wirksam werden zu lassen276. Nach Einschätzung von Looschelders haben die Grundrechte einen besonders großen Einfluss auf das Haftungs- und Schadensrecht. Dabei halte das Schadensrecht des BGB - so wie es von den Zivilgerichten ausgelegt werde - im Allgemeinen den Rahmen ein, welcher durch die grundrechtlich geschützten Positionen von Schädiger, Geschädigtem und Dritten vorgegeben werde. Soweit Grundrechte zu einzelnen Korrekturen zwängen, handele es sich im Wesentlichen um Bereiche, in denen die gesellschaftliche Entwicklung zu Problemen gefuhrt habe, die für den historischen Gesetzgeber nicht vorhersehbar gewesen sind. Den Grundrechten komme jedoch nicht die Aufgabe zu, die Grundwertungen des Schadensrechts zu korrigieren. Vielmehr ermöglichten und geböten sie lediglich, die Wertungen des BGB in einigen Bereichen entsprechend den Anforderungen der modernen Verhältnisse weiterzuentwickeln. Da eine Veränderung der tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse der Wertentscheidung des historischen Gesetzgebers die Geschäftsgrundlage entziehen könne, sei eine abändernde Rechtsfortbildung in diesen Bereichen aus methodischer Sicht zulässig. Die konkrete Lösung sei dabei zumeist nicht grundrechtlich determiniert. In dem verbleibenden Rahmen sei es Sache der Zivilgerichte, den Interessenkonflikt mit den spezifischen Mitteln des Privatrechts aufzulösen. Die Grundrechte fungierten in diesem Bereich nur als allgemeine Interessenwertungskriterien, die bei der Auslegung und Fortbildung zivilrechtlicher Normen auf der Ebene des einfachen Rechts zu berücksichtigen seien277. Die Anwendung deliktsrechtlicher Vorschriften bedeutet Wertung auf Schritt und Tritt. Nach Auffassung von Lepa ist keine Fallkonstellation denkbar, in der von der Sache her die Berücksichtigung einer grundrechtlichen Wertentscheidung gefordert gewesen, diese Wertung aber nicht zum Zuge gekommen wäre, weil es an einer wertausfüllungsbedürftigen Norm gefehlt hätte 278 . Angemessene Lösungsmöglichkeiten sind also im Deliktsrecht zu suchen und zu finden.
c) Die Grundrechtswirkung und § 832 BGB Das Zivilrecht - und somit § 832 BGB - grenzt die Rechtssphären der beteiligten Parteien ab und gleicht die einander widersprechenden Interessen aus. Bei der künftigen Auslegung von § 832 BGB dürfen die Gerichte die Grundrechtsrelevanz der Vorschrift nicht aus den Augen verlieren. Der historische Gesetzgeber hat am Ende des 19. Jahrhunderts mit § 832 BGB eine Norm geschaffen, die dem Rechtsanwender Interpretationsspielräume lässt. Die Gerich-
276 277 278
v. Bar, Gemeineuropäisches Deliktsrecht, Rn. 554, 556. Looschelders, Mannheimer Fakultätstagung, S. 93, 111. Lepa, FS Steffen, S. 261 (262).
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3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
te sind befugt, die Interessen der Eltern und der Allgemeinheit in Gestalt des Geschädigten entsprechend den gesellschaftlichen Verhältnissen asymmetrisch zu gewichten, solange sie dadurch nicht ungerechtfertigte Privilegien schaffen und die betroffenen Geschädigten schutzlos stellen. Weder der Wortlaut der Norm noch die Gesetzesmaterialien stehen dabei einer maßvollen Reduzierung des Pflichtenkatalogs der Eltern im Wege der verfassungskonformen Auslegung entgegen. Bisher ist die Entwicklungsgeschichte des § 832 Abs. 1 BGB vom Schutz des Geschädigten zu Lasten der Eltern geprägt. In Anbetracht der nachgezeichneten rechtlichen und tatsächlichen Entwicklung müssen die Interessen der beteiligten Eltern einerseits und die des Geschädigten andererseits allerdings zeitgemäß austariert werden. Deshalb muss man das Haftungsgefüge des § 832 Abs. 1 BGB zugunsten der Interessen und Freiräume der Eltern und damit auch der Kinder - nachjustieren. Eine solche haftungsrechtliche Besserstellung der Eltern kann durch einen Rückgriff auf die Ausstrahlungswirkung des Art. 6 Abs. 1 GG erreicht und begründet werden. Die deliktische Elternhaftung rückt so näher an die Wertentscheidung der Verfassung in Art. 6 Abs. 1 GG. Diese Haftungserleichterung ist aufgrund der mehrfach aufgezeigten Veränderungen im Kontext des § 832 BGB gerechtfertigt und verfassungsrechtlich möglich und geboten, wenn letztlich aber nicht zwingend. Deswegen ist bei der verfassungskonformen Auslegung des § 832 Abs. 1 BGB immer zu beachten, dass das BGB nichts zu verschenken hat; es kann dem einen nur geben, was es einem anderen nimmt. Das gilt insbesondere für Schadensersatzansprüche. Werden sie erfüllt, beseitigen sie zwar den Verlust des Geschädigten, führen aber zugleich zu einem Verlust beim Schädiger, dessen Vermögen sich um den Wert der Ersatzleistung mindert. Der Schaden wird infolgedessen nicht ersetzt, sondern nur verlagert. Die dem Geschädigten durch den Schadensersatzanspruch gewährte Hilfe verschlechtert die Verhältnisse des Schädigers 279. Gewichtet man also künftig die Grundrechte der Eltern stärker, zehrt das an den grundrechtlich geschützten Positionen des Geschädigten aus Artt. 2 Abs. 2, 14 Abs. 1 GG. Die Haftung der Eltern für jede (leicht) fährlässige Aufsichtspflichtverletzung ist aber nicht notwendig, um die entgegenstehenden Grundrechtspositionen des Geschädigten angemessen zur Geltung zu bringen. Artt. 2 Abs. 2, 14 Abs. 1 GG stehen der Haftungserleichterung nicht entgegen. Den Interessen des Geschädigten wird ausreichend Gewicht beigemessen, wenn die Haftung aus § 832 BGB erst ab einer normal fahrlässigen Verletzung der Aufsichtspflicht eingreift. Oder anders ausgedrückt: Die Grundrechte des Geschädigten aus Artt. 2 Abs. 2 S. 1, 14 Abs. 1 GG werden durch diese Rechtsfortbildung nicht in einer Weise eingeschränkt, die dem Ziel der praktischen Konkordanz zuwiderläuft.
279
Medicus, AcP 192 (1992), 35 (57); ders., Entwicklung, S. 13 (24 f).
§ 2 Der eigene Reformorschlag
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Die künftige Auslegung des § 832 Abs. 1 BGB muss der besonderen verfassungsrechtlichen Stellung der Familie Rechnung tragen und den Gewährleistungen des Art. 6 Abs. 1 GG genügen. § 832 Abs. 1 BGB ist aufgrund seines offenen Tatbestandes für die Wertungen des in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltenen Schutzauftrags zugänglich. Die Norm spricht von der haftungsauslösenden Pflichtverletzung nur in unbestimmten Worten. Das Tatbestandsmerkmal „Genügen der Aufsichtspflicht" besitzt ausreichend Elastizität, um die durch Art. 6 Abs. 1 GG zugunsten der Familie getroffene Wertentscheidung im bürgerlichen Recht umzusetzen. Der unbestimmte Rechtsbegriff in § 832 Abs. 1 BGB kann darum als Einfallstor für die grundrechtlich gebotene Beschränkung der Haftung der Eltern, und damit der Einschränkung der Ersatzansprüche des Geschädigten, herangezogen werden. Die verfassungsrechtlich beeinflusste Auslegung könnte - gedanklich - nach folgendem Muster ablaufen. Ausgangspunkt ist die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs „Genügen der Aufsichtspflicht" oder, anders formuliert, „Aufsichtspflichtverletzung" 280 . Wann Eltern ihrer Aufsichtspflicht genügt haben, lässt sich aus § 832 Abs. 1 BGB nicht entnehmen. Bei der Auslegung des ausfüllungsbedürftigen Rechtsbegriffs ist aufgrund der Drittwirkung der Grundrechte die objektive Wertordnung der Verfassung zu beachten. Vom unbestimmten Rechtsbegriff in § 832 Abs. 1 BGB ist zu diesem Zweck auf die Verfassungsebene zu wechseln. Dort sind die miteinander kollidierenden Grundrechte der Eltern und des Geschädigten einander gegenüberzustellen. Das sind auf Seiten der Eltern Artt. 6 Abs. 1 und 2 Abs. 1 GG. Wie herausgearbeitet, müssen das Förderungsgebot und das Benachteiligungsverbot des Art. 6 Abs. 1 GG auch im Rahmen des § 832 Abs. 1 BGB gelten 281 . Und die Auferlegung einer zivilrechtlichen Schadensersatzverpflichtung stellt nach Ansicht des BVerfG einen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG dar, welcher die vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gezogene Grenze nicht überschreiten darf 282 . A u f Seiten des Geschädigten werden i. d. R. die durch Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG geschützte körperliche Unversehrtheit und/oder die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG betroffen sein. Im Überschneidungsbereich der Grundrechte ist sodann die Frage zu entscheiden, welches Grundrecht im konkret zu entscheidenden Fall das höhere Gewicht hat. Ziel dieser Abwägung muss eine praktische Konkordanz sein, d. h. ein Ergebnis, das den Grundrechten auf beiden Seiten Grenzen setzt, um sie zu optimaler Wirkung gelangen zu lassen. Entscheidende Kriterien sind auf der Elternseite das Ausmaß der drohenden finanziellen Belastung und die Schwere der Auf-
280
Die nachfolgenden Ausführungen orientieren sich an der von Rohr (Rn. 151 f) vorgeschlagenen Vorgehensweise. 281 Vgl. 2. Teil § 1 IV 3 d bb. 282 BVerfGE 57, 361 (378, 380) v. 14.07.1981; 63, 88 (109, 115) v. 27.01.1983.
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3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
sichtspflichtverletzung. Auf der Geschädigtenseite ist dessen Integritätsinteresse zu bewerten. Diese verfassungsrechtliche Wertung ist anschließend auf die Ebene des BGB zu übertragen und der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs „Genügen der Aufsichtspflicht" zugrunde zu legen. Das Auslegungsergebnis auf der Ebene des bürgerlichen Rechts in § 832 BGB darf dabei das grundrechtliche Auslegungsergebnis nicht ignorieren und muss die Wertentscheidung des Art. 6 Abs. 1 GG konkretisieren. Zu weitgehend ist dagegen die Betrachtungsweise von Lepa. Danach steuert die einfachrechtliche Norm zur Entscheidung des Falles nur die Aussage über die Rechtsfolge bei, wenn ein Grundrecht im Deliktsrecht seine Berücksichtigung gebietet283.
2. Die grundrechtliche
Schutzpflichtlehre
Aus der grundrechtlichen Schutzpflicht des Staates lässt sich keine Haftungserleichterung für die Eltern in § 832 BGB herleiten.
a) Die Grundlagen Bei der grundrechtlichen Schutzpflicht geht es nach E. Klein um das rechtlich gebotene Verhalten des Staates angesichts von Verletzungen und Gefährdungen grundrechtlich geschützter Güter, wie z. B. Leben, Gesundheit, Freiheit und Eigentum, durch Dritte, vor allem durch Private, die selbst nicht Adressaten der Grundrechte des GG sind 284 . Die grundrechtliche Schutzpflicht verpflichtet demnach den Staat zu einem Eingreifen gegen gerade nicht vom Staat ausgehende Grundrechtsbeeinträchtigungen. Sie soll den Grundrechtsträger gegen Handlungen Dritter oder gegen Naturkatastrophen schützen285. Auf diese Grundrechtsgefährdungen soll der Gesetzgeber oder an seiner Stelle der Richter mit Schutzbestimmungen reagieren 286. Der Tatbestand, dessen Erfüllung die Schutzpflicht auslöst, ist der rechtswidrige Eingriff eines Privaten auf ein grundrechtliches Schutzgut oder die Gefahr eines solchen Eingriffs. Das rechtliche Unwerturteil ergibt sich unmittelbar aus Kriterien der Verfassung; Maßstab sind das Gewaltverbot und das Schädigungsverbot 287. Die Schutzpflicht fungiert somit als Untermaßverbot; sie stellt nur sicher, dass ein verfassungsge-
283 284
Lepa, FS Steffen, S. 261 (263). £. Klein, NJW 1989, 1633.
285
v. Münch, Rn. 150, 153.
286
Canaris, AcP 184 (1984), 201 (227). HStR VIlsensee, § 111 Rn. 89.
287
§ 2 Der eigene Reformorschlag
419
botener Mindeststandard an gesetzlichem Schutz nicht unterschritten wird 2 8 8 . Ihr zivilrechtliches Pendant findet die grundrechtliche Schutzpflicht vornehmlich in den Tatbeständen des Deliktsrechts, welche die grundrechtlichen Schutzpflichten im System des Privatrechts umsetzen, so u. a. in den §§ 823 ff BGB 2 8 9 . Bei der Ausgestaltung der grundrechtlichen Schutzpflicht besteht ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers 290 . Das BVerfG befasste sich mit der Frage der grundrechtlichen Schutzpflicht gegenüber nichtstaatlichen Eingriffen u. a. im Zusammenhang mit dem Schutz des ungeborenen Lebens vor Abtreibung 291 , terroristischer Erpressung 292 , der friedlichen Nutzung von Kernenergie 293, Fluglärm 294 , AIDS 2 9 5 und der Organentnahme bei lebenden Personen 296.
b) Die grundrechtliche Schutzpflicht und § 832 BGB Wollte man die grundrechtliche Schutzpflichtlehre zur haftungsrechtlichen Entlastung der Eltern in § 832 BGB heranziehen, müsste man die Geltendmachung des Anspruchs aus § 832 BGB durch den Geschädigten per se als rechtswidrigen Eingriff in die Grundrechte der Eltern aus Artt. 6 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG begreifen. Dieser Ansatz geht fehl. Die grundrechtlichen Positionen des Geschädigten können dabei nicht berücksichtigt werden. Des Weiteren spricht die grundrechtliche Intensität der vom BVerfG entschiedenen Fälle gegen eine Ausdehnung der grundrechtlichen Schutzpflicht auf die elterliche Haftung aus § 832 BGB; die Entscheidungen des BVerfG hatten im Wesentlichen nur das Recht auf Leben und die körperliche Unversehrtheit zum Gegenstand 297 . Diese sind mit der gegenständlichen Haftungskonstellation nicht vergleichbar. Schließlich bestimmt die grundrechtliche Schutzpflicht das rechtmäßige Vorgehen nicht im Detail. Sie stellt vielmehr eine große Anzahl verfas-
288 BVerfGE 88, 203 (254) v. 28.05.1993; Canaris, S. 39; HStR W/Isensee, § 111 Rn. 91. 289 HStR VI Isensee, § 111 Rn. 128. 290 BVerfGE 79, 174 (202) v. 30.11.1988. 291 BVerfGE 39, 1 (36 ff) v. 25.02.1975; 86, 390 (395 f) v. 04.08.1992; 88, 203 (251) v. 28.05.1993. 292 BVerfGE 46, 160 (164 f) v. 16.10.1977; 49, 24 (53 ff) v. 01.08.1978. 293 BVerfGE 49, 89 (132 ff, 141 ff) v. 08.08.1978; 53, 30 (57 ff) v. 20.12.1979; 77, 381 (402 f)v. 26.01.1988. 294 BVerfGE 56, 54 (73 ff) v. 14.01.1981. 295 BVerfG NJW 1987, 2287 v. 28.07.1987. 296 BVerfG NJW 1999, 3399 (3401 f) v. 11.08.1999. 297 HStR VIlsensee, § 111 Rn. 86.
3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
420
sungsmäßiger Alternativen zur Verfügung, was ebenfalls der hier konkret angestrebten Haftungskorrektur zugunsten der Eltern entgegensteht.
3. Die Grundsätze des Deliktsrechts a) Die Grundlagen Haftpflichtrecht oder Haftungsrecht ist Unfallschadensrecht, welches das Deliktsrecht einschließt. Die diesbezügliche Terminologie im Schrifttum variiert. Unter Unfallschadensrecht werden alle außervertraglichen Rechtsnormen verstanden, die dem Individualausgleich zwischen Unfallbeteiligten dienen. Der Begriff Haftpflichtrecht umfasst daher auch die deliktische Verschuldenshaftung 298 . Über den Zustand des Haftungsrechts gehen die Meinungen auseinander. Brüggemeier (1999) sieht es in einer schlechten Verfassung 299; M. Fuchs (2001) hält diese Aussage hingegen für wenig begründet 300. Die allgemeine Bedeutung der Schadensersatzpflicht aus unerlaubten Handlungen sahen die Gesetzesverfasser in der Aufgabe, die Rechtskreise der Einzelnen voneinander abzugrenzen, innerhalb derer sie ihre individuelle Freiheit entfalten und ihre Interessen verfolgen dürfen. Dabei seien die Rechtskreise in der Weise voneinander abgegrenzt, dass das Gesetz dem einen im Interesse eines anderen gewisse Pflichten auferlege, ihm ein bestimmtes Verhalten gebiete oder verbiete 301 . Das Schadensrecht, und somit das Deliktsrecht, hat die Aufgabe den Ausgleich für eingetretene Schäden und Beeinträchtigungen, also deren ganze oder teilweise Überwälzung auf einen anderen zu leisten. Darin ist spiegelbildlich die ganze oder teilweise Negation des Ersatzes mit inbegriffen, d. h. die Grenzen der Überwälzung und damit die Bestimmung, was dem Geschädigten als Lebensrisiko zu tragen bleibt . Das Unfallrecht entscheidet deshalb nicht nur über die Gewährung, sondern genauso über die Versagung von Ersatzansprüchen 303. Die Haftung bewirkt einen sekundären Rechtsgüterschutz und ist damit Bullinger zufolge ein wesentliches Element der Verfassungsordnung 304 . Die Gesetzesverfasser haben sich dabei bei den §§ 823 ff BGB - mit Ausnahme von § 833 S. 2 BGB - für das Verschuldensprinzip entschieden. Das 298 299 300 301
Brüggemeier, Deliktsrecht, S. 43. Brüggemeier, Haftungsrecht, S. 1. M.Fuchs, S. 8. Mugdan II, S. 1073.
302
Leser, AcP 183 (1983), 568 (569).
303
Kötz/Wagner,
304
Rn. 37.
Bullinger, FS v. Caemmerer, S. 297 (299).
§ 2 Der eigene Reformorschlag
421
Verschuldensprinzip beinhaltet nach Deutsch die folgende Grundwertung: Im Widerstreit der Interessen an der Erhaltung der Rechtsposition und an der Freiheit zum Handeln werde die Handlungsfreiheit bevorzugt. Sie sei zum Entstehen menschlicher und sachlicher Werte erforderlich. Es sei die Bevorzugung des Werdenden vor dem Bestehenden. Der Freiheit bedürfe der Mensch zur Entfaltung seiner Persönlichkeit, besonders zur Ausübung seines Berufs. Einen besonderen Bewegungsraum benötige der junge Mensch zu seiner Entwicklung. Die Bevorzugung der Freiheit erfolge auch nicht einseitig. Denn was einer Person auf der Güterseite genommen werde, sei ihr auf der Handlungsseite zurückzugeben. Die Bewegungsfreiheit werde aber nur in einem gewissen Rahmen anerkannt, den man als Spielraum bezeichnen könne. Wer sich innerhalb des Spielraumes halte, sei von Repressalien, insbesondere von Ausgleichsverpflichtungen, freigestellt 305 . Das Schuldprinzip hat demnach weniger eine moralische als eine gesellschaftliche Funktion; denn der Gedanke, dass man nur für verbotenes und subjektiv zurechenbares Handeln haftet, entspricht dem Prinzip der allgemeinen Handlungsfreiheit 306 . Im Deliktsrecht besteht demzufolge ein Spannungsverhältnis zwischen Güterschutz und Handlungsfreiheit. So wünschenswert es aus der Sicht des Geschädigten ist, dass der Schädiger ihm den erlittenen Schaden zu ersetzen hat, so massiv kann dadurch dessen persönlicher und wirtschaftlicher Entfaltungsspielraum eingeschränkt werden. Die Unsicherheiten, welche mit der Abschätzung des Haftungsrisikos verbunden sind, können den Bürger auch von solchen Aktivitäten abhalten, die rechtmäßig oder sogar sozial erwünscht sind 307 . Integritätsschutz und Handlungsfreiheit sind aber keine dualistischen Gegensätze, sondern wechselbezüglich aufeinander bezogene Pole der Persönlichkeitsentfaltung, die in den Deliktstatbeständen aneinander zu entwickeln sind 308 . Nach den Worten von Weyers findet in der Arena des Deliktsrechts der Kampf um die rechtliche Anerkennung und den Schutz bestimmter Lebensgüter und Aktionsfreiräume statt. Die Herausforderung der Zeit liege nicht in angemessener Bewältigung von Massenproblemen, sondern in der Aufstellung und Aufrechterhaltung von Spielregeln allgemein gesellschaftlichen Handelns 309 . Eine Grundaufgabe - und zugleich ein Grunddilemma - des Schadensersatzrechts besteht somit darin, einen vernünftigen Kompromiss zwischen dem Ausgleichs» und Präventionsinteresse des Geschädigten einerseits und der Handlungsfreiheit andererseits zu finden. Der Trend der Zeit ist nach Ansicht von
305 306 307
Deutsch, Fahrlässigkeit, S. 69. MünchKomm/Mertens, Vor §§ 823-853 Rn. 46. Ldienz/Canaris, Schuldrecht, § 75 I 1.
308
RGRKJSteffen,
309
Esser/Weyers,
Vor § 823 Rn. 7.
§ 53 2 b.
422
3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
Canaris (1987) auf eine Überbetonung des ersteren gerichtet 310 . Auch nach Meinung von M. Fuchs haben sich die Gewichte mittlerweile in diese Richtung verschoben 311 . Schiemann stellt ebenfalls einen Anschauungswechsel zu Lasten der individuellen Bewegungsfreiheit fest. Die Zivilrechtsordnung orientiere sich zunehmend an den Opfern und Geschädigten, was dem Handelnden auch zumutbar sei, weil die Risiken durch erschwinglichen Haftpflichtversicherungsschutz weitgehend pulverisiert werden könnten 312 . Der Hauptzweck des Haftungsrechts richtet sich auf die Schadensabnahme durch die Überwälzung der Risikozuständigkeit auf den Täter. Ausgangspunkt der Schadenshaftung ist, dass der eingetretene Schaden zwangsläufig einem Zuständigen auferlegt wird. Macht man nicht den Täter haftbar, so muss der Verletzte den Schaden tragen. Da aber die Sympathie mit dem Opfer im Allgemeinen größer ist als die mit dem Täter, geht die Tendenz in Richtung der Schadensabnahme durch den Täter 313 . Der Schadensausgleich hat außer der individuellen Funktion der tatsächlichen oder wirtschaftlichen Herstellung eines bestimmten Zustands als Wiederherstellung des gestörten Friedens stets auch eine gesellschaftliche Zeichenfunktion. Er bekräftigt, dass der Einzelne sich auf den Schutz des Rechts verlassen kann 314 . Nach Ansicht von Bullinger erfordert die verfassungsrechtliche Eigentumsgarantie, dass nach bürgerlichem Recht deliktische Eingriffe in Vermögenswerte Rechte grundsätzlich zu einer Haftung fuhren. Die Haftung hat deshalb den Sinn, demjenigen, der eine Freiheit zu persönlichem Handeln in Anspruch nimmt, auch die Kosten anzulasten, die Dritten daraus entstehen. Sie erweist sich damit als verfassungsrechtliches Korrelat der Handlungsfreiheit 315 . Weiterer Zweck der Verschuldenshaftung ist die Prävention. Durch eine vortatliche Maßnahme kann versucht werden, den Eingriff in die Rechtsgüter eines anderen zu verhindern. Die nachtatliche Vergeltung zielt darauf ab, künftigen Eingriffen vorzubeugen 316 . Die Prävention hat die rechtliche Funktion, einen finanziellen Anreiz dafür zu schaffen, dass Schäden möglichst vermieden werden. Die Präventionsfunktion soll potentielle Schädiger dazu veranlassen, ihre individuelle Sorgfalt zu steigern, um nicht die finanziellen Folgen einer schuldhaften Schädigung tragen zu müssen. Aus diesem Grund wäre es nach Auffassung von Bullinger auch verfassungsrechtlich bedenklich, die Individualhaftung durch eine Kollektivhaftung zu ersetzen, ohne durch geeignete Vorkeh310
Canaris, JZ 1987, 993 (995).
311
M. Fuchs, S. 4. Ermim/Schiemann,
312
313 314 315 3,6
§ 823 Rn. 11.
Deutsch, Haftungsrecht, S. 69. MünchKomm/Mertens, Vor §§ 823-853 Rn. 42. Bullinger, FS v. Caemmerer, S. 297 (299, 301 f). Deutsch, Haftungsrecht, S. 71.
§ 2 Der eigene Reformorschlag
423
rungen den Einzelnen das finanzielle Risiko seines Verhaltens spürbar bleiben zu lassen317. In der Staffelung der Zwecke der Haftungsrechts steht die Schadensabnahme vor der Prävention. Die Schadensabnahme ist erstes und hauptsächliches Ziel der Haftung; die Prävention erscheint hingegen nur als nachgeordneter Zweck. Denn der Schaden soll stets abgenommen werden, auf die Vermeidung künftiger Schäden soll nur nach Möglichkeit hingewirkt werden 318 . Für die Zweckstaffelung „Schadensabnahme vor Prävention" sprechen nach Ansicht von Deutsch die Grundregelung und viele Einzelregelungen des Haftungsrechts. So ließe sich die Haftung aus der Schadenszufügung durch einen Dritten, wie den Aufsichtsbedürftigen, unter Umkehr der Beweislast nur daraus erklären, dass der Schadensübernahme der Vorrang gebührt. Es bleibe aber unsicher, inwieweit der Verpflichtete den Dritten zur künftigen Schadensvermeidung anzuhalten vermag; die Zuweisung des Unaufklärbarkeitsrisikos habe mit der Prävention vollends nichts zu tun. Weiterhin gibt Deutsch zu bedenken, dass der Schadensabnahme und Prävention Grenzen gesetzt sind, die ihrerseits zweckbestimmt seien. Dem Zweck, den Schaden zu übernehmen, entspreche der Gegenzweck, das Haftungsrisiko überschaubar und kontrollierbar, kurz gesagt, nicht erdrückend zu machen 319 . Larenz bezeichnet die Prävention als ein in vielen Fällen erwünschtes Nebenprodukt der Schadensersatzpflicht; das tragende Prinzip des Schadensersatzrechts sei sie jedoch nicht. Was als Schadensersatz geschuldet werde, richte sich nicht nach dem Präventionsprinzip, sondern nach dem Ausgleichsgedanken320. Dennoch spielt die Prävention nach Auffassung von Canaris eine wesentliche und legitime Rolle im Recht der unerlaubten Handlungen321. Und Bullinger warnt vor einem Funktionsverlust der Präventionsfunktion der Haftung. In dem Maße, in dem das Schadensrisiko nicht dem Schädiger angelastet, sondern unter dem Leitbild einer angemessenen Risikoverteilung dem Geschädigten als Lebensrisiko belassen werde, werde die Präventivfunktion abgeschwächt322. Eher kritisch sehen dagegen Kötz/Wagner die Präventivfunktion. Wer menschliches Verhalten durch haftungsrechtlich vermittelte Anreize steuern wolle, setze voraus, dass der Mensch tatsächlich sein Verhalten, insbesondere Umfang und Intensität seiner auf Unfallverhütung zielenden Anstrengungen, an ökonomischen Vor- und Nachteilen orientiert. Kötz/Wagner halten es für zweifelhaft, ob diese Annahme zutrifft, ob also jemand wirklich eine geplante Tätigkeit deshalb mit gesteigerter Sorgfalt aus-
317 3,8 319 320
321 322
Bullinger, FS v. Caemmerer, S. 297 (303). Deutsch, Haftungsrecht, S. 73. Deutsch, JZ 1971, 244 (246 f). Larenz, § 27 I.
Larenz/Canaris, Schuldrecht, § 75 I 2 i. Bullinger, FS v. Caemmerer, S. 297 (307).
424
3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
führt, weil er anderenfalls ökonomische Sanktionen zu befürchten hat. Zu bedenken sei dabei auch, dass der Schutz durch eine Haftpflichtversicherung heute weit verbreitet sei und dass infolgedessen kaum noch ein potentieller Schädiger sich von dem Risiko voller Haftung für den von ihm angerichteten Schaden bedroht fühlen müsse323. Die Ausgestaltung und Entwicklung des Unfallhaftpflichtrechts wird mehr als viele andere Rechtsgebiete von den jeweiligen gesellschaftlichen Wertungen geprägt 324. Das Deliktsrecht ist Mertens zufolge zum Instrument der Rechtsprechung für Verteilung sozialer Risiken geworden 325 . Die Bereitschaft, Unfälle und ihre Folgen als Schicksalsschläge hinzunehmen, ist der Forderung nach hohen Sicherheitsstandards und Gefahrvermeidung gewichen 326 . Diese Mentalitätsänderung hat nach Meinung von Medicus die Grenze zwischen Unglück und Unrecht in dem Sinn verschoben, dass Schäden immer seltener als Unglück hingenommen werden. Vielmehr gelte das Funktionieren der gewöhnlichen Lebensvorgänge als so selbstverständlich, dass für etwa auftretende Störungen ein Verantwortlicher gefunden werden müsse. Deswegen erscheine ein Schaden regelmäßig als ausgleichsbedürftig, und ein Mittel dazu ist die Annahme eines ersatzpflichtigen Unrechts. Vom Standpunkt des Geschädigten sei ein solch weitgehender Schadensausgleich auch sozial erwünscht. Fasse man hingegen auch den ersatzpflichtigen Schädiger ins Auge, so gelinge bloß eine Schadensverlagerung. Was der Geschädigte erhalte, müsse dem Schädiger genommen werden. Sofern man als soziale Grundforderung die Wahrung des Lebensstandards ansehe, wirke die Schadensverlagerung durch Ersatzansprüche nur dann sozial, wenn der Schädiger den Schaden eher tragen könne als der Geschädigte. Das möge im Verhältnis zwischen Einzelpersonen zufällig sein, gelte aber keineswegs notwendig. Daher gehe die moderne Entwicklung des Schadensersatzrechts dahin, den Schaden letztlich auf eine Person abzuwälzen, die ihn ohne wesentliche Beeinträchtigung tragen könne. Das seien vor allem Versicherer 327. Rechtliche Gesichtspunkte wie Eigenverantwortlichkeit und Verwirklichung des allgemeinen Lebensrisikos dürfen nach Kürschner aber auch und gerade in einem optimal ausgestalteten Haftpflichtrecht nicht in Vergessenheit geraten 328. Stürner geht davon aus, dass zwei Grundthemen die Fortentwicklung des Schadensersatzrechts bestimmen, nämlich Freiheit und Sicherheit. Das Bewusstsein für Eigenverantwortlichkeit müsse erhalten bleiben, umgekehrt dürften Kategorien persönlichen Verschuldens nicht als argumenta-
323 324 325 326 327 328
Kötz/Wagner, Rn. 130. Wussow/Kürschner, Rn. 1. MünchKomm/M?rte>w, Vor §§ 823-853 Rn. 41. Wussow/Kürschner, Rn. 1. Medicus, Schuldrecht AT, Rn. 581 f; ders., Entwicklung, S. 13 (24). Wussow/Kürschner, Rn. 1.
§ 2 Der eigene Reformorschlag
425
tives Instrument risikoüberwälzender Absicherung missbraucht werden 329 . Für Brüggemeier (1987) ist die alltägliche Fortentwicklung des zivilen Haftungsrechts durch den sozialen Wandel unabweisbar geworden 330 . Das Haftungsrecht stelle soziales Handeln unter starke Kompetenzanforderungen. Die Zivilrechtsordnung schütze die möglicherweise Betroffenen in der legitimen Erwartung, dass man kompetent handele. Diese Erwartungshaltung betreffe jeden sozialen Akteur, so auch den Aufsichtspflichtigen nach § 832 BGB. Die haftungsrechtliche Befehlsform ließe sich nach Brüggemeier wie folgt formulieren: „Handle so, wie es der Verkehr von Dir in Deiner Rolle und Situation berechtigterweise erwarten kann. Entweder Du erfüllst diesen Kompetenz-/Sorgfaltsstandard oder erfüllst ihn nicht. Tertium non datur 331 ." Das Deliktsrecht steuert so durch Festlegung der legitimen Vertrauenserwartungen das Verhalten von potentiellen Schädigern und Opfern 332 . Es legt durch die Deliktstatbestände fest, worauf jedermann zu achten hat. Das Schuldprinzip im Deliktsrecht verträgt nach Auffassung von Mertens auch die weitgehende Entindividualisierung im Hinblick auf die Notwendigkeit, soziale Rollen zu formulieren, an die sich Vertrauenserwartungen des Verkehrs knüpfen können. Durch die Festlegung von Verkehrspflichten bestimmen Gesetzgeber und Rechtsprechung den Spielraum, beeinflussen die Kosten einer Vielzahl von Aktivitäten und legen damit zugleich das Maß an Beeinträchtigung fest, das jeder als Folge der Aktivitäten anderer klaglos hinzunehmen hat 333 . Das Deliktsrecht verarbeitet und formt infolgedessen soziale Rollen und soziale Erwartungen. Die Frage, welche Sorgfalt im Verkehr zur Vermeidung eines Haftungsrisikos einzuhalten ist, stellt stets auch ein Problem gerechter gesellschaftlicher Ordnung dar. Besondere Hervorhebung verdient, dass die Handhabung und Fortbildung dabei in ungewöhnlich weitgehendem Maße der Rechtsprechung überlassen ist 334 . Weyers zufolge hat das Haftpflichtrecht (1991) noch immer die Funktion der Regelung des Schadensersatzes unter Individuen. Es habe sie aber auf weiten Gebieten durch private und gesetzliche Versicherungen auch teilweise oder völlig verloren. Das habe zu einer Mediatisierung des Deliktsrechts geführt; nach Stand der wissenschaftlichen Diskussion sei es nach wie vor nötig, vor allem das Letztere zu betonen 335 . Mertens 336 und Schiemann 337 stimmen dieser Einschätzung Weyers zu.
329 330 331 332 333 334 335 336
Stürner, VersR 1984, 297 (307). Brüggemeier, Deliktsrecht, S. 41. Brüggemeier, Soziales Schuldrecht, S. 36. StaudingerIHager, Vorbem zu §§ 823 ff Rn. 13. MünchKomm/A/erte/is, Vor §§ 823-853 Rn. 46. MünchKomm/A/erteJw, Vor §§ 823-853 Rn. 48, 52. Esser¡Weyers, § 53 4. MünchKomm/M?rte>w, Vor §§ 823-853 Rn. 14, 45.
426
3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
b) Die Grundsätze des Deliktsrechts und § 832 BGB ad) Das Spannungsverhältnis in § 832 BGB Das dem § 832 BGB zugrunde liegende Spannungsverhältnis hat Boscher bereits 1964 zutreffend umrissen. Letztlich müsse zwischen zwei schutzwürdigen Interessen abgewogen werden. Jedes Glied der Familie und die Familie in ihrer Gesamtheit habe das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Dieses Recht wäre unzulässig beschnitten, wenn man die Eltern in Aufsichtsmaßnahmen über ihre Kinder, die sie zum Schutze Dritter zu ergreifen haben, überfordern würde. Ebenso benötige das Kind zur physischen und psychischen Entwicklung ein Mindestmaß an freier und ungehemmter - nicht hemmungsloser Bewegungsmöglichkeit und könne Schaden erleiden, wenn man es durch allzu strenge Aufsicht stetig gängeln würde. Dem entgegen stehe das Recht der Dritten, das weitestgehend Garantie für körperliche Integrität und Schutz des Eigentums fordere 338 . Deutsch hat 1969 dazu aufgerufen, sich bei der vermuteten Verschuldenshaftung der Eltern auf den Grund des Verschuldensprinzips zu besinnen. Zur Erhaltung der menschlichen Initiative werde jedem ein Spielraum freier Entfaltung zur Verfügung gestellt, innerhalb dessen er tätig werden darf, ohne für unabsehbare Schadensfolgen einstehen zu müssen. Dieser Freiheitsraum sei für Kinder naturgemäß größer als für Erwachsene. Ein Verletzter habe keinen Ersatzanspruch, solange der Täter sich im Rahmen dieses Bewegungsraumes halte. Der Verletzte habe diesen Zoll an die Gesellschaft zu leisten, da er in ihr unter gleichen Bedingungen als Kind aufgewachsen sei und häufig selbst Kinder großgezogen habe 339 . Aus Sicht von M. Fuchs (1998) hat sich die ursprüngliche Zielsetzung des § 832 BGB bereits gewandelt. Sie habe ursprünglich primär in der Gefahrenabwehr bestanden, also in dem Bemühen, im Interesse des Geschädigten Schäden durch aufsichtsbedürftige Personen zu verhindern. Dieser alleinigen Zielsetzung habe sich im Laufe der Zeit ein anderes Anliegen entgegengestellt. Dieses trachte nach einer stärkeren Berücksichtigung der Freiräume aufsichtsbedürftiger Personen, insbesondere von Kindern, und der Respektierung dieser Freiräume durch die aufsichtspflichtigen Eltern. Das dem Deliktsrecht insgesamt innewohnende Spannungsverhältnis zwischen Rechtsgüterschutz und Handlungsfreiheit komme bei § 832 BGB in einer Kollision der Interessen der Allgemeinheit an der Abwehr von Schäden einerseits und der Kinder an der Möglichkeit zu Entfaltung und Entwicklung andererseits zum Tragen 340 .
337
Exman!Schiemann, Vor § 823 Rn. 10.
338
Boscher, VersR 1964, 888 (889). Deutsch, JZ 1969, 233 (234).
339 340
M. Fuchs, NZV 1998, 7 (8).
§ 2 Der eigene Reformorschlag
427
Diametral entgegengesetzt argumentieren Kötz/Wagner. Vom Standpunkt des Geschädigten aus mache es keinen Unterschied, ob der Schaden von einem Kind, einem Jugendlichen oder einem Erwachsenen verursacht worden sei. Auch was die Haftung des Aufsichtspflichtigen anbelange, liege - vom Geschädigten aus gesehen - kein Grund vor, diese nach wesentlich anderen Grundsätzen zu ordnen, wie sie generell im Bereich der Verantwortlichkeit für das Verhalten Dritter gelten 341 . Der Ausgleichsgedanke in § 832 BGB orientiert sich bisher fast ausschließlich am Interesse des Geschädigten, nicht an der Situation der ersatzpflichtigen Eltern. Durch eine strenge Haftung der Eltern aus § 832 BGB werden deren verfassungsrechtlich geschützte Positionen, insbesondere der besondere Schutz der Familie aus Art. 6 Abs. 1 GG, entwertet. Denn die Ausübung dieser Grundrechte wird mit der Schadensersatzpflicht aus § 832 BGB belastet, insbesondere bei der einseitigen Risikozuweisung von Teilen der Rechtsprechung, aber auch bei leicht fahrlässigen Augenblicks versehen. Hingegen ist auch nicht mit den grundrechtlichen Positionen der Eltern aus Artt. 2 Abs. 1, 6 Abs. 1 GG zu rechtfertigen, dass diese die Kosten ihrer Lebens- und Familiengestaltung unverhältnismäßig auf Dritte abwälzen. Es stellt sich die Frage, ob es die Ausgleichs» und Präventionsfiinktion erfordern, die Eltern schon für ein Augenblicksversehen haften zu lassen. Dies ist zu verneinen. Das Deliktsrecht ist anpassungsfähig. Entscheidend ist, in welche Richtung man seine Steuerungsfunktion instrumentalisiert. Die aufgezeigten gewichtigen Gründe sprechen dafür, die haftungsrechtliche Position der Eltern als potentielle Schädiger zu stärken. Dabei ist erneut darauf zu verweisen, dass dem Haftungsrisiko der Eltern kein ihnen zufließender (materieller) Vorteil als Korrelat gegenübersteht.
bb) § 832 BGB und das Argument der Versicherungsmöglichkeit Die Verbreitung der Privathaftpflichtversicherungen steht einer milderen Elternhaftung nicht entgegen. Immerhin sind noch ca. ein Drittel der Familien ohne Haftpflichtversicherungsschutz. Häufig ist von der Überlagerung der § 832 BGB-Konstellation durch die hinter den beteiligten Verfahrensparteien stehenden Versicherungen die Rede. In vielen Urteilen zu § 832 BGB ist aber nicht ersichtlich, ob eine Versicherung hinter den Eltern stand. Manche von den Gerichten geforderten Aufsichtsmaßnahmen lassen sich jedoch nur mit diesem Umstand erklären, so beispielsweise im Urteil des OLG Düsseldorf v. 18.07.1997, wo die Eltern Versicherungsschutz besaßen342.
341
Kötz/Wagner,
342
OLG Düsseldorf VersR 1998, 721 v. 18.07.1997 (vgl. 1. Teil § 3 I 4 a, b).
Rn. 314.
428
3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
Bei der Haftpflichtversicherung ist der Versicherer verpflichtet, dem Versicherungsnehmer die Leistung zu ersetzen, die dieser auf Grund seiner Verantwortlichkeit für eine während der Versicherungszeit eintretende Tatsache an einen Dritten zu bewirken hat, § 149 VVG. Dementsprechend gilt als Grundsatz, der bisweilen auch als Trennungsprinzip oder -grundsatz bezeichnet wird, dass sich die Haftpflichtversicherung nach der Haftung richtet und nicht die Haftung nach der Haftpflichtversicherung 343 . Die Rechtsprechung hat die Berücksichtigung des Haftpflichtversicherungsschutzes als anspruchsbegründenden Umstand nie ausdrücklich eingestanden344; sie hat mehrfach im Rahmen der Billigkeitshaftung nach § 829 BGB das Bestehen des Versicherungsschutzes als haftungsbegründenden Umstand abgelehnt 345 . Vom Schrifttum wird die Judikatur, welche auch ausdrücklich Ausnahmen von dem oben genannten Grundsatz macht 346 , jedoch anders beurteilt. Großfeld konstatiert 1974, dass Gerichte - in der Beratung leichter als im Urteil ausgesprochen - dazu neigen, eine Haftung eher zu bejahen, wenn der Täter versichert ist 347 . Canaris sieht 1994 das „Schielen" auf den Versicherungsschutz im Recht der Verkehrspflichten de facto - zumindest unterschwellig - weit verbreitet, was ein Skandal sei 348 . Nach Meinung von Looschelders (1996) sind viele Richter im Einzelfall eher geneigt, die Voraussetzungen eines haftungsbegründenden Tatbestands zu bejahen, wenn sie wissen, dass der Schädiger haftpflichtversichert ist 349 . Deutsch (1995) zufolge hat die mit einer erwarteten Haftpflichtversicherung versehene Haftung dazu geführt, dass die Gerichte eher verurteilen 350 . Das Bestehen der Versicherung beeinflusse irgendwie die Haftung; das Trennungsprinzip sei nicht mehr gänzlich durchführbar 351 . Die Verbreitung freiwilliger Haftpflichtversicherungen, wie beispielsweise im Haushalt, habe die Erwartung steigen lassen, einen solventen Schuldner zu erhalten. Nach strengen Haftungsregeln werde deshalb heute (1996) nur der Prozess entschieden, dessen Ausgang auf beiden Seiten nicht weh tun kann, nämlich der zwischen zwei größeren Einheiten wie Haftpflichtversicherungen 352 . Baumann hält 1998 den mün343 Berliner Kommentar/£awmaw?, Vorbem §§ 149-158k Rn. 40; Prölss/Fo//, § 149 Rn. 39. 344 v. Bar, AcP 181 (1981), 289 f, 325; Deutsch, Fahrlässigkeit, S. 481 f; Kötz/Wagner, Rn. 140. 345 BGHZ 76, 279 (283 ff) (= VersR 1980, 625 [626 f]) v. 18.12.1979; BGH NJW 1958, 1630 (1631) v. 13.06.1958; VersR 1992, 437 (439) v. 03.12.1991; 1995, 96 (97 f) v. 11.10.1994. 346 Prölss/Fo/7, § 149 Rn. 40 ff. 347 Großfeld, VW 1974, 693 (696). 348 Larenz/Canaris, Schuldrecht, § 76 III 4 g. 349 Looschelders, VersR 1996, 529 (537). 350 Deutsch, Fahrlässigkeit, S. 481. 351 Deutsch, Versicherungsvertragsrecht, Rn. 142. 352 Deutsch, Allgemeines Haftungsrecht, Rn. 745.
§ 2 Der eigene Reformorschlag
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digen Bürger weithin gehalten, eine Haftpflichtversicherung abzuschließen. Die richterliche Ausdehnung der Haftpflicht sei zum Teil aus dieser Erwartung motiviert 353 . Nach Auffassung von Kötz/Wagner (2001) sollte das Versicherungsargument zu Lasten des Beklagten jedenfalls dort keine Rolle spielen, wo der Kläger ebenfalls leichten Zugang zu Versicherungsschutz hat 354 . Das LG Berlin lehnte es in einem Urteil v. 29.04.1966 ab, aus dem Abschluss einer Haftpflichtversicherung den Schluss zu ziehen, bei der fast 7jährigen Tochter der Beklagten seien die üblichen Aufsichtsmaßnahmen unzureichend gewesen355. Lorenz sieht 1980 die Gerichte der Versuchung ausgesetzt, das Verschulden der Aufsichtspflichtigen i. S. d. § 832 BGB allzu großzügig zu bejahen, wenn diese Versicherungsschutz genießen356. 1983 begann die Rechtsprechung zu § 832 BGB damit zu argumentieren, dass das von Kindern ausgehende Schadensrisiko für die Eltern in zumutbarer Weise versicherbar sei 357 . Daran anknüpfend verwiesen die Gerichte die Eltern immer wieder auf die Möglichkeit, sich entsprechend zu versichern 358. Die Verwendung dieser Formulierung zog aber nicht immer die Haftung der Eltern aus § 832 BGB nach sich 359 . Nach Auffassung von A. Fuchs ist die Rechtsprechung nicht gehindert, die Haftung zu verschärfen, weil ein Haftpflichtversicherungsschutz für die Eltern zumutbar sei. Das Zivilgericht habe abzuwägen, wann ein solcher Versicherungsschutz zumutbar war und vom Rechtsverkehr erwartet werden durfte. Jedoch dürfe diese Abwägung entgegen der bisherigen Rechtsprechung 353
Berliner Kommentar/Äawma««, Vorbem §§ 149-158k Rn. 52.
354
Kötz/Wagner,
355
Rn. 140.
LG Berlin VersR 1967, 237 v. 29.04.1966. 356 Lorenz, VersR 1980, 697 (699 f). 357 BGH LM Nr. 13 zu § 832 BGB (=NJW 1983,2821 f) v. 17.05.1983. 358 BGH LM Nr. 16 zu § 832 BGB (= NJW-RR 1987, 13 [14]) v. 01.07.1986; OLG Düsseldorf VersR 1992, 310 (311) v. 23.11.1990; BGH LM Nr. 19 zu § 832 BGB (= NJW 1993, 1003) v. 19.01.1993; OLG Oldenburg FamRZ 1994, 833 (834) v. 19.10.1993; OLG Koblenz r+s 1995, 413 (414) v. 01.06.1994; OLG Hamm NJW-RR 1996, 153 v. 13.01.1995; BGH LM Nr. 20 zu § 832 BGB (= NJW 1995, 3385 [3386]) v. 10.10.1995; LM Nr. 21 zu § 832 BGB (=NJW 1996, 1404) v. 27.02.1996; LG Lüneburg VersR 1999, 102 v. 09.01.1997; vgl. 2. Teil § 4 IV 1 a. 359 Klageabweisung: BGH LM Nr. 19 zu § 832 BGB (= NJW 1993, 1003) v. 19.01.1993. Aufhebung und Zurückverweisung zu Gunsten der Eltern: BGH LM Nr. 16 zu § 832 BGB (= NJW-RR 1987, 13) v. 01.07.1986. Aufhebung und Zurückverweisung zu Lasten der Eltern: BGH LM Nr. 20 zu § 832 BGB (= NJW 1995, 3385) v. 10.10.1995. Stattgabe der Klage des Geschädigten: BGH LM Nr. 13 zu § 832 BGB (= NJW 1983, 2821) v. 17.05.1983; OLG Düsseldorf VersR 1992, 310 v. 23.11.1990; OLG Oldenburg FamRZ 1994, 833 v. 19.10.1993; OLG Koblenz i+s 1995, 413 v. 01.06.1994; OLG Hamm NJW-RR 1996, 153 v. 13.01.1995; BGH LM Nr. 21 zu § 832 BGB (= NJW 1996, 1404) v. 27.02.1996; LG Lüneburg VersR 1999, 102 v. 09.01.1997.
430
3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
(1995) nicht einseitig zu Lasten der Eltern gehen. Auch auf Seiten des Geschädigten müsse die Möglichkeit und Zumutbarkeit einer Versicherung künftig berücksichtigt werden 360 . Schoof (1999) tritt hingegen dafür ein, am Trennungsprinzip des § 149 VVG im Rahmen des § 832 BGB festzuhalten. Die Berücksichtigung der Haftpflichtversicherung bei der Bestimmung des Aufsichtsmaßes vermenge in unzulässiger Weise die nach streng dogmatisch-juristischen Maßstäben zu bestimmende Frage der Haftungsbegründung mit dem Ziel, dem Geschädigten einen Ersatzanspruch zuzugestehen361. Der Ansicht von Schoof ist beizupflichten. Das Versicherungsargument geht dogmatisch fehl, weil ein bestehender Versicherungsschutz erst dann wirksam werden kann, wenn die Eltern selbst nach materiellem Recht haften. Denn das Deliktsrecht baut auf dem Vorwurf der schuldhaften Pflichtverletzung auf, deren Tatbestand nach den Worten von Canaris schon aus Gründen simpler Logik nicht deshalb bejaht werden kann, weil der Betroffene sich gegen die Folgen hätte versichern können. Es sei geradezu ein Münchhausen-Trick, die Anforderungen an Verhaltenspflichten zu verschärfen, nur weil die Konsequenzen ihrer Verletzung im Versicherungswege abgewälzt werden könnten 362 . Die bei § 832 BGB anzutreffende Vorgehensweise der Gerichte, die Eltern ausdrücklich auf die Versicherungsmöglichkeit zu verweisen, erscheint in diesem Lichte mehr als zweifelhaft. Denn die Versicherbarkeit des Schadensrisikos Kind ist kein Haftungsgrund. Die Haftpflichtversicherung dient dazu, das Vermögen des schädigenden Versicherten durch Rechtsschutz gegen eine drohende Haftpflicht und Befreiung von einer festgestellten Haftpflicht zu bewahren. Mit dieser Funktion ist es unvereinbar, dass der Haftpflichtversicherungsschutz die Haftpflichtansprüche gegen den Versicherten, die er abwenden soll, erst begründet. Die Haftpflichtversicherung muss deswegen bei der Beurteilung der gegen die Versicherten gerichteten Haftpflichtansprüche völlig außer Betracht bleiben. Sie begünstigt den Geschädigten nicht bei der Begründung, sondern nur bei der Durchsetzung seines Anspruchs 363 . Die Berücksichtigung des Haftpflichtversicherungsschutzes der Eltern bei der Bestimmung des gebotenen Aufsichtsmaßes verstößt infolgedessen gegen die Funktion der Haftpflichtversicherung, so z. B. in den Urteilen des OLG Düsseldorf v. 18.07.1997 und v. 26.02.1999 364 . Denn die Versicherung folgt der Haftung, nicht die Haftung der Versicherung. § 832 BGB regelt damit - zum Teil - weiter den Schadensersatz unter Individuen.
360
A.Fuchs, S. 320 f. Schoof, S. 135 f. 362 LarenzJCanaris, Schuldrecht, § 76 III 4 g. 363 Lorenz, VersR 1980, 697 (700); zustimmend Haberstroh, VersR 2000, 806 (812). 364 OLG Düsseldorf VersR 1998, 721 v. 18.07.1997; FamRZ 2000, 438 v. 26.02.1999 (vgl. 1. Teil § 3 I 4 a, b). 361
§ 2 Der eigene Reformorschlag
431
Abschließend sei auf eine Besonderheit aus der Versicherungspraxis verwiesen. Dengler beschreibt aus Sicht der Versicherer die Situation, wenn ein Kind Freunde oder Bekannte seiner Eltern schädigt. Danach bringen die Eltern als Versicherungsnehmer in dieser Schadenskonstellation nicht von sich Entlastungsgründe vor, anders als bei der Schädigung von Fremden. Vielmehr wollten die Eltern in diesem Fall, dass ihre Versicherung ohne lange Rechtsprüfung zahle. Aus rein rechtlichen Erwägungen müsste deshalb die Versicherung zur Abwehr unberechtigter Forderungen durch eigene Recherchen den Entlastungsbeweis erbringen. In der Praxis seien deswegen viele Versicherungsgesellschaften dazu übergangen, im Sachschadensbereich bis zu einer bestimmten Schadenshöhe im Wege der Kulanzentschädigung zu leisten, wenn die Eltern dies ausdrücklich wünschten, um den Schaden nicht aus „moralischen Gründen" aus eigener Tasche bezahlen zu müssen365.
4. Die Grundsätze der richterlichen
Rechtsfortbildung
a) Das BVerfG Die schöpferische Füllung weiter Gesetzeslücken auf der Grundlage einer richtungsweisenden Generalklausel ist nach der Rechtsprechung des BVerfG eine herkömmliche und stets bewältigte richterliche Aufgabe 366 ; die Rechtsfortbildung ist in einem modernen Staat geradezu unentbehrlich 367. Bis heute richtungsweisend für die Zulässigkeit richterlicher Rechtsfortbildung ist ein Beschluss des BVerfG v. 14.02.1973, wo es heißt: „Richterliche Tätigkeit besteht nicht nur im Erkennen und Aussprechen von Entscheidungen des Gesetzgebers. Die Aufgabe der Rechtsprechung kann es insbesondere erfordern, Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren. Der Richter muß sich dabei von Willkür freihalten; seine Entscheidung muss auf rationaler Argumentation beruhen. Es muß einsichtig gemacht werden können, daß das geschriebene Gesetz seine Funktion, ein Rechtsproblem gerecht zu lösen, nicht erfüllt. Die richterliche Entscheidung schließt dann diese Lücke nach den Maßstäben der praktischen Vernunft und ,den fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft' 368 ." Anschließend 365
366
Dengler, S.41.
BVerfGE 3, 225 (243) v. 18.12.1953; 13, 153 (164) v. 10.10.1961; 25, 167 (183) v. 29.01.1969. 367 BVerfGE 65, 182(190) v. 19.10.1983. 368 BVerfGE 34, 268 (287) v. 14.02.1973.
432
3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
verweist das BVerfG auf das Altern des BGB, welches seit über 70 Jahren in Kraft ist. Mit dem zunehmenden zeitlichen Abstand zwischen Gesetzesbefehl und richterlicher Einzelfallentscheidung wachse notwendig die Freiheit des Richters zur schöpferischen Fortbildung des Rechts. Weiter heißt es dann in einer - bereits teilweise wiedergegebenen 369 - Passage: „Die Auslegung einer Gesetzesnorm kann nicht immer auf die Dauer bei dem ihr zu ihrer Entstehungszeit beigelegten Sinn stehen bleiben. Es ist zu berücksichtigen, welche vernünftige Funktion sie im Zeitpunkt der Anwendung haben kann. Die Norm steht ständig im Kontext der sozialen Verhältnisse und der gesellschaftspolitischen Anschauungen, auf die sie wirken soll; ihr Inhalt kann und muss sich unter Umständen mit ihnen wandeln. Das gilt besonders, wenn sich zwischen Entstehung und Anwendung eines Gesetzes die Lebensverhältnisse und Rechtsanschauungen so tiefgreifend geändert haben wie in diesem Jahrhundert. Einem hiernach möglichen Konflikt der Norm mit den materiellen Gerechtigkeitsvorstellungen einer gewandelten Gesellschaft kann sich der Richter nicht mit dem Hinweis auf den unverändert gebliebenen Gesetzeswortlaut entziehen; er ist zu freierer Handhabung der Rechtsnorm gezwungen, wenn er nicht seine Aufgabe, "Recht' zu sprechen, verfehlen will. Zum anderen stoßen, wie die Erfahrung zeigt, gesetzgeberische Reformen gerade dann auf besondere Schwierigkeiten und Hemmnisse, wenn sie zu Änderungen eines der großen Gesetzgebungswerke führen sollen, die das Bild der Rechtsordnung im ganzen so prägen wie die Kodifikation des Privatrechts im Bürgerlichen Gesetzbuch370." In einem Beschluss v. 03.04.1990 knüpfte das BVerfG an die vorgenannten Ausführungen zum Wandel der sozialpolitischen und gesellschaftlichen Verhältnisse an. In dem Maße, in dem sich aufgrund solcher Wandlungen Regelungslücken bildeten, verliere das Gesetz seine Fähigkeit, für alle Fälle, auf die seine Regelung abziele, eine gerechte Lösung bereit zu halten. Die Gerichte seien daher befugt und verpflichtet zu prüfen, was unter den veränderten Umständen „Recht" i. S. d. Art. 20 Abs. 3 GG sei 371 . Das BVerfG hat aber auch klare Grenzen für die richterliche Rechtsfortbildung gezogen. Die verfassungskonforme Auslegung darf einem nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Gesetz nicht einen entgegengesetzten Sinn verleihen, den normativen Gehalt der auszulegenden Norm nicht grundlegend neu bestimmen und das gesetzgeberische Ziel in keinem wesentlichen Punkt verfehlen oder verfälschen 372. Sie findet ihre Grenze dort, wo sie mit dem Wortlaut und dem
369
Vgl. 2. Teil § 1 IV 3 d bb. BVerfGE 34, 268 (288 f) v. 14.02.1973; ebenso 96, 375 (394) v. 12.11.1997; BVerfG NJW 1998, 3357 (3358) v. 13.08.1998. 371 BVerfGE 82, 6 (12) v. 03.04.1990. 372 BVerfGE 8, 28 (34) v. 11.06.1958; 35, 263 (280) v. 19.06.1973; 54, 277 (299) v. 11.06.1980; 71, 81 (105) v. 22.10.1985. 370
§ 2 Der eigene Reformorschlag
433
klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten würde 373 . Nach einem Kammerbeschluss des BVerfG v. 22.12.1992 sind die Grenzen zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung erst dann überschritten, wenn die einschlägigen gesetzlichen Regelungen nach ihrem auslegungsfähigen und -bedürftigen Wortlaut, ihrer Systematik und ihrem erkennbaren Sinn so ausgestaltet sind, dass die von der Rechtsprechung ausgesprochene Rechtsfolge hierzu in Widerspruch gerät 374 . Dass eine Aktualisierung des Rechtzustandes durch den Richter nicht zu einer lückenlosen Neugestaltung führen kann, sondern notgedrungen ein Stückwerk bleiben muss, liegt in dem stellvertretenden Charakter dieser Form der Verwirklichung des Verfassungsauftrags; entscheidend ist, dass dadurch ein Rechtszustand erreicht wird, welcher der von der Verfassung gewollten Ordnung näher steht als der Bisherige 375 .
b) Das Schrifttum Brüggemeier (1986) zufolge ist die Aufgabe der alltäglichen Fortentwicklung des Deliktsrechts faktisch von der Legislative auf die Judikative übergewechselt, lediglich beraten von der akademischen Rechtswissenschaft und gelegentlich korrigiert durch den Gesetzgeber. Diese Funktionsverlagerung habe das BVerfG durch seine Rechtsprechung verfassungsrechtlich legitimiert. Die Präzisierung und Formulierung der deliktischen Verkehrspflichten sei somit primär die Aufgabe der Rechtsprechung 376. Nach den Worten von Kötz/Wagner (2001) ist das moderne Deliktsrecht über weite Strecken Richterrecht reinsten Wassers 377. Und Weitnauer hat am Beispiel der Rechtsprechung zur Eigentumsverletzung in § 823 Abs. 1 BGB und zur Naturalrestitution im Falle der Veräußerung der beschädigten Sache aufgezeigt, wie die schadensrechtliche Rechtsprechung von Fall zu Fall fortschreitend neuen Vorstellungen Raum gibt, ohne dass am geschriebenen Recht auch nur ein Jota geändert wurde 378 . Der Richter ist berechtigt, das Gesetz im Rahmen der ratio legis und der Wertentscheidungen des GG auch ohne konkreten Nachweis einer Regelungslücke auszudifferenzieren und zu ergänzen. Voraussetzung ist jedoch, dass die Rechtsordnung Wertentscheidungen, sei es auch in unvollkommener Form, für
373 374 375 376 377 378
BVerfGE 18, 97 (111) v. 30.06.1964; 59, 330 (334) v. 09.02.1982. BVerfG NJW 1993, 2734 v. 22.12.1992. BVerfGE 25, 167 (184) v. 29.01.1969. Brüggemeier, Deliktsrecht, S. 41, 128. Kötz/Wagner, V. Weitnauer, FS Heidelberg, S. 279.
434
3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
eine Rechtsfortbildung in einem bestimmten Sinne enthält 379 . Sie darf auch nur zu einer den veränderten - tatsächlichen und rechtlichen - Verhältnissen angemessenen Fortschreibung der bestehenden gesetzgeberischen Wertentscheidung führen 380 . Canaris schraubt die Anforderungen an den dazu erforderlichen Wandel der Normsituation höher als das BVerfG in seinen Urteilen. Jedes Gesetz stehe als ein historisches Faktum im Wirkungszusammenhang seiner Zeit. Jedoch könne nicht jeder Wandel der Verhältnisse sogleich eine Änderung des Norminhalts nach sich ziehen. Denn das Gesetz beanspruche Geltung für eine Vielzahl künftiger Fälle und versuche eine gewisse Konstanz in den zwischenmenschlichen Beziehungen zu gewährleisten, die ihrerseits Voraussetzung für viele, in die Zukunft gerichtete Diskussionen sind. Es entstehe vielmehr zunächst ein Spannungsverhältnis, das erst zu einer veränderten Auslegung oder richterlichen Rechtsfortbildung dränge, wenn die Unzulänglichkeit des bisherigen Gesetzesverständnisses evident geworden sei 381 . Für Säcker ist die entscheidende Fragestellung, ob der Gesetzgeber bei einem erheblichen Wandel der Normsituation - seit dem In-Kraft-Treten des BGB - die Geltung der Norm auch unter den veränderten Bedingungen noch gewollt hätte. Das Gesetz bilde in einem solchen Fall noch den logischen Rahmen für mehrere mögliche Auslegungen, gebe die richtige Auslegung aber nicht mehr vor 3 8 2 . Canaris nennt die verfassungsrechtlichen Prinzipien, die bei der Auslegung des einfachen Gesetzesrechts und bei der Konkretisierung von Generalklauseln zu beachten sind. Dazu gehören nach seiner Ansicht der Vorrang der Menschenwürde, der umfassende Schutz des persönlichen Freiheitsraumes mit seinen Konkretisierungen in Artt. 2, 4, 5, 8, 9, 11, 12 GG, der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 2, 3 GG, ferner der Rechtsstaatsgedanke mit seinen Konkretisierungen in Artt. 19 Abs. 4, 20 Abs. 3 GG sowie die parlamentarische Demokratie und der Sozialstaatsgedanke383. Die Wertentscheidung des Art. 6 Abs. 1 GG nennt Canaris dabei nicht. Hingegen wollen Bosch 384 , Jayme 385 , Belling/EberlBorges 386 und Haberstroh 387 die Wertentscheidung des Art. 6 GG bei der künftigen Anwendung von § 832 BGB berücksichtigen 388. 379 380 381 382 383 384 385 386 387 388
Palandt/Heinrichs, Einl Rn. 49. Looschelders/Roth, E II 1 b dd, S. 234. Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kap. 4 3 b, S. 171. MünchKommISäcker, Einl. AT, Rn. 134. LarenzJCanaris, Methodenlehre, Kap. 4 2 e, S. 159 f. Bosch, FamRZ 1957, 207; 1964, 85. Jayme, S. 42. Staudinger/Belling/Eberl-Borges, § 832 Rn. 177. Haberstroh, VersR 2000, 806 (812). Vgl. 2. Teil § 1 IV 3 d aa.
§ 2 Der eigene Reform Vorschlag
435
Rennert spricht sich dezidiert gegen die Rechtsprechung des BVerfG zur richterlichen Rechtsfortbildung aus Gerechtigkeitsgesichtspunkten aus. Zum Ersten bedürfe das Recht als Ausdruck des Zeitgeistes der Formulierung und damit der Fixierung; dies erfolge aber durch das Gesetz. Zum Zweiten werde der Eigenwert der Rechtssicherheit bei dieser Vorgehensweise zu gering gewichtet, während das Gesetz Gleichmäßigkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit verbürge. Zum Dritten vernachlässige die gesetzeskorrigierende Kompetenz des Richters die rechtsstaatliche und demokratische Bedeutung des Gesetzes und des Gesetzgebers. Zudem erweise sich die verfassungskonforme Auslegung in der Hand der Fachgerichte nicht selten als Vehikel richterlichen Ungehorsams gegenüber dem Gesetz389. Ähnlich argumentiert Hillgruber. Praktisch laufe die Alterungsthese des BVerfG auf eine Theorie der „Halbwertzeit" von Gesetzen hinaus, welche die Verbindlichkeit des Gesetzesbefehles untergrabe, und zeitige verheerende Auswirkungen auf die den richterlichen Gesetzesgehorsam390. Trotz solch entgegenstehender Stimmen ist auf der Basis der Verfassungsordnung des GG und der Rechtsprechung des BVerfG die Befugnis des Richters zur abändernden Rechtsfortbildung ganz überwiegend anerkannt. Die Verwirklichung der zur Gerechtigkeit verpflichtenden objektiven Wertordnung des GG bildet somit die Legitimationsgrundlage für Gesetzeskorrektu-
c) Die Grundsätze der richterlichen Rechtsfortbildung und § 832 BGB Die Voraussetzungen für eine richterliche Rechtsfortbildung dahingehend, die Eltern nicht für leicht fahrlässige Aufsichtspflichtverletzungen haften zu lassen, liegen vor. Diese Rechtsfortbildung basiert auf der Grundlage der dargestellten rechtlichen und tatsächlichen Veränderungen im Kontext von § 832 BGB. Nach dem In-Kraft-Treten von § 832 BGB am 01.01.1900 haben sich die rechtlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse im Kontext der Vorschrift derart gewandelt, dass der unveränderten Norm und der überkommenen Rechtsprechung teilweise die Berechtigung entzogen wurde. Zu einem entgegengesetzten Ergebnis kann man nur gelangen, wenn man sich an den von Canaris gestellten Anforderungen an den Wandel der Normsituation orientiert. Angesichts der aufgezeigten Entwicklungen erfüllt eine deliktische Haftung der Eltern für jede - noch so geringe - Fahrlässigkeit nicht mehr ihre Funktion. Norm und Rechtsprechung sind in der dargestellten Ausformung nicht mehr zeitgemäß. Der unbestimmte Rechtsbegriff des „Genügens der Aufsichtspflicht" -
389 390 391
Rennert, NJW 1991, 12 (17 f). Hillgruber, JZ 1996, 118 (121 ff). Looschelders/Roth, E II 2 e, S. 255, 257 Fn. 135 m. w. N.
436
3. Teil: Die Reformgedanken zu § 832 BGB
bzw. der „Aufsichtspflichtverletzung" - muss künftig unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen durch den Richter konkretisiert werden. Der Gesetzgeber hat dem Richter keinen detaillierten Entscheidungsmaßstab vorgegeben; vielmehr steht ihm mit § 832 Abs. 1 BGB ein flexibles Instrumentarium zur Verfügung. An dieser Stelle ist nochmals darauf hinzuweisen, dass ein Verhalten des Kindes, welches auf seinen mangelnden Respekt vor den Rechtsgütern anderer schließen lässt, eine Haftungserleichterung der Eltern ausschließt. Eine Vernachlässigung der Aufsichts- und Erziehungspflichten darf und wird mit diesem Reformvorschlag weder toleriert noch honoriert werden. Es besteht aber keine allgemeine Rechtsüberzeugung, die Eltern deliktisch zu entlasten. Das ist einzuräumen. Die Diskussion geht im rechtswissenschaftlichen Schrifttum teilweise in diese Richtung, aber auch zum Teil in Richtung einer Haftungsverschärfung 392. Und den eiterfreundlichen Urteilen des OLG Hamm 393 steht die Ansicht des OLG Celle 394 gegenüber, wonach fiir eine Absenkung der Aufsichtsanforderungen kein Anlass besteht. Daraus wird aber auch deutlich, dass ein OLG und ein erheblicher Teil des Schrifttums, darunter gewichtige Stimmen, eine Haftungserleichterung der Eltern für erstrebenswert halten. Führt man sich die besondere Hervorhebung der Familie in Art. 6 Abs. 1 GG vor Augen, so legitimieren die nachfolgenden Ausführungen des BVerfG die hier vertretene Rechtsfortbildung. Im Beschluss v. 14.02.1973 heißt es: „Ein Ergebnis aber, das auf einem zivilrechtlich zumindest diskutablen, jedenfalls den Regeln zivilrechtlicher Hermeneutik nicht offensichtlich widersprechenden Wege gewonnen wurde, kann von der Verfassung her nicht beanstandet werden, wenn es gerade der Durchsetzung und dem wirksamen Schutz eines Rechtsgutes dient, das diese Verfassung selbst als Mittelpunkt ihres Wertsystems sieht. Dieses Ergebnis ist "Recht' im Sinne des Art. 20 Abs. 3 GG - nicht im Gegensatz, sondern als Ergänzung und Weiterführung des geschriebenen Gesetzes395." Die Rechtsfortbildung verleiht § 832 BGB auch keinen entgegengesetzten Sinn, bestimmt den normativen Gehalt der auszulegenden Norm nicht grundlegend neu und verfehlt bzw. verfälscht das gesetzgeberische Ziel in keinem wesentlichen Punkt. § 832 BGB liegt der Konflikt zugrunde, wie das Schadensrisiko zwischen der Allgemeinheit und den Eltern zu verteilen ist. Normzweck des § 832 BGB ist es, dem Geschädigten zu einem Ersatzanspruch zu verhelfen. Aber § 832 BGB bezweckt auch, die Eltern nur bei Verschulden haften zu 392
Vgl. 3. Teil § 1 II. OLG Hamm MDR 2000, 454 v. 16.09.1999; MDR 2000, 1373 = NJW-RR 2002, 236 = OLGR 2000, 266 v. 09.06.2000. 394 OLG Celle FamRZ 1998, 233 v. 12.02.1997. 395 BVerfGE 34, 269 (291) v. 14.02.1973. 393
§ 2 Der eigene Reformorschlag
437
lassen. Jede Vorschrift des BGB, die einen Anspruch einräumt, will nicht nur das Interesse des Gläubigers schützen, sondern berücksichtigt auch das Interesse des Verpflichteten daran, dass sich seine Verpflichtung in Grenzen hält 396 . Die Beweislastumkehr bleibt erhalten. Nur die Zuweisung des von Kindern ausgehenden Schadensrisikos wird nachjustiert, verändert gewichtet. Sie trifft künftig trotzdem primär die Eltern. Eine auf diesem Fundament erfolgte maßvolle Haftungsreduktion verhindert, dass ein Richter seine eigene Güterabwägung an die Stelle der vom historischen Gesetzgeber vorgenommen setzt. Sie korrigiert jedoch die Haftungslage nach einem Maßstab der praktischen Vernunft.
396
Schmalz, Rn. 252.
4. Teil
Die Thesen der Arbeit Die gewonnenen Erkenntnisse der Arbeit lassen sich in folgenden Thesen zusammenfassen: 1. Die Haftung der Eltern für Aufsichtspflichtverletzungen nach § 832 BGB ist reformbedürftig. Eine Haftungsverschärfiing, insbesondere in Form einer Gefährdungshaftung, ist ebenso abzulehnen wie die Einführung einer PflichtHaftpflichtversicherung für das Schadensrisiko Kind 1 . Vielmehr müssen die Eltern maßvoll entlastet werden 2; die Haftung ist auf die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit zuzuschneiden3. Die Beweislastumkehr in § 832 Abs. 1 BGB ist beizubehalten4. 2. De lege ferenda ist in § 832 BGB ein Abs. 3 einzufügen, der die Haftung der Eltern nach beiden vorhergehenden Absätzen modifiziert 5 : (3) 'Lebt der aufsichtspflichtige Elternteil mit dem minderjährigen Aufsichtsbedürftigen in einer häuslichen Gemeinschaft, so haftet er nicht für eine 2 leicht fahrlässige Aufsichtspflichtverletzung. Die Bestimmung des Fahrlässigkeitsgrades hat unter Berücksichtigung von § 1626 Abs. 2 BGB zu erfolgen. 3. Der für Wertungen offene Tatbestand des § 832 Abs. 1 BGB ist de lege lata mittels richterlicher Rechtsfortbildung entsprechend dem zu schaffenden § 832 Abs. 3 BGB auszulegen, bis die anzustrebende Haftungserleichterung der Eltern in Gesetzesform gefasst wird. Anknüpfungspunkt dafür ist der unbestimmte Rechtsbegriff des „Genügens der Aufsichtspflicht" bzw. negativ formuliert der „Aufsichtspflichtverletzung" in § 832 Abs. 1 S. 2 F 1 BGB 6 . 4. De lege lata und de lege ferenda ist in § 832 BGB eine Dreiteilung der Fahrlässigkeit bei dem Tatbestandsmerkmal „Genügen der Aufsichtspflicht" vorzunehmen. In der niedrigsten Fahrlässigkeitsstufe, der leichten Fahrlässigkeit, werden die Eltern von der Haftung freigestellt. Sie haften künftig nicht
1 2 3 4 5 6
3. Teil § 1 III 1, 2. 3. Teil § 1 III 4, IV. 3. Teil § 2 I 3 a aa. 3. Teil § 1 III 3 d, e. 3. Teil § 2 I 1,3 a. 3. Teil § 2 I 2.
4. Teil: Die Thesen der Arbeit
439
mehr für leicht fahrlässige Aufsichtspflichtverletzungen, unabhängig von der Schadenshöhe7. Das gilt nur dann, wenn die Eltern mit ihrem Kind eine häusliche Gemeinschaft, mithin eine Familiengemeinschaft i. S. d. Art. 6 Abs. 1 GG bilden8. 5. Die Grenze zwischen leichter und normaler Fahrlässigkeit verläuft fließend; eine Abgrenzung erfolgt anhand aller Umstände des Einzelfalls. Eine leicht fahrlässige Aufsichtspflichtverletzung ist anzunehmen, wenn die Eltern in geringem Umfang von der in der konkreten Schadenssituation gebotenen Aufsicht abgewichen sind, so z. B. bei einer geringfügigen Unaufmerksamkeit, einer geringen Nachlässigkeit, einer unwesentlichen Missachtung der erforderlichen Aufsicht oder einem nachvollziehbaren Augenblicksversagen 9. Die Rechtsgüter Dritter sind durch die Eltern und das Kind zu respektieren. Infolgedessen dürfen Eltern auch in Zukunft ihre Aufsichtspflicht nicht zu Lasten Dritter vernachlässigen; eine Haftung ist in jedem Fall anzunehmen, wenn die Eltern eine bewusste oder leichtfertige Gefährdung fremder Rechtsgüter durch ihr Kind zulassen oder tolerieren 10. 6. Das in § 1626 Abs. 2 BGB normierte Erziehungsziel ist bei der Bestimmung des gebotenen Aufsichtsmaßes in § 832 BGB konsequent zu berücksichtigen. Die zentralen Vorschriften der Personensorge, §§ 1626, 1631 BGB, und § 832 BGB sind eng miteinander verzahnt 11. Die Umsetzung des Regelungsgehaltes der familienrechtlichen Vorschrift führt bei der Subsumtion zu tatsächlich erfüllbaren Anforderungen an die Aufsichtspflicht, welche von verständigen Eltern nachvollzogen werden können. 7. Die seit 1983 anzutreffende Vorgehensweise der Rechtsprechung, den Eltern jegliches von ihrem Kind ausgehende Schadensrisiko zuzuweisen12, ist aufzugeben. Diese unbedingte, einseitige Risikozuweisung geht unzulässigerweise über die gesetzliche Vorgabe der Risikoverteilung in Form der Beweislastumkehr hinaus, zu Lasten der Eltern 13 . Nach dem Grundgedanken von § 832 BGB sollen die Eltern das von ihrem Kind ausgehende Schadensrisiko tragen. Es ist aber nicht ihre Aufgabe, dem Geschädigten sein allgemeines Lebensrisiko abzunehmen. 8. Die Versicherbarkeit des Schadensrisikos Kind darf den Eltern nicht weiter durch die Rechtsprechung entgegengehalten werden. Denn die bloße Mög7
3. Teil §211,2. 2. Teil § 1 IV 1 b aa. 9 3. Teil § 213 abb. 10 2. Teil § 4 IV 2 a. E.; 3. Teil § 2 II 4 c. " 2 . Teil §2 III. 12 2. Teil § 4 IV 1 a. 13 2. Teil § 4 IV 2. 8
440
4. Teil: Die Thesen der Arbeit
lichkeit der Eltern, sich entsprechend zu versichern, ist kein Haftungsgrund des § 832 BGB 14 . 9. Die durch das SchadÄndG geänderte Eigenhaftung des Minderjährigen in § 828 Abs. 2 BGB hat auf das Maß der gebotenen Aufsicht in § 832 BGB keinen Einfluss, zieht infolgedessen keine Verschärfung der Elternhaftung nach sich 15 . 10. Eine maßvolle Haftungserleichterung für Eltern in § 832 BGB ist notwendig. Dogmatische Anknüpfungspunkte sind die (mittelbare) Drittwirkung der Grundrechte 16, die Haftungsgrundsätze des Deliktsrechts 17 und die Grundsätze der richterlichen Rechtsfortbildung 18. § 832 BGB ist seit seinem In-KraftTreten am 01.01.1900 unverändert geblieben; die zu ihm ergehende Rechtsprechung ist relativ konstant19. Hingegen haben sich seitdem die verfassungsrechtlichen und bürgerlich-rechtlichen Normen im Kontext der Vorschrift sowie die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die Familie tiefgreifend verändert. Die Stellung von Familie und Ehe wurde in der Verfassung stetig aufgewertet 20 . Beide Institute nehmen in Art. 6 Abs. 1 GG eine hervorgehobene Stellung ein. Im bürgerlichen Recht haben sich das Eheleitbild und die Ausgestaltung des elterlichen Sorgerechts grundlegend geändert 21. Sie spiegeln die heutigen gesellschaftlichen Anschauungen und Verhältnisse wider. Das Wohl des Kindes steht im Mittelpunkt der elterlichen Sorge. Die Lebensbedingungen der Familie haben sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert entscheidend gewandelt; sie werden heute als familien- und kinderfeindlich charakterisiert 22. Das Gesellschaftssystem sozialisiert den Nutzen der Erziehungsarbeit der Eltern zu Gunsten der Allgemeinheit und privatisiert die Kosten der Kindererziehung zu ihren Lasten. Von der Rechtsprechung zu § 832 BGB werden diese rechtlichen und gesellschaftlichen Veränderungen nur ungenügend berücksichtigt 23.
14
3. Teil § 2 II 3 b bb. 2. Teil § 3 V. 16 3. Teil § 2 II 1 c. 17 3. Teil § 2 II 3 a, b aa. 18 3. Teil § 2 II 4 c. 19 1. Teil §3; 1. Teil §5 III. 20 2. Teil § 1. 21 2. Teil § 2 I, II. 22 2. Teil § 4 I-III. 23 2. Teil § 1 IV 3 d; 2. Teil § 2 II 7, 8; 2. Teil § 4 IV 2. 15
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Sachwortverzeichnis Abwehrrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG 233 f Adäquate Verursachung des Schadens siehe unerlaubte Handlung Alleinlassen von Kindern - im Auto 168 - im öffentlichen Verkehrsraum 162 ff - in Haus und Garten 58, 165 ff Analoge Anwendung des § 832 BGB 41, 45 Anforderungen an die Aufsichtspflicht, Bewertung 198 ff Apotheke 184 Arbeitnehmerhaftung, Grundsätze 398 ff, 408 ff Aufsichtsanlass 86, 109, 374 f - besonderer 376 f, 378 f - normaler 375 ff - Vorhersehbarkeit 78 f, 379 ff Aufsichtsbedürftiger - Minderjähriger 36 f - Verletzter 62 - Volljähriger 37 Aufsichtsformel - alte 76 ff - Entwicklung 74 ff - ergänzende abstrakte Ausführungen 87 ff - Gleichbehandlung der Formeln 83 ff - neue 77 ff - Unterschiede zwischen alter und neuer 81 ff Aufsichtsmaßnahmen 93, 109 f, 206 f Aufsichtspflicht - Kriterien für die Bestimmung 86 f - mittelbare - siehe Aufsichtsübertragung Aufsichtspflichtiger - kraft Gesetzes 37 ff - kraft Vertrages 43 ff Aufsichtsübernahme, tatsächliche - siehe Aufsichtsübernahme, vertragliche Aufsichtsübernahme, vertragliche
- Anforderungen an den Vertragsschluss 47 ff - Aufsichtsübernahme, tatsächliche 48 ff - Bedeutung 43 - Entgeltlichkeit 54 - Gefälligkeit 48 ff - Indizien für rechtsgeschäftlichen Charakter 50 ff - Rechtsbindungswille 48 ff - Rechtsfolge 60 f - Stiefeltern 41, 54 f, 58 ff - stillschweigende Übernahme 47 ff - Umgangsrecht 41 ff - Wirksamkeit des Vertrages 45 ff Aufsichtsübertragung - auf nicht originär Verpflichteten 169 ff - in der Ehe 175 ff - mittelbare Aufsichtspflicht 169 ff Auswahlverschulden 169 f Bauernhof 183 Baustelle 183, 193 f Berufstätigkeit der Eltern 207, 312 ff, 326 f, 329 Bestrafungen, körperliche 272 ff Besuche bei anderen Kindern 49 ff Beweislastumkehr - Argumente für die Beibehaltung 388 f - Argumente gegen die Beibehaltung 386 ff - Aufklärungs- und Hinweispflicht 382 f - Grundgedanke 338 ff - Handhabung durch die Rechtsprechung 381 ff - hinsichtlich Kausalität 187 ff - hinsichtlich Verschulden 74, 344 ff - Reichweite 373 ff Beweisschwierigkeiten der Eltern 383 ff - Partei Vernehmung 384 f Brandschäden - Grillunfälle - siehe dort
Sachwortverzeichnis
- negativ veranlagte Kinder 129 ff - normale Kinder bis zu 10 Jahren 117 ff - normale Kinder ab 10 Jahren 128 Computer 66 Darlegungs- und Beweislast 373 f - hinsichtlich Aufsichtspflichtverletzung 374 ff - hinsichtlich Kausalität des Verhaltens des Aufsichtsbedürftigen für den Schaden 188 ff - Unvermeidbarkeit 194 f Deliktsfähigkeit des Kindes 290 ff - Auswirkungen auf § 832 BGB 302 ff - im motorisierten Verkehr 298 ff Deliktsrecht - siehe Grundlagen des eigenen Reformvorschlages Dreirad 144 f Dritter i. S. d. § 832 BGB 62 ff Ehe - siehe auch Entwicklung von Ehe und Familie - Ehebegriff in Art. 6 Abs. 1 GG 220 f - Eheleitbild im BGB 256 f - Schutz in Art. 6 Abs. 1 GG 218 ff Eigenhaftung des Minderjährigen - § 828 Abs. 2 BGB 298 ff - § 828 Abs. 2 BGB a. F. 290 ff - § 828 Abs. 3 BGB 73 - Haftungsbeschränkung durch § 1629a BGB 289 f - unbeschränkte Haftung 287 ff - verfassungsrechtlich gebotener Überschuldungsschutz 287 ff Eigenschaden, des - Aufsichtsbedürftigen 62 f - Aufsichtspflichtigen 62 f Einzelverantwortung des Aufsichtspflichtigen, Prinzip der 61, 175 ff Elterliche Gewalt 261 ff Elterliche Sorge - Adoptivkind 40 - Auswirkung der Entwicklung auf § 832 BGB 275 ff - bestehende Ehe 38 - dauerhafte Trennung 38 - Entwicklung im BGB 261 ff - Entziehung 38
455
-
Getrenntleben der Eltern 38 Hindernis bei der Ausübung 38 f keine bestehende Ehe 40 Personensorge 37 f Ruhen 40 f Scheidung 38 f Tod des alleinigen Inhabers 39 Tod eines Ehegatten 38 f Überlebender Elternteil 38 f Umgangsrecht - siehe Aufsichtsübernahme, vertragliche Elternrecht in Art. 6 Abs. 2 GG 249 ff Entäußerbarkeit der Aufsichtspflicht, fehlende 169 Entstehungsgeschichte des § 832 BGB 44 f, 186 f, 337 f Entwicklung von Ehe und Familie - Eheleitbild im BGB 255 ff - im GG 214 ff - in der Gesellschaft 312 ff - in der Verfassung bis zum GG 211 ff Erfolgsunrecht, Feststellung der Rechtswidrigkeit 68 Erschöpfung zumutbarer Aufsichtsmaßnahmen 182, 194 f Erziehung, gewaltfreie 273 f Erziehungserfolg und Aufsichtspflicht 87 ff, 282 ff Erziehungsleitbild 269, 274 f Erziehungsmaßnahmen, entwürdigende 269 f, 272 Erziehungsverschulden 281 Erziehungsziel 89 f, 269, 281 f Existenzvernichtung durch Haftung 287 ff Exkulpation der KausalitätsVermutung - aufgrund des Schutzzweckes des § 832 BGB 195 ff - Exklusivitätsverhältnis 191 f - über § 832 Abs. 1 S. 2 F 2 BGB 190 ff - Reichweite des § 832 Abs. 1 S. 2 F 2 BGB 187 ff Exzess des Aufsichtsbedürftigen 193 f Fahrerlaubnis - siehe Kraftfahrzeugfuhrer Fahrlässigkeit - leichte 396 ff - Trichometrie der 398 ff Fahrradbenutzung, Kriterien für selbstständige 146 ff
456
arverzeichnis
Fahrradfahrer - mit Begleitperson 157 ff - ohne Begleitperson 146 ff Familie - siehe auch Entwicklung von Ehe und Familie - Familienbegriff in Art. 6 Abs. 1 GG 221 ff - Familienbegriff und § 832 BGB 228 ff - Schutz in Art. 6 Abs. 1 GG 218 ff, 232 ff Familienleitbild der Rechtsprechung in § 832 BGB 31, 207, 343, 348 Feuerwerkskörper 115 f Fußgänger - mit Begleitperson 138 ff - ohne Begleitperson 134 ff Garten - siehe Alleinlassen von Kindern Gebirgswanderung 143 Geburtstagsfeier 56 f Gefährdungshaftung der Eltern - Argumente für eine 365 f - Argumente gegen eine 366 ff - Reformvorschläge für eine 357 ff - Tendenzen für eine 199 f, 209, 343 ff Gefälligkeit - siehe Aufsichtsübernahme, vertragliche Gesamtschuldverhältnis 61, 73 Geschäfte 184 f Geschwister 50, 143, 168, 170 Gesellschaftliche Verhältnisse - bei In-Kraft-Treten des § 832 BGB 312 ff - im Jahr 2003 315 ff - Ursachen für den gesellschaftlichen Wandel 318 ff Gesellschaftlicher Wandel - siehe auch gesellschaftliche Verhältnisse - und § 832 BGB 333 ff Getrenntleben der Eltern - siehe elterliche Sorge Gewaltvideo 179 f Grillunfälle 132 ff Großeltern 50 f, 57, 170 Grundgedanke des § 832 BGB 91 f, 334 ff Grundlagen des eigenen Reformvorschlages
- grundrechtliche Schutzpflichtlehre 418 ff - Grundrechtswirkung im Zivilrecht 405 ff - Grundsätze der richterlichen Rechtsfortbildung 431 ff - Grundsätze des Deliktsrechts 420 ff Gymnasiast 138 Haftpflichtversicherung - siehe Privathaftpflichtversicherung Haftungserleichterung für Eltern - Argumente für eine 391 f - Argumente gegen eine 389 f Haushaltsvorstand 58 ff Heimunterbringung 182 Hortplätze, verfügbare 328 Institutsgarantie des Art. 6 Abs. 1 GG 234 f Jagdgewehre - siehe Schusswaffen Jugendpsychiatrie, Einweisung 132 Kaufhaus 184 Kindergartenplätze, verfügbare 328 Kinderkrippenplätze, verfügbare 328 Kleiderbügel 104 Kleinkaliberwaffen - siehe Schusswaffen Kraftfahrzeugführer - mit Fahrerlaubnis 160 f - ohne Fahrerlaubnis 161 f Kriterien für die Bestimmung der Aufsichtspflicht - siehe Aufsichtspflicht Küchen 184 Luftgewehr - siehe Schusswaffen Milieuschädigung 130 f Minderjährigenhaftung - siehe Eigenhaftung Misshandlung, körperliche 272 f Normzweck des § 832 BGB 72, 195, 304 f Objektive Wertentscheidung des Art. 6 Abs. 1 GG 235 ff
Sachwortverzeichnis
- Benachteiligungsverbot 237 ff - Förderungsgebot 236 f, 246 f Parteivernehmung der Eltern - siehe Beweisschwierigkeiten der Eltern Praktikum 53, 56 f Personensorge - siehe elterliche Sorge Pfeil und Bogen 99 ff Pflicht-Haftpflichtversicherung für Kinder - Argumente für eine 368 ff - Argumente gegen eine 370 ff - Reformvorschläge für eine 359 f, 363 Privathaftpflichtversicherung - Auswirkungen auf § 832 BGB 427 ff - Kulanzentschädigung 431 - Leistungsumfang 70, 368 - Verbreitung 351 ff Psychische Beihilfe 64 f, 119 Raubmordversuch 179 Rechtsfortbildung, richterliche - siehe Grundlagen des eigenen Reformvorschlages Rechtsgutverletzung - siehe unerlaubte Handlung Rechtswidiigkeit der Schadenszufügung siehe unerlaubte Handlung Rechtswidrigkeitszusammenhang 196 Reformvorschlag, eigener - siehe auch Grundlagen des eigenen Reformvorschlages - Aufgabe der unbedingt einseitigen Risikozuweisung in § 832 BGB 343 ff, 404 - Beachtung des § 1626 Abs. 2 BGB 404 - begünstigter Personenkreis 402 ff - de lege ferenda 394 - de lege lata 395 f
- Erläuterung 396 ff - Umfang der Haftungsprivilegierung 396 ff Reformvorschläge, fremde - Beibehaltung der Haftungslage 355 f - Milderung der Haftungslage 361 ff— siehe auch Haftungserleichterung für Eltern - Verschärfung der Haftungslage 356 ff Reform Vorschläge zur Minderjährigenhaftung 296 ff - Auswirkungen auf § 832 BGB 307 ff
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Risikozuweisung, unbedingt einseitige in § 832 BGB 335 ff, 339 ff Roller 143 ff Rollschuhe 145 Schadensverursachung, zurechenbare 64 ff Schleudern 112 f Schlittenfahrt 185 Schneebälle 109 Schusswaffen - Jagdgewehre/Kleinkaliberwaffen 94 ff - Luftgewehre/Windbüchsen 96 ff Schutzpflichtlehre - siehe Grundlagen des eigenen Reform Vorschlages Schwarzfahrer - siehe Kraftfahrzeugführer, ohne Fahrerlaubnis Sonderschüler 132, 138 Sorgfaltsmaßstab in § 832 BGB - de lege ferenda 398 ff
- gegenwärtig 83 ff Spielflugzeug 102 f Spielzeugpistole 104 ff Steineweifen 113 ff Stichentscheid im Rahmen der elterlichen Gewalt 264 ff Stiefeltern - siehe Aufsichtsübernahme, vertragliche Stöcke 110 f Straftaten 179 ff, 194 f Straßenbahnhaltestelle 67 ff Thesen der Arbeit 438 ff Tiere 116 f Tod eines Elternteils - siehe elterliche Sorge, Überlebender Elternteil Überlebender Elternteil - siehe elterliche Sorge Umgangsrecht - siehe Aufsichtsübernahme, vertragliche Unerlaubte Handlung des Aufsichtsbedürftigen - adäquate Verursachung des Schaden 65 ff - Rechtsgutverletzung 64 - Rechtswidrigkeit 72 - Rechtswidrigkeit der Schadenszufügung 67 ff - Verschulden 72 f
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arverzeichnis
Unterhaltsberechnung, nacheheliche 257 ff Verhältnis des § 832 BGB zu - § 823 Abs. 1 BGB 345 f, 402 - § 828 Abs. 2 BGB 153 f, 302 ff - § 828 Abs. 3 BGB 73 - § 1626 Abs. 2 BGB 89, 277 ff, 347 ff - § 1631 Abs. 1 BGB 277 ff - § 1631 Abs. 2 BGB 283 f - Art. 6 Abs. 1 GG 242 ff - Art. 6 Abs. 2 GG 253 Verhältnisse des Aufsichtspflichtigen siehe Aufsichtsformel, alte sowie Aufsichtsformel, Gleichbehandlung der Formeln Verheirateter Minderjähriger 39 Verkehrsgerechtes Verhalten, Vertrauen auf 67 ff
Verkehrsunterricht 147 Vermutungswirkungen des § 832 BGB 74, 344 f Volljähriger - siehe Aufsichtsbedürftiger Volljährigkeit, sich nährendes Alter 36 f Vorhersehbarkeit - siehe Aufsichtsanlass Wechselbeziehung von Aufsicht und Erziehung 87 ff, 277 ff, 285 f Wertewandel der Gesellschaft - 329 ff Windbüchsen - siehe Schusswaffen Wundertüte 102 f Wurfpfeile 103 f Zuchtmittel 262, 266, 269 f Zündmittel - Besitzkontrolle 126 f - Verwahrung im Haushalt 121 ff