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German Pages 424 Year 2015
Joachim Fischer, Heike Delitz (Hg.) Die Architektur der Gesellschaft
2009-04-06 12-05-44 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02d1206914571688|(S.
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Joachim Fischer, Heike Delitz (Hg.)
Die Architektur der Gesellschaft Theorien für die Architektursoziologie
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Martin Kobe, o.T./untitled, 2005; © Jay Jopling/White Cube, London Lektorat und Satz: Heike Delitz, Joachim Fischer Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1137-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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Die ›Architektur der Gesellschaft‹. Einführung JOACHIM FISCHER/HEIKE DELITZ
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I Die Architektur der Gesellschaft im Blick soziologischer Theorien
Materielle Formen des Sozialen. Die ›Architektur der Gesellschaft‹ aus Sicht der sozialen Morphologie MARKUS SCHROER Figurationszeichen. Die ›Architektur der Gesellschaft‹ aus Sicht der Figurationssoziologie von Norbert Elias HERBERT SCHUBERT »Gebrauch und Geschmack« – Architektonisches Verhalten im Kontext der Lebensführung. Die ›Architektur der Gesellschaft‹ aus Sicht der phänomenologisch-hermeneutischen Soziologie ACHIM HAHN Gebaute Raumsymbolik. Die ›Architektur der Gesellschaft‹ aus Sicht der Institutionenanalyse MARKUS DAUSS/KARL-SIEGBERT REHBERG
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Raumerfahrung und Geschichtserkenntnis. Die ›Architektur der Gesellschaft‹ aus Sicht der historisch-soziologischen Wahrnehmungstheorie: Giedion, Benjamin, Kracauer DETLEV SCHÖTTKER Expressiver Außenhalt. Die ›Architektur der Gesellschaft‹ aus Sicht der Philosophischen Anthropologie HEIKE DELITZ Bauen, Ordnen, Abreißen im Formmodell des Sozialen. Die ›Architektur der Gesellschaft‹ aus system- und formtheoretischer Sicht DIRK BAECKER Kann Architektur leben? Die ›Architektur der Gesellschaft‹ aus Sicht der Diskursanalyse Michel Foucaults STEFAN MEISSNER »The beautiful source of suburban womanhood!« Die ›Architektur der Gesellschaft‹ aus Sicht der Gender Studies SUSANNE FRANK »Home Territories« im Alltag. Die ›Architektur der Gesellschaft‹ aus Sicht der Cultural Studies UDO GÖTTLICH Symbolische Macht und Habitus des Ortes. Die ›Architektur der Gesellschaft‹ aus Sicht der Theorie(n) sozialer Ungleichheit von Pierre Bourdieu JENS S. DANGSCHAT Materialität und Bild. Die ›Architektur der Gesellschaft‹ aus strukturierungstheoretischer Perspektive MARTINA LÖW
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II Architektursoziologie. Zur Geschichte und Perspektive einer Disziplin Architektursoziologie. Zur Geschichte einer Disziplin BERNHARD SCHÄFERS Zur Doppelpotenz der Architektursoziologie: Was bringt die Soziologie der Architektur – Was bringt die Architektur der Soziologie? JOACHIM FISCHER Autorinnen und Autoren
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Die › Architektur der Gesellschaft‹. Einführung JOACHIM FISCHER/HEIKE DELITZ
Architektur ist »omnipräsent«.1 Sie betrifft in ihrer permanenten Wahrnehmbarkeit das alltägliche Leben, umgibt die Akteure bei ihren Aktionen und Interaktionen. Unter den kulturellen Medien oder »symbolischen Formen« ist die Architektur in ihrer Dauerpräsenz und sinnlichen Dominanz allen anderen Medien voraus. Sie ist die durchdringende baukörperliche ›Gestalt‹ der Gesellschaft, die diese in ihren Generationen, Schichten, Milieus und Funktionssystemen erst sicht- und greifbar macht. Umgekehrt steht es mit der Präsenz der Architektur in der Soziologie. Zu selbstverständlich und nah schien die Architektur, zu stark geeicht die Soziologie auf die Suche nach den abstrakten Prinzipien moderner Vergesellschaftung, als dass die »Architektur der Gesellschaft« als Schlüsselthema in ihren Blick geraten wäre. Sofern die Soziologen eine globale, über ›Medien‹ vermittelte, nahezu ›virtuelle‹ Vergesellschaftung in der Gegenwart vermuten, müssen sie die hartnäckig wiederkehrenden Architekturdebatten (in den modernen Massenmedien) überraschen: der immer neue Streit um die Gestalt der Städte. Die Gesellschaft verausgabt sich in der Architektur nicht nur finanziell. Sie verausgabt – zu Beginn des 21. Jahrhunderts – auch ihre Aufmerksamkeit für den Streit um ihre konkrete gebaute Gestalt, die sich offensichtlich nicht von selbst versteht oder gleichgültig wäre. Schaut man genauer hin, taucht hinter den aktuellen Architekturdebatten der Anspruch der 1
Bernhard Schäfers: »Zur Begründung einer Architektursoziologie«, in: Soziologie 33 (2004), S. 35-48. 9
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Architekten spätestens des 20. Jahrhunderts auf, die Gesellschaft zu ordnen, sie aufzuräumen und in sie neue Lebensweisen einzuführen. In jedem Fall stellt die Architektur die Gesellschaftsdiagnose vor neue Herausforderungen: gegenwärtig im Begehren der ›Rekonstruktion‹, durch die Kathedral- und Palastarchitekturen oder ganze Stadtkerne vergangener Gesellschaften mitten in die Gegenwartsgesellschaft geraten. Das sind sachliche Hintergründe, vor denen sich derzeit eine »Architektursoziologie« bildet, die sich der Brisanz des Verhältnisses von Architektur und Gesellschaft auch in einer avancierten modernen Gesellschaft zuwendet.2 Da es sich um keine bisher etablierte soziologische Forschungsrichtung handelt, muss sie sich ihre Selbstständigkeit in der Soziologie erst erringen – auch in Auseinandersetzung mit den Subdisziplinen der Soziologie, die hätten zuständig sein können, aber keine Forschungskompetenz für die ›Architektur der Gesellschaft‹ ausgebildet haben: mit der Stadtsoziologie, der Technik- und Artefaktsoziologie, der Kultursoziologie und neuerdings der Raumsoziologie. Weder in der soziologischen Theorie noch in kultursoziologischen und gesellschaftsdiagnostischen Analysen gab es explizit architektursoziologische Forschungen und entsprechende Grundüberlegungen hinsichtlich der Relation von Architektur und Sozialem. Bereits die klassische Soziologie hat sich für die Architektur der Gesellschaft nicht sichtbar (nicht explizit und nicht systematisch) interessiert – während sich zur selben Zeit das gebaute ›Gesicht‹ ihres Forschungsobjektes (der Gesellschaft) nicht nur in quantitativer, sondern auch in qualitativer Hinsicht veränderte.3 In den 2
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Vornehmlich, aber nicht nur in der deutschsprachigen Soziologie. Vgl. Thomas Gieryn: »What Buildings do«, in: Theory and Society 31 (2002), S. 35-74; Paul Jones: The Sociology of Architecture: Constructing Identities, Liverpool: UP 2009; zum französischen Interesse das Themenheft »Sociologie et architecture: matériau pour une comparaison européenne« der Zeitschrift Espaces et Sociétés (2009). Seit 2007 existiert die Arbeitsgemeinschaft »Architektursoziologie« der Sektionen Stadt- und Regionalsoziologie sowie Kultursoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS). 2004 bildete sich die erste, von Bernhard Schäfers initiierte Gruppe »Architektursoziologie« auf einem DGS-Kongress (die Beiträge: Bernhard Schäfers: »Zur Begründung einer Architektursoziologie«; Joachim Fischer: »Die Bedeutung der Philosophischen Anthropologie für die Architektursoziologie«; Herbert Schubert: »Architektursoziologie als Empirie«; Katharina Weresch: »Der Prozess der Wohnzivilisierung – architektursoziologisch betrachtet«; Gabriele Christmann: »Architektur als Element der Stadtkultur«, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Soziale Ungleichheit – Kulturelle Unterschiede. Verhandlungen des 32. Kongresses der DGS in München 2004, Frankfurt a.M.: Campus 2006, CD, S. 3405-3462). Wolfgang Eßbach hat die Gründe für das Fehlen einer Soziologie der Dinge in der »antiästhetischen und antitechnischen Haltung« der Klassiker ge-
EINFÜHRUNG
1960ern und 1970ern gab es zwar architektursoziologische Interessen. Ihnen ging es aber vor dem Hintergrund des autogerechten, kompromisslos modernen Wiederaufbaus der deutschen Innenstädte vornehmlich um eine normative Architekturkritik; eher also um eine soziologische Belehrung der Architekten als um architektursoziologische Theorie und Gesellschaftsdiagnose.4 Vor allem hat diejenige Disziplin, die für die Berücksichtigung der Architektur prädestiniert gewesen wäre – die Stadtsoziologie – keinen systematischen Blick für die Architektur entfaltet. Seit ihrer Gründung ist für die Stadtsoziologie die Stadt »not an artifact«, sondern ein »state of mind«.5 Das Hauptthema der Stadtsoziologie war und ist die Frage der sozialen Differenzierung und Isolierung, der »Segregation« in der Großstadt. Sicherlich reagierte man auch auf neue städtebauliche Entwicklungen (wie die »Zwischenstadt«, die »europäische Stadt« oder die »Global City«); stets ging es allerdings weniger um die gebaute Materialität der Gesellschaft als um Interaktionen, Lebensstile, Vergesellschaftungsmodi in der Stadt.6 Hinzu kommt eine vorwiegend empirische, nicht theoriegeleitete Ausrichtung dieser Soziologie, die verhinderte, dass man die soziale Brisanz der Architektur erkannt hätte. Und auch gegenüber der neueren Raumsoziologie, die zunächst ohne grundieren-
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sehen: eine Haltung, die auch die Architektur aus der (bis heute geläufigen) grundbegrifflichen Fassung des Sozialen ausschließt. Wolfgang Eßbach: »Antitechnische und antiästhetische Haltungen in der soziologischen Theorie«, in: Andreas Lösch/Dominik Schrage/Dierk Spreen/Markus Stauff (Hg.), Technologien als Diskurse. Konstruktionen von Wissen, Medien und Körpern, Heidelberg: Synchron 2001, S. 123-136. Zu einem Überblick siehe Hans P. Thurn: »Architektursoziologie. Zur Situation einer interdisziplinären Forschungsrichtung in der BRD«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 24 (1972), S. 301341. In kritischer Richtung sind (stellvertretend) aktuell Werner Sewings Publikationen zu nennen. Lehrstühle für Architektursoziologie gibt es bisher nur an Architekturfakultäten (Harald Bodenschatz an der TU Berlin; Barbara Zibell an der Universität Hannover). Ein erstes Lehrbuch: Bernhard Schäfers: Architektursoziologie. Grundlagen – Epochen - Themen (2003), 2., durchges. Aufl. Wiesbaden: VS 2006. Eine erste Bibliografie: Katharina Weresch: Bibliographie zur Architektursoziologie. Mit ausgewählten Beiträgen, Frankfurt a.M.: Lang 1993. Eine erste Disziplingeschichte: der Beitrag von Bernhard Schäfers in diesem Band. Morris Janowitz: »Introduction«, in: Robert E. Park/Ernest W. Burgess/ Roderick D. McKenzie, The City, Chicago: UP 1925, vii-x, ix; Robert E. Park: »The City. Suggestions for the Investigation of Human Behaviour in the Urban Environment« (1915), ebd., S. 1-46, 1. Aktuell ist in der Stadtsoziologie eine Berücksichtigung der »Materialität« zu beobachten: Helmut Berking/Martina Löw (Hg.): Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege für die Stadtforschung, Frankfurt a.M./New York: Campus 2008. 11
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den Architekturbezug auszukommen scheint, ist die Architektursoziologie ein anderer Akzent, eine Zuspitzung: sie könnte gleichsam das Kristall bilden, durch das raumsoziologische Reflexionen leuchten und sich gesellschaftsdiagnostisch konkretisieren können. Will man das Minimum einer genuin architektursoziologischen Perspektive kenntlich machen, so könnte man knapp vorschlagen: Die Architektursoziologie analysiert konkrete architektonische Phänomene in Hinsicht auf die Gesellschaft. Sie interessiert sich nicht nur für das Soziale in der Stadt, sondern für die sozial höchst wirksame, gebaute Gestalt der Städte, Dörfer, Kulturlandschaften7: und damit für die Gestalt der Gesellschaft. Mehrere Aspekte der Architektur und mehrere Ebenen des Sozialen wären dabei zu unterscheiden. Architekturen verschaffen auf einer mikrosoziologischen Ebene dem individuellen menschlichen Körper Bewegungsräume und Blickweisen und haben damit einen direkten Bezug zu den sozialen Interaktionen. In modernen Gesellschaften gibt es nur wenige Interaktionen, die nicht in einer gebauten Umgebung stattfinden, im Unterschied zu nicht modernen, etwa zu nomadischen Gesellschaften. Auf einer eher makrosoziologischen Ebene verschafft die Architektur der Gesellschaft – also dem Verhältnis der Generationen, Schichten und Funktionssysteme – erst ihre Expressivität; sie kommuniziert gesellschaftliche Differenzierungen und je spezifische Selbst-, Natur- und Sozialverhältnisse.8 Architektursoziologie ist über die Frage nach dem Gebauten hinaus natürlich auch als historisch informierte Professionssoziologie des ›Architekten‹ oder als Soziologie der Bauproduktion zu führen.9
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Als Soziologie der Landschaftsarchitektur hätte dies Berührungen z.B. mit Stefan Kaufmann: Soziologie der Landschaft, Wiesbaden: VS 2005. Zur Theorieherausforderung: Joachim Fischer: »Die Bedeutung der Philosophischen Anthropologie für die Architektursoziologie«, in: KarlSiegbert Rehberg (Hg.), Soziale Ungleichheit – Kulturelle Unterschiede. Verhandlungen des 32. Kongresses der DGS in München 2004, Frankfurt a.M./New York: Campus 2006, CD, S. 3417-3429. Heike Delitz: »Architektur, Artefakt, Kreativität. Herausforderungen soziologischer Theorie«, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungen des 33. Kongresses der DGS in Kassel 2006, Frankfurt a.M./New York: Campus 2008, S. 5827-5836 (CD). Martin Warnke: Bau und Überbau. Soziologie der mittelalterlichen Architektur nach den Schriftquellen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984; Florent Champy: Sociologie de l’architecture, Paris: La Découverte 2001; Oliver Schmidtke: Architektur als professionalisierte Praxis – Soziologische Fallrekonstruktion zur Professionalisierungsbedürftigkeit von Architektur, Frankfurt a.M.: Humanities-Online 2006; Olivier Chadoin: Être architecte: Les Vertus de l’Indétermination. De la sociologie d’une profession à la sociologie du travail professionnel. Limoges: éd. Pulim 2007.
EINFÜHRUNG
Damit die Architektursoziologie aber mehr bedeuten kann als eine weitere Bindestrich-Soziologie, mehr als eine spezialisierte Forschungsrichtung, muss sie den Kontakt zur soziologischen Theorie suchen. Das Gebaute in Funktion, Dimension, Material, Gestalt könnte das soziologische »Senkblei« sein10, das gesellschaftstheoretische Einblicke in die komplexe Struktur der Gesellschaft – die ›Architektur der Gesellschaft‹ im übertragenen Sinn – erlaubt. Um den Zusammenhang zwischen Architektur und Gesellschaft so reflektiert wie möglich zu untersuchen, sucht dieser Band daher die Topebene der soziologischen Theorie, noch vor einem expliziten Methodenband oder der Publikation konkreter, ausführlicher architektursoziologischer Forschungen. Beides wird erst noch zu leisten sein. Die Architektur fordert zunächst die soziologische Theorie, die Allgemeine Soziologie heraus: sie übt einen kognitiven Druck auf die Soziologie insgesamt aus. Deren Grundbegriffe müssen sich strecken und modifizieren, um das Phänomen zu erreichen. Um hier nicht vorschnell Denkmöglichkeiten einzuengen, öffnet sich der Band gezielt der vitalen Vielfalt der soziologischen Theorien im Hinblick auf den Konnex von Architektur und Gesellschaft.11 Programmatisch geht es also um die »Architektur der Gesellschaft« im Blick verschiedener soziologischer Theorien. Es ist je zu klären, welchen Stellenwert die jeweilige soziologische Theorie der Architektur in der Gesellschaft zuerkennt, wie die Relation von Architektur und Gesellschaft also konzipiert wird: Ist Architektur »Spiegel«, »Ausdruck«, »Zeugnis« einer je spezifischen Gesellschaft; oder ist sie darüber hinaus ein »Medium des Sozialen«, also sozialkonstitutiv? Zugleich ist zu überlegen, wie man ihre Bedeutung gegenwärtig einschätzt: ist Architektur in einer sich als »Mediengesellschaft« begreifenden Gegenwartsgesellschaft eher irrelevant? In der Rivalität der soziologischen Denkansätze wird die Antwort je verschieden ausfallen. 10 Georg Simmel: »Die Großstädte und das Geistesleben« (1903), in: Ders., Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft, hg. v. Michael Landmann, Stuttgart: Koehler 1957, S. 227-242, 231. 11 Der Potsdamer-Platz-Band (Joachim Fischer/Michael Makropoulos (Hg.): Potsdamer Platz. Soziologische Theorien zu einem Ort der Moderne, München: Fink 2004) ist ein erster Versuch, die Moderne an einem Stadtund Architekturphänomen aus verschiedenen soziologischen Perspektiven zu erschließen. Dabei ist die Architektur in einer konkreten Stadt (Berlin) der Anlass, um innerhalb der Debatte der soziologischen Theorie zur multiparadigmatischen Verfasstheit der Soziologie den »Theorienvergleich an einem Fall« zu erproben. Im vorliegenden Band ist die Architektur das zentrale Phänomen, das in verschiedenen soziologischen Theorien in seiner sozialen Brisanz sichtbar werden soll: es geht um die Architektursoziologie. 13
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Wählt man den Zugang zur Architektur über die soziologische Theorie; und drängt man die verschiedenen soziologischen Perspektiven zur Entfaltung ihres architektursoziologischen Potentials, dann wird dadurch auch die implizite Architektursoziologie bereits klassischer Positionen kenntlich. Obgleich die Klassiker der Soziologie die Architektur nicht explizit beobachtet haben, gibt es wichtige implizit architektursoziologische Studien: Juwelen des soziologischen Blicks auf die Architektur, an die in den folgenden Beiträgen angeschlossen wird. Marcel Mauss etwa hat die Symbiose der Architektur und des sozialen Lebens der Eskimos aufgedeckt; Maurice Halbwachs hat gezeigt, inwiefern Architekturen das »kollektive Gedächtnis« einer Gesellschaft ermöglichen; Norbert Elias hat die Grundrissstrukturen der Palais als »Anzeiger« der höfischen Gesellschaftsstruktur verstanden; Walter Benjamin und Michel Foucault haben in den je neuen Bautypen (den Passagen respektive Gefängnissen, Schulen, Krankenhäusern) die Geburt der modernen Gesellschaft gesehen. Zu nennen wären weitere, im Band nicht berücksichtigte implizit architektursoziologische Ansätze, die noch keine Fürsprecher in der aktuellen architektursoziologischen Theorie und Forschung gefunden haben. Das gilt etwa für die Kritische Theorie der Frankfurter Schule, für Werner Sombart oder Georges Bataille.12 Die Beiträge decken nicht das Spektrum der impliziten Klassiker der Architektursoziologie ab. Sie decken natürlich auch nicht das ganze Spektrum der soziologischen Theorien ab. Aber sie zeigen eine Bandbreite architektursoziologischer Denkmöglichkeiten. Vertreten sind dominante soziologische Theorien und solche, die eine besondere Aufschlusskraft hinsichtlich der Architektur versprechen: Gender und Cultural Studies, Zivilisationstheorie, Strukturierungstheorie, Stratifikationstheorie, Systemtheorie, Diskurstheorie, phänomenologische Hermeneutik, Institutionentheorie, Philosophische Anthropologie, soziale Morphologie, soziologische Ästhetik. Wichtig ist für die Konzeption des Bandes schließlich, dass die differenten soziologischen Perspektiven ihre Aufschlusskraft an einem je konkreten architektonischen Phänomen demonstrieren. In der Bewährung am Fall blitzt zugleich die Methode auf, die eine soziologische Theorie als aussichtsreich vorschlägt. Denn die Architektur fordert auch die sozialwissenschaftliche Empirie und ihre Methodologie heraus.13 Es 12 Vgl. zu impliziten Klassikern der Architektursoziologie den Beitrag von Bernhard Schäfers in diesem Band und demnächst Heike Delitz: Architektursoziologie, Bielefeld: transcript 2009 (in Vorbereitung). 13 Ein differenzierter Vorschlag bei Herbert Schubert: »Empirische Architektursoziologie«, in: Die Alte Stadt 32 (2005), S. 1-27. Erste methodische Vorschläge auch beim Workshop »Materialität und Bildlichkeit der Archi14
EINFÜHRUNG
handelt sich um eine ›eigenwillige Muse‹ (V. M. Lampugnani), insofern das Gebaute vor jeder reflexiven Distanz begegnet und insofern es sich um ein nichtsprachliches (nicht einmal sprachanaloges) Zeichensystem handelt. Insofern die empirische Sozialforschung zunächst auf Zahl und Text zugeschnitten ist und sich nur zögernd der Logik des Bildes öffnet – in der nun die Architektur keineswegs aufgeht –, bedarf es neuer methodischer Zugänge, die der Architektur adäquat sind. Da der vorliegende Band kein Methodenband ist, wird dies allenfalls skizziert werden können. Die Architektursoziologie, über die Topebene der soziologischen Theoriebildung geführt, gewinnt möglicherweise an Resonanz, wenn man ihre »Doppelpotenz« erkennt: für die Architektur, alle um sie Beschäftigten und von ihr Betroffenen; und für die Soziologie. Die Soziologie vermag etwas für die Architektur, sie macht deren soziale Bedingungen einsichtig, klärt PlanerInnen, BauherrInnen, NutzerInnen über die gesellschaftlichen Hintergründe, Interessen, Trägerstrukturen und über die sozialen Effekte der Architektur auf. Umgekehrt vermag – so unsere Überzeugung – die Architektur zutiefst etwas für die Soziologie: sie drängt die Sozialtheorie zu einer Modifikation ihrer Grundannahmen; und sie hat ein gesellschaftstheoretisches, gesellschaftsdiagnostisches Potential.
Literatur Berking, Helmuth/Löw, Martina: Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege für die Stadtforschung, Frankfurt a.M./New York: Campus 2008. Chadoin, Olivier: Être architecte: Les Vertus de l’Indétermination. De la sociologie d’une profession à la sociologie du travail professionnel. Limoges: éd. Pulim 2007. Champy, Florent: Sociologie de l’architecture, Paris: La Découverte 2001. Delitz, Heike: »Architektur, Artefakt, Kreativität. Herausforderungen soziologischer Theorie«, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungen des 33. Kongresses der DGS in Kassel 2006, Frankfurt a.M./New York: Campus 2008, CD, S. 58275836.
tektur«, organisiert von Martina Löw und Peter Noller in Darmstadt im Februar 2008. Siehe den Tagungsbericht von Heike Delitz, in: Soziologie H. 3/2008, S. 462-470. 15
JOACHIM FISCHER/HEIKE DELITZ
Delitz, Heike: »Materialität und Bildlichkeit. Workshop der AG Architektursoziologie in Darmstadt 2008«, in: Soziologie 3 (2008), S. 462-470. Delitz, Heike: Architektursoziologie, Bielefeld: transcript 2009 (in Vorbereitung). Eßbach, Wolfgang: »Antitechnische und antiästhetische Haltungen in der soziologischen Theorie«, in: Andreas Lösch/Dominik Schrage/ Dierk Spreen/Markus Stauff (Hg.), Technologien als Diskurse. Konstruktionen von Wissen, Medien und Körpern, Heidelberg: Synchron 2001, S. 123-136. Fischer, Joachim/Makropoulos, Michael (Hg.): Potsdamer Platz. Soziologische Theorien zu einem Ort der Moderne, München: Fink 2004. Fischer, Joachim: »Die Bedeutung der Philosophischen Anthropologie für die Architektursoziologie«, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Soziale Ungleichheit – Kulturelle Differenzen. Verhandlungen des 32. Kongresses der DGS in München 2004, Frankfurt a.M./New York: Campus 2006, CD, S. 3417-3429. Gieryn, Thomas F.: »What Buildings do«, in: Theory and Society 31 (2002), S. 35-74. Janowitz, Morris: »Introduction«, in: Robert E. Park/Ernest W. Burgess/Roderick D. McKenzie, The City, Chicago: UP 1925, S. vii-x. Jones, Paul: The Sociology of Architecture: Constructing Identities, Liverpool: UP 2009. Park, Robert E.: »The City. Suggestions for the Investigation of Human Behaviour in the Urban Environment« (1915), in: Ders./Ernest W. Burgess/Roderick D. McKenzie, The City, Chicago: UP 1925, S. 146. Schäfers, Bernhard: »Zur Begründung einer Architektursoziologie«, in: Soziologie 33 (2004), S. 35-48. Schäfers, Bernhard: Architektursoziologie. Grundlagen – Epochen Themen (2003), 2., durchges. Aufl. Wiesbaden: VS 2006. Schäfers, Bernhard u.a.: »Architektursoziologie«, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Soziale Ungleichheit – Kulturelle Unterschiede. Verhandlungen des 32. Kongresses der DGS in München 2004, Frankfurt a.M.: Campus 2006, CD, S. 3405-3462. Schmidtke, Oliver: Architektur als professionalisierte Praxis – Soziologische Fallrekonstruktion zur Professionalisierungsbedürftigkeit von Architektur, Frankfurt a.M.: Humanities-Online 2006. Schubert, Herbert: »Empirische Architektursoziologie«, in: Die Alte Stadt 32 (2005), S. 1-27. Simmel, Georg: »Die Großstädte und das Geistesleben« (1903), in: Ders., Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Re16
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ligion, Kunst und Gesellschaft, hg. v. Michael Landmann, Stuttgart: Koehler 1957, S. 227-242. Thurn, Hans Peter: »Architektursoziologie. Zur Situation einer interdisziplinären Forschungsrichtung in der BRD«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 24 (1972), S. 301-341. Warnke, Martin: Bau und Überbau. Soziologie der mittelalterlichen Architektur nach den Schriftquellen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984. Weresch, Katharina: Bibliographie zur Architektursoziologie. Mit ausgewählten Beiträgen, Frankfurt a.M.: Lang 1993.
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Materielle Formen des Sozialen. Die › Architektur der Gesellschaft‹ aus Sicht der sozialen Morphologie MARKUS SCHROER
Im gegenwärtigen soziologischen Diskurs wird über die Wiederkehr des Raums, der Dinge, des Körpers und des Materiellen diskutiert. Die folgenden Überlegungen gehen von der Annahme aus, dass das Auftreten gerade dieser Themen nicht zufällig erfolgt. Vielmehr artikuliert sich in der Renaissance des Raums, der Dinge und des Körpers zusammengenommen ein gewisses Unbehagen gegenüber einem eingeschränkten Verständnis vom Sozialen und der Bedarf für eine Soziologie, für die nicht alles nur Text, Kommunikation oder Zeichen ist. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, an ein theoretisches Programm zu erinnern, das auf Émile Durkheim zurückgeht und von Marcel Mauss und Maurice Halbwachs weiter ausgearbeitet wurde: die »Soziale Morphologie«. Entgegen der Auffassung der meisten anderen soziologischen Theorierichtungen, die sich in der »Exkommunikation der Sachen und Sachverhältnisse aus der Soziologie«1 ebenso einig sind wie in der Behauptung der zunehmenden Irrelevanz räumlicher Strukturen2, wird innerhalb dieses theoretischen Programms ausdrücklich betont, dass das Soziale nicht nur aus Individuen, Interaktionen und Kommunikationen, sondern
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Hans Linde: Sachdominanz in Sozialstrukturen, Tübingen: Mohr 1972, S. 78. Vgl. Markus Schroer: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums. 2. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 161ff. 19
MARKUS SCHROER
auch aus Materiellem, Dingen und Sachen besteht3; Gesellschaft zwar vor allem eine Vorstellung ist, aber eine, die sich durch die Aktivitäten ihrer Mitglieder im Raum niederschlägt.4 Entsprechend dieser Ausrichtung zählt insbesondere das Werk von Maurice Halbwachs zu einem zwar durchaus genannten5, nur selten aber näher behandelten Meilenstein der Architektursoziologie. Der folgende Beitrag stellt sich deshalb die Aufgabe, das theoretische Programm einer sozialen Morphologie vorzustellen (1), es sodann auf seinen Beitrag zur Soziologie der Architektur hin zu befragen (2), um es anschließend an einem architektonischen Phänomen zu überprüfen, das nicht nur im Sommer 2006 – zur Zeit der Fußball-WM in Deutschland – die Aufmerksamkeit von Millionen Zuschauern auf sich gezogen hat: das Fußballstadion (3). Ausgehend von Halbwachs’ grundsätzlicher Annahme, dass sich Gesellschaft förmlich in den Raum einschreibt, gelten die folgenden Ausführungen dem Nachweis, dass sich – neben der von Halbwachs untersuchten religiösen, politischen und ökonomischen Morphologie – auch eine sportliche Morphologie respektive eine Morphologie des Sports ausmachen lässt. Ähnlich wie Religion, Politik und Ökonomie in Kirchen, Parlamenten und Fabriken ihren räumlichen Ausdruck finden, verschafft sich der Sport in Turn- und Schwimmhallen, Fußballstadien, Golfanlagen und Rennbahnen seine räumliche Repräsentation. Der zentralen Einsicht der sozialen Morphologie in den Zusammenhang von sozialen und räumlichen Veränderungen folgend, stellt sich die Frage, was wir aus der Architektur der neuen Stadien und dem jeweiligen Umgang mit den alten Stadien über unsere Gesellschaft lernen können. Wofür sind die modernen Fußballstadien ein Zeichen? Was hat es zu bedeuten, dass sich Fußballstadien als neue Prestigebauten der Städte etablieren? Wie sind die baulichen Veränderungen der neuen gegenüber den alten Stadien zu bewerten? Der Beitrag schließt mit einem kurzen Resümee (4).
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Vgl. Émile Durkheim: Die Regeln der soziologischen Methode (frz. 1895). Neuwied/ Berlin: Luchterhand 1961. Vgl. Maurice Halbwachs: Soziale Morphologie. Ausgewählte Schriften, Konstanz: UVK 2002, S. 16. Vgl. Bernhard Schäfers: Architektursoziologie. Grundlagen, Epochen, Themen. 2. Aufl. Wiesbaden: VS 2006, S. 31; Heike Delitz: »Die Architektur der Gesellschaft. Architektur und Architekturtheorie im Blick der Soziologie«, in: Wolkenkuckucksheim – Cloud-Cuckoo-Land – Vozdushnyi zamok. Internationale Zeitschrift für Theorie und Wissenschaft der Architektur 10 (2006) H. 1: »From Outer Space: Architekturtheorie außerhalb der Disziplin«.
MATERIELLE FORMEN DES SOZIALEN
1 Der Raum, die Dinge und das Soziale: Das Programm der »Sozialen Morphologie« Émile Durkheim hat die Soziologie in zwei Arbeitsbereiche eingeteilt: Die soziale Physiologie auf der einen und die soziale Morphologie auf der anderen Seite.6 Während sich die Physiologie dem sozialen Funktionszusammenhang der Gesellschaft widmet, untersucht die Morphologie – in den Worten von Marcel Mauss – das »materielle Substrat der Gesellschaften«.7 Darunter fallen all diejenigen Phänomene, bei denen das Soziale eine sichtbare und greifbare Gestalt annimmt. Dazu zählen die Ausdehnung einer Gesellschaft, die Anzahl ihrer internen Gliederungen, die Größe, Dichte und Verteilung der Bevölkerung auf einem Territorium sowie die Dinge und Sachverhältnisse, die das kollektive Leben prägen. Entgegen dem in der Soziologie vorherrschenden Trend zur Sachabstinenz rechnet Durkheim ausdrücklich Dinge und Sachverhältnisse zur Sozialwelt hinzu. Artefakte wie Wohnstätten, Werkzeuge, Verkehrswege, Verkehrsmittel und Kleidung sind demnach ebenso soziale Tatbestände wie institutionalisierte Verhaltensregeln und -zwänge in Form des gesatzten Rechts oder der geltenden Moral. Beiden »Dingwelten« gemeinsam ist, dass sie eine vom Willen des Einzelnen unabhängige Einzelexistenz führen. Sie drängen sich dem Einzelnen von Außen auf und üben einen verhaltensdeterminierenden Zwang auf das Individuum aus. Eben das macht sie in Durkheims Perspektive zu sozialen Tatbeständen. In seiner Studie über den Suizid heißt es dazu: »Und überhaupt stimmt es nicht, daß die Gesellschaft nur aus Individuen besteht. Sie umfasst auch Materielles, das eine wesentliche Rolle im Gemeinschaftsleben spielt. Die soziale Tatsache wird manchmal so sehr zur Wirklichkeit, daß sie zu einem Gegenstand der äußeren Welt wird. Zum Beispiel ist ein bestimmter Typus von Architektur eine soziale Erscheinung. Er ist einmal zum Teil in Häusern und allen möglichen anderen Gebäuden verwirklicht, die zu Realitäten mit eigner Existenz werden, unabhängig von den Individuen, sobald der Bau beendet ist«.8 Entscheidend für Durkheims Verständnis des Sozialen ist, dass die bereits gestaltete Umwelt daran erinnert, dass das Kollektiv stets vor 6 7
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Vgl. Friedrich Jonas: Geschichte der Soziologie, 2: Von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart, Opladen: Westdeutscher Verlag 1980, S. 83ff. Marcel Mauss (mit Henri Beuchat): »Über den jahreszeitlichen Wandel der Eskimogesellschaften. Eine Studie zur sozialen Morphologie« (1904/05), in: Ders., Soziologie und Anthropologie 1, 2. Aufl. Frankfurt a.M.: Fischer 1999, S. 181-277, 183. Zu Mauss’ Werk insgesamt vgl. Stephan Moebius: Marcel Mauss, Konstanz: UVK 2006. Émile Durkheim: Der Selbstmord (frz. zuerst 1897), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 365. 21
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dem einzelnen Individuum besteht. Von den Verkehrswegen bis hin zu den baulichen Monumenten werden die gegenwärtig Lebenden mit den »Hinterlassenschaften früherer Generationen«9 konfrontiert, die der Gegenwart ihren Stempel aufdrücken.10 Die Begegnung mit der Vergangenheit wird vor allem durch die räumlichen Gegebenheiten, die Städte, Plätze und Häuser sowie durch die Welt der Dinge, die Gegenstände, Geräte und Sachen vermittelt, die uns wie eine »stumme und unbewegliche Gesellschaft«11 umgeben, während ihre Erfinder, Erzeuger und Erbauer längst nicht mehr unter uns weilen. Das Interesse an den materiellen Erscheinungsformen der Gesellschaft und an ihrer auch physischen Natur führt Durkheim zu einer intensiven Auseinandersetzung mit den Nachbardisziplinen der Soziologie. In der von ihm begründeten Zeitschrift L’Année Sociologique, in der sich auch ein programmatischer Beitrag zur Sozialen Morphologie aus seiner Feder befindet12, werden wie selbstverständlich auch Forschungsarbeiten aus Ökonomie, Ethnologie, Anthropologie, Demografie, Sozialund Anthropogeografie rezipiert.13 Durkheim setzt sich beispielsweise intensiv mit Friedrich Ratzel auseinander, der in seiner Zeitschrift ausführlich und wiederholt rezipiert wird.14 Aufgrund ihrer Themenfelder
9 Ebd. 10 Halbwachs knüpft unmittelbar an diesen Gedanken Durkheims an, wenn er schreibt: »Und tatsächlich fühlen wir auf den Straßen dunkel die Gegenwart derer, die ihnen ihre Richtung gaben, Straßen über das flache Land, Gebirgspfade, in den Fels seit mehr als tausend Jahren eingeschlagen, römische, mittelalterliche Wege, gepflastert mit unregelmäßigen Steinen, moderne Verkehrsstraßen, deren Gefälle genau berechnet wurde: es scheint, als ob wir die Spuren derjenigen, die sie zum ersten mal betraten, die ihnen den Weg bahnten, als ob wir dort die Zeichen und Male jener Werkzeuge wiederfänden, mit denen man sie durchs Land getrieben hat. Und vor allem stellen wir uns jene vor, die dort vor uns gewandert sind, die, wie an unserer Seite, ihren Fuß darauf setzten.« M. Halbwachs: Soziale Morphologie, S. 16f. 11 M. Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis (1939), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 128. 12 Émile Durkheim: »Notiz über Soziale Morphologie« (frz. zuerst in: L’Année Sociologique 2 (1897-98), S. 520f.), in: Marcel Mauss, Soziologie und Anthropologie 1, 2. Aufl. Frankfurt a.M.: Fischer 1999, S. 182. 13 Vgl. Stephan Egger: »Soziale Form und praktischer Sinn. Zu einer Morphologie des kollektiven Menschen bei Maurice Halbwachs«, in: M. Halbwachs: Soziale Morphologie, S. 95. 14 Vgl. dazu die aufschlussreichen Beiträge von Werner Köster: Die Rede über den »Raum«. Zur semantischen Karriere eines deutschen Konzepts, Heidelberg: Synchron 2002, und Werner Gephart: »Der Raum, das Meer und die Gesellschaft«, in: Sociologia Internationalis 42 (2004), H. 1, S. 143-166. 22
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ebenso wie aufgrund ihrer Mitglieder erhält die einflussreiche Zeitschrift damit eine ausgesprochen interdisziplinäre Ausrichtung. Während Durkheim in seinen eigenen Arbeiten zweifellos die Physiologie in den Mittelpunkt stellt, widmen sich seine Schüler Marcel Mauss und Maurice Halbwachs ausführlich dem bei Durkheim letztlich nur angedeuteten Programm einer sozialen Morphologie. Marcel Mauss zeigt zum Beispiel anhand einer Untersuchung von Eskimogesellschaften exemplarisch den Zusammenhang zwischen materiellen Formen einer Gesellschaft und ihren kollektiven Tätigkeiten auf. Die von ihm untersuchten Eskimovölker leben zu verschiedenen Zeiten des Jahres nicht nur in unterschiedlichen sozialen Formationen, sondern üben auch je nach Jahreszeit verschiedene Tätigkeiten aus. Während im Sommer jede Familie für sich allein in einem kleinen Rundzelt lebt und sich den Dingen des täglichen Lebens widmet, schließen sie sich im Winter zu Großfamilien in großen Langhäusern zusammen und gehen insbesondere religiösen Tätigkeiten nach. Mauss legt Wert auf die Feststellung, dass der von ihm aufgezeigte Zusammenhang von wechselnder Morphologie und wechselnden Tätigkeiten an diesem Beispiel nur besonders gut sichtbar wird, in anderen Gesellschaften aber ebenso nachgewiesen werden könnte. Diese Idee der Berücksichtigung von Dingen, Sachen oder »Gerät«, die von der sozialen Morphologie paradigmatisch betrieben wird, ist in der Folgezeit zwar immer mal wieder aufgegriffen worden, sie führt jedoch bis heute ein Schattendasein in der Soziologie.15 Und dies obwohl wir mit den Schriften von Maurice Halbwachs ein Werk vorliegen haben, das sich intensiv mit dem Raum und den Dingen beschäftigt.
15 Zu den klassischen Beiträgen von Durkheim und Marx über Hans Freyer bis Hermann Schmalenbach vgl. H. Linde: Sachdominanz. Als aktuelle Beispiele einer Soziologie der Objekte vgl. vor allem die Arbeiten Bruno Latours, in denen Halbwachs allerdings keine Rolle spielt. Zur Ähnlichkeit des Theorieprogramms der sozialen Morphologie mit Latour vgl. Markus Schroer: »Vermischen, Vermitteln, Vernetzen. Bruno Latours Soziologie der Gemenge und Gemische im Kontext«, in: Georg Kneer/Markus Schroer/Erhard Schüttpelz (Hg.), Latours Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 361399. 23
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2 Der Raum, das kollektive Gedächtnis und die Lesbarkeit materieller Artefakte: Der Beitrag von Maurice Halbwachs für eine Soziologie der Architektur Maurice Halbwachs hat sich Zeit seines Lebens der Aufgabe gewidmet, das von Durkheim angestoßene Programm einer sozialen Morphologie weiter voranzutreiben. Die 1938 erscheinende Schrift »Soziale Morphologie« ist das Ergebnis seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit den Fragen nach der materiellen Gestaltung des Sozialen.16 Die Basisannahme seiner Untersuchungen lautet, dass es keine Gesellschaft gibt, »die sich nicht auch in ihren räumlichen Umrissen zeigte, nicht eine Ausdehnung und materielle Unterlage hätte«.17 Der Soziologie falle damit die Aufgabe zu, die »materiellen Manifestationen und Ausdrucksweisen zu studieren, sie in alle ihren Besonderheiten zu analysieren, sie miteinander in Verbindung zu setzen und sie in ihren Kombinationen zu verfolgen«.18 Halbwachs demonstriert diese materiellen Manifestationen am Beispiel der Religion, der Politik, der Ökonomie und der Stadt. Er zeigt auf, dass die Familie ebenso wie die Kirche, der Staat und die Unternehmen eine materielle Form und eine räumliche Dimension besitzen.19 All diese Bereiche des gesellschaftlichen Lebens bleiben für Halbwachs so lange unverstanden, wie man sie als bloße Ideen und abstrakte Konstrukte behandelt. Ein vollständiges Bild ihrer Bedeutung erlangt man dagegen erst durch eine genaue Analyse ihrer räumlichen Manifestationen: »Institutionen sind nicht einfach nur Gedankengebilde; sie müssen auf die Erde gebracht werden, ganz mit Stofflichem beschwert, menschlichem Stoff und unbelebtem Stoff, mit Lebewesen aus Fleisch und Blut, mit Bauwerken, Häusern, Plätzen, dem Gewicht des Raums. All diese Dinge gehören dazu, es sind Gestaltungen im Raum, die man beschreiben kann, zeichnen, messen und wägen, deren Teile man zählen, deren Ausrichtung, deren Veränderung man erkennen, deren Vergrößerung, deren Verkleinerung man sehen kann. In genau diesem Sinne besitzen dann alle Einrichtungen des sozialen Lebens auch materielle Formen«.20 16 Seit 2002 liegt sie zwar endlich in deutscher Sprache vor, aber nur in Form einer »Zusammenstellung entscheidender Abschnitte«, wie der Herausgeber Stephan Egger in seiner editorischen Vorbemerkung vermerkt. 17 M. Halbwachs: Soziale Morphologie, S. 23. 18 Maurice Halbwachs, zit. nach Hans Leo Krämer: »Die Durkheimianer Marcel Mauss (1872-1950) und Maurice Halbwachs (1877-1945)«, in: Dirk Kaesler (Hg.), Klassiker der Soziologie 1: Von Auguste Comte bis Norbert Elias, München: Beck 1999, S. 252-277, 266. 19 Vgl. M. Halbwachs: Soziale Morphologie, S. 11. 20 M. Halbwachs: Soziale Morphologie, S. 17. 24
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So wie es insgesamt für die Entwicklung einer Gesellschaft durchaus von Belang ist, ob sie sich auf einer Insel befindet und damit über einen Zugang zum Meer verfügt, oder ob ihre Bevölkerung zumeist in von hohen Bergen umgebenden Tälern wohnt, so übt auch – wie Halbwachs in seiner religiösen Morphologie21 zeigt – die Anzahl, Anlage und Aufteilung der bedeutenden Stätten, Klöster und Heiligtümer etwa der christlichen Religion einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Intensität der Glaubensvorstellungen ihrer Anhänger aus. In noch stärkerem Ausmaß – das zeigt er in seiner politischen Morphologie22 – sind politische Gemeinwesen von räumlichen Gegebenheiten abhängig: So ist es für Halbwachs kein Zufall, dass die ersten Demokratien am Meer entstanden sind, gilt doch das Meer seit jeher als »kulturelle Kontaktzone«.23 In Anlehnung an Platon und Rousseau ist er außerdem davon überzeugt, dass es einen Zusammenhang zwischen der Größe eines Staates und seiner Regierungsform gibt. Und hinsichtlich der ökonomischen Morphologie24 beschreibt Halbwachs ausführlich, dass die verschiedenen ökonomischen Klassen dazu neigen, sich auf verschiedene Quartiere der Stadt zu verteilen. Obwohl sich die Wege der Menschen auf dem Land und in der Stadt kreuzen, »herrschen in jedem Landstrich, in jeder Stadt, in jedem Viertel bestimmte Klassen vor: sie prägen dem Teil der Erde, auf dem sie sich niederlassen, in gewisser Weise ihr Zeichen ein, derart, daß man selbst in einem anderen Land auf den ersten Blick erkennt, ob es reiche, eher genügsam oder aber im Elend lebende Menschen sind, die ihn bewohnen, ganz so, wie sich in einer Großstadt dem bloßen Augenschein nach die wohlhabenden und armen Viertel unterscheiden.«25 Zwar drückten sich die sozialen Unterschiede heute nicht mehr so deutlich im Raum aus wie früher, so Halbwachs weiter, vorhanden aber seien sie noch immer: »Klassen haben zumindest eine Neigung, sich im Raum voneinander abzugrenzen.«26 21 Ebd., S. 23ff. 22 Ebd., S. 34ff. 23 Vgl. Bernhard Klein/Gesa Mackenthum: Das Meer als kulturelle Kontaktzone. Räume, Reisende, Repräsentationen, Konstanz: UVK 2003. Schon bei G. W. Hegel, später bei Carl Schmitt, spielt das Meer diese für die Entwicklung der europäischen Gesellschaft entscheidende Rolle. Vgl. Markus Schroer: »Land und Daten(-meer). Zur Raumaneignung im Internet«, in: Telepolis. Magazin der Netzkultur 2001 (www.heise-news.de/tp/deutsch/ inhalt/co/9345/1.html vom 10.12.2008). 24 M. Halbwachs: Soziale Morphologie, S. 46ff. 25 Ebd., S. 50. 26 Ebd., S. 51. In diesem Punkt gibt es auffallende Berührungspunkte zu anderen soziologischen Raumkonzepten, etwa zur Chicagoer Schule und zu Siegfried Kracauer, bei dem es ähnlich heißt: »Jede Gesellschaftsschicht hat den ihr zugeordneten Raum.« (»Über Arbeitsnachweise. Konstruktion 25
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Trotz dieser starken Betonung der Bedeutung des Raums für eine umfassende Gesellschaftsanalyse sind es jedoch letztlich nicht die räumlichen Artefakte selbst, die das Interesse der sozialen Morphologie auf den Plan rufen. Die Aufmerksamkeit der Soziologie verdienen sie nach Halbwachs Verständnis nur deshalb, weil das Materielle und Stoffliche Einblicke in die Neigungen, Vorstellungen und Bedürfnisse der Menschen und ihrer »Lebensweise«27 verschafft. Das verknüpft die soziale Morphologie mit der kollektiven Psychologie, deren Entfaltung Halbwachs ebenso wie Durkheim weiterhin als oberstes Ziel der Soziologie ansieht: »Wenn wir unsere Aufmerksamkeit den materiellen Formen des gesellschaftlichen Lebens zuwenden, dann weil es darum geht, hinter ihnen einen ganzen Bereich der kollektiven Psychologie zu erschließen. Die Gesellschaft prägt sich immer in die materielle Welt ein, und das menschliche Denken findet hier, in solchen Vorstellungen, die ihm durch ihre räumliche Verfassung zufließen, Regelmäßigkeit und Standsicherheit – fast wie der einzelne Mensch seinen Körper im Raum wahrzunehmen lernt, um im Gleichgewicht zu bleiben.«28 Die materiellen Gegebenheiten bilden also eine Art Anker, mit deren Hilfe die Gesellschaft sich eine Gestalt gibt, aber auch Halt verleiht. Halbwachs teilt ausdrücklich mit Auguste Comte die Auffassung, dass die materiellen Formen des gesellschaftlichen Lebens, dass also die Orte, Gebäude, Plätze, Häuser und Straßen dem kollektiven Leben der sozialen Gruppen ein Gefühl der Regelmäßigkeit und Stabilität inmitten einer sich permanent im Fluss befindlichen Gesellschaft vermitteln.29 Im Gegensatz zu unserer eigenen Unruhe und Unrast, so der Gedanke, sind die Dinge unbeweglich und verändern sich kaum. Aufgrund der »physischen Trägheit der Dinge«30 drängt sich den sozialen Gruppen der Eindruck einer stabilen Ordnung auf. Ein Eindruck, der durchaus trügerisch sein kann. Denn die »Unempfindlichkeit der Steine«31, die »Unbeweglichkeit der Dinge«32 und die »Permanenz des Raumes«33 tragen dazu
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eines Raums« (1930), in: Schriften 5.2. (Aufsätze 1927-1931), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 185-192, 185). Ohne dass dies – so weit ich sehen kann – in der Forschungsliteratur je thematisiert worden wäre, findet sich bei Pierre Bourdieu eine konsequente Fortführung dieses Programms, wenn er von der dauerhaften »Einschreibung der sozialen Realität in die physische Welt« (»Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum«, in: Martin Wentz (Hg.), StadtRäume, Frankfurt a.M./New York: Campus 1991, S. 25-34, 26) ausgeht. M. Halbwachs: Soziale Morphologie, S. 22. Vgl. M. Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis, S. 127. M. Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis, S. 129. Ebd., S. 131. Ebd., S. 132.
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bei, selbst einer inmitten von Unruhen lebenden Bevölkerung eine nicht vorhandene Stabilität der Verhältnisse vorzugaukeln und sie damit in der trügerischen Sicherheit zu wiegen, dass alles noch beim alten sei. Der Grad an Veränderungen wird an den Dingen und Steinen nicht sichtbar: »Die Beständigkeit des Wohnraumes und seines Aussehens halten [...] der Gruppe selber das beruhigende Bild ihrer Kontinuierlichkeit vor. In einem dermaßen gleichförmigen Rahmen verflossene Jahre gemeinsamen Lebens lassen sich schlecht voneinander unterscheiden, und man zweifelt schließlich daran, daß viel Zeit verstrichen ist und daß man sich in der Zwischenzeit stark verändert hat«.34 Demnach werden soziale Veränderungen nicht unmittelbar in räumliche Strukturen übersetzt. Die räumlichen Strukturen können mit dem Tempo der sozialen Veränderungen gewissermaßen nicht mithalten und insofern sind sie nicht einfach als Spiegel der Gesellschaft zu betrachten. Räumliche Strukturen haben gerade in ihrer Beharrungskraft ihre wichtigste Funktion, in ihrem Widerstand, den sie dem Wollen des Menschen entgegensetzen. Sie sind im Grunde der soziale Kitt, der die Mitglieder einer sozialen Gruppe miteinander verbindet. Denn selbst wenn diese in alle Richtungen versprengt sind und sich auf neue Umgebungen einstellen müssen, bleiben sie nach Halbwachs dennoch miteinander verbunden, weil sie an ihr spezielles Haus mit den verschiedenen Zimmern und der entsprechenden Möblierung denken, in dem sie einst gemeinsam wohnten. Erst wenn das Gebäude nicht mehr existiert und diejenigen, die sich an es erinnern, verstorben sind, erst dann ist in Halbwachs’ Perspektive der Zusammenhalt einer Gruppe zerstört, wie er am Beispiel der Zerstörung eines Klosters erläutert: »Als man die Herren und Nonnen von Port Royal zerstreute, war damit nichts getan, solange man nicht die Gebäude der Abtei dem Erdboden gleichgemacht hatte und nicht diejenigen dahingeschieden waren, die sie in Erinnerung behielten.«35 Der Raum hat also nicht
33 Ebd., S. 144. 34 Ebd., S. 129. Norbert Elias hat einen ähnlichen Gedanken einige Jahre später wie folgt ausgedrückt: »Jede Veränderung im ›Raum‹ ist eine Veränderung in der Zeit, jede Veränderung in der ›Zeit‹ ist eine Veränderung im Raum. Man lasse sich nicht durch die Annahmen irreführen, man könne im ›Raum‹ stillsitzen, während die Zeit vergeht: man selbst ist es, der dabei älter wird. Das eigene Herz schlägt, man verdaut; die eigenen Zellen wachsen und sterben ab. Die Veränderung mag langsam sein, aber man verändert sich kontinuierlich ›in Raum und Zeit‹ – als ein Mensch, der älter und älter wird, als Teil einer sich verändernden Gesellschaft, als Bewohner der sich rastlos bewegenden Erde.« Norbert Elias: Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie II, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 74f. 35 M. Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis, S. 129. 27
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nur eine bewahrende Funktion. Er stützt nicht nur, sondern konstituiert geradezu das Gedächtnis: »So gibt es kein kollektives Gedächtnis, das sich nicht innerhalb eines räumlichen Rahmens bewegt. Der Raum indessen ist eine Realität, die andauert: unsere Eindrücke jagen einander, nichts bleibt in unserem Geist haften, und es wäre unverständlich, daß wir die Vergangenheit wiedererfassen können, wenn sie nicht tatsächlich durch das materielle Milieu aufbewahrt würde, das uns umgibt.«36 Trotz dieser enormen Rolle, die dem Raum hier als Bedingung für die Erinnerung an vergangene Zeiten zugesprochen wird, wird dennoch deutlich, dass es nicht der Raum selbst ist, sondern die im kollektiven Gedächtnis gespeicherten Bilder von ihm sind, die die Erinnerung an einen Ort bewahren können. Selbst wenn das Gebäude schon verschwunden ist: Die Erinnerung der Überlebenden an seine Existenz bewahrt das Kloster vor dem Vergessen. Doch wenn nur das Gebäude bleibt und es keine Zeitzeugen mehr gibt, bleibt nur die Orientierung an den räumlichen Überbleibseln, um die Erinnerung wach zu halten. Die räumlichen Artefakte fungieren insofern gleichsam als Botschafter, die über längst vergangene gesellschaftliche Zustände Zeugnis ablegen. Damit sie als solche wirken können, bedarf es jedoch, wie schon Durkheim betont, der »Gegenwart von Menschen, die bereit sind, sie auf sich wirken zu lassen«.37 Auch Halbwachs ist überzeugt davon, dass wir gar nicht anders können, als uns etwa bei der Nutzung von Straßen und Gebirgspfaden diejenigen in Erinnerung zu rufen, die ihn zum ersten Mal benutzten. Es ist diese kollektive Erinnerungsleistung, die das Band zu den vorhergehenden Gesellschaften und ihren spezifischen Strukturen knüpft.38 Das hatte auch Durkheim schon so gesehen. Entschiedener als Durkheim aber betont Halbwachs die gegenseitige Beeinflussung von Raum und sozialer Gruppe. So heißt es etwa ausdrücklich: »Eine Gruppe, die in einem bestimmten räumlichen Bereich lebt, formt ihn nach ihrem eigenen Bild um; gleichzeitig aber beugt sie sich denjenigen materiellen Dingen, die ihr Widerstand leisten. Sie schließt sich in den Rahmen ein, den sie aufgestellt hat«.39 Und weiter: »Der Ort hat das Gepräge der Gruppe erhalten und umgekehrt«.40 Es ist dieser Gedanke einer wechselseitigen Beeinflussung, der ihn vor einem räumlichen Determi-
36 Ebd., S. 142. 37 É. Durkheim: Der Selbstmord, S. 366. 38 »Und so sind all diese materiellen Erscheinungen nie ohne jeden gesellschaftlichen Bezug. Sie drücken äußerlich die Entwicklung einer Gesellschaft aus, übersetzen ihre damaligen und heutigen Sitten und Bräuche.« M. Halbwachs: Soziale Morphologie, S. 17. 39 M. Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis, S. 129. 40 Ebd., S. 130. 28
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nismus ebenso bewahrt wie vor einem räumlichen Voluntarismus. Weder sind die sozialen Gruppen den jeweiligen räumlichen Bedingungen passiv ausgeliefert, noch lassen diese sich beliebig umgestalten. Insofern ist Raum sowohl Bedingung als auch Ausdruck sozialer Veränderungen. Die räumlichen Artefakte können als Seismographen von Veränderungen innerhalb der betrachteten sozialen Gruppe dienen, auch wenn – aufgrund ihrer Trägheit und Permanenz – gewissermaßen mit einem time-lag zwischen den sozialen Veränderungen und ihrer räumlichen Materialisation zu rechnen ist. Diese Verzögerung einkalkuliert, lassen sich an den räumlich sichtbaren Veränderungen aber durchaus die sozialen Veränderungen innerhalb der Gruppe ablesen: »Wenn sich die Bauwerke der Mönchsorden verändern, wenn man dort einzelne Zellen anstatt eines gemeinsamen Schlafsaales, ein geschlossenes Kloster anstatt der Gärten entstehen sieht, die den Blick auf die Landschaft eröffnen, ist dies das Zeichen für die Einführung neuer Regeln: die Gemeinschaft zieht sich auf sich selbst zurück, gleichzeitig werden ihre Mitglieder angehalten, sich voneinander abzusondern, sich der inneren Andacht zu widmen.«41 Die Frage, der ich mich nun zuwenden möchte, ist, ob es neben dieser politischen Morphologie nicht auch eine sportliche Morphologie respektive Morphologie des Sports gibt. Denn ähnlich wie religiöse und politische Gruppen sich in den Raum förmlich einschreiben, indem sie sich Gebäude schaffen, mit deren Hilfe der Zusammenhalt der Gruppe hergestellt wird, so finden auch die Aktivitäten des Sports in eigens dafür entworfenen und gebauten Räumen statt.
41 M. Halbwachs: Soziale Morphologie, S. 28. Das Habitat ist für Halbwachs gleichsam ebenso verräterisch wie für Bourdieu der Habitus. Während Bourdieus Vorstellung der sozialen Welt nach dem Motto funktioniert: »Sag mir, was du isst oder trinkst, welche Musik du hörst oder welchen Sport du treibst, und ich sage dir, wer du bist!«, so ließe sich im Sinne von Halbwachs formulieren: »Zeig mir wie Du wohnst, zeig mir die Dinge, mit denen Du dich umgibst, und ich sage Dir, zu welcher sozialen Gruppe du gehörst!« Für Halbwachs lassen vor allem Informationen über den Wohnraum, die Einrichtung und die Gegenstände Rückschlüsse auf den sozialen Status der jeweiligen sozialen Gruppe zu; auch dann, wenn sie uns über Literatur vermittelt werden: »Wenn Balzac eine Familienpension oder das Haus eines Geizigen beschreibt und Dickens das Arbeitszimmer eines Notars, erlauben uns diese Bilder schon zu ahnen, welcher Gattung oder sozialen Kategorie die Menschen angehören, die in einem solchen Rahmen leben.« M. Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis, S. 128. 29
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3 Der Raum, der Sport und die Erinnerung: Fußballstadien als Teil einer Morphologie des Sports Passend zur Vernachlässigung des Raums in der Soziologie insgesamt42, wird auch über die Beziehung des Sports zum Raum nur selten nachgedacht.43 Dabei handelt es sich beim Sport um eine durchaus raumgreifende und raumkonstituierende Praxis, die von Anfang an auch die Architektur auf den Plan gerufen hat. Für sportliche Aktivitäten werden Hallen, Bahnen, Arenen, Schanzen und Stadien gebaut. Es gibt kaum eine Sportart, die sich nicht mit der Vorstellung eines spezifischen Raumes verbinden würde. Ja, mehr noch: Erst durch entsprechende organisatorische und räumliche Arrangements wird ein bestimmtes Tun als sportliche Handlung anerkannt. Im Wald und im Park wird »Joggen« genannt, was in der Sportarena »Laufen« heißt. Im alltäglichen Verkehr auf öffentlichen Straßen gilt Auto fahren nicht als Sport, auf einer eigens dafür gebauten Rennstrecke sehr wohl. Der Beispiele wären viele. Entscheidend ist, dass die für die Herausbildung der Moderne so elementare funktionale Differenzierung bisher kaum als zunehmende Differenzierung von Räumen gedacht worden ist – mit Ausnahme von Maurice Halbwachs, der mit seiner Unterscheidung von sozialer, politischer, ökonomischer und religiöser Morphologie nicht zuletzt dies im Sinn gehabt zu haben scheint: »Man kann also feststellen, daß in allen Ländern ebenso wie ein militärischer, ein juristischer, ein fiskalischer Raum besteht. All diese Räume sind in fest umrissene Einheiten untergliedert, mit einem örtlich genau bestimmbaren Hauptsitz und nachgeordneten Verwaltungsstellen. Bereiche, die sich manchmal zweifellos überschneiden, die aber gleichwohl eine jeweils eigene Ausdehnung, eigene Einteilung, eine ganz eigene Struktur und Form besitzen. In dem Maße, wie sich diese Aufgaben besondern, unterscheiden sich auch diese Räume immer deutlicher. Die Menschen müssen lernen, von einem in den anderen wechseln zu können, ohne sie durcheinander zu bringen, sich in jedem von ihnen zurecht zu finden. Erleichtert wird ihnen das durch jene genau bezeichneten Standorte im Raum, deren Bild sich im Denken einprägt«.44
42 Vgl. M. Schroer: Räume, S. 17ff. 43 Was sich auch für den Bereich des Sports gerade zu ändern scheint, vgl. Bernard Boschert: »Der Sport und der Raum – der Raum des Sports«, in: SportZeit 2 (2002), S. 19-37. 44 M. Halbwachs: Soziale Morphologie, S. 38. An anderer Stelle findet sich die Unterteilung in den juristischen Raum, den wirtschaftlichen Raum und den religiösen Raum: Das kollektive Gedächtnis, S. 143ff. 30
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Auch im Hinblick auf den Sport lässt sich dieser Zusammenhang beobachten. Zwar bricht der Sport auch aus seinen institutionalisierten Räumen aus und sucht sich Aktivitätsräume, die nicht eigens für ihn geschaffen, sondern durch andere Nutzungen charakterisiert sind.45 Doch bei der gegenwärtigen Überbetonung dieser Entwicklung wird der für unsere unmittelbare Gegenwart ebenso charakteristische Aufbau von aufwendigen Spielstätten vernachlässigt, die eigens für sportliche Aktivitäten geschaffen werden und zu wahren Prestigeobjekten der Städte avancieren, mit denen sie sich gewissermaßen als ebenso schnell erkennbare wie unverwechselbare Marke zu inszenieren versuchen. Dabei ist erstens an die enorme Bautätigkeit zu denken, die dem Aufbau neuer Golfplätze gewidmet wird. Komplette Landschaften werden umgekrempelt, um sie in gepflegte Rasenanlagen umzuwandeln. Dabei ist zweitens an die neuen Formel 1-Rennbahnen zu denken, die in den letzten Jahren zu den traditionellen Strecken hinzugetreten sind und anders als diese auch unter architektonischen Gesichtspunkten wahrgenommen werden. Und dabei ist drittens an die Stadionbauten für den Fußball zu denken, die vor allem in Deutschland im Hinblick auf die Weltmeisterschaft im eigenen Land für gehörige Investitionen vieler Städte geführt haben – und viertens schließlich an die Olympiastadien weltweit. Der jeweiligen Architektur des Stadions respektive der Rennstrecke wird eine verstärkte Aufmerksamkeit zuteil. Es geht längst nicht mehr nur um den Sport an sich, der vor beliebiger Kulisse stattfindet. Vielmehr wird den Spielstätten des Wettkampfes, den Arenen und Stadien, eine Aufmerksamkeit geschenkt, die den Ort des Geschehens nicht zu einem bloßen Austragungsort degradiert, sondern gewissermaßen als eigenen Akteur in das Blickfeld der Öffentlichkeit rückt. Im Folgenden soll der Wandel der Stadionarchitektur anhand der Frage untersucht werden, was die architektonischen Veränderungen der Stadien über unsere gegenwärtige Gesellschaft aussagen.
3.1 Von der »Kampfstrecke« zur »Multifunktionsarena«: Zum Wandel der Stadionarchitektur Der aus dem Griechischen stammende Begriff »Stadion« bezeichnete zunächst die 192,27 Meter lange »Kampfstrecke« zwischen Start und Ziel. Diese Strecke hat sich nach und nach in eine ovale Bahn verwandelt, die von Tribünen umgeben ist, denen in jüngster Zeit eine Dachkonstruktion hinzugefügt wurde, so dass wir insgesamt von einer Entwicklung von der offenen zur geschlossenen Form sprechen können: 45 Vgl. Karlheinz Bette: Systemtheorie und Sport, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 192ff. 31
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»Könnte man die Geschichte des modernen Stadionbaus als Video im Schnelldurchlauf betrachten, würde eine langwierige und kontinuierliche Einschließung der Masse sichtbar. Diese Bewegung – wie eine Auster, die sich langsam schließt – wird symbolisch durch jene Schiebedächer wiederholt, mit denen die neuesten Stadien seit den 1990er Jahren ausgestattet sind«.46 Wenngleich es sich bei dieser zunehmenden Verkapselung der Stadien um einen allgemeinen, global zu beobachtenden Trend handelt, so ist die moderne Stadienarchitektur dennoch alles andere als homogen. Sieht man sich den gegenwärtigen Stand der Entwicklung von Fußballstadien an, so haben wir es auf der einen Seite mit einer ganzen Reihe wiederkehrender Elemente zu tun, auf der anderen Seite aber auch mit deutlichen Differenzen. So verfügen zum Beispiel einerseits zwar alle zwölf für die WM 2006 in Deutschland gebauten respektive umgebauten Stadien über teure Dachkonstruktionen, gewaltige Tribünen, überdimensionale Screens, verglaste VIP-Lounges und zahlreiche Kamerastandpunkte. Andererseits aber verfügt etwa das Münchner Stadion über 106 VIP-Logen, das Dortmunder Stadion dagegen nur über elf. In Dortmund gibt es dagegen noch rund 27.000 Stehplätze, während das Münchner Stadion – einem globalen Trend folgend – ausschließlich Sitzplätze aufweist. Damit sind zwischen den Stadien auch regionale Unterschiede erkennbar, die bereits bestehende Differenzen zwischen einzelnen Städten weiter verfestigen, etwa im Sinne des Image-Unterschiedes zwischen der »Arbeiterstadt Dortmund« und der »SchickiMicki-Stadt München«. Architektur fungiert hier zweifellos auch als Spiegel der Sozialstruktur. Was sich allerdings über die Jahre gleich geblieben ist, ist die architektonische Grundstruktur der Stadien. Ob wir es mit alten, gänzlich neuen Stadien oder einer Mischform zu tun haben: Was sie alle miteinander verbindet, ist, dass jedes Stadion grundsätzlich drei Räume miteinander konfrontiert: a) einen Innenraum, in dem das jeweilige – meist sportliche Ereignis47 – stattfinden soll, b) einen Zuschauerraum, der als Tribüne den Innenraum umschließt und einen bis an das Stadion angrenzenden c) Umgebungsraum. Das Stadion ist ein Raum, der durch eine Grenze nach außen ebenso bestimmt wird wie durch die Grenzziehun-
46 Camiel van Winkel: »Tanz. Disziplin, Dichte und Tod. Die Masse im Stadion«, in: Matthias Marschik u.a. (Hg.), Stadion. Geschichte, Architektur, Politik, Ökonomie, Wien: Turia & Kant 2005, S. 229-257, 251. 47 Die Einschränkung bezieht sich auf die Tatsache, dass Stadien auch für andere Zwecke benutzt worden sind – etwa als Gefängnisse oder KZ. Zu dieser dunklen Geschichte der Stadien vgl. Bernard Hachleitner: »Das Stadion als Gefängnis«, in: M. Marschik u.a. (Hg.), Stadion. Geschichte, Architektur, Politik, Ökonomie, Wien: Turia & Kant 2005, S. 258-281. 32
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gen im Inneren des Stadions. Der Charakter eines jeden Stadions ergibt sich nicht zuletzt aus der Betonung oder der Abschwächung dieser Grenzen.48 Bei näherer Betrachtung der Entwicklung dieser Grenzen fällt auf, dass sie sich in den letzten 100 Jahren stark verändert haben. So betonen etwa die für die Anfänge des Stadionbaus in Deutschland typischen Erdstadien noch kaum den Unterschied zwischen Zuschauer- und Umgebungsraum, die eher fließend ineinander übergehen (Abb. 1).
Abb. 1: Erdstadion: T. Garnier, Lyon 1916. Diese Stadien sind in die Erde eingelassen, haben keine steil aufragende Außenfassade, die letzten Reihen der Tribünen befanden sich vielmehr auf Höhe des sie umgebenden Bodens. Gleichzeitig ziehen sie die Grenze zwischen Innenraum und Zuschauerraum weit auseinander, indem multifunktionale Stadien gebaut werden, die Turnplätze, Schwimmbahn, Lauf- und Radrennbahn im Innenraum versammeln und dadurch eine große Distanz zwischen Innen- und Zuschauerraum schaffen. Heute scheint der Trend genau umgekehrt dahin zu gehen, die Außengrenze ebenso stark zu betonen wie die zwischen Innenraum und Zuschauerraum, die gewissermaßen unmittelbar aneinander anschließen. Das Bestreben der Architekten von reinen Fußballstadien geht gerade dahin, das Publikum so nah wie möglich an das Geschehen auf dem Platz heranzurücken, eine unmittelbare Konfrontation zwischen Spielern 48 Per Leo: »Das Stadion«, in: Alexa Geisthövel/Habbo Knoch (Hg.), Orte der Moderne. Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M./New York: Campus 2005, S. 151-160, 152. 33
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und Publikum zu ermöglichen, womit die Grenze aber umso mehr betont wird. Der betonte Abschluss nach außen erfolgt vor allem durch die vertikal steil ansteigenden Tribünen, die das Stadion von außen wie ein wehrhaftes Bollwerk erscheinen lassen, in das Einlass zu erhalten nicht ohne weiteres möglich erscheint.49 Die Entwicklung der Stadien führt insgesamt von Mehrzweckstadien, in denen es zu einer Integration verschiedenster Sportarten kommt, die an einem Ort versammelt sind, hin zu reinen Fußballstadien, aus der alle anderen Sportarten verbannt sind. Galt noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Leitspruch: »Kein Sportplatz ohne Schwimmbecken«, so wird heute selbst die Leichtathletik zunehmend aus dem Stadion entfernt. Wir haben es also auf der einen Seite mit einer hochgradig funktionalen Differenzierung zu tun, die nach dem Motto verfährt: Jeder Sportart einen ihr spezifisch zugewiesenen Raum; und auf der anderen Seite mit einer Entdifferenzierung: insofern die neuen Stadien andere als sportliche Aktivitäten innerhalb ihrer Räumlichkeiten erlauben, die das Fußballspiel zum Teil wie ein Nebenereignis erscheinen lassen. Das Mehrzweckstadion hat sich in eine Multifunktionsarena verwandelt, die sich vor allem durch ihre so genannte »Mantelnutzung« erheblich von ihren Vorgängern unterscheidet: Die Integration von Restaurants, Bars, Einkaufszentren, Fanartikel-Shops und vielem mehr in das Innere des Stadions soll so viele Besucher wie möglich anlocken, die so lange wie möglich bleiben sollen. Entgegen den alten Stadien, die vor allem durch den Wechsel von »leer« und »gefüllt« geprägt waren50, scheinen die neuen Stadien auf Dauernutzung hin angelegt zu sein.51 Was die Arenen von ihren Vorgängern darüber hinaus unterscheidet, ist die Verwendung leichter, transparenter und wandelbarer Baumaterialien. Sie scheinen insofern nicht mehr für die Ewigkeit gebaut, sondern sind von Anfang an auf Wandelbarkeit hin ausgerichtet. Eine Wandelbarkeit, die ihnen am Ende aber wieder zur Dauerhaftigkeit verhelfen könnte. Denn anders als ihre Vorgänger sind die Stadien so gebaut, dass sie auf veränderte Bedürfnisse flexibel reagieren können. Schon jetzt 49 Ausgeschlossen scheint heute z.B. auch, dass der Bau des Stadions es direkt an das Stadion angrenzenden Privathäusern ermöglicht, aus ihren Fenstern das Spiel zu verfolgen, wie man es auf Fotos alter Stadien sieht. 50 Vgl. dazu Jan Tabor: »Olé. Architektur der Erwartung. Traktat über das Stadion als Sondertypus politischer Geltungsbauten (Fragment)«, in: Matthias Marschik u.a. (Hg.), Stadion. Geschichte, Architektur, Politik, Ökonomie, Wien: Turia & Kant 2005, S. 49-90; 58; Hans Ulrich Gumbrecht: Lob des Sports, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 147f. 51 Detaillierte Informationen zu allen neuen WM-Stadien enthält der Band: Stadionwelt (Hg.): Faszination Stadion 2006. Die WM-Stadien. Geschichte – Porträts – Ausblick, Leipzig: Stadionwelt 2005. 34
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sind die Stadien so angelegt, dass an einem Abend ein Fußballspiel stattfindet, wo anderntags ein großer Opernevent aufgeführt wird. Rasen können komplett nach draußen geschoben werden, Dächer geschlossen und Tribünen aufgestockt werden. Gewissermaßen auf die Spitze getrieben wird dieser Trend in der von Herzog & de Meuron gebauten Allianz Arena in München-Fröttmanning, die – im Volksmund als »Tupperdose« oder »Kaiserklo« verspottet – vielleicht am weitesten entfernt ist von den »Betonschüsseln« früherer Jahre. Erklärtes Ziel der Architekten ist es, das Stadion wie einen lebendigen Organismus aussehen zu lassen, der nicht nur Dank der aufblasbaren Kunststoffkissen sowohl blau als auch rot leuchten kann, je nachdem welche Münchner Mannschaft gerade spielt; nein, auch die Intensität der Farbe soll sich verändern können – je nach Spielstand und Befindlichkeit der Fans. Dem Äußeren des Stadions sind also Informationen über das Geschehen im Inneren zu entnehmen. Und in diesem Sinne haben wir es nicht nur mit der klassischen Beziehung zu tun, dass die räumlichen Strukturen Einfluss auf das Spiel, das Publikum und die Atmosphäre haben, sondern auch mit dem umgekehrten Verhältnis, nachdem die Handlungen der Akteure Einfluss auf den Raum und seine Spezifika ausüben. Und so bestätigt sich an diesem hoch aktuellen Beispiel ein Zusammenhang, den schon Halbwachs auf die bereits zitiert Formel gebracht hat: »Der Ort hat das Gepräge der Gruppe erhalten und umgekehrt«.52
3.2 Von der »Kampfbahn Rote Erde« zum »Signal Iduna Park«: Erinnerungsort oder Markenartikel? Zahlreiche sportliche Großereignisse sind tief eingegraben in das kollektive Gedächtnis der Nationen, vor allem wenn sie aus dem Bereich des Fußballs stammen. Dass viele dieser Ereignisse mit bestimmten Orten verbunden sind, ist vor dem Hintergrund der Halbwachs’schen Theorie des kollektiven Gedächtnisses wenig überraschend. Wie wir gesehen haben, sind für Halbwachs Ereignisse, die sich nicht räumlich manifestiert haben, dem Vergessen preisgegeben. Ohne spezifische Orte, auf deren Bilder sich die Erinnerung beziehen kann, keine Erinnerung. Gerade für den Bereich des Fußballs kann gelten, dass schon die bloße Nennung eines bestimmten Ortes genügt, um die Erinnerung an unvergessliche Momente der Fußballgeschichte in Erinnerung zu rufen: Das gilt für den »Betzenberg« ebenso wie für den »Bökelberg«. Und unter dem »Wunder von Bern«, »Heysel« oder »Wembley« dürften sich auch diejenigen etwas vorstellen können, die sich zur Gruppe eingefleischter Fußballfans
52 M. Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis, S. 130. 35
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nicht hinzuzählen würden. Als das (mittlerweile auch verfilmte) »Wunder von Bern« gilt der am 4. Juli 1954 errungene 3:2 Sieg der deutschen Nationalmannschaft gegen die als Favoriten gehandelten Ungarn, der die Deutschen zum Fußballweltmeister machte. »Heysel« steht dagegen für eine der dunkelsten Tage in der Geschichte des Fußballs. Während des Europapokal-Endspiels zwischen dem FC Liverpool und Juventus Turin stürmten die Liverpooler Fans den neutralen Fansektor. Am Ende waren 39 Tote und 454 Verletzte zu beklagen. »Wembley« schließlich ist das vielleicht bekannteste Stadion der Welt, das der brasilianische Weltfußballer Pelé als »Kirche des Fußballs« bezeichnet hat. Trotz seines Weltruhms ist das 1923 in London eröffnete und für die Olympischen Spiele 1948 umgebaute Stadium 2003 abgerissen worden, um einem vom Stararchitekten Norman Forster entworfenen Neubau Platz zu machen, der am 10. März 2007 (nach vier langen Jahren Bauzeit) eröffnet wurde. Zu den Folgen des Abrisses dieses traditionsreichen, von vielen legendären Begegnungen geprägten Stadions schreiben Regine Prinz und Hilde Strobl ganz im Sinne von Halbwachs: »Das Wembley National Stadium soll zwar das größte, modernste und zugleich teuerste Mehrzweckstadion der Welt mit 90.000 Sitzplätzen und beweglichem Dach werden und für die Olympischen Spiele 2012 zur Austragung der Fußballendspiele dienen, doch die Erinnerung an die Legende Wembley ist gelöscht.«53 Wenn man die Erinnerung an das Vergangene zerstören will – das steht für Halbwachs unzweifelhaft fest – muss man die Gebäude zerstören, die die Erinnerung daran bewahren.54 Hinsichtlich der räumlichen Manifestation vergangener Gesellschaftsformationen gilt es nach Halbwachs grundsätzlich zwischen zwei verschiedenen Umgangsformen mit dem baulichen Erbe zu unterscheiden.55 Auf der einen Seite können trotz politischer Umwälzung Ministerien und Parlamente an denselben Orten verbleiben, an denen sie auch schon unter dem Vorgängerregime standen. Die Gebäude bleiben unangetastet, auch wenn sich die Aufgabe und personelle Zusammensetzung der in ihnen befindlichen Institutionen radikal geändert hat. Auf der anderen Seite wird insbesondere in revolutionären Zeiten der Bruch mit der Vergangenheit gesucht, indem es etwa zu anderen Gebietsaufteilungen kommt oder repräsentative Gebäude zerstört werden. Während die erste Möglichkeit auf die Bewahrung räumlicher Manifestationen durch deren Umwidmung, also auf Kontinuität setzt, geht es bei der zweiten 53 Regine Prinz und Hilde Strobl: »Sportkultur – Kulturarchitektur«, in: Winfried Nerdinger (Hg.), Architektur + Sport. Vom antiken Stadion zur modernen Arena, Wolfratshausen: Ed. Minerva 2006, S. 127. 54 Vgl. M. Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis, S. 159. 55 Vgl. M. Halbwachs: Soziale Morphologie, S. 39. 36
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um den sichtbaren Bruch mit der Vergangenheit, der mit dem Abriss repräsentativer Gebäude sinnfällig gemacht werden soll.
Abb. 2: Olympiastadion Berlin. Mit einer ähnlichen Situation wie die neuen Machthaber in dem von Halbwachs geschilderten Fall, bekamen es viele Städte zu tun, die sich um einen WM-Spielort für die 2006 in Deutschland ausgetragene Fußballweltmeisterschaft bewerben wollten. Für sie stand die Frage ›Erhalt, Umbau oder Neubau?‹ ebenfalls zur Debatte. Hinsichtlich der umgesetzten Lösungen lassen sich drei Varianten unterscheiden: 1. Umbau: Das neue Stadion wurde gewissermaßen um das alte herum gebaut, wobei Teile des alten Stadions erhalten blieben. Statt eines kompletten Neubaus ging es um die Veränderung des vorhandenen Objekts im Sinne einer behutsamen Modernisierung. Man setzt auf Kontinuität und Tradition. Ausdrücklich soll dadurch die Erinnerung an die alte Spielstätte bewahrt bleiben. Beispiele: Das »Olympiastadion« in Berlin56 (Abb. 2) und das »Stadion der 100.000« in Leipzig. 2. Abriss und Neubau: Das alte Stadion wird abgerissen, um einem am selben Ort errichteten neuen Stadion Platz zu machen. Man vollzieht den Bruch mit dem Vergangenen und setzt mit einem Neubeginn auf die
56 In seinem Grußwort zur Eröffnung des äußerst behutsam modernisierten Stadions schrieb der regierende Bürgermeister von Berlin Klaus Wowereit: »Wir haben damals bewusst darauf verzichtet, ein neues Stadion zu bauen. Es wäre der falsche Weg gewesen, jenen authentischen Erinnerungsort aufzugeben, in dem 1936 unter den Augen Hitlers und der NSFührung die Olympischen Sommerspiele inszeniert wurden. Berlin stellt sich seiner Geschichte. Wer die steinernen Zeugnisse der Zeitgeschichte beseitigt, wird die Dämonen der Geschichte nicht los – im Gegenteil« (http://www.architektur-bauphysik.de/heft_07.html vom 20.10.2008). 37
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Zukunft. Beispiel: Das bereits erwähnte »Wembley-Stadion« in London oder die »Arena auf Schalke« (Abb. 3).
Abb. 3: Arena auf Schalke. 3. Erhalt und Neubau: Das alte Stadion bleibt unverändert bestehen, während a) an einem anderen Ort oder b) direkt neben dem alten ein neues Stadion errichtet wird. Damit wählt man gewissermaßen den Kompromiss, setzt sowohl auf Kontinuität und Tradition als auch auf Bruch und Neubeginn. Im Gegensatz zur zweiten Möglichkeit verzichtet man auf den Abriss des alten Stadions, das unverändert bestehen bleibt. Beispiele: a) Die »Allianz-Arena« in München-Fröttmaning (Abb. 4) und b) der »Signal Iduna Park«, das ehemalige »Westfalenstadion« in Dortmund, das direkt neben dem alten Traditionsstadion »Rote Erde« steht (Abb. 5). Gegen die geplanten neuen Stadien hat es in sehr vielen Fällen Protest seitens der Fans gegeben, der niemanden überraschen konnte, der mit der Fanszene und ihrer tiefen Verbundenheit mit ihrem Stadion einigermaßen vertraut ist: »Für viele Fußballfans ist das Fußballstadion der Ort, wo sie sich am häufigsten aufhalten – von der Wohnung und dem Arbeitsplatz mal abgesehen. Vielleicht ist es die letzte Verbindung zu ihrer Kindheit, mit ihren Eltern oder einer Gegend, in der sie aufgewachsen sind. So ist das nicht nur ein Stadion, sondern ein Ort öffentlicher
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Erinnerung«.57 Auch für Halbwachs ist klar, dass von den Steinen kein Widerstand zu erwarten ist, die sich beliebig versetzen lassen. Widerstand geht vielmehr von den Gruppen aus, die mit den Steinen eine Verbindung eingegangen sind, die sie nicht ohne weiteres aufgeben wollen: »Wenn zwischen den Häusern, den Straßen und den Gruppen ihrer Bewohner nur eine rein zufällige Beziehung von kurzer Dauer bestände, können die Menschen ihre Häuser, ihre Straßenviertel, ihre Stadt zerstören und auf demselben Grund eine andere Stadt nach einem andersartigen Plan wiederaufbauen; aber wenn die Steine sich auch versetzen lassen, so kann man doch nicht ebenso leicht die Beziehungen verändern, die zwischen den Steinen und den Menschen entstanden sind.«58
Abb. 4: Allianz Arena München. Der Protest gegen die geplanten Abrisse ist denn auch stets von der Gruppe der Fans ausgegangen, was für dessen Wirkung nach Halbwachs von entscheidender Bedeutung ist, da das Bedauern einzelner Individuen über den Verlust alter Häuser, Plätze und Straßenecken – und damit auch: alter Stadien – notwendig folgenlos bleibt. Der Widerstand der Gruppe dagegen bleibt keineswegs wirkungslos, weil sie sich nicht nur empört zeigt und gegen die Veränderung aufbegehrt, sondern sich unter 57 So der englische Sport-Publizist und Fußballstadionexperte Simon Inglis, zit. nach Werner Skrentny: Das große Buch der deutschen Fußballstadien, 2. Aufl. Göttingen: Die Werkstatt 2001, S. 8. 58 M. Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis, S. 133f. 39
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den geänderten Verhältnissen neu zu konstituieren sucht: »Die Gruppe sucht – und teilweise gelingt es ihr – in den neuen Verhältnissen ihr früheres Gleichgewicht wiederzufinden. Sie versucht, sich in einem Stadtviertel oder einer Straße, die nicht mehr für sie gemacht sind, sich aber an der Stelle befinden, wo sie gelebt hat, aufrechtzuerhalten und neuzubilden.«59
Abb. 5: Westfalenstadion und Kampfbahn Rote Erde. Und so stößt man denn etwa in neuen Stadtvierteln auf zahlreiche »materielle Überreste« vergangener Epochen, zumindest aber auf traditionelle Benennungen von Straßen, Plätzen oder Läden. Dabei mag man in unserer Zeit sowohl an den »Tante-Emma-Laden«, die Traditionsmetzgerei oder auch das »Gasthaus zur Post« denken, die in greifbarem Widerspruch zu den modernen Supermärkten, Warenhäusern und neuen Einkaufstempeln um sie herum stehen. Übertragen auf die Stadien aber heißt dies, dass nur in den an selber Stelle errichteten oder den schonend umgebauten Stadien die Fans sich in alter Form neu konstituieren können. Notwendig für die Wahrung der Kontinuität dürfte allerdings auch der Name des Stadions sein, dem eine kaum zu unterschätzende symbolische Deutung zukommt. Die Proteste gegen die Umbenennung der Stadien haben in der Tat mehr Protestaktionen der Fans entfacht als die Stadionbauten selbst. Sie tragen inzwischen zumeist den Namen des Hauptsponsors, so dass etwa das Frankfurter Waldstadion nunmehr 59 Ebd., S. 135. 40
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»Frankfurter Volksbank Stadion« heißt, das Dortmunder Westfalenstadion »Signal Iduna Park«, das Schalker Parkstadion »Veltins-Arena«, das Nürnberger Frankenstadion »easy-credit-Stadion«, das Kölner Müngersdorfer Stadion »RheinEnergieStadion«, das neue Münchner Stadion »Allianz-Arena« und so weiter. An die Stelle der Erinnerungsorte treten insofern Markennamen, die keinen Bezug mehr zur lokalen Umgebung aufweisen, sondern den Sponsor in den Vordergrund rücken. Insofern wird es den Fans derzeit nicht eben leicht gemacht, die Erinnerung an die vergangene Zeit ihrer Clubs aufrecht zu erhalten und sich mit dem neuen Stadion zu identifizieren. Maurice Halbwachs’ Ausführungen lässt sich nun kein Plädoyer für den Erhalt oder den Abriss alter Gebäude entnehmen. Obwohl man zunächst meinen könnte, dass er generell für den Erhalt eintreten müsste, da mit dem Abriss die Erinnerung zerstört wird, so bewertet er den Erhalt räumlicher Strukturen doch als sehr kritisch, wenn dadurch gravierende Veränderungen, die sich vollzogen haben, nicht sichtbar werden. Allerdings zeigt er sich überzeugt, dass gravierende Veränderungen im Zusammenleben der sozialen Gruppen letztlich nicht ohne Auswirkungen auf den Ort des Zusammenlebens bleiben: »Ein wirklich schwerwiegendes Ereignis bringt immer eine Wandlung des Verhältnisses der Gruppe zum Ort mit sich, sei es, sie modifiziere den Umfang der Gruppe – beispielsweise ein Todesfall oder eine Hochzeit –, sei es, sie modifiziere den Ort, wenn die Familie reicher oder ärmer wird, wenn der Familienvater in eine andere Stellung berufen wird oder den Beruf wechselt. Von diesem Augenblick an wird es nicht mehr genau dieselbe Gruppe geben, auch nicht mehr dasselbe kollektive Gedächtnis; aber gleichzeitig wird auch die materielle Umgebung nicht mehr dieselbe sein«.60 Als schwerwiegendes Ereignis muss im Fall der Stadien die Entscheidung, die WM nach Deutschland zu holen, herhalten, die durchaus auch politisch gewollte Stadienum- und Neubauten nach sich gezogen hat.
3.3 Vom »Arbeiterhort« zum »VIP-Stadion«: Zum Wandel des Fußballpublikums Eines der herausragenden Charakteristika der neuen Stadien ist, dass sich in ihnen das Verhältnis von Steh- und Sitzplätzen im Vergleich zu ihren Vorgängern geradezu umgedreht hat. Statt überwiegend aus Stehplätzen zu bestehen, werden in manchen modernen Stadien gar keine Stehplätze mehr geplant. Im neuen Wembley-Stadion sind zum Beispiel 90.000 Sitzplätze, aber keine Stehplätze mehr vorgesehen. Was die Sta-
60 Ebd., S. 130. 41
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dien komfortabler und sicherer machen soll, macht sie zugleich zu einem exklusiven Ort, der für einen Teil des Publikums, nämlich für die eigentlichen Fans, immer schwerer erreichbar wird. In der Erweiterung der Sitzplatzreihen nur eine Verdrängung einkommensschwacher durch einkommensstarke Bevölkerungsschichten im Sinne einer Gentrifizierung zu sehen, übersieht allerdings, dass im Gegenzug einkommensstarke Bevölkerungsgruppen gewonnen werden sollen. Der partiellen Exklusion der klassischen Fangemeinde steht eine Inklusion einkommensstarker Bevölkerungsgruppen gegenüber, die bisher nicht zum klassischen Fußballpublikum gehörten. Die Ausweitung der Sitzplätze lässt sich als Komfortsteigerung (und Sicherheitsintensivierung) interpretieren, die allen Besuchern zu gute kommt, denn der »gemeine Fan« muss ebenso wenig mehr frieren und nass werden wie der gut situierte. Von dieser allgemeinen Überdachung und Sitzmöblierung zu unterscheiden ist allerdings der eigens für einkommensstarke Stadionbesucher vorbehaltene Bereich der Logen respektive Lounges. Dieses Angebot wird zumeist von Unternehmen wahrgenommen, die für die Miete der entsprechenden Räumlichkeiten zwischen 50.000 und 75.000 € pro Saison ausgeben. Enthalten darin sind Buffet, Service, Parkplatz direkt vor dem Stadion, oftmals in einer Tiefgarage unterhalb des Stadions und so weiter. Mit diesem Angebot versuchen die Vereine neue Schichten zu erschließen und finanzkräftiges Publikum anzulocken. Obwohl dieser Vorgang auf Seiten der organisierten Fangemeinde mit großer Skepsis verfolgt wird, müssen auch diese einräumen, dass das so erwirtschaftete Geld bitter nötig ist für die Finanzierung des neuen Stadions und die Bezahlung der teuer eingekauften Spieler. Auf beide wollen sie so wenig verzichten wie der Verein auf seine Fans. Entgegen der Vorstellung, dass die Fans aus den neuen Stadien zunehmend vertrieben werden sollen, steht beim Bau der neuen Stadien offenbar eher die Frage im Mittelpunkt, wie man die Begegnung des klassischen mit dem neuen Publikum vermeiden kann. Beiden Seiten soll offensichtlich nicht zugemutet werden, einander aus der Nähe wahrnehmen zu müssen. Bei den baulichen Vorhaben ist denn auch streng darauf geachtet worden, dass sich die beiden Gruppen möglichst gar nicht erst über den Weg laufen. In diesem Bestreben scheinen die Betreiber der Stadien einer Einsicht zu folgen, die Pierre Bourdieu wie folgt formuliert hat. »Nichts ist unerträglicher als die als Promiskuität empfundene Nähe sozial fern stehender Personen«.61 Die Stadienbetreiber haben alles daran gesetzt, das Risiko einer Begegnung zwischen so-
61 Pierre Bourdieu: »Ortseffekte«, in: Ders. et. al., Das Elend der Welt. Zeugnisse aus dem beschädigten Leben, Konstanz: UVK 1997, S. 165. 42
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zial fern stehenden Personen so gering wie möglich zu halten. In recht unverblümter Weise hat die Leitung des Kölner Vereins die Verhinderung einer solchen Promiskuität zumindest als Teilziel ihrer verkehrsplanerischen Überlegungen ausgegeben: »Damit sich die VIPs nicht mit den normalen Fans um die Parkplätze streiten müssen, wird es 600 Promi-Parkplätze geben«.62
Abb. 6: Business-Club in der Allianz Arena. Ob die Motivation dieses Publikumsegments freilich mit dem schon von Halbwachs beobachteten Bedürfnis, »sich zu ›zeigen‹«63 zu tun hat, scheint fraglich. Sich zeigen will sich inzwischen vor allem das Kernpublikum der Fans, während sich die VIPs offenbar eher verstecken wollen. Vom Rest des Publikums unbemerkt, betreten und verlassen sie das Stadion über unterirdische Parkplätze, Gänge und Lifte; während des Spiels verbringen sie die meiste Zeit ungesehen hinter Glas in ihren Logen (Abb. 6). Insofern teilt sich das Publikum mehr und mehr in einen bloß zusehenden und einen teilnehmenden Teil. Während der passive Teil nur partiell am Geschehen teilnimmt, weil er sich über weite Teile des Spiels im Innenraum seiner Loge aufhält, unterstützt das aktive Publikum durch Sprechchöre und Rufe »seine« Mannschaft und beobachtet diese Aktionen zugleich auf den riesigen Screens, die zum unverzichtba62 W. Skrentny: Das große Buch der Fußballstadien, S. 361. 63 Maurice Halbwachs: Klassen und Lebensweisen. Ausgewählte Schriften, Konstanz: UVK 2001. 43
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ren Inventar der neuen, medial ausgerichteten Stadien avanciert sind. Während damit das aktive Publikum seine Mannschaft und sich selbst feiert, berauscht sich der passive Teil an einer Atmosphäre der »Efferveszenz«, der kollektiven Erregung, zu der er selbst nichts beiträgt.64 Der Blick auf die Zusammensetzung des Publikums zeigt insgesamt, dass es in den neuen Stadien zu einer starken Segmentierung des Publikums kommt, das in der Differenzierung der Tribünen in untere, mittlere und obere Ränge, in Logen, Lounges, Business- und Sponsorenbereiche seinen räumlichen Niederschlag findet. Einmal mehr bewahrheitet sich damit, was Halbwachs in Bezug auf die Klassen und ihr Verhältnis zum Raum notiert hat: »Klassen haben zumindest eine Neigung, sich im Raum voneinander abzugrenzen«.65 Was damit entsteht, ist eine neue Sichtbarkeit sozialer Unterschiede, die zuvor nicht sichtbar wurde, weil die verschiedenen Schichten im Stadion nicht aufeinander trafen. Dort aber, wo es zu einer Begegnung zwischen sozial stark voneinander unterscheidenden Gruppen kommt, verlangt es nach räumlichen Differenzierungen, um den von Durkheim bis Bourdieu gefürchteten »Zusammenstoß«66 zwischen ihnen zu vermeiden.
4 Resümee Die Überlegungen haben gezeigt, dass die soziale Morphologie von Maurice Halbwachs grundsätzlich davon ausgeht, dass sich gesellschaftliche Strukturen in die materielle Welt einschreiben, wodurch sie sich für eine Soziologie der Objekte und Dinge als ebenso fruchtbar erweist wie für eine Soziologie des Raums und der Architektur. Hätte man bis vor noch gar nicht so langer Zeit eine solche theoretische Annahme für hoffnungslos veraltet gehalten, so zeigt der spatial turn in den Sozialwissenschaften offenbar doch Wirkung, wenn mittlerweile sogar von Seiten der keineswegs zufälligen, sondern ausdrücklich raumfrei konzipierten Systemtheorie folgendes zu vernehmen ist: »Wer will ausschließen, daß die seit Jahrzehnten akute Krise der schulischen und universitären Erziehung auch etwas damit zu tun hat, daß diese im öffentlichen Raum kaum noch einen Ort hat [...]. Und wer will umgekehrt ausschließen, daß die immer wieder überraschenden Erfolge einer vielfach totgesagten Religion auch damit zusammenhängen, daß ihre Kirchen im Stadtbild unübersehbar sind und bei kleinsten Irritationen der Kirchen64 Vgl. Émile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens (frz. zuerst 1912), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 290ff. 65 Ebd., S. 51. 66 Vgl. M. Schroer: Räume, S. 49 und 94. 44
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raum zumindest für Momente Entlastung bietet?«67 Das ist ein Gedanke, der sich außerordentlich gut mit der Theorie von Maurice Halbwachs verträgt, denn – wie wir gesehen haben – garantieren die räumlichen Manifestationen sozialer Institutionen auch für ihn ihre Beständigkeit und Überlebensfähigkeit. Allerdings wird man räumliche Figurationen nicht mehr per se als Stabilitätsfaktoren ansehen können, wie Halbwachs dies im Einklang mit Comte und Durkheim getan hat. Die Steine sind womöglich nicht mehr so unempfindlich, die Dinge nicht mehr so unbeweglich und der Raum nicht mehr so permanent, wie Halbwachs dies noch annehmen konnte. Die fortschreitende Modernisierung hat auch schnelllebigere und beweglichere Materialien hervorgebracht, die insofern nicht mehr die Aufgabe erfüllen können, angesichts der beweglichen Zeiten einen Ruhepol bilden oder eine Kontinuitätsgarantie für den Fortbestand des Gewohnten geben zu können. Die allgemeine Beschleunigung und das Tempo des modernen Lebens schlagen sich vielmehr längst auch räumlich nieder und hinterlassen ihre Spuren in räumlichen Konfigurationen. Man kann dies gerade am Beispiel aktueller Trends in der Architektur verfolgen, wo es auf leichte und veränderliche Baumaterialien und Formen ankommt, wir es mit einer Art mobilen Architektur zu tun bekommen, die nicht mehr länger mono-, sondern multifunktional ausgerichtet ist.68 Insofern lässt sich Raum nicht mehr einseitig als Pol der Dauerhaftigkeit interpretieren, als ewiger Gegenpol zur Zeit, die für Entwicklung und permanente Veränderung steht. Das heißt aber nun umgekehrt auch nicht, dass Räume permanent im Fluss und beliebig veränderbar wären.69 Individuen machen die Erfahrung, dass sie in Räume eintreten, die sie nicht (mit-)geschaffen haben, die sie nicht verändern können und die länger bestehen bleiben werden, als sie selbst zu leben haben. Insofern gilt die Halbwachssche Auffassung noch immer: »Raum ist [...] eine Realität, die andauert«.70 Gerade vor dem Hintergrund umfassender Beschleunigungsprozesse, die für die Entwicklung der Moderne von Anfang an konstitutiv sind, wächst offenbar der Bedarf am Beständigen, 67 Dirk Baecker: »Platon oder die Form der Stadt«, in: Ders., Wozu Soziologie? Berlin: Kadmos 2004, S. 189-212, 202. 68 Markus Schroer: »Mobilität ohne Grenzen? Vom Dasein als Nomade und der Zukunft der Sesshaftigkeit«, in: Winfried Gebhardt/Ronald Hitzler (Hg.), Nomaden, Flaneure, Vagabunden. Wissensformen und Denkstile der Gegenwart, Wiesbaden: VS 2006, S. 115-125. 69 Vgl. Markus Schroer: »›Bringing space back in‹. Zur Relevanz des Raums als soziologischer Kategorie«, in: Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hg.), Das Raumparadigma. Zur Standortbestimmung des Spatial turn, Bielefeld: transcript 2007, S. 35-53. 70 M. Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis, S. 142. 45
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Überdauernden und Stabilen. Es ist das bleibende Verdienst der sozialen Morphologie, darauf hingewiesen zu haben, dass es die materiellen Artefakte sind, die eine Art Anker im Meer der Kontingenzen bilden. Schon für René König hat die soziale Morphologie gezeigt, dass die »eigentliche Strukturproblematik [zwar] relativ unabhängig ist vom materiellen Substrat einer Gesellschaft, [...] ohne dieses [aber] natürlich nicht begriffen werden könnte«. Und er folgert: »Das materielle Substrat hat also im wesentlichen symptomatologische Bedeutung«.71 Exakt in diesem spezifischen Sinne lässt sich das Stadion dann allerdings als Ort verstehen, an dem sich gesellschaftliche Trends wie unter einem Brennglas verdichten. So können wir den alten Stadien Bilder über die Vergangenheit abringen und an den neuen die Strukturen erkennen, die für die gegenwärtige Gesellschaft symptomatisch sind.
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71 René König: »Soziale Morphologie«, in: Ders. (Hg.), Soziologie. Frankfurt a.M.: Fischer 1958, S. 257-268, 260. 46
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MARKUS SCHROER
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Figurationszeichen. Die › Architektur der Gesellschaft‹ aus Sicht der Figurationssoziologie von Norbert Elias HERBERT SCHUBERT
Übersicht In dem Beitrag werden zuerst soziologische und im Besonderen architektursoziologische Grundaussagen der Zivilisationstheorie von Norbert Elias skizziert. Im zweiten Schritt wird der zivilisationstheoretische Orientierungsrahmen für eine architektursoziologische Empirie methodisch zugespitzt und ein abgeleitetes Operationalisierungskonzept vorgestellt. Anschließend kommt die entwickelte architektursoziologische Systematik exemplarisch zur Anwendung: Im Blickpunkt steht das neu gebaute Gefängnis der JVA Sehnde bei Hannover, das machttheoretisch eine Etablierten-Außenseiter-Architektur repräsentiert. In der Betrachtung des Beispiels wird auch Bezug genommen auf die Prozessbeschreibung in Foucaults historischer Gefängnisstudie. Abschließend werden die Figurationszeichen der JVA Sehnde physikalisch, sozial, organisatorisch, ökonomisch, funktional und symbolbezogen ›gelesen‹ und bewertet.
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HERBERT SCHUBERT
1 Die Figurations- und Zivilisationstheorie Begründet wurde die Zivilisations- und Figurationstheorie von Norbert Elias (1897-1990). In den 1930er Jahren hat er (im Exil) Benimm- und Manierenbücher aus verschiedenen Epochen vom frühen Mittelalter bis zum 18. Jahrhunderts in zwei verschiedene Richtungen ausgewertet1: Einerseits las er sie als Dokumente des längerfristigen Wandels der Gesellschaft (Staatenbildung), andererseits nutzte er sie als Quellen, um die in den gesellschaftlichen Entwicklungsprozess eingebettete Veränderung der Verhaltensstandards der Individuen zu erkennen. Dabei entdeckte Elias die Korrespondenz zwischen der Verlängerung der gesellschaftlichen Interdependenzketten und der Zivilisierung der menschlichen Affekte. Die Entstehung der europäischen Nationalstaaten steht danach in einem inneren Zusammenhang mit dem Prozess zunehmender individueller Triebregulierung.2 Elias verdeutlichte, dass die Psychogenese des Erwachsenenhabitus in der zivilisierten Gesellschaft nicht verstanden werden kann, wenn sie unabhängig von der Soziogenese der Zivilisation – also losgelöst von der Zentralisierung und Monopolisierung der körperlichen Gewaltausübung und ihrer Instrumente im Rahmen der Staatenbildung – betrachtet wird.3 Die Soziogenese der europäischen Staatsgesellschaften beruht auf der wachsenden Vernetzung einer Vielzahl von individuellen Handlungsabsichten. Dabei entsteht eine Verflechtung intentionaler Handlungen, die ungeplant zu einer nicht-intentionalen Ordnung führen. Die dabei entstehenden sozialen Gegebenheiten wurden während des Verlaufs des Zivilisationsprozesses zugleich ›individualisiert‹; das heißt: Sie werden im Rahmen der Psychogenese als Verhaltensmuster der Dämpfung und Zurückhaltung von Affekten sukzessiv Bestandteil des Habitus jedes Menschen. Bei dieser Zivilisierung der einzelnen Menschen verloren die Regeln des Verhaltens und Empfindens im Verlauf der Jahrhunderte immer mehr den Charakter von Fremdzwängen; sie wandelten sich zu Selbstzwängen im Sinne intraindividuell selbsttätiger Kontrollmechanismen.
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2
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Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Bd. I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, S. 75ff. Vgl. Herbert Schubert: »Das Altern der westeuropäischen Staatsgesellschaften: Über Bevölkerungsentwicklungen während des abendländischen Zivilisationsprozesses«, in: Hermann Korte (Hg.), Gesellschaftliche Prozesse und individuelle Praxis. Bochumer Vorlesungen zu Norbert Elias’ Zivilisationstheorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 86-128, 117ff. N. Elias: Über den Prozess, S. LXXIVf.
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Das – den Prozess ›antreibende‹ – »Interdependenzgeflecht« beschreibt Elias mit dem Begriff der »Figuration«, die einerseits vom Netzwerk interdependenter Individuen, andererseits aber auch auf höheren gesellschaftlichen Integrationsstufen von der gegenseitigen Angewiesenheit interdependenter Gruppierungen gebildet wird.4 Im Kern betont der Figurationsbegriff die labilen Machtbalancen in den funktionalen Verbindungen der Menschen sowie in komplexen gesellschaftlichen Einheiten. Norbert Elias wollte damit ein begriffliches Werkzeug schaffen, das die Vorstellung lockert, Individuum und Gesellschaft seien differente Phänomene.5 Die interdependenten Handlungen der Menschen auf der einen Seite konstituieren einen Verflechtungszusammenhang auf der anderen Seite und der funktionale Kontext der beiden Ebenen zusammen macht die Bedeutung des Figurationsbegriffes aus, wobei die »fluktuierenden Machtbalancen« das zentrale Strukturmerkmal des Zusammenhangs darstellen.6 Die Interdependenzen bilden sich in allen gesellschaftlichen Strukturen ab – zum Beispiel auch in den materiellen Erzeugnissen der Architektur. In einer Entwicklungsperspektive wandeln sich die materiellen Strukturen der Gesellschaft in derselben Weise, wie sich die Machtgewichte verlagern. Die gesellschaftliche Transformation durch die Veränderung des Verhältnisses zwischen Menschen respektive ihren Gruppierungen – wie zum Beispiel die Verringerung der Machtdifferenziale zwischen Regierenden und Regierten, zwischen sozialen Schichten oder zwischen Männern und Frauen und so fort – ist an den räumlichen Substraten und Repräsentanzen dieser Differenziale als Figurationszeichen abzulesen.7 Denn die Ausdifferenzierung der materiellen Potentiale einer Gesellschaft ist als Entwicklung gar nicht möglich ohne eine zu Grunde liegende Transformation der gesellschaftlichen Figuration in die Richtung einer weiteren Funktionsdifferenzierung.8 Figurationen mit einer ungleichen Machtbalance nehmen die Gestalt einer spezifischen Relation an, die Norbert Elias zusammen mit John L. Scotson Ende der 1950er Jahre in einer englischen Gemeinde empirisch untersucht und zu dem Paradigma der »Etablierten-Außenseiter-Figuration« weiter entwickelt hat.9 Elias und Scotson haben ein abgegrenztes Selbstbild in der Gruppierung vorgefunden, die über mehr Macht verfügt als eine andere, interdependente Gruppe. Zwischen »Alteingesessenen« 4 5 6 7 8 9
Norbert Elias: Was ist Soziologie? München: Juventus 1970, S. 11f. Ebd., S. 141. Ebd., S. 143. Ebd., S. 69ff. Ebd., S. 160. Norbert Elias/John L. Scotson: Etablierte und Außenseiter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 14. 51
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– definiert durch die Wohndauer in der Gemeinde (soziales Alter) – und den in die Untersuchungsgemeinde zugezogenen Außenseitern wurden Distanzierungsakte der etablierten von den neuen Gemeindemitgliedern beobachtet. Die Schlüsselrolle der »ungleichen Machtbalancen« zeigt sich darin, dass die Etablierten eine größere Macht besitzen, weil sie über eine längere Zeit einen homogeneren Gruppenzusammenhang mit höherem Kohäsionspotential gebildet haben. Die Außenseitergruppe weist demgegenüber eine größere Heterogenität und weniger Kohäsion auf. Vor diesem Hintergrund nutzen die Etablierten den Ausschluss und die Stigmatisierung der neuen Bevölkerungsgruppe als Waffen, um die eigene Identität zu behaupten und den Vorrang zu sichern. Die mächtigere Gruppe sieht sich selbst als die »besseren« Menschen an und die Außenseitergruppe erlebt die geringere Macht emotional als ein Zeichen ihres geringeren Werts.10
2 Architektursoziologische Grundaussagen der Zvilisationstheorie von Norbert Elias 2.1 Die architektursoziologische Theorie In der längerfristigen Perspektive des Zivilisationsprozesses repräsentiert die ›Architektur‹ ein professionelles Orientierungswissen und Gestaltungshandeln, um vorgefundene Räume respektive Raumsituationen zu gestalten. Auf drei Ebenen dient Architektur der Kontrolle11: (1) Technologisch hat sie im Zivilisationsprozess Wissen gebündelt, wie die Naturgewalten durch die Gestaltung baulicher Konstruktionen beherrscht werden können. Auf dieser ersten Ebene repräsentiert sie eine Technologieentwicklung zum Schutz der Menschen vor Naturereignissen. (2) Auf der zivilisatorischen Ebene des Prozesses der Soziogenese leistet die Architektur einen Beitrag zur baulichen Symbolisierung und räumlichen Strukturierung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Der Herstellungsprozess architektonischer Konstruktionen verkörpert auf der zweiten Ebene den Entwicklungsstand und die Differenzierung der Gesellschaft. (3) Auf der dritten Ebene der Psychogenese weisen Architekturprodukte den Individuen ihren gesellschaftlichen Platz im Raum zu und sozialisieren sie über die Gestaltung von gesellschaftlich determinierten Restriktionen gebauter Räume. Der Entwicklungsprozess der Architektur als Orientierungswissen und Gestaltungshandeln ist davon
10 Ebd., S. 22. 11 N. Elias: Was ist Soziologie?, S. 173. 52
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geprägt, auf diesen drei Handlungsebenen ein hohes Maß an Kontrolle über den Raum zu erreichen und die Raumnutzung zu regulieren. Auf der Grundlage der Zivilisationstheorie hat Norbert Elias Eckpfeiler für das architektursoziologische Forschungsprogramm gesetzt.12 Architektur wird dabei als Prozess erkennbar, in dem sich die Zivilisierung und Rationalisierung13 der Siedlungsräume vollzieht. In einer zivilisationstheoretisch begründeten Architektursoziologie können daher weder der Raum noch seine architektonischen Elemente als isolierte Gegenstände betrachtet werden. Die Architektur tritt vielmehr als sozialräumlicher Prozess entgegen, in dem sich mit den Sozialfiguren korrespondierend auch die Gestaltfiguren wandeln, so dass Architektur ein Repertoire von Zeichen gesellschaftlicher Figurationen darstellt und folglich als ›Repräsentanz des Gesellschaftlichen‹ für die empirische Sozialforschung genutzt werden kann. Das typische Grundschema der vorherrschenden »Verbegrifflichung« wird im soziologischen Diskurs vermieden, wenn Architektur nicht auf Gegenstände reduziert wird. Statt die zu beschreibenden Phänomene in der Wortbildung zu verdinglichten Elementen zu objektivieren, nimmt Elias in seiner Architektursoziologie die Perspektive ein, die im Prozess der Architektur enthaltenen personalen, aber auch kontextuellen räumlich-materialen Interdependenzen besonders zu berücksichtigen, wie das im Begriff der »Figuration« angelegt ist. Deshalb wird hier in der zivilisationstheoretischen Perspektive Architektur auf den Begriff des »Figurationszeichens« fokussiert. Architektur repräsentiert auf der einen Seite die Zusammenhänge zwischen wachsenden sozialen Abhängigkeiten unter den Menschen im Allgemeinen, die über die Städte sowie Regionen hinaus reichen, sowie die Abhängigkeiten unter Professionellen der Raumproduktion im Besonderen und auf der anderen Seite die Zusammenhänge zwischen den architektonischen Gestaltungs- sowie den gesellschaftlichen Nutzungsformen. Die Grundfigur dazu hat Norbert Elias in den Untersuchungen über die »höfische Gesellschaft« formuliert, indem er »Wohnstrukturen als Anzeiger gesellschaftlicher Strukturen« bezeichnete und damit den paradigmatischen Grundstein einer zivilisationstheoretischen und figura-
12 Vgl. zur Architektursoziologie allgemein Bernhard Schäfers: »Zur Begründung einer Architektursoziologie«, in: Soziologie 33 (2004), S. 35-48. 13 Rationalisierung wird hier im Sinn von Max Weber als »Entzauberung der Welt« durch ein verwissenschaftlichtes Weltbild zur technischen Weltbeherrschung verstanden, dessen Voraussetzung aber die Zivilisierung der menschlichen Affekte ist. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der Verstehenden Soziologie, 5. Aufl., Tübingen: Mohr 1972, S. 308. 53
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tionsanalytischen Architektursoziologie gelegt hat.14 Das Schlossgebäude des 17. und 18. Jahrhunderts beispielsweise wird als das sichtbare Produkt der Wechselwirkungen zwischen der Größe des Territoriums und der Struktur des königlichen Hofs interpretiert. Bestimmte Typen der Raumgestaltung charakterisieren gesellschaftliche Integrationsformen: In der höfischen Gesellschaft entsprach der gesellschaftlichen Figuration eine bestimmte Ausgestaltung des Raumes, seien es beispielsweise Größe und Grundriss der städtischen Hôtels für den höfischen Adel oder seien es die strukturellen Merkmale des Familienhauses für das Bürgertum.15 Elias hebt hervor, dass die Differenzierung der höfischen Gesellschaftsräume in Bereiche für relativ vertraute Kontakte und in Räume für den offiziellen gesellschaftlichen Verkehr architektursoziologisch eine Analogie zur Differenzierung der Räume in private und berufliche Bereiche in der späteren bürgerlichen »Berufsgesellschaft« darstellt.16 Während in dieser die Größe und Gestaltung eines Hauses Ausdruck der privaten oder beruflichen Nutzung ist, vermittelt die Architektur in jener vor allem den Rang und den Stand. »Ein Herzog, der nicht wohnt, wie ein Herzog zu wohnen hat, der also auch die gesellschaftlichen Verpflichtungen eines Herzogs nicht mehr ordentlich erfüllen kann, ist schon fast kein Herzog mehr«, führt Elias dazu aus.17 Auch die Maßstäbe für die Häuser der unteren Schichten transportieren entsprechende Informationen über den Rang der Bewohner, weil der Zwang der gesellschaftlichen Lage zur Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit die Hausgestalt tiefgreifend prägen. Kulturelle Formen, die in der historischen Rezeption ästhetisch im Allgemeinen auf einen bestimmten Stil reduziert werden, stellen architektursoziologisch ein differenziertes Ausdrucksgefüge »sozialer Qualitäten« dar: Denn »der Architekt bemüht sich, in der Gestaltung und Ausschmückung des Hôtels den sozialen Status seines Bewohners unmittelbar sichtbar zu machen«, schreibt Elias unter Bezugnahme auf Prozesse in der höfischen Gesellschaft.18 Die Größe, der Prunk und die Ornamentierung eines Hauses können als funktionsanaloger Ausdruck der gesellschaftlichen Schichtung gewertet werden. Elias spitzt die Analogie darauf zu, dass aus der »differenzierten Durchbildung des Äußeren als Ins-
14 Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Berlin/Neuwied: Luchterhand 1969, S. 68-101. 15 Vgl. Katharina Weresch: Wohnungsbau im Wandel der Geschlechterverhältnisse, Hamburg: Dölling & Galitz 2004. 16 N. Elias: Höfische Gesellschaft, S. 83f. 17 Ebd., S. 99. 18 Ebd., S. 92. 54
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trument der sozialen Differenzierung« und aus der »Repräsentation des Ranges« durch die Form der Häuser sowie des Lebensstils empirisch die Hierarchie von König, Schwertadel, Klerus, Korps der Gerichts- und Verwaltungsbeamten sowie mittleren und unteren Schichten der absolutistischen Ständegesellschaft abgeleitet werden kann.19 Neben diesem figurationssoziologischen Zugang verdanken wir der Zivilisationstheorie von Norbert Elias auch einen symboltheoretischen Zugang zur Architektursoziologie. Auf der Ebene räumlicher Gestaltungsmuster steht dabei die Fähigkeit von Architektur im Blickpunkt, gesellschaftlich relevante Botschaften zu senden respektive reflexiv zu kommunizieren. Symboltheoretisch lässt sich die Architektursoziologie unterscheiden nach der in den Raum eingebetteten Materialität als erste Symbolebene und nach der aufgetragenen Raumkultur als zweite Symbolebene. In seinen grundsätzlichen Überlegungen zu einer »Symboltheorie« hebt Norbert Elias hervor, dass Menschen durch den Erwerb der Fähigkeit zu Sendung und Empfang von Botschaften die vier Dimensionen der Raum-Zeit erweitern.20 Die »fünfte Dimension« der Symbole – im Allgemeinen in der kodifizierten Form einer gesellschaftlichen Sprache und im Speziellen in der Form einer professionell konstruierten Fachsprache wie der der Architektur – dient als Mittel der Kommunikation und der Identifizierung. Alle Gegenstände und Ereignisse werden mit Symbolfunktionen dargestellt, und die Akteure werden zu Subjekten und Objekten einer Symbolkommunikation. Dazu zu zählen sind sowohl die Orientierung als auch die Gegenstände, die Akteure und die temporalen Ereignisse im Raum. Die gebauten Elemente werden von der Profession der Architekten – trotz aller künstlerischen Freiheiten – in standardisierten Formen symbolisch gestaltet. Die soziale Produktion des Raumes durch Architektur erfolgt somit über symbolische Repräsentation und Kommunikation. Insofern kann Architektur als »Medium von Gesellschaft« bezeichnet werden21, das in bildhaften Zeichen die Gesellschaft im Raum zum Ausdruck bringt.22 Aus den Arbeiten von Norbert Elias lässt sich außerdem ein machttheoretischer Zugang zur Architektursoziologie ableiten. Er beschreibt »eine spezifische Verlagerung der Machtgewichte« im Laufe des 19.
19 Ebd., S. 98. 20 Norbert Elias: Symboltheorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 76f. 21 Vgl. Heike Delitz: »Architektur als Medium des Sozialen. Ein Vorschlag zur Neubegründung der Architektursoziologie«, in: Sociologia Internationalis 43 (2005), H. 1/2, S. 1-23, 5ff. 22 Vgl. Richard Sennett: Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation, Frankfurt a.M.: Fischer 1997. 55
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und 20. Jahrhunderts23: Die Machtdifferenziale sowohl zwischen einzelnen Menschen als auch zwischen Akteursgruppen verringern sich, weil im Rahmen gesellschaftlicher Differenzierungsprozesse »alle gesellschaftlichen Beziehungen in der Richtung auf in höherem Maße reziproke und multipolare Abhängigkeiten« transformiert werden. Wenn der Fokus dieser Perspektive auf die engere Figuration der Raumproduktion gerichtet wird, lässt sich eine Verschiebung der Stellung von Professionellengruppen erkennen, die für die Planung und Realisierung architektonischer Raumgestaltungen verantwortlich sind. Im klassischen Verständnis zählen dazu allein die ArchitektInnen, aber in den gesellschaftlichen Differenzierungsprozessen sind die figurativen Verantwortungskontexte der Raumproduktion dichter geworden. Neben der horizontalen Ausdifferenzierung – in regulierende Architekten in der kommunalen Administration; entwerfende Professionelle auf dem Markt der Produktion von Raumbildern; und kontrollierende Ingenieure während der Realisierung – ist eine vertikale Differenzierung der Figuration zu konstatieren, weil sich die Abhängigkeiten der beteiligten Architekten in der Auseinandersetzung mit Investoren, Bauherren, Kreditwirtschaft, Öffentlichkeitsmedien, Nachbarn, bürgerschaftlichen Interessengruppen und nicht zuletzt anderen ingenieurwissenschaftlichen Professionen – wie zum Beispiel Bauingenieuren, Baurechtlern, Ökologen, Landschaftsarchitekten – außerordentlich komplex gestalten. Im historischen Rückblick zeigt sich ein Wandel von der hierarchischen feudalistischen Figuration, in der der Baumeister – auf dem Bau quasi in der Rolle des ›Königs‹ – als Oberbefehlshaber die Erstellung des gebauten Raums dirigiert, zu einer ausgewogenen Machtbalance in der Gegenwart, in der Architekten in ökonomisierten Figurationen verschiedene Rollen spielen. Das Repertoire reicht von ›Designern der Gebäudehülle‹ bis hin zu ›Vernetzern‹ beim Schnittstellenmanagement zur Integration von Gewerken.
2.2 Methodische Operationalisierung für eine architektursoziologische Empirie Werden die skizzierten theoretischen Perspektiven von Norbert Elias verallgemeinert, dann muss Architektursoziologie als Erstes aus den baulichen Substraten und Prozessen der Raumgestaltung zu entschlüsseln versuchen, inwieweit sie reziproke und polare Abhängigkeiten zwischen den Menschen physikalisch und organisatorisch widerspiegeln. Als Zweites muss eine Architektursoziologie aus dieser Sicht Produkte 23 N. Elias: Was ist Soziologie, S. 69ff. 56
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von Architektur danach bewerten, ob und wie sie mit dem Angebot gebauter Gestalten und Nutzungsmuster gesellschaftliche und psychische Dispositionen von Menschen aufgreift und dadurch sowohl Gruppen als auch Individuen einen sozialen Status zuweist sowie im Verhalten bindet. Als Drittes gilt die Aufmerksamkeit räumlichen Symbolen – von den Gebäuden selbst bis hin zu Wappen, Fahnen oder Schildern.24 Denn über das ›Medium der Gestaltungssprachen‹, die Gegenständen den Symbolcharakter verleihen, werden Gefühlsbindungen erzeugt (in Sinne eines räumlich erweiterten »Ich-« und »Wir-Bewusstseins«) und der soziale Zusammenhang von Figurationen kommuniziert.25 Die drei umrissenen Dimensionen der (i) gesellschaftlichen Interdependenz, (ii) der sozio- und psychogenetischen Dispositionen und (iii) der Raumsymbole weisen einen Weg zu einer empirisch-soziologischen Annäherung an gestaltete Umwelten. Dabei muss der Entstehungskontext von räumlich-gegenständlichen Gestalten im Längsschnitt als Prozessperspektive berücksichtigt und die bauliche Anordnung von Gegenständen im Raum als Repräsentation des Entwicklungsstands der jeweiligen gesellschaftlichen Figuration untersucht werden. An anderer Stelle wurde dazu bereits das idealtypische Modell einer architektursoziologischen Empirie abgeleitet, die die figurationssoziologischen, symboltheoretischen und machtsoziologischen Konzepte von Norbert Elias bündelt sowie erfahrungswissenschaftlich operationalisiert26 und über stadt- und raumsoziologische Perspektiven hinaus weist.27 Mit der abgeleiteten architektursoziologischen Methodenmatrix der »Soziologischen Mehrebenen-Architektur-Analyse« können Architekturprodukte und die Figurationen des Produktions- sowie Nutzungsprozesses im mikrosozialen Kontext des räumlichen Nahbereichs, aber auch im mesosozialen Kontext größerer zusammenhängender Siedlungs24 Wappen, Fahnen und Schilder, die für sich betrachtet ikonische Zeichen darstellen, werden hier eingebettet in einen räumlich-architektonischen Kontext als »räumliche Symbole« bezeichnet, weil sie territoriale Ansprüche indizieren und in Verbindung mit Architektur platziert werden (vgl. z.B. die traditionelle Rolle von Fahnen als Anzeiger des Herrschaftsgebietes und das Ziel in der vormodernen Kriegsführung, die Fahne zu erobern). 25 Ebd., S. 150. 26 Herbert Schubert: »Empirische Architektursoziologie«, in: Die Alte Stadt 32 (2005), S. 1-27, 15. 27 Dieter Läpple: »Essay über den Raum. Für ein gesellschaftswissenschaftliches Raumkonzept«, in: Hartmut Häußermann et al. (Hg.), Stadt und Raum. Soziologische Analysen, Pfaffenweiler: Centaurus 1991, S. 167183; vgl. Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001; Marlo Riege/Herbert Schubert: Sozialraumanalyse. Grundlagen – Methoden – Praxis, 2. Aufl. Wiesbaden: VS 2005. 57
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bereiche sowie im makrosozialen Kontext von nationalen und globalen Siedlungstypologien in einem Mehrebenenmodell untersucht werden. Die Analysen setzen an verschiedenen Ebenen der Architektur an; es handelt sich um: die physikalischen und organisatorischen Ebenen, auf denen sich reziproke und polare Abhängigkeiten abbilden; die funktionalen und ökonomischen Ebenen, auf denen die Produkte der Architektur selbst im Blickpunkt stehen; die figurative Ebene, auf der die gesellschaftlichen und psychischen Dispositionen von Menschen zur Geltung kommen; und die Ebene der Symbole. In diesem Verständnis erhält Architektur den Status relevanter Dokumente – wie geschriebene Texte und gesprochene Stellungnahmen in der herkömmlichen empirischen Sozialforschung – und soll soziologisch auf den genannten Ebenen analysiert und interpretiert werden.
3 V o r s t e l l u n g d e s An w e n d u n g s b e i s p i e l s : das neue Gefängnis der JVA Sehnde b e i H a n n o ve r Zentrale Eckpunkte der soziologischen Architekturanalyse werden im Folgenden am Beispiel des Neubaus der Justizvollzugsanstalt Sehnde skizziert. Die JVA Sehnde wurde in einer Mischbauweise errichtet und Ende 2004 fertiggestellt (Bauzeit 36 Monate). Die bauliche Abschließung des Gefängnisses erfolgte durch die Wahl eines Standortes in der Umlandgemeinde Sehnde (Stadtregion Hannover). Die Justizvollzugsanstalt wurde dort in einem Gewerbegebiet platziert, das auf dem Areal eines stillgelegten Kalibergwerkes entwickelt worden ist. Der insgesamt circa 15,5 Hektar große Außenbereich ist innerhalb der 1,3 Kilometer langen und 6,50 Meter hohen Anstaltsmauer durch Bereichszäune in weitere Sicherheitszonen unterteilt. Der Baukörper integriert eine Nutzfläche von insgesamt mehr als 27.000 Quadratmeter und repräsentiert eine Großorganisation für 540 Inhaftierte (davon 40 Untersuchungshaftplätze und 20 Haftplätze in einer besonders gesicherten Abteilung). Die Anstalt bietet Arbeitsplätze für 311 Beschäftigte; davon entfallen 270 auf den Allgemeinen Vollzugsdienst (AVD). Den Kern der Anlage bilden die viergeschossigen Hafthäuser; in den mittleren der vier Trakte stehen Plätze für 264 Personen mit einer Strafhaft ab drei Jahre und einer angenommenen hohen Fluchtgefahr zur Verfügung. Den Hafthäusern sind jeweils baulich vollständig umschlossene Freistundenhöfe zugeordnet. In flachen Gewerbebauten sind Funktionsbereiche, Sporthalle, Werkstätten (mit drei Eigen- und sieben Fremdbetrieben), Ausbildungs-
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und Versammlungsräume sowie der Wirtschaftsbereich (mit Küche, Wäscherei, Kammer und Wartung) zu finden (Abb. 1).
Abb. 1: Funktionsstruktur der JVA Sehnde.
Ein fünfter Hochsicherheitstrakt umfasst nur ein Geschoss und wurde (als Gefängnis im Gefängnis) von den anderen Haftgebäuden abgetrennt. Der Gesamtkomplex wird, mit Ausnahme des separaten Pfortengebäudes, über eine zentrale Verkehrsachse erschlossen und integriert die hohen baulich-technischen Sicherheitsanforderungen. In der Fassadengestaltung mit Verblendmauerwerk respektive Metall (für die technischen Bereiche) bilden sich die unterschiedlichen Funktionen nach außen ab. Die Nutzfläche wird nach der DIN 277 in Hauptnutzflächen (HNF) und Nebennutzflächen (NNF) unterteilt. Die HNF der JVA Sehnde umfasst rund 24.500 Quadratmeter; davon entfallen 33 Prozent auf den Bereich Wohnen und Aufenthalt, 12,5 Prozent auf Flächen für Büroarbeit, 26 Prozent auf den Produktionsbereich, 17,4 Prozent auf den Lager- und Distributionsbereich, 9,1 Prozent auf Flächen für Bildung, Unterricht und Kultur sowie zwei Prozent auf den Bereich Heilen/Pflegen. Die Nebennutzflächen beinhalten Nutzungen wie Sanitärräume, Fahrzeugstellflächen oder Schutzräume (Technische Funktionsfläche, TF). Nicht zur Nutzfläche gehören Verkehrsflächen (zum Beispiel Eingänge, Treppenhäuser, Aufzüge, Flure) und Funktionsflächen (Heizungsraum, Maschinenräume, technische Betriebsräume).
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3.1 Prozessbeschreibung nach Foucaults historischer Gefängnisstudie Machttheoretisch können Gefängnisse nach dem empirischen Paradigma der Etablierten-Außenseiter-Figuration als Etablierten-AußenseiterArchitektur eingeordnet werden: »Der Kern dieser Figuration ist eine ungleiche Machtbalance [...], der einer Etabliertengruppe die effektive Stigmatisierung einer Außenseitergruppe ermöglicht«.28 In der gebauten Architektur von Gefängnissen spiegelt sich dieses »Schandmal« der machtschwächeren Gruppe: Es handelt sich um den baulichen Ausdruck des entgegengesetzten Verhältnisses von staatlichen Aufsehern und Wohnbevölkerung in der Umgebung (als die »Etablierten«) auf der einen Seite und Inhaftierten (als »Außenseiter«) auf der anderen Seite. Der Gegensatz findet seinen Ausdruck in einem höher stehenden Rang, dauerhafter Anwesenheit (höheres soziologisches Alter) und höherem Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Beamten und unter der Ortsbevölkerung (als Gruppencharisma) sowie in einer Zuschreibung von geringerer Selbstkontrolle, Umsicht und Ordentlichkeit bei den Inhaftierten (als Gruppenschande). Das Etablierten-Außenseiter-Verhältnis wird durch die Errichtung von Tabus in den Kontakten habitualisiert, und durch die Zuschreibungsprozesse wird das Machtgefälle zwischen den beiden Gruppen institutionalisiert. Im historischen Rückblick unterstreicht dies Foucaults Klassiker Überwachen und Strafen, in dem er »die Geburt des Gefängnisses« darstellt.29 Die Haft als Hauptstrafe entwickelte sich im 18. Jahrhundert zu einem Herrschaftsverfahren neuen Typs, das Strafen nach der Variable der Zeit egalitär quantifiziert.30 Mit der geschlossenen Architektur des Gefängnisses erobert die Haft während des Verstaatlichungsprozesses im 18. Jahrhundert die Strafjustiz und repräsentiert im Prozess der Zivilisation damit eine Humanisierung der vorherigen gewaltbasierten Züchtigungs- und Marterstrafen.31 Der Bau von Gefängnissen kann danach nicht nur als Überwindung feudalistisch-aristokratischer Strafformen, sondern vor allem auch als Ausdruck der Verschiebung von Fremd- zu 28 N. Elias/J. L. Scotson: Etablierte, S. 14. 29 Foucault arbeitete ebenso wie Elias mit den Maßstäben einer Historischen Soziologie, weil die soziale Wirklichkeit im Kontext eines historisch verankerten längerfristigen Prozesses und der darin eingebetteten Prozessprinzipien wahrgenommen wird. Ergänzend zu einer Architektursoziologie aus der Sicht Foucaults siehe den Beitrag von Stefan Meißner in diesem Band. 30 Michel Foucault: Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S. 296f. 31 Ebd., S. 75. 60
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Selbstzwängen interpretiert werden. Der Zivilisierungseffekt besteht darin, dass der Entsetzlichkeit des Vergehens nicht mehr die Entsetzlichkeit der Strafe entgegengesetzt wird.32 Foucault spricht in diesem Kontext von einer »Technopolitik der Bestrafung nach ›Menschlichkeits‹Kalkül«, was durchaus auch auf die gebaute Figur als »Technik der Strafzeichen« bezogen werden kann.33 Als neue Bedingungen des Strafens soll das Zeichenspiel des Gefängnisses die Furcht vor Strafe in der Außenwelt steigern. Dazu werden das Pattern der »Klausur als bauliche Abschließung eines Ortes von allen anderen Orten« respektive die »Einschließung« durch Umfassungsmauer und Abgrenzung nach außen gewählt.34 Der »Disziplinarraum« des Gefängnisses wird elementar parzelliert, indem jedem Individuum sein Platz, das heißt architektonisch die Zelle zugewiesen wird, was eine zellenförmige Mikrophysik der Macht indiziert. Die spezifischen Maße der Raumgliederung werden bei Foucault allerdings reifiziert und universalisiert. Dass der Gefängnisbau in den Prozess der Zivilisation eingebunden ist, geht dabei verloren. Es stimmt zwar, dass im Gefängnisbau komplexe Räume aus Architektur, Funktionen und Hierarchien fabriziert werden (und dass diese Räume gesellschaftlichen Rang markieren), aber in einer differenzierteren Betrachtung ist ein Wandel in der Architektur des Gefängnisbaus seit dem 18. Jahrhundert zu erkennen, der für zivilisationstheoretische Deutungen ertragreich ist. Bei Foucault wird der Gefängnisbau von einer hierarchischen Überwachung, von der Einrichtung des zwingenden Blicks geprägt, wobei Machteffekte durch Techniken des Sehens herbeigeführt werden.35 Als Vorläufer dieser Gestaltungslogik verweist Foucault auf den althergebrachten quadratischen Plan des Militärlagers: Die Geometrie der Zelteverteilung, die Richtung der Eingänge, die Anordnung der Reihen und Linien ist als Raumordnung der Macht auf Haftgebäude übertragen worden, deren Grundprinzip die räumliche Verschachtelung hierarchisierter Überwachungen sei. Foucault führt dazu aus: »Damit entwickelt sich auch die Problematik einer Architektur, die nicht mehr bloß wie der Prunk der Paläste dem Gesehen werden oder die Geometrie der Festungen der Überwachung des äußeren Raumes dient, sondern der inneren, gegliederten und detaillierten Kontrolle und Sichtbarmachung ihrer Insassen«.36 Foucault betont dabei ähnlich wie Elias die soziogenetische 32 33 34 35 36
Ebd., S. 119. Ebd., S. 116ff. Ebd., S. 181ff. Ebd., S. 221ff. Ebd., S. 222. 61
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und psychogenetische Funktion von Architektur als ein Instrument zur Transformation von Individuen. Denn das Gefängnis soll durch seine Architektur auf die Verwahrten einwirken und ihr Verhalten beeinflussen. Im weiteren Prozessverlauf der Zivilisation tritt aber an die Stelle des alten Schemas der Einschließung und Klausur mit der dicken Mauer und der festen Pforte, die das Hereinkommen und Hinausgehen verhindern, auf Grund veränderter Abhängigkeitsbalancen zunehmend der Kalkül der Öffnungen, der Durchgänge und Durchblicke. Im 18. Jahrhundert herrschte eine Vorliebe für kreisförmige Architekturen vor, weil diese Durch-Blicke bieten. Über die kreisförmige architektonische Anordnung wird das Gefängnis zu einem »Disziplinarapparat«37, wobei Architektur und Organisation des Gefängnisses ein integriertes System bilden. Paradigmatisch wird das am Beispiel des »Panopticons« von Bentham veranschaulicht: »Sein Prinzip ist […]: an der Peripherie ein ringförmiges Gebäude; in der Mitte ein Turm, der von breiten Fenstern durchbrochen ist, welche sich nach der Innenseite des Ringes öffnen; das Ringgebäude ist in Zellen unterteilt, von denen jede durch die gesamte Tiefe des Gebäudes reicht; sie haben jeweils zwei Fenster, eines nach innen, das auf die Fenster des Turms gerichtet ist, und eines nach außen, so dass die Zelle auf beiden Seiten von Licht durchdrungen wird [...] Vor dem Gegenlicht lassen sich vom Turm aus die kleinen Gefangenensilhouetten in den Zellen des Ringes genau ausnehmen«.38 Die Hauptwirkung des Panopticons besteht darin, beim Gefangenen einen bewussten und permanenten Sichtbarkeitszustand auszulösen, der das automatische Funktionieren der Macht sicherstellt. Benthams Prinzip besteht darin, dass die Macht sichtbar, aber uneinsehbar ist. Der Häftling hat ständig die hohe Silhouette des Turms vor Augen, von dem er bespäht wird, weiß aber wegen der Uneinsehbarkeit nicht, ob er gerade wirklich überwacht wird. Die Macht ist automatisiert und entindividualisiert, wenn man im Außenring vollständig gesehen wird, ohne etwas zu sehen, während man im Zentralturm alles sieht, ohne gesehen zu werden. Architektonisch sind allerdings verschiedene Variationen möglich: »Benthams Panopticon in seiner strengen Form, der Halbkreis, der kreuzförmige Plan oder die sternenförmige Anordnung«.39 Der Architekt muss dabei seine ganze Aufmerksamkeit auf den »zentralen Inspektionspunkt« richten. Das Panopticon wird in Foucaults Historischer Soziologie zu einem verallgemeinerungsfähigen Funktionsmodell erklärt, das die Beziehun-
37 Ebd., S. 225. 38 Ebd., S. 256f. 39 Ebd., S. 320. 62
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gen der Macht zum Alltagsleben der Menschen definiert: »Es ist das Diagramm eines auf seine ideale Form reduzierten Machtmechanismus; sein Funktionieren, das von jedem Hemmnis, von jedem Widerstand und jeder Reibung abstrahiert, kann zwar als ein rein architektonisches und optisches System vorgestellt werden: tatsächlich ist es eine Gestalt politischer Technologie«40, die die Ausübung der Macht verbessern, das heißt beschleunigen, erleichtern, effektiver machen soll. »Das Panopticon ist in den Jahren 1830 bis 1840 zum architektonischen Programm der meisten Gefängnisprojekte geworden. Es bildete die direkteste Methode, die Intelligenz der Disziplin in den Stein zu übertragen; die Architektur für die Handhabung der Macht transparent zu machen; Gewalt und Zwang durch die sanfte Wirksamkeit einer bruchlosen Überwachung zu ersetzen; den Raum entsprechend der jüngsten Vermenschlichung der Gesetze und der neuen Straftheorie zu gestalten«.41 Die Veränderungen durch die Architektur in Richtung des individuellen Selbstzwanges sind offensichtlich: Es geht nicht mehr nur um das ›In-Schach-Halten‹ großer Menschenmengen, sondern um eine Vergrößerung der Nützlichkeit von Individuen.42 Das Gefängnis ist – als Technologie der Macht über den Körper – eine moderne Apparatur des Gefügig- und Nützlichmachens der Individuen, indem es zu ihrer zivilisatorischen Umformung beiträgt. Die legale Haft mit dem Zweck der Besserung gilt als »zivilisierteste aller Strafformen« und steht für den kontinuierlichen Wandel von der reinen Freiheitsberaubung zur bessernden, resozialisierenden Wirkung.43
3.2 Figurationszeichen der Gefängnisarchitektur der JVA Sehnde (a) Physikalische Figurationszeichen Im Kontrast zur Gefängnisarchitektur des 18. und 19. Jahrhunderts, wie sie Foucault beschrieben hat, repräsentiert der Neubau der JVA Sehnde eine Gefängnisarchitektur zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Der Maßstab und die Entfernungen der gesamten Anlage entsprechen in keiner Weise dem Modell des Panopticons. Die Vermessung der Raumbeziehungen folgt nicht mehr einem ›optischen Zentralismus‹, sondern Prinzipien der
40 41 42 43
Ebd., S. 264. Ebd., S. 320. Ebd., S. 271. Ebd., S. 295ff. 63
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funktionalen Stadtplanung.44 Symptomatisch kann auf die Länge der Erschließungsachse verwiesen werden, die über 264 Meter die beiden Gebäudebereiche mit Wohnarchitektur auf der einen Seite und Industriearchitektur auf der anderen Seite verbindet (Abb. 1). Als weiteres physikalisches Merkmal muss ein räumliches Distanzzeichen hervorgehoben werden: Die Wahl eines Standortes auf dem Areal eines stillgelegten Kalibergwerkes weit außerhalb des Siedlungskerns des Wohnortes unterstreicht einerseits die Außenseiterrolle der Bewohnergruppe – also ihre Exklusion aus dem integrierenden Wohnzusammenhang der Gemeinde – zeigt andererseits aber auch die Inklusion der Institution Gefängnis in ökonomische Kreisläufe auf. Die Größe und Komplexität der Anstalt – gemessen in Länge, Breite, Höhe – steht im Zusammenhang mit dem Prozess der Kollektivierung. Abram de Swaan hat auf der Grundlage der Zivilisationstheorie herausgearbeitet, dass der staatlich induzierte Prozess der Kollektivierung dem Schutz vor gesellschaftlichen Risiken folgt und zum Monopol neuer Expertenregimes geführt hat.45 Die JVA Sehnde repräsentiert den aktuellen Stand der staatsbezogenen Expertenregimes der Justizbehörden in Deutschland – in Gestalt von Psychologen, Therapeuten und Überwachungsbeamten des Justizvollzugs, deren Expertenmacht sich von Bildungskapital und von Vollzugsnormen ableitet. Es dominiert ein kalkulierender und weitsichtiger Umgang mit den Inhaftierten als Objekte der JVA: Spezialisten wie Psychologen und Therapeuten kümmern sich um ihren psychisch-mentalen Zustand, Juristen und Vollzugsbeamte organisieren die Beziehungen der Inhaftierten in äußerster Versachlichung. Die Inhaftierten werden mental distanziert wahrgenommen und formal analysiert. Im Unterschied zu den Beschreibungen des Gefängnisses im 18. Jahrhundert durch Foucault bestehen personalisierte Beziehungen als Bestandteil des Zivilisierungsprogramms. Die Maßstäblichkeit des Grundrisses ist – trotz der Größe – darauf ausgerichtet, die notwendige personale Nähe zwischen Inhaftierten und Experten des Justizvollzugs zu ermöglichen. Zu dieser »Rationalisierung« gehört auch, dass es eine 44 Vgl. Peter R. Gleichmann: »Wandel der Wohnverhältnisse«, in: Zeitschrift für Soziologie 5 (1976), S. 319-329. 45 Abram de Swaan: Der sorgende Staat. Wohlfahrt, Gesundheit und Bildung in Europa und den USA der Neuzeit, Frankfurt a.M./New York: Campus 1993, S. 267ff. Unter »Kollektivierung« wird der Prozess in den europäischen Staaten gefasst, kollektive, landesweite, verbindliche Arrangements gegen Risiken und Defizite (z.B. Krankheit, Armut, Unsicherheit) zu treffen, die die einzelnen Menschen bedrohen. Vor diesem Hintergrund sind Gefängnisse ein Kollektivgut, das der Staat zur Verringerung der Risiken, Opfer von Kriminalität zu werden, bereitstellt. 64
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grundsätzliche Achtung einer persönlichen Sphäre gibt. Deshalb unterliegen die Inhaftierten in den Hafträumen nicht der permanenten visuellen Überwachung und Kontrolle. Die Architektur ist nicht primär auf die visuelle Überwachung ausgerichtet, sondern auf eine zeitliche Einschränkung und kontrollierte Organisation des Tagesrhythmus. So ist einerseits die Nutzung der öffentlichen Flächen auf die Zeit von 15 bis 19 Uhr beschränkt; der Einschluss im Haftraum erfolgt um 19:30 Uhr. Andererseits sind die Strafhäftlinge – im Gegensatz zu Untersuchungshäftlingen – in die Zeitstrukturen von Arbeitsverhältnissen eingebunden. Sie arbeiten in sieben Unternehmerbetrieben, drei Eigenbetrieben und einer Großwäscherei. Im Unterschied zu traditionellen Gefängnisformen der Moderne wurde einerseits vom Kammgrundriss des 20. Jahrhunderts abgewichen, bei dem die Hafthäuser in Zeilenbauweise an ein Erschließungsgebäude angeschlossen sind, und andererseits wurden keine über die Fläche verteilten Baukörper gewählt. Die Planungsverantwortlichen sprechen von einer »kompakten Bauform zur Optimierung der Logistik«46, womit der komplexe Input und Output spezifischer Stoffströme wie Inhaftierte, Ver- und Entsorgungsprodukte sowie Rohstoffe und Produkte der Werkstätten gemeint ist. Einige Merkmale des Materialprofils47 im Außenbereich heben die Gefängnisfunktionen der Gebäudekörper besonders hervor; exemplarisch sind zu nennen: – Anstaltsmauer aus Stahlbetonfertigteilen mit einer Höhe von 6 m; – Abstandsfläche mit äußerer Einfriedung durch Maschendrahtzaun; – Innere Abstandsfläche hinter Betonmauer mit einer Tiefe von 6 m und Bodenwarnung; – Streckmetallzaun mit einer Höhe von 4,50 m, detektiert auf 30 kg; – Besonders tiefer Dachvorstand und verdeckte Fallrohre (zur Verhinderung des Aufstiegs auf das Dach); – Vergitterungen vor den Fenstern aus Manganhartstahl; – Installation von 300 Videokameras innerhalb der JVA und im Außenbereich (gesteuert über eine Überwachungszentrale mit 6 Professionellen in 2 Schichten vor 12 Monitoren). 46 JVA Sehnde 2006: Gruppeninterview mit der Einrichtungsleitung und den Architekten des Staatlichen Baumanagement Niedersachsen/Abteilung Hannover. 47 Die Relevanz der Sachverhältnisse von Architektur lässt sich auf der physikalischen Ebene erschließen; dazu sind alle Konstruktionselemente, ihr Materialprofil und ihre Maßstäbe zu berücksichtigen, über deren räumliche Verbindung und Platzierung sich Architektur zu einer Gestalt konfiguriert. Vgl. dazu auch Hans Linde: Sachdominanz in Sozialstrukturen, Tübingen: Mohr 1972, S. 28. 65
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Aber es gibt auch Materialmuster, die nicht die Gefängnisbedeutung transportieren – wie zum Beispiel: – Verblendmauerwerk des Wohnbereichs in rotem Ziegel; – Geneigte Dächer mit roten Betondachpfannen im Wohnbereich; – (Freistunden-)Hof mit einer differenzierten Freiraumplanung; – Blechfassade aus Alu-Wellblech im Werkstattbereich; – Holzfenster mit Sicherheitsglas und Wärmeschutz; – Dachoberlichter, Lichtkuppeln und Lichtsheds im Werkstattbereich; – Flachdächer im Werkstattbereich. Das Materialprofil repräsentiert einen robusten Baukörper mit einer differenzierten Ausstattung, die sowohl einer nachhaltigen Gewährung der Sicherheit als auch einer modernen Wohnqualität gerecht wird. Die architektonische Gestaltung des Gefängnisses wird dabei von dem aktuellen Stand der Technik baulicher Konstruktion beeinflusst. Das physikalische Profil spiegelt darüber hinaus den aktuellen gesellschaftlichen Standard, Behausungen für Institutionen der Kollektivierung zu errichten – in diesem Fall zur Sozialisierung von Strafgefangenen.
(b) Zivilisierung der Inhaftierten durch Gestaltung Auf Grund der Raumorganisation in der JVA Sehnde sind die Netzwerke zwischen Inhaftierten und Experten des Justizvollzugs dichter geworden. Die erhöhte Interdependenz drückt sich darin aus, dass die Inhaftierten nicht nur – wie im 18. Jahrhundert – visuell auf Abstand zu überwachen, sondern unter Maßstäben der Menschenrechte mit Fremdzwängen zu beeinflussen und die Wirkungen – quasi eine Meta-Überwachung – zu kontrollieren sind. So gibt es in den vorderen Hafthäusern eine Aufnahmestation (mit 40 Plätzen), in der die Inhaftierten mit Experten des Justizvollzugs (Therapeuten, Berater) Ziele für die Haftzeit vereinbaren, deren Zielerreichung von den Experten während des Haftprozesses überprüft wird. Die Aufnahmephase dauert sechs Wochen und umfasst Persönlichkeitsuntersuchungen, Diagnostik, Zielvereinbarungen. In den Hafthäusern dominieren Einzel-Haftzellen: Von den 540 Haftplätzen befinden sich 448 in Einzelzellen (83 Prozent) und 46 in Doppelzellen (17 Prozent). Die Hafträume repräsentieren das persönliche Territorium der Gefangenen; dort wird auch das Essen eingenommen (oder bei der Arbeit in einem Sozialraum). Die zentrale Macht der Institution drückt sich vor allem in der Gestaltung und Beschaffenheit der Außen- und Innentüren aus, da es sich in der Regel um Stahltüren mit elektronischer Fern-Entriegelung handelt. Bei der Gestaltung und Organisation des Haftraumes fällt das Machtdifferenzial schwächer aus; 66
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denn als ›Habitat‹ prägt er die Verhaltensstandards der Inhaftierten und beeinflusst ihre Formen der Affektkontrolle. Mit der gebauten Umwelt werden erzieherische Ziele verfolgt: Der helle und freundliche Wohnbereich soll sauber, kultiviert und ansprechend sein und eine Vorbildfunktion für die Inhaftierten erfüllen. Dazu wird die Nutzung und Aneignung des Haftraums in hohem Maße reguliert. Zur Förderung der persönlichen Selbstkontrolle definiert beispielsweise eine Holzleiste, wo Bilder oder Fotos aufgehängt werden dürfen und welche Flächen der Aneignung durch den Inhaftierten entzogen sind. Dadurch wird über den »gesellschaftlichen Zwang zum Selbstzwang«48 ein Individualisierungsdruck erzeugt, der »ichgerechter« und integraler Bestandteil der Persönlichkeitsentwicklung von Inhaftierten sein soll.49 In jedem Haftraum wurde ein kleiner Nassraum abgetrennt, der nur durch eine Tür begehbar ist. Seit den 80er Jahren setzt sich dieser Standard der »Verhäuslichung körperlicher Verrichtungen«50 auch in den deutschen Gefängnissen durch. Die anfängliche Abtrennung durch einen Vorhang hat sich zu einem eigenständigen Sanitärraum mit Waschbecken und Toilette weiterentwickelt. Damit werden die gesellschaftlich vorherrschenden Schamempfindungen inzwischen auch in Gefängnissen verräumlicht. Neben der Zivilisierung der Inhaftierten zielt diese Maßnahme auch darauf, den Vollzugsbeamten den peinlichen Anblick des Abortgefäßes zu ersparen. Ein weiteres Zivilisierungsinstrument stellt die soziale Konstruktion des Haftumfeldes dar. Die Beziehungsnetze unter den Inhaftierten werden auf eine bestimmte Größenordnung beschränkt. So werden die Grundrisse der Haftgebäude nach Stationen mit jeweils 22 Haftplätzen strukturiert, um ein überschaubares, aber auch persönlich gestaltbares Beziehungsnetz zu ermöglichen. Die Stationen bleiben als kleinste figurative Einheit nicht anonym, und es wird dem Risiko einer Subkulturbildung unter den Gefangenen vorgebeugt. Insofern unterstützen Architektur und Grundrissorganisation das zivilisatorische Ziel einer Kleingruppenbildung von Inhaftierten. Um unzivilisiertes Verhalten in großen Duschräumen zu verhindern, stehen nur zwei abgetrennte Duschen in einem kleinen Raum je Station für die 22 Haftplätze zur Verfügung. Die Nutzung wird von den Vollzugsbeamten über einen Belegungsplan mit Duschzeiten reguliert. Auch auf dem Freistundenhof darf sich gleichzei48 N. Elias: Über den Prozess der Zivilisation II, S. 312ff. 49 Vgl. Kornelia Hahn: Soziale Kontrolle und Individualisierung. Zur Theorie moderner Ordnungsbildung, Opladen: Leske + Budrich 1995. 50 Peter R. Gleichmann: »Die Verhäuslichung körperlicher Verrichtungen«, in: Ders. u.a. (Hg.), Materialien zu Norbert Elias’ Zivilisationstheorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979, S. 254-278. 67
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tig nur eine begrenzte Zahl von bis zu 30 Inhaftierten befinden (Abb. 2); die Zusammensetzung wird von den Experten des Justizvollzugs nach Gefährlichkeitskategorien der Inhaftierten organisiert. Nach Grundsätzen der Tätertrennung werden die Gefangenen klassifiziert und entsprechend in den Zeiten der Freistunden auf dem Hof und des angeleiteten Sports in der Halle oder auf dem Sportareal sozial kombiniert.
Abb. 2: Freistundenhof der Justizvollzugsanstalt Sehnde.
(c) Organisatorische und ökonomische Dimension Die alleinige Verantwortung für die Architektur und den Bauprozess lag beim staatlichen Baumanagement Niedersachsen. Die Bauleistungen der circa 75 Einzelgewerke wurden in 45 Vergabeverfahren nach Fachlosen durch einen freien Architekten ausgeschrieben. Nach der Auftragserteilung erfolgte eine umfassende Sicherheitsüberprüfung der Mitarbeiter von Fremdfirmen. Die Finanzierung des Projektes erfolgte aus dem niedersächsischen Landeshaushalt. Die Gefängnisarchitektur steht in einem Zusammenhang mit der besonderen Rolle der involvierten Architekten. Sie repräsentieren nicht die marktbezogenen Interdependenzstrukturen freiberuflicher Architekten, sondern staatliche Dependenz durch hierarchische Einbettung und normative Flankierung. In der staatlich monopolisierten Rolle von »Gefängnisarchitekten« nehmen die Fachleute des staatlichen Baumanagement
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eine Expertenposition ein, die Wertmaßstäbe des Prozesses der »Kollektivierung« in gebaute Formen übertragen. Die gesamten Baukosten der JVA in Sehnde betrugen 97,5 Mio. Euro. Die Gesamtbaukosten je Haftplatz betrugen 180.826 Euro; die Baukosten pro Quadratmeter Hauptnutzungsfläche beliefen sich auf 3.065 Euro, was sogar die Baukosten im hochpreisigen Wohnungsbau übertrifft. Das überdurchschnittliche Ausmaß der Baukosten ist nicht nur auf den technischen Sicherungsaufwand zurückzuführen; es verweist auch auf den hohen Stellenwert wirtschaftlicher Gebäudebereiche. Aufgrund eines marktorientierten Kalküls wurden sieben Unternehmerbetriebe, drei Eigenbetriebe und eine Großwäscherei in der Gefängnisanlage integriert (6.400 qm Werkstatt- und 4.300 qm Lagerfläche).
(d) Funktionale Dimension In den Hafthäusern befinden sich je Y-Trakt auf vier Stockwerken insgesamt acht Stationen (mit durchschnittlich 23 Plätzen je Station). Im Zugangsbereich jedes Stockwerks – quasi im Fuß der Y-Form – sind Funktionsräume der Justizexperten untergebracht (Abb. 3): die Büros des Sozialdienstes, der psychologischen Beratung und einer Leitungskraft des Vollzugs, ein Fitnessraum und ein Durchsuchungsraum für Gefangene; im Erdgeschoss befindet sich dort auch die Schleuse zum Freistundenhof. Den Räumen sind feste Teams von PsychologInnen, SozialarbeiterInnen, AbteilungshelferInnen und VollzugsbeamtInnen zugeordnet. Nur noch Querschnittaufgaben werden zentral in der Verwaltung bearbeitet. In der Mitte eines Y-förmigen Hafthauses verzweigen sich zwei Stationen, an deren Kopfende die verglasten Kontrollräume des Überwachungspersonals untergebracht sind. Es handelt sich um den so genannten AVD-Stationsraum, an den sich ein Besprechungsraum für die Vollzugsbeamten anschließt. Dadurch sind Blick- und Sichtbeziehungen nach innen in den eigenen sowie in den benachbarten Stationsbereich und nach außen in die zugeordnete Freifläche eines Freistundenhofes möglich; zusätzlich ist eine Kameraüberwachung installiert. In einer ›miniaturisierten‹ Form enthält dieser räumliche Zuschnitt letzte Spuren des Panopticons – allerdings in konträrer Form, weil nur Zonen nicht aber die Gefangenen überwacht werden und weil die Vollzugsbeamten sichtbar und persönlich im relativ nahen Blickkontakt identifizierbar bleiben. Den Vorbereich des AVD-Stationsraumes und den Flur vor den Hafträumen nutzen die Inhaftierten als Gruppenterritorium. Der Bereich der Eingangszone ist als halböffentlicher Stationsbereich konzipiert:
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Dort befindet sich eine Telefonzelle; geplant ist auch die Aufstellung von (Kaffee-)Automaten.
Abb. 3: Grundrissorganisation eines Hafthauses (2 Stationen). Ein fünfter Hochsicherheitstrakt umfasst nur ein Geschoss und wurde (als Gefängnis im Gefängnis) von den anderen Haftgebäuden abgetrennt. Der Gesamtkomplex wird, mit Ausnahme des separaten Pfortengebäudes, über eine zentrale Verkehrsachse erschlossen und integriert die hohen baulich-technischen Sicherheitsanforderungen. In der Fassadengestaltung mit Verblendmauerwerk respektive Metall (für die technischen Bereiche) bilden sich die unterschiedlichen Funktionen nach außen ab. Die Wohnfunktion der Y-förmigen Hafthäuser kennzeichnet den Anblick des Gefängnisses von Westen. Auf der östlichen Seite dominiert hingegen Industriearchitektur, die auf Input-Output-Prozesse von Werkstätten und Lagereinrichtungen ausgerichtet ist. Die Folge ist eine ›hybride Gestalt‹, weil das ›Gewaltmonopol‹ der Gebäude mit Haftzwecken nicht mehr allein das Erscheinungsbild des Gefängnisses prägt. Die Industriearchitektur der wirtschaftlichen Gebäude verweist auch auf die neuartigen Beziehungen zwischen drinnen und draußen. Denn über die materiellen (ökonomischen) Ströme ist die Gefängnisfiguration mit äußeren gesellschaftlichen Figurationen stärker verknüpft, als das alte Vorstellungen von Gefängnis als verschlossenem Ort suggerieren. Die hybride Architektur der JVA Sehnde hebt genau diese ›Multifunktionalität‹ des Gefängnisses hervor. Durch die ökonomischen Zielsetzungen wurde das Gefängnis in der architektonischen Planung zu einer ›Fabrikanlage‹ mit integrierter und stark kontrollierter Wohnfunktion innerhalb eines 70
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Gewerbegebiets. Dadurch wird das Gefängnis ›entmythisiert‹; das heißt: die Architektur bildet das ›neue gesellschaftliche Wissen‹ ab, wie die Machtfrage der Etablierten-Außenseiter-Figuration ›Gefängnis‹ aktuell räumlich zu organisieren ist. Insofern bildet die Architektur auch veränderte Machtgewichte in der Verflechtung der Gefängnisfiguration mit äußeren gesellschaftlichen Figurationen ab.51 Es ist eine neue »Verflechtungsordnung«52 entstanden, weil die Häftlinge als Produzenten funktionsteilig mit externen Konsumenten in einer Interdependenzkette verbunden sind. Die Architektur der Funktionen spiegelt folglich eine ›normalisierte Zusammenhangsform‹ zwischen Gefängnis und Gesellschaft.
(e) Symbolhafte Figurationszeichen
Abb. 4: Wohngebäude der Justizvollzugsanstalt Sehnde. Die JVA Sehnde kommuniziert als architektonisches Objekt Bedeutungen, die von der Formensprache der Gefängnisse im 18. Jahrhundert weit entfernt sind. Im Prozess der Soziogenese hat sich das Machtgefälle zwischen dem ausgesonderten Ort und der restlichen Gesellschaft verringert. Es kommt eine integrierende architektonische Formensprache zur Anwendung, die dem Ort einen Grad »gesellschaftlicher Normalität«
51 Vgl. Hubert Beste: Morphologie der Macht. Urbane Sicherheit und die Profitorientierung sozialer Kontrolle, Opladen: Leske + Budrich 2000. 52 N. Elias: Über den Prozess der Zivilisation II, S. 314. 71
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verleiht.53 Dies gilt nicht für die trennenden Bauwerke, denn die semantisch hervorgehobenen Elemente werden von der hohen Gefängnismauer, den Abstandsflächen und den auf hohen Pfählen installierten Überwachungskameras gebildet.54 Aber dahinter sind gebaute Ensembles zu erkennen, deren Fassaden und Dachstrukturen auf gesellschaftlich standardisierte Funktionen und Sinnsysteme hinweisen (Abb. 4): Von der westlichen Seite zeigen die semantischen Codes als primäre Funktionen eine traditionelle Dachform und eine Fenstertextur an, die durch die Verwendung roter Ziegel und vertikaler Giebelanmutungen die typologische Gattung des sozialen Typs ›Wohnhaus‹ suggerieren. Von der östlichen Seite dominieren horizontal geführte Zeichen, die semantisch auf betriebliche Funktionen verweisen und eine Ideologie des Arbeitens transportieren (Abb. 5). Vor der Eingangspforte werden die Architekturzeichen überlagert von Zeichen der räumlichen Alltagskultur. In den Blick schieben sich vor allem die Semiotik der Verkehrswege und Parkplätze sowie die Zeichen- und Kommunikationssysteme, die in der Form von Verkehrszeichen, grafischen Instruktionen und Inschriften wahrnehmbar sind.55 Außerdem fallen Artefakte des Alltags, hier insbesondere Fahrzeuge wie Busse, Last- und Personenkraftwagen auf. Das Vorhandensein einer Bushaltestelle und der rege Verkehr von anliefernden und abtransportierenden Lastwagen verdeutlichen, dass das Gefängnis nicht vollständig von der Gesellschaft abgeschlossen ist, sondern über Personalinputs und logistische Lieferströme eine enge gesellschaftliche Verflechtung aufweist. Insgesamt gibt es somit keine spezifische Ästhetik, die das gebaute Ensemble als Gefängnisarchitektur ausweist. Lediglich die Einschließung durch eine Mauer, die die Zulässigkeiten des Nachbarschaftsrechts weit überragt, und dahinter stehende große Bogenlampen vermitteln die Information einer überwachten Anlage.56 Auch bei der Ausgestaltung des Gebäudeinneren herrscht eine ›Normalisierungsstrategie‹ vor. Das verantwortliche staatliche Baumanagement des Landes Niedersachsen befolgt Standards der »Humanisierung der Arbeitswelt«, weil das Gefängnis nicht nur ein Ort für Inhaftierte darstellt, sondern auch als Arbeitsumwelt der Anspruchsgruppe »Mit53 Vgl. Christopher Alexander et al.: Eine Muster-Sprache, Wien: Löcker 1995. 54 Vgl. Umberto Eco: Einführung in die Semiotik, München: UTB 1972, 326ff. 55 Vgl. Winfried Nöth: Handbuch der Semiotik, 2. Aufl. Stuttgart: Metzler 2000, S. 444ff. 56 Vgl. zur Zeichenfunktion der Architektur Renato De Fusco: Architektur als Massenmedium. Anmerkungen zu einer Semiotik der gebauten Formen, Gütersloh: Bertelsmann 1972. 72
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arbeiter« gestaltet wird. Die Innengestaltung soll deshalb einerseits funktional und sicher sein. Andererseits soll sie ein helles, freundliches und wohnliches Alltagsumfeld bieten. Dafür wurde ein Farb- und Ausstattungskonzept entwickelt, das die Farben grau und blau im Fußbodenund Wandbereich kombiniert, Esche-Dekor für die Möbeleinrichtung der Hafträume beinhaltet, rote Ziegel für das Dach und die Außenwände aufweist – im Fassadenbereich ornamental gegliedert und abgesetzt durch Reihen blauer Klinker sowie blaue Fensterrahmen – und graue Metallfassaden für die Industriearchitektur des Funktionsbereichs umfasst.
Abb. 5: Gewerbebauten der Justizvollzugsanstalt Sehnde. Es gibt ein Schildersystem mit dem Namen des Gefangenen vor jedem Haftraum; weitere Informationssysteme (wie zum Beispiel Informationstafeln) sind in den Haftgebäuden kaum zu finden.57 Indexikalische Zeichen sind die Kontrollsignale und Warnlampen der Überwachungssysteme sowie einer Meldelampe über Tür jedes Haftraums, damit bei Erleuchten eine akustische Ansprache durch die Justizbeamten aus dem AVD-Raum über eine Gegensprechanlage in den Haftraum hinein erfolgen kann. Aus dem situativen Ansatz der Kriminologie58 herkommend repräsentieren die Gestaltungsformen das Prinzip des »target hardening«: Das 57 Vgl. zur sozialen Bedeutung solcher Informationen Reinhold Alber: New York Street Reading. Die Stadt als beschrifteter Raum. Diss. Tübingen 1997. 58 Vgl. Herbert Schubert (Hg.): Sicherheit durch Stadtgestaltung. Städtebauliche und wohnungswirtschaftliche Kriminalprävention. Konzepte und 73
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Wasserreservoir der Toilettenspülung befindet sich – für die Inhaftierten als Versteck nicht zugänglich – in einem Versorgungsschacht (nur von außen vom Gang aus für Justizpersonal zugänglich oder fernbedienbar, zum Beispiel Strom), die Steckdosen sind nicht zu öffnen; es wurden vandalismusresistente Metallwaschbecken installiert und beispielsweise die Hafträume mit robusten Türschildern ausgestattet. Die Heimleitung kleidet das in den Leitsatz: »Es muss vollzugsgerecht (= stabil) und stapelbar sein«.59 Die Architektur spiegelt ein hohes Maß räumlicher Regulierung, wenn die Gestaltung darauf ausgerichtet ist, jeder Form von Aneignung durch eigene raumkulturelle Zeichen zu widerstehen. Mit dem Fremdzwang von Gestaltungsformen und -regeln sollen die Inhaftierten lernen, einer vorgegebenen Ordnung der Raumaneignung zu folgen.
4 S yn t h e s e Das skizzierte Beispiel und seine Relation zu vorangegangenen historischen Entwicklungsstufen verdeutlicht, dass sich die GefängnisArchitektur in einem Wandel befindet, der mit dem gesellschaftlichen Zivilisationsprozess korrespondiert. Einerseits weist die Richtung des Wandels auf stärkere gesellschaftliche Abhängigkeiten zwischen den involvierten Figurationen hin. So sind die Gefangenen und das Kontrollpersonal räumlich und funktional enger aufeinander bezogen, als das in alten Gefängnisarchitekturen der Fall war. Andererseits indiziert der Wandel spezifische Zusammenhänge zwischen den architektonischen Gestaltungs- und den gesellschaftlichen Nutzungsformen. Die Architektur gibt dabei Hinweise sowohl über den jeweiligen Stand der Soziogenese – das heißt verweist auf eine enge Ankopplung des Gefängnisses an gesellschaftliche Prozesse – als auch über den Status der Psychogenese – das heißt: sie dient als Rahmen für eine systematische Zivilisierung der Häftlinge als Individuen durch Spezialisten. Beim Gefängnisbau kommen nur Architekten zum Zuge, die in die staatliche Hierarchie eingebunden sind. In dieser spezifischen gesellschaftlichen Position des staatlichen Monopols verfolgen sie bei der Gestaltung des Gefängnisses das Ziel, den gesellschaftlich-ökonomischen Anforderungen kollektiver Einrichtungen (Soziogenese) und zugleich den zivilisatorischen Anforderungen der Psychogenese gerecht zu werden. Verfahren, Grundlagen und Anwendungen, Köln: Verlag Sozial Raum Management 2005, S. 25ff. 59 JVA Sehnde 2006: Gruppeninterview mit der Einrichtungsleitung und den Architekten des Staatlichen Baumanagement Niedersachsen/Abteilung Hannover. 74
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Das Architekturprodukt Gefängnis macht dabei nicht mehr so stark wie in früheren Gefängnisarchitekturen die Bedeutung von Regelverletzung in der Gesellschaft und den normativen Umgang der Gesellschaft mit der Normabweichung sichtbar. Es befindet sich nicht mehr als ›abschreckende Architekturgeste‹ im Zentrum der urbanen Agglomeration, sondern verschwindet exkludiert in der regionalen Peripherie, nicht zuletzt damit die Input- und Outputströme der Wirtschaftsverkehre reibungslos verlaufen können. Durch die Unterwerfung des Gefängnisses unter ökonomische Zwänge und Abhängigkeitsketten nimmt die architektonische Raumgestaltung die Gestalt einer besonderen gesellschaftlichen Integrationsform an: Im untersuchten Beispiel bringt die Architektur in räumlich miniaturisierter und schematischer Form die gesellschaftlichen Bereiche der Produktion und Reproduktion zusammen. Die Differenzierung von Gestalt und Raumprogramm in private und berufliche Bereiche der bürgerlichen »Berufsgesellschaft« wird im Gefängnis zum prägenden Prinzip der räumlichen Strukturierung. Das Spannungsverhältnis von individuell gestaltbaren Wohnräumen und kollektiv genutzten Industriebauten für Produktion wird als räumliches Setting der ›ReSozialisierung‹ gewählt. Die reduzierten Maßstäbe der Hafträume transportieren Informationen über den Rang der inhaftierten Bewohner. Sie werden zwar als zu zivilisierende Individuen anerkannt, zugleich dokumentiert die Schlichtheit der architektonischen Gesten die niedrige gesellschaftliche Lage der Inhaftierten. Auf der anderen Seite spiegelt der überdimensionierte Maßstab der Produktionshallen die Einbettung in ökonomische Zwänge und damit verbunden den hohen Stellenwert des wirtschaftlichen In- und Outputs im modernen Gefängnis. Die differenzierte Durchbildung des Äußeren zur Repräsentanz beider Funktionen stellt das Gefängnis nicht mehr als reinen Ort des Ausschlusses dar, sondern als einen gesellschaftlich anerkannten Ort wirtschaftlicher Aktivität unter staatlicher Kontrolle. Die professionelle Fachsprache der angewandten Architektur kommuniziert die beiden Funktionsebenen in Symbolformen der Materialität von Wohntrakten und Produktionshallen. Die Architektur fungiert dabei als ›Kommunikationsmedium‹, das in bildhaften Zeichen nicht nur gesellschaftliche Normen und Werte im Raum zum Ausdruck bringt, sondern auch als Instrument der sozialen Integration Bedeutung hat. Die Architekten kommunizieren mit ihren Bauplänen und in deren Realisierung die veränderte Stellung von Gefangenen in der gegenwärtigen Gesellschaft öffentlich. Der Wert von Inhaftierten als Arbeitskräfte drückt sich in der Wertaussage der gewählten Materialien und Architekturformen genauso aus wie ihre zivilisatorischen Defizite im semantisch hervorgehobenen Element der Gefängnismauer. Zugleich erzeugt das ›Me75
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dium‹ Architektur über die ›normalisierten‹ Gestaltungsmuster des Wohnens und Arbeitens eine symbolische Information, die eine affektreduzierte Wahrnehmung der Institution Gefängnis ermöglicht. Das kann – wie es Foucault in allgemeiner Form formuliert hat – als eine »Ausweitung der Disziplinarinstitution« Gefängnis interpretiert werden, weil seine Weiterentwicklung auf Techniken basiert, »nutzbringende Individuen (zu) fabrizieren«60 und weil dafür immer »dichter werdende Normalisierungsnetze« geknüpft werden, durch die die Institution ihren Schrecken verliert.61
Literatur Alber, Reinhold: New York Street Reading. Die Stadt als beschrifteter Raum. Dokumentation von Schriftzeichen und Schriftmedien im Straßenraum und Untersuchung ihrer stadträumlichen Bedeutung am Beispiel von New York. Diss. Tübingen: Universitätsverlag 1997. Alexander, Christopher et al.: Eine Muster-Sprache, Wien: Löcker 1995. Beste, Hubert: Morphologie der Macht. Urbane Sicherheit und die Profitorientierung sozialer Kontrolle, Opladen: Leske + Budrich 2000. Birenheide, Almut/Legnaro, Aldo: »Shopping im Hochsicherheitstrakt? Sicherheitsstrategien verschiedenartiger Konsumlandschaften«, in: Kriminologisches Journal 35 (2003), H. 1, S. 3-16. De Fusco, Renato: Architektur als Massenmedium. Anmerkungen zu einer Semiotik der gebauten Formen, Gütersloh: Bertelsmann 1972. Delitz, Heike: »Architektur als Medium des Sozialen«, in: Sociologia Internationalis 43 (2005), H. 1/2, 1-23. Eco, Umberto: Einführung in die Semiotik, München: UTB 1972. Elias, Norbert: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Berlin/Neuwied: Luchterhand 1969. Elias, Norbert: Was ist Soziologie? München: Juventa 1970. Elias, Norbert: Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bde. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980. Elias, Norbert: Symboltheorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001. Elias, Norbert/Scotson, John L.: Etablierte und Außenseiter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990.
60 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 269ff. 61 Ebd., S. 395. 76
FIGURATIONSZEICHEN
Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994. Gleichmann, Peter R.: »Wandel der Wohnverhältnisse«, in: Zeitschrift für Soziologie 5 (1976), S. 319-329. Gleichmann, Peter R.: »Die Verhäuslichung körperlicher Verrichtungen«, in: Ders./Johan Goudsblom/Herrmann Korte (Hg.), Materialien zu Norbert Elias’ Zivilisationstheorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979, S. 254-278. Hahn, Kornelia: Soziale Kontrolle und Individualisierung. Zur Theorie moderner Ordnungsbildung, Opladen: Leske + Budrich 1995. JVA Sehnde: Ortstermin und Experteninterviews in der Justizvollzugsanstalt am 07.03.2006. Läpple, Dieter: »Essay über den Raum. Für ein gesellschaftswissenschaftliches Raumkonzept«, in: Hartmut Häußermann et al. (Hg.), Stadt und Raum. Soziologische Analysen, Pfaffenweiler: Centaurus 1991, S. 167-183. Linde, Hans: Sachdominanz in Sozialstrukturen, Tübingen: Mohr 1972. Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001. Nöth, Winfried: Handbuch der Semiotik. 2. Aufl. Stuttgart: Metzler 2000. Riege, Marlo/Schubert, Herbert (Hg.): Sozialraumanalyse. Grundlagen – Methoden – Praxis, 2. Aufl. Wiesbaden: VS 2005. Sennett, Richard: Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. Schäfers, Bernhard: »Zur Begründung einer Architektursoziologie«, in: Soziologie 33 (2004), S. 35-48. Schubert, Herbert: »Das Altern der westeuropäischen Staatsgesellschaften: Über Bevölkerungsentwicklungen während des abendländischen Zivilisationsprozesses«, in: Hermann Korte (Hg.), Gesellschaftliche Prozesse und individuelle Praxis. Bochumer Vorlesungen zu Norbert Elias’ Zivilisationstheorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 86128. Schubert, Herbert: Städtischer Raum und Verhalten. Zu einer integrierten Theorie des öffentlichen Raumes, Opladen: Leske + Budrich 2000. Schubert, Herbert: »Empirische Architektursoziologie«, in: Die Alte Stadt 32 (2005), S. 1-27. Schubert, Herbert (Hg.): Sicherheit durch Stadtgestaltung. Städtebauliche und wohnungswirtschaftliche Kriminalprävention. Konzepte und Verfahren, Grundlagen und Anwendungen, Köln: Verlag Sozial Raum Management 2005.
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Schubert, Herbert: »Stadt als sicherer Raum. Zur Diskussion um eine »städtebauliche Kriminalprävention«, in: Die Alte Stadt 33 (2006), H. 3, S. 249-267. Swaan, Abram de: Der sorgende Staat. Wohlfahrt, Gesundheit und Bildung in Europa und den USA der Neuzeit, Frankfurt a.M./New York: Campus 1993. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der Verstehenden Soziologie, 5. Auflage, Tübingen: Mohr 1972. Weresch, Katharina: Wohnungsbau im Wandel der Geschlechterverhältnisse, Hamburg: Dölling & Galitz 2004. Bildnachweise Alle Fotos und Zeichnungen: JVA Sehnde.
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»Gebrauch und Geschmack« – Architektonisches Verhalten im Kontext der Lebensführung. Die › Architektur der Gesellschaft ‹ aus Sicht der phänomenologisch-hermeneutischen Soziologie ACHIM HAHN
Einleitung Es ist müßig, darüber zu streiten, wo die Grenze zwischen Philosophie und Soziologie zu ziehen ist. Deswegen will ich gar nicht erst versuchen, philosophische von soziologischen Anteilen zu unterscheiden, sondern zunächst erläutern, was ich unter »phänomenologisch-hermeneutisch« verstehe. Ich sehe die Position der soziologischen Beispielhermeneutik in der Tradition der hermeneutischen Opposition gegen Husserls Phänomenologie, präziser: gegen die Epoché (»Einklammerung«) der »Generalthesis der natürlichen Einstellung« und gegen Husserls Begriff der Intentionalität (mit ihren Folgen auch für das Denken der Intersubjektivität). Ich möchte unter den weniger bekannten Philosophen, die ich zu dieser Opposition rechne, nur Wilhelm Schapp und Hans Lipps nennen.1 Zugleich verdankt die Beispielhermeneutik viele Anregungen der »interpretativen« Soziologie, wie sie in der »phänome1
Diese Position habe ich ausführlich entwickelt in: Erfahrung und Begriff. Zur Konzeption einer soziologischen Erfahrungswissenschaft als Beispielhermeneutik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994. 79
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nologischen Typik der Lebenswelt« interessierten Wissenssoziologie von Berger und Luckmann, von Herbert Blumer (»symbolischer Interaktionismus«) und anderen als Fortsetzung von Überzeugungen des Pragmatismus entfaltet wurde.2 Angestrebt wird von mir nun eine soziologische Hermeneutik der Daseinswelt, deren Konstitutionsbedingungen hinsichtlich der Situationalität und Räumlichkeit des Menschen bedeutsam sind. Räumlichkeit respektive Lokalität bestimmen den primären Orientierungsraum des Lebens. Eine phänomenologisch-hermeneutische Soziologie der Lebenswelt entdeckt dabei die Bedeutung des Handelns und Wissens im Rekurs auf die Vertraut- und Gewissheiten einer soziologisch hinzunehmenden »naiven« Weltsicht. Das architektonische Verhalten, als konkretes Zeugnis menschlicher Welt-Anwesenheit, kann (wie jedes andere Tun und Lassen des Menschen) nicht abstrakt vorgebracht werden. Es muss in seiner Phänomenalität erfahren werden. Ich betreibe »Erfahrungswissenschaft« in diesem prägnanten Sinn: Entziehe ich mich dem Ansinnen, das »Wesen« von Architektur und Gesellschaft (was Architektur und Gesellschaft eigentlich seien), zu definieren, habe ich mich damit nicht von jeder Sinnfälligkeit verabschiedet: vielmehr fordere ich zum Sinnverständnis gerade auf. Die Frage nach dem ›Sinn‹ ist die nach der Bedeutung, welche Architektur als außerwissenschaftliches Phänomen einer mit anderen Menschen geteilten Welt primär ›besitzt‹. Sinn und Bedeutung zeigen sich nun im Gebrauch, im Umgang mit Architektur. Jeder Gebrauch setzt ein sprachlich erschlossenes, leiblich und weltlich begrenztes, intersubjektiv ausgeformtes gemeinschaftlich-gesellschaftliches Leben voraus. Im vortheoretischen Zu-tun-haben mit Architektur (beim Wohnen, Entwerfen, Bauen) konstituieren wir ihren Gebrauchssinn: ihre Bedeutung. Sprechen über Architektur und Hantieren mit architektonischen Elementen sind dabei nur zwei Seiten eines pragmatisch-architektonischen Verhaltens, zu dem das (»professionelle«) Entwerfen und das herstellende Bauen gehören. Vorgängig der philosophischen und soziologischen Einlassungen finden wir die narrative Pragmatik des Alltagskönnens und -wissens vor, die Einheit von Welt und denjenigen, deren Welt diese Welt ist. Am Verhalten zeigt sich das Phänomen Architektur auf
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Vgl. Peter Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1960; Herbert Blumer: »Der methodologische Standort des Symbolischen Interaktionismus«, in: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.): Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. Bd. I, Opladen: Westdeutscher Verlag 1973, S. 80-148, v.a. 80-101; Hans Joas: Pragmatismus und Gesellschaftstheorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992.
»GEBRAUCH UND GESCHMACK«
ausgezeichnete Weise: in seiner Anschaulichkeit und Dienlichkeit als unhintergehbarer Ausgangssituation.
1 Grundüberzeugungen der soziologischen Beispielhermeneutik3 Zweifellos haben Max Weber, Georg Simmel und Alfred Schütz darauf bestanden, zwischen dem naturwissenschaftlichen Erklären und dem geisteswissenschaftlichen Verstehen zu unterscheiden. In ihrer Nachfolge hat die »verstehende« Soziologie deutlich gemacht, dass sie als empirische Wissenschaft einer Methodologie bedarf, die ihre Methodenbegründung am Erkenntnisinteresse des Forschers und an der »Güte« des untersuchten Gegenstands auszurichten habe. Das Verhältnis von Handeln und Wissen, das für alle Analysen der »verstehenden Soziologie« belangvoll ist, begreife ich vom Geschehen der Erfahrung her. Denn was ist die soziale Welt? Die soziologische Beispielhermeneutik geht davon aus, dass der »Inhalt« der sozialen Welt das ist, was wir alltagsweltlich als »unsere Wirklichkeit« bezeichnen; dieses Wissen heißt Erfahrung. Am Grunde der Erfahrung (als ihre Möglichkeitsbedingung) liegt die kommunikative Sozialität, Interpersonalität oder Intersubjektivität. Die Beispielhermeneutik ist eine sinnverstehende und in diesem Sinn erfahrungswissenschaftliche Soziologie der Lebenswelt.4 Was heißt hier Erfahrung? Die Beispielhermeneutik geht davon aus, dass die »Natur« des Menschen nach allen Seiten offen ist für den Reichtum seines Erfah3
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Vgl. Achim Hahn: Erfahrung und Begriff. Ders.: Wohnen als Erfahrung. Reflexionen und empirisch-soziologische Untersuchungen zur Pragmatik des Wohnens, Münster: LIT 1997; »Narrative Pragmatik und Beispielhermeneutik. Zur soziologischen Beschreibung biographischer Situationen«, in: Gerd Jüttemann/Hans Thomae (Hg.), Biographische Methoden in den Humanwissenschaften, Weinheim: Beltz 1998, S. 259-283; »Lebenswelten am Rand. Interpretationen zum kulturellen Ausdruck von Wohnsuburbanisierung«, in: Klaus Brake/Jens Dangschat/Günter Herfert (Hg.), Suburbanisierung in Deutschland – aktuelle Tendenzen, Opladen: Leske + Budrich 2001, S. 223-233; »Wohnen«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel, Basel: Schwabe 2005, Sp. 1015-1018; ders./Michael Steinbusch: Zwischen Möglichkeit und Grenze. Zur Bedeutungsgestalt der Zwischenstadt, Wuppertal: Müller & Bussmann 2006; Michael Steinbusch: Die Schneegrenze. Wohnen zwischen Stadt und Land, Münster: LIT 2001 und Peter J. Görgl: Die Amerikanisierung der Wiener Suburbia? Der Wohnpark Fontana. Eine sozialgeographische Studie, Wiesbaden: VS 2008. Vgl. auch Gerd Vonderach: »Geschichtenhermeneutik«, in: Ronald Hitzler/Anne Honer (Hg.): Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. Opladen: Leske + Budrich 1997, S. 65-191. 81
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rungslebens. Dass der Mensch Erfahrungen macht, gute wie schlechte, ermöglicht ihn als geschichtliches Wesen. Erfahrungen begleiten das ganze Leben. Erfahrungen-Machen und Sich-begegnen-Lassen der Welt sind unlösbar verschränkt: Selbst mitten in seiner Umwelt stehend, begegnen dem Einzelnen die Mitmenschen, die Dinge der näheren und ferneren Umgebung, das eigene Selbst – das ist die eine Welt seiner Möglichkeiten, zu denen er sich stets verhält. Gesellschaft konstituiert sich als meine Welt: als die Welt, die ich nur in den Grenzen meiner Erfahrung habe, einer Welt, die ich mit anderen teile, deren Erfahrungen ähnlich sind, und die mir leiblich und kommunikativ erschlossen ist. Damit ist auch der Vorgriff auf das »Empirische« einer solchen Soziologie getan: darunter wird der gesamte Erfahrungsreichtum oder das Gebrauchs- und Umgangswissen (auch vom Leib und seiner Befindlichkeit) gefasst. Dieses »Wissen«, das unseren Umgang mit der Welt leitet, ist zugleich von diesem geprägt. Es ist »soziales« (»intersubjektives«) Wissen einer konkreten Sprachgemeinschaft. Im methodisch geleiteten Begegnen mit dieser Erfahrung macht der Soziologe seine Erfahrung. Das Soziale, insofern es nur in dieser Begegnungserfahrung bedeutsam ist, ist das erste Bezugsfeld einer derart konzipierten Soziologie. Das sich selbst und seine Welt immer schon »verstehende« Dasein ist vorgängig jeder reflexiv-theoretischen Zuwendung, jeder Systematik. Insofern nun diese soziale Welt, wie sie in den Erfahrungen der Menschen ist, nicht als neutrales Datum aufgefasst werden kann (dies hieße die Phänomene von ihrer Bedeutung abschneiden), stellt sich die Frage nach der besonderen Qualität der Erfahrung. Ich möchte zwei radikale Möglichkeiten unterscheiden: zum einen kann »Gesellschaft« als Orientierungsausdruck verstanden werden, der das Leben mit anderen in einem mehr oder weniger einheitlichen geschichtlichen Rahmen ordnet. ›Gesellschaft‹ ist dann der selbstverständliche, unmittelbare Kontext unserer Handlungen; und dieser Kontext realisiert sich nur in praktisch-lokalen Lebensformen, in die wir je ›verstrickt‹ sind. Zum anderen kann »Gesellschaft« als durch Formalisierung gewonnener Vorgriff auf ein System von Handlungs- und Wissensschemata aufgefasst werden, in dessen Kontext das Handeln zweck- und zielgerichtet erscheint. Die soziologische Beispielhermeneutik fragt nach der Bedeutung sozialer Phänomene in der Ganzheit des individuellen Lebensverständnisses in einer konkreten Welt. Sie versucht Einsicht in die menschlichsozialen Verhaltungen zu gewinnen, indem sie sich dem Wissen, durch das wir die Mitwelt und uns selbst auslegend verstehen, nähert. Das hermeneutische Verständnis von Besonderem (dieses Haus) und Allgemeinem (ein Haus), Erfahrung und Begriff, berührt vor allem Aspekte der Handlungstheorie und Wissenssoziologie. Die Beispielhermeneutik 82
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versucht, »Handeln und Wissen« ausgehend von der menschlichen Erfahrung in die soziologische Methodologie aufzunehmen. Es kommt darauf an, auf jenes Wissen zu stoßen, das die antike Philosophie phronesis nannte: in Abgrenzung zur techne, dem technischen Wissen und zur episteme, dem theoretischen Wissen, ist die phronesis das Umgangswissen, sich in der Welt zu orientieren. In diesem Sinne ist die Lebenserfahrung ein Können, bestimmte Situationen zu meistern (statt sie zu analysieren). Wohnen, Entwerfen und Bauen interessieren also als Lebenssituationen, in denen es darauf ankommt, ein Handeln-Können zu verwirklichen, das auf ein Gelingen des Lebens orientiert ist. Diese Hermeneutik nimmt die Leistungen der praktischen Handlungs- und Seinsvollzüge in ihrer besonderen »Gelegenheit« als Beispiele zur Kenntnis: für soziale Lagen, in die Menschen im Leben kommen. Jedes Handeln ereignet sich im situativen Kontext. Das Sinnpotential des Handelns liegt in der Lösung der konkreten Sache, indem diese auf ihren »Begriff« gebracht wird, wobei die soziologische Hermeneutik diese Beispiele in soziologische Fälle wendet. Durch Beispiele lässt sie sich zu einem Begriff hinführen, der diesen bereits innewohnt. Der Begriff verwahrt also etwas von jener »Verstrickung«; er ist eine Art ›Überschrift‹ über erfolgreiche Handlungen. Die Situationsgebundenheit sozialer Praxis ist kein neutrales Gegenüber von Objekten, denen alles Okkasionelle entzogen ist, das unter Regeln subsumiert ist: die Beispielhermeneutik zielt nicht darauf, die Unmittelbarkeit der Erfahrungen methodisch zu »vermitteln«, indem sie sie als Objekte und Daten distanziert. Die Erfahrung von der ›Gesellschaft‹, die wir alle ›sind‹, macht vielmehr nur der, der ihr Zeuge ist. So wie der Soziologe die Erfahrung, die er als Sozialwissenschaftler macht, bezeugt, so geht es der Beispielhermeneutik um die ›bezeugte‹ Erfahrung der anderen Erfahrungen im situativen Umgang mit der Welt. Insofern der Soziologe (potentiell) Zeuge sozialer Begegnungen ist, wird die Hermeneutik als Forschung möglich, nicht als reine Beobachtung, sondern als Beschreibung dessen, was man an sich selbst erfährt. Der Erfahrungswissenschaftler ist insofern ein »verstehender Zeuge«. Einer solchen Soziologie stellt sich die Aufgabe, ihr eigenes Vorverständnis von der sozialen Welt durch lebensweltliche Erfahrungen in Frage stellen zu lassen. Diese Grundüberzeugung kann nun auf die Situation des Wohnens, Entwerfens, Bauens übertragen werden. Das Handeln ist leiblich, situativ, kontextuell, aktuell. Das jeweilige konkrete Wohnen, Entwerfen, Bauen als Bewältigen der menschlichen Grundsituationen des In-derWelt-Seins, die Tatsache, dass der Mensch irgendwo bleiben und seinen Aufenthalt nehmen muss, hat seinen Sitz in den praktischen Verhältnissen des Denkens, Sprechens und der Lebensführung. Das Sprechenkön83
ACHIM HAHN
nen ist die wichtigste Handlungsfähigkeit des Menschen, weil es alle weiteren Fähigkeiten und Handlungen konstituiert. Nur der Mensch wohnt, entwirft, baut, weil nur er sich über seine Bedürfnisse, Überzeugungen, Wünsche und Absichten im transsubjektiven Handlungs- und Erfahrungsfeld klar werden und entsprechend reagieren kann. Sprachlichkeit und Sozialität sind Grundvoraussetzungen der Lebenswelt und der Gestalten des Wohnens, Entwerfens und Bauens.5 Sprechend und handelnd reagieren wir auf unsere Bedürftigkeit.6 Ist jedoch das Handeln eine Antwort, so ist der dieses Handeln motivierende ›Auslöser‹ ein Widerfahrnis, ein Geschehen. Neben der eigenen Bedürftigkeit widerfahren uns die Handlungen anderer; Arbeitslosigkeit; Krankheiten; schwer erträgliche Nachbarschaften; ›schönes‹ Wetter. Wir lernen das Eingehen auf Widerfahrnisse und das Einüben von Handlungen in dem Maß, wie wir unsere Reaktionen sprachlich ausdrücken: wir sprechen davon, dass uns Gutes oder Schlechtes widerfährt; dass Handlungen gelingen oder misslingen. Wir unterscheiden zwischen ›äußeren Umständen‹ und ›inneren Stimmungen‹. Zu den ersten zählen wir soziale, wirtschaftliche und politische und allgemein ›kulturelle‹ Umstände (unsere geschichtlich-kulturelle Situation), darin die Konfrontationen mit Widerfahrnissen, denen wir nicht ausweichen können und auf die wir zu reagieren haben. ›Stimmungen‹ widerfahren uns als Gefühle, Empfindungen und Atmosphären: sie überkommen uns, werden umgangssprachlich ›besetzt‹ und können uns ›auf ihre Weise‹ zu Selbstverständnissen (›jetzt richtig‹ zu leben), Einsichten (nun ist der Entwurf perfekt) und Entschlüssen (man habe sich ›in das Haus verliebt‹ und wolle es erwerben) führen. Einem Stein widerfährt nichts. Ist ein Dach undicht, dann widerfährt dies nicht dem Haus, sondern den darin Wohnenden. Die Tätigkeiten, die mit dem Wohnen und Entwerfen verknüpft sind, lernen wir im gleichen Maß, wie wir die Wörter gebrauchen, die jene Tätigkeiten beschreiben. Was das Wort umziehen bedeutet, verstehen wir, indem wir umziehen oder anderen dabei helfen. Das gleiche gilt für Fahrrad fahren, spazieren gehen, joggen, verreisen oder einen Holzbalken berechnen. Dieses Lernen geschieht durch Zusehen, Vor- und Mitmachen, Sel5
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Auch für Hannah Arendt enthüllt sich die Person und damit die Welt der Menschen erst im Handeln und Sprechen: Vita activa. Vom tätigen Leben, München: Piper 1981, S. 164ff. Vgl. v.a. Wilhelm Kamlah: Philosophische Anthropologie. Sprachkritische Grundlegung und Ethik, Mannheim u.a.: Bibl. Institut 1972, Friedrich Kambartel: Philosophie der humanen Welt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, Thomas Rentsch: Die Konstitution der Moralität. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990.
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bermachen. Was aber ›vertrauen‹, ›lieben‹, ›sich ärgern‹, ›zufriedenSein‹ bedeuten, kann nicht auf diese Weise gelernt werden. Hier haben das Miteinander-Reden, das Vortragen von Beispielen und Gegenbeispielen dazu geführt, dass wir uns über jene Ausdrücke der gesprochenen Sprache, unsere leibliche Zuständlichkeit betreffend, verständigen können. Husserl hatte die Einheit des phänomenologischen Subjekts in der Einheit und Abfolge intentionaler Erlebnisse beschrieben. Hans Lipps hat geantwortet, dass nur im erfahrenden Umgang mit den Dingen diese sich für uns konstituieren.7 Wir müssen uns auf irgendeine Weise mit ihnen befassen: Statt Intentionalität also lebendig-leiblicher Umgang mit den Dingen unserer Welt. In dieser Praxis unserer Denk- und sonstigen Handlungen geben wir den Zielen, Situationen und Mitteln unseres Lebens eine bestimmte Form. Unsere gesamte Lebenspraxis wird von diesem Grundzug, dem eigenen Leben eine Form geben zu müssen, bestimmt. ›Müssen‹ bedeutet hier: Es ist für uns (für den Menschen) pragmatisch unmöglich, es nicht zu tun. Wir können nicht, in Situationen verstrickt, uns nicht entscheiden. Es ist pragmatisch unmöglich, als (erwachsener) Mensch sein Leben nicht irgendwie zu führen und zu formen. Jedermann erfährt sich stets in das nicht hintergehbare Gefüge hineingezogen, das aus der Unbestimmtheit und Nichtfestgelegtheit der Form (seines Lebens) auf der einen Seite und dem praktischen Erfordernis seiner Form- und Gestaltgebung auf der anderen Seite besteht. Jeder Mensch muss ebenso seinem Wohnen eine ›Form‹ geben. Jedes Haus ist geformt. Die Formgebung beginnt schon, wo wir unterwegs einen Stein ausgraben, um ihn für den Bau zu verwenden. Damit binden wir den Stein an uns, wodurch erst Form und Maß entstehen. Wir sprechen in der Tat nicht allein von Umgangsformen, sondern ebenso von Wohn-, Haus- und Lebensformen: und meinen damit etwas tatsächlich Auffindbares und durch Handlungen und Beschreibungen Festgelegtes. In der Frage, worauf diese Architektursoziologie eine Antwort sein kann, stoßen wir auf den Verständnishorizont, in dem Bernd Hamm seinen Beitrag für das »Wörterbuch der Soziologie« (1989) schreibt: Architektursoziologie sei »Berufssoziologie der Architekten« und »Soziologie nonverbaler Kommunikation«. Statt die Architektursoziologie derart auf Bindestrich-Themen zu reduzieren, geht es mir um die lebensweltliche Dimension, um die alltägliche Begegnung mit Architektur, um ihre lebensweltliche Bedeutsamkeit. Max Weber hat bekanntlich das soziale Handeln im Kontext der Lebensführung als Kernbereich der Soziologie 7
Vgl. Hans Lipps: Untersuchungen zu einer hermeneutischen Logik (1938). Werke II, Frankfurt a.M.: Klostermann 1976. 85
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fixiert. Nicht Subjekte, Objekte oder Daten, sondern das Sich-Verhalten und sein Niederschlag als Erfahrung stehen im Zentrum der Soziologie. Erfahrungswissenschaft, »empeiria« ist in diesem Sinn gemeint: wie er zuerst in Aristoteles’ Wissenschaftslehre auftritt und im 20. Jahrhundert in Phänomenologie und Hermeneutik wiederkehrt. Erfahrung heißt dann das Sich-begegnen-Lassen mit dem »Wissen des Besonderen«. Dieses Vertrautsein mit der Welt geht jedem Erklären voraus. Insofern ist von einer »Soziologie der architektonischen Erfahrung« zu sprechen. »Theorie der Gesellschaft« ist dann die methodologisch fundierte, methodisch angeleitete Interpretation jener Bedeutsamkeit, die stets schon kommunikativ, interpersonell, intersubjektiv, mitweltlich erfahren wird. Die Gesellschaft ist zweifellos eine Konstruktion, deren »empiristisches« Pendant man in den lebensweltlichen Gewissheiten weder suchen noch verstecken sollte.
2 Ar c h i t e k t u r i n d e r s o z i o l o g i s c h e n Beispielhermeneutik Handeln und Gebrauchen Das Thema ›Architektur und Gesellschaft‹ interessiert im Folgenden unter zwei Aspekten: dem Wohnen und dem darauf antwortenden Entwerfen des Architekten. Eine solche soziologische Architekturtheorie findet ihre Motivation darin, dass sich eine empirische »Wissenschaft von der Architektur und dem Bauen« vor allem in technizistischer Ausprägung etabliert hat, die sich ungebunden an lebensweltliche Bedeutsamkeiten begreift. Dieser Prozess der Autonomisierung einer rein an der Machbarkeit ausgerichteten Baufachwissenschaft soll hier nicht rekonstruiert werden; vielmehr sei darauf verwiesen, dass (abstrahierende) Theorie und Wissenschaft nicht schon immer zusammen gehörten, sondern dass »Wissenschaft« auch im Sinne des praktischen Verfügens über Fachwissen begreifbar ist. So lange ein »technologisches Können« lebensweltlich integriert bleibt, liegt kein Grund vor, warum »Wissenschaft« nicht mit der praktischen Welt verbunden bleiben könnte. Darauf zielt Heideggers vormodernes Beispiel vom Schwarzwaldhof, das auf eine Zeit hinweist, in der die Welt des Bauens und Wohnens noch »in Ordnung« war. Erst wenn experimentelle Wissenschaft und Technisierung sich ausdifferenzieren, vom situativen Anwenden und der praxisnahen Beobachtung ihrer Folgen emanzipieren, wird Architekturtheorie (und -soziologie) benötigt, den Übergang der allgemeinen Kenntnisse in die Welt des praktischen Lebens kritisch zu begleiten. Als Theorie bleibt 86
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sie sich selbst, den eigenen Ansprüchen an Wahrheitsfindung verpflichtet. Indem aber Theorie gezielt zum Beispiel als methodisch kontrollierte hermeneutische Soziologie des Wohnens ausgestaltet wird, nimmt sie die Form der auch das Praktische leitenden Einsicht an, im Wissen von Gründen, Ursachen und Folgen des Handelns. Da sie als Wohnsoziologie und Ausdrucksforschung der Artefakte mit der Architekturtheorie vertraut ist, kann sie über die Verwertbarkeit des wissenschaftlichen Wissens hinaus fragen, welches (Lebens-)Ziel dessen Anwendung fördern soll. Das Vermögen, entsprechende Fragen stellen und beantworten zu können, ist das Orientierungswissen. Um die Ebene der praktisch-pragmatischen Lebensführung, auf der die Artefakte hinsichtlich ihrer Wirklichkeit und Wirksamkeit erlebt und erfahren werden, plausibel zu machen, möchte ich zwischen ›Handeln‹ und ›Gebrauchen‹ als einer Sonderform von Handeln unterscheiden. ›Handeln‹ bezieht sich zunächst darauf, das eigene Leben zu erhalten und zu vollziehen. Es dient der Orientierung in der Welt, in der der Handelnde Teilnehmer eines gemeinsamen, normativ bestimmten Lebenszusammenhangs ist.8 Dieses Handeln, in dem uns niemand vertreten kann, hat das Leben selbst zum Ziel. Insofern endet es nicht mit der Herstellung eines Produkts. Darüber hinaus wird das Leben nicht irgendwie gelebt, sondern nimmt eine Gestalt an, in der es auch gut vollbracht werden will und als Ganzes gelingen soll. Eine Art dieses Handelns, als welches sich das Leben selbst vollzieht, ist nun das Gebrauchen. »Solches Handeln, zu dem wesentlich das Gebrauchen gehört, sind Handlungen des Menschen wie: wohnen, essen, sich kleiden, schlafen. Diese Handlungen sind selbst ein Bestandteil des Lebens, in ihnen findet zum Teil das Leben selbst seine Erfüllung.«9 Das Gebrauchen ist ein wesentlicher Aspekt des Handelns. Es verweist zudem auf etwas anderes: auf das, das in Gebrauch genommen werden soll. Die Beispiele (essen, sich kleiden, schlafen) betreffen das Wohnen selbst. »Solche Handlungen [wie das Wohnen] sind aber nur möglich im Gebrauchen von etwas anderem, in ihnen ist der Gebrauchende auf anderes Seiendes bezogen [...] Wir können diese Dinge, deren Gebrauch unmittelbar zur Erhaltung des Lebens gehört, Lebens-mittel nennen [...] Ihr Gebrauch ist ein Vollzug des Lebens.«10 So ist der ›Gebrauch des Hauses‹ das Wohnen und das Leben vollzieht sich im häuslichen Woh-
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Friedrich Kaulbach: Einführung in die Philosophie des Handelns, Darmstadt: WBG 1985, S. 2. 9 Karl Ulmer: Natur, Kunst und Technik bei Aristoteles, Frankfurt a.M.: Max Niemeyer 1953, S. 51f. 10 Ebd., S. 52. 87
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nen. Weder geht das Wohnen aber »im Leben« auf, noch ist das Wohnen »identisch« damit. Diese Gewinnung eines Verständnisses von Wohnen aus dem Handeln als Lebensvollzug und dem Gebrauch von Lebensmitteln ist für das Thema ›Architektur und Gesellschaft‹ essentiell. Denn in der Regel stelle ich die von mir in Gebrauch genommenen Lebensmittel nicht selbst her, sondern bin darauf angewiesen, dass andere diese hervorbringen: auf eine Weise, die mir nützlich ist. Das Nützliche ist nicht an sich nützlich. Pragmatisch interessiert ist man nicht am Nützlichen (»Funktionalität«, »Sachlichkeit« als Selbstzweck), sondern an seinem Nutzen für etwas. Das »technische« oder »funktionale« Wissen des Nützlichen (wie es hergestellt werden kann), bezieht sich auf das »Ding« in der allgemeinen Bestimmung seiner Nützlichkeit, abgesehen von seiner Einzelheit. Das Herstellungswissen ermöglicht ein Verfügen über etwas im Vorblick auf seinen erstrebten Nutzen. Aber: Herstellung ist nicht Gebrauch! Das Herstellen von Dingen trennt dieses vom späteren Gebrauch ab; es verlagert das Nützliche aus dem Bereich des konkreten Gebrauchs, indem es sich am allgemeinen Gebrauch orientiert. Aber alles Nützliche ist es nur, sofern es Jemandem zu etwas nützlich ist. Es stellt sich somit die Frage nach dem Wozu des nutzenden Gebrauchs. Unter dem Fokus einer allgemeinen »Funktionalitäts- und Sachlichkeitsoptik« begegnet jedes Wozu der Nützlichkeit als etwas Beliebiges. Der Bezug von Mittel, Zweck und Nutzen wird gelöst vom konkreten Dasein. Dem Gebrauch liegt jedoch zugrunde, dass der Zweck von jemandem tatsächlich gewollt sein muss. »Wissen des Nützlichen heißt daher immer: Wissen des für Jemanden in bestimmter Hinsicht Nützlichen«.11 Das Wissen des Nutzens vernetzt Wissen und Handeln. Von diesem Wissen, dem es um das Befinden im Horizont der Lebensführung geht, nimmt die hermeneutische Architektursoziologie ihren Ausgang, indem sie es vom Fach- und Sachwissen des Herstellens von Artefakten unterscheidet. Meine These ist, dass das Wohnen jene Erfahrung bereitstellt, die um das »Nützliche« der Lebens-Mittel für einen selbst weiß. Auch Entwerfen und Bauen zielen auf das Wohnen als Lebensvollzug. Das Leben als Wohnen ist aber zu unterscheiden vom Bauen. Anders als im Wohnen kann sich das Bauen allein in seinen Hervorbringungen nicht erfüllen: das Leben ist Handlung, nicht Herstellung. Auch das Entwerfen des Architekten ist ausgerichtet auf das Ziel Wohnen als Lebensvollzug. Architektur ist ein Lebens-Mittel! ›Leben‹ bedeutet dann, dass der Mensch in der Welt seinen Aufenthalt nehmen
11 Hans-Georg Gadamer: Praktisches Wissen. Gesammelte Werke 5: Griechische Philosophie I, Tübingen: Mohr-Siebeck 1985, S. 233. 88
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muss, dass er »in Geschichten« und Situationen »verstrickt« ist, dass er sich stets neu in seine Umwelt einpassen muss. Das Ziel des Wohnens ist das Bleiben.12 Das Lebens-Mittel Architektur befriedigt Bedürfnisse, die mit dem In-der-Welt-Sein zusammenhängen. Wir müssen deshalb zunächst die Bedürftigkeit des Menschen feststellen, um von hier aus nach dem Bauen zu fragen. Das Ziel des Bauens ist nämlich nicht das Gebäude (es ist sein Produkt). Nur weil der Mensch wohnt, baut er. Er wohnt aber, weil er als Mensch sein Leben führen muss; und weil er es ›klug‹ führen soll. Aus diesen Gründen muss der Mensch auf den Gebrauchscharakter seiner Hervorbringungen Wert legen. Vom ›klugen‹ Gebrauchen spreche ich hinsichtlich der ›guten‹ Lebensführung, nicht aber im Vernutzen von Hergestelltem. Wenn also von Gebrauchen als eine Art des Handelns die Rede ist, dann bezieht sich dies auf den Menschen und seine leibliche Orientierung in der Welt im Kontext einer konkreten Lebenspraxis.
Antizipationen der Methodologie: Hermeneutische Soziologie des Wohnens Welche weiteren Vorgriffe ergeben sich für das Verständnis des Wohnens und Entwerfens, und welche methodologischen Antizipationen sind forschungsleitend? Diese habe ich ausführlich unter dem Titel »Beispielhermeneutik« abgehandelt13; vom Wohnen war aber kaum die Rede. Das Phänomen des Wohnens soll mit einer ›Theorie des Verstehens‹ erforscht werden, die die Aktivitäten des Menschen erfasst, indem sie das Bedürfnis kennt, auf das sich jene beziehen: Jeder Wohnentwurf antizipiert seine Erfüllung. Da ›Verstehen‹ ein menschliches Verhalten sui generis ist, welches das Verstehen von Sprache, aber auch von Handlungen umfasst, weiß der Hermeneutiker, dass jene Handlung (das Wohnen betreffend) ihren ›Zweck‹ erreichen kann oder zumindest einen Schritt in diese Richtung bedeutet. Das Verstehen von Handlungen Anderer ist eine mehr oder weniger beherrschte Fertigkeit im gemeinsamen Ziel, ›vernünftig‹ auf die Widerfahrnisse zu reagieren. Dabei lassen sich Täuschungen nicht ausschließen; auch führen viele »vernünftige« Handlungen zu Situationen, die weder vorausgesehen werden noch beabsichtigt sind. Ohne Nachvollzug komplexer Entwurfs-Erfüllungs-Kontexte (dass ein Wohnen mit zwei Kindern ›mehr Platz‹ ›benötigt‹ als zu zweit 12 Vgl. Martin Heidegger: »Bauen, Wohnen, Denken« (1954). Vorträge und Aufsätze. 6. Aufl., Pfullingen: Neske 1990, S. 145-162; Emmanuel Lévinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität (frz. 1961), Freiburg/München: Alber 1987. 13 Vgl. Anm. 1. 89
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und man deshalb umziehen ›sollte‹), lässt sich das Verstehen nicht durchführen. Zwar kann das Wohnen scheitern, aber diese Einsichten stehen immer schon vor dem Hintergrund, ›gut‹ respektive ›besser‹ wohnen zu wollen. Wir können uns also niemals gegen die Grundsituation des Wohnens entscheiden – als Existenzial liegt sie nicht zur Entscheidung an; vielmehr müssen wir unserem Leben eine konkrete Form geben. Im Blick darauf sprechen wir das Wohnen als menschliche Grundsituation an. Unser Bedürfnis, das je im Umfeld dieses unvermeidlichen Wohnens akut wird, richtet sich deshalb auf das je angemessene oder zu-uns-passende Wohnen. Auf die Frage: Wie können wir besser wohnen?, antwortet der Einzelne mit Wünschen und Entwürfen. ›Angemessener, besser, passender‹ zu wohnen, bezieht sich nicht auf die Stärke (das monetäre Potential) des Menschen, sein Wohnen quantitativ zu steigern. Man kann gar nicht in einem quantitativen Sinne ›besser‹ wohnen wollen. Wir sind nicht neutral gegenüber den Qualitäten unseres Wohnens, da sie dem Orientierungsraum, den Möglichkeiten und Chancen erst eine Form geben.14 Da es jedoch für den Menschen stets einen ›Sprung‹ bedeutet, Einsicht in die Bedingungen eines ›Bedürfnisses‹ zu bekommen, er zwischen Widerfahrnis, Motivation, Handlung und Erfüllung das distanzierende Beraten, Überlegen, Entschließen legt, richtet die Beispielhermeneutik ihre Aufmerksamkeit darauf, die Richtungen und Ziele (oder Prinzipien) des angestrebten Wohnens zu erkunden. Für solche methodisch nur zum Teil kontrollierbaren Erkundungen richtet die Beispielhermeneutik eine Gesprächssituation ein, wofür sie mit der »genialen Vergegenwärtigungsleistung der menschlichen Rede«15 rechnet. Im Ansprechen der Wohngeschichte und der gegenwärtigen Wohn-Lage rekonstruiert der Partner seine vollzogenen Handlungen (Orientierung, Absichten, Begründung und Folgen), ohne sie aktuell auszuführen. Vergegenwärtigen bedeutet, dass wir bestimmten »Handlungsschemata gewisse andere Handlungsschemata, nämlich sprachliche, als Zeichen zuordnen«.16 Im Erzählen der Wohnerfahrungen wird mit ›vernünftigen‹ Worten auf Widerfahrnisse und Handlungen ›gezeigt‹, die ihren Sitz in der Lebensform haben. Nur weil wir die sprachlich-grammatischen Möglichkeiten beherrschen und im Gebrauch der Sprache geübt sind, können wir das Frühere vom Späteren, das Gegenwärtige vom Zukünftigen, das Nahe vom Fernen unterscheiden, überhaupt die Umwelt sprachlich gliedern und ihr immer wieder neue Seiten der Aufmerksamkeit ab-
14 Vgl. A. Hahn/M. Steinbusch: Zwischen Möglichkeit und Grenze. 15 W. Kamlah: Philosophische Anthropologie, S. 68. 16 Ebd., S. 67. 90
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gewinnen. Vor allem zeigt erst der sprachliche Rekurs auf die ›ganze‹ Wohngeschichte, dass ein bestimmtes Verhalten ›intelligent‹ war und jener Entschluss anderen vermittelt werden kann.
Wohnen, Entwerfen, Bauen17 Um eine Unterscheidung Wilhelm Kamlahs aufzunehmen, können wir das architektonische Handeln (Entwerfen) vom Verhalten (Bewohnen, Bauen) so abgrenzen, dass »das Handeln sich stets mehr oder weniger aus dem Verhalten gleichsam herausprofiliert«.18 Das wohnende und bauende Verhalten des Menschen muss es schon als gesellschaftliche Praxis geben, damit daraus das architektonische Handeln als Aktivität sich herauskristallisieren und professionalisieren kann.19 Gegenüber dem Wohnen und dem vor- und außerarchitektonischen Bauen ist das Entwerfen, so wie es für die Architekturtheorie relevant geworden ist, die jüngere Tätigkeit: jenes hervorgehobene Verständnis von Entwerfen, für das sich die Architekturtheorie spätestens seit Vitruv interessiert und das als typisches Handeln des Architekten verstanden wird. Der ›Entwurf‹ konstituiert aber jede menschliche Praxis.20 Unser absichtsvolles Tun antizipiert seinen Erfolg. Entwurf und Intention sind begrenzt in ihren Möglichkeiten, da man nur das zu verwirklichen anstreben kann, was man überhaupt vorzunehmen imstande ist. Den zur Selbstbestimmung fähigen, weltoffenen Menschen hat Kant als Grundlage der menschlichen Vernunfterkenntnis fixiert: »die Vernunft (sieht) nur das ein, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt«.21 Auf das Praktische bezogen, schließt der Entwurf den Entwerfenden und sein Selbst- und Weltverständnis mit ein. Deshalb gehören Entwurf und Horizontbildung zusammen. Der Auffassungsrahmen, in welchem man sich im Entwerfen bewegt, ist sprachlich erschlossen.22 Man muss über Absichten des Entwurfs sprechen, schon im ›leisen Sprechen‹ des Denkens. Selten allerdings ist man sich der Herkunft und Geltung der Überzeu17 Dazu ausführlich Achim Hahn: Architekturtheorie. Wohnen, Entwerfen, Bauen, Wien: Huter & Roth 2008. 18 W. Kamlah: Philosophische Anthropologie, S. 49. 19 Zur Professionalisierung des architektonischen Handelns vgl. Oliver Schmidtke: Architektur als professionalisierte Praxis – Soziologische Fallrekonstruktion zur Professionalisierungsbedürftigkeit von Architektur, Frankfurt a.M.: Humanities online 2006. 20 Vgl. Burkhard Biella: Entwerfen im Entwurf, in: Wolkenkuckucksheim 4 (1999), H. 1. 21 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (zuerst 1871), B XIII. 22 Thomas Rentsch: Entwurf und Horizontbildung aus philosophischer Sicht, in: Ausdruck und Gebrauch 6 (I/2005), S. 73-84. 91
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gungen bewusst, die das Entwerfen führen, den Horizont der Lebensform füllen und ihn gegenüber anderen Überzeugungen abstützen. Die Weltperspektive ist selbstverständlich, fraglos. Jeder Entwurf macht ein Verstehen sichtbar, wie etwas aufgefasst wird. Das Verstehen ist immer situativ, es vollzieht sich im Entwerfen selbst: in der Situation des konkreten Entwerfens. Der architektonische Entwurf ist darüber hinaus ein Verstehen der Situation ›der anderen‹ und ›für andere‹. Er ist eine kreative Suchbewegung, die sich bewähren muss. Der Entwurf nimmt vorweg, was sich im konkreten Bewohnen erst bestätigen soll. Antizipationen des architektonischen Entwerfens können nicht einfach vollzogen werden, sondern müssen in ihrer besonderen Vor-Struktur bewusst gemacht werden, um Herkommen und Auswirkung der Entwurfsabsichten sowie ihre Konkretisierung kritisch zu prüfen. Der Erwerb fremder Wohngeschichten zeichnet das architektonische Können aus. Dies ist der Weg, wie der Architekt zu einem ›rechten Maß‹ kommen kann. Die Aufnahme des Wohnen-Wollens des Anderen wird zum Maßstab des Könnens des Architekten. Dazu bedarf es einer gemeinsamen Sprache. Wir können nämlich nicht davon ausgehen, »einer wüsste ohne weiteres, was ein anderer kann, ist er nur zugegen. Im Gegenteil, im Können, das zwei, die miteinander handeln, aktualisieren […] gibt es stets beides, ein Moment des miteinander Vertrautseins – wir machen ›dasselbe‹ – und ein Moment des einander Fremdseins – was wir machen, ist ›verschieden‹ –, und darüber bedarf es einer Verständigung«.23 Das Entwerfen besteht aus Konzept und Entwurf. Das Konzept gewinnt ein ›Bild‹ von der Aufgabe aufgrund der Einlassung auf fremde Wohngeschichten; der Entwurf verknüpft es zu einer ›räumlichen Figur‹, unter Rückgriff auf das Einbildungsvermögen des Architekten. Dies geschieht jedoch nur im Dialog mit dem Bauherrn. Grundlage dessen ist die Zugehörigkeit beider zur sprachlich erschlossenen gemeinsamen Welt, in der es Dinge wie Häuser, Wohnungen, Gärten, Entwürfe, Konzepte gibt, die jedoch aus verschiedenen Perspektiven und Erfahrungen angesprochen werden. Verbunden sind beide über gesellschaftliche Sozialisation sowie über die menschliche Grundsituationen des Entwerfens und Wohnens; getrennt durch die je individuellen Wohn- und Entwurfsgeschichten. Der Architekt begreift sich als handlungskompetent hinsichtlich des architektonischen Entwerfens, aber als Nichtkönner hinsichtlich des konkreten Wohnens, für welches er zu entwerfen hat. Der Bauherr weiß sich hinsichtlich des architektonischen 23 Kuno Lorenz: Einführung in die philosophische Anthropologie, Darmstadt: WBG 1990, S. 113. 92
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Entwerfens ohne Fertigkeiten, jedoch als Experte seiner Wohnerfahrungen. »Die Vollzüge beider werden einerseits als jeweils verschiedene (subjektive) Perspektiven eines gemeinsamen (objektiven) Stücks Welt, eines buchstäblich ›geteilten‹ Könnens, begriffen, andererseits aber in ihrer Verschiedenheit jeweils als ein Nichtkönnen dessen, was der andere kann, erlitten.«24 Zur Kompetenz des Architekten gehört es, das eigene Wissen und Nichtwissen und das Wissen und Nichtwissen des Anderen zu kontrollieren. Nur wer als Architekt ›selbst‹ erfahren hat, für welches Wohnen der Entwurf eine Lösung sein soll, kann seinen Entwurf verantworten.25 Wohnen und Entwerfen sind wie Frage und Antwort, die Antwort auf die Frage: Wie wohne ich, damit mein Wohnen gelingt? Das ›Wissen, wie‹ ist ein Kompetenzfeld des Architekten. Und verantwortliches Handeln, das sich dem Umgang mit dieser Frage bewusst stellt, ist eine genuine Aufgabe der praktischen Intelligenz.
Gebrauch, Geschmack und Gefallen Die Rigorosität, mit der sich Georg Simmel 1908 gegen das Ausrufen des Kunstgewerbestücks zur Kunst zur Wehr setzt, ähnelt derjenigen Feindschaft, die Adolf Loos dem modernen Ornament entgegen bringt. »Auf einem Kunstwerk zu sitzen, mit einem Kunstwerk zu hantieren, ein Kunstwerk für die Bedürfnisse der Praxis zu gebrauchen – das ist Menschenfresserei, die Entwürdigung des Herrn zum Sklaven.«26 Simmel ordnet die Gebrauchsdinge statt der Kunst dem Stil unter. Stil ist das Allgemeine, das der einzelne Gegenstand mit unzähligen anderen Gegenständen teilt.27 Kunst hat den Charakter des Individuellen; Praxisdinge den Charakter der »breiten Allgemeinheit«. Das Kunstwerk »schreit förmlich nach einem Rahmen«, der es von der Alltagswelt des Menschen distanziert. Deshalb erlauben wir uns im privaten Raum der Wohnung nur Möbelstücke, die auf den Ausdruck unmittelbaren Künst-
24 Ebd., S. 106. 25 Oliver Schmidtke spricht von einer »Autonomiekrise«, insofern das Wohnen aus Routine unterbrochen wurde. Der Architekt erscheint nun als der »professionalisierte Dienstleister«, der zur Krisenlösung herbeigerufen wird (»Die Praxis des Architekten als stellvertretende Krisenbewältigung«, in: Ausdruck und Gebrauch 7 (I/2007), S. 91-102. Ausführlich ders.: Architektur als professionalisierte Praxis). 26 Georg Simmel: »Das Problem des Stiles« (1908), in: GA 8: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908 II, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 374-384, 379. 27 Georg Simmel: »Der Bildrahmen. Ein ästhetischer Versuch« (1902), in: GA 7: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 101-108, 105. 93
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lertums verzichten. Simmel spricht vor allem das »Gefühl von Sicherheit und Aufgestörtheit« an, das wir mit dem Wohnen verbinden. Die »stilisierten Gebilde« appellieren an die »befriedeten Schichten« unseres Lebens jenseits der Öffentlichkeit und ihren Erregungspunkten. Individualität und Allgemeinheit sind die beiden Extreme, zwischen denen sich der moderne Mensch einzurichten hat. Simmel sieht in der Stilisierung »als Hintergrund und Basis des täglichen Lebens« den Ausgleich zur »absoluten Selbstverantwortlichkeit«28, die die moderne Gesellschaft dem Einzelnen abverlangt; und er gibt dabei einen Einblick in den Sinn des Wohnens: »In seinen Zimmern ist der Mensch die Hauptsache, sozusagen die Pointe, die, damit ein organisches und harmonisches Gesamtgefühl entstehe, auf breiteren, weniger individuellen, sich unterordnende Schichten ruhen und sich von ihnen abheben muß […] Das Prinzip der Ruhe, das die häusliche Umgebung des Menschen tragen muß, hat mit wunderbarer instinktiver Zweckmäßigkeit zu der Stilisierung dieser Umgebung geführt: von allen Gegenständen unseres Gebrauchs sind es wohl die Möbel, die am durchgehendsten das Cachet irgend eines ›Stiles‹ tragen.«29 Simmels Stilbegriff ähnelt dabei verblüffend dem von Loos und auch von Josef Frank, für den »das Wohnzimmer […] das Endziel der Architektur« ist.30 Simmel nennt an erster Stelle das »Prinzip der Ruhe«, das das wohnliche Haus auszeichnet. Entspannung begünstige die mit anderen Menschen geteilte häusliche Bequemlichkeit. Das einzelne Gebrauchsstück ist zu unterscheiden hinsichtlich seiner Stilisiertheit von der Wohnung respektive der Umgebung des Wohnens als Ganzes, in der es sich das Individuum behaglich macht: »Die Wohnung, wie sie der einzelne nach seinem Geschmack und seinen Bedürfnissen einrichtet, kann durchaus jene persönliche, unverwechselbare, aus der Besonderheit dieses Individuums quellende Färbung haben, wenn jeder konkrete Gegenstand in ihr dieselbe Individualität verriete.« In der Auflösung dieses Paradoxes macht Simmel deutlich, worin das Wohnliche besteht: »Angenommen, es gälte, so würde es zunächst erklären, weshalb Zimmer, die ganz streng in einem bestimmten historischen Stil gehalten sind, zum Bewohnen für uns etwas Unbehagliches, Fremdes, Kaltes haben – während solche, die aus einzelnen Stücken verschiedener, aber nicht weniger strenger Stile nach einem individuellen Geschmack, der freilich ein ganz fester und einheitlicher sein muß, komponiert sind,
28 G. Simmel: Das Problem, S. 380. 29 Ebd., S. 380f. 30 Josef Frank: »Akzidentismus« (1958), in: Mikael Bergquist/Olof Michélsen (Hg.), Josef Frank. Architektur, Basel: Birkhäuser 1995, S. 132-141, 135. 94
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im höchsten Maße wohnlich und warm wirken können.«31 Stilistisch einheitlich eingerichtete Räume schlössen »das darin wohnende Individuum sozusagen von sich (aus)«. Es ist der Wohnende, dem es andererseits durch das Glück des Stils gelingt, aus einzelnen Möbelstücken eine Gesamtform zu schaffen, die zum Gegenüber dieser »besonders gestimmten Persönlichkeit« wird. Die Wohn-Dinge offenbaren ein ihnen »anfühlbares Erlebtsein«.32 Mit der Wohnung tut sich der Mensch (das »Ich«) »ein stilisiertes Gewand um«.33 Simmel verstand es, das Individuum vor den Aufdringlichkeiten einer ›modernen‹ Kultur zu schützen und wo dies nicht gelang, wenigstens Verständnis für seine Befindlichkeit (etwa die »Blasiertheit« des Großstädters) aufzubringen. Sein Zeitgenosse Adolf Loos arbeitete ähnlich, wenn der die Ambitionen der avantgardistischen Moderne, wo nötig, schroff zurückwies: »Das Haus hat allen zu gefallen. Zum Unterschied zum Kunstwerk, das niemandem zu gefallen hat. Das Kunstwerk ist eine Privatangelegenheit des Künstlers. Das Haus ist es nicht. Das Kunstwerk wird in die Welt gesetzt, ohne daß ein Bedürfnis dafür vorhanden wäre. Das Haus deckt ein Bedürfnis. Das Kunstwerk ist niemandem verantwortlich, das Haus einem jeden. Das Kunstwerk will die Menschen aus ihrer Bequemlichkeit reißen. Das Haus hat der Bequemlichkeit zu dienen. Das Kunstwerk ist revolutionär, das Haus konservativ. Das Kunstwerk weist der Menschheit neue Wege und denkt an die Zukunft. Das Haus denkt an die Gegenwart. Wir lieben alles, was unserer Bequemlichkeit dient. Wir hassen alles, was uns aus unserer gewonnenen und gesicherten Position reißen will und uns belästigt. Und so lieben wir das Haus und hassen die Kunst«.34 Unmissverständlich macht Loos aufmerksam auf die Einbettung des Wohnens in übergreifende Stile des Lebens. Das Haus soll den Menschen gefallen! Vielleicht kann es sie auch beglücken. Martin Seel behandelt das »Gefallen« als eine Weise der ethisch-ästhetischen Geltung und betont den intersubjektiven Wert der Gegenstände, die einem ethisch-ästhetischen Geschmacksurteil unterzogen werden. Dafür in Frage kommt auch die »Schönheit einer Wohnung«: »Ein guter Geschmack ist stets das Gefallen am Guten des Geschmacks«.35 Bei Loos etwa steht der Ausdruck »Gefallen« ganz im 31 32 33 34
G. Simmel: Das Problem, S. 381; kursiv durch mich. Ebd., S. 382. Ebd. Adolf Loos: »Architektur« (1910), in: Adolf Opel (Hg.), Adolf Loos. Über Architektur. Ausgewählte Schriften. Die Originaltexte, Wien: Gva Vertriebsgemeinschaft Prachner 1995, S. 84. 35 Martin Seel: »Kunst, Wahrheit, Welterschließung«, in: Franz Koppe (Hg.), Perspektiven der Kunstphilosophie. Texte und Diskussionen. 2. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 36-80, 42. 95
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Dienst bewährter Stile des Lebens. Der Kontext, in den er das Haus stellt, ist ein lebensweltlicher; der Hinweis auf »Bequemlichkeit« und »gesicherte Position» eine Anspielung auf pragmatische Ziele des Wohnens. Wenn Loos von »gefallen« spricht, dann fällt er ein ethischästhetisches Urteil und orientiert sich dabei an einer Norm, die der Zustimmung einer Gemeinschaft sicher ist, für die jedes Einzelteil zum bestehenden Ganzen zu passen hat. ›Schön‹ ist etwas in Hinsicht auf seine Angemessenheit zum Gesamten.36 In welchem Sinne lässt sich von Dingen der täglichen Nutzung hinsichtlich ihrer Schönheit sprechen? Offensichtlich liegt die Schönheit eines Gegenstands wie etwa eines Krugs darin, dass er seinen Dienst am Menschen verrichtet. Die Schönheit erfüllt sich im Vorgriff auf die Befriedigung eines Bedürfnisses, die man dem Gegenstand ansieht, wie auch in der sicheren Ausführung des Dienstes, gleichsam ›Hand in Hand‹ mit dem, um dessen Bedürftigkeit es hier geht. Das Gefallen teilt sich als Vergnügen an den Formen mit, die nicht der Ökonomie der Funktion gehorchen. Das Gelingen zeigt sich hier in der ästhetischen Perspektive des Vergnügens und Wohlgefallens. »Der handwerkliche Gegenstand befriedigt ein Bedürfnis, das nicht minder gebieterisch ist als Durst und Hunger: das Bedürfnis, uns der Dinge, die wir sehen und berühren, zu erfreuen, zu welchem täglichen Gebrauch sie immer bestimmt sein mögen«.37 Das Haus deckt das Bedürfnis des Wohnens ab. Es ist deshalb ›mit Geschmack‹ zu entwerfen. ›Geschmack‹ ist als Sinn ein sicheres Empfinden für die Wirkung von etwas. »Während in dem, woran einer Geschmack hat, sich Persönliches reflektiert, wird als schön etwas erkannt und entdeckt. Etwas ›ist‹ schön – nämlich ein Park oder eine Gegend, aber auch ein Weg, ein Tier, ein Bild, eine Frau und so weiter. Und auch in dem ›hier ist es schön‹ ist in der Situation des – irgendwo – Hierseins angegeben, worin das Schönsein zu finden ist«.38 Geschmack setzt die Interessiertheit im Sinn des lebendigen Verhältnisses voraus, in dem man etwa zu einem Haus, einem Wohnquartier, einem Park stehen muss, um »wohnend« ihre Schönheit entdecken zu können. Fehlt die Freiheit, 36 »Die griechische Ethik – die Maßethik der Pythagoreer und Platos, die Ethik der Mesotes [Mitte], die Aristoteles geschaffen hat – ist in einem tiefen und umfassenden Sinne eine Ethik des guten Geschmacks«. HansGeorg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (1960), GW 1: Hermeneutik I, 5. Aufl. Tübingen: Mohr-Siebeck 1986, S. 45. 37 Octavio Paz: »Schönheit und Nützlichkeit« (1973), in: Ders.: Essays 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, S. 382-401. 38 Hans Lipps: Die menschliche Natur (1941). Werke III, Frankfurt a.M.: Klostermann 1977, S. 184. 96
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etwas auf sich wirken zu lassen, so wird man an dieser Schönheit vorübergehen.39 »Geschmack« ist derart eine Erkenntnisweise, das Unterscheidungsvermögen, »nicht nur dieses oder jenes als schön zu erkennen, das schön ist, sondern auf ein Ganzes hinzusehen, zu dem alles, was schön ist, zu passen hat«.40 Lebensformen sind kein Selbstzweck, sondern das Ganze gewachsener soziokultureller Überzeugungen, wie sich zum Beispiel ein Haus ›gut‹ bewohnen oder es in einem Wohnquartier ›gut‹ leben lässt. Jenseits einer autonomen Kunst gibt es ästhetische Ansprüche in ›gelebten Stilen‹, die eine zeitgemäße Architektur und ein zeitgemäßer Städtebau befriedigen können sollte. Die konkrete Form der Gebrauchsgegenstände entspricht präzise einem gesellschaftlichen Lebensstil. Oder anders gesagt: wir können etwas nur in Gebrauch nehmen, wenn wir verstehen, wozu es gut ist. Allein darauf kommt es an. »Ich behaupte, daß der Gebrauch die Form der Kultur ist, die Form, welche die Gegenstände macht […] Wir sitzen nicht auf diese oder jene Weise, weil ein Tischler einen Stuhl auf diese oder jene Weise gemacht hat, eher macht ein Tischler einen Stuhl, wie er ihn macht, weil jemand auf diese Weise sitzen möchte.«41 Die Kritik an formalistischen Standardisierungen ist derart auch eine Kritik am Vergessen lebensweltlicher Gepflogenheiten. Wenn Fragen des architektonischen Stils mehr gelten als Fragen des Gebrauchs, bedeutet dies ein Ignorieren des ›Werkzeugcharakters‹ des Hauses. Dabei kann die Beobachtung des Bewohnens Aufschluss geben, dass gewisse Zeichen, deren Anbringung manchem Architekten so wichtig ist, im Wohnen keine Bedeutung haben.
3 E i n W o h n g e b i e t i s t i n s Al t e r g e k o m m e n – Zur Situation des Wohnens in der Dresdner S e e vo r s t a d t - W e s t Die Seevorstadt-West ist ein innenstädtisches Dresdner Wohngebiet, das in den späten 1950er und in den 1960er Jahren in Zeilenbauweise errichtet wurde und seit den 1990er Jahren unter Druck geraten ist, da es eine ›zu geringe‹ Wohndichte aufweist. Zum Horizont dieser Wohnlandschaft gehört für ihre Bewohner ganz selbstverständlich der Dresdner Zwinger ebenso wie die Elbe. Die folgende explorative Quartiersforschung basiert auf dem, was als soziologische Beispielhermeneutik oben skizziert ist. Egal wo wir 39 Ebd., S. 185. 40 H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 43. 41 Adolf Loos zitiert in: Allan Janik/Stephen Toulmin: Wittgensteins Wien, Wien: Döcker 1998, S. 117. 97
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wohnen, ob in der Stadt, im städtischen Umland oder im peripheren ländlichen Raum, immer geht es uns darum, unser Leben so zu führen, dass wir mit seinen Folgen zufrieden sein können. Unter dem aktuellen Blick von Städtebauern, Landschaftsarchitekten und Planern fokussiert sich ›architektonischer Raum‹ auf Gestaltungsdefizite. Damit ist der Raum aber lediglich hinsichtlich ›raumästhetischer‹ Defizite beurteilt. Die Eingriffe des Architekten dienen der Ordnung des scheinbar Ungeordneten; der ›Lesbarkeit‹ der Städte und Landschaften.
Abb. 1: Blick von Norden auf die zentrale Prager Straße in Dresden; am rechten Bildrand das Wohngebiet Seevorstadt. Neben dieser Perspektive mag man aber auch die Sicht anerkennen, der ein lebensweltlicher Standpunkt korrespondiert. Wenn behauptet wird, ein Raum berühre ›lebensweltlich‹, so ist damit der bewohnte Raum (die ›Heimat‹) gemeint. Menschen halten sich in ihm auf und ›entwerfen‹ hier ihr Leben (mehr oder weniger) zielsicher. Diese Aufmerksamkeit für den ›gelebten‹ Raum, insofern er soziale Lebensformen qualifiziert, entspricht der Sicht des Wohnens und letztlich der Lebensführung. Qualitäten des Wohnens und ästhetische Gestalt der Wohnumwelt: beides sind Antworten auf unsere Erwartungen von einer zu uns passenden Welt. Die explorative Quartiersforschung überführt die Einsicht, dass die Vorstellung vom dreidimensionalen Raum und ihre technische Umsetzung nicht in der Lage sind, die Räumlichkeit des menschlichen Verhaltens zu verstehen, in eine Methode. Anders ausgedrückt: Die explora98
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tive Quartiersforschung sorgt dafür, ›literarische‹ Beschreibungen von Raumerfahrungen in ihrer Komplexität zu transportieren. Abschließend wird gezeigt, wie sich in lebensgeschichtlichen Beschreibungen ein Verständnis von den Qualitäten bewohnter Stadtgebiete bildet; als eine Aufgabe der Architektur-Soziologie im hier verstandenen Sinn.42 Die explorative Quartiersforschung ist hervorgegangen aus Diskussionen um die qualitative Sozialforschung, die seit Jahrzehnten in den Geistes- und Sozialwissenschaften angewandt wird. Diese Sozialforschung sucht die Einzelnen in ihrem sozialen Milieu auf und begreift ihre Alltagserfahrungen als einen kulturellen Ausdruck der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Da ein soziales Milieu auch als Wohn- oder Aufenthaltsort von Menschen betrachtet werden kann, liegt es auf der Hand, das jeweilige Wohnquartier als Ort spezifischer raumbezogener Lebenserfahrungen zu verstehen. So kann der Wohnort als besondere soziale Umwelt von Menschen begriffen werden, insofern niemand nicht ›gut‹ wohnen will. Die explorative Quartiersforschung geht davon aus, dass der Wohnort seinen Bewohnern etwas bedeutet, nämlich was er ›wert‹ ist hinsichtlich des Bleibens oder Wegziehens. Diese wesentliche Bestimmung und Ausdifferenzierung des menschlichen Wohnens, die sich erst in einer Auseinandersetzung des Wohnenden mit seinem Ort als Wohnerfahrung bildet, liegt jedoch nicht einfach als jederzeit abrufbares Datum vor. Sie muss vielmehr von Fall zu Fall ›entdeckt‹ werden. Der Ansatz der qualitativen Stadt- und Quartiersforschung entdeckt im kommunikativen Umgang mit den Bewohnern und fasst zusammen, was es den Bewohnern bedeutet, im Quartier zu wohnen. Das spezifische Wissen, zu dem die Forschung kommt und der Planung weitergibt, betrifft auf einem direkten Wege das Erfahrungswissen von Wohnenden. Darin muss vor allem die Stärke dieser Methode gesehen werden, dass sie die Stadtplanung in die Lage versetzt, Entscheidungen auch unter Einschluss eines gleichsam internen Bildes von der Bedeutung fürs Wohnen eines städtischen Raums vorzubereiten und zu fällen. Die explorative Quartiersforschung führt der Planung ein spezifisches Wissen und damit Argumente zu, zum Beispiel, warum die Menschen lieber ›hier‹ bleiben, als an die Peripherie Dresdens zu wandern. Die explorative Untersuchung agiert im Daten sammelnden und bewertenden Vorfeld der städtebaulichen Quartiersplanung. Ihr Ziel besteht in der Entdeckung qualitativer Quartiers-›Daten‹ auf der Grundlage nicht-teilnehmender
42 Vgl. dazu Achim Hahn: Zur Praxis der explorativen Quartiersforschung. Schriftenreihe Architekturtheorie und empirische Wohnforschung, hg. von A. Hahn, Bd. 2, Aachen: Shaker 2007. 99
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Beobachtungen und wohnbiographischer Gespräche und deren Auswertung. Im Einzelnen liefert die explorative Untersuchung: – instruktive Interpretationen für an Wohnwelten angepasste städtebauliche und funktionale Verbesserungen und Ergänzungen (a), – lebensweltlich gestützte soziale Grundlagen, Potentiale und Grenzen für einen »Aufwertungs«-Prozess des Stadtraums »aus dem Gebiet heraus« (b), – aus Wohnerfahrungen gewonnene Anhaltspunkte, wie das Quartier durch eine Qualifizierung des Wohnumfeldes und Diversifizierung der Bewohnerschaft sozial stabilisiert werden könnte, und schließlich Konsequenzen aus diesem Wissen, wie im Gebiet attraktive Angebote für neue Bewohner geschaffen werden können, um so die Ausstrahlung des Viertels auf die Gesamtstadt zu erhöhen (c). a) In der Regel geht die Stadt- und Quartiersforschung von statistischen Daten aus. Da diese auf meist mit der sozialen Realität nicht übereinstimmenden Kategorien und quantitativ ausgedrückten MenschRaum-Beziehungen beruhen, lässt sich so kein handgreifliches Bild von einer Wohnlage machen. Dringender benötigt eine nachhaltige Stadtplanung »dichte Beschreibungen«, die die Einschätzung und Bewertung eines Quartiers durch die dort Lebenden zulässt. Solche Informationen können mit einem explorativen Untersuchungsansatz gewonnen werden. b) Die Wirklichkeit eines Wohngebiets ist die Wirklichkeit der ›inneren‹ Bilder der dort Lebenden. Deshalb lässt sich der milieugemäße Charakter eines Gebiets (was es heißt, hier zu wohnen) in solchen Bildern und den dazugehörenden Geschichten fassen. Jeglicher städtebauliche Bewertungsansatz muss jene ›Bilder‹ und ›Geschichten‹, in denen die Bewohner sich und ihr Quartier erleben, verstehen und ausdrücken, zum Ausgang nehmen. c) Ein Quartier sollte insofern ›entwickelt‹ werden, als seine Qualitäten erkannt und verstanden sind. Will man einen Wegzug vermeiden, Zuzüge jedoch unterstützen, dann geht dies durch eine angepasste Planung, die das Lebenswerte und Wohnliche vor Ort deutlich macht, hinsichtlich der eigenen Zwecke und Ziele interpretiert und unterstützend aufwertet. Der die explorative Untersuchung tragende zentrale Gedanke fasst den Quartiersraum als Einheit von Mensch und Umwelt. Menschen müssen ihr Leben führen, und dies können sie nur ›im Raum‹. Die Bedeutung 100
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eines räumlichen Gebiets, zum Beispiel seine Qualität als Wohnstandort, besteht ganz wesentlich im Gebrauch, den Menschen von ihm machen. Das Verhalten der Bewohner (bleiben und zufrieden sein oder abwandern) versteht der geschulte Beobachter deshalb als eine Antwort auf den Wunsch und das Bedürfnis der Menschen nach einem ›guten‹ Wohngebiet. Qualitäten und Potentiale eines Gebiets liegen in den Möglichkeiten und Gelegenheiten, die Menschen sich vor Ort nehmen, und den Erfahrungen, die sie damit gemacht haben. Was das Gebiet mit seinen Teilräumen überhaupt ›ist‹, erschließt sich erst im interpretativen Nachvollzug der gemachten Umwelt- und Wohnerfahrungen, das heißt in der Entdeckung und wissenschaftlichen Auslegung der ›gelebten Bilder‹ vom Quartier. Der für die Qualifizierung eines stadtplanerischen Handelns gewählte Ansatz liefert einen schon gedeuteten ›Ist-Zustand‹ als eine phänomenologische Beschreibung der umweltlichen Verhältnisse im Quartier. Der in einer qualitativen Untersuchung ›entdeckte‹ Umgang der Bewohner mit dem Gebiet als ihrer Lebens-Umwelt gibt Aufschlüsse über seine Raumqualitäten, auf die mit vorausschauender, entwerfender, ›vorsorgender‹ und ›fürsorglicher‹ Planung geantwortet werden sollte. Welche Angelegenheiten der Lebensführung verknüpfen sich mit dem Gebiet? Dabei hat der explorative Ansatz das Potential, die Dynamik des Quartiers als sich bildender und umbildender Lebensort herauszuarbeiten sowie kreative Möglichkeiten, mittelfristige Entwicklungsgrenzen und potentielle Ausstrahlungen auf die Gesamtstadt zu befördern. Immer wird es um eine Einschätzung und einen Eingriff hinsichtlich eines (aus der Perspektive der Betroffenen selbst) gewünschten oder eher unerwünschten Wandels gehen. Was eine explorative Untersuchung des Wohnens in einem Quartier allein kann, ist, das Wohnen dort zu verdeutlichen. Das mag wenig erscheinen – es ist aber viel vor dem Hintergrund sich widersprechender Bewertungen und Strategieaussagen der planenden Stadt und der Fachleute von außerhalb. Allein diese Verdeutlichung vermag die ›Ernsthaftigkeit‹ des Wohnens in diesem Quartier zu vermitteln. Damit ist städtebaulich noch nichts entschieden, aber eine Menge vorgegeben: schließlich bringt die Untersuchung zutage, dass das Wohnen in der Seevorstadt-West durchweg von einer großen Zufriedenheit geprägt ist, und das ist keine Selbstverständlichkeit. Selbstverständlich ist, dass die Menschen zunächst einmal bleiben wollen. Dass sie dieses Bleiben mit Gründen zu untermauern wissen, die auf erlebte und gefühlte Raumqualitäten verweisen, muss aufhorchen lassen. Die explorative Quartiersforschung arbeitet mit ›Daten‹ über einen begrenzten räumlichen Ausschnitt, die sie selbst erst gewissermaßen ›herstellen‹ muss. Das Alltagswissen, über dass jeder Stadtbewohner hinsichtlich seines Wohnorts verfügt, lässt sich nicht sta101
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tistisch erheben, da es weder auf standardisierte Fragen antwortet noch quantifizierbar ist, aber sich in einem wohnbiografischen Gespräch hervorbringen lässt.
Abb. 2: Blick von Süden auf die Stadtmitte Dresdens mit Prager Straße, Altmarkt und Neumarkt; die Seevorstadt links am Bildrand. Welches ›Bild‹ von ihrer Wohnumwelt leitet die Bewohner der Seevorstadt-West, wenn sie sich in ihrem und zu ihrem Quartier verhalten? Der Ansatz der qualitativen Sozialforschung erkundet und fasst zusammen, was es den Bewohnern bedeutet, in diesem Quartier zu wohnen. Des näheren können Aussagen getroffen werden, die die Wohn- und Aufenthaltsqualitäten eines städtischen Raumes beschreiben, so wie diese sich ihren Bewohnern darstellen und anderen vermittelt werden. Qualitäten in diesem umfassenden Sinne zu erforschen, bedeutet, den Fragen nachzugehen, wodurch (Wohn-Verhalten) und worin (architektonisch-städtebauliche Elemente) sich die Wohnerfahrungen der Menschen in einem Wohngebiet als ästhetische (sinnliche) Erfahrungen kundtun. Die Bearbeitung dieser Fragestellung mag der Planung die Augen öffnen für die Gründe, warum die Menschen ›hier hin‹ gezogen sind, um es nun ›besser‹ zu haben. Sie wird auch Argumente dafür beibringen können, welcher städtebauliche Wandel und welche planerischen Maßnahmen die Menschen dazu bringen könnten, das Gebiet zu verlassen. Schon im Lebens- und Wohngefühl der Menschen erscheinen dann Szenerien im Sinne von Zukunftserwartungen, denen man eher positiv und 102
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zuversichtlich oder negativ und abwehrend gegenüber steht. An solchen Szenarien muss die Stadtplanung die eigenen, professionellen, überprüfen und ausrichten. Im Verlauf der Forschung wurden elf Gespräche mit Bewohnern und fünf Gespräche mit sogenannten ›Lebensweltexperten‹ geführt. Die Gesprächspartner wurden während der ›Spaziergänge‹ durch das Gebiet gewonnen. Man sprach vor Ort Menschen an, erkundigte sich über deren Wohnort und trug das Interviewvorhaben vor. Da für uns einzig wichtig und entscheidend war, dass die Menschen tatsächlich Wohnerfahrungen in der Seevorstadt-West gemacht hatten, kann man nicht behaupten, der eine Bewohner habe ›mehr Erfahrungswissen‹ über das Gebiet als ein anderer. Ein junger Mensch hat eine andere Perspektive auf sein Wohngebiet als ein älterer Bewohner. Da wir uns darum bemüht haben, verschiedene Altersgruppen anzusprechen, war die Wohndauer des Gesprächspartners kein Auswahlkriterium. Die ›nachhaltigsten Erfahrungen‹ macht man als Kind und Jugendlicher. In erster Linie ist daher das persönliche Wohn-Erfahrungswissen, das aus dem tatsächlichen Umgang mit der Gebietswirklichkeit hervortritt, relevant. Der speziell für die besondere lokale Situation entwickelte Gesprächsleitfaden dient der vorläufigen Strukturierung der Interviews mit den Bewohnern. Darin drückt sich einmal der Vorblick auf ein Themenspektrum aus, das in einem Gespräch hinsichtlich von Wohnerfahrungen erwartet werden kann. Im Gegensatz zum Fragebogen sorgt der Leitfaden für eine offene Gesprächssituation, die von entscheidender Bedeutung ist, da nur so der Forscher auf überraschende und besondere Inhalte stoßen kann. Hier liegt eine weitere methodische Stärke der explorativen Forschung. Der für die Seevorstadt-West eingesetzte Leitfaden berücksichtigt sowohl die stadtplanerischen Vorgaben und genuinen Interessensgebiete öffentlicher Daseinsvorsorge, als auch die im Umfeld der Begehungen aufgenommenen Eindrücke und Forschungserfahrungen, die wir bei anderen Interviewsituationen mit wohnbiografischen Inhalten gemacht haben. Der Leitfaden bringt keine Fragen ein, sondern gibt Themenbereiche vor, entlang derer ein Gespräch geführt werden kann. Dabei ist es nicht entscheidend, in welcher Folge diese behandelt werden. Wichtiger ist, dass sich eine Kontinuität im Erzählen ergibt, so dass der Bewohner sich immer mehr und tiefer in seine Wohngeschichte ›verstrickt‹. Deshalb bewegten sich die Gespräche in einem Rahmen aus Rückblick und Vorblick, in dem sich das aktuelle Verständnis des Bewohnens entfalten kann. Erst diese Verstrickungen in den Erlebnisraum Wohn-Quartier lassen ›wahrhaftige‹ Beschreibungen des Lebens vor Ort erwarten. Das Einlassen auf die eigene Welt des Bewohnens bringt die thematischen 103
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Präzisierungen hervor, auf die die explorative Methode angewiesen ist. Die offene Struktur der Gesprächssituation führt es dann mit sich, dass abweichend vom Leitfaden ›unerwartete‹ Thematisierungen auftauchen und im Gespräch verfolgt werden.
Ergebnisse Die Untersuchung ist zu folgenden Ergebnissen gekommen: Die Seevorstadt-West wird heute als eine ›citynahe Wohninsel‹ bewohnt, die einer neuen Phase ihres Bewohntwerdens entgegensieht. Aktuell stellt sich die Seevorstadt-West in der Wahrnehmung ihrer Bewohner als ungleichzeitig überkommen dar, insofern Bereiche der Baustruktur und der Wohnumgebung zwar noch von der alteingesessenen, durch staatliche Wohnungsvergabe verteilten Bewohnerschaft angenommen werden, aber neue Mietergenerationen deutlich andere Ansprüche an ein zentrumsnahes Wohnen im Grünen (mit Kindern) anmelden. Gerade auch aufgrund dieser Nachfrage hat die Seevorstadt-West alles Potential, ihre Geschichte als besonderes und für Dresden einzigartiges Familienwohngebiet kontinuierlich in die Zukunft zu transformieren. Insgesamt kann für die Seevorstadt-West eine längere Übergangszeit prognostiziert werden, in der es darauf ankommen wird, das, was sich bewährt hat und auch die jüngeren Menschen zum Kommen und Bleiben veranlasst, zu erhalten. Die neuen Generationen, die derzeit auf dem städtischen Wohnungsmarkt agieren, formulieren recht differenzierte Wohnansprüche, denen das Quartier nur zum Teil entsprechen kann. Deshalb muss es als ein stadtplanerisches Ziel angesehen werden, die Seevorstadt-West den verfeinerten modernen Wohnansprüchen nachwachsender Familien- und Mietertypen behutsam anzupassen und diese Erfordernisse städtebaulich größtmöglich ›pluralistisch‹ umzusetzen. Dabei darf das Gebiet nicht seine Identität als innenstädtischer Familienwohnort mit überraschend ruhiger und grüner Atmosphäre in Frage stellen. Gerade als ›citynahe Wohninsel‹ besitzt es ein unverwechselbares, für die Stadt Dresden einmaliges Kapital, mit dem sie auch in Zukunft Bewohnergenerationen wird an sich binden können, deren Wohnverhalten möglicherweise ansonsten in der Stadt keine Entsprechung findet. Der unglaubliche Nähevorteil zu Kultur, Kommerz und Elbe wird unterstützt durch moderate Mietpreise. Beide Standortauszeichnungen sind das wesentliche Qualitätspotential der Seevorstadt-West, das für bestimmte Bewohnergruppen die Alternative zum »zwischenstädtischen« Wohnen an der ›motorisierten‹ Peripherie sowie zum Single-Wohnen in der lauten und überlaufenen oder touristischen Stadtmitte darstellt. Aufgrund dieser Einschätzung wird eine differenzierte Strategie des kontrollierten Wandels der 104
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Gebietsidentität durch die Schaffung von funktionalen Unterquartieren mit jeweils eigenen und prägnanten Wohn-Schwerpunkten vorgeschlagen, dort, wo sie sich anbieten. Diese Innendifferenzierung innerhalb des bleibenden Oberthemas »citynahe Wohninsel« erfolgt durch das »Wohnen mit Wahrzeichenblick« für wohlhabende Alte in Kombination mit einem altengerechten Umbau, das »gehegte Wohnen im kinderfreundlichen Hof« für junge Familien, das »Single-Wohnen in markant addierter Architektur« für Einzelpersonen und schließlich das ausstattungstechnisch verbesserte »bewährte Wohnen im alteingesessenen Milieu« für die erste Bewohnergeneration.
Fazit An diesem eher städtebaulichen Beispiel der Architektursoziologie als empirische Erfahrungswissenschaft sollte deutlich geworden sein, dass die soziologische Beispielhermeneutik sich dem interpersonell verfassten, existenziellen oder primären Orientierungsraum des Lebens nähert. Bilder und Themen eines gesellschaftlich-politisch unternommenen Gestaltwandels, so wurde argumentiert, haben sich an einer lebensweltlich vertrauten Gestalt zu orientieren, deren mögliche »bessere« Zukunft sie zum Ausdruck bringen sollen. Solche Grundgestalten, die die hermeneutisch-empirische Architektursoziologie in ihrer sozial-kommunikativen Bedeutsamkeit erschließt und an der sich eine verantwortbare Planung auszurichten hat, liegen im Bewohnen unserer Wohnungen, Häuser, Städte und Landschaften vor. Sie müssen nur geborgen werden. Wenn dies gelingt, dann bekommen wir einen Blick auf unsere Gesellschaft, der erfasst, wie die Menschen in ihrem Selbstverhältnis »in« der Gesellschaft sind; was sie erhoffen und befürchten. Dieser Blick führt darüber hinaus zu Einsichten, dass und wie unsere Lebenswelt als existenzieller Orientierungsraum des Wohnens, Entwerfens und Bauens einschließlich seiner Artefakte unser soziologisches Interesse verdient.
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B i l d n a c hw e i s e Abb. 1 und 2: Postkarten, Dresden 1995.
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Gebaute Raums ymbolik. Die › Architektur der Gesellschaft‹ aus Sicht der Institutionenanal yse MARKUS DAUSS/KARL-SIEGBERT REHBERG
I (Karl-Siegbert Rehberg)
Wenn der Beitrag der Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen (TAIM) dem Verständnis von Architektur dienen soll, muss deren Blickrichtung skizzenhaft erläutert werden. Es geht ganz generell um die – grundsätzlich stets als unwahrscheinlich anzunehmende – Stabilisierung sozialer Beziehungen, vor allem auf der Basis einer Sichtbarmachung und Selbstsymbolisierung bestimmter Ordnungsprinzipien. Somit werden Institutionen nicht als Organisationen (obwohl auch diese einer institutionellen Stabilisierung bedürfen), sondern als symbolische Ordnungen verstanden.1 Seit dem französischen Rechtswissenschaftler Maurice Hauriou (in Deutschland wurde er über Carl Schmitt und Arnold Gehlen vermittelt) sind Institutionen oft verstanden worden als die Realisierung spezifischer idées directrices (Leitideen).2 Es drückte sich in diesem Gedanken originär dasselbe gesellschaftliche Problem aus, das auch Émile Durkheim bewegte, dass nämlich gesellschaftliche Stabili1
2
Karl-Siegbert Rehberg: »Institutionen als symbolische Ordnung: Leitfragen und Grundkategorien zur Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen«, in: Gerhard Göhler (Hg.), Die Eigenart der Institutionen, BadenBaden: Nomos 1994, S. 47-84. Maurice Hauriou: Die Theorie der Institutionen und zwei andere Aufsätze (frz. zuerst 1925), hg. von Roman Schnur, Berlin: D & H 1965. 109
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tätszustände einer ideativen und moralischen Integration bedürften. Mit der Übernahme dieses Konzeptes in eine kritische institutionelle Analyse ist nun nicht die ontologische Behauptung verbunden, jede Institution realisiere eine bestimmte Leitidee (und nur diese). Vielmehr sind menschliche Ordnungen gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie aus konfligierenden Interessen und Deutungen komponiert sind, die sich auf zentrale Zielsetzungen und normative Ideengehalte beziehen. Insofern sind Leitideen immer umkämpft. Oft genug gibt es eine Vielzahl von ihnen, die nur schwer zu harmonisieren sind, wenn die einzelnen Konzepte einander durchaus auch ergänzen können. So gibt es in den Universitäten seit je – heute mit erneuter Intensität – den Kampf zwischen Bildungsidealen und Ausbildungsbedürfnissen, zwischen Eliteförderung und Massenbildung, zwischen Lehre und Forschung, zwischen institutionellen Imperativen und organisatorischer Effizienz. Man sieht, dass in den diskursiven Auseinandersetzungen um die Bestimmung einer Institution eine Pluralität von Leitideen existieren kann, welche – je nach Situation und Interessenlage – unterschiedlich ausgewählt oder ausgeblendet werden. Dieser Vorgang bedarf dann wiederum selbst der bildhaften Verstärkung, der optischen und rhetorischen Plausibilisierung. Institutionen haben, wenn sie Geltungsansprüche zur Darstellung bringen, per se einen Öffentlichkeitsbezug. Genauer gesagt: Jeder Institutionalisierungsprozess vollzieht sich im Spannungsverhältnis zu einem ›öffentlichen Raum‹. Das meint nicht eine stets vorhandene ›Offenheit‹ oder gar allgemeine Zugänglichkeit. Vielmehr sind es gerade Ausgrenzungsleistungen, die institutionell erzeugt werden, zumindest Abgrenzungen: Leitideen sind eben nur formulierbar als Leitdifferenzen.3 Auch in der Abschirmung von Innenräumen, nicht weniger in der Absicherung der Aktionsbereiche herausgehobener Akteure (beispielsweise von Verfügungseliten oder sonstwie Privilegierten) besteht ein Bezug zur Darstellbarkeit. Sogar das Geheime und Exklusive existiert nur, wenn seine Grenzzonen einer breiteren Öffentlichkeit gegenüber markiert werden.4 Gerade daraus wird ein Geltungsüberschuss gezogen – vom abgeschlossenen Konklave über die Beratungen der Gerichte bis zu allen exklusiven Gesprächen oder abgeschirmten Verhandlungen. Die besondere symbolische Aufladung institutioneller Ordnungen bedeutet keineswegs, dass Institutionen ›nur‹ symbolhaft und zeichenhaft, also nicht in realen Strukturen verankert seien, wohl aber, dass die verkörpernde Selbstdarstellung einer Ordnung (einschließlich der me3 4
Das hat besonders Michel Foucault prägnant herausgearbeitet. Herfried Münkler: »Die Visibilität der Macht und die Strategien der Machtvisualisierung«, in: Gerhard Göhler (Hg.), Macht der Öffentlichkeit – Öffentlichkeit der Macht, Baden-Baden: Nomos 1995, S. 213-230.
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GEBAUTE RAUMSYMBOLIK
morialen Konstruktion ihrer eigenen Geschichtlichkeit) das Entscheidende ist. In diesem Sinne wird Symbolizität in der von mir entwickelten institutionellen Analyse vor allem im Hinblick auf die Herstellung von Präsenz verstanden.5 Es geht um die vermittelnde Gegenwärtigkeit des Abwesenden, des Unsichtbaren, des Transzendenten, also um Verkörperungen und nicht nur um zeichenhafte Verweisungen. Ganz grundlegend sind deshalb, von den menschlichen Sinnen ausgehend, visuelle Zeichen (Bildwerke, Architektur, Mode, Design, aber auch die verflüssigten Formen der Theatralität, des Festes, der medialen Bildfluten) von auditiven Zeichen (von Rhythmik, Gesang und Musik bis zu den unterschiedlichsten Ausprägungen von Geräuschkulissen) zu unterscheiden. Für die unterschiedlichen Präsenzsymbole ergeben sich sodann weitere typisierende Unterscheidungen, nämlich: 1. Leib-Symbole, 2. Raum- und Ding-Symbole, 3. Zeit-Symbole und 4. Text-Symbole. Aus dieser Voraussetzung wird ein Symbolbegriff entfaltet, der zeigt, wie institutionelle Identitätsbehauptungen erzeugt werden und der sich analytisch mit dem Anspruch substantieller Stellvertretung (Verkörperung, Präsenz, Sichtbarkeit, Emanation) auseinandersetzt. Aus heuristischen Gründen können in diesem Sinne Bauten, Bilder und Skulpturen, aber auch Texte, Rituale und Zeremonien als präsenzstiftende Symbole aufgefasst werden, ohne welche institutionelle Geltungen bis heute nicht durchsetzbar wären.6 Anders gesagt: Institutionelle Stabilisierungen bleiben eng geknüpft an eine besondere Form der durch Sichtbarkeit suggestiv verstärkten Ordnungs-›Magie‹.7
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Karl-Siegbert Rehberg: »Die stabilisierende ›Fiktionalität‹ von Präsenz und Dauer: institutionelle Analyse und historische Forschung«, in: Reinhard Blänkner/Bernhard Jussen (Hg.), Institutionen und Ereignis. Über historische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen Ordnens, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1998, S. 382-407. Das korrespondiert dem Vorschlag von Hans Ulrich Gumbrecht, »culture of presence« von »culture of representation« zu unterscheiden (»Ten Brief Reflections on Institutions and Re/Presentation«, in: Gert Melville (Hg.), Institutionalität und Symbolisierung: Verstetigung kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, im Auftrag des SFB 537, Köln u.a.: Böhlau 2001, S. 69-76, sowie Karl-Siegbert Rehberg: »Weltrepräsentanz und Verkörperung. Institutionelle Analyse und Symboltheorie. Eine Einführung in systematischer Absicht«, ebd., S. 30-49. Vgl. zu verschiedenen Magie-Konzeptionen Michael Rothmann: »Zeichen und Wunder. Vom symbolischen Weltbild zur scientia naturalis«, in: Gert Melville (Hg.), Institutionalität und Symbolisierung: Verstetigung kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, im Auftrag des SFB 537, Köln u.a.: Böhlau 2001, S. 347-392. 111
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II Im Folgenden ist, schon unter gelegentlichem Verweis auf historische Beispiele, anschaulich zu machen, weshalb und wodurch bildhafte Medien, also die Künste, spezieller Architektur und gebaute Umwelten, für die Präsenzsuggestion der Institutionen von ganz entscheidender Bedeutung sind. Die TAIM nimmt also – allerdings in kritisch-reflexiv gewendeter Perspektive, und nur in diesem Sinne ist von einer ›Wiederkehr des Raumes‹ zu sprechen – die Prätention institutioneller Symbolisierungen, ›unübersehbar‹ zu sein, buchstäblich ernst. Die Visibilität einer Ordnung ist besonders eindrücklich in Raumordnungen, in Gebäuden und deren architektonischen Details, Stilelementen und künstlerischen Ausstattungen (etwa im höfischen Kontext, in Privatwohnungen, Funktionsräumen oder Kirchen bis hin zu der nun selbst Geltung beanspruchenden musealen De- und Neukontextualisierung von ästhetischen Objekten). So sind symbolische Räume in allen Gesellschaften von herausragender Bedeutung – nicht nur in archaisch-heiligen Hainen, sondern ganz ebenso in der Eindrucksarchitektur hoch aufragender Türme (die immer MachtSymbole waren) und Repräsentationsbauten bis hin zu den Gegenwelten einer idyllischen Beschaulichkeit. Aber es sind gerade Räume, die auch besetzt und zu Gegen-Symbolen gemacht werden können, wie man von der Kriegsgeschichte bis zur Hausbesetzer-Szene weiß – ganz zu schweigen von der einschneidenden Markierung durch Raumzerstörungen. Um sich dies zu vergegenwärtigen, wird – zum Beispiel durch die Arbeiten von Martina Löw und ihre Initiative einer Belebung der Raumsoziologie8 und parallel durch die Entfaltung der Architektursoziologie – wieder verstärkt Georg Simmels Vorstellung von der sozialen Konstitution des Räumlichen aktiviert. Damit gerät, vice versa, auch die sozialkonstitutive Kraft des Raumes respektive von Räumen wieder in den Fokus. Gerade der Blick auf diese soziale Gestaltetheit und Gestaltungskraft räumlicher Entwürfe ist auch für die institutionelle Raumanalyse9 im spezifischen Sinne relevant. Wenn es um die institutionenanalytische Betrachtung baulich erzeugter Räume geht, liegt die erste Evidenz in einer – für die Herrschaftsbauprogramme aller Hochkulturen charakteristischen – Eindrücklichkeit, die zuweilen im Dienste einer Überwälti8
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Martina Löw/Silke Steets/Sergej Stoetzer: Einführung in die Stadt- und Raumsoziologie, Opladen: UTB 2007; Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001. In diesem Zusammenhang steht auch die neuere Architektursoziologie. Vgl. z.B. die Dissertation von Heike Delitz: Architektur als Medium des Sozialen, TU Dresden 2009.
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GEBAUTE RAUMSYMBOLIK
gungsabsicht steht.10 Den antiken Basiliken und später den romanischen Domen folgte die transzendierende Unwahrscheinlichkeit gotischer Kirchen – die Beispiele wären beliebig zu reihen. Als spezifisch moderne Ausformulierungen dieser Wirkungsintention folgten dann – Innovationen der Moderne technisch zur Voraussetzung habend wie ästhetisch auch gegen sie opponierend – aus maßlosen Herrschaftsansprüchen viele Größenübersteigerungen, die jede menschliche Dimension verlassen und zu imponieren bestrebt sind. Man mag an monströse Bauten denken wie den Altare della Patria am römischen Kapitol11 oder – um ein Beispiel architektonischer Modernität zu nennen – an Mussolinis großes futuristisches Stadtquartier für die 1944 denn doch abgesagte Esposizione Universale di Roma (EUR)12, ebenso aber auch an die zu Stein gewordenen Zeugen der Pariser Weltausstellungen, wie das Palais de Chaillot (1937) auf dem Platz des früheren Palais du Trocadéro.13 Andere Beispiele sind der protzige wilhelminische Dom in Berlin, von dem manche hofften, er wäre durch den Abriss des Palastes der Republik unterirdisch in ein tektonisches Ungleichgewicht und vielleicht zum Zusammensturz gebracht worden14, oder die eindrucksvoll gesteigerten ›antiken‹ Formen der amerikanischen Capitol-Bauten.15 Entsetzlich der Gedanke, das all dies auf ein ›menschliches Maß‹ geschrumpft wäre, hätten Adolf Hitler 10 Barbara Kündiger: Fassaden der Macht. Architektur der Herrschenden, Leipzig: EA Seemann 2001. 11 Bruno Tobia: L’altare della patria, Bologna: Il mulino 1998. 12 Ulrich Pfammatter: Moderne und Macht. ›Razionalismo‹: Italienische Architekten 1927-1942, Braunschweig/Wiesbaden: Viehweg 1990, S. 104-107; Nicola Timmermann: Repräsentative ›Staatsbaukunst‹ im faschistischen Italien und im nationalsozialistischen Deutschland – der Einfluss der Berlin-Planung auf die EUR, Stuttgart: ibidem 2001. 13 Pascal Ory: Le palais de Chaillot, Arles: Actes Sud 2006. 14 Detlef Plöse (Red.): Der Berliner Dom: Geschichte und Gegenwart der Oberpfarr- und Domkirche zu Berlin, Dokumentation des Symposiums zur Geschichte und Gegenwart der Oberpfarr- und Domkirche (Berliner Dom), 19.11.1999-3.3.2000 in Berlin, Berlin: Jovis 2001; Jochen Schroeder: Die Baugestalt und das Raumprogramm des Berliner Doms als Spiegel der Ansprüche und Funktionen des Bauherrn Wilhelm II, phil. Diss. Universität Marburg 2002. 15 Wolfgang Sonne: »The Embodiment of Freedom and Liberty. Der Plan für Washington von 1902«, in: Anke Köth/Anna Minta/Andreas Schwarting (Hg.), Building America, Bd. 1: Die Erschaffung einer neuen Welt, Dresden: Thelem 2005, S. 125-150. Ders.: Representing the State. Capital City Planning in the Early Twentieth Century, München u. a.: Prestel 2003. Vgl. auch William C. Allen: History of the United States Capitol. A Chronicle of Design, Construction, and Politics, Honolulu: Law & Taxation Publisher 2005; Donald R. Kennon/Thomas P. Somma (Hg.): American pantheon. Sculptural and artistic decoration of the United States Capitol, Athens (Ohio): UP 2004. 113
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und Albert Speer ihre Wahnphantasien von Germania nach dem von ihnen erhofften ›Endsieg‹ realisieren können.16 Aber das sind Grenzfälle. Symbolisch wirken ebenso andere architektonische Aufgaben und Formen, wie eine die kontemplativ-mildtätige klösterliche Weltabkehr vergegenständlichende Architektur oder die ihr folgenden anglo-amerikanischen Bauformen höherer Bildungsanstalten. Bis in unsere Tage sind es die Architekturwettbewerbe, welche neben den technischen Lösungen immer auch auf die symbolische Funktion zielen. Und selbst im scheinbaren Verzicht auf eine intendierte Aussagekraft von Bauten offenbaren sich auf symbolische Weise Strukturen, so in der heute allgegenwärtigen seriellen Computerarchitektur, die mit Sinnmaterial durchaus ebenso zu speisen ist, wie mit allen notwendigen Berechnungsgrößen von Gebäudeabständen und Traufhöhen. Sie macht in vielen Fällen offenbar, dass Bauherren durch Investoren ersetzt werden, also durch Hintergrundakteure, die an der konkreten Baugestalt allenfalls unter dem Aspekt der Vermietbarkeit noch ein Interesse nehmen – so zeigt sich nicht mehr die ›große Herrschaft‹, aber die weltumspannende Macht des Finanzkapitalismus. In ihm werden Netzwerkstrukturen und Enthierarchisierungen wahrnehmbar, die geradezu zum Selbstbild von Institutionen und Unternehmen geworden sind. Verbildlicht wird das beispielsweise durch die postmoderne, auch im institutionenanalytischen Sinne dekonstruktivistische Architektur, wenn man an Mode-Architekten wie Frank O. Gehry, Daniel Libeskind oder Zaha Hadid denkt. Vielen erscheint die Gesellschaft heute durch zentrumslose Spiele unterschiedlichster Kräfte bestimmt. Beweglichkeit und Entmaterialisierung sind zu Signaturen der (postmodernen) Zeit geworden. Architektonisch wird das etwa durch die optische Suggestion einer Überwindung der Schwerkraft ausgedrückt, im ökonomistischen Jargon der Gegenwart durch allgegenwärtige ›Flexibilisierung‹ und ›Deregulierung‹. Die symbolische Kodierungskraft von Architektur mag sich in jedem Bauobjekt zeigen, wird am ehesten greifbar jedoch in den diskursiven Kämpfen um leitende Formideen und Stile. Parlamente, Erziehungsanstalten, Gefängnisse und repräsentative Herrschaftsgebäude sind bewusst sinnbezogen. Das gilt für Bauten in allen Hochkulturen und wird in besonderer Weise deutlich, wenn Rückgriffe und Stilübertragungen zum Programm erhoben werden, wie das etwa für die Renaissance galt. Aber es zeigt sich dies auch in späteren Stil-Phantasmagorien (etwa in
16 Hans J. Reichhardt/Wolfgang Schäche: Von Berlin nach Germania. Über die Zerstörung der ›Reichshauptstadt‹ durch Albert Speers Neugestaltungsplanungen, Berlin: transit 1998. 114
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barocken Chinaadaptionen)17 und erst recht in einer Epoche, in welcher der geschichtliche Eigenbezug der sich formierenden europäischen Nationen von Orientsehnsüchten begleitet war.18 Das führt uns ins 19. Jahrhundert, welches in der Romantik ein – auch architektonisch wirksames – Vergangenheitsideal entwickelte, gleichzeitig jedoch ebenso die Epoche eines evolutionären Fortschrittsbewusstseins wie auch eines, die Kulturen relativierenden, Historismus war.19 Durch Bauten werden Räume also geschaffen und definiert, und allemal scheinen sie für ›die Ewigkeit‹ errichtet – obwohl viele von ihnen doch kurzlebiger sind. Wir erleben im Osten Deutschlands ja gerade den beschönigend ›Rückbau‹ genannten Prozess der Verminderung einstmals als zukunftsweisend konnotierter Plattenbauten, samt den dazugehörenden Euphemismen, wenn etwa die Leipziger Stadtverwaltung den Plan, 700 Häuser aus der Gründerzeit abzureißen, mit Neue Gründerzeit überschrieb und auf der Informationstafel mitteilte: »Sanierungsvorhaben: Abriss«.20 Und auch das im Feuersturm des 13. Februar 1945 untergegangene Zentrum Dresdens war – bei aller (nun wiedergekehrten) Barockherrlichkeit – doch wesentlich ein Produkt des 19. Jahrhunderts. Damit komme ich von den primär räumlichen Aspekten zu einem damit eng verknüpften, komplementären Gesichtspunkt der institutionellen Analyse, nämlich zu der legitimationsstärkenden Funktion institutioneller Zeit-Bezüge. Eine der wichtigsten institutionellen Mechanismen 17 China und Europa: Chinaverständnis und Chinamode im 17. und 18. Jahrhundert, Ausstellung v. 16.9.-11.11.1973 im Schloss Charlottenburg, Berlin: Verwaltung der Staatl. Schlösser und Gärten 1973; Willy R. Berger: China-Bild und China-Mode im Europa der Aufklärung, Köln: Böhlau 1990. 18 Stefan Koppelkamm: Der imaginäre Orient. Exotische Bauten des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts in Europa, Berlin: Ernst & Sohn 1987. 19 Michael Brix/Monika Steinhauser (Hg.): Geschichte allein ist zeitgemäß. Historismus in Deutschland, Lahn/Giessen: Anabas 1978; Dieter Dolgner: Historismus. Deutsche Baukunst 1815-1900, Leipzig: EA Seemann 1993. Heidrun Laudell/Cornelia Wenzel (Hg.): Stilstreit und Einheitskunstwerk, Internationales Historismus-Symposion, Bad Muskau 20.-22.6.1997, Amsterdam/Dresden: Verlag der Kunst 1998; Winfried Nerdinger: »Historismus oder: Von der Wahrheit der Kunst zum richtigen Stil«, in: Josef P. Kleihues (Hg.), Das Abenteuer der Ideen. Architektur und Philosophie seit der industriellen Revolution, Berlin: Fröhlich & Kaufmann 1987, S. 3142; Annette Wittkau: Historismus: zur Geschichte des Begriffs und des Problems, Göttingen: V & R 1992. 20 Wolfgang Engler: »Friede den Landschaften. Fern vom Getriebe der Welt. Bestandsaufnahmen und Phantasien zur politischen Geographie Ostdeutschlands«, in: FAZ vom 20.06.2001. 115
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ist der Entwurf einer Eigengeschichte. Ich meine damit nicht nur den Entwicklungsaspekt von Institutionen, also Phasen wie deren ›Gründung‹, Stabilisierung, Krisen und Störungen, Restabilisierungen, stagnative Balancen oder Auflösungsprozesse oder die auch möglichen funktionalen Transformationen. Vielmehr handelt es sich um eine spezifische Zurichtung der geschichtlichen Gegebenheiten im Hinblick auf die behauptete Kontinuität einer jeweiligen Ordnung. Solche Geschichte kann mythisch aufgeladen werden. Die eindrucksvolle Präsenz des ›Immerschon-so-Gewesen-Seins‹ beruht dabei auf einer mythischen ›Enthistorisierung‹, die darin aber gerade geschichtsmächtig sein will und kann. Es entsteht eine spezielle institutionelle Teleologie, eine ›Geschichtsphilosophie‹ der Einzelbereiche des menschlichen Lebens, welche zuweilen mit einem umfassenderen Anspruch verknüpfbar ist. Dauer und Entzeitlichung ergänzen sich, und dem Vergangenen wird jede Kontingenz genommen, der status quo zum Endpunkt einer langen Verkettung von ›Notwendigkeiten‹. Es ist dies an jedem historischen Bauwerk zu betrachten, an seinen selbst schon von der Patina der Zeit überzogenen Umbauten, Ergänzungen und Substanzverlusten, an der gestalthaften Einheitlichkeit höchst heterogener Elemente. Derlei institutionelle ›Geschichtspolitik‹ spiegelt sich etwa auch in Parlamentsdebatten über die Legitimität spezieller Gebäudetypen, etwa darüber, ob Universitäten dem gotischen Collegestil oder dem neuhumanistischen Klassizismus oder dessen Verbindung mit RenaissanceIdealen folgen sollten.21 Dasselbe gilt für die Wiederentdeckung der Gotik und deren Erhöhung bis hin zum ›deutschen Nationalstil‹, also einer Spiegelung von kulturellen Erlebnisgehalten wie ›Schauer‹, ›Ehrfurcht‹, ›Phantasie‹ oder ›Grenzenlosigkeit‹.22 Es fand dies seinen populären Ausdruck beispielsweise in der »ganz Deutschland« mit seinen 144
21 Hans-Georg Lippert: »Schlösser für die Wissenschaft. Deutsche Hochschulbauten im 19. Jahrhundert«, in: Jean-Michel Leniaud (Hg.), Institutions, services publics et architecture. XVIIIe-XXe siècle, Paris: Droz 2003, S. 103-117. 22 Georg Germann: Neugotik. Geschichte ihrer Architekturtheorie, Stuttgart: DVA 1974; Michel J. Lewis: The Politics of the German Gothic Revival. August Reichensperger, Cambridge (Mass.): MIT 1993; Ders.: The Gothic Revival, London: Thames & Hudson 2002; Chris Brooks: The Gothic Revival, London: Phaidon 1999; Jan de Maeyer/Luc Verpoest: Gothic Revival. Religion, Architecture and Style in Western Europe 1815-1914. Proceedings of the Leuven Colloquium 7.-10.11.1997, Leuven: UP 2000; Klaus Niehr: Gotikbilder – Gotiktheorien: Studien zur Wahrnehmung und Erforschung mittelalterlicher Architektur in Deutschland zwischen ca. 1750 und 1850, Berlin: Mann 1999. 116
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Dombau-Vereinen bewegenden Vollendung des Kölner Domes.23 Sulpiz Boisserée hatte in seiner Geschichte und Beschreibung dieses Bauwerkes im Jahre 1823 von einem »Wunderbau« »reinsten Styl[s]« gesprochen, »durch keine fremdartigen Zusätze entstellt« und deshalb ein »Musterbild der alten Kirchenbaukunst«.24 Den »Geistesschwingen«, von denen man im Inneren ergriffen werde, entspräche der »vegetabilische Charakter« seiner Verzierungen. Heinrich Heine hingegen spottete über die »arme[n] Schelme vom [Kölner] Domverein« und spielte auf den Kampf zwischen »listigen Römlingen« und Luthers »protestantischer Sendung« an.25 Aber auch Profanarchitektur konnte zum Gegenstand heftiger Debatten und folgenreicher Projektionen werden, nicht nur im Bereich der hohen Kultur – also der Theater, Universitäten, Bibliotheken und Museen –, sondern auch für die Zweckbauten der Disziplinierung, wie Schulen und Gefängnisse. Selbst die Post-Architektur konnte 1878 und 1883 zum Gegenstand einer Reichstagsdebatte werden, wo die einen mit Bezug auf Rat- und Zunfthäuser den »christlich-germanischen Styl« der Gotik forderten, während dieser Stil anderen in einem Maße als verehrungswürdig galt, dass er für derart profane Zwecke nicht passend sei.26 Der zuständige Staatssekretär führte demgegenüber andere Gesichtspunkte ins Feld, dass man Postämter nämlich in Städten baue, die ihre
23 Hugo Borger (Hg.): Der Kölner Dom im Jahrhundert seiner Vollendung, Katalog zur Ausstellung der Historischen Museen in der Josef-HaubrichKunsthalle Köln, 16.10.1980-11.01.1981, 2 Bde. Köln: Hist. Museen der Stadt Köln 1980. Vgl. auch Hans-Georg Lippert: Historismus und Kulturkritik. Der Kölner Dom 1920-1960, Köln: Kölner Dom 2001. 24 Sulpiz Boisserée: Geschichte und Beschreibung des Doms von Köln, nebst Untersuchungen über die alte Kirchenbaukunst, Stuttgart: Cotta 1823. Zit. nach Harold Hammer-Schenk (Hg.): Kunsttheorie und Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts in Deutschland, Band 2: Architektur, Stuttgart: Reclam 1997, S. 48. 25 Heinrich Heine: Deutschland. Ein Wintermärchen, Hamburg: Hoffmann & Campe 1844 (Caput IV). Zit. nach H. Hammer-Schenk: Kunsttheorie, S. 53. Dazu Mario Kramp: Heinrich Heines Kölner Dom. Die ›armen Schelme vom Domverein‹ im Pariser Exil 1842-1848, München/Berlin: Deutscher Kunstverlag 2002. 26 Dazu und zum Folgenden: Debatte im Reichstag über die Architektur der deutschen Postgebäude, Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstags, Norddeutsche Allgemeine Zeitung, 3. Legislaturperiode, 2. Session, Bd. 1 (1878), S. 556-559, erneut in: H. HammerSchenk: Kunsttheorie, S. 65-72; Debatte im Reichstag über die Architektur der deutschen Postgebäude, 5. Legislaturperiode, 2. Session, Bd. 2, 1883, S. 1254-58, 1260, ebd., S. 73-77. Beteiligt war beide Male der leidenschaftliche Neogotiker August Reichensperger, Zentrumsabgeordneter für den Wahlkreis Krefeld. 117
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Blüte im Mittelalter gehabt hätten. Dennoch sei die Gotik nicht als der einzige nationale Stil anzusehen, denn es gäbe ja auch die auf »antikrömischer Basis« beruhende und doch »durch germanisches Wesen« wesentlich befruchtete Romanik, welche deshalb für die bauliche Repräsentanz der damals noch ganz selbstverständlich staatlichen Post eben auch in Frage käme. In diesen wie auch anderen Debatten spielten aber auch ökonomische Gesichtspunkte und die Umwandlung der architektonischen Vorbilder in einen baukastenartig zu entwickelnden Massenstil eine nicht nur sekundäre Rolle.27 Bedeutender selbstverständlich waren die Rathäuser:28 Allein zwischen 1850 und 1914 entstanden in Deutschland 200, zumeist historisierende, Neubauten. Die Aufgabe hing mit der seit den Steinschen Reformen entwickelten kommunalen Autonomie zusammen, mit dem, was selbst Hegel als intermediäre Größe zwischen der Wirtschaftsvergesellschaftung des Systems der Bedürfnisse und dem zu seiner Vernünftigkeit kommenden Staat gestellt hatte, nämlich die bürgerlich selbstorganisierte ›Policey‹ (bei weitem nicht nur in Preußen).29 In Berichten über die Fertigstellung der neuen Rathäuser von Stuttgart, Leipzig und München von 1907 wurde das Rathaus als »unter allen Umständen [...] wichtigstes Wahrzeichen einer Stadt« herausgehoben, und in dem Gedenkblatt zur Einweihung des Kasseler Rathauses hieß es 1909: »Das neue Rathaus [ist] ein Palladium städtischer Freiheit, ein stattliches Denkmal des wiedererstarkten Bürgertums, eine würdiges Symbol seines in der Selbstverwaltung wurzelnden Bedeutung, seiner Macht und seiner Rechte.«30 Aus diesem Geist einer historisierenden ästhetischen Fundierung der eigenen Kultur und Politik entstanden auch Sakralbauten. Eines der vielgestaltigsten Beispiele dafür ist die basilique du Sacré-Cœur, eines der Exempel einer vergleichenden Architekturbetrachtung der lange Zeit
27 Karl E. O. Fritsch: »Stil-Betrachtungen«, in: Deutsche Bauzeitung 24 Nr. 72 (6.9.1890), S. 434-440, erneut in H. Hammer-Schenk: Kunsttheorie, S. 110-122. 28 Wie sie für das Deutsche Kaiserreich in einem von der Fritz-ThyssenStiftung geförderten Projekt detailliert dokumentiert worden sind: Ekkehard Mai/Jürgen Paul/Stephan Waetzold (Hg.): Das Rathaus im Kaiserreich. Kunstpolitische Aspekte einer Bauaufgabe des 19. Jahrhunderts, Berlin: Mann 1982. 29 Georg W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, mit Hegels eigenhändigen Notizen und den mündlichen Zusätzen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, §§ 231-249. 30 Jürgen Paul: »Das ›Neue Rathaus‹: eine Bauaufgabe des 19. Jahrhunderts«, in: E. Mai/J. Paul/S. Waetzold: Das Rathaus, S. 29-90, 29. 118
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verfeindeten Hauptstädte Paris und Berlin in der herausragenden Dissertationsschrift von Markus Dauss, der dem Gebäude so viele institutionelle Sinnschichten entlockte, als es stilistische und zierhafte Arabesken hat.31 Die institutionenapologetische Funktion architektonischer Visibilität wird hier schlagartig deutlich.
III (Markus Dauss)
Abb. 1: Basilique du Sacré-Cœur de Montmartre. 1875-86 Teileinweihung, 1919 endgültige Weihung. P. Abadie/H. Daumet/J.-Ch. Laisné/H. Rauline/L. Magne/L.-J. Hulot. Die basilique du Sacré-Cœur grüßt den nach Paris Gereisten schon von Ferne vom Montmartre herab (Abb. 1). Das massive Monument stellt neben seinem ideologischen und konstruktiven Gegenbild, dem eisernmodernistischen Eiffelturm, nachweislich einen der zuerst und meistbesuchten hauts lieux der Metropole dar. Die touristische Prominenz des spektakulären Monuments liegt vermutlich in seiner visuellen Omnipräsenz, privilegierten Platzierung und stilistischen Merkwürdigkeit begründet. Beim Sightseeing dürften allerdings die spezifischen histori-
31 Markus Dauss: Identitätsarchitekturen. Öffentliche Bauten des Historismus in Paris und Berlin (1871-1918), Dresden: Thelem 2007, S. 233-341. 119
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schen und religiösen Bedeutungsschichten des dominant auftretenden Supermonuments zumeist ausgeblendet bleiben – spirituell motivierte Reisen vielleicht ausgenommen, die immer noch in großem Maßstab zur explizit als Pilgerkirche errichteten basilique durchgeführt werden. Die Herz-Jesu-Kirche stellt wohl denjenigen Ort der Metropole mit dem höchsten symbolischen Verdichtungsgrad dar.32 Die schon gebrauchte Bezeichnung haut lieu verweist auf diese Bedeutungshöhe, die auf einer Vielzahl von symbolischen Schichten aufruht. Versucht man diese Dimensionen jenseits des touristischen Abziehbildcharakters zu analysieren, der allerdings auch von Anfang an Teil der beim Bau verfolgten wirkungsästhetischen Strategien war, erweisen sich die von Karl-Siegbert Rehberg entwickelten Überlegungen zu den symbolischen Mechanismen institutioneller Identitätsgebung als Generalschlüssel. Damit kann man vor allem die Generierung institutioneller Eigengeschichtlichkeit, die anhand dieses gebauten Präsenzsymbols kirchlichen Geltungsanspruches visualisiert werden sollte, idealtypisch nachvollziehen. Das Ziel, historische (Fort-)Dauer als Argument für institutionellen Legitimitätsgewinn zu mobilisieren, führte auf dem Montmartre zum Musterbeispiel eines räumlichen und zeitlichen Präsenzsymbols. Das Monument fungiert gleichsam als Abbreviatur für ein Narrativ institutioneller Eigengeschichtlichkeit, das hier zugleich mit nationalem wie universellem Repräsentationsanspruch auftrat. Hintergrund waren scharfe, architektursymbolisch ausgetragene Kämpfe um institutionelle Dignität. Konkurrierende Präsenzsymbole antagonistischer historischer Narrative wurden im postrevolutionären Frankreich regelrecht gegeneinander gestellt. Kirchlicher Machtanspruch und eine entsprechende Geschichtsvision hatten sich insbesondere in der Dritten Republik (1871-1940), in der respektive gegen die das Monument entstand, einer faktischen Krise und Bedrohung zu erwehren. In dem Maße, wie säkular begründete sozio-politische Ordnungsformen
32 Ich kann die diversen Facetten des schillernden Monumentes in Paris nur extrem verkürzt aufzeigen. Für meine Analyse konnte ich primär auf folgende Studien zurückgreifen: Julien Guadet: L’Église du Sacré-Cœur: sa constitution, son origine, son efficacité, Paris 1900; Paul Lesourd: La Butte sacrée. Montmartre, des origines au XXe siècle, Paris: Spés 1937; Ders.: Montmartre, Paris: Ed. de France-Empire 1973; François Loyer: »Le Sacré-Cœur de Montmartre«, in: Pierre Nora (Hg.), Les Lieux de mémoire, T. III. 3 (Les France: de l’archive á l’emblème), Paris: Gallimard 1992, S. 450-473; Jacques Benoist (Hg.): Le Sacré-Cœur de Montmartre: un vœu national, Paris: Ed. Délégation de l’Action Artistique 1995; Ders.: Le Sacré-Cœur de Montmartre, 2 Bde., Paris: De l’Atelier 1992; Gabriel P. Weisberg: Montmartre and the Making of Mass Culture, New Brunswick: Rutgers UP 2001. 120
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und bürgerliche Machtträger im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer deutlicher institutionelle Dignität und Legitimität beanspruchten, wurden diese anderen (traditionellen) Organisationsformen zunehmend abgesprochen, so eben der katholischen Kirche in Frankreich vom republikanischen Staat und auch Teilen der Gesellschaft. Sowohl bei der zuschreibenden Aspiration auf institutionelle Dignität als auch bei den aberkennenden Angriffen konnten monumental zugeschnittene und weithin im Stadtraum sichtbare Architekturen entweder als visuelle Pro-Argumente oder auch als exponierte Zielscheiben fungieren.
Abb. 2: Plakat gegen die basilique du Sacré-Cœur. La Lanterne, Eugène Ogé, ca. 1896.
Auch die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts monolithisch auf den Hügel im Norden von Paris gesetzte Sacré-Cœur wurde konsequent als politische Waffe im Kampf um die Geltungsansprüche der bedrängten katholischen Kirche Frankreichs geplant. Diese verschaffte sich hiermit eine ideal platzierte Bastion. Daher wurde das Bauprojekt auch umso intensiver angefeindet, insbesondere von der Munizipalität der Hauptstadt, welche die Kirche heutzutage ironischer Weise wie ein integratives Wahrzeichen symbolisiert. Die damalige Wahrnehmung vor allem durch die republikanische Öffentlichkeit war eine ganz andere: Durch den Kirchenbau auf dem Hügel wurde, so entrüstete Stimmen, eine kirchliche 121
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Konkurrenzerzählung und -ätiologie wie ein feindlicher Dorn in den Hauptstadtkörper implantiert, der klerikalen Lufthoheit eine ›Anflugstelle‹ geschaffen (Abb. 2). Die Kirche operierte bei diesem Bauprojekt administrativ und finanziell tatsächlich außerhalb des staatlichen Rahmens, den das napoleonische Konkordat vorgab, was das Ärgernis für die Antiklerikalen verschärfte: Die Kirche wuchs relativ ungestört parallel zur festeren Etablierung der Republik immer weiter empor. Erfolgreich konnten die ultrakonservativen, ultramontan ausgerichteten Initiatoren des Projektes aus dem von ihnen konstatierten Scheitern der staatlichen Ordnung – militärische Niederlage von 1871, Kommune und schließlich eine recht lange bestehende Unsicherheit des republikanischen Systems – erfolgreich Profit für die bauliche Überhöhung des eigenen Identitätsentwurfes zu schlagen. Ganz explizit wurde bei der für den Bau der Sacré-Cœur leitenden Programmatik auf diese jüngst erfolgte, negative Wendung der Nationalgeschichte Bezug genommen und sie in eine vermeintlich lange politische Versagensgeschichte eingefügt. So setzten die Projektträger sich damit langfristig noch stärker als das republikanische System selbst vom Second Empire, der Haussmannschen Stadttransformation sowie zugleich auch den ihr angelasteten soziopolitischen Folgen wie auch von der Kommune ab. In Distanzierung davon wurde ein regelrechter Sprung aus der Zeit versucht – ein Konzept institutioneller Eigenzeitlichkeit, dem die räumliche Insularität des wie eine Erscheinung über Paris schwebenden Baus kongenial entspricht. In der Perspektive der Republikaner hingegen wurden die Narben des Bürgerkrieges und die fortdauernde tief greifende Spaltung der Gesellschaft im Bauprojekt der basilique, das in der Stunde Null der preußischen Belagerung seine entscheidende Konkretion erfahren hatte, auf unerträgliche Weise präsent gehalten. Wuchsen die baulichen Symbolisierungen der Kirche dem Staat nun gleichsam über den Kopf, mussten diese desavouiert werden. Insbesondere die Kritiken, ja Polemiken gegen Sacré-Cœur versuchten strategisch herauszukehren, dass die Monumentalität der Symbolisierung, mit denen dieser Anspruch auf institutionellen Rang im wahrsten Sinne des Wortes untermauert wurde, statische Entitäten lediglich suggerierte. Stattdessen wurde durch entsprechende Demaskierungs-, Ironisierungs- und Metaphorisierungsstrategien versucht, das Gebäude gleichsam durchsichtig werden zu lassen. Der Konstruktions- und Prozesscharakter institutioneller Mechanismen, die in dieser Zeit auch die Eingeweide der katholischen Kirche Frankreichs durchwühlten, wurde hinter den Monumentalfassaden hervorgeholt. Diese Kritiken setzten darauf, dass historistische Stilarchitekturen nicht nur als verhüllende Oberflächen, sondern gerade auch als Matrizen der 122
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Sichtbarmachung verstanden werden können, in die sich diese Spannungszustände eingelagert haben, in denen sie symbolisch geronnen sind und daher auch anschaulich gemacht werden können. Verwerfungen können hier also als ›verbaut‹ nicht nur im Sinne von ›verdeckt‹, sondern auch von ›eingebaut‹ gelten. Dies betrifft vor allem Spannungen zwischen geschichtlichem Rückgriff und möglichst direkt wirksamer Präsenzsuggestion. Diese Polarität versuchte man seitens der Initiatoren durch vermittelnde Konstruktionen zu entschärfen, die Geschichte zur Gegenwart machten und daher notwendiger Weise präsentistisch argumentierten. Diese Strategie war der gemeinsame Fluchtpunkt von kunsthistorischem Diskurs und gebauter Stilarchitektur. Synergieeffekte zwischen beiden Größen, die in der Zeit des architektonischen Historismus bekanntlich perfektioniert wurden, haben im Umkreis der Sacré-Cœur ihre beeindruckendste Wirkung entfaltet. Kunstwissenschaftliche Publikationen, die sich in den Institutionalisierungsprozess der Architekturgeschichte als Disziplin einschrieben, standen häufig selbst im Zeichen vergleichbarer Ansprüche und Intentionen wie die Baupraxis selbst. Verbindende Leitidee war die Präsenzsimulation einer archaischen oder nostalgisch verklärten Vergangenheit, die gezielt gegen die Bedrohung institutioneller Dignität oder Legitimität durch Modernisierung mobilisiert wurde. Durch Rückkoppelungsmechanismen mit der Bau- und Restaurierungspraxis generierten derartige kunsthistorische Texte regelrecht ihr eigenes Objekt und schufen so einen zweipoligen Abbildungszusammenhang. Nirgendwo ist dies besser als am kunsthistorischen Diskurs aufzuweisen, der Sacré-Cœur als Verkörperung katholischer Identitätsbildung metaphorisierte. Es entstand nämlich eine reiche kunstwissenschaftliche Literatur zur historischen Herleitung und identitären Konnotation des sogenannten Romano-Byzantinismus. Aus dieser kunstgeschichtlich und restauratorisch im wahrsten Sinne des Wortes konstruierten Spielart der Neo-Romanik bezogen die Erbauer der Kirche auf dem Montmartre ihre wichtigsten Inspirationen. Da Archaismen in dieser Form ansonsten kaum Eingang in die öffentliche Architektur der französischen Hauptstadt fanden, waren sie als Differenzmarkierung besonders geeignet. Die France profonde der konservativen Provinz wurde ideologisch gegen den Sündenpfuhl der modernen Metropole mobilisiert. So geht die Mehrzahl der Referenzen, derer sich der Hauptarchitekt der Sacré-Cœur, Paul Abadie, bediente, auf die Sonderromanik des Südwestens, des Périgord und der Charente, zurück. Die dafür paradigmatischen Bauten standen in einer besonderen Nähe zum Mythos der France fille aînée de l’Église. Stileinflüsse wurden, von dort ausgehend, sogar bis in die frühchristliche terre sainte zurückverfolgt und damit einer gründungsmythi123
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schen Verklärung das Wort geredet. Ganz in diesem Sinne hatte Abadie die Kathedralen von Périgueux und Angoulême, die sich durch die Besonderheit vermeintlich ›orientalischer‹, Pendentifkuppeln auszeichneten, ›kreativ‹ restauriert. So hatte er sich für seine anschließende eigenständige Architekturproduktion eine Berufungsgrundlage geschaffen. Wenn man sich also vergegenwärtigt, dass auf diese mythischen Urbilder von Sacré-Cœur nicht direkt, sondern in Form der Restaurierungen als bereits gefilterte Ableitungen ›zweiten Grades‹ zurückgegriffen wurde, tritt die gezielte Konstruktion historisch vermittelter, institutioneller Legitimität offen als ›Präsentismus‹ zutage. Ein eigentümlicher stilistischer Eklektizismus wie der Romano-Byzantinismus, der auch begrifflich als Kompositterminus das Heterogene geradezu vor sich her trug, konnte so zum Kennzeichen eines Monumentes werden, das im Zentrum von Entwürfen geschlossener kirchlicher und nationaler Identitätskonstruktion stand. Das besondere Raffinement der Stilstrategien, die am Montmartre eingesetzt wurden, bestand gerade darin, trotz der beschworenen Ableitungslogik keine getreue Formenkopie auf den Hügel zu setzen, sondern nur assoziative Anklänge vorzugeben. Noch in neueren Texten wird daher ein ganzes Spektrum verschiedenster regionaler und zeitlicher Muster aufgeboten, die von den genannten frühchristlichen Bauten im Nahen Osten über Byzanz (Hagia Sophia) bis Rom (St. Peter) und London (Saint Paul’s) reichen. Über diese Multivalenz entzieht sich der Bau, der eine eklektizistische Supersynthese ist, einer genauen chronologischen und geographischen Festlegung. Ziel war dabei – postmodernen Geschichtskonzepten in diesem Punkt vergleichbar – der unweigerlichen Ablage in der Schublade des Veralteten zu entkommen und stattdessen auf eine jeweils aktuelle Präsenzsuggestion zu setzen. Auch die Virulenz der nie wirklich abgerissenen Kritiken des Bauprojektes verdeutlicht letztlich den Erfolg dieser Strategie, selbst wenn in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Aufkommen des Massentourismus eine Entspezifizierung der Semantik und damit eine breite Akzeptanz der Hügelkirche einsetzte. Nicht nur die außergewöhnliche Form, sondern vor allem ihre privilegierte Positionierung erweist sich im Wettkampf um touristische Aufmerksamkeit als entscheidender, buchstäblicher Standortvorteil. Denn die besondere Situierung des Monuments lässt es auf den ersten Blick als evident erscheinen, dass der Ortwahl eine besondere Bedeutung bei der Evokation von visueller, das heißt hier vor allem räumlicher Präsenz zukommt. Bei der Entstehungshistorie leitend war die dominante Einschätzung des katholischen Klerus, dass die Sichtbarkeit der Institution katholische Kirche in der symbolischen Prestigezone des Hauptstadtraumes schon 124
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im Rahmen des napoleonischen Konkordats keineswegs in ausreichendem Maße gesichert war. Umso bedeutender erscheint der Sonderfall der ungewöhnlich privilegiert platzierten, außerhalb des konkordatären Systems realisierten Sacré-Cœur. Es ist allein schon deshalb evident, dass diese Sakralarchitektur einen zentralen symbolischen Beitrag zur Verhältnisbestimmung der konkurrierenden Großinstitutionen von Staat und Kirche leisteten musste. Die den Pariser Stadtraum mit ihrer Silhouette beherrschende Hügelkirche wurde gezielt zum Zentralpunkt eines eigenräumlichen institutionellen Identitätsentwurfs aufgebaut. Dieser musste sich in der antiklerikalen Republik zunehmend defensiv in sich selbst zusammenziehen, bevor er, wie zumindest erhofft, zukünftig einmal expansiv wirksam werden konnte. Die urbane Sonderposition der beherrschenden Hügelkirche wird insofern auch als Ausstellung einer Exiloder Diasporasituation lesbar – eine Konstellation, die dennoch von ›außen‹ als Dauerärgernis wahrgenommen wurde. Das als symbolische Verdichtung institutioneller Traditionsstränge strukturierte Monument fungierte so wie ein symbolischer Stachel im Fleisch des Stadtkörpers der Kapitale und war deshalb auch heftigen Angriffen von Staat und Stadt ausgesetzt. Unbestreitbar war jedoch, dass die Kirche durch die extreme Exponiertheit ihrer Lage innerhalb, genauer: oberhalb des Stadtraumes a priori, bevor auch nur ein Stein auf den anderen gesetzt worden war, einen institutionellen Geltungsanspruch anmelden konnte, der topostrategisch nur schwer zu übertreffen war. Der Montmartre war ideal, um das unmissverständliche Präsenzzeichen eines mächtigen Katholizismus in die Silhouette der Hauptstadt einzufügen und gleichsam korrigierend auf diese einzuwirken. Zentrale Druckpunkte der Metropole waren nämlich jüngst in der Haussmannisierung des Second Empire in umfassender Weise mit Monumenten besetzt worden, die ihrerseits häufig superlativische Geltung beansprucht hatten. Die historische Stadtlandschaft war durch diese urbanistischen Modernisierungsmaßnahmen mit einem säkularen, herrschaftstechnischen Raumkonzept überlagert worden, das den Anschauungen des katholischen Konservatismus diametral entgegen stand. Kontrastierend diente der monumentale Kirchenbau als eine Art symbolische Korrektur des moralischen, politischen und in letzter Ebene religiösen Verfalls, der seinen Schauplatz in der modernen Großstadt hatte – wie zuletzt, so eine weit verbreitete Sicht, die sozialistische Commune gezeigt hatte. Durch ihre exponierte Lage konnte die basilique du Sacré-Cœur prinzipiell zu allen Orten von moralischem Verfall und kirchenferner Verrohung in Beziehung treten und gerade dadurch einen neuen Superlativ der Dominanz reklamieren. Absetzung oder – seltener und selektiver – positiver Bezug auf andere Erinnerungsorte innerhalb 125
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des Stadtraumes zeichneten ein virtuelles Spinnennetz um den Montmartre. Sie umrissen die spezifische Identität dieses Zentralpunktes durch ein Wechselspiel von Ex- und Inklusion als Grundmuster institutioneller Verortung. Die Präsenz als Störkörper war in besonderer Weise durch die historischen Bedeutungsdimensionen des Ortes eo ipso gesichert, an dem das Superzeichen Sacré-Cœur platziert wurde. Der Montmartre war, wie schon sein Name ankündigt, selbst eine weit bis in die antike Besiedlungsgeschichte und Christianisierungsmythologie von Paris zurückgreifende Präsenzsymbolisierung. Sie stand wiederum für weitere Orte (für Topoi im erweiterten Sinne) ein, die über sie im Stadtraum präsent gemacht wurden. Der an den mythischen lieu de mémoire Montmartre gebundenen Verweiskette wurde durch die Präsenz des Kirchenbaus im wahrsten Sinne des Wortes die Krone aufgesetzt. Denn dem überdeutlich formulierten Anspruch nach hatte die Herz-Jesu-Kirche als semiotischer Knotenpunkt dieser verschiedensten Erinnerungsorte zu fungieren, die untereinander bereits netzwerkartig miteinander kommunizierten. Und dieses weit ausgreifende, nun konzentrisch strukturierte rayonnement war es, aufgrund dessen der Montmartre in emphatischen Deutungen zum Zentrum, ja zum Herzstück nicht nur eines nationalen, sondern auch universellen topologischen Strahlenkranzes avancieren konnte. Ein Radius, der über die Funktion des Bauwerks als monumentale Überschrift über einen gleichsam zu korrigierenden Stadttext hinausgreift, umfasst eine Dimension rein positiver Identifikation jenseits direkter Sichtbeziehungen. Dabei wird über ein komplexes System von Indizes auf Orte verwiesen, die über ganz Frankreich verteilt liegen. Diese Referenzen sind aus in die longue durée zurückreichenden Traditionslinien entnommen, vor allem der katholisch geprägten Version einer patriotischen Nationalgeschichte. Dadurch wurde vor allem die noch stärker religiös geprägte Provinz mit ihren zahlreichen Erinnerungsorten symbolisch mobilisiert und in der Hauptstadt präsent gemacht, um dem Einheitsmythos einer religiös und nicht etwa vertragstheoretisch oder jakobinisch verstandenen Nation une et indivisible wieder Geltung zu verschaffen. Neben diese mythischen Ursprungserzählungen trat ergänzend eine kürzere zeitliche Perspektive, die sich allerdings wiederum als Element respektive Fortsetzung der längeren Traditionsketten sah. Darin wurde auf lieux de mémoire verwiesen, die mit der direkten Vorgeschichte, dem Prozess des Kirchenbaus selbst und insbesondere der Weihung an den mystischen Kult des Sacré-Cœur verknüpft waren. Bei der Analyse dieser Verkettungen tritt der Musterfall einer über Verräumlichung generierten institutionellen Eigengeschicht-
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lichkeit hervor, nach deren exemplarischem Vorbild der zukünftige Verlauf der Nationalgeschichte zu gestalten war. Der zentrale Bezugsrahmen aber für diesen Geltungs- und Gestaltungsanspruch liegt außerhalb Frankreichs, nämlich ultra montes. Er stellt eine Art komplementären, systemexternen Verankerungspunkt der Verweisbündelung auf dem Montmartre dar: Rom, selbst ein Superzeichen, Kürzel für die Vermittlung von Heilsgeschichte und weltlichem Geschehen, irdischer Macht und nicht zuletzt Modell architektonischer Symbolisierungen dieses Konnexes. Wenn vom Montmartre ein Rekurs auf diesen gleichsam außer- oder überzeitlichen Topos stattfand, dann auch, weil der Status Roms ein aktuelles Politikum darstellte – ein Sachverhalt, in dem Zeitgeschichte und Herz-Jesu-Ikonographie zusammenschossen, da sich militante Anhänger des Sacré-Cœur-Kultes für die Rettung der weltlichen Macht des Papsttums (Kirchenstaat) engagierten und im Banner des Herzens Jesu ihre eigenen Leben nicht nur in Italien, sondern schließlich auch auf französischem Boden im Kampf gegen die bereits siegreichen Preußen sinnlos opferten. Die Überblendung eines exklusiven Nationalismus mit apostolischem Ultramontanismus, die die Weltsicht der Initiatoren des Projekts prägte, erscheint grundsätzlich erläuterungsbedürftig. Soziologisch gesehen liegt hier nämlich die Zusammenführung zweier grundverschiedener, institutionell konkurrierender Raumkonzepte vor, worauf schon Simmel hingewiesen hat.33 Die katholische Kirche ist demnach, zumindest idealtypisch formuliert, ein unräumliches Gebilde, das zu allen Punkten des allgemeinen Raumes eine gleichmäßig indifferente Beziehung hat und deswegen permeabel für andere räumliche Konstrukte ist. Ein solches, mit dem sie sich deshalb prinzipiell nicht konkurrierend ins Gehege käme, sei zum Beispiel die räumlich konkret gebundene Struktur des Staates, die alle Punkte exklusiv besetzen und somit eine »überall wirkliche und prinzipielle Solidarität« mit dem Raum geltend machen müsse. Allerdings führten die sich in der Dritten Republik verschärfenden Probleme zwischen Staat und Kirche Verschiebungen herbei, die diese entzerrende Lagerung aus dem Gleichgewicht brachten. Beide wollten das Nation-Paradigma nun mit exklusiver Deutung besetzen. Dabei galt die symbolische Hoheit über das nationale Territorium als entscheidend. Die klerikalen Konservativen wollten den souveränen National- und Territorialstaat Frankreich umfassend religiös redefinieren, das heißt das Hexagon wiederum mit einer heilsgeschichtlich aufgelade33 Vgl. Georg Simmel: »Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft«, in: Ders., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (1908), 5. Aufl., Berlin: Duncker & Humblot 1968, S. 460-526. 127
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nen Ordnung imprägnieren. Die Republikaner weigerten sich vehement gegen eine solche Überlagerung des zentralistisch organisierten, jakobinischen Staatsterritoriums mit dem Raster religiösen Exklusivitätsanspruches, ja sie waren ihrerseits bereits aktiv in die Offensive gegangen, um den mnemotechnisch gewebten Herrschaftsanspruch der katholischen Kirche radikal zu beschneiden – allerdings, ohne dieses Projekt wirklich stoppen zu können.
Abb. 3: B. B. / Sacré-Coeur.
Raum gilt dann als eindeutig besetzt, wenn er von Körpern eingenommen wird. Handelt es sich dabei auch noch um lebendige, kann die exklusive Dimension körperhafter Präsenzsuggestion zudem mit dem Anspruch vitaler Direktheit unterlegt werden. Daher besteht ein zentraler Mechanismus, die basilique du Sacré-Cœur zum einen auf Präsenz programmierten Raum- und Zeitsymbol avancieren zu lassen, in den omnipräsenten körpermetaphorischen Assoziationen, die die Formen der Herz-Jesu-Kirche auf dem Montmartre wecken. Aus dem engen Bezug zu Körperzeichen verschiedenster Ebenen wurden institutionelle Geltungsansprüche abgeleitet, indem man die Unhintergehbarkeit, die die (vermeintlich) unmittelbare Präsenz und Integrität eines lebenden Kör128
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pers suggeriert, auf den Bau- und damit Institutionenkörper übertrug – einen Körper, dessen Vitalität, so legt die Herz-Jesu-Motivik nahe, trotz letaler Verletzungen in einer höheren Ebene, in einer anderen zeitlichen Dimension, weiter pulsiert. Gerade angesichts von Zeitläufen, in denen die Identität von Welt- und Heilsordnung verlustig zu gehen drohte, schien es umso notwendiger, deren Kongruenz in körpermetaphorischen Unmittelbarkeitssymbolen zu beschwören und somit auch die Einheit eines integralen, zeittranszendent verfassten ›Institutionenkörpers‹ zu suggerieren. Visuelles Mittel war vor allem die leitmotivische Herz- und Blutmetaphorik, die aufgrund ihres anthropologischen Signalcharakters als Symbol der von den Projektinitiatoren angestrebten Unmittelbarkeit fungierte. Die damit verbundene Wundenmystik stellte nämlich die entsprechenden Narrative bereit, über die sich ein vermeintlich direkter Empfang von institutionellen Ordnungsprinzipien behaupten und damit eine Mission der Neuordnung des Weltverlaufs im Sinne der Heilsordnung rechtfertigen ließ. Gerade in Zeiten des Leids und der scheinbaren Gottverlassenheit wurde die Funktion der Herz-Jesu-Ikonographie als vitale Präsenz- und Einheitssymbolik mobilisiert, um Heilsgewissheit zu verheißen. Und mit dieser zusammenfassenden Körpersymbolik waren wiederum räumliche Ordnungsmuster verbunden. Denn um die Herzsymbolik gruppierte sich eine ganze Kette von Ortsverweisen, da in der historischen Performanz dieses Kultes ein ganzes System von Erinnerungsorten eingeschlossen lag. Darin besteht der Anschluss der institutionenapologetisch mobilisierten Körpermetaphorik an die Dimensionen räumlicher Präsenzsymbolik. Die Kirche auf dem Montmartre wurde zum neuen Zentrum dieses Verweisungssystems erklärt und damit als eigentliches ›Herz Frankreichs‹ eingesetzt. Allerdings konnte diese Präsenzsuggestion über bauliche Verkörperungsstrategien schon von kritischen Zeitgenossen decouvrierend vorgeführt werden, indem die Körperassoziationen explizierend weitergetrieben, sexualisierend zugespitzt, parodistisch verkehrt und die exaltierte Kirchenarchitektur darüber im wahrsten Sinne des Wortes marode gemacht wurde. In dieser Sicht wurde die architecture parlante als Verdrängungssymbol dechiffriert und damit auch der Herz-Jesu-Kult pathologisiert. Zentralargument der laizistischen-republikanischen Kritiken war der Fetischismusvorwurf, der den Kult des Sacré-Cœur der Magie zu bezichtigen und der Lächerlichkeit preiszugeben versuchte. In der physiologisch-materialistischen Sprache der Freidenker wurde ein Spiel der Bloßstellung entfesselt, das den Kult als Verehrung von Schlachthausabfällen, als kannibalische Idolatrie und als missglückte Sublimierung einer ursprünglich phallischen Verehrung kennzeichnete. 129
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Tatsächlich bedeutet Körpermetaphorik am Montmartre auch Gendersymbolik (Abb. 3). Deren archaisierender und stereotyper Zug sollte institutionenapologetisch ›fruchtbar‹ gemacht und dazu wiederum in räumliche Muster übersetzt werden: Es ist sofort evident, dass am Montmartre Gender-Chiffren wie in alten Fertilitätssymbolen überlagert werden. Dadurch wurde die erfolgreiche Ausbreitung, das heißt ›Vermehrung‹, von Prinzipien, die der institutionellen Ordnung der katholischen Kirche Frankreichs zugrunde liegen, in den externen Kontext visuell beschworen und antizipiert (Abb. 4).
Abb. 4: Basilique du SacréCœur de Montmartre aus der Sicht des Cartoonisten Mosé.
Dieses Engendering der Architektur löste wiederum zahlreiche Wellen der Polemik aus. Neben der genannten materialistischen Entmystifizierung konnte nun auch die sich gerade etablierende Psychopathologie im Fahrwasser Jean-Martin Charcots greifen, der eine Ikonographie des hysterischen Frauenkörpers entworfen hatte, die nun auch auf bauliche Formen und ihre Funktion als Kultraum übertragen wurde. So wurde die basilique du Sacré-Cœur von Kritikern der dort praktizierten Frömmigkeit als Kultstätte der Hysterie, als École normale d’hystérie, metaphorisiert und zum Absurdum von Institutionalität sowie zum architektoni130
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schen Generator von neurotischen, genderspezifischen Erregungszuständen erklärt. Diese polemischen Zuspitzungen reflektierten nicht oder kaum auf die kulturelle Codierung des Hysteriediskurses, der bekanntlich selbst durch einen doppelten Abbildungszusammenhang gekennzeichnet ist34, um ihre denunziatorische Kraft zu erhalten. Ohne diese Ausblendungen reproduzieren zu wollen, kann man wohl dennoch eine Deutung vertreten, die den Bau als ein archaisierendes Superzeichen begreift, das zur Symbolisierung besonderer institutioneller Machtfülle Geschlechtergrenzen überschreitet, deren Funktion als ›Machtattribute‹ aber gerade stabilisiert. Darin wird besonders deutlich, dass architektonische Körper- und Geschlechtermetaphoriken an zentraler Stelle bei der Modifikation, Stabilisierung oder Transformation von institutionellen Leitideen – wie sie die der Kontinuität für die katholische Kirche Frankreichs war – eingesetzt werden. Gerade über diese Metaphoriken vermeinte man, überzeitliche Stabilität zu suggerieren, die Visualität machtvoller Ordnungsarrangements zu sichern sowie die vermeintlich unverfügbare ›Naturwüchsigkeit‹ der Institution katholische Kirche legitimierend behaupten zu können. Dass diese gewöhnlich verdeckt funktionierenden Strategien allesamt auf die Leitidee präsenzgenerierender Sichtbarmachung verpflichtet sind, lässt sich mit der Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen sichtbar machen: Sie kann offenlegen, dass jede Institution, jede dauerhafte ›Ordnung‹ des Sozialen auf eine Sichtbarmachung auch und gerade durch Architektur angewiesen ist und liefert damit einen zentralen Baustein zu einer architektursoziologischen Fundierung der Gesellschaftstheorie.
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34 Sigrid Schade: »Charcot und das Schauspiel des hysterischen Körpers. Die ›Pathosformel‹ als ästhetische Inszenierung des psychiatrischen Diskurses«, in: Silvia Baumgart u. a. (Hg.), Denk-Räume. Zwischen Kunst und Wissenschaft, Berlin: Reimer 1993, S. 461-484. 131
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Raumerfahrung und Geschichtserkenntnis. Die › Architektur der Gesellschaft‹ aus Sicht de r historisc h-soziologischen Wahrnehmungstheorie: Giedion, Benjamin, Kracauer DETLEV SCHÖTTKER
Wie stark der Einfluss der Architektur auf die Erfahrungsbildung ist, wird an der Tatsache deutlich, dass sich Menschen intensiv an Räume erinnern können oder von ihnen träumen. Gaston Bachelard hat den Bewusstseinsvorgang der architektonischen Raumerfahrung in autobiographischer, Otto Friedrich Bollnow in systematischer Hinsicht dargestellt.1 Beide Werke sind bis heute unübertroffen, bleiben aber auf einer phänomenologischen Ebene stehen. Fragt man dagegen nach den sozialpsychologischen Grundlagen und der historischen Entwicklung der Architekturwahrnehmung, findet man keine fundierte Darstellung: Während die Architekturtheorie selbst dort, wo sie sich der Wahrnehmung zuwendet, von einem abstrakten architektonischen Raum ausgeht, fehlt den Arbeiten, die sich bisher mit der Kategorie des Raumes beschäftigt haben, ein deutlicher Bezug zum umbauten Raum der Architektur.2
1
2
Vgl. Gaston Bachelard: Poetik des Raumes (frz. zuerst 1957), München: Hanser 1960 und Otto Friedrich Bollnow: Mensch und Raum, Stuttgart: Kohlhammer 1963. Vgl. Ákos Moravánszky (Hg.): Architekturtheorie im 20. Jahrhundert. Eine kritische Anthologie, Wien/New York: Springer 2003; Jörg Dünne/ Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und 137
DETLEV SCHÖTTKER
In Texten von Sigfried Giedion, Walter Benjamin und Siegfried Kracauer, die akademisch und institutionell zwischen allen Stühlen saßen, gibt es allerdings Ansätze zu einer Theorie der Architekturwahrnehmung, in denen psychologische, soziologische und historiographische Zugänge verbunden werden. Walter Benjamins Passagen-Werk nimmt hier eine zentrale Stellung ein, da es eine Synthese im Rahmen einer Theorie der Moderne anstrebte, die bis heute keine Nachfolger fand. Doch blieb das Projekt ein Torso aus Tausenden von Notizen und Zitaten, deren methodische Verbindung nur schwer überschaubar ist. Berücksichtigt man die Ansätze von Giedion, Kracauer und deren Vorläufer, auf die sich Benjamin offen oder verdeckt bezogen hat, dann eröffnen sich Wege zu einer Theoriebildung, die nicht nur für die Baukultur, sondern auch für die Kultur- und Sozialwissenschaften von Bedeutung wäre, wie die aktuelle Debatte über die Rekonstruktion zerstörter Gebäude zeigt, da hier vergangene Raumkonzepte mit gegenwärtigen Wahrnehmungsformen oft unreflektiert miteinander in Beziehung gesetzt werden.
I
Ar c h i t e k t u r z w i s c h e n K u n s t - u n d W a h r n e h m u n g s t h e o r i e : An s ä t z e vo n V i t r u v bis Giedion
In seinen Zehn Büchern über Architektur (um 30 v. Chr.), die als einzige erhaltene Darstellung der Antike die Architekturauffassung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts geprägt hat, geht der römische Architekt Vitruv zum Teil auch auf die sinnliche Erfahrung ein, wenn er die »Schönheit« von Bauwerken neben ihrer »Festigkeit« und »Zweckmäßigkeit« behandelt. In der philosophischen Ästhetik, die sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts konstituierte, ist die Architektur dagegen zunehmend ausgegrenzt worden, weil sie nicht als Kunst, sondern als Handwerk oder Technik galt.3 Baumgarten beschäftigte sich in seiner Aesthetica (17501758), die der neuen Disziplin den Namen gab, ebensowenig mit Architektur wie Lessing in seiner Abhandlung Laokoon (1766), in der Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Künste im Mittelpunkt stehen. Kant berücksichtigte die Architektur in seiner Kritik der Urteilskraft (1790) nicht, da sie, wie er schreibt, »einen willkürlichen Zweck zum Bestimmungsgrund« habe. Andere Konzeptionen, in denen die Architektur als Gegenstand der Erfahrungsbildung eine Rolle spielte wie in
3
Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006; Stephan Günzel (Hg.): Raumwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009. Vgl. Detlev Schöttker: »Auge und Gedächtnis. Für eine Ästhetik der Architektur«, in: Merkur 56 (2002), H. 6, S. 494-507.
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der antiken Mnemotechnik und der Physiognomik der Aufklärung, wurden in Texten von Schriftstellern und Architekten reflektiert, kamen aber in der Ästhetik nicht zum Zuge.4 Zwar haben auch einige Philosophen seit Beginn des 19. Jahrhunderts dem Verdikt Kants widersprochen, doch bekam die Architektur in ihren ästhetischen Schriften nicht wieder jenen Stellenwert als »Mutter der Künste«, der ihr von Vitruv und seinen Nachfolgern zugeschrieben worden war.5 In Die Welt als Wille und Vorstellung (1819) vertrat Schopenhauer die Auffassung, dass das »große Verdienst des Baukünstlers« darin bestehe, »die rein ästhetischen Zwecke« gegen alle praktischen Zwänge dennoch durchzusetzen. Schelling meinte in seinen 1802/03 gehaltenen Vorlesungen zur Philosophie der Kunst (erschienen 1859), dass »Nützlichkeit« in der Architektur »Bedingung, nicht Prinzip« sei. Hegel dagegen unterschied in seinen Vorlesungen über die Ästhetik (18531858) nicht mehr zwischen Zweckbindung und Kunstcharakter der Architektur, sondern definierte sie als »symbolische Kunstform« mit unterschiedlichen Ausprägungen zwischen Universalität, Klassik und Romantik. Diese Überlegungen wurden zwar in der Ästhetik von Friedrich Theodor Vischer (1846-1857) und in der Ästhetik von Georg Lukács (1963) aufgenommen und weitergeführt; Erneuerer aber gab es nicht, so dass die wirkungsmächtigen ästhetischen Werke der Moderne – wie Nietzsches Geburt der Tragödie (1872) und Adornos Ästhetische Theorie (postum 1970) – ohne die Behandlung der Architektur auskommen. Seit Ende des 19. Jahrhunderts hat sich allerdings die Kunstwissenschaft wieder mit der Architektur beschäftigt. Anlass war der Einfluss der wissenschaftlichen Psychologie, so dass nun Fragen der Wirkung und Wahrnehmung von Kunst in den Mittelpunkt rückten.6 Heinrich Wölfflin, August Schmarsow und Alois Riegl haben die neue Perspektive in verschiedenen Arbeiten umgesetzt und sich dabei auch mit dem architektonischen Raum beschäftigt. Dass die Barockarchitektur hier eine zentrale Rolle spielte, hängt mit ihrem Repräsentationscharakter zusammen, der auf sinnliche Wirkung zielt und damit die Grenze zwischen den schönen und den zweckbestimmten Künsten fließend werden lässt. Vor allem der Binnenraum bekam eine herausgehobene Bedeutung, weil 4
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Vgl. Detlev Schöttker: »Architektur als Literatur. Zu Geschichte und Theorie eines ästhetischen Dispositivs«, in: Urs Meyer u.a. (Hg.), Transmedialität. Zur Ästhetik paraliterarischer Verfahren, Göttingen: Wallstein 2006, S. 131-151. Vgl. Hanno-Walter Kruft: Geschichte der Architekturtheorie, München: Beck 1985. Vgl. Götz Pochat: Geschichte der Ästhetik und Kunsttheorie. Von der Antike bis zum 19. Jahrhundert, Köln: DuMont 1986; Christian G. Allesch: Geschichte der psychologischen Ästhetik, Göttingen: Hogrefe 1987. 139
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er – anders als Gemälde und Skulpturen – direkten Einfluss auf die Wahrnehmung und die Erfahrungsbildung ausübt.7 In seiner Dissertation Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur (1886) hat Wölfflin die Baukunst erstmals aus der Betrachterperspektive gedeutet und die Wahrnehmungsform als psychophysisches Nacherleben der Statik aufgefasst: »Wir haben Lasten getragen und erfahren, was Druck und Gegendruck ist [...] und darum wissen wir das stolze Glück einer Säule zu schätzen«.8 August Schmarsow, der sich in seinem Buch Barock und Rokoko (1897) kritisch mit Wölfflins mehrfach aufgelegter Darstellung Renaissance und Barock (1888) auseinandergesetzt hatte, betonte in seiner Antrittsvorlesung Das Wesen der architektonischen Schöpfung (1894) die Raumerfahrung stärker als sein Vorgänger: »Raumgefühl und Raumphantasie drängen zur Raumgestaltung und suchen ihre Befriedigung in der Kunst; wir nennen sie Architektur und können sie deutsch kurzweg als Raumgestalterin bezeichnen.« Die historische Perspektive wird knapp angedeutet und auf die Weltanschauung bezogen: »Die Geschichte der Baukunst ist eine Geschichte des Raumgefühls, und damit bewußt oder unbewußt ein grundlegender Bestandteil in der Geschichte der Weltanschauungen«.9 Alois Riegl schließlich vertrat in seinem Buch Spätrömische Kunstindustrie (1901) die Auffassung, dass ein Kunstwerk das »Resultat« eines »zweckbewußten Kunstwollens« sei, und ging dabei von der Architektur aus, die auf die »Bildung begrenzter Räume« mit der »Möglichkeit freier Bewegung« ziele.10 Damit waren Konzeptionen zu einer Wahrnehmungstheorie der Architektur formuliert, die seit Beginn der 1920er Jahre weitergeführt wurden. In seiner Dissertation Spätbarocker und romantischer Klassizismus (1922) verknüpfte Giedion die Kategorien, die sein Doktorvater Wölfflin zur Unterscheidung des barocken und klassischen Stils ausgearbeitet hatte, mit der Analyse der Raumwahrnehmung: »Der Raum entsteht durch plötzliches Springen in die dritte Dimension. Die psychische Ausdeutung dieses Sprungs wird ihre Rätselhaftigkeit nie verlieren«.11 Herman Sörgel betonte in seiner Architektur-Ästhetik (1921), dass architektonische Räume in erster Linie im »Herumgehen, sukzessive betrachtet 7
Vgl. Bettina Köhler: »Architekturgeschichte als Geschichte der Raumwahrnehmung«, in: Daidalos (1998), Nr. 67, S. 36-43. 8 Heinrich Wölfflin: Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur. Mit e. Nachwort zur Neuausgabe von Jasper Cepl, Berlin: Mann 1999, S. 12. 9 August Schmarsow: Das Wesen der architektonischen Schöpfung. Antrittsvorlesung, Leipzig: Hiersemann 1894, S. 11 und 29. 10 Alois Riegl: Spätrömische Kunstindustrie. Nachdruck der 2. Aufl. Wien 1927, Darmstadt: WBG 1992, S. 9, 25. 11 Sigfried Giedion: Spätbarocker und romantischer Klassizismus, München: Bruckmann 1922, S. 85.
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und künstlerisch aufgenommen« werden, stellte also einen Zusammenhang zwischen Raumerfahrung und Bewegungsvorgang dar.12 Und Leo Adler schließlich verknüpfte in seinem Buch Vom Wesen der Baukunst (1926) Architektur- und Kulturwandel. Bauwerke, so seine These, seien »versteinerte Kulturgeschichte« beziehungsweise »formgewordener Kulturinhalt in der Dreidimensionalität des empirischen Raumes«.13 Alle drei Arbeiten haben die vorausgehenden Theorien in phänomenologischer und historischer Hinsicht erweitert. Doch blieb der Zusammenhang zwischen Architektur- und Erfahrungswandel weiterhin unklar. In diese Lücke stieß Giedions Buch Bauen in Frankreich, Bauen in Eisen, Bauen in Eisenbeton (1928). Der Verfasser stellt hier den Wahrnehmungswandel dar, der seit Mitte des 19. Jahrhunderts von der Ingenieurarchitektur ausging, und verbindet dabei Geschichtsschreibung und Gegenwartserkenntnis: »wir leben nicht nach rückwärts, wir leben nach vorn«.14 Zwar hat sich Giedion mit der Fachliteratur nicht auseinandergesetzt, aber nachdrücklich auf ein Buch hingewiesen, das ihm erst nach Abschluss »in die Hand gefallen« sei: Alfred Gotthold Meyers Eisenbauten. Es erschien 1907, drei Jahre nach dem Tod des Verfassers, behandelt die Ingenieurarchitektur und hat nicht nur Giedion, sondern auch Benjamin beeinflusst, da es über die architekturgeschichtliche Darstellung hinaus einen Beitrag zur historischen Theorie der Architekturwahrnehmung liefert. Meyer geht ähnlich wie Riegl von einem kollektiven »Formenwillen« aus, der die »künstlerischen Äußerungen« einer Zeit und die »großen welthistorischen Stilepochen« präge. Für seine Gegenwart prophezeite er einen neuen »Formenwillen« durch »drei große Stoffkreise«: »1. Eisen, 2. Maschinenkunst, 3. Licht- und Feuerkunst«.15 Giedion übernahm diesen prognostischen Anspruch. Wie Meyer geht er auf die großen Ingenieurbauten ein, die aus Anlass von Weltausstellungen entstanden waren (darunter den Londoner Kristallpalast von 1851 und Eiffels Turm von 1889) und würdigt diese als Vorläufer eines neuen Stils der Transparenz und Klarheit.
12 Herman Sörgel: Architektur-Ästhetik. Theorie der Baukunst. Mit e. Nachwort zur Neuausgabe von Jochen Meyer, Berlin: Mann 1998, S. 193. 13 Leo Adler: Vom Wesen der Baukunst. Die Baukunst als Ereignis und Erscheinung – Versuch einer Grundlegung der Architekturwissenschaft. Neu hg. v. Martin Kieren, Berlin: Mann 2000, S. 16f. und 115. 14 Sigfried Giedion: Bauen in Frankreich, Bauen in Eisen, Bauen in Eisenbeton (1928). Neuausgabe mit e. Nachwort v. Sokratis Georgiadis, Berlin: Mann 2000, S. 1. 15 Alfred Gotthold Meyer: Eisenbauten. Ihre Geschichte und Ästhetik. Mit e. Nachwort v. Tilmann J. Heinisch, Berlin: Mann 1997, Vorwort (unpag.). 141
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Während Meyer auf die »sinnliche Wahrnehmung« hinweist, beschreibt sie Giedion in poetischen Metaphern: »In den luftumspülten Stiegen des Eiffelturms, besser noch in den Stahlschenkeln eines Pont Transbordeur, stößt man auf das ästhetische Grunderlebnis des heutigen Bauens: Durch das dünne Eisennetz, das in den Luftraum gespannt bleibt, strömen die Dinge, Schiffe, Meer, Häuser, Maste, Landschaft, Hafen. Verlieren ihre abgegrenzte Gestalt: kreisen im Abwärtsschreiten ineinander, vermischen sich simultan«.16 In einem Punkt geht Giedion über Meyer hinaus, wenn er darauf hinweist, dass die neuen Formen der Wahrnehmung mit dem Wohnungsbau (bei Peter Behrens, Le Corbusier und anderen) auch zu alltäglichen Bedürfnissen werden: »Unsere innere Einstellung fordert heute vom Haus: Möglichste Überwindung der Schwere.
Abb. 1: Der Eiffelturm in Giedions »Bauen in Frankreich«.
16 S. Giedion: Bauen in Frankreich, S. 7. 142
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Leichte Dimensionierung. Öffnung, Durchspültsein von Luft: Dinge, die die konstruktiven Gestaltungen des vergangenen Jahrhunderts in abstrakter Weise zuerst anzeigten. Damit ist der Punkt erreicht, mit dem das Bauen sich in den allgemeinen Lebensprozeß einreiht«.17 Diese Entwicklung hat Giedion weiterhin beschäftigt: organisatorisch seit 1928 als Generalsekretär des »Congrès Internationaux d’Architecture Moderne« (CIAM) und wissenschaftlich als Verfasser von zwei Büchern, die seit 1938 in den USA entstanden sind und durch Übersetzungen sowie Neuauflagen international bekannt wurden: Space, Time and Architecture (1941) sowie Mechanization Takes Command (1948). In beiden Werken knüpft Giedion an sein Buch Bauen in Frankreich an, beschreibt aber in erster Linie die geistigen Voraussetzungen, die zum Wandel der Technik- und Bauformen geführt haben, nicht deren Einfluss auf den Wandel der Erfahrungsformen.18 Dass ihn auch diese Idee beschäftigte, zeigt ein Buchprojekt mit dem Arbeitstitel Die Entstehung des heutigen Menschen, in dem es um die Auswirkungen der Industrialisierung auf das Seelenleben des Menschen gehen sollte.19 Im Mittelpunkt stand wie in Benjamins Passagen-Projekt das 19. Jahrhundert als Ursprung der Moderne. In den Jahren 1936 und 1937 hat Giedion für sein Buchprojekt in der Bibliothéque Nationale in Paris recherchiert. Ob er Benjamin hier traf und beide über ihre Arbeiten gesprochen haben, ist zwar nicht nachweisbar, aber auch nicht auszuschließen, da sie sich seit 1928, zumindest brieflich, kannten.20
17 Ebd., S. 9. 18 Vgl. Sokratis Georgiadis: Sigfried Giedion. Eine intellektuelle Biographie, Zürich: Amman 1989. 19 Vgl. Sokratis Georgiadis: »Giedions Versuch einer ästhetischen Theorie der Moderne«, in: Ders./Verena Rentsch (Red.), Sigfried Giedion 18881968. Der Entwurf einer modernen Tradition, Zürich: Ammann 1989, S. 17-29. 20 Benjamin hat den Namen Giedions (in der Schreibung ›Gideon‹) außerdem auf einer Liste mit Personen notiert, die die 1936 erschienene Briefanthologie »Deutsche Menschen« und vielleicht auch den im selben Jahr publizierten Aufsatz »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« erhalten sollten. Ein Faksimile der Liste in Erdmut Wizisla: »›Plaquette für Freunde‹. Widmungen für die ersten Leser«, in: Barbara Hahn/Ders. (Hg.), Walter Benjamins ›Deutsche Menschen‹, Göttingen: Wallstein 2008, S. 45-67, hier 56-59. 143
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II Walter Benjamins Ästhetik der Architektur II.1 Architekturreflexionen und ihre publizistischen Kontexte Unter den Philosophen und Schriftstellern der Weimarer Republik war Walter Benjamin einer der wenigen Autoren, die sich mit Architektur beschäftigt haben. Seine Überlegungen orientieren sich am Spektrum der phänomenologischen Architekturreflexion: von der Mnemotechnik über die Physiognomik bis hin zur Wirkungsästhetik Le Corbusiers. Benjamin kannte die entsprechenden Ideen durch Architekturschriften, die er seit den frühen zwanziger Jahren gelesen hatte: darunter Rudolf Borchardts Essay Villa (1908/1920), Paul Valérys Dialog Eupalinos oder Der Architekt (1921) und Emil Kaufmanns Buch Von Ledoux bis Le Corbusier (1933).21 Aber erst Giedions Bauen in Frankreich gab den hier formulierten Überlegungen eine wahrnehmungshistorische Grundlage. Benjamin las das Buch bald nach Erscheinen, nachdem er es vom Verfasser erhalten hatte.22 In einem Brief vom 15. Februar 1929 schreibt er: »Als ich Ihr Buch bekam, elektrisierten mich die wenigen Stellen die ich las derart, daß ich mir vornehmen mußte, nicht eher an die Lektüre zu gehen als bis ich den Kontakt mit meinen ihm verschränkten Untersuchungen in höherem Maße besäße als im Zeitpunkt seines Eintreffens, äußerer Umstände wegen, der Fall war. Seit einigen Tagen sind nun bei mir die Dinge wieder in Fluß gekommen und ich verbringe Stunden über ihrem Buch, in Bewunderung«.23 Diese enthusiastische Reaktion geht auf Überlegungen zu einem Essay über die Passagen in Paris zurück, an dem Benjamin seit 1927 arbeitete. Auch hier handelt es sich um Eisenkonstruktionen, die seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts als glasüberdachte Durchgänge zwischen den großen Boulevards entstanden waren. Die Lektüre von Giedions Buch hat Benjamins Überlegungen in eine neue Richtung gelenkt, wie die Fragmente zeigen, die Rolf Tiedemann in seiner Edition von 1983 veröffentlicht hat.24 Stehen in den frühen Texten (mit den Überschriften »Passagen« und »Pariser Passagen II«) Beschreibungen der 21 Vgl. zu Lektüre und Würdigung der Werke W. Benjamin: GS VII, 447 und VI, 225; VII, 456 und II, 386; VII, 473 und V, 204. Benjamins Texte werden mit Siglen sowie Band- und Seitenzahl nach folgenden Ausgaben zitiert: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. 7 Bde., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1972-1989 (GS); Walter Benjamin: Gesammelte Briefe. 6 Bde., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995-2000 (GB). 22 Vgl. W. Benjamin: GB III, S. 428. 23 W. Benjamin: GB III, S. 443f. 24 W. Benjamin: GS V, S. 1039ff. 144
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Durchgänge und der hier betriebenen Geschäfte im Vordergrund, so behandelt ein späteres Fragment, das nach der Lektüre von Giedions Buch entstanden ist, die architektonische Konstruktion der Passagen: »Anfangs des neunzehnten Jahrhunderts machte man die ersten Versuche mit dem Eisenbau, dessen Ergebnisse im Verein mit denen der Dampfmaschine am Ende des Jahrhunderts das Bild Europas so gänzlich verwandeln sollten«.25
Abb. 2: Galerie des Machines (1889) in »Bauen in Frankreich«.
Doch waren Bücher nicht die einzige Quelle für Benjamins Interesse an der Architektur. Seit Anfang der zwanziger Jahre verfolgte er die Entwicklung der modernen Kunst, deren formale Innovationen seit dem Kubismus auf Verfahren der Ingenieurarchitektur (wie Reduktion, Konstruktion und Montage) basieren.26 Seit 1924 arbeitete er an den Zeitschriften G und i 10 mit, in denen die neuen konstruktivistischen Kon25 Ebd., S. 1060. 26 Vgl. Detlev Schöttker: »Reduktion und Montage. Benjamin, Brecht und die konstruktivistische Avantgarde«, in: Klaus Garber/Ludger Rehm (Hg.), global benjamin. Internationaler Walter-Benjamin-Kongreß 1992. 3 Bde., Bd. 2, München: Fink 1999, S. 745-773. 145
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zeptionen in Kunst und Architektur vorgestellt wurden.27 In der Einbahnstraße (1928) hat Benjamin diese Ideen literarisch umgesetzt, indem er seine Aphorismen in Analogie zu einer Straße gruppierte, um der Schrift im Sinne der neuen Typographie eine räumliche Konstellation zu geben.28 In dem Artikel Bücher, die lebendig geblieben sind, der 1929 in der Frankfurter Zeitung erschien, wird der Einfluss Giedions bereits deutlich. Benjamin nennt hier neben Riegls Spätrömischer Kunstindustrie auch Meyers Eisenbauten und greift in der Begründung auf Überlegungen Giedions zurück: »Dies Buch erstaunt immer wieder von neuem durch den Weitblick, mit dem zu Anfang des Jahrhunderts Gesetzlichkeiten der technischen Konstruktion, die durch das Wohnhaus zu Gesetzlichkeiten des Lebens selbst werden, erkannt und mit kompromißloser Deutlichkeit beim Namen gerufen wurden«.29 In der 1929 verfassten Besprechung des Bandes Kunstwissenschaftliche Forschungen, die 1933 in verkürzter Form in der Frankfurter Zeitung erschien, hat Benjamin nicht nur die kunsttheoretischen Positionen von Wölfflin und Riegl dargelegt, sondern in den Ausführungen zu Carl Linferts Beitrag über Architekturzeichnungen auch eine Unterscheidung zwischen der Wahrnehmung von Architektur als Sehen (im Sinne Wölfflins und Riegls) und als tiefe Erfahrung gemacht, bei der er auf Giedions Begrifflichkeit zurückgreift: »Also kommt es bei der Architekturbetrachtung nicht auf das Sehen, sondern auf das Durchspülen von Strukturen an. Die objektive Einwirkung der Bauten auf das vorstellungsmäßige Sein des Betrachters ist wichtiger als ihr ›gesehen werden‹«.30 Diese These über die mentale Wirkung architektonischer Formen hat Benjamin in dem 1933 veröffentlichten Artikel Erfahrung und Armut wieder aufgenommen. Er stellt hier die Disposition der konstruktivistischen Avantgarde dar und verwendet dafür den Begriff der »Erfahrungsarmut«, den er positiv versteht: »Das haben nun Scheerbart mit seinem Glas und das Bauhaus mit seinem Stahl zuwege gebracht: sie haben Räume geschaffen, in denen es schwer ist, Spuren zu hinterlassen. [...] Erfahrungsarmut: das muss man nicht so verstehen, als ob die Menschen sich nach neuer Erfahrung sehnten. Nein, sie sehnen sich von Erfahrun-
27 G. Material zur elementaren Gestaltung. 1923-1926. Nachdruck. Hg. von Marion von Hofacker, München: Der Kern 1986; Internationale Revue ›i 10‹ 1927-1929. Nachdruck, Nendeln/Liechtenstein: Kraus Reprint 1978. 28 Vgl. Detlev Schöttker: Konstruktiver Fragmentarismus. Form und Rezeption der Schriften Walter Benjamins, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 181-192. 29 W. Benjamin: GS III, S. 170. 30 Ebd., S. 368. 146
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gen frei zu kommen, sie sehnen sich nach einer Umwelt, in der sie ihre Armut, die äußere und schließlich auch die innere, so rein und deutlich zur Geltung bringen können, daß etwas Anständiges dabei herauskommt«.31
Abb. 3: Wohnraum Le Corbusiers in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung. Auch seine eigene Sozialisation sah Benjamin durch Architektur beeinflusst, wie Texte der Berliner Kindheit zeigen, die ab 1932 entstanden sind. In dem Abschnitt »Loggien« weist er darauf hin, dass die Bauweise der großbürgerlichen Berliner Stadthäuser sein Denken geprägt hat, wenn es hier in Anspielung auf Prousts Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit über die »Erinnerung an die Kindheit« und ihre Folgen heißt: »Nichts kräftigte die meinige inniger als der Blick in Höfe, von deren dunklen Loggien eine, die im Sommer von Markisen beschattet wurde, für mich die Wiege war, in die die Stadt den neuen Bürger legte. [...] Ich glaube, daß ein Beisatz dieser Luft noch um die Weinberge von Capri war, in denen ich die Geliebte umschlungen hielt; und es ist eben diese Luft, in der die Bilder und Allegorien stehen, die über meinem Denken herrschen wie die Karyatiden auf der Loggienhöhe auf die Höfe des Berliner Westens«.32
31 W. Benjamin: GS II, S. 217f. 32 W. Benjamin: GS IV, S. 294f. 147
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Die Sensibilität für die mentale Wirkung architektonischer Formen lässt sich auf Benjamins Theorie der Sprache zurückführen, die er im Sinne der späteren Semiotik konzipierte, wie der 1916 geschriebene Aufsatz Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen zeigt. Hier heißt es, dass »jede Äußerung menschlichen Geisteslebens als eine Art der Sprache« aufgefasst werden könne. Es gebe – so eines der Beispiele – »eine Sprache der Technik, die nicht die Fachsprache der Techniker«, sondern eine »Mitteilung geistiger Inhalte« sei.33 In der Berliner Kindheit wird die semiotische Dimension des städtischen Wahrnehmungsraums im Abschnitt »Tiergarten« vergegenwärtigt: »Sich in einer Stadt zurechtfinden heißt nicht viel. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man sich in einem Walde verirrt, braucht Schulung. Da müssen Straßennamen zu dem Irrenden so sprechen wie das Knacken trockner Reiser und kleine Straßen im Stadtinnern ihm die Tageszeiten so deutlich wie eine Bergmulde widerspiegeln«.34 Die Formulierungen erinnern an Überlegungen von Schriftstellern und Architekten, die im letzten Drittel des 18. Jahrhundert Ideen der Physiognomik auf die Architektur übertragen haben.35 Wie vom Gesicht auf das Denken so wurde hier vom Haus auf die Lebensweise der Bewohner, Besitzer oder Auftraggeber geschlossen. In mehreren Städteporträts, die seit 1925 in Zeitungen und Zeitschriften erschienen sind, hat Benjamin in diesem Sinne ebenfalls Gebäude, Plätze oder Interieurs zum Ausgangspunkt genommen, um die Eigenheiten einer Stadt oder seiner Bewohner zu charakterisieren. »Porös wie dieses Gestein«, heißt es im Artikel Neapel, »ist die Architektur. Bau und Aktion gehen in Höfen, Arkaden und Treppen ineinander über. [...] Porosität ist das unerschöpflich neu zu entdeckende Gesetz dieses Lebens«.36
II.2 Das Passagen-Werk und seine theoretischen Kontexte Im Passagen-Werk wird die physiognomische Interpretation architektonischer Räume zur Grundlage einer Deutung der kapitalistischen Moderne. Benjamins Definition des Sammlers als »Physiognomiker der Dingwelt« lässt sich in diesem Sinne als Selbstcharakterisierung auffas-
33 W. Benjamin: GS II, S. 140. 34 W. Benjamin: GS IV, S. 237. 35 Vgl. Klaus Jan Philipp: Um 1800. Architekturtheorie und Architekturkritik in Deutschland zwischen 1790 und 1810, Stuttgart: Menges 1997; Jens Bisky: Poesie der Baukunst. Architekturästhetik von Winckelmann bis Boisserée, Weimar: Böhlaus Nachfolger 2000. 36 W. Benjamin: GS III, S. 309 und 311. 148
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sen.37 In einer frühen Aufzeichnung des Passagen-Werks heißt es mit Blick auf die Ideologie des Kapitalismus, die Benjamin in Anlehnung an das »Vorwort zu einer modernen Mythologie« in Aragons Roman Le paysan de Paris (1926) mit einer mythischen Auffassung gleichgesetzt hat: »Architektur als wichtigstes Zeugnis der latenten ›Mythologie‹. Und die wichtigste Architektur des 19. Jahrhunderts ist die Passage«.38 Die Passage wird damit zur Keimzelle der kapitalistischen Moderne. In der Tat hat dieser Gebäudetyp die ökonomische Kultur der Städte in der westlichen Welt geprägt und verändert.39 Benjamin veranschaulichte die Idee in einem Zitat, das er einem Reiseführer von 1852 entnahm und als »locus classicus für die Darstellung der Passagen« bezeichnete.40 Es findet sich in allen Texten, die er zwischen 1928 und 1939 über den Gegenstand verfasste. Dazu gehört auch das Exposé Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts, das er 1934 als Stipendien-Antrag für das Institut für Sozialforschung schrieb. Es blieb der einzige abgeschlossene Text zu dem Projekt, so dass jede Deutung darauf zurückkommen muss. Das Zitat lautet: »Diese Passagen, eine neuere Erfindung des industriellen Luxus, sind glasbedeckte, marmorgetäfelte Gänge durch ganze Häusermassen, deren Besitzer sich zu solchen Spekulationen vereinigt haben. Zu beiden Seiten dieser Gänge, die ihr Licht von oben erhalten, laufen die elegantesten Warenläden hin, so daß eine solche Passage eine Stadt, eine Welt im Kleinen ist, in der der Kauflustige alles finden wird, dessen er benötigt«.41 Der Marxismus bot keine methodische Basis für die Analyse von Architektur, da die Gründerväter den ökonomischen Wandel und dessen Auswirkungen auf das Denken, nicht aber auf die kulturellen Ausdrucksformen untersucht haben. Die Vertreter der Kritischen Theorie behielten diese Perspektive bei, wie die Publikationen des Frankfurter Instituts für Sozialforschung zeigen, so dass Theodor W. Adorno kein Verständnis für Benjamins Ideen aufbrachte und ihn in einem Brief vom August 1935 aufforderte, zu den ideologiekritischen Deutungsmustern der Anfangszeit zurückzukehren, nachdem er das Passagen-Exposé gelesen hatte: »Wenn ich mit einem gewagten Griff den Bogen meiner Kritik zusammenfassen dürfte, so müßte er, und wie könnte es anders sein, um die Extreme sich schließen. Eine Restitution der Theologie oder lieber eine Radikalisierung der Dialektik bis in ihren theologischen Glut37 W. Benjamin: GS V, S. 274. 38 Ebd., S. 1002. 39 Vgl. auch mit Bezug auf Benjamin Johann Friedrich Geist: Passagen – ein Bautyp des 19. Jahrhunderts. 3. Aufl., München: Prestel 1979. 40 W. Benjamin: GS V, S. 83. 41 Ebd., S. 42. 149
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kern hinein müßte zugleich eine äußerste Schärfung des gesellschaftlichdialektischen, ja des ökonomischen Motives bedeuten«.42 Benjamin aber war zu dieser Zeit längst mit der Erneuerung der Architekturtheorie beschäftigt und orientierte sich dabei an Giedion, wie Zitate und Notizen in verschiedenen Teilen des Passagen-Werks zeigen (besonders in den Abschnitten »Eisenkonstruktion« und »Traumhaus, Museum, Brunnenhalle«).43 In einer frühen Aufzeichnung von 1928/29 heißt es: »Genau so, wie Giedion uns lehrt, aus den Bauten um 1850 die Grundzüge des heutigen Bauens abzulesen, wollen wir aus dem Leben und aus den scheinbar sekundären, verlorenen Formen jener Zeit heutiges Leben, heutige Formen ablesen«.44 In welche Richtung die Deutung gehen sollte, zeigt eine weitere Überlegung: »Versuch, von Giedions These aus weiterzukommen. Er sagt: ›Die Konstruktion hat im 19. Jahrhundert die Rolle des Unterbewußtseins‹. Setzt man nicht besser ein: ›die Rolle des körperlichen Vorgangs‹, um den sich dann die ›künstlerischen‹ Architekturen wie Träume um das Gerüst des physiologischen Vorgangs legen?«45 Die Formel »Architekturen wie Träume« deutet auf die Grundidee des Passagen-Werks hin und erklärt zugleich, warum sein Verfasser den Begriff des »Unterbewußtseins« durch den des »körperlichen Vorgangs« ersetzen wollte. Denn die Konzeption unterscheidet sich von der der Psychoanalyse durch ihren mentalitätsgeschichtlichen Anspruch. Nicht der individuelle Traum als Folge einer Verdrängung von Realität, sondern der kollektive Traum als Zukunftserwartung, also ein religiöses Motiv, stand im Mittelpunkt der Überlegungen.46 Im Exposé schreibt Benjamin: »In dem Traum, in dem jeder Epoche die ihr folgende vor Augen tritt, erscheint die letztere vermählt mit Elementen der Urge42 Walter Benjamin/Theodor W. Adorno: Briefwechsel 1928-1940. Hg. von Henri Lonitz, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 143. 43 Vgl. Heinz Brüggemann: »Walter Benjamin und Siegfried Giedion oder Die Wege der Modernität«, in: Klaus Garber/Ludger Rehm (Hg.), global benjamin. Internationaler Walter-Benjamin-Kongreß 1992, Bd. 2, München: Fink 1999, S. 717-744; Philipp Ekardt: »Passage als Modell. Zu Walter Benjamins Architekturtheorie«, in: Poetica 37 (2005), H. 3-4, S. 429-462. Zur Organisation der Materialien vgl. Willi Bolle: »Metropole & Megastadt. Zur Ordnung des Wissens in Walter Benjamins ›Passagen‹«, in: Hartmut Böhme (Hg.), Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, S. 559-585. 44 W. Benjamin: GS V, S. 572. 45 Ebd., S. 1027 und 494. 46 Vgl. Detlev Schöttker: »Kapitalismus als Religion. Benjamins Deutung der kapitalistischen Moderne zwischen Weber, Nietzsche und Blanqui«, in: Bernd Witte/Mauro Ponzi (Hg.), Theologie und Politik. Walter Benjamin und ein Paradigma der Moderne, Berlin: Schmidt 2005, S. 70-81. 150
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schichte, das heißt einer klassenlosen Gesellschaft. Deren Erfahrungen, welche im Unbewußten des Kollektivs ihr Depot haben, erzeugen in Durchdringung mit dem Neuen die Utopie, die in tausend Konfigurationen des Lebens, von den dauernden Bauten bis zu den flüchtigen Moden, ihre Spur hinterlassen hat«.47
Abb. 4: Pariser Passage.
Um den kollektiven Traum genauer zu charakterisieren, beschäftigte sich Benjamin auch mit dem Interieur des 19. Jahrhunderts, das die Architekturästhetik unbeachtet gelassen hatte. Im Exposé heißt es: »Der Privatmann, der im Kontor der Realität Rechnung trägt verlangt vom Interieur in seinen Illusionen unterhalten zu werden. [...] Der Sammler ist der wahre Insasse des Interieurs. Er macht die Verklärung der Dinge zu seiner Sache. Ihm fällt die Sisyphosaufgabe zu, durch seinen Besitz an den Dingen den Warencharakter von ihnen abzustreifen«.48 Der Samm-
47 W. Benjamin: GS V, S. 47. 48 Ebd., S. 52f. 151
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ler wird damit zum Widerpart des Flaneurs, der die städtischen Räume durchquert, um die ökonomischen Träume des Kollektivs zu erkunden. Unter Hinweis auf »frühe Beiträge zur Physiognomik der Menge bei Engels und Poe« schreibt Benjamin: »Die Menge ist der Schleier, durch den hindurch dem Flaneur die gewohnte Stadt als Phantasmagorie winkt. In ihr ist sie bald Landschaft, bald Stube. Beide baut dann das Warenhaus auf, das die Flanerie selber dem Warenumsatze nutzbar macht. Das Warenhaus ist der letzte Strich des Flaneurs«.49 Was hier mit wahrnehmungspsychologischer Intensität skizziert ist, hat Siegfried Kracauer in einigen Artikeln, in denen er städtisches Leben beschreibt, nüchterner dargestellt. Die wichtigsten Beiträge sind in dem Band Straßen in Berlin und anderswo enthalten, der 1964, ein Jahr nach dem Band Das Ornament der Masse, erschienen ist. Kracauer hatte Architektur studiert und sich schon während seiner beruflichen Tätigkeit der Soziologie zugewandt. Als Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Zeitung beschäftige er sich vor allem mit dem Wandel der Gesellschaft in der Weimarer Republik und dessen kulturellen Erscheinungsformen in den Massenmedien. Die Architektur spielt hier zwar nur am Rande eine Rolle, geht aber in die Analyse städtischer Erfahrungsformen ein, wie die 1930 erschienene Reportage Über Arbeitsnachweise zeigt. Schon der Untertitel »Konstruktion eines Raumes« weist auf das Verhältnis von Architektur und Wahrnehmung hin, dessen soziale Bedingungen Kracauer in methodischer Hinsicht wie folgt kennzeichnet: »Jeder typische Raum wird durch typische gesellschaftliche Verhältnisse zustande gebracht, die sich ohne die störende Zwischenkunft des Bewußtseins in ihm ausdrücken. Alles vom Bewußtsein Verleugnete, alles, was sonst geflissentlich übersehen wird, ist an seinem Aufbau beteiligt. Die Raumbilder sind die Träume der Gesellschaft. Wo immer die Hieroglyphe irgendeines Raumbildes entziffert ist, dort bietet sich der Grund der sozialen Wirklichkeit dar«.50 Hier ist das Programm einer sozialpsychologischen Physiognomik prägnant ausgesprochen. Ihren Ursprung hat die Konzeption im Symbolbegriff Georg Simmels, dessen Schriften Kracauer intensiv gelesen und in einem 1920 erschienenen Aufsatz erläutert hat. Hier heißt es in Abgrenzung zur Metaphysik:
49 Ebd., S. 54. 50 Siegfried Kracauer: »Über Arbeitsnachweise. Konstruktion eines Raumes« (1930), in: Ders., Straßen in Berlin und anderswo. Neuausgabe mit Anmerkungen von Gerwin Zohlen, Berlin: Das Arsenal 1987, S. 66-74, 66f. 152
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»Simmel dagegen ist der geborene Mittler zwischen der Erscheinung und den Ideen. Von der Oberfläche der Dinge dringt er allenthalben mit Hilfe eines Netzes von Beziehungen der Analogie und der Wesenszusammengehörigkeit zu ihren geistigen Untergründen vor und zeigt, daß jene Oberfläche Symbolcharakter besitzt, daß sie die Sichtbarwerdung und Auswirkung dieser geistigen Kräfte und Wesenheiten ist. Das geringfügigste Ereignis weist hinab in die Schächte der Seele, jedem Geschehen kann von irgendeinem Standpunkt aus ein bedeutender Sinn abgewonnen werden.« 51
Simmels Deutung gesellschaftlicher und kultureller Phänomene hat eine ganze Generation von Sozial- und Kulturwissenschaftlern geprägt. Dies gilt auch für den Hamburger Kreis um Aby Warburg, dessen Mitglieder sich mit visuellen Darstellungen und ihrer symbolischen Bedeutung beschäftigt haben. Warburg untersuchte Gebärden auf Gemälden der Renaissance, um Schlüsse auf Erfahrungs- und Denkweisen der Vergangenheit zu ziehen, die bis in die Gegenwart fortdauern. Damit wollte er – im Gegenzug zu Wölfflins Konzeption der Stilanalyse – die Kunstgeschichte als Kulturwissenschaft erneuern.52 In einer Ergänzung zu seinem Vortrag über die Fresken im Schifanoja-Palast von Ferrara, der 1922 gedruckt wurde, betonte Warburg seinen Anspruch auf eine »methodische Grenzerweiterung« der »Kunstwissenschaft«, die er als »historische Psychologie des menschlichen Ausdrucks« verstanden wissen wollte.53 Ernst Cassirer, der im engen Kontakte zu Warburg stand, hat in seinem 1923 erschienenen Aufsatz Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften die theoretischen Voraussetzungen für die kulturhistorische Erweiterung des Symbolbegriffs geschaffen: »Unter einer ›symbolischen Form‹ soll jene Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird.«54 Zwar sind Warburgs und Cassirers Überlegungen erst seit Beginn der dreißiger Jahre durch Aufsätze zur Ikonologie von Fritz Saxl, Edgar 51 Siegfried Kracauer: »Georg Simmel«, in: Ders., Das Ornament der Masse, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 202-248, 242. 52 Martin Jesinghausen-Lauster: Die Suche nach der symbolischen Form. Der Kreis um die kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg, BadenBaden: Koerner 1985. 53 Aby Warburg: »Italienische Kunst und internationale Astrologie im Palazzo Schifanoja zu Ferrara« (1912/1922), in: Ders., Ausgewählte Schriften und Würdigungen. Hg. von Dieter Wuttke. 2. Aufl., Baden-Baden: Koerner 1980, S. 173-198, 191. 54 Ernst Cassirer: »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften«, in: Ders., Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. 8. Aufl., Darmstadt: WBG 1994, S. 169-200, 175. 153
DETLEV SCHÖTTKER
Wind und Erwin Panofsky bekannt geworden55, doch waren Kracauer und Benjamin darauf bereits Ende der zwanziger Jahre aufmerksam geworden, wie ein Brief von Benjamin an Kracauer vom Juli 1928 zeigt.56 Er bezieht sich auf die Rezension eines Bandes mit Vorträgen der Bibliothek Warburg, die kurz zuvor in der Frankfurter Zeitung erschienen war. Dieser Artikel, so Benjamin, bestätigte »die Vermutung, dass die für unsere Anschauung wichtigsten wissenschaftlichen Publikationen sich mehr und mehr um den Warburgkreis gruppieren«.57 Die Verfasserin stellte hier zwei Aufsätze des Bandes vor, Ferdinand Noacks Triumph und Triumphbogen und Erwin Panofskys Perspektive als symbolische Form, und schreibt zum letzteren, hier werde »in ungemein eindringlicher Weise der grundsätzliche Unterschied der antiken und der abendländischen Raumvorstellung dargelegt«.58 Die Rezension ist Benjamin im Gedächtnis geblieben. In einem Brief vom Juni 1936 bat er Adorno, der inzwischen in London lebte, wohin auch die Bibliothek Warburgs per Schriff transportiert worden war, ob er ihm beide Beiträge mit nach Paris bringen könne.59 Doch bekam er offenbar nur den Aufsatz von Noack mit der Post.60 Ob Benjamin den Beitrag von Panofsky je gelesen hat, ist unbekannt. Den methodisch weniger ergiebigen von Noack bezog er dagegen, wie Zitate im Passagen-Werk zeigen61, auf Arnold van Genneps Buch Les Rites de Passage (1909), in dem eine Theorie psychischer Schwellenerfahrung entworfen wird, die von architektonischen Übergängen ausgeht.62 Auch in diesem Fall interessierte sich Benjamin also für den Zusammenhang von Architektur und Erfahrungsbildung. Doch gelang ihm keine systematische Verbindung der verschiedenen Theorieelemente, so dass willige Interpreten die Weiterführung übernehmen müssen. 55 Vgl. Ekkehard Kaemmerling (Hg.): Ikonologie und Ikonographie. Theorien, Entwicklung, Probleme. 6. Aufl., Köln: DuMont 1979. 56 Vgl. zum Kontext Siegrid Weigel: »Bildwissenschaft aus dem Geiste wahrer Philologie. Benjamins Wahlverwandtschaft mit der neuen Kunstwissenschaft und der Warburg-Schule«, in: Detlev Schöttker (Hg.), Schrift Bilder Denken. Walter Benjamin und die Künste, Berlin/Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004; S. 112-127, und Detlev Schöttker: »Bild, Kultur und Theorie: Siegfried Kracauer und Warburg-Kreis«, in: Leviathan 34 (2006), H. 1, S. 124-141. 57 W. Benjamin: GB III, S. 400. 58 Maria Altheim: »Römische Antike«, in: Frankfurter Zeitung, Nr. 29 vom 17. Juli 1928 (Literaturblatt). 59 W. Benjamin: GB V, S. 314. 60 Ebd., S. 430. 61 W. Benjamin: GS V, S. 121 und 521. 62 Arnold van Gennep: Übergangsriten (Les rites de passage), Frankfurt a.M./New York: Campus 1986, S. 25-33. 154
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I I I Ar c h i t e k t o n i s c h e R e k o n s t r u k t i o n u n d historische Erkenntnis In den Debatten über den Wiederaufbau zerstörter Gebäude, die durch die Entscheidung zum Berliner Stadtschloss neu belebt wurden, könnte eine Theorie der Architekturwahrnehmung in der Nachfolge von Giedion, Benjamin und Kracauer erhellende Gedanken beisteuern. Nach einer ersten, wahrnehmungspsychologisch orientierten Kritik am Prinzip der historischen Rekonstruktion in einem Vortrag vor der Bundesstiftung Baukultur im Sommer 2008 hat Wolfgang Pehnt den Stand der Diskussion noch einmal im November 2008 in einem Vortrag vor dem Deutschen Nationalkomitee für Denkmalschutz zusammengefasst und dabei auf Benjamin hingewiesen, um das Desinteresse an der Auseinandersetzung mit Architektur zu charakterisieren: »Walter Benjamin hielt das ›beiläufige Bemerken‹ statt des ›angespannten Aufmerkens‹ für die kanonische Wahrnehmungsart von Architektur. Seine Sicht hat heute Konjunktur«.63 Pehnt bezieht sich hier auf den 1936 veröffentlichten Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in dem Benjamin auf Überlegungen in Arbeiten der Wiener Schule um Riegl zurückgreift, um seine Theorie des Kunst- und Wahrnehmungswandels durch den Einfluss neuer Medien darzustellen.64 Die Architektur spielt hier zwar nur am Rande eine Rolle, hat aber Erkenntnis leitende Funktion für die Form der »optischen Rezeption«. Während im Alltag die zerstreute Wahrnehmung von Gebäuden vorherrsche, gebe es auch eine aufmerksame wie bei »Reisenden vor berühmten Bauten«.65 Diese Form der Betrachtung entspricht der von bedeutenden Gemälden oder Skulpturen, deren Ausstrahlung Benjamin als »Aura« bezeichnet und durch weitere Merkmale wie Einmaligkeit und Traditionsbezug charakterisiert: »Die Einzigartigkeit des Kunstwerks ist identisch mit seinem Eingebettetsein in den Zusammenhang der Tradition«.66 Ursache für die Einzigartigkeit sind Material und Standort. Sie führen dazu, dass ein Werk 63 Wolfgang Pehnt: »Die große Geschichtsvergessenheit. Warum soll imitiertes Altes die Wunden und Brüche der Städte verdecken?«, in: Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Nr. 271 vom 19.11.2008, S. 35. Vgl. zuvor ders.: »Die Stunde der Wiedergänger. Die Sehnsucht nach Geschichte in Architektur und Städtebau«, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 162 vom 14. 7.2008, S. 10. 64 Vgl. im Einzelnen Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Kommentar von Detlev Schöttker, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007. 65 W. Benjamin: GS I, S. 504f. 66 Ebd., S. 480. 155
DETLEV SCHÖTTKER
nach Benjamins Auffassung nicht reproduziert werden kann, ohne seine »Aura« zu zerstören. Akzeptabel seien Reproduktionen einmaliger Kunstwerke nur dann, wenn das Werk in ein anderes Medium wie die Photographie oder den Film überführt wird, da hier kein Original vorgetäuscht werde. Entsprechendes, so ließe sich folgern, gilt für Gebäude, wenn die Fassade durch photographische Reproduktion auf einer Zeltbahn oder durch digitale Animation auf einem Bildschirm erscheint, wie dies auch beim Berliner Stadtschloss praktiziert wurde. Dagegen ist die Verwendung neuer Baumaterialien irritierend, weil das Ergebnis nicht zu einem authentischen Werk führen kann, so dass es – wie bei reproduzierten Gemälden oder Skulpturen – bloße Kopie bleibt. Auch die Frauenkirche in Dresden, bei deren Wiederaufbau alte Steine in die Rekonstruktion eingefügt wurden, gibt sich dem Auge vor Ort schonungslos als solche preis. Als authentisch erscheinen architektonische Rekonstruktionen nur dann, wenn sie durch technische Medien inszeniert und vermittelt werden. Sie sind die wichtigsten Hilfsmittel für die Befürworter und werden deshalb von ihren konsequent eingesetzt, während die Kritiker auf die Kraft sprachlicher Argumente setzen. Man könnte allerdings einwenden, dass das Prinzip der architektonischen Reproduktion schon im 19. Jahrhundert praktiziert wurde, da die Konstruktionen hier mit beliebigen Fassaden versehen worden sind, die von den Betrachtern akzeptiert wurden. Die Architekturgeschichtsschreibung hat allerdings seit jeher Einwände gegen das Verfahren geltend gemacht.67 in seinem Buch Bauen in Frankreich nahm Giedion die Kritik vorweg: »Das 19. Jahrhundert hat alle Neuschöpfungen mit historisierenden Masken umkleidet, ganz gleichgültig auf welchem Gebiet. [...] Man schuf neue Konstruktionsmöglichkeiten, aber man hatte gleichsam Angst vor ihnen, man erdrückte sie haltlos in Steinkulissen«. Darüber hinaus aber gibt es einen entscheidenden Unterschied zur Gegenwart. Denn die Architektur des 19. Jahrhunderts war ein Übergangsphänomen mit »Schwungkraft nach vorn«, wie Giedion ebenfalls dargestellt hat: Die Konstruktionen wurden im Lauf der Jahrzehnte von ihrer Verhüllung befreit, so dass die neuen transparenten Gestaltungsweisen zu Bedürfnissen der Wahrnehmung wurden. 68 In dieser Hinsicht sind die Rekonstruktionen der Gegenwart auch psychologisch und erkenntnistheoretisch ein Rückschritt. Wenn also ein neues Gebäude mit Barockfassaden versehen werden soll wie im Falle
67 Vgl. Henry-Russell Hitchcock: Die Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts, München: Aries 1994. 68 S. Giedion: Bauen in Frankreich, S. 1f. 156
RAUMERFAHRUNG UND GESCHICHTSERKENNTNIS
des Berliner Schlosses, dann wird es zur historischen Kulisse, wie die Kritiker betonen. Das Argument wiegt in diesem Falle allerdings besonders schwer, weil das Berliner Schloss nicht als Denkmal, sondern als museales Forum geplant ist, das im Namen der Brüder Humboldt zu einer gegenwartsbezogenen Auseinandersetzung mit vergangenen und fremden Kulturen beitragen soll. Zwar steht die äußere Form des Gebäudes durch die Entscheidung des Bundestages im Jahr 2002 ebenso fest wie die konkrete Ausführung durch das Votum der Jury im November 2008 für den Entwurf des italienischen Architekten Franco Stella, doch ist die Gestaltung der Innenräume gänzlich ungeklärt, so dass die Diskussion weitergehen wird.
Abb. 5: Siegerentwurf für das Berliner Stadtschloss (Francesco Stella). Wie Vittorio Magnago Lampugnani, der Vorsitzende der Berliner Jury, bereits 1999 in seinem Einleitungsbeitrag für einen Ausstellungskatalog zu den neuen Museumsbauten erläutert hat, ist die Gestaltung von Ausstellungsräumen seit jeher das ungelöste Problem der Museumsarchitektur im 20. Jahrhundert: »In Städten wie Frankfurt am Main gerieten die Museumsneubauten, programmatisch und systematisch geplant, zu veri157
DETLEV SCHÖTTKER
tablen urbanen Erneuerungsmaßnahmen, die nicht nur Stadtreparatur und Stadtergänzung betrieben, sondern der gesamten Gemeinde ein neues Image und Lebensgefühl verliehen. Der Ort indessen, wo die geringste Innovation stattfand, waren eben jene Ausstellungsräume, die ursprünglich im Mittelpunkt der Bauaufgabe Museum gestanden hatten«.69 Welches aber wäre das »Lebensgefühl«, das das Berliner Stadtschloss vermitteln soll? Und welche Konzeption könnte für Ausstellungsräume sinnvoll sein, da zur feudalen Hülle ja keine barocke Wunderkammer kommen soll? In den bisherigen Überlegungen zum Projekt des Humboldt-Forums ist die von Lampugnani skizzierte Problemkonstellation nicht diskutiert worden, wie ein einschlägiger Sammelband zeigt.70 Kann aber ein humanistisches Bildungsideal, das mit dem Namen Wilhelm von Humboldts verbunden wird, durch barocke Fassaden repräsentiert werden? Ist eine feudale Hülle für die Präsentation von Sammlungen fremder Kulturen geeignet, wenn bereits die Anfänge ihrer Erforschung auf einem bürgerlichen Weltbild beruhen wie bei Alexander von Humboldt? Kann also die sinnliche Wirkung eines Barockschlosses mit den Erkenntnisansprüchen der Gegenwart verbunden werden oder steht die Fassade nicht im deutlichen Widerspruch zu dem, was Haus und Räume leisten sollen? Waren Brechts Fragen eines lesenden Arbeiters an die Vertreter der Geschichtsschreibung gerichtet, die daran erinnert werden sollten, dass die großen Städte nicht von Herrschern, sondern von vielen Menschen erbaut und in Kriegen zerstört wurden, wären heute die Auftraggeber und Vertreter der Architektur zu fragen, welchen Beitrag architektonische Rekonstruktionen für die Erkenntnis von Vergangenheit und Gegenwart leisten können. Da der Zusammenhang zwischen Raumerfahrung und Geschichtserkenntnis bisher nicht genügend erhellt wurde, sind Antworten noch zu geben. Als These könnte eine Formulierung aus einem Essay von Kracauer dienen, den er unter dem Titel Aus dem Fenster gesehen in den Band Straßen in Berlin und anderswo aufgenommen hat: »Die Erkenntnis der Städte ist an die Entzifferung ihrer traumhaft hingesagten Bilder geknüpft«.
69 Vittorio Magnago Lampugnani: »Die Architektur der Kunst. Zu den Museen der neunziger Jahre«, in: Ders./Angelika Sachs (Hg.), Museen für ein neues Jahrtausend. Ideen, Projekte, Bauten, München u.a.: Prestel 1999, S. 11-14, 13. 70 Vgl. Guido Hinterkeuser (Hg.): Wege für das Berliner Stadtschloss/Humboldt-Forum. Wiederaufbau und Rekonstruktion zerstörter Residenzschlösser in Deutschland und Europa (1945-2017), Regensburg: Schnell & Steiner 2008. 158
RAUMERFAHRUNG UND GESCHICHTSERKENNTNIS
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B i l d n a c hw e i s e Abb. 1, 2: Sigfried Giedion: Bauen in Frankreich, Bauen in Eisen, Bauen in Eisenbeton, 2. Aufl., Leipzig/Berlin: Klinkhardt & Biermann 1928, Bild 51 und 56. Abb. 3: Bau und Wohnung. Die Bauten der Weißenhofsiedlung in Stuttgart errichtet 1927 nach Vorschlägen des Deutschen Werkbundes im Auftrag der Stadt Stuttgart und im Rahmen der Werkbundausstellung ›Die Wohnung‹, Stuttgart 1927, S. 36. Abb. 4: Heike Delitz. Abb. 5: Francesco Stella.
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Expressiver Außenhalt. Die › Architektur der Gesellschaft‹ aus Sicht de r Philos ophisc he n Anthropologie HEIKE DELITZ
Die Frage nach der Relation von Architektur und Gesellschaft ist sicherlich diejenige, die sich eine soziologische Theorie der Architektur an erster Stelle zu beantworten gezwungen sieht: zumindest, falls sie sich dem materialen Phänomen Architektur (und nicht eher den sozialen Beziehungen im Feld der Architektur) zuwendet. Die Klassiker der impliziten Architektursoziologie und an sie anschließend die neueren Begründungsversuche einer expliziten Architektursoziologie haben für dieses Theorieproblem verschiedene Lösungen gefunden. Prinzipiell lassen sie sich in zwei Alternativen teilen: zuerst und zumeist beobachtet die Soziologie die Architektur in ihren Begriffen als »Spiegel«, »Ausdruck«, »Anzeiger« oder »Symbol« der Gesellschaft. Norbert Elias etwa hat die höfische und bürgerliche Wohnarchitektur derart als einen »Anzeiger« der Gesellschaft angesprochen – wohl wissend, dass die Architektur selbst Effekte hat, aber ohne dies explizit, also begrifflich deutlich zu machen. Adorno interessiert, wie »gesellschaftliche Strukturmomente« in der Kunst sich manifestieren; explizit geht es dieser Soziologie nicht darum, »wie die Kunst in der Gesellschaft [...] wirkt«, sondern wie sich die »Gesellschaft« umgekehrt in Kunst und Architektur »objektiviert«.1 1
Theodor W. Adorno: »Thesen zur Kunstsoziologie«, in: Ders., Kulturkritik und Gesellschaft I, Gesammelte Schriften 10.1, Darmstadt: WBG 1998, S. 367-374, 374. Vgl. in diesem Sinn die auffälligste Architektursoziologie der 1960er in der BRD: Klaus Horn/Heide Berndt /Alfred Lorenzer: Architektur als Ideologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1968. 163
HEIKE DELITZ
Auch die gender studies sprechen in diesem Sinn von »symbolischen Geschlechterzuordnungen« in der Architektur: einer Symbolik, die auf einer grundlegend binären Ordnung der Gesellschaft beruht und diese »ausdrückt«.2 Und nicht nur in Soziologie, auch in Archäologie, Ethnologie, Kunstgeschichte, Politikwissenschaft ist derart zumeist von Architektur als »Ausdruck« die Rede, zumeist als »Ausdruck von Macht«. Implizit konzipiert man damit aber die Architektur als eine ›Kopie‹ oder als »Objekt« des ›eigentlichen‹ Sozialen. Bereits die klassische soziologische Theorie hat diese bis heute selbstverständliche Fassung des Sozialen entfaltet, die sich für die Architektursoziologie als zu restriktiv erweist. Denn die soziologische Theorie neigt stets zu einer selbstbewusst soziozentrischen Fassung des Sozialen: es ist reine »Kommunikation«, »sinnverstehendes Handeln«, »rationale Wahl«, moralisch verpflichtende »Institution«. Dabei wird das Soziale von allerhand ›NichtSozialem‹ gereinigt – während es von den Dingen und zumal dem Gebauten faktisch durchquert ist und umstellt wird. Die Artefakte sind in der Mehrzahl der soziologischen Theorien passive Objekte, ›Handlanger‹, Vermittler oder eben symbolhafte Verdopplungen der als unabhängig und vorgängig konzipierten Interaktionen oder sozioökonomischen Strukturen. Die klassischen Grundbegriffe zwingen geradezu dazu, die Architektur als passiv zu verstehen. Die zweite Möglichkeit ist, der Architektur explizit, also begrifflichkonzeptionell, eine spezifische Aktivität hinsichtlich des Sozialen zuzubilligen. Um die Architektur derart nicht als einen nachrangigen Ausdruck und nicht als ein Objekt, sondern als ein aktives »Medium« des Sozialen zu verstehen, bedarf es in der Tat einer Umstellung der soziologischen Theorie bis in ihre Grundbegriffe hinein. Im Versuch, die soziale Effektivität der Architektur zu denken, sieht man sich auf eine recht überschaubare Zahl alternativer Denkmöglichkeiten verwiesen. Unter den Klassikern ist Walter Benjamin hervorzuheben: er verstand zwar sicherlich die Konsumarchitektur des 19. Jahrhunderts zunächst als eine »Fossilie«, die als »Abdruck« Aufschluss über die Genese der modernen Konsumgesellschaft gibt, nicht ohne aber den Passagen auch eine aktive Rolle in dieser Genese zuzugestehen, eine subjektformierende Affektivität, die in der Architektur, in den von ihr nahe gelegten Blicken und Bewegungen (im Takt der Schildkröte) steckt. Die soziale »Positivität« der Architektur hat am tiefsten aber sicherlich Michel Foucault am
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Kerstin Dörhöfer: »Symbolische Geschlechterzuordnungen in Architektur und Städtebau«, in: Martina Löw (Hg.), Differenzierungen des Städtischen, Opladen: Leske + Budrich 2002, S. 127-140.
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EXPRESSIVER AUSSENHALT
Fall der Disziplinararchitekturen sichtbar gemacht.3 Auch dies sind keine explizit architektursoziologischen und damit keine konzeptionellen, Begriffe schaffenden Überlegungen. Grundlegend bedarf es angesichts der visuellen und kinästhetischen Aspekte der Architektur – der Tatsache, dass sie unseren Körper und unsere Blicke betrifft – einer nicht identitäts- oder repräsentationstheoretischen Begrifflichkeit; einer nicht cartesianischen Denkweise; einer Artefaktsoziologie; (zumindest im Fall der modernen Architektur) einer Soziologie des kreativen Handelns, der (nicht nur technischen) Erfindung; und einer Theorie der Affektivität. Eine Möglichkeit, die architektonischen Artefakte derart grundlegend zu berücksichtigen, bietet die französische »Lebenssoziologie«. Gilles Deleuze, Cornelius Castoriadis, Michel Maffesoli haben soziologische Theorien entfaltet, deren Gemeinsamkeit im Denken der Immanenz, des Werdens, der Differenz besteht. Auf unterschiedliche Weise stehen sie in der Tradition der französischen Lebensphilosophie. Diese »vitalistische« Soziologie versteht bei Deleuze unter dem sozialen Sein nicht lediglich die intentional handelnden Subjekte, sondern gleichermaßen alle »Körper« in einem aktiven »Gefüge«: die anorganischen, organischen, menschlichen und architektonischen Körper mit ihren Affekten sind gleichermaßen »socii«4, die nur zusammen beschreibbar sind. Castoriadis erlaubt es demgegenüber, den visuellen Aspekt der Architektur hervorzuheben: ihre konstitutive symbolische Dimension. Sie ist die »Gestalt«, in der sich die Gesellschaft als solche allererst instituiert.5
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Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976. Vgl. zu Foucaults Konzeption Gilles Deleuze: »Ein neuer Kartograph (Überwachen und Strafen)«, in: Ders., Foucault, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 39-69. Robert Seyfert: »Zum historischen Verhältnis von Lebensphilosophie und Soziologie und das Programm einer Lebenssoziologie«, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungsband des 33. Kongresses der DGS in Kassel, Frankfurt a.M.: Campus 2008, CD, 46844694, 4687. Der Vorschlag, Architektur als »Medium des Sozialen« zu konzipieren, greift neben der Philosophischen Anthropologie (Heike Delitz: »Architektur als Medium des Sozialen. Ein Vorschlag zur Neubegründung der Architektursoziologie«, in: Sociologia Internationalis 43 (2005), H. 1-2, S. 1-25) insbesondere auf diese Soziologie in der Tradition Henri Bergsons zurück: Dies.: Architektur als Medium des Sozialen, phil. Diss. TU Dresden 2009. ›Vitalismus‹ ist vieldeutig und wird zumeist polemisch benutzt gegen die vorgebliche Annahme eines ›Lebensfaktors‹ sowie gegen die nietzscheanische Lebensphilosophie. Die französische Philosophie erlaubt, darunter eine Philosophie der Differenz (an Stelle der Identitätsphilosophie) und eine Ontologie der Immanenz (an Stelle des Dualismus) zu verstehen, im 165
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Einen ähnlichen Ansatz verfolgt die »symmetrische Anthropologie« Bruno Latours, wenn auch mit anderen Begriffen, und vergleichsweise eng geführt in der Entfaltung einer Artefaktsoziologie. Eine grundlegend nicht cartesianische und nicht identitätslogische Denkmöglichkeit bietet ebenso die Philosophische Anthropologie. Auch sie ist eine aus der Lebensphilosophie herausragende Denkweise, die erlaubt, den menschlichen Körper und seine Artefakte grundlegend hinsichtlich des Sozialen zu berücksichtigen. Gegenüber dem französischen »Vitalismus« betont diese Denkweise stärker die vom deutschen Idealismus (und auch der deutschen Soziologie) betonten kognitiven Aspekte; die Differenz tierischer und menschlicher Körper, welche die Eigenart nicht zuletzt des sozialen Lebens des Menschen erklärt; die Notwendigkeit einer Stabilisierung des menschlichen Lebens.6 Eine Architektursoziologie aus Sicht dieser Philosophischen Anthropologie zu skizzieren, ist in mehrfacher Hinsicht voraussetzungsvoll. Es handelt sich zunächst nicht einfach um ein soziologisches Paradigma, sondern um einen philosophischen Denkansatz, der in den 1920ern im Impuls entsteht, gegen die zeitgenössische Evolutionsbiologie und den ebenso einseitigen Idealismus den »ganzen Menschen« in den Blick zu nehmen – allerdings mit soziologischen Konsequenzen. Es ist der soziologischen Theorie keineswegs äußerlich, welches Menschenbild sie hat. Anders als die meisten Soziologien expliziert diese die anthropologische Basis ihrer Gesellschaftsanalyse und -kritik. Max Scheler, Helmuth Plessner und Arnold Gehlen sind damit in je verschiedener Weise Klassiker der soziologischen Theorie und Kultursoziologie geworden.7 Zudem entfaltet der Denkansatz eine Kulturphilosophie, die sich in Hinsicht auf das »Medium« Architektur als hilfreich erweisen wird, indem sie die Materialität der Architektur ausbuchstabiert: die Eigenlogik ihres Ausdrucks jenseits des Diskursiven, die auch nicht im Visuellen auf-
6 7
Ausgang vom stetigen Anders-Werden als Grundcharakteristikum des (sozialen) Lebens. Vgl. R. Seyfert: Zum historischen Verhältnis. Vgl. Joachim Fischer: Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts, Freiburg/München: Alber 2008. Zur Wirkung der Philosophischen Anthropologie in der Soziologie KarlSiegbert Rehberg: »Philosophische Anthropologie und die ›Soziologisierung‹ des Wissens vom Menschen. Einige Zusammenhänge zwischen einer philosophischen Denktradition und der Soziologie in Deutschland«, in: M. Rainer Lepsius (Hg.), Soziologie in Deutschland und Österreich 1918-1945. SH 23 der KZfSS, Opladen: Westdeutscher Verlag 1981, S. 160-198; Joachim Fischer: »Philosophische Anthropologie – ein wirkungsvoller Denkansatz in der deutschen Soziologie nach 1945«, in: Zeitschrift für Soziologie 35 (2006), H. 5, S. 322-347.
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geht.8 Für die Architektursoziologie aus Sicht der Philosophischen Anthropologie lohnt es, neben Plessner9 mindestens auch Gehlen und Rothacker zu berücksichtigen; beide haben hin und wieder selbst auf die Architektur hingewiesen, vor allem aber Kulturanthropologien entfaltet. Im Folgenden handelt es sich zunächst darum, den Ansatz zu skizzieren, sowohl grundsätzlich hinsichtlich der Theorie des Menschen als auch hinsichtlich der Konzeption des Sozialen. Zweitens geht es um die Frage, wie sich die Architektur im Denkansatz darstellt, welche Architektursoziologie sich daraus also entfalten lässt. Schließlich wird versucht, die Aufschlusskraft des Ansatzes an einem aktuellen architektonischen Fall anzudeuten: am Fall der gegenwärtig als architektonisch wegweisend verstandenen dekonstruktiven Architektur.
1 P h i l o s o p h i s c h e An t h r o p o l o g i e a l s D e n k a n s a t z soziologischer Theorie 1.1 Die Theorie des Menschen Philosophische Anthropologie ist eine – besondere – Theorie des Menschen. Der Ansatz kennzeichnet sich durch ›psychophysisch neutrale‹ Grundbegriffe aus, um die (gerade auch in der Soziologie) geläufigen cartesianischen Trennungen zu unterlaufen. Um den ›ganzen‹ Menschen zu denken, beginnt der Ansatz nun nicht an Kultur oder Sozialität, sondern am Leben: an der organischen Natur, die Pflanze, Tier und Mensch teilen. Der Ansatz geht aus von der biologischen Einsicht des Zwangs zu Lebenserhaltung und -reproduktion. Dabei setzt sich die Philosophische Anthropologie von der dominanten evolutionsbiologischen Anthropologie ab, die stets nur graduelle Differenzen zwischen Mensch und Tier 8
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Vgl. zur Eigenlogik des Mediums Heike Delitz: »Zur Ästhesiologie und Philosophischen Anthropologie der Architektur«, in: Internationales Jahrbuch für Philosophische Anthropologie 1, Berlin: Akademie 2008, S. 6583. »Plessners Begriff für den Menschen [...] ist wie kein anderer geeignet, die Relevanz des gebauten und umbauten Raumes für die menschliche Sozialkonstitution bereits vom Ansatz her in den Blick zu nehmen«. Joachim Fischer: »Die Bedeutung der Philosophischen Anthropologie für die Architektursoziologie«, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Soziale Ungleichheit – Kulturelle Unterschiede. Verhandlungen des 32. Kongresses der DGS in München 2004, Frankfurt a.M./New York: Campus 2006, CD, S. 34173429, 3418. Vgl. ders.: »Exzentrische Positionalität. Der Potsdamer Platz aus der Perspektive der Philosophischen Anthropologie«, in: Ders./Michael Makropoulos (Hg.), Potsdamer Platz. Soziologische Theorien zu einem Ort der Moderne, München: Fink 2004, S. 11-32. 167
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sieht; sowie grundlegender noch von allen mechanistischen Biologien, die das Leben in eine Kette physischer oder chemischer Reaktionen auflösen. Aus diesem spezifischen Blick auf den Menschen als Lebewesen ergibt sich eine charakteristische Betrachtung der menschlichen Sozialität: ein spezifischer Ansatz soziologischer Theorie. Statt den »Schritt von der Erde zum Himmel«10 so schnell zu machen wie die traditionelle Philosophie und die aktuelle Soziologie – in der Behauptung des konstruktiven Charakters der menschlichen Natur – schließt sich die Philosophische Anthropologie an bestimmte Philosophien des Organischen an: an »vitalistische« Biologien, die in ihrer Reserve gegenüber Reduktionen des Lebens auf chemische Prozesse auch einen Spielraum für die Besonderheit menschlichen Lebens eröffnen. Zu nennen sind hier vor allem Biophilosophien, denen es um die Eigendynamik des Lebens geht, um die unvorhersehbare, »schöpferische« Differenzierungstendenz (Henri Bergson) und um die Ausbildung eines »inneren Milieus«, einer »Individualität« als Merkmal des Lebens (Hans Driesch). Die dritte biologische Bezugstheorie ist die Umwelt-Innenwelt-Theorie Jakob von Uexkülls: die These, jedes Tier sei seinem inneren »Bauplan« gemäß in eine je selektive »Umwelt« eingepasst, es habe also stets wenige spezifische Wahrnehmungen der »Welt«. Das Leben ist diesen Biophilosophien zufolge weder bloße Anpassung noch chemisch-physikalische Reaktion.11 Diese Theorie des Lebens wird in die Philosophische Anthropologie übernommen und für den Menschen zugleich korrigiert: dieses Lebewesen weist keinen »Bauplan« für eine bestimmte »Umwelt« auf; es ist das unspezialisierte und »weltoffene« Tier.12 Bereits organisch besitzt dieses Lebewesen eine Sonderstellung, eine beispiellose organische, nervöse und motorische Plastizität, die mit einer »Erwerbmotorik« gegenüber der tierischen Erbmotorik einhergeht; einer Phantasie-, statt Instinktsteuerung der Bewegung; einer einmalig langen Reifungsphase sowie einer unvergleichlichen Zerebralität.13 Bei allen Autoren des Denkansatzes ist der biologisch informierte Tier-Mensch-Vergleich die grundle10 Erich Rothacker: »Grundfragen der Kulturanthropologie«, in: Universitas 1957, S. 479-488, 480. 11 Henri Bergson: Schöpferische Entwicklung, Jena: Diederichs 1912. Hans Driesch: Philosophie des Organischen, Leipzig: Engelmann 1909. Jakob v. Uexküll: Umwelt und Innenwelt der Tiere, Berlin: Springer 1909. 12 Max Scheler: »Die Stellung des Menschen im Kosmos« (1928), in: Gesammelte Werke 9, Bern/München: Francke 1976, S. 7-71. 13 Otto Storch: Die Sonderstellung des Menschen in Lebensabspiel und Vererbung, Wien: Springer 1948. Adolf Portmann: »Die biologische Bedeutung des ersten Lebensjahres des Menschen«, in: Schweizerische Medizinische Wochenschrift 71 (1941), H. 32, S. 921-931. 168
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gende Theorieentscheidung, also die Konzeption des Menschen in Kontinuität und Divergenz zum Tier. Anders gesagt, werden biologisch informierte Differenztheorien des Lebens als Grundlage der Betrachtung der menschlichen Phänomene entfaltet: Theorien der unterschiedlichen Lebensweise von Pflanze, Tier, Mensch hinsichtlich ihrer Umweltrelation. Alles Lebendige vom Einzeller bis zum Mensch unterscheidet sich nach Plessner vom Anorganischen durch die eigenständige Abgrenzung gegenüber der Umgebung: »Lebendige Dinge« sind »grenzrealisierende Dinge«.14 Anders als die Pflanze, die in ihrem Medium aufgeht und kaum eine Eigenaktivität besitzt, sind Tiere mit zunehmender innerer Komplikation gegen ihr Umfeld gestellt; sie sind durch ein Zentralnervensystem in eine Frontalstellung zum Medium gebracht, stecken in ihrer Körpergrenze, können auf Situationen antworten und bereits etwas probieren; Tiere sind intelligent und in diesem Sinn ›bewusst‹; sie sind, wie Plessner sagt, gegenüber der Pflanze »geschlossene Positionalitäten«. An dieser Lebensform partizipiert grundlegend auch der Mensch. In ihm stellt sich aber eine Unterbrechung des Reiz-Reaktions-Kreislaufes ein, ein »Hiatus« des Funktionskreises von Innen- und Umwelt, mit dem eine besondere Reflexivität einhergeht. Nur dieses Leben ist sich selbst gegeben; es steht in Distanz zum eigenen Leib als »Körper«, es ist »exzentrisch positioniert« gegenüber der tierischen und pflanzlichen »Positionalität«, ihrer Gesetztheit in das Umfeld. Als Lebewesen ist auch der Mensch gezwungen, seine Körpergrenze aufrechtzuerhalten. Nur ihm ist dies aber eine »Aufgabe«. Organisch unspezialisiert und unangepasst, ist dieses Lebewesen nicht nur gegenüber seiner Umwelt, sondern vielmehr auch in seinem ›inneren‹, nervösen Leben »ungewöhnlich heikel ausbalanciert«. Anders als das Tier hat der Mensch eine »Reihe von z.T. höchst peinlich sich auswirkenden angeborenen Drängen und Trieben« und relativ wenige Instinkte. Nur der Mensch schafft mit verstärkten, verlängerten, erfundenen Organen eine künstliche Umwelt; vor allem aber auch eine ›künstliche‹ Innenwelt: nur er braucht und schafft sich ein künstliches Gleichgewicht durch Artefakte, Routinen, Institutionen. Angesichts der einströmenden Reize und der inneren überschüssigen Antriebe handelt es sich darum, nicht nur das Bild der Außen-, sondern auch der Innenwelt zu fixieren. In vielfacher Hinsicht also ist der Mensch das »natürlich künstliche« Lebewesen.15 14 Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928), 3. Aufl., Berlin: de Gruyter 1975, S. 99ff. 15 Erich Rothacker: Philosophische Anthropologie (Vorlesung WS 53/54) (1964), 2. verb. Aufl. Bonn: Bouvier 1966, S. 175. 169
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Mit der Leistung der Institutionen ist eine erste Sozialtheorie des Denkansatzes angesprochen.16 Institutionen – der klassische Gegenstand der Soziologie – sind ein ›artifizieller‹ Außen- und Innenhalt, indem sie Motive, Handlungen, Vorstellungen und soziale Beziehungen kanalisieren und habitualisieren; sie auf Dauer stellen gegenüber den stets erneut einströmenden wechselnden Reizen, den Begehren und Affektionen.17 Solche Stabilisierungen sind Gehlen zufolge zwingend auf Anschaulichkeit verwiesen: sie bedürfen der Verkörperung. Da die menschliche Bewegung sich durch ein »ursprüngliches und im Grunde nicht ausgleichbares Missverhältnis zu sich und seiner Sensorik« auszeichnet, wird die gesamte körperliche Existenz des Menschen als »Verkörperung« bestimmt, als Verhalten zu sich »als Körper und zu seinem Körper«.18 Institutionen sind »Verkörperungen« bestimmter Handlungen, die sie »im Intitialzustand« auf Dauer stellen, und damit die fließende Innenwelt der Einzelnen fixieren. Indem Institutionen primäre Lebensbedürfnisse in die »Hintergrunderfüllung« schieben, erlauben sie dem menschlichen Leben, stets erneut die Routine zu verlassen und etwas Neues zu unternehmen. Aus der überschüssigen Vitalität gegenüber der bloßen Bedürfnisbefriedigung speist sich alle Kultur.19 Einerseits ist der Mensch im Denkansatz dieser Anthropologie also ein antriebsüberschüssiges, ›nicht festgestelltes‹ Tier: ein »Erdenkloß, sehr hilflos«.20 Zugleich ermöglicht ihm dies aber erst kreative Einfälle; nicht zuletzt ›Kultur‹. Die Einrichtungen, Verhaltensweisen, Motivationen, Welt-, Selbst- und Mitweltverhältnisse sind erfinderische Umschaffungen des nicht festgestellten Tieres, das sich immer anders sieht und
16 Vgl. Arnold Gehlen: Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, hg. von Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt a.M.: Klostermann 2004, S. 206 u.ö. 17 »Affekt« wird hier im philosophischen Sinn des Wortes gebraucht. Affekte bezeichnen bei Spinoza die verschiedenen Arten, auf die ein Körper andere Körper erregt oder von ihnen erregt wird, wobei sie dessen Wirkungsmacht mehren oder mindern. Von Gefühlen oder Affekten zu sprechen, ist der Unterschied, ob man am Subjekt ansetzt oder an der Relation verschiedener Körper. Baruch de Spinoza: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt (1677), Hamburg: Meiner 1999. Im Anschluss daran die Betonung des Kunstcharakters der Architektur als Schaffung von Affekten und Perzepten: Gilles Deleuze/Félix Guattari: Was ist Philosophie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 207. 18 Helmuth Plessner: »Die Verkörperungsfunktion der Sinne«, in: Studium generale 6 (1953), S. 410-416, 410. 19 A. Gehlen: Urmensch, S. 119, 133, 299. 20 Erich Rothacker: »Geschichtsphilosophie«, in: Alfred Bäumler (Hg.), Handbuch der Philosophie. Abt. IV, München/Berlin: Oldenbourg 1934, S. 3-150, 46. 170
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damit anders wird. Stellt die ungesicherte Vitalität einerseits eine »Belastung« dar, so profitiert das Leben im selben Zug also von der Plastizität der Bewegungen, Bedürfnisse, Lebensformen und dem Trend zu »Mehr-Leben«, der in der Kanalisierung der Antriebe ungeheure Steigerungen erlaubt. Nicht zuletzt die Kunst und in ihr die Architektur ist derart nach Gehlen als die »Steigerung des Menschen zu sich selbst« zu verstehen: Architektur hat eine Affektivität, sie fasziniert oder erzeugt Anti-Affekte.21 In der Unspezialisiertheit ist dieses Lebewesen äußerst variabel: es lebt in historisch, sozial, kulturell äußerst differenten Welten und bleibt dabei angewiesen auf »Dauerantworten« in einer »Dauerlage«: auf Lebensstile, die Körpertechniken, technische Artefakte, Wirtschaft, Kunst und nicht zuletzt die Architektur umgreifen und aus der Welt einen »Lebenshorizont« machen, eine künstliche Umwelt.22 In all dem gibt es eine aufschlussreiche Differenz zu tierischem Leben: An Stelle des tierischen »Drangs« steht beim Menschen das »Interessenehmen«, an Stelle des »Bauplans« (J. v. Uexküll) der »Lebensstil«, an Stelle der »Umwelt« der künstliche Horizont, die Trennung in ›Völker‹, ›Nationen‹ und ›Gesellschaften‹. In der exzentrischen Positionalität oder der Handlung (Gehlen) und damit auch der Angewiesenheit auf Sozialität und Geschichte liegt die auf den Begriff gebrachte Differenz zu allen anderen Lebewesen. Ersichtlich integriert diese Anthropologie die Bedenken historischer Anthropologien: statt den Menschen auf ein ›Wesen‹ ›festzulegen‹ (wie Kritiker vorschnell meinen), versteht sie den Menschen zutiefst als das stets anders-werdende Leben. Ausdrücklich spricht Plessner von der »Unergründlichkeit« des Menschen für sich selbst, vom »homo absconditus« als einem Aspekt der »exzentrischen Positionalität«23; ebenso betont Arnold Gehlen die Variabilität des Menschen, seiner Selbst-, Sozial- und Weltverhältnisse.
21 Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940/1950). Textkritische Edition unter Einbeziehung des gesamten Textes der 1. Auflage von 1940, 2. Teilbde. Arnold-Gehlen-Gesamtausgabe 3, hg. von Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt a.M.: Klostermann 1993, S. 378ff., 422ff. und ders.: Urmensch, S. 9. 22 E. Rothacker: Geschichtsphilosophie, S. 46. Ders.: Kulturanthropologie (1942), 4. Aufl., Bonn: Bouvier 1984, S. 120. 23 Helmuth Plessner: »Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht« (1931), in: GS V, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 135-234 und ders.: »Homo absconditus« (1969), in: GS VIII, Frankfurt a.M. 1983, S. 353-366. 171
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1.2 Die Soziologie des Denkansatzes Aus der tiefgreifenden Differenz zum tierischen Leben erklärt der Denkansatz die Notwendigkeit und das Spektrum menschlicher Sozialität. Die Philosophische Anthropologie hat bei Scheler (Wissenssoziologie), Plessner (Theorie der Rollen und der Öffentlichkeit, Wissenssoziologie) und Gehlen (Institutionentheorie, Gesellschaftsdiagnose, Kunstsoziologie) zu eigenen soziologischen Forschungen geführt. In jedem Fall handelt es sich um eine kultursoziologische Perspektive: insofern ›Kultur‹ die ›Natur‹ des Menschen ist. Zugleich zeichnet sich der Denkansatz durch eine grundlegende Berücksichtigung des menschlichen Körpers und seiner Vitalität aus. Der Mensch ist das sich selbst unergründliche Wesen; er ist – so Plessner – für andere wie für sich selbst auf einen »Ausdruck« verwiesen, auf »Masken«, die dem Selbst zugleich einen Spielraum für das stetige Anders-Werden lassen.24 Das menschliche Leben bedarf mit der »Maske« (das intersubjektive Verhältnis betreffend) zugleich der Verkörperung, der »Rolle«, die eine Fixierung des Verhaltens und eine gegenseitige Erwartbarkeit schafft (das interaktive Verhältnis betreffend). »Rollen« sind ihrerseits auf »Institutionen« angewiesen: die das Handeln und das Subjekt, so Gehlen, auf Dauer stellen. Institutionen haben dabei eine Eigengesetzlichkeit, in der sie sich von der Intention des Einzelnen ablösen, der vielmehr »von ihnen her handelt«.25 Sie stabilisieren derart das Innere, produzieren soziale Charaktere, Subjekte. Diese Leistung bleibt nun – und damit kommt die Architektur ins Spiel – verwiesen auf die »Darstellung«. Die Fixierung des Sozialen (und damit dieses selbst) bedarf der Verkörperung, nicht zuletzt der Architektur. Diese Konzeption führt aber nicht nur zu einer grundlegenden Sozialtheorie; sie führt unter anderem auch zu einer Soziologie der Macht sowie zu Gesellschaftsdiagnosen.26 Die sozialen Implikationen des Körpers, der Vitalität werden möglicherweise aber erst in einer ausbuchstabierten Architektursoziologie des Denkansatzes sichtbar.
24 H. Plessner: Macht. 25 A. Gehlen: Urmensch, S. 18. 26 Heinrich Popitz: Phänomene der Macht. 2., stark erw. Aufl., Tübingen: Mohr 1992. Ders.: Der Aufbruch zur artifiziellen Gesellschaft. Zur Anthropologie der Technik, Tübingen: Mohr 1995. Ders.: Wege der Kreativität, Tübingen: Mohr 1997. Arnold Gehlen: Die Seele im technischen Zeitalter und andere sozialpsychologische, soziologische und kulturanalytische Schriften. Hg. von Karl-Siegbert Rehberg. GA 6, Frankfurt a.M.: Klostermann 2004. 172
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2 Ar c h i t e k t u r i m D e n k a n s a t z Hinsichtlich einer komplexen Soziologie der Architektur sind dann mindestens folgende Aspekte im Blick zu halten: Die anthropologische Notwendigkeit der anschaulichen Verkörperung der Institutionen rückt die phänomenale Gestalt der Architektur in den soziologischen Blick. Die Angewiesenheit auf Werkzeug, Bekleidung und Behausung führt zweitens zur Architektursoziologie als Artefakt-Soziologie. Und aus der Annahme der »vermittelten Unmittelbarkeit«27, die zu expressiven Erscheinungen zwingt, ergibt sich eine Soziologie, die das Spiel von Bau und Gegenbau hinsichtlich seiner nichtsprachlichen »Kommunikation« beobachtet, und diese auf die verschiedenen sozialen Standorte relationiert.28 Nicht zuletzt führt die (auch: historische) Anthropologie zu einer Soziologie der Avantgarde und zugleich zur Soziologie des kollektiven Gedächtnisses oder der ›sozialen Morphologie‹. Der Mensch schafft sich aus Sicht der Philosophischen Anthropologen in seinen Artefakten zunächst ein überlebenswichtiges »Milieu«: in seinen »Häusern, Hütten, Zelten und intensiver noch mit deren Einrichtungen« stellt er Räume, Dinge und Menschen »um seinen Leib herum«.29 Philosophische Anthropologie hält die existentielle Notwendigkeit des Gebauten fest, das schlichte Dach über dem Kopf. Darüber hinaus ist jede Funktion der Architektur bis zur Mobilitätsarchitektur (Flughäfen, Straßen, Brücken, Bahnhöfe) und mobilen Architektur (Autos, Schiffe, Flugzeuge, Wohnwagen) Teil dieser »natürlichen Künstlichkeit«. Damit verbinden sich nun vielfältige weitere Informationen. In der künstlichen Einpassung in die Umgebung bietet Architektur immer auch einen Spielraum, der neue Fertigkeiten und neue Erfahrungen evoziert und Identitäten hervorbringt. Erst mit dem Haus, so Scheler, tritt der Mensch aus »der Natur heraus«, schafft er sich ein spezifisches Naturverhältnis.30 Dieser Spielraum hat stets einen Ausdruck, eine Expressivität, die sich auf das vitale Innere auswirkt, es formt. Das unergründliche Wesen muss, so Plessner, stets erneut »›etwas werden‹«;
27 H. Plessner: Stufen, S. 321-341. 28 Hans Paul Bahrdt: »Soziologische Aspekte der Deutung künstlerischer Formen«, in: Ders., Umwelterfahrung. Soziologische Betrachtungen über den Beitrag des Subjekts zur Konstitution von Umwelt, München: Nymphenburger 1974, 169-189. J. Fischer: Bedeutung. 29 Erich Rothacker: »Die Wirkung des Kunstwerks«, in: Jahrbuch für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 2 (1952-54), Stuttgart 1954, S. 11. 30 Max Scheler: »Philosophische Anthropologie«, in: GW 12, Schriften aus dem Nachlaß III, hg. von Manfred S. Frings, Bonn: Bouvier 1987, S. 202. 173
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und er kommt dabei »nie dahin, wohin er will – ob er eine Geste macht, ein Haus baut oder ein Buch schreibt«.31 Andererseits braucht er eine Form, an die er sich halten kann; Dinge, die sich von ihm ablösen und eine »vermittelte Unmittelbarkeit« schaffen, eine Bekanntschaft des homo absconditus mit sich selbst.32 Gebautes ist eines der gewichtigsten kulturellen Objektivationen; und als solche ist sie nicht nur expressiver »Ausdruck«, sondern auch verbergende, einen Rückzugsraum eröffnende »Maske«. Jede Architektur hat für diese Theorie des Menschen eine »Physiognomie, ein Aussehen, ein Gesicht«.33 In der Expressivität sind die architektonischen Artefakte bereits hinsichtlich der ›einsamen‹ Aktionen, des Selbstbildes unerlässlich. Sie bilden mit den Blicken und Bewegungen »Stabilisierungsgefüge«, ein »Gefüge«, dessen begriffliche Trennung in Intentionen, Sensationen, Aktionen kaum geeignet ist, die Aktivität der Architektur zu sehen. Denn das »Gewohnheitshandeln«, das beim menschlichen Leben an Stelle der Instinkte steht, bedarf nach Gehlen anschaulicher Auslöser: es bedarf eines buchstäblichen Dingzusammenhangs, der die Gewohnheit »an der Vollzugsschwelle« festhält, sie »chronisch aktualisiert«.34 Wer etwa »morgens in seine Werkstatt« trete, erlebe von der Architektur und ihren Einrichtungen bereits »über die Entscheidungsschwelle gehoben die Kontinuität seines spezialisierten Verhaltens«. Die Architektur ist derart ein materialisiertes Gewohnheitsgefüge mit einer nicht zu unterschätzenden »Auslöserwirkung« von Handlungen und Einstellungen.35 In einem hochstilisierten Barocksaal wird sich, so Gehlen, noch heute niemand völlig unbefangen bewegen; der auf »barocke Verhaltensformen« abgestimmte Raum behält seine »Sollsuggestion«: die Verhaltensbereitschaft überdauert am »präzisen Außenhalt« der Architektur.36 Architektur ermöglicht über Epochen hinweg Habitualisierungen von Lebensweisen. Primäre Bedürfnisse schieben sich in der jeweiligen Art, zu wohnen und zu leben, dabei in die »Hintergrundserfüllung« und er-
31 H. Plessner: Stufen, S. 337. 32 H. Plessner: Stufen, S. 310f. 33 Helmuth Plessner: »Die Wiedergeburt der Form im technischen Zeitalter« (Vortrag auf der 25-Jahr-Feier des Deutschen Werkbundes, 14.10.1932), in: Ders., Politik – Anthropologie – Philosophie. Aufsätze und Vorträge, hg. v. S. Giammusso/H.-U. Lessing, München: Fink 2001, S. 71-86, 82. Vgl. J. Fischer: Bedeutung, und neben dieser ›Grenzflächentheorie‹ der Architektur die ›Faltungstheorie‹ bei Walter Seitter: Physik der Medien. Materialien, Apparate, Präsentierungen, Weimar: VDG 2002, S. 145-163. 34 A. Gehlen: Urmensch, S. 46. 35 Ebd., S. 24f. 36 Ebd., S. 26. 174
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möglichen, Energien für Neues bereitzustellen.37 Gehlen spricht der Architektur darüber hinaus gar eine überlegene »Autorität« zu: »schöne Säulen«, so vermutet Gehlen mit Lessing, führten auch zu »schönen Menschen«.38 Helmuth Plessner betont stärker die Unergründlichkeit des Menschen: vor sich selbst wie vor anderen. Voreinander wird Unergründlichkeit zu doppelter Kontingenz. Die »ewige Potentialität«, die Unergründlichkeit des Menschen widerstrebt jeder Fixierung. Der Mensch bedarf des Ausdrucks und der Maske, »Gesehenwerden« und Distanz zugleich.39 Die Architektur ist vielleicht am besten geeignet, um dem »Zwang, sich gegenseitig bildhaft zu werden«, zu genügen und zugleich zu verhüllen, was der »sozialen Umwelt vorenthalten werden soll«.40 Allerdings bedarf die verhüllende Maske bestimmter, opaker Materialien: die von der klassischen Moderne bejubelte Erfindung des Glases als Baustoff ist dann mindestens ambivalent, worauf auch Ernst Bloch hinwies, für den die Glasarchitektur der 1920er Jahre zumindest »verfrüht« war, in einer von Radialismen bedrohten Gesellschaft.41 Wie für alles Lebendige ist auch für den Menschen die Abstammung, die Vergangenheit, das Gewordensein konstitutiv. Im menschlichen Leben besteht es aus der stets werdenden Expressivität, welche die Kulturgeschichte ist. An Stelle der tierischen Instinkte stehen Tradition, Erinnerung und Geschichte. Der Mensch ist, so Rothacker, wie »eine Schlingpflanze und der Stock ist die Tradition«.42 In dieser lebensnotwendigen Dimension der Kulturgeschichte kommt der Architektur wiederum eine erhebliche Bedeutung zu: die Architektur ist es, die vergangene Gesellschaften anwesend hält, die selbst die »enthaupteten Aristokraten überlebt«: die »antike Säulen an der Fassade« nachrevolutionärer Wohnungen perpetuieren noch einen Habitus, ein Selbst- und Gesellschaftsbild.43 Dank ihrer Materialität ist Architektur ebenso sozialkonservierend, wie sie Medium des Neuen ist. Das menschliche Wesen besitzt dabei – im Vergleich zum sachlich und räumlich-zeitlich eng be37 Ebd., S. 47. 38 A. Gehlen: Mensch, S. 384. Vgl. ders.: Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei (1960), 3. erw. Aufl. Frankfurt a.M.: Athenäum 1986 und ders.: »Vom Geräusch der Kommentare«, in: Baukunst und Werkform 14 (3/1961), 115f. 39 Helmuth Plessner: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (1924), Frankfurt a.M. 2002, S. 59, 63. 40 H. Plessner: Grenzen, S. 60. 41 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1959, S. 858ff., 869. 42 Ebd., S. 100. 43 E. Rothacker: Wirkung, S. 13. 175
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grenzten Spielraum des Tieres – insbesondere dank des Mediums Sprache einen Spielraum: es versetzt sich imaginär in andere Welten. Es ist in die Zukunft gerichtet. Nur der Menschen hat Phantasie; Mensch-Sein ist geradezu die »unausgesetzt pulsierende Folge« von Neuem, das stetige Überbieten des Erreichten.44 Insofern der Mensch als stetiges AndersWerden verstanden wird, entfaltet der Denkansatz implizit auch eine Soziologie der architektonischen Avantgarde, die die ›Positivität‹ neuer Architekturen zu sehen vermag, ihren Effekt für die Gesellschaft. Für Erich Rothacker insbesondere ist die Architektur nicht nur Sozial- und Körpertechnik, sondern wesentlich auch Kunst: sie ist »milieuschaffend«. Gebautes stellt nicht nur eine Gestalt des Sozialen auf Dauer; Architektur als Kunst schafft fortwährend neue Gestalten und damit auch neue Bedürfnisse und Emotionen (etwa die »Beglückung«, die »Schwere zu überwinden«, im Schwebegestus der Architekturmoderne): als Kunst ist es der Architektur wesentlich, Neues zu erfinden. In der je neuen Architektur verschafft sich das menschliche Leben »mitreißend, enthusiasmierend, beschwingend immer neue Befriedigungen«.45 Auch insofern also ›spiegelt‹ Architektur nicht lediglich bereits ›Vorhandenes‹: als Kunst versetzt sie in neue Wirklichkeiten, erzeugt neue Weisen, »zu gehen und sich zu halten«.46 Zunächst mögen sich nur einzelne Gebäude ändern; aus ihnen ergibt sich aber eine »Folge modifizierter subjektiver Haltungen«, und von »Bau und Bildwerk bis in menschliche Körperhaltungen, -konstitutionen und -bewegungen« hinab, und von diesen »wieder hinauf bis in die Giebel der Wohnhäuser« setzt sich die neue »Tendenz« durch – nicht ohne sich am Bestehenden zu brechen.47 Was sich dabei entdeckt, ist die Kontingenz des einmal gewählten Lebensstils; und die Möglichkeit, diese zu bewältigen48: indem die Architektur die neuen »Heimaten« nicht lediglich verspricht, sondern tatsächlich schafft. Es handelt sich in der Tat um das »gestalten von lebensvorgängen«.49 Heinrich Popitz wird in seinem soziologischen Tableau der Macht entsprechend die architektonische »Macht des Datensetzens« von
44 E. Rothacker: Kulturanthropologie, S. 126, 137. Ders.: »Das Wesen des Schöpferischen«, in: Ders., Mensch und Geschichte. Studien zur Anthropologie und Wissenschaftsgeschichte, Bonn: Athenäum 1950, S. 166-193. Ders.: »Tatkräfte und Wachstumskräfte«, ebd., S. 215-234. 45 E. Rothacker: Wirkung, S. 10. Vgl. ders.: Philosophische Anthropologie, S. 102. 46 E. Rothacker: Wirkung, S. 14f. 47 E. Rothacker: Geschichtsphilosophie, S. 60, 66. 48 Michael Makropoulos: Modernität und Kontingenz, München: Fink 1997. 49 Walter Gropius: »Systematische Vorarbeit für rationellen Wohnungsbau«, in: Bauhaus 2, 1927, S. 1f. 176
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anderen Formen der Machtrelationen unterscheiden und auf ihre Bedeutung in der artifiziellen Gesellschaft hinweisen.50 In all dem ist die Materialität der Architektur entscheidend, und das heißt vor allem auch: ihre Wirkung auf den Körper mittels spezifischer, im Material liegender Form- und Gestaltmöglichkeiten. Auch Sprache ist ein Medium des Sozialen, ebenso wie Bilder, Metaphern, Kleidung. Das Gebaute aber hat eine spezifische Eigenlogik, aus der sich seine soziale Brisanz erklärt. Denn die Architektur umgibt uns ständig; und dies nonverbal, sie wirkt vorreflexiv, wird in der Bewegung, taktil, visuell »verstanden«.51 Das Gebaute hat dabei sicher zunächst immer eine »Funktion« für das soziale Leben, das sich in ihm abspielt. Zugleich handelt sich kaum je um das bloße Funktionieren, welches die Subjekte unberührt ließe. Architektur ist kein bloßes Instrument. Auch die Gebäude der neuen Sachlichkeit waren selbstverständlich nie reine »Wohnmaschinen« (Le Corbusier): sie waren zutiefst affektiv, schufen neue Affekte und Perzepte. Insofern sich die Architektur auf den Körper bezieht, dessen Haltungen, Bewegungen, Blicke evoziert, hat sie soziale Effekte: sie betrifft die Interaktionsmöglichkeiten. In ihr instituieren sich je ein spezifisches Sozial- und Naturverhältnis. Die Architektur des 20. Jahrhunderts hat diese komplexe Eigenlogik der Architektur zwischen Technik und Kunst reflektiert, insofern es ihr erstmals um eine »autonome« Architektur ging, die sich jedes Ornaments enthält und sich ganz auf die Erzeugung von Bewegungen und Blicken konzentriert. Sie mag ihr Augenmerk auf »Funktionalität« gelegt haben, nicht ohne eine spezifische Welt- und Gesellschaftsvorstellung zu erzeugen. Die von den schweren und überkommenen Möbeln nahezu befreiten Wohnräume etwa entlasten von unhinterfragten Traditionen und eingewohnten Bewegungen, von den ebenso unreflektiert gebliebenen Geschlechter- und Generationenbeziehungen. Nicht nur Grundriss und Raumform, auch Konstruktion und Material konnotieren stets bestimmte Selbst- und Weltbilder: am deutlichsten im (in seinen Argumentationen bis heute reichenden) Streit der 1920er um den »internationalen« Beton und um das »deutsche Holz« sowie um »Flach- und Steildach«.
50 H. Popitz: Phänomene der Macht. 51 Helmuth Plessner: »Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes« (1923), GS III, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 7-315, 187. 177
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Zwischenfazit Philosophische Anthropologie beschreibt das Soziale nicht cartesianisch; sie unterläuft die geläufigen Trennungen von »Subjekt« und »Objekt«. Die Architektur wird dann soziologisch nicht hinsichtlich rational kalkulierter Investitionen des Subjekts beobachtet; auch nicht vorrangig als Demonstration ökonomischer Macht oder als nachrangige Symbolisierung sozialer Differenzen, die bereits als vorher und unabhängig von der Architektur bestehend angenommen werden. Der Architektur wird vielmehr eine soziale Aktivität zugesprochen: einerseits sozialtheoretisch, in der Frage, wie Handlungen und Haltungen, Interaktionen und Selbstverhältnisse evoziert und stabilisiert werden. Und zum anderen stellt sich die ›Aktivität‹ der Architektur als Schaffung einer sicht- und greifbaren Gestalt des Gesellschaftlichen dar: als relativ dauerhafte, in Stein, Beton und Stahl materialisierte Verkörperung einer idée directrice, die mit der Schaffung entsprechender Subjekte einhergeht. In der Frage nach der Effektivität der Architektur sind also mindestens zwei Perspektiven zu unterscheiden: die der Inter-Aktionen, wofür die Körperräumlichkeit der Architektur entscheidend ist (Sozialtheorie); und die der Gesellschaft, wofür zusätzlich die visuelle Gestalt den Ausschlag gibt (Gesellschaftstheorie). Beide Aspekte sind grundsätzlich und für jede Gesellschaft zu beobachten. Was nicht-moderne Gesellschaften und ihre Architektur (etwa die nomadische Architektur oder die der Troglodyten) möglicherweise von modernen Gesellschaften unterscheidet, ist die Frage der Expressivität oder Affektivität (wird die Faszinationskraft des Mediums genutzt oder möglicherweise gezielt vermieden) und der Kreativität (gibt es professionell ausgebildete Entwerfer oder handelt es sich um anonyme, auf dem Gewohnten beharrende Architekturen).52 Methodisch wird eine solche Architektursoziologie wohl eine Kombination verschiedener Methoden verfolgen, um der Eigenlogik der Architektur zu entsprechen: sie interessiert sich für die phänomenale Gestalt des Gebauten und ebenso für deren (stets diskursivierte, versprachlichte) historisch variable Wahrnehmung. Will man die sozialen Effekte der je neuen Architektur berücksichtigen, bietet es sich an, »Leitbauten« zu beobachten: Architekturen, die in Bild, Diskurs und Exkursionen faszinieren und deren Gestus, Material, Konstruktion zur Nachahmung inspiriert hat. Interessant ist, weshalb sich eine Gesellschaft gerade diese 52 Der Versuch einer Soziologie nicht-moderner, nomadischer Architekturen: Heike Delitz: »›Die zweite Haut des Nomaden‹. Zur sozialen Effektivität nicht-moderner Architekturen«, in: Peter Trebsche/Nils Müller-Scheeßel (Hg.), Bausteine einer Soziologie vormoderner Architekturen, Münster: Waxmann 2009 (im Druck). 178
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Gestalten, diese Leitbauten ›wählt‹ und welche Blicke, Haltungen, Gewohnheiten und welches Bild des Sozialen die je spezifische Architektur mit sich bringt: um welchen ›chronischen Aktualisator‹ und um welchen ›Außenhalt‹ es sich also handelt.
Abb. 1: Eine Welt für »Marsmenschen«: Le Corbusier, Siedlung Pessac, 1925/26. Die Autoren der Philosophischen Anthropologie haben die zeitgenössische Architektur selbst in dieser Hinsicht beobachtet: sie diagnostizierten spezifische Welt- und Gesellschaftsgestalten und eine entsprechende Umschaffung der Innenwelten. Plessner zeigt sich 1932 beeindruckt von der neuen Dessauer Architektur. In dieser Gestalt der Gesellschaft erkennt er eine Tendenz zu einem neuen »Gleichgewicht«: die »Heraufkunft einer Öffentlichkeit« eines zunehmend beweglichen Seins. An Stelle von Bauten »zum Anschauen« habe die Architektur eine Gestalt erfunden, die der Moderne entspricht: mit einem »offenen Charakter« für die Endlosigkeit von Raum und Zeit. Die Gesellschaft stellt sich in dieser Architektur eine »neue Form [...] der unendlichen Möglichkeiten« vor Augen: in der Erkenntnis, prinzipiell Überbietbares schaffen zu können, in einem gesteigerten Könnensbewusstsein, in der durchgreifenden Anerkennung der ›Künstlichkeit‹ der menschlichen Lebensform. Die Dessauer Avantgarde suggeriere ein »Leben auf einem Planeten, das weiter ist als unser Leben auf dieser Erde«, insofern sich auf ihm »die Schwerkraft irgendwie zu überwinden beginnt«, nicht eskapistisch oder 179
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romantisch, sondern als »innerweltliche Bejahung«. Diese »utopischplanetarische Stimmung« evoziert die neue Form, die »Leichtigkeit«, die architektonische »Überwindung der Schwerkraft«. Die neue Architektur ist zeichnet derart eine »neue Haltung zum Leben« vor, ein neues Gleichgewicht mit einer »vollkommen neuwertigen« Umwelt.53 Für Arnold Gehlen hat sich die Gesellschaft des »technischen Zeitalters« in ihrer Architektur auf »Beton und Stahl« gepflanzt; in ihrer Architektur zeigt sich die Gesellschaft selbst die Möglichkeit der »Emanzipation vom Selbstverständlichen und von dem, was als ›natürlich‹ eingewöhnt« ist. Die Gesellschaft verändert in dieser Architektur zugleich den bisherigen »Zustand, Mensch zu sein«.54 Entscheidend ist für ihn hier das neue gesellschaftliche Verhältnis zur Technik: die Ausschaltung des Organischen wird in der Moderne zum Selbstzweck und die Architektur ist federführend beteiligt an dieser Entfaltung der »Industriekultur«, indem sie alle »bisherigen Axiome umkehrt, nach denen ein Haus auf einem Fundament steht und vier Ecken hat, nach denen ein Gewölbe konvex ist. Also baut man runde Häuser oder ovale, auf Stelzen stehende, in die Luft hinausragende Zimmergondeln und eingeschwungene Gewölbe«. In jedem Fall werde aber die Architektur »durch das Praktische ihrer Zwecke« gehindert, »absolut« zu werden: sie ist daher für Gehlen diejenige Kunst, in der »noch ein echter Fortschritt möglich ist«.55 Hinsichtlich der Gestalt der Gesellschaft hat der PlessnerSchüler Hans Paul Bahrdt eine »Soziologie des Bauens« skizziert, deren Aufgabe die Beobachtung der »ästhetischen Kommunikation« und der »Konstitution der Umwelt« sein soll.56 Bahrdt hat zugleich eine Stadtund Architektursoziologie der modernen Großstadt entfaltet. In dieser Analyse erfolgt die »Stilisierung des Verhaltens« vor allem in der Architektur: in spezifischen Bauformen, welche die Polarität von Öffentlichkeit und Privatheit erst ermöglichen, nicht zuletzt die Abtrennung des Privaten in Differenz zur Öffentlichkeit, also die Ausbildung der öffentlichen Sphäre und der »Persönlichkeit«.57 53 H. Plessner: Wiedergeburt, S. 79. 54 A. Gehlen: Seele, S. 26f. 55 A. Gehlen: Seele, S. 32. Ders: »Über die gegenwärtigen Kulturverhältnisse«, in: Die Seele im technischen Zeitalter und andere sozialpsychologische, soziologische und kulturanalytische Schriften (GA 6), Frankfurt a.M.: Klostermann 2004, S. 285-297, 288. Vgl. ders.: »Die gesellschaftliche Kristallisation und die Möglichkeiten des Fortschritts«, in: GA 6, S. 330-335, 335. 56 H. P. Bahrdt: Soziologische Aspekte, S. 178. 57 Hans Paul Bahrdt: Die moderne Großstadt, Reinbek: Rowohlt 1961, S. 53. Arnold Gehlen: »Die Gleichberechtigung fordert das Reich der Dame«, in: Deutsche Bauzeitung 66 (Juli 1961), S. 490. 180
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3 F a l l : D e k o n s t r u k t i ve Ar c h i t e k t u r Die ›dekonstruktive‹ Architektur ist gegenwärtig das provokanteste und erfolgreichste Avantgarde-Phänomen; der Versuch, in der Architektur noch einmal neu zu beginnen. Soziologisch handelt es sich zweifellos um eine Spektakel-Architektur, die Aufmerksamkeit erzielt und damit der Ökonomie der Gegenwart entspricht. Ungeachtet der Begeisterung der Fachwelt verstört diese Architektur viele: insbesondere die ›harten‹, aggressiven Gestalten Coop Himmelb(l)aus. Aber auch für die ›weichere‹ Variante (Zaha Hadids) gilt, dass es »Volksentscheide«, Körperreaktionen58 und Antiprogramme gibt. In Vielem erinnert die Debatte an die 1920er: Beton wird als kalt und ›unmenschlich‹ empfunden; die Dächer seien kein skulpturaler Selbstzweck, ›Urbanität‹ werde durch die Spektakel-Architektur zerstört. Es ist zweifellos eine Architektur, die ein hohes kulturelles Kapital voraussetzt, es handelt sich um ein zuverlässiges Distinktionsmedium des Bildungsbürgers. Bemerkenswert bleibt gleichwohl der spezifische Gestus. Vor der kritischen Distanz könnte es aus Sicht der Philosophischen Anthropologie interessant sein, sich in die »Sollsuggestion« dieser Architektur hineinzuversetzen; in ihre Evokation von Wahrnehmungen und Bewegungen und in die Gestalt, die sich das Soziale hier – in seiner zeitgenössischen Architektur – ›wählt‹. Es handelt sich um eine »kommentarbedürftige« Architektur59: einerseits, weil die Funktionen kaum ersichtlich sind; andererseits, weil die statische Anschauung irritiert wird; drittens, weil die mittlerweile gewohnten Formen der Moderne außer Kraft gesetzt sind. Zu unterscheiden sind zwei Varianten: eine mit Kanten, Brüchen und Falten arbeitende Architektur, die »unangepaßt, rauh, durchstoßen« aussehen will (Dekonstruktivismus im engen Sinn)60; und eine Variante mit biomorphen Formen und komplex ineinander fließenden Flächen (deformative Architektur). In beiden Fällen geht es der Architektur durch die programmatische Schrägstellung von Wänden, Stützen und Fußböden um ein »dynamisches« Aussehen; die architektonischen Körper scheinen sich im Raum zu bewegen, und dies stets eine Geschosshöhe über dem Boden. Die Architektur hat einen oft wuchtigen Schwebegestus. Hob die klassische Moderne ihre Baukörper auf Stützen und zurückgesetzte So58 Kolportiert für die Feuerwache in Weil am Rhein. Vgl. A. Bartetzky: Das gebändigte Chaos. Treibende Kräfte, fließende Ströme: Zaha Hadids Zentrale des neuen BMW-Werks in Leipzig, in: FAZ 13.5.2005, 24. 59 A. Gehlen: Zeit-Bilder, S. 162-169. 60 Wolf D. Prix: »Architektur muß brennen«, in: Peter Noever (Hg.), Architektur im Aufbruch. Neun Positionen zum Dekonstruktivismus, München: Prestel 1991, S. 31. 181
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ckel61, so handelt es sich nun um eine fremd aussehende, extraterrestrisch anmutende Architektur. Gezielt wird im »Antigravitationskunstgriff«62 entworfen: so, als würden sich die Baukörper absenken und kurz vor dem Aufsetzen zum Stillstand gebracht, oder als wären sie abgestürzt.
Abb. 2: Coop Himmelb(l)au: Dachaufbau Wien 1988.
Nicht nur zum Entwurf, auch zu Diskussion und Nutzung dieser Architektur bedarf es neuer Metaphern, wozu vor allem auf die deleuzianischen Kategorien der »Falte« und »Ströme« zurückgegriffen wird. Dekonstruiert wird auch die funktionale Anschauung: die Räume bleiben undefiniert, fordern Nutzungs- und Möblierungsweisen heraus. Keineswegs geht es um ›form follows function‹. Noch einmal unternimmt es
61 Adolf M. Vogt: »Das Schwebe-Syndrom in der Architektur der zwanziger Jahre«, in: ETH Zürich: Das architektonische Urteil, Basel: Birkhäuser 1989, S. 201-233. 62 Zaha Hadid: »The World. 89 Degrees (1983)«, in: Das Gesamtwerk, Stuttgart: DVA 1998, S. 24. Vgl. dies.: »Häuser können fliegen. Zaha Hadid im Gespräch mit Alvin Boyarski«, in: arch+ 86 (1986), S. 28-33, und Charles Jencks: »Die Architektur der Dekonstruktion. Die Freuden der Absenz«, in: arch+ 96/97 (1988), S. 24. 182
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die Architektur also, neu zu beginnen. Und sie scheint dabei von der »Geschichte« der Architektur und damit der Gesellschaft noch weniger zu bewahren als die klassische Avantgarde. Allenfalls das Material entspricht dem der klassischen Moderne: Beton, Stahl, Glas, die artifiziellen, nicht regionalen und damit nicht ›bodengebundenen‹ Baustoffe, die dank neuer Verfahren (selbstverdichtendem Beton) und Rechenmöglichkeiten (Computer Aided Design, Statikprogramme) nun neue, biomorphe Formen erlauben.
Abb. 3: Zaha Hadid: The World. 89 Degrees, 1983.
Die Frage ist, welche idée directrice sich in dieser zeitgenössischen und Resonanz erzeugenden Architektur instituiert und welche Bewegungsweisen, welche Sollsuggestionen den Einzelnen angeboten werden. In jedem Fall geht es dem Äußeren nicht um die Nachahmung von Raumschiffen. Eher geht es – hinsichtlich der visuellen Gestalt – zunächst um eine anschauliche Kritik an der ›Architektur der Gesellschaft‹: an ihrer Homogenität im Fall der ›weißen Moderne‹, an ihrer ›Behübschung‹ im Fall der Rekonstruktion der »europäischen Stadt«. Visuell geht es statt dessen vor allem um die angesprochene Dynamik: die eine Dynamik des Sozialen erzeugt oder (da die ›Effekte‹ noch nicht absehbar und zudem gänzlich unerforscht sind) zumindest zu erzeugen sucht: eine neue »so-
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ziologische Imagination«63, eine Dynamisierung der Institutionen und damit der Segmentierungen und Klassifizierungen: der Einteilung der Einzelnen entlang der Denkmodelle undurchlässiger Schichten des Sozialen. Und vor allem geht es um ein Durchbrechen des Gewohnten, vielleicht ohne dafür eine definierte Idee des ›neuen Lebens‹ zu haben, wie man es der klassischen Avantgarde stets zuschrieb und vorwurf.
Abb. 4: Zaha Hadid: Phaeno Science Center 2005.
Der Gestus größtmöglicher Fremdheit, den der »extraterrestrische« Einschlag erreicht, zielt wohl zunächst und vor allem auf ein Verwirrungsmoment. Es handelt sich nicht mehr nur um eine Gesellschaft, die sich allseits sicht- und tastbar ›auf Beton und Stahl pflanzt‹ (Gehlen): nicht nur um eine artifizielle Gesellschaft, sondern um eine gesteigert artifizielle Gesellschaft. Städtebaulich wird mit diesen fremden Gestalten das schroffe Gegenteil zum Bestehenden gebaut. Die Gebäude sind Parasiten der »europäischen« und ebenso der modernen Stadt. Die Gesellschaft stellt sich hier – in ihren finanziell und diskursiv aufwendigen zeitgenössischen Architekturen – gewissermaßen für sich selbst als et63 C. Wright Mills: Kritik der soziologischen Denkweise (am. zuerst 1959), Neuwied: Luchterhand 1963. 184
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was Neues dar. Zugleich macht sich der ›homo absconditus‹ in dieser Architektur ein erneut gesteigertes Könnensbewusstsein, seine »Künstlichkeit« sichtbar: es geht auch darum, Unmögliches zu schaffen; über sich hinaus zu wachsen (und natürlich ist die Architektur daher auch als ›Spektakelarchitektur‹ qualifizierbar). Hinsichtlich der Sollsuggestionen, der Haltungen, die über die Entscheidungsschwelle gehoben fixiert werden und damit der Selbstbilder und Sozialverhältnisse sind zunächst undefinierte Plätze auffällig, eine neue Gestaltung des öffentlichen Raums in der Idee, gleichermaßen die strenge Axialität der Moderne und die malerischen Winkel der europäischen Stadt durch »Vektoren« zu ersetzen, um so die Gewohnheiten des Körpers und damit des Subjekts – nämlich entlang der linearen Baukanten zu gehen – aufzubrechen. Statt der eindeutig materialisierten Trennung von Innen/Außen tritt die »Falte«: auch dies, um Eindeutigkeiten zu verwischen, Möglichkeiten bereits visuell und körperlich und in jedem Fall vorsprachlich zu eröffnen, statt kanalisierte Verhaltensweisen entlang von form follows function wie in einem Reiz-Reaktions-Mechanismus auszulösen. Man muss konkrete Gebäude vor Augen haben, um zu ahnen, worum es geht. Programmatisch und daher am leichtesten erkennbar ist es am Fall des BMW-Werks in Leipzig; am radikalsten zeigt sich die mögliche (aber noch nicht wirkliche) Evokation neuer Lebensweisen und eines neuen Selbstbildes in einem bisher allerdings unrealisierten Projekt, dem ›Spiral House‹, welches das Alltagsleben um einiges verändern würde. Hadids Entwurf einer spiralförmigen Villa zeigt am Fall des Wohnens, des elementarsten Bautyps, die neuen Gefüge, die Innovation hinsichtlich des Alltagslebens und die Herausforderung der Routinen des Zusammenlebens. Es handelt sich um ein Entwurf gebliebenes Projekt; gleichwohl hat es bereits Nachahmung gefunden und wird mit seinen »Nachahmungsstrahlen« (Gabriel Tarde) vor allem auch auf die Architekturstudenten wirken.64 Die Gestalt dieser Wohnarchitektur hat kein ›Gesicht‹ im herkömmlichen Sinn: es gibt keine Fenster, sondern (soweit man es dem Entwurf entnehmen kann) eine sich gleichbleibende Membran. Eine Glasfassade bekleidet die Spirale, so dass sich ein Wandelgang ergibt, ein Spaziergang mitten in der Stadt (ein solcher Gang ist in der niederländischen Botschaft in Berlin verwirklicht). Die Gestalt des inneren Baukörpers windet sich scheinbar willkürlich. Diese Wohnarchitektur kennt keine vordefinierten Räume, sondern eine spiralförmi64 Hadid hat in der BMW-Fabrik daran angeknüpft; auch baute sie 2008 in der Schweiz ein Wohnhaus auf mäandernden Ebenen, die sich zu Fassade und Dach falten; im Inneren erzeugen schräge Wände und Türen VertigoGefühle. 185
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ge Ebene, gleichermaßen Fußboden, Decke und Wand: ein Möbiusband, eine konstruktive und funktionale Falte, ein geneigtes »Kontinuum«, auf dem sich alle Lebensprozesse abspielen. Als Konzession an Gewohnheit, Bauordnung und Technik ist lediglich das Bad fixiert. Kochen, Arbeiten, Essen und alle weiteren (bisher segmentierten und klassifizierten) Lebensvorgänge sowie »jedes räumliche Element wie Treppe, Eingang, Luftraum« sind nicht mehr als solche isoliert, sondern gehören zum ganzen Gebäude.65
Abb. 5: Zaha Hadid: Spiral House, Projekt, 1991.
Die Lebensbereiche sind frei flottierend. »Löcher zwischen Haut und Spirale und zwischen den verschiedenen Ebenen des Wohnhauses« schaffen eine Sichtbarkeit, in der alles »gleichzeitig offen und verborgen« ist. Es gibt keine eindeutigen Geschosse, womit auch die vertikale Hierarchie abgeschafft ist. Diese Räume erlauben keine Identifikation, keinen Rückzugsraum. Eine solche Architektur bringt die Fixierungen in Bewegung, hinterfragt soziale Beziehungen, erfordert Aushandlungsprozesse der Generationen und Geschlechter. Nicht zuletzt wird eine solche Architektur die Bewegungs-Sozialisation, etwa das GehenLernen herausfordern. Es handelt sich um den »Aktualisator« anderer Selbstbilder und eines anderen sozialen Umgangs, der gezielt mit der Eigenlogik des Mediums Architektur – ihrem kinästhetischen, visuellen sowie affektiven Aspekt – rechnet.
65 Zaha Hadid: »Spiral Haus«, in: arch+ 134/135 (1997), S. 48f. Vgl. Patrick Schumacher: »Architektur der Bewegung«, in: ebd. S. 56ff. 186
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Bereits realisiert und ›funktionstüchtig‹ ist die BMW-Fabrik in Leipzig. Visuell dominiert zunächst – außen – das ›Fliegen‹ großer Massen, was sich allerdings nur auf das von Hadid entworfene Zentralgebäude (das »Nervenzentrum«) des Werks bezieht: auf den Ort, an dem sich alle Tätigkeitsstränge bündeln. Dieses Gebäude erscheint den Architekturkritikern bei der Annäherung über den großen, keineswegs ›hübschen‹ Parkplatz wie ein Wal, der sich zwischen den Produktionshallen hervorschiebt; oder wie ein Raumschiff, über dem Erdboden schwebend gehalten von wuchtigen, organisch geformten Betonstützen.
Abb. 6: BMWFabrik Leipzig.
Das Entscheidende ist hier sicherlich das Gefüge im Inneren: das nahtlose Ineinandergreifen der Ebenen, der Arbeiter und Angestellten, halbfertigen Autos und Industrieroboter. Die Fabrikeinrichtung ist in mehrfacher Hinsicht innovativ: die »hautnahe Produktion«, in der die Rohkarossen zum allgegenwärtigen Element werden; die »atmende Fabrik« mit flexiblen Strukturen66; die offene Raumgestalt, die über weite Stre-
66 »Das Werk Leipzig setzt mit seiner außerordentlichen und nachhaltigen baulichen Struktur neue Maßstäbe mit Blick auf eine ›atmende Fabrik‹. Es 187
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cken Sichtkontakt erlaubt. Hohe Werktore sind ersetzt durch hüfthohe Barrieren; Besucher und Kunden gehen durch denselben Eingang wie Arbeiter und Angestellte. Innen ragt in das gemeinsam durchquerte Foyer die ›Bürolandschaft‹: ansteigende Ebenen, auf denen sich wandlose Büros befinden anstelle herkömmlicher Bürozellen auf einem kontinuierlich ansteigenden Band, das in die Produktionsbereiche verflochten ist. Karossen gleiten in magischem Blau über den Köpfen der Angestellten durch den Raum. Schräge Stützen verbinden sich mit schiefen Wandscheiben und Rampen zu einer architektonischen Dynamik, die von den technizistischen Materialien Aluminium und Beton noch gesteigert wird. Decken und Böden suggerieren in ihrer Detailausbildung Montagebahnen und Geschwindigkeit; auch die spartanische Ausstattung, das harte Material noch der Sitzgelegenheiten evozieren einen transitorischen Ort. Sicher gibt es weiterhin räumliche Trennungen (zwischen dieser ›durchmischten‹ Zone und den ›schmutzigen‹ Aktivitäten, wie der Lackiererei). Die Grundidee, die diese Architektur in Beton umsetzt, ist gleichwohl die Assoziation, die Verschränkung aller Aktivitäten und damit aller Mitarbeiter – und nicht zuletzt der Kunden. Diese Architektur instituiert für jeden Einzelnen sicht- und greifbar die idée directrice des Postfordismus: flache Hierarchien; das lern-, team-, kommunikationsfähige Subjekt, gegenseitige Kontrolle, Effizienz und Innovation. Die Architektur spiegelt diese Aussagenströme nicht einfach. Sie macht sie erst sicht- und körperlich erfahrbar. Womit man es hier zu tun hat, ist eine architektonische Sozialtechnik: eine Architektur, welche durch die Konditionierung des Körpers und der Sichtbarkeiten die Einteilung in Arbeiter und Angestellte in den Köpfen gezielt zu vermeiden sucht: welche die ›soziologische Imagination‹ der Einzelnen trifft. Langfristig will diese Architektur ›Arbeiter‹ und ›Angestellte‹ durch das Selbstverständnis des ›Mitarbeiters von BMW‹ ersetzen. In der Frage nach dem »Gesellschaftsbild des Arbeiters« von 1957 zeigt sich die Selbsteinteilung der Einzelnen in ›Angestellte‹ und ›Arbeiter‹ noch deutlich. Und es zeigt sich ebenso deutlich, dass diese Klassifizierung und Hierarchisierung durch die Einzelnen selbst nicht zuletzt an der Architektur liegt. Die Arbeiter unterscheiden sich in der Tat von denen »im Büro« als von denen »da oben«, die in uneinsichtigen Räumen arbeiten und von denen man daher nicht genau weiß, ob und was sie eigentlich tun. Die Statusdifferenzen sind also keineswegs nur ein Erist extrem flexibel angelegt, kann wachsen, wenn es der [...] Kunde mit seinem Wunsch nach einem BMW Automobil fordert. Das Zentralgebäude als Kommunikationsdrehscheibe des Werks ist ein Benchmark in der BMW Group [...] Begegnungsort und Zentrum des Gesprächs [...] fördert die Leistungsfähigkeit«. BMW Group Mai 2005: BMW Werk Leipzig. 188
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gebnis der Lohndifferenzen. Vielmehr liegt es wesentlich auch an der Architektur, an ihren Gefügen, an der »Andersartigkeit der Atmosphäre in den Büroräumen«.67 In der neuen Fabrikarchitektur verbinden sich Artefakte (nicht zuletzt die 500 Roboter) und menschliche Körper derart, dass die bisherigen Klassifizierungen aufweichen. In der Tat separieren die Arbeiter sich bereits selbst nicht mehr zwischen (einfachen) ›Einlegern‹ und (höheren) ›Instandhaltern‹, während die Frage nach der Angestellten/Arbeiter-Trennung und damit der soziologischen Imagination einer Drei-Schichten-Gesellschaft offen ist: es bedarf der Nachahmung dieser Architektur, dazu, dass diese spezifische Arbeitswelt in ihrem Körperbezug und in ihrer Gestalt zum selbstverständlichen Dispositiv wird. Das Gefüge evoziert in jedem Fall bereits neue Sichtbarkeiten, die ebenso neue Kommunikations- wie auch Kontrollofferten darstellen. Zuweilen fühlen sich Arbeiter und Angestellte in dieser Architektur wie »Fische [...] im Aquarium«. Auch das Material verbirgt nicht, dass das neue Gesicht des Kapitalismus kein heimeliges ist. Oberflächen und Farben haben ihre Affekte: die Arbeiter finden es nicht ›gemütlich‹; bis auf die gummibeschichteten Stühle im Pausenraum haben Architektur und Innenarchitektur deutliche Sollsuggestionen (»ne halbe Stunde, dann muß man aufstehen [...] da sitzt man ein bißchen ungern«68). Und ebenso wie diese Architektur bereits Effekte haben dürfte (die soziologische Imagination betreffend), erzeugt sie Widerstände: Angestellte bringen persönliche Elemente in die ›Büros‹ ein; Arbeiter suchen sich verdunkelte, uneinsichtige Räume zu schaffen.
4 Fazit Im besprochenen Fall des Dekonstruktivismus – seiner visuellen Gestalt und seiner den Körper betreffenden Gefüge – geht es weniger um die Stabilisierung des Gewohnten, als zunächst um den Moment des Neuen: um die Einführung einer neuen Routine und einer neuen Anschauung der Gesellschaft samt der eigenen Position in ihr. Dekonstruktive Architektur radikalisiert dazu die Eigenlogik von Architektur als kinästhetischem Medium, insofern sie den Bau selbst visuell in Bewegung bringt. Architektursoziologie aus dem Denkansatz der Philosophischen Anthro67 Hans Paul Bahrdt/Heinrich Popitz/Ernst Jüres/Hanno Kesting: Das Gesellschaftsbild des Arbeiters, Tübingen: Mohr 1957, S. 111-119. 68 Fredericke Nicklas: Das Lernen im Prozess der Arbeit in einer produktionsintensiven Organisation. Die Gestaltung der Übergänge zwischen formellem und informellem Lernen, phil. Diss. Universität Leipzig 2007, S. 330, 338ff. 189
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pologie hieße über diese Fallanalyse hinaus: jede Architektur hinsichtlich der Sollsuggestionen des Artefaktes und hinsichtlich des symbolischen Außenhalts der Gewohnheiten und sozialen Hierarchisierung, der Subjektform, des Naturverhältnisses zu beobachten. Eine Architektursoziologie aus Sicht der Philosophischen Anthropologie macht aufmerksam auf die soziale Brisanz der Architektur. Weit entfernt, eine gegebene Gesellschaft nur noch ›auszudrücken‹, ist die Architektur für diesen Theorieansatz ein »socius« (auf der Ebene der Aktionen, der Sozialtheorie) und ein konstitutives »Medium« des Sozialen (auf der Ebene der Gesellschaftstheorie). In beiden Aspekten kommt der Architektur eine soziale Effektivität zu. Aus dieser Sicht ist die Soziologie noch in einer gleichsam spinozistischen Lage: was die Architektur hinsichtlich des Sozialen vermag, das »hat bislang noch niemand genau bestimmt«.69
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69 »Allerdings, was der Körper kann, hat bislang noch niemand genau bestimmt«. B. de Spinoza: Ethik, S. 229. 190
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B i l d n a c hw e i s e Abb. 1: Les Éditions d’Architecture SA, Erlenbach-Zurich. Abb. 2: Gerold Zugmann. Abb. 3, 5: Zaha Hadid. Abb. 4: Klemens Ortmeyer. Abb. 6: BMW AG.
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Bauen, Ordnen, Abreißen im Formmodell des Sozialen. Die › Architektur der Gesellschaft‹ aus s ystem- und formtheoretischer Sicht 1 DIRK BAECKER
I Die soziologische Systemtheorie, wie sie von Talcott Parsons und Niklas Luhmann entwickelt worden ist, startet mit drei Aufforderungen2: 1
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Unter der Architektur der Gesellschaft wird im Folgenden eine Architektur verstanden, die in allen ihren Selektionen auf die Gesellschaft verweist. Es geht nicht um den architektonischen Aufbau der Gesellschaft, der das Thema eines anderen Aufsatzes wäre. Dennoch akzeptieren wir den doppelten genetivus subiectivus und obiectivus insofern, als die Verweisstruktur der Selektionen der Architektur in beiden Richtungen zu lesen ist: als Information der Architektur durch die Gesellschaft und als Information der Gesellschaft durch die Architektur. Aufbau und Abriss eines Gebäudes, eines Stadtteils, einer Stadt sind Operationen, die nicht nur bauliche Veränderungen vornehmen, sondern auch die Gesellschaft fortsetzen, so oder so. Deswegen ist die deutsche Gesellschaft, wenn man von einer solchen sprechen kann, nach dem Abriss des Palasts der Republik nicht mehr dieselbe wie vor dem Abriss. Das wissen alle Beteiligten und Interessierten. Man kann es den Anschlusskommunikationen, entsprechendes Gespür vorausgesetzt, ansehen, und dies auch unabhängig davon, ob und wie der Schlossplatz neu gestaltet wird. Selten explizit formuliert. Siehe jedoch zum »action frame of reference« Talcott Parsons: The Social System, New York: Free Press 1951, S. 4ff.; und zum »Letztbezug aller funktionalen Analysen« Niklas Luhmann: So195
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Die erste Aufforderung ist die methodologische Direktive, für jedes Phänomen, das untersucht werden soll, eine Systemreferenz anzugeben, im Hinblick auf die es untersucht werden kann, so dass das Phänomen entweder als eine Struktur innerhalb eines Systems oder als Gegenstand in der Umwelt eines Systems oder, in seltenen Fällen, da die Ansprüche hierfür hoch sind, selber als ein System beobachtet wird. Ein »Phänomen«, wie es der Wortsinn will (griechisch phainomenon, das Erscheinende), wird im Hinblick auf etwas betrachtet, dem es erscheint und in dem es daher eine sowohl das Phänomen als auch das System erhaltende Rolle spielt. Wenn man so will, ist bereits an dieser Stelle des Theorieaufbaus ein gewisser Funktionalismus unabdingbar, wenn der Begriff der Funktion mathematisch (und nicht unbedingt teleologisch) verstanden wird und auf Interdependenzzusammenhänge von Variablen verweist. Es ist nicht unwichtig festzuhalten, dass dieser Funktionalismus die System/Umwelt-Grenze übergreift. Es geht nicht allein um die Beschreibung »funktionierender« Systeme, sondern auch um die Beschreibung »funktionierender« System/Umwelt-Zusammenhänge. Das befreit den Funktionsbegriff aus seiner mechanistischen Konzeption und öffnet ihn für die Beschreibung prekär-ökologischer, lose gekoppelter Verhältnisse. Die zweite Aufforderung gewinnt aus der ersten eine soziologische und empirische Hypothese. Nimm an, so lautet diese Aufforderung, dass jedes Phänomen, indem es, jemandem oder etwas erscheinend, sich erhält, an der Struktur des Sozialen einen selbstähnlichen Anteil hat, das heißt wie immer repetitiv oder subversiv, ausweichend oder auf den Punkt bringend die Reproduktionsbedingungen des Sozialen in sich abbildet und somit einen konstruktiven Beitrag zum Ganzen spielt. Die dritte Aufforderung stammt aus der allgemeinen Systemtheorie und ist weit davon entfernt, in der Soziologie angekommen zu sein, so sehr sich Luhmann bemüht hat, sie explizit zu halten und in seinen Untersuchungen sozialer Systeme laufend in Rechnung zu stellen. Sie lautet, davon auszugehen, dass alles, was gesagt wird, auch die wissenschaftliche Aussage, von einem Beobachter gesagt wird und zu einem Beobachter gesagt wird, und somit seinerseits mit Blick auf die Referenz eines sozialen Systems zu verstehen und im strengen Sinne des Wortes zu relativieren, das heißt zu würdigen, ist.3
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ziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, S. 87f. und 242ff. Siehe Humberto R. Maturana: Biologie der Realität. Aus dem Englischen von Wolfram K. Köck, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 25, und Heinz von Foerster: KybernEthik, Berlin: Merve 1993, S. 84f.
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Die Prämissen und Folgen dieser Aufforderung sind unter dem Stichwort des »Konstruktivismus« breit diskutiert worden. Wenn man sich mit den philosophischen Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens seit John Locke und Immanuel Kant beschäftigt hat, versteht man die Aufregung nicht. Wenn man dann lernen muss, wie sehr die »Wissenschaft« auf Distanz gegenüber der »Philosophie« besteht, versteht man die Aufregung als Teil eines institutionell-universitär verankerten Streits der Fakultäten, der wenig mit Wissenschaft und noch weniger mit Philosophie zu tun hat. Man könnte diesen drei Aufforderungen eine vierte hinzufügen, die darauf hinausläuft, davon auszugehen, dass kaum ein Beobachter geneigt ist, welchen Aufforderungen auch immer zu folgen, und dass sowohl der Leser dieser Zeilen als auch ihr Autor Beispiele für solche widerwilligen Beobachter sind. Aber es hilft nichts. Theoretisches Arbeiten wird erst fruchtbar, wenn man sich bestimmten Zwängen unterwirft. Anders, auch davon darf man ausgehen, ist Experimentieren nicht möglich. Die Erinnerung an den Zwang, dem man sich unterwirft, ist außerdem heilsam. Sie schützt davor, die Aussagen, zu denen man gelangt, mit der Wirklichkeit zu verwechseln. Ihr Status besteht darin, sich mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen. Und dazu braucht man sowohl Hypothesen als auch Reserven.
II Nach diesen Vorbemerkungen wenden wir uns unserem Gegenstand zu. Die Aufgabe besteht darin, einen bestimmten architektursoziologischen Ansatz an einem Gegenstand exemplarisch vorzuführen. Wir wählen einen etwas ungewöhnlichen Gegenstand, den Abriss des Palasts der Republik in Berlin in den Jahren 1998 (Beschluss der Asbestsanierung) beziehungsweise 2003 (Beschluss des Abrisses durch den deutschen Bundestag am 13. November) bis heute. Ungewöhnlich ist dieser Gegenstand deswegen, weil man Architektur eher mit Aufbau als mit Abriss assoziiert. Bettet man architektonische Leistungen jedoch in den Zusammenhang der Stadtplanung und Raumgestaltung ein, muss man auch den Abriss als eine architektonische Maßnahme verstehen. Wir können uns diesem Gegenstand nun nähern, indem wir die genannten vier Aufforderungen abarbeiten. Die Nennung einer Systemreferenz ist uns von den Herausgebern des vorliegenden Bandes abgenommen worden. Architektur wird als Struktur oder Form innerhalb des sozialen Systems der Gesellschaft verstanden. Wir können mit dieser Entscheidung leben, da es zu den unzweifelhaften Leistungen der sozio197
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logischen Systemtheorie gehört, die Gesellschaft als ein selbständiges Sozialsystem herausgearbeitet und beschrieben zu haben. Das bringt die soziologische Systemtheorie auf den ersten Blick in einen Widerspruch zur soziologischen Klassik, da diese auf den Begriff der Gesellschaft zugunsten einer Analyse von Prozessen der Vergesellschaftung explizit verzichtet hat. Aber sowohl Gabriel Tarde als auch Georg Simmel arbeiten bereits mit ähnlichen Motiven wie die soziologische Systemtheorie mit dem Begriff der Gesellschaft. Sie verstehen die Gesellschaft als »Komplex« (Georg Simmel) der »Assoziation« (Gabriel de Tarde) und damit eher prozedural, funktional und operational als substantiell und ontologisch. Schwieriger wird es, wenn wir der zweiten Aufforderung zu folgen versuchen. An welchen Eigenwert des Sozialen, das heißt der Gesellschaft sollen wir uns halten, wenn wir nach dem Beitrag der Architektur zur Reproduktion der Gesellschaft fragen? Das AGIL-Schema von Talcott Parsons wäre eine Möglichkeit, Luhmanns zurückhaltendere Kombination von sachlicher Ausdifferenzierung und temporalem Systemerhalt, unter Einschluss der Wiederholung der Randdifferenz des Sozialen als Figur auch der Binnendifferenz, wäre eine andere. Wir wählen im Folgenden eine dritte Möglichkeit, die sich an Luhmanns Vorgabe der Verschaltung von Randdifferenz und Binnendifferenz orientiert und die Parsonssche Spezifikation im AGIL-Schema durch eine andere Spezifikation ersetzt, die nicht im Hinblick auf die Unterscheidung von Teilsystemen, sondern im Hinblick auf Variationen der Form der Kommunikation gearbeitet ist.
III Zieht man alle vier Aufforderungen des soziologisch-systemtheoretischen Forschungsprogramms zusammen, inklusive der vierten, bleibt nichts anderes übrig, als ein individuelles, ja idiosynkratisches Beobachtungsangebot vorzulegen. Wir wählen eine spezifische Form des Sozialen, die wir als rekursive Eigenfunktion der Gesellschaft postulieren und zunächst auf die Architektur im Allgemeinen, dann auf den Abriss des Palasts der Republik im Besonderen anwenden. Wir formulieren ein Modell des Sozialen, dessen wichtigste Eigenschaften darin bestehen, dass es ein Kommunikationsmodell, ein Netzwerkmodell, ein Systemmodell und ein Beobachtermodell ist. Ein möglicher Gesamttitel für diese Modelleigenschaften ist der eine Formmodells des Sozialen, verstanden als ein Formmodell der Gesellschaft. Wir sprechen von einem Formmodell, weil wir davon ausgehen, dass das wesentliche Moment 198
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des Modells die Verwendung von ineinander geschachtelten Unterscheidungen ist, die als diese operativ vollzogenen Unterscheidungen eine »Form« uno actu hervorbringen und in Anspruch nehmen, die den Möglichkeitenraum des Sozialen beschreibt. Wir greifen auf den von G. Spencer-Brown entwickelten Formbegriff zurück, der die im Bereich des Sozialen wichtige Eigenschaft hat, nicht nur mit Unterscheidungen zu rechnen, die selbstreferentiell verwendet werden können, sondern auch mit Unterscheidungen, die auf Leerstellen, auf Unbestimmtes, aber Bestimmbares, verweisen können.4 Der Indikationenkalkül, den Spencer-Brown aus seinem Verständnis einer Unterscheidung als Zweiseitenform gewinnt, bietet den mathematisch bedeutenden und soziologisch entscheidenden Vorteil, dass Operatoren in einem nächsten Rechenschritt zu Operanden werden können, und umgekehrt. Das Formmodell selbst startet arbiträr wie jede Unterscheidung und kann nur in dieser Form damit rechnen, im Laufe seiner Entfaltung an Überzeugungskraft, das heißt an Brauchbarkeit zu gewinnen. Wir arbeiten mit folgender Form, die hier zunächst eingeführt und erläutert werden soll:
Abb. 1: The Form of Social Action.
Sicherheitshalber verankern wir die Arbitrarität in der soziologischen Klassik und beginnen mit Max Weber. Die erste Unterscheidung jeden Kalküls des Sozialen, so sagen wir, ist die Bezeichnung einer Handlung (»action«), die insofern sozial ist, als sie in den Augen eines Beobachters mit Sinn ausgestattet ist und in dieser Form einen Bezug, eine Ab-
4
Siehe George Spencer-Brown: Laws of Form: Gesetze der Form, Lübeck: Bohmeyer 1997. 199
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hängigkeit und eine Variierbarkeit herstellt.5 Handlung ist Handlung im Kontext von Sinn6, so lautet unsere erste Unterscheidung, die wir allerdings sofort dahingehend ergänzen, dass wir den Sinn nicht als gegeben, sondern als konstruiert und zwar als durch irgendeine Form von Rede (»talk«) konstruiert postulieren. Sinn wird gemacht, Sinn ist umstritten und Sinn ist häufig schon deswegen unklar, um den Streit nach Bedarf zuspitzen, verlagern und moderieren zu können. Deswegen nehmen wir als eine dritte Variable an, dass die Rede ihrerseits durch einen Gruppenaspekt bestimmt ist, unter dem wir nichts anderes verstehen als einen mitformulierten Anspruch auf soziale Kohäsion, einen Zugehörigkeitsanspruch, der nach Bedarf und Kontext seinerseits mit Distinktion ausgestattet ist.7 Diese Distinktion und dieser Zugehörigkeitsanspruch sind ihrerseits viertens grundsätzlich relativ zu verstehen, das heißt sie setzen eine Handlung oder eine Kommunikation in eine Beziehung zu einem Netz weiterer sozialer Beziehungen, das aus Positionen besteht, von denen eine besetzt wird, andere auf Abstand gehalten, dritte angestrebt und vierte übersehen werden. Die fünfte Variable des Modells ist wiederum als Kontextvariable der vierten zu verstehen, ihrerseits jedoch, auch im Sinne des linguistischen Konzepts der Kontextualisierung8, das Ergebnis einer aktiv vorzunehmenden oder passiv zu erlebenden, in jedem Fall in die Dynamik der Beobachtung zweiter Ordnung eingebetteten Unterscheidung. Wir nennen sie die Variable der Gesellschaft (»society«) und verstehen daraus jenen Zusammenhang des Handelns und Erlebens, um dessen Beobachtung und Beschreibung es uns im Formmodell des Sozialen geht und von dem wir behaupten, dass er selbst ein Argument der Selektion, Reproduktion und Variation des Sozialen ist.9 Sechstens schließlich enthält 5 6
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So M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, § 1. Bzw.: Handlung ist durch soziale Beobachtung gerahmtes und auf accounts und agents und agencies zugerechnetes Handeln, so Alfred Schütz: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt: Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974. Siehe z.B. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982; grundsätzlich zur Kategorie der Gruppe und des Netzes (group und grid) Mary Douglas: Natural Symbols: Explorations in Cosmology, Nachdruck der 2. Aufl., New York: Pantheon 1982. Siehe John Gumperz: Discourse Strategies, Cambridge: UP 1982; Peter Auer/Aldo di Luzio (Hg.): The Contextualization of Language, Amsterdam: Benjamins 1992. Siehe in diesem Sinne v.a. N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft; speziell zum Erfordernis, sowohl eine Handlungs- als auch eine Erlebensperspektive einnehmen zu können, ders.: »Erleben und Handeln«, in: Ders., Soziologische Aufklärung 3: Soziales System, Gesellschaft, Or-
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unser Modell getreu dem Formbegriff von Spencer-Brown auf der Außenseite aller genannten Unterscheidungen den unmarked state, in den Beobachter je nach Anlass und Überzeugung Götter und Geister, die Natur und die Technik oder das Bewusstsein und den Körper der Menschen projizieren können, mit je ebenso unmerklichen wie wichtigen Konsequenzen für die Einfärbung der Werte aller anderen Variablen. Das Formmodell des Sozialen wäre jedoch kein Modell der unbestimmten und sich nur unter dieser Voraussetzung selber bestimmenden Verhältnisse des Sozialen, wenn nicht jede dieser Unterscheidungen innerhalb der sozialen Verhältnisse nicht nur getroffen, sondern ihrerseits auch wiederum beobachtet und damit resymmetrisiert würde. Diese Resymmetrisierung asymmetrisierender Setzungen, darauf hatten wir bereits hingewiesen, übersetzt Bestimmtheit zurück in Unbestimmtheit, wenn auch, wenn man so sagen darf, in eine bestimmte, sich an Bestimmungsleistungen erinnernde und diese unterlaufende Unbestimmtheit. Spencer-Brown hat zur Beobachtung und Berechnung dieser Möglichkeit der Resymmetrisierung das Konzept des Wiedereintritts (»reentry«) einer Unterscheidung in den Raum der Unterscheidung vorgeschlagen.10 Wir machen uns diese Kalkültechnik zunutze, indem wir nach Modalitäten oder Dynamiken der Kommunikation fragen, die geeignet wären, die Werte der genannten Variablen sowohl zu beobachten und ihre Bezeichnung sie erinnernd zu bestätigen, als auch sie zu unterlaufen und zugunsten neuer Werte, abhängig von neuen Setzungen innerhalb derselben Variablen, auszutauschen. Die Wiedereinführung der Unterscheidung zwischen Rede und Handlung, so beobachten wir, geschieht auf einer Ebene, die wir entweder streng darwinistisch als Ebene der sexuellen Selektion (»mating«) oder philosophisch abgemildert als Ebene der Auseinandersetzung um eine Lebensform (»living«) bezeichnen können.11 Unter der Perspektive der sexuellen Selektion verstehen wir eine Perspektive, die jede Handlung und jede Kommunikation unter dem Gesichtspunkt überprüft, ob sie den Zugang zu Sexualpartnern verbessert oder verschlechtert, sicherstellt oder gefährdet. Damit ist nicht gemeint, dass jede Kommunikation und jede Handlung unter Menschen letztlich »nur das eine« will, sondern dass dieser Gesichtspunkt derjenige ist, der auf die Letztfrage der Validität einer Selektion zu antworten vermag. Wie vermittelt auch immer geht es bei mehr Fragen des Verhaltens und ganisation, Opladen: Westdeutscher Verlag 1981, S. 67-80; ders.: Soziale Systeme, S. 124f. 10 Siehe G. Spencer-Brown: Laws of Form, S. 48ff. 11 Siehe Charles Darwin: The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex, London: Penguin Books 2004. 201
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Unterlassens um die Frage des Zugangs zu, der Kontrolle und der Dokumentation der Kontrolle über mögliche Sexualpartner, als man sich dies gemeinhin eingesteht. Wir bewegen uns in einem Spannungsfeld vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Potenz beziehungsweise ihrer Behauptung und beziehen daraus einen Teil des Witzes und der Evidenz einer Situation.12 Die Wiedereinführung einer Unterscheidung beobachtet beide Seiten der Unterscheidung auf ihre Werte hin, um sie sei es zu bestätigen, sei es zu hinterfragen. Sie verdoppelt die Bezeichnung der Werte, hebt sie hervor, macht sie bedeutsam und kann sie so mit jener Ambivalenz ausstatten, die sie verhandelbar macht. Das kann auf Affirmation und auf Kritik hinauslaufen, darüber hinaus jedoch nur dazu führen, dass die bezeichneten Werte der Variablen entweder bestehen bleiben oder zugunsten anderer Werte modifiziert werden. Eine Negation der Variablen steht hingegen nicht zur Disposition. Denn das würde unserer Annahme dieser Form als Eigenfunktion des Sozialen widersprechen. Man kann die Werte der Variablen auf Null setzen und so die Variablen als Leerstellen mitführen, aber das wird nichts daran ändern, dass mitbeobachtet werden kann, für welche Variable die Leerstelle steht. Die Unterscheidung zwischen Rede und Gruppe, so nehmen wir an, wird auf einer Wiedereintrittsebene verhandelbar gemacht, die wir als »gaming« bezeichnen wollen, das heißt als ein Spiel mit Angeboten und um Angebote, die andere und den Anbieter selbst dazu bringen sollen, einer Vereinbarung, einer Verabredung, einem Versprechen, einer Bindung zuzustimmen. Das kann einvernehmlich, aber auch betrügerisch geschehen und wird in jedem Fall durch weitere Angebote gedoppelt werden, die bereits jetzt dafür sorgen, dass das »postdecision regret« klein gehalten werden beziehungsweise der Ärger über den Betrug sich in Grenzen halten kann.13 Wichtig ist, dass sich hierdurch wiederum in beiden Richtungen sowohl die Werte der Gruppenkohäsion als auch die Inhalte der Rede modifizieren lassen, was die erwartbaren Handlungen und deren Erleben qua Kontextvariation nicht unbeeinflusst lässt. Auf einer nächst höheren (oder tieferen) Ebene werden dauerhaftere Positionen ausgehandelt. Hier geht es darum, mit welchem Gruppenver-
12 Siehe mit einer Fülle von Beispielen Geoffrey Miller: The Mating Mind: How Sexual Choice Shaped the Evolution of Human Nature, New York: Anchor Books 2001. 13 Siehe J. Richard Harrison/James G. March: »Decision Making and Postdecision Surprises«, in: Administrative Science Quarterly 29 (1984), S. 26-42; Erving Goffman: »On Cooling the Mark Out: Some Aspects of Adaptation to Failure«, in: Psychiatry. Journal of Interpersonal Relations 15 (1952), S. 451-463. 202
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ständnis welche Positionen in einem weiteren Netzwerk bezogen werden, wobei das Netz aus der Perspektive der Gruppe und die Gruppe aus der Perspektive des Netzes eingeschätzt und variiert werden. Hier kommt das group/grid-Schema in jenem Sinne zum Tragen, den Mary Douglas vorgeschlagen hat.14 Es hält Abstand zu klassischen Formen der Untersuchung sozialer Klassen und Schichten, wie sie in der Soziologie üblich sind, und setzt statt dessen auf eine Analyse sozialer Strukturen, wie sie sowohl einfacheren Stammesgesellschaften als auch komplexen modernen Gesellschaften angemessener sind. Wir rekurrieren auf Machtspiele, wenn wir diese Wiedereintrittsebene als »tying« bezeichnen, und meinen damit jene Spiele, die vor dem Hintergrund der Produktion passender Ungewissheiten Willkür einsetzen, um Willkür konditionieren zu können.15 Wie man weiß, sind diese Spiele ebenso riskant wie voraussetzungsvoll16, so dass man davon ausgehen kann, dass sie nur funktionieren, wenn sie ihrerseits darauf achten, dass sie in eine Rücksichtnahme auf die Werte aller anderen Variablen eingebettet sind. Keine Variable und kein Wiedereintritt entgehen den Rekursivitätsbedingungen der Form des Sozialen. Eben das ist mit dem Ausdruck der Eigenfunktion gemeint. Deutlich wird dies auch dann, wenn man darauf hinweist, dass zum Beispiel die Spiele der Macht ihrerseits nur unternommen und von beiden Seiten, der machtunterworfenen und der machtüberlegenen Seite akzeptiert und ausgehalten werden, wenn Alternativen auch und gerade dann in Sicht sieht, wenn niemand damit rechnet, dass sie in Anspruch genommen werden.17 Nur die Möglichkeit eines »switching«, eines Wechsels des Netzwerks oder der Position im Netzwerk, motiviert Möglichkeiten des »tying«. Switching bedeutet, dass ein Netzwerk im Hinblick auf weitere gesellschaftliche Möglichkeiten auf Alternativen hin beobachtet wird. Niemand würde eine Position oder ein Netzwerk verlassen, kein Satz würde formuliert, keine Handlung würde unternommen werden, wenn man befürchten müsste, damit aus der Gesellschaft heraus
14 Mary Douglas: »Natural Symbols«, in: Dies., In the Active Voice. Explorations in Cosmology, Nachdruck der 2. Aufl., New York: Pantheon 1982, S. 190ff. 15 Im Sinne von Michel Crozier/Erhard Friedberg: L’acteur et le système: Les contraintes de l’action collective, Paris: Le Seuil 1977 und N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 355ff. 16 Siehe nur Heinrich Popitz: Phänomene der Macht: Autorität, Herrschaft, Gewalt, Technik, Tübingen: Mohr 1986. 17 Siehe dazu Niklas Luhmann: Macht, Stuttgart: Enke 1975. 203
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zu fallen.18 Nein, im Gegenteil, es muss mindestens dieselbe als eine andere Gesellschaft sichtbar sein, um sich auf das Risiko der Auflösung einer Bindung einzulassen. Die Wiedereintrittsebene des »knowing« schließlich formuliert die Bedingung, unter der die Gesellschaft selber in Differenz zum unmarked state beobachtet werden kann. Dazu muss man Weisheitsbedingungen genügen, die in jeder Gesellschaft hoch ritualisiert sind und überdies als Grenzphänomene am Rande der Narretei markiert werden, in genau dieser Form jedoch auch wirksam und einflussreich sind. Traditionelle Gesellschaften markieren die Möglichkeiten dieses Wissens religiös, moderne zunächst (natur-)wissenschaftlich, dann zunehmend ökologisch, ohne dass man bis heute genau wüsste und wissen könnte, mit welchen Variablen diese Außenseite der Gesellschaft bezeichnet und welche Werte diese Variable annehmen könnte. Und selbst wenn man es wüsste, so könnte man mit dem Blick auf die Form der Unterscheidung vorhersagen, dass sich durch eine Bezeichnung der Außenseite der Gesellschaft diese nur um eine weitere Stelle nach rechts verschieben würde. Das Unbestimmte wird nur zugunsten der Inanspruchnahme eines neuen Kontextes des Unbestimmten bestimmbar, weil jede Unterscheidung eine Außenseite voraussetzt, die mitläuft und allenfalls anschließend und zugunsten einer neuen Unterscheidung, für die dasselbe gilt, bezeichnet werden kann.
IV Erläutern wir diese Form am Beispiel der Architektur, um sie anschließend und abschließend am Beispiel des Abrisses des Palasts der Republik zu erproben. Hier ist nicht der Ort, um sich auf eine ausführliche Diskussion über Architektur einzulassen. Wir beschränken uns auf Andeutungen, die im Übrigen davon profitieren, dass es in der überlieferten Architekturtheorie hinreichende Ansatzpunkte für eine unterscheidungsund formtheoretische Betrachtung der Architektur gibt. Wir spezifizieren die Variablen des Formmodells des Sozialen für den Fall der sozialen Form der Architektur und lassen die Wiedereintrittsebenen offen, weil diese nur anhand konkreter empirischer Fälle bestimmt werden können. Wir gehen von folgendem Modell aus:
18 Zu den Mechanismen und Techniken der Sicherung gesellschaftlicher Grenzen z.B. Erving Goffman: »Embarassement and Social Organization«, in: American Journal of Sociology 62 (1956), S. 264-271. 204
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Abb. 2: Die soziale Form der Architektur. Die modelltechnisch riskanteste Setzung ist immer diejenige der Leitunterscheidung. Sie legt einerseits Vieles von dem fest, was nur anschließend beobachtet werden kann, muss aber andererseits durch die Werte aller anderen Variablen der Formgleichung in ihren Werten noch modifiziert werden können. Man erkennt an den vier Anschlussunterscheidungen, in die die Leitunterscheidung eingebettet ist, wieviel Determination, aber auch die mit dieser Determination einhergehende Subversion durch den Wiedereintritt der Unterscheidung in den Raum der Unterscheidung, diese Leitunterscheidung gleichsam aushalten muss. Als eine in diesem Sinne belastbare Leitunterscheidung hat sich in der Architekturtheorie die Unterscheidung von Innen und Außen bewährt. Es geht dabei nicht um die Aufteilung des Raums, wie ja überhaupt die Raumkategorie von raffinierteren Architekturtheorien mit Bedacht auf Abstand gehalten wird, sondern um die soziale Organisation von Abschirmung und Zugänglichkeit.19 Insbesondere die moderne Architektur verweist explizit darauf, dass die Unterscheidung von Innen und Außen nur als Zusammenhang zu denken ist, das heißt nur als Asymmetrie, die resymmetrisierbar ist, architektonischen Wert be-
19 Siehe hierzu und zum Folgenden Robert Venturi, Komplexität und Widerspruch in der Architektur, Braunschweig: Vieweg 1978, S. 105ff.; Christoph Feldtkeller: Der architektonische Raum – eine Fiktion: Annäherungen an eine funktionale Betrachtung, Braunschweig: Vieweg 1989; Dirk Baecker: »Die Dekonstruktion der Schachtel: Innen und Außen in der Architektur«, in: Niklas Luhmann/Frederick D. Bunsen/Ders., Unbeobachtbare Welt: Über Kunst und Architektur, Bielefeld: Haux 1990, S. 67104. 205
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kommt.20 Das Grab, in das man zwar hinein kommt, aus dem man jedoch nicht wieder heraus kommt, ist in diesem Sinne der Nullpunkt der Architektur, die Nichtarchitektur.21 Im Zweifel wird die Unterscheidung von Innen und Außen daher auch nicht räumlich, sondern temporal gedacht. Die bauliche ebenso wie soziale Form der Architektur sortiert Ereignisse, nämlich das Drinnensein, das Draußensein und den Übergang, nicht Räume. Räume ergeben sich sekundär aus den Ansprüchen, die diese Ereignisse stellen. Wenn sie anschließend sortieren zu können scheinen, was möglich und was unmöglich ist, so muss vorab mit Bezug auf entsprechende Handlungen erwartet werden können, was möglich ist und was nicht. Das Innen und das Außen der Architektur macht demnach nur Sinn im Rahmen der Fragen, welchen Schutz ein Innen bietet, wie man zu diesem Innen Zugang findet und zu welchem Außen dieses Innen seinerseits einen Zugang bietet.22 Man kann sich dies biologisch und soziologisch ganz elementar denken, indem sich das Innen und das Außen daran messen lassen, zu welchen Sexualpartnern man auf welche Art und Weise gelangt, wie man sich und seine Partner vor den Zugriffen anderer schützen kann und wie man von dort aus die Möglichkeit des Werbens um und Erreichens weiterer Sexualpartner offen hält. Insofern ist der Harem ein mögliches Paradigma jeder Architektur. Er organisiert hoch differentiell, nach Geschlechtern sortiert, wer wann mit wem und angesichts welcher Alternativen und mit Aussicht auf welche Zukunft die Chance hat, Nachkommen zu zeugen und aufwachsen zu lassen. Aber es fiele nicht schwer, auch den Wohnraum (mit seiner Unterscheidung, so vorhanden, von Wohnzimmer, Esszimmer, Schlafzimmer und Kinderzimmern), Werkstatt und Büro, den Laden, den Dorfplatz, den Boulevard, das Theater und die Kirche unter dem Gesichtspunkt der architektonischen Gestaltung von Zugangschancen, Sicherungschancen und Legitimitätschancen des Umgangs mit und Anspruchs auf Sexualpartner zu sortieren. Man ist dies heute nicht mehr gewohnt, weil der biologische Ansatz unter den Geistes- und Sozialwissenschaften als »darwinistisch« in Ver20 Siehe hierzu insbesondere Le Corbusier: 1922 – Ausblick auf eine Architektur (Vers une architecture), Berlin: Ullstein 1963, S. 23, 135ff.; Frank Lloyd Wright: Schriften und Bauten, München: Langen Müller 1963, S. 39ff. u. ö.; Peter Eisenman: »Blue Line Text«, in: Architectural Design 58, H. 7 (1988), S. 6-9. 21 So Otto Antonia Graf: Die Kunst des Quadrats: Zum Werk von Frank Lloyd Wright, 2 Bde., Wien: Böhlau 1983, S. 175. 22 Siehe dazu ausführlich Dirk Baecker: »Am Anfang war das Dach«, in: Ders., Studien zur nächsten Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 73-70. 206
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ruf gekommen ist. Aber wenn man den darwinistischen Ansatz nicht nur mit der Figur des »survival of the fittest« in Verbindung bringt, sondern eben auch mit den Faszinationen und Komplikationen einer »sexual selection«, die nicht nur genetisch bedingt sein mag, sondern darüber hinaus dem Imitationswettbewerb des Sozialen und den daraus entstehenden Hackordnungen ihren evolutionären Sinn und ihre strukturelle und kulturelle Dynamik gibt, dann sollte es nicht schwer fallen, Charles Darwin nicht nur als Biologen, sondern auch als Soziologen zu lesen. Aber diese Diskussion müssen wir hier nicht führen. Wichtiger ist, dass sich aus der Zugangs- und Schutzfunktion der Architektur im Rahmen unserer Form des Sozialen das Postulat eines Kontextes, einer nächsten Unterscheidung, ergibt, das wir hier als das Postulat des Ausgriffs auf eine Gemeinschaft und der Inanspruchnahme von einer Gemeinschaft bezeichnen, in der bestimmte Spiele des Werbens um andere, der Darstellung der Legitimität und Konventionalität dieses Werbens, der Organisation der Randbedingungen der sexuellen Selektion sowie der Regulierung daraus entstehender Konflikte üblich und erwartbar sind. Es fiele vermutlich nicht schwer, der Architektur und darüber hinaus der Stadtplanung und Raumgestaltung eine stigmergetische Funktion zuzuschreiben, die ähnlich wie in Insektenstaaten das soziale Verhalten auch der Menschen nicht über direkte Kommunikation, sondern über die Variation der Umwelt reguliert und kontrolliert.23 Aber das lebt davon, dass der Kontext einer beschreibbaren Gemeinschaft mitorganisiert, was jeweils möglich und erwartbar ist. Diese Gemeinschaft hat Grenzen, die als diese Grenzen einen architektonischen Wert nicht nur im räumlichen, sondern auch im sozialen Sinne haben. Mithilfe dieser überdies nicht nur räumlich (was wo), sondern auch temporal (was wann) gezogenen Grenzen organisiert eine Gemeinschaft, welche Positionen einzelnen Handlungen und den dazu gehörenden Individuen angemessen, zugeordnet und verboten oder nur unter zusätzlichen Bedingungen erreichbar sind. Man könnte anstelle von Positionen auch von Karrieren sprechen, um deutlich zu machen, dass jede einzelne Position nicht nur als solche, sondern immer auch im Kontext anderer, von ihr aus erreichbarer Positionen zählt und ordnet. Nur das Kalkül der 23 Siehe zum Konzept der Stigmergie Pierre-P. Grassé: »La Reconstruction du nid et les Coordinations Inter-Individuelles chez Bellicositermes Natalensis et Cubitermes sp: La théorie de la Stigmergie: Essai d’interprétation du Comportement des Termites Constructeurs«, in: Insectes Sociaux 6 (1959), S. 41-82; Eric Bonabeau/Marco Dorigo/Guy Theraulaz: Swarm Intelligence: From Natural to Artificial Systems, New York: Oxford UP 1999; und mit einer dazu passenden Semiotik der Stadt Horst SchmidtBrümmer/Andreas Schulz: Stadt & Zeichen: Lesarten der täglichen Umwelt, Köln: DuMont Schauberg 1976. 207
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Positionen jedenfalls vermag verständlich und beschreibbar zu machen, welche Gemeinschaften unter welchen Bedingungen gesucht, ausgehalten und auch wieder verlassen werden. Man müsste sich die von Christopher Alexander in seinem umfangreichen Projekt einer Bestandsaufnahme der architektonischen »pattern language« zusammengestellten Muster und Beispiele noch einmal anschauen24, um zu untersuchen, wie die Architektur diesem Kalkül der Positionen und Karrieren dient. Häusern und Straßen, Zimmern und Fluren jedenfalls müsste sich ablesen lassen, mit welchem Ehrgeiz Positionen markiert und der Kontakt mit anderen und weiteren Positionen offen gehalten wird. Diese positionale Dynamik ist in einfachen Gesellschaften abhängig von Übergangsritualen (»rites de passage«), die ihren architektonischen Ort und ihren genau bestimmten Moment haben, und in modernen Gesellschaft von der Rekontextualisierung jeder Art von Gemeinschaft im Rahmen einer Geschichte, die vielfältige Vergangenheiten, bewegliche Gegenwarten und offene Zukünfte präsent macht. Diese Geschichte steht in der Architektur an der Stelle jener Gesellschaft, von der die Architektur bislang keinen Begriff und keine Vorstellung hat. Sie ist, so könnte man vermuten, selbst zu sehr damit beschäftigt, im Raum auseinander zu halten und zusammen zu führen, was an Orten und Ordnungen jeweils zu organisieren und zu strukturieren ist, um sich darüber klar zu werden, dass sie selbst eine elementar gesellschaftliche Praxis der Differenzierung und Reintegration ist.25 Was man weiß, wenn man weiß, dass jede Architektur einen Platz in der Geschichte und damit in der Gesellschaft hat, ist auch in der Archi24 Siehe nur Christopher Alexander: A Pattern Language: Towns, Buildings, Constructions, New York: Oxford UP 1977; ders.: The Nature of Order: An Essay on the Art of Building and the Nature of the Universe, Book One: The Phenomenon of Life, Berkeley, Cal.: Center for Environmental Structure 1980, Reprint 2002. 25 Wenn die Architektur auf die Gesellschaft reflektiert, dann gern in der Absicht, sich entweder der Möglichkeit oder der Unmöglichkeit von »Standards« zu vergewissern. Siehe etwa Walter Gropius: Architektur: Wege zu einer optischen Kultur, Frankfurt a.M.: Fischer 1956, S. 65ff.; Le Corbusier: Ausblick, S. 105ff.; und kritisch Kenneth Frampton: Die Architektur der Moderne. Eine kritische Baugeschichte, 3. Aufl., Stuttgart: DVA 1989. Siehe zum soziologischen Einspruch der Gesellschaft gegen den Raum G. Simmel: Soziologie, S. 687ff.; sowie, insbesondere aus der Perspektive der Stadt ders.: »Die Großstädte und das Geistesleben« (1903), in: Ders., Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft, hg. von M. Landmann im Verein mit M. Susman, Stuttgart: Koehler 1957, S. 227-242; Robert E. Park/Ernest W. Burgess/Roderick D. McKenzie: The City (1925), Reprint Chicago: UP 1967; und Henri Lefèbvre: Die Revolution der Städte. Aus dem Französischen von Ulrike Roeckl, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976. 208
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tekturtheorie eine offene Frage.26 Dieser Frage wenden wir uns nun abschließend zu, wobei wir in Kauf nehmen, dass die Beschreibung der sozialen Form der Architektur in diesem Abschnitt über erste Andeutungen nicht hinausgeführt hat. Das darf jedoch nicht verwundern. Der soziologisch-systemtheoretische Ansatz hat es in der Fassung, die wir hier vorstellen, mit der allgemeinen Form des Sozialen in jeweils singulären, das heißt irreduziblen, nicht ableitbaren Zusammenhängen zu tun. Erst am empirischen Beispiel kann die Form ausbuchstabiert werden. Streng genommen haben wir es in diesem Ansatz allerdings nie mit Beispielen, sondern immer mit dem Heterogenen und Besonderen selber zu tun, für das auch die »allgemeine« Form der Architektur und auch die »allgemeine« Form des Sozialen bereits »Beispiele« sind. Mir ist nicht klar, wie man mit dieser Paradoxie des Besonderen im Kontext des selbstähnlich Anderen methodologisch korrekt umgeht.
V Wie würdigt man aus unserer soziologisch-systemtheoretischen Sicht und unter Einsatz eines Formmodells des Sozialen den Abriss des Palasts der Republik in Berlin als ein architektonisches Ereignis? Dass es sich um ein architektonisches Ereignis handelt, unterliegt in dem Moment keinem Zweifel mehr, in dem man an einem erweiterten Begriff der Architektur arbeitet, der die Gestaltung von Möglichkeitenräumen, die Initiierung sozialer Prozesse aller Art, mit einschließt. Für einen solchen erweiterten, damit jedoch auch im Sinne der hier vorgelegten Überlegungen erst soziologisch brauchbaren Architekturbegriff hat das Projekt Urban Catalyst, das sich mit der Initiative »Zwischenpalastnutzung« für einen Erhalt des Palasts der Republik als Haus der Kultur engagiert hat, überzeugende Argumente vorgetragen.27 Der Abriss schafft eine Leerstelle und damit eine Möglichkeit.28 Dass diese Möglichkeit nur wenig mit den Möglichkeiten zu tun hat, die durch die vom Projekt 26 Siehe u.a. Rem Koolhaas: »Die Berliner Schlossdebatte und die Krise der modernen Architektur«, in: Philipp Misselwitz/Philipp Oswalt (Hg.), Fun Palace 200X: Der Berliner Schlossplatz, Abriss, Neubau oder grüne Wiese? Berlin: Martin Schmitz 2005, S. 45-49. 27 Siehe studio urban catalyst: »Zwischenpalastnutzung«, in: arch+ 167 (2003), S. 56-60; und vgl. aktuelle Beiträge auf www.urbancatalyst.net. 28 Von einem »Abriss auf Vorrat« spricht Karl Ganser: »Die Zukunft des Schlossplatzes – Grüne Wiese«, in: Amelie Deuflhard u.a. (Hg.), Volkspalast: Zwischen Aktivismus und Kunst, Berlin: Theater der Zeit 2006, S. 170-174. Siehe auch Dirk Baecker: »Ein Fall für die Oberfinanzdirektion«, ebd., S. 259-261. 209
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Urban Catalyst angestrebte und im Sommer 2004 unter dem Titel »Volkspalast« auch realisierte Zwischenpalastnutzung avisiert wurden, liegt auf der Hand und ist Teil der Problematik, die durch eine Formanalyse unterstrichen werden soll. Es läge in der Natur der Sache, die Analytik des Formmodells des Sozialen in einer Sequenz mehrerer Seminare, Foren und Begegnungen mit Akteuren und Betroffenen, unterstützt durch Interviews und Literaturrecherchen zum Tragen zu bringen. Das wäre jedoch ein umfangreicher Prozess, zu dem ein Anlass und ein Auftrag vorliegen müssten, was hier jedoch nicht der Fall ist. Kunst, Theater und auch die Organisationsberatung arbeiten bereits mit interaktiven und partizipativen Forschungsformaten, die im Fach der Soziologie eher die Ausnahme sind.29 Wir können einen solchen Prozess hier nur simulieren, so wie man zuweilen auch in der systemtherapeutischen Strukturaufstellung in einer kleinen Gruppe oder sogar im Zwiegespräch mit sich selbst analytische Leistungen erbringen kann, die dann freilich auf die Praxis warten müssen, in der sie erprobt werden können. Wir verlassen uns auf die Literatur, die mit oder ohne ein diskursanalytisches Selbstverständnis30 so oder so Stellung bezieht in einem immer noch virulenten und trotz des aktuell (Sommer 2008) stattfindenden Abrisses auch so bald nicht entschiedenen, wenn überhaupt entscheidbaren Streit. Auf diesen Streit können wir uns beziehen, um einen Vorschlag für eine mögliche Form des Abrisses zu unterbreiten.31 Wir liefern also nur ein Beispiel (unsere Simulation) für ein Beispiel (den Abriss des Palasts der Republik) für ein Beispiel (die soziale Form der Architektur) für ein Beispiel (die Form des Sozialen) einer möglichen Fassung (der formtheoretischen) des soziologischsystemtheoretischen Ansatzes, wobei keines dieser Beispiele auf ein Allgemeines verweist, das nicht seinerseits wieder ein Beispiel wäre. Wir bewegen uns idiosynkratisch in ökologischen und damit parasitären
29 Vgl. jedoch mit der Idee einer die Akteure und die Betroffenen einbeziehenden, interdisziplinären und »mehrdimensionalen« Forschungsorganisation Peter Heintel: »Motivforschung und Forschungsorganisation – ein neuer integrativer Ansatz«, in: Heinz Fischer (Hg.), Forschungspolitik für die 90er Jahre, Wien: Springer 1985, S. 373-414. 30 Siehe explizit diskurstheoretisch Stella Schmid: »Wer konstruiert den öffentlichen Raum? Die diskursive Produktion strategisch genutzten Raumes in den Medien«, in: Amelie Deuflhard u.a. (Hg.), Volkspalast: Zwischen Aktivismus und Kunst, Berlin: Theater der Zeit 2006, S. 161-168. 31 Siehe zum Folgenden verschiedene Beiträge in Ph. Misselwitz/Ph. Oswalt: Fun Palace; A. Deuflhard u. a.: Volkspalast; Arnt Cobbers: Abgerissen: Verschwundene Bauwerke in Berlin, Berlin: Jaron 2007, S. 9-13; und Alexander Schug (Hg.): Palast der Republik: Politischer Diskurs und private Erinnerung, Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2007. 210
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Zusammenhängen, laufend darauf angewiesen, auf ein Ganzes hin »ergänzt« (Heidegger) zu werden, und in dieser Form irreduzibel in unserer Singularität. Wenn wir uns daher den Abriss des Palasts der Republik als ein architektonisches Ereignis anschauen und uns dafür zum einen an die Form des Sozialen und zum anderen an die soziale Form der Architektur halten, sehen wir zunächst und als Leitunterscheidung der Form, nach der wir suchen, dass mit dem Abriss des Palasts die Handlung (»action«) in die Welt gesetzt wird, dass dort, wo früher der Palast stand, hinfort kein Innen und kein Außen mehr möglich sei. Mit dem Abriss des Palasts der Republik wird die Tatsache geschaffen, dass der Palast der Republik nicht mehr zugänglich ist, in ihm nichts mehr stattfinden kann und aus ihm heraus kein Blick mehr auf welche Welt auch immer geworfen werden kann. Kein Innen und kein Außen! Das klingt so trivial wie jede Tatsache, hat jedoch in dieser Formulierung des unbestreitbaren Vorteil, dass diese Tatsache zwischen den Gegnern und den Befürwortern des Abrisses sowie zwischen den verschiedenen Gegnern (Alt-DDRler und Neuberliner) und den verschiedenen Befürwortern (Freunden des Schlosswiederaufbaus und Freunden einer kompletten Neugestaltung des Schlossplatzes) unbestritten ist. Worüber auch immer man streitet, über diese Tatsache streitet man nicht. Im Gegenteil, sie ist der Anlass, der Ausgangspunkt und der immer wiederkehrende Bezugspunkt des Streits. Sie ist sein rekursiver Dreh- und Angelpunkt. Und mehr will die Formel einer Form des architektonischen Ereignisses des Abrisses des Palasts der Republik mit diesem Wert der ersten Variable der Gleichung auch nicht zum Ausdruck bringen:
Abb. 3: Die soziale Form des Abrisses des Palasts der Republik.
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So eindeutig die Handlung, so offen die Rede. Niemand kommt darum herum, diese Negation eines Innen und eines Außen in einen Kontext zu setzen, der etwas mit der historischen Nutzung und Bedeutung des Gebäudes zu tun hat, dass abgerissen wird. Und nicht nur das. Man kommt auch nicht darum herum, das abzureißende Gebäude seinerseits in den Kontext zu setzen, in dem sein Bau an diesem Ort stattgefunden hat. Mit anderen Worten, der Abriss erinnert einen 50 Jahre früher stattgefundenen Abriss, nämlich den Abriss des Hohenzollernschlosses durch die Regierung Walter Ulbrichts, eine zwanzigjährige Diskussion über die Frage, in welcher Form ein »Zentrales Gebäude« an diesem wichtigen Ort einer Berliner »Mitte« zu konzipieren ist und schließlich den Bau des Palasts der Republik, wie er 1973 begonnen und 1974 vollendet und eingeweiht worden ist.32 Mit anderen Worten, der Kontext der Negation von Innen und Außen ist, gleichsam auf Gedeih und Verderb, der Sozialismus. Zum Sozialismus muss jeder Stellung nehmen, der im Streit um den Abriss des Palasts der Republik Stellung nimmt. Und nur im Kontext der verschiedenen diskursiven Möglichkeiten der Bewertung des Sozialismus ist der Abriss zu verstehen. Wer am Palast der Republik festhalten will, sei es als Zentrum der politischen Repräsentation in der DDR, sei es als Kulturhaus, das bis tief in die Nacht offen für alle war33, nimmt ebenso zum Sozialismus und seinen unguten wie guten Traditionen Stellung, wie derjenige, den der Palast der Republik an einen sozialistischen »Unrechtsstaat« erinnert, an den hinfort nichts mehr erinnern soll, oder derjenige, dem die sozialistische Geschichte gleichgültig ist, weil er sich von der Wahrnehmung neuer Chancen der Stadtplanung nicht ablenken will. Der Abriss des Palasts der Republik ist daher ohne den Bezug auf die Gemeinschaft (»group«) des SED-Einparteienstaats und des mehr oder minder glücklich in diesen Staat inkludierten DDR-Volks nicht zu
32 Siehe dazu A. Cobbers: Abgerissen, S. 9 ff.; Claire Colomb: »›Revanchistische Stadtplanung‹ und ›Burdened Landscapes‹ im neuen Berlin: Der Beitrag der Zwischennutzungsinitiative in der Debatte um die Zukunft der Spreeinsel«, in: Amelie Deuflhard u.a. (Hg.), Volkspalast: Zwischen Aktivismus und Kunst, Berlin: Theater der Zeit 2006, S. 142-152; und Katrin Jordan: »Vom Hohenzollernschloss zum Volkspalast: Ein kurzer Abriss zur Geschichte des Schlossplatzes«, in: Alexander Schug (Hg.), Palast der Republik: Politischer Diskurs und private Erinnerung, Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2007, S. 20-29. 33 Siehe hierzu mit vielen Eindrücken Andreas Ulrich: Palast der Republik: Ein Rückblick, München: Prestel 2006. 212
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denken.34 Wer über den Sozialismus spricht (»talk«), kann von der Art und Weise seiner Organisation der Gesellschaft in eine bestimmte Auffassung von Gemeinschaft nicht schweigen. Wer gegen den Abriss des Palasts der Republik streitet, nimmt für diese Gemeinschaft Stellung, so sehr er dann auch anschließend darauf Wert legen kann, eher die Seite der in diesem Fall repressiven, aber als benevolent dargestellten Macht oder die Seite des trotz allem eigensinnigen und widerspenstigen, mindestens jedoch illusionslosen Volks betont. Und wer für den Abriss des Palasts der Republik streitet, nimmt gegen diese Gemeinschaft Stellung, gleichgültig ob dies zugunsten einer anderen, etwa der »preußischen« Gemeinschaft ähnlicher Provenienz (wenn auch mit einem komplett andersartigem Sozialgefüge) oder zugunsten einer eher offenen, kosmopolitischen Gemeinschaftsferne geschieht. So oder so bewegt man sich um Umfeld des rekursiven Eigenwerts einer bestimmten Gemeinschaftsauffassung, die mit dem Palast der Republik, seiner Geschichte und seinem Ort unabdingbar verbunden ist und durch die Schleifen des Streits zwar verunklart und durchlöchert, aber nicht aufgelöst werden kann. In jeder Subversion eines bestimmten Werts durch die Variation der anderen Werte der anderen Variablen steckt gleichzeitig, so lernt man aus dem Indikationenkalkül von Spencer-Brown, eine Form der Erinnerung, des Gedächtnisses. Die Art und Weise, wie zu der im Palast der Republik verkörperten Gemeinschaftsauffassung Stellung bezogen und letztlich für den Abriss des Palasts votiert wird, ist nicht zu trennen von der Reflexion auf individuelle Positionen im Prozess der Wiedervereinigung Deutschlands (»grid«). Diese individuellen Positionen sind jeweils mit Karrieren, auch Nullkarrieren, verknüpft, aus denen und aus deren Bewertung heraus der Abriss erlebt, erhandelt und beurteilt wird. Diese individuellen Positionen und ihre Karriereoptionen bezeichnet man vielleicht am besten mithilfe der Ausdrücke »Abwickler« und »Abgewickelte«, denn genau darum geht es. Es geht um die Entwertung ganzer Klassen und Kohorten von Karriereoptionen mit dem Abschied von einer DDR-Gesellschaft, deren Diskontinuierung politischer Beschluss war und ist.35 Und es geht gleichzeitig darum, die eigenen Positionen und Karriereoptionen, die in
34 Siehe hierzu Detlef Pollack: »Das Ende einer Organisationsgesellschaft: Systemtheoretische Überlegungen zum gesellschaftlichen Umbruch in der DDR«, in: Zeitschrift für Soziologie 19 (1990), S. 292-307. 35 Vom »politischen Primat« der Transformation der DDR-Gesellschaft in die BRD-Gesellschaft spricht Helmut Wiesenthal: »Sturz in die Moderne: Der Sonderstatus der DDR in den Transformationsprozessen Osteuropas«, in: Michael Brie/Dieter Klein (Hg.), Zwischen den Zeiten: Ein Jahrhundert verabschiedet sich, Hamburg: VSA 1992, S. 162-188. 213
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der BRD-Gesellschaft verankert waren und sind, der Diskussion über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu entziehen. Man sprach und stritt über die Abwicklung, aber nur selten über die Abwickler. Der Abriss des Palasts wird mit dem Blick auf den Palast entschieden; die wenigen Versuche, den Blick zurück auf die Abreißer zu wenden und deren Legitimität auch nur zu diskutieren, finden kaum Gehör beziehungsweise beschränken sich jenseits der bislang nicht dokumentierten Diskussion unter Stadtplanern36 auf eine intellektuell wache Kunst- und Kulturszene.37 Auch dieser Streit wird geführt und nicht entschieden. Der Abriss wird beschlossen und entweder bedauert oder begrüßt, indem der Blick auf den dadurch entstehenden Platz (»Platz« für die einen, »Ödnis in der Mitte der Stadt« für die anderen) gelenkt wird, auf dessen Leere nun alle Projektionen gerichtet werden, die etwas mit der gesellschaftlichen Selbstverortung des Abrisses des Palasts zu tun haben: vom Wiederaufbau des Schlosses bis zur offenen Zukunft der bundesrepublikanischen Gesellschaft in einer Weltgesellschaft, der zum Beispiel die Planung eines »Humboldt-Forums« im wiederaufgebauten Schloss mit einer Nutzung durch Völkerkundemuseen, Bibliotheken, Universität- und Kongressräume Rechnung tragen soll.
36 Alternative Vorschläge zur Nutzung und Gestaltung entweder des Palastgebäudes oder des Schlossplatzes sind typischerweise besser dokumentiert als die Diskussion des Planungsprozesses. Siehe die Antworten auf einen »Call for Ideas« in Philipp Misselwitz/Philipp Oswalt (Hg.), Fun Palace 200X: Der Berliner Schlossplatz, Abriss, Neubau oder grüne Wiese? Berlin: Martin Schmitz 2005, S. 180ff.; sowie mit bedenkenswerten Ideen Rem Koolhaas: »Power Lab«, ebd., S. 152f. und Qingyun Ma: »Chinesische Insel«, ebd., S. 154-157. 37 Es ist typisch für Unterscheidungen, dass sie die Aufmerksamkeit auf das mit den Unterscheidungen Bezeichnete lenken und von denjenigen, die mithilfe dieser Unterscheidungen beobachten, abziehen. Siehe für den klassischen Fall der Beobachtung und Bezeichnung von Frauen durch Männer Linda R. Waugh: »Marked and Unmarked: A Choice between Unequals in Semiotic Structure«, in: Semiotica 38, 1982, S. 299-318. Und vgl. für einen Versuch, die Aufmerksamkeit auf den Planungsprozess des Abrisses selber zu lenken, Adrienne Goehler: »Unideologische Zukunft in einem entideologisierten Raum«, in: Amelie Deuflhard u.a. (Hg.), Volkspalast: Zwischen Aktivismus und Kunst, Berlin: Theater der Zeit 2006, S. 262f.; Peter Conradi: »Abweichende Meinung«, ebd., S. 176-180; Philipp Oswalt/Philipp Misselwitz: »Zwischennutzung: Eine Berliner Geschichte, ebd., S. 22-25; dies.: »Einführung«, in: Dies. (Hg.), Fun Palace 200X: Der Berliner Schlossplatz, Abriss, Neubau oder grüne Wiese? Berlin: Martin Schmitz 2005, S. 32-37; Philipp Oswalt: »1000 Schlösser«, ebd., S. 172ff.; sowie die gesamte Debatte um Zwischenpalastnutzung und Volkspalast. 214
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Die Wiedereintritts- beziehungsweise Subversions- und Erinnerungsebenen, auf denen über den Abriss des Palasts gestritten und dieser Abriss beschlossen wird, sind nach all dem relativ einfach zu benennen: Der Abriss ist ein Ergebnis der politischen Wende in der DDR, des Falls der Mauer und der Art und Weise, wie der Übergang von der sozialistischen DDR-Gesellschaft zur kapitalistischen BRD-Gesellschaft als Entscheidung gegen den Sozialismus politisch gestaltet wird.38 Mit der Wende werden die Bedingungen der Reproduktion der deutschen Gesellschaft bis hin zur Frage, wie man sich zugunsten wieviel Nachwuchses seine Sexualpartner sucht, nicht neu geschrieben, sondern ein weiteres Mal durchgestrichen. Nicht erst mit der Wende im Jahr 1989, sondern mit der nationalsozialistischen Katastrophe ist die deutsche Gesellschaft auch sexuell aus dem Tritt gekommen.39 Hilflos oszilliert sie zwischen Lust und Frust. Sie weiß nicht, wann es auf welchen Einsatz ankommt, wie an den erzielten Ergebnissen festzuhalten oder wie sie wieder aufzugeben sind und ab wann die gelungen und verfehlten Versuche der Reproduktion nur noch eine kontemplative Aufmerksamkeit verdienen. Mit der Wende kollabieren zwei Formen der Reproduktionsschwäche, die eine karrierebetont, die andere politisch renitent, und hinterlassen an ihrer Stelle eine unbestimmte Leere. Der Palast muss abgerissen werden, weil an seiner Stelle ohne rechten Schwung wieder etwas »errichtet« werden soll. Aber mit diesem Ergebnis hätte er eben auch erhalten werden können. Wer wozu verführt werden soll oder kann, ist der Diskussion über den Palast nach der Wende nicht abzulesen. Bestenfalls geht es um die kulturelle Reflexion und die historische Erinnerung.40 Der Abriss ist nur zu verstehen, wenn man ihn als eine Stellungnahme der bundesrepublikanischen Politik, ihrer Parteien und Behörden (mit welchen Abweichungen auch immer) gegen den SED-Staat begreift und liest. Der Abriss ist das Signal schlechthin, dass jetzt neue Verhältnisse herrschen, worin auch immer die bestehen, und das man keinesfalls gewillt ist, irgendeine Art von Graswurzelselbstorganisation, die aus der architektonisch aufgeklärten Kunst- und Kulturszene angeregt 38 Ein hochgradig nicht-trivialer Prozess, der dieselben Akteure verändert, von denen er durchgesetzt und erduldet wird. Siehe Dirk Baecker: Poker im Osten: Probleme der Transformationsgesellschaft, Berlin: Merve 1998. 39 Auch innerhalb Europas fallen die demographischen Daten Deutschlands allerdings schon seit den 1920er Jahren aus jedem Erklärungs- und Vergleichsrahmen heraus; auch am jüngsten Anstieg der Fertilitätsraten Nordund Westeuropas hat Deutschland keinen Anteil, so The Economist: »Suddenly, the world looks younger«, 16.6.2007, S. 27ff. 40 Der Titel des Buches von Uwe Rada: Hauptstadt der Verdrängung: Berliner Zukunft zwischen Kiez und Metropole, Berlin: Schwarze Risse, Rote Strasse 1997, ist sicherlich anders gemeint. Aber er passt. 215
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wird41, an die Stelle der gewohnten Machtpolitik von oben auch im Bereich der Raumgestaltung und Stadtplanung treten zu lassen. Schließlich geht es um Berlin als Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland und damit nicht zuletzt um eine schwierige Selbstpositionierung im Verhältnis zum preußischen, Weimarer, nationalsozialistischen und sozialistischen Berlin. Die Selbstpositionierung ist so schwierig, dass es noch nicht einmal gelingt, den Blick von der »Mitte« Berlins als der »Mitte« Deutschlands auf eine ökonomisch und kulturell gefährdete Großstadt zu lenken, die mit anderen Großstädten in Europa und auf anderen Kontinenten konkurriert.42
Abb. 4: Abgerissener Palast der Republik. Oder ist es umgekehrt? Soll eine repräsentative Gestaltung der »Mitte« zu dieser Konkurrenz erst befähigen? Niemand kann diese Frage beantworten. Es bleibt bei einem »Abriss auf Vorrat« (Karl Ganser), der in sich die ganze Verlegenheit bündelt, die den Streit um den Abriss und den Beschluss zum Abriss eben auch kennzeichnet: eine Verlegenheit, die historisch mit dem Blick sowohl auf die Vergangenheit als auch auf die Zukunft Deutschlands begründet ist, die etwas mit dem Verlust urbanistischer und architektonischer Stilsicherheit zu tun hat und die darüber hinaus ganz elementar daher rührt, dass es gegenwärtig niemanden gibt, der für diesen Ort in dieser Stadt eine Nutzungsentscheidung treffen beziehungsweise auch finanzieren könnte.43
41 Siehe noch einmal die Initiativen im Umkreis der Zwischenpalastnutzung. 42 So N. Brodowski: Geschichts(ab)riss, S. 57ff. 43 So auch Rem Koolhaas: »Architektur soll keine Werte verkörpern, sondern den Nutzen des Gebäudes: Ein Gespräch mit Rem Koolhaas von Mi216
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Nicht ohne Ironie muss man daher feststellen, dass der robusteste Eigenwert der architektonischen Gestaltung des Schlossplatzes nicht der Aufbau, sondern der Abriss ist.44 Das Hohenzollernschloss war trotz oder wegen seiner raumplanerisch möglicherweise besseren Platzierung45 vielen Beobachtern ebenso sehr ein Dorn im Auge wie der Palast der Republik es war und wie es, wenn man aus soziologisch-systemtheoretischer Sicht eine Prognose wagen darf, der nächste Bau auch sein wird. Mit dieser Einsicht wäre dann allerdings vielleicht doch etwas gewonnen. Der Abriss markiert die Möglichkeit der Schaffung einer Leere, mit der, als dieser Möglichkeit, jede politisch motivierte Gestaltung von Stadt rechnen muss. Der doppelte Abriss hinterlässt auf dem Schlossplatz eine Spur, die sich durch nichts wird aus der Welt schaffen lassen und die jederzeit gegen jede Planung von neuem wieder aufgerufen werden kann. Auch das ist Architektur.46 Denn auch das ist eine kluge Gestaltung von Stadt und ist ein weiterer Anlass, die Diskussion über Architektur und Stadtplanung in den Kontext der gesellschaftlichen Selbstorganisation einzubetten.
riam Böttger«, in: Amelie Deuflhard u.a. (Hg.), Volkspalast: Zwischen Aktivismus und Kunst, Berlin: Theater der Zeit 2006, S. 186f. 44 Dazu passt, dass es ausgerechnet die Modernität der Palastarchitektur ist, die sein Schicksal besiegelt: Der verwendete Asbestzement galt zum Zeitpunkt des Baus des Palasts (1973) als das Non plus ultra des Brandschutzes. So A. Cobbers: Abgerissen, S. 11. Später entdeckte man, dass Asbest krebserregend ist. Die Asbestsanierung 1998 leitete den Abriss des Palasts ein. Siehe zur diskursiven Rolle des krebserregenden Asbests S. Schmid: Wer konstruiert, S. 163. 45 So Friedrich von Stechow: »Auf der Suche nach dem Genius Loci«, in: Amelie Deuflhard u.a. (Hg.), Volkspalast: Zwischen Aktivismus und Kunst, Berlin: Theater der Zeit 2006, S. 238f. 46 So sehr sich die politisch vertretene Stadtplanung dann auch gegen jede Leere wendet. Siehe dazu und zu möglichen Gegenmodellen Philipp Oswalt et al.: Berlin – Stadt ohne Form: Strategien einer anderen Architektur, München: Prestel 2000, sowie, immerhin, Senatsverwaltung für Stadtentwicklung (Hg.): Urban Pioneers, Berlin: Rohn 2007. 217
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Kann Architektur leben? Die › Architektur der Gesellschaft‹ aus Sicht de r Diskursanal yse Michel Foucaults STEFAN MEISSNER
1 Einleitung Architekten und Soziologen haben mehr gemeinsam als sie gemeinhin voneinander denken. So dürfte es für beide verständlich sein, dass monokausales Denken nicht allzu weit führen kann. Denn weder ist eine Beschreibung der modernen Gesellschaft ohne eine der Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Massenmedien und Kunst möglich, noch können Architekten bauen, wenn sie diese verschiedenen sozialen Teilsphären nicht mit berücksichtigen – denn es braucht neben dem (zumeist) künstlerisch intendierten Entwurf Kenntnisse unter anderem in Statik, Bauklimatik, Baurecht, Akustik. Beide haben es also mit einem komplexen Gegenstand zu tun. Sollte diese Feststellung noch keine allzu große Bestürzung auslösen, könnte die weitergehende Behauptung, dass nämlich der Gegenstand beider Disziplinen nicht ohne weiteres zu beobachten ist, zumindest Potential für eine erstaunte Reaktion besitzen. Dass die ›Gesellschaft‹ nicht ohne weiteres zu sehen ist, dürfte dabei noch einleuchten, aber Architektur? ›Architektur‹ – so die verbreitete Meinung – hat doch genau diesen Vorteil, dass sie nämlich anschaulich, gar als »schweres Medium« existiert.1 Und wer dies nicht glauben würde, der
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Joachim Fischer: »Die Bedeutung der Philosophischen Anthropologie für die Architektursoziologie«, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Soziale Ungleichheit – Kulturelle Unterschiede. Verhandlungen des 32. Kongresses 223
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solle einfach versuchen, durch eine geschlossene Tür zu gehen. Dies kann natürlich nicht bestritten werden, jedoch bleibt die These, dass es nicht ohne weiteres möglich ist, Architektur zu beobachten: weil in Frage steht, was ›Architektur‹ überhaupt ist und folglich wie diese zu beobachten sei. Woran ist zu erkennen, dass es sich um Architektur handelt? Weil man sich an ihr stoßen kann? Sicher nicht! Weil sie eine Schutzhülle für den Menschen ist, um der Natur zu trotzen? Aber dann wäre ein Auto oder eine Höhle auch ›Architektur‹. Es ist nicht ganz so trivial wie gedacht. Selbst wenn Architekten gefragt werden, was denn Architektur sei, kommen ebenso viele Antworten, wie Leute, die interviewt werden, zum Vorschein. Sicher gibt es Konzepte, auf welche man sich immer wieder bezieht: wie die Kriterien Vitruvs2: »firmitas« (Stabilität), »utilitas« (Zweckmäßigkeit) und »venustas« (Anmut) oder andere Konzepte: »Funktion« (»form follows function«3); »Konstruktion« (im Sinne von konstruktiver Wahrhaftigkeit); »Raum« oder »Form« seien das entscheidende. Letztlich bleibt man jedoch – gerade als Soziologe – fragend zurück. Wonach muss geschaut werden, um zu wissen, dass es sich um ›Architektur‹ handelt? Zumindest für die moderne Architektur oder (um es neutraler zu formulieren) für die Architektur der Moderne4 wird dies und damit eine Definition von Architektur zum Problem. Architektur der Moderne scheint vielmehr ähnlich der modernen Kunst »kommentarbedürftig« zu sein5; sie ist nicht von allein zu verstehen. Dabei steht nun aber in Frage, ob der Kommentar zur Architektur selbst zur Architektur zu zählen ist. Architektur ist überhaupt nicht ohne den sie beschreibenden Kommentar
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der DGS in München 2004, Frankfurt a.M./New York: Campus 2006, CD, S. 3417-3429. M. Vitruvius Pollio: Zehn Bücher über Architektur (ca. 25 v. Chr.). Übersetzt und erläutert v. J. Prestel (1912ff.), 3. Aufl. Baden-Baden: Koerner 1983. Vgl. desweiteren Fritz Neumeyer: Quellentexte zur Architekturtheorie, München u.a.: Prestel 2002. Louis H. Sullivan: »Das große Bürogebäude, künstlerisch betrachtet (am. 1896)«, in: Paul Sherman, Louis H. Sullivan – Ein amerikanischer Architekt und Denker, Frankfurt a.M.: Ullstein 1963, S. 144-149. In diesem Aufsatz wird der Terminus »Architektur der Moderne« verwendet, der die Architektur bezeichnet, die in der Moderne (also etwa ab 1800) gebaut wurde. »Moderne Architektur« ist als analytischer Begriff problematisch, da er als Kampfbegriff einer kleinen Gruppe – zumeist Avantgarde genannt – gegen eine Architekturtradition diente. Wird er hier dennoch verwendet, so in dieser Bedeutung: als eine Stilrichtung der Architektur in der Moderne. Arnold Gehlen: Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei (1960), 3. erw. Aufl. Frankfurt a.M.: Athenäum 1986.
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zu verstehen; unsere Vorstellung von der jeweiligen Architektur wird durch Texte, Modelle, Fotografien und Filme über diese (und nicht nur durch ihre reale Anschauung) konstituiert. Jeder hat beispielsweise ein bestimmtes Bild des Bauhausgebäudes in Dessau im Kopf und muss nicht unbedingt in Dessau gewesen sein. Diese Bilder sind sehr einheitlich; sie entsprechen jedoch nur mit großen Abstrichen dem gegenwärtigen, ›wirklichen‹ Zustand. Architektur ist geprägt von den gesellschaftlichen Diskursen – und dies auf beiden Ebenen: sowohl die Architekten rezipieren Bilder und Metaphern; sie wissen immer genau, was gerade ›in‹ ist und setzen dies dann in reale Architektur um; die Rezipienten und Nutzer von Architektur sind ihrerseits mit Kommentaren, Bildern und Vorstellungen ›vorbelastet‹. Bei dieser Unmöglichkeit, Architektur zu verstehen, ohne die gesellschaftlichen Deutungen zu berücksichtigen, setzt die Diskursanalyse an. Sie rekonstruiert die historischen Plausibilitäten und Selbstverständlichkeiten, welche sich in den Architekturdiskursen ausdrücken. Sie ist in diesem Sinne eine Beobachtung zweiter Ordnung, welche beobachtet, wie Architektur in einem bestimmten historischen Kontext beobachtet wird. Sie greift dabei auf empirisches historisches Material zu – in diesem Aufsatz auf verschiedene Architekturzeitschriften der 20er Jahre – und rekonstruiert aus diesem die spezifischen Wissensordnungen, welche die jeweiligen Beobachtungen konstituieren. Insofern kann eine diskursanalytisch geschulte Architektursoziologie vor allem etwas zu dem spezifischen, historischen Wissen sagen, dass das je konkrete Bauen ermöglicht. Um dies deutlich zu machen, wird im Folgenden eine kleine Analyse vollzogen: der Auseinandersetzungen um das »Völkerbundgebäude«. Dazu muss jedoch zunächst in einem ersten Schritt das Konzept des Diskurses vorgestellt werden, um die Analyse nachvollziehbar machen zu können. Abschließend wird der Gewinn der diskursanalytischen Perspektive dargestellt; oder das, was an dem Phänomen Architektur durch eine diskursanalytische Perspektive sichtbar gemacht werden kann.
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2 Das Konzept des Diskurses Dass das Konzept des Diskurses6 selbst eine diskursive Wirkung entfacht hat, scheint (allein durch die vielen Aufsätze über mögliche Anschlüsse innerhalb der sozialwissenschaftlichen Methodendiskussion7) nicht von der Hand zu weisen zu sein.8 Es könnte gar von einem Begriff à la mode gesprochen werden. Zugleich muss jedoch in Rechnung gestellt werden, dass sogenannte »Diskursanalysen« aufgrund der Vielfältigkeit ihrer Operationalisierungsversuche keine einheitlichen oder gar formalisierten Zugriffsverfahren auf das Material sind. Vielmehr verschwimmt in der Folge das, was als Diskurs zu bezeichnen wäre, und wird zu einem geradezu aufdringlichen »Gemurmel des Diskurses«.9
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Vgl. Hannelore Bublitz: Diskurs, Bielefeld: transcript 2003. Neben den Diskussionen um den Diskursbegriff entstanden im deutschsprachigen Kontext weitere methodologische Perspektiven, welche in eine ähnliche Richtung zielen. Prominent ist die (historische) Begriffsgeschichte (vgl. Reinhart Koselleck: »Einleitung«, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart: Klett Cotta 1972, S. XIII-XXVII); die an die klassische Wissenssoziologie anschließenden Semantikstudien Luhmanns (v.a. »Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition«, in: Ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, S. 9-71) und Hans Blumenbergs »Metaphorologie« (Paradigmen zu einer Metaphorologie (1960), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999). Einen Überblick über diese Perspektiven und deren Berührungspunkte bietet Hans E. Bödeker (Hg.): Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte, Göttingen: Wallstein 2002. Zur (eher theoretisch gefassten) Schnittstelle von Luhmanns Semantikstudien und dem diskurstheoretischen Ansatz Foucaults: Urs Stäheli: Sinnzusammenbrüche. Eine dekonstruktive Lektüre von Niklas Luhmanns Systemtheorie, Weilerswist: Velbrück 2000, bes. S. 184-229. Vgl. Reiner Keller u.a. (Hg.): Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, 1: Theorien und Methoden, Wiesbaden: VS 2001; ders.: Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen, Wiesbaden: VS 2004. Da im deutschen Theoriekontext auch der (normative) Diskursbegriff Jürgen Habermas’ (kondensiert in der Formel »des herrschaftsfreien Diskurses«) existiert, ist mit »Diskurs« vielfältiges gemeint. Über die Faustformel »[i]mmer, wenn das Wort Diskurs in Verbindung mit den Präpositionen ›über‹, ›um‹, ›an‹ oder ›zu‹ auftritt (oder auftreten könnte)«, habe »der Autor oder die Autorin nicht Foucault im Hinterkopf, sondern Habermas – und oft nicht mal den« (Peter Schöttler: »Wer hat Angst vor dem ›linguistic turn‹?«, in: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), S. 134-151, hier 141) kann zumindest eine grobe Klärung erreicht werden.
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2.1 Diskurstheorie und Diskursanalyse10 Die Markierung einer Differenz zu anderen Verständnissen des Diskurses und der Konzentration auf Michel Foucault ist nur ein erster Schritt der Klärung. Ein zweiter Schritt besteht in der heuristischen Unterscheidung des Diskurs-Konzepts bei Foucault selbst in zwei Perspektiven. Analytisch ließe sich dabei »Diskurstheorie« von »Diskursanalyse« unterscheiden. Diskurstheorie ist das ›populärere‹, verbreitetere Verständnis von Foucault. Es rekurriert vor allem auf die machttheoretischen Einsichten Foucaults, wie sie pointiert in der InauguralVorlesung am Collége de France Die Ordnung des Diskurses formuliert sind. Dort heißt es bspw.: »Ich setze voraus, daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen.«11 In diesem Vortrag geht es Foucault um eine erkenntnistheoretische Fundierung dessen, was ein Diskurs im Gegensatz zu »Sprechen« und »Denken« sein könnte; zudem wird das Diskursmit dem Machtkonzept verknüpft. Folglich geht es in dieser Perspektive um die Erforschung der Macht-Effekte des Diskurses. Ganz anderes kommt in den Blick, wenn man den methodologischen Überlegungen der »Archäologie des Wissens« folgt: hier geht es nicht um eine erkenntnistheoretische Plausibilisierung des Diskurses (im Singular), sondern darum, konkrete Diskurse (im Plural) hinsichtlich der darin zu Tage tretenden Denkmuster und Plausibilitäten untersuchen und analysieren zu können. Diese beiden Perspektiven sind zu unterscheiden. Zumeist wird in einer mit Foucault arbeitenden Architektursoziologie eine »Dispositiv«-Analyse gemacht und damit eine Analyse vollzogen, die vornehmlich die »disziplinierenden« Effekte von (bestimmten) Architekturen in den Blick nimmt, also ihre Materialität beobachtet.12 In 10 Dieses Kapitel basiert in Argumentation und begrifflicher Unterscheidung auf Dominik Schrage: »Kultur als Materialität oder Material – Diskurstheorie oder Diskursanalyse?« In: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Soziale Ungleichheit – Kulturelle Unterschiede, Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München 2004, Frankfurt a.M./New York: Campus 2006, CD, S. 1806-1813. 11 Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses (frz. 1971), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 11. 12 Diese Perspektive nahelegende Texte von Michel Foucault sind: Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (frz. 1975), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976; ders.: »Andere Räume« (frz. 1967), in: Jan Engelmann (Hg.), Foucault. Botschaften der Macht, Stutt227
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dieser Perspektive ist dann Foucaults Studie zum Panopticon in »Überwachen und Strafen« zentral.13 Im vorliegenden Aufsatz wird dagegen vorgeschlagen, Foucault mit seinen methodologischen Überlegungen hinsichtlich der Diskursanalyse ernst zu nehmen. Es wird zunächst nachgezeichnet, was darunter zu verstehen ist, um dann den Gewinn einer solchen Untersuchung anhand der Debatte um das Völkerbundgebäude in Genf herauszukristallisieren zu können.
2.2 Diskursanalyse zwischen Methode und Theorie Ein Diskurs wird hier gefasst als die stets endliche und zeitlich begrenzte Menge von Aussagen. Die zentrale Frage, die dann eine Diskursanalyse stellt, ist: »Wie kommt es, dass eine bestimmte Aussage und keine andere an ihre Stelle getreten ist?«14 Bei dieser Frage wird jedoch nicht auf ein Subjekt, dass bestimmte Aussagen tätigt, referenziert, da es nicht darum geht, »unterhalb des Diskurses das Denken des Menschen erforschen«.15 Fragen nach Intentionen und Interessen der Akteure werden damit zunächst eingeklammert, weil es innerhalb einer diskursanalytischen Perspektive unmöglich erscheint, die Gedanken anderer analysieren zu können. Stattdessen wird der Fokus auf die Möglichkeitsbedingungen des Kommunizierten gelegt, in der Hoffnung, dass dies den Horizont dessen abstecken kann, in dem zu einer bestimmten Zeit in einen bestimmten Kontext gedacht werden konnte. Diskursanalyse ist also weder eine strukturalistische noch eine hermeneutische Analyse. Vielmehr handelt es sich um ein Verfahren, mit dem historisch variable Ordnungen des Denkens rekonstruiert werden. Insofern ließe sich Diskursanalyse als methodisches Verfahren begreifen, dass in einer systematischen »Wendung des Blicks«16 und einer auf Dauer gestellten Haltung der Distanzierung besteht. Der Vorteil dieser diskursanalytischen Perspektive
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gart: DVA 1999, S. 145-160 sowie ders.: »Raum, Wissen und Macht« (frz. 1982), in: Ders., Schriften 4. 1980-1988, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 324-341. Vgl. zur Konzentration auf ›Überwachen und Strafen‹ auch Herbert Schubert in diesem Band. Michel Foucault: »Über die Archäologie der Wissenschaften. Antwort für den Cercle d’èpistémologie« (frz. 1968), in: Ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. 1: 1954-1969, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 887931, 899. Michel Foucault: »Michel Foucault erklärt sein jüngstes Buch« (frz. 1969), in: Ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. 1: 1954-1969, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 980-991, 982. Michel Foucault: Archäologie des Wissens (frz. 1969), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 161.
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scheint darin zu liegen, Selbstverständlichkeiten, Plausibilitäten und Denkgewohnheiten zu problematisieren. Foucault beschreibt sein Verfahren folgendermaßen: Die Elemente eines Diskurses (Aussagen) müssen so erfasst werden, dass deren Eingewobensein in ein Aussagenfeld herausgeschält wird. Dieses Aussagenfeld konstituiert sich durch die Relationalität der Aussagen: durch deren Beziehungen und Differenzen zueinander. Insofern ist von einer paradoxalen Struktur auszugehen, da Aussagen sich nur durch das Regelsystem des Aussagenfeldes (Diskurs) beschreiben lassen; der Diskurs sich jedoch auch nur durch die Relationen der Aussagen untereinander darstellen lässt. Nimmt man Foucaults sicher oft im Vagen bleibende Formulierungen ernst, scheint der zentrale Punkt der zu sein, dass hier ein Verfahren beschrieben wird, welches nicht auf Axiomen, Prämissen, Selbstverständlichkeiten basiert. Es steht quer zu einem sozialwissenschaftlichen Methodenverständnis, in dem von einer gesicherten, unzweifelhaften Startposition ausgegangen wird.17 Deswegen ließe sich Foucaults Methodenvorstellung auch mit Niklas Luhmann als »kybernetisch« beschreiben, da nicht davon ausgegangen wird, dass es eine garantiert sichere Position geben kann, sondern vielmehr »daß die Sicherheit nur im Prozeß selbst liegen kann, das heißt nur darin, daß man sich vorbehält, die Ausgangspositionen aller Schritte (auch der »ersten«) jederzeit revidieren zu können, wenn der Prozeß dazu Anlaß gibt.« Insofern wäre die Methode ein permanentes »Praktizieren von Vorgriffen und Rückgriffen«.18 Im diskursanalytischen Forschungsprozess muss also immer auf einen noch nicht vollständig fassbaren Diskurs vorgegriffen werden, welcher dann wieder im Rückgriff die Aussagen in ihrer Besonderheit hervorstechen lässt, die sodann wiederum die Beschreibung des Diskurses etwas verschieben. Das Verfahren ist also als ein Oszillieren zu begreifen, bei dem sich im Laufe der Zeit die Regelhaftigkeit und Strukturiertheit des Diskurses herausschält. Damit rückt durch eine diskursanalytische Perspektive das problematische Verhältnis von wissenschaftlichen Methoden und »Realität« zunehmend in den Blick. Denn mit einer solchen Perspektive wird die Prämisse, dass Realität etwas vor jeder Beobachtung unabhängig Vorhandenes und Existierendes sei, problematisiert. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass durch den Zugriff auf Empirie, diese mit konstituiert 17 Methoden besitzen (sowohl quantitative als auch qualitative) eine theoretisch bestimmte Startposition (z.B. die spezifische Akteursvorstellung der Rational Choice Theorie). Dieses Verhältnis von Methode und Theorie wird von der Methodologie beschrieben. 18 Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 418. 229
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wird und somit jede Methode am Produzieren einer spezifischen Realität durch die Beobachtung dergleichen beteiligt ist. Der Anspruch an Wissenschaftlichkeit kann dann nicht darin bestehen, diese Herstellung von Wirklichkeit zu negieren respektive außer Kraft zu setzen, sondern diese mit in den Blick zu nehmen und dadurch zu kontrollieren. Insofern muss auch immer von einer (Re-)Konstruktion von Diskursen gesprochen werden, da dass Material in spezifischer Weise geordnet wird.
2.3 »Strategische« Vorentscheidungen der Diskursanalyse Wenn man Vorstehendes ernst nimmt, dann sollte verständlich sein, dass eine Diskursanalyse nicht im luftleeren Raum startet. Vielmehr muss sie im Vorfeld Entscheidungen treffen. Dominik Schrage nennt dafür vier Fragen19: Wie groß ist der zu analysierende Zeitraum? Werden komplexe Bereiche mit Verwerfungen und Brüchen oder eher weniger verwickelte Zusammenhänge untersucht? Werden außerdiskursive Fragen (Institutionen und Praktiken) behandelt? Ist die Untersuchung rein diskursanalytisch angelegt oder besitzt diese Perspektive nur eine Funktion neben anderen? Aus diesen Fragen ergibt sich die von ihm so genannte »Regionalität der Untersuchung«.20 Anzuschließen ist noch eine weitere Frage, die als notwendig erachtet wird, um das eigene diskursanalytische Vorgehen näher bestimmen zu können: Welche Art von Material (Archivmaterialien, Monographien, Zeitungen respektive andere (audio/visuelle) Medien) wird untersucht? Der Analysezeitraum hat entscheidenden Einfluss auf die diskursanalytische Konzeption. Je größer der Zeitraum, desto geringer der Auflösefaktor; Resultate sind dann meist generalisierende Aussagen über allgemeine Tendenzen. Je kleiner der Zeitraum, desto schwieriger wird die Einbettung der Ergebnisse in einen größeren Kontext. Für die im Folgenden dargestellte Analyse wurde ein relativ kleiner Zeitraum von etwa drei Jahren (1926-1929) gewählt, welcher keine Brüche oder diskursive Verwerfungen erwarten lässt. Vielmehr soll ein Feld aufgespannt werden, in dem die verschiedenen Diskurspositionen21, argumen19 D. Schrage: Was ist ein Diskurs? S. 68. 20 Ebd., S. 67. 21 Die »Diskurspositionen« ergeben sich erst aus der Analyse: dem Wechselspiel von Autor, Zeitschrift, Argument und sprachlicher Form. Insofern sind Diskurspositionen nicht direkt auf bestimmte Personen oder Zeitschriften zurechenbar, wenn auch Konvergenzen erwartbar werden. Deswegen werden im empirischen Teil nicht die einzelnen Artikel mit Autoren nachgewiesen. Nur wenn dies von Bedeutung war (z.B. wenn der Autor von anderen Texten als Referenz genutzt wurde), wurde der Autor genannt. 230
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tativen Strategien und Kräfteverhältnisse erscheinen. Zu erwarten ist, dass sich ein durch Oppositionen beschreibbares Feld von Aussagen aufzeigen lässt. Die Analyse beschäftigt sich mit der zeitgenössischen Beobachtung der Architektur und ist insofern rein diskursanalytisch angelegt. Als Material, aus welchem diese Beobachtungen erschlossen werden sollen, dienen Architekturzeitschriften aus dem gewählten Zeitraum. Das bedeutet zunächst, dass andere Materialien wie Filme (die so genannten Kulturfilme) oder Radiobeiträge der Zeit ausgeschlossen werden. Mit der Entscheidung, Architekturzeitschriften auszuwählen, kommt natürlich ein spezifischer Diskurs in den Blick. So ist etwa mit weniger Polemiken als in der Tagespresse zu rechnen, dafür sind jedoch genauere Analysen zu erwarten. Zudem bleibt die Analyse auf deutsche Architekturzeitschriften22 beschränkt, da die »Architekturentwicklung der zwanziger und frühen dreißiger Jahre [...] nicht nur an ihren Bauten ablesbar [ist], sie spiegelt sich ebenso in den sie begleitenden Publikationen. In erster Linie gilt dies natürlich für das aktuellere Medium der Bauzeitschriften«.23 Dies setzt ein bestimmtes Verständnis von Architektur voraus, das anerkennt, dass zur »Architektur« nicht nur die gebaute Architektur, sondern auch die Entwürfe, die Kommentare und Kritiken in anderen Medien dazugehören. Der für die Analyse zugrunde liegende Zeitschriften-Korpus besteht aus sechs Zeitschriften: der Bauwelt (BW), der Deutschen Bauhütte (BH), der Form (FORM), der Baukunst (BK), Wasmuths Monatshefte für Baukunst (WMH) und schließlich dem Zentralblatt der Bauverwaltung (ZBV). Hinsichtlich der politisch-weltanschaulichen Ausrichtung
22 Da es in den 1920ern eine erstaunliche Vielfalt an Büchern und Zeitschriften zur Architektur gab (vgl. Roland Jaeger: Neue Werkkunst. Architektenmonographien der zwanziger Jahre. Mit einer Basis-Bibliographie deutschsprachiger Architekturpublikationen 1918-1933, Berlin: Mann 1998) – allein für den deutschsprachigen Raum wurden ca. 100 verschiedene Zeitschriften gefunden – musste eine Auswahl getroffen werden. Diese wurde durch folgende Kriterien mitbestimmt: Auflagenhöhe, politisch-weltanschauliche Ausrichtung, ökonomische Abhängigkeit, Erscheinungsintervall, Verlagsort, Zielgruppe. Zudem wurden in den Korpus keine »Manifest«-Zeitschriften (»bauhaus«, »ABC«, »G.«, »das neue frankfurt«) aufgenommen, da die bisherige Architekturhistoriographie sich besonders auf diese kaprizierte. So erschienen sie auch häufig im Reprint und bilden, trotz ihrer damals geringen Auflage und damit Verbreitung, das bis heute zumeist verbreitete Bild der »modernen Architektur«. Da eine Analyse der Architektur der Moderne in den Zwanziger Jahren und keine weitere Analyse zur »modernen Architektur« vorgenommen werden soll, sollte die historio-graphische Hypostasierung dieser Texte nicht mitvollzogen werden. 23 R. Jaeger: Neue Werkkunst, S. 14. 231
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scheinen die Deutsche Bauhütte als eher konservatives Organ und die Form (die Zeitung des Deutschen Werkbundes) als eher progressives Organ die Pole zu bilden. Die Bauwelt, »die um 1930 mit 12.000 Exemplaren Deutschlands größte Architekturwochenzeitschrift war«24, gilt dagegen seit jeher als eine auf »Objektivität« bedachte Zeitschrift. Da sie im Gegensatz zu den meist monatlich erscheinenden anderen Zeitschriften wöchentlich herauskam, wird sie als »Rückgrat« der Analyse betrachtet. Wasmuths Monatshefte für Baukunst wurden aufgrund ihrer hohen Popularität in der Zeit25 mit in den Korpus aufgenommen. Die Baukunst erschien dagegen als Zeitschrift eines Bauunternehmers in der Hinsicht interessant, da sie sich auf eine andere ökonomische Basis stützen konnte. Letztlich wurde noch das Zentralblatt der Bauverwaltung mit aufgenommen, da es sich bei diesem Amtsblatt um eine wirkmächtige (aufgrund der Zustellung an die Mehrheit der Architekten) Zeitschrift handelte, welche laut Deutscher Bauhütte als »ein wissenschaftlich freies und unabhängiges Organ bekannt [ist], ein Blatt von ernster Gründlichkeit mit Führertendenz«.26
3 Die Debatte um das Gebäude für den Völkerbund »Ein Völkerbund, der leben will, muß sich mit dem Leben verbinden«, heißt es geradezu apodiktisch bei Sigfried Giedion mitten in der Debatte um den Bau des Völkerbundgebäudes27 am Ufer des Genfer Sees. Was hier unter »Leben« verstanden wird und gegen welche Diskurspositionen sich diese Aussage richtet, wird deutlich, wenn er fortfährt: »Leben heißt Produktivität, und die Produktivität findet sich bekanntlich nur in zukünftigen Kräften!«28 Der Völkerbund – immerhin die Vorläuferorganisation der heutigen UNO – könne also nur bestehen, wenn er sich den »zukünftigen Kräften«, welche für »Produktivität« stehen, zuwenden würde. Dies ist alles andere als selbstevident: warum ist »Leben« gleich Produktivität und warum sei diese »bekanntlich« nur in den zukünftigen Kräften zu finden? Und vor allem: was hat das mit Bauen und Architektur zu tun? Um den Kontext des Architektur-Wettbewerbs um das Ge-
24 25 26 27
Ebd., S. 95. Ebd., S. 47 und 138. BH 1927, S. 118. Auch wenn mehrheitlich von »Völkerbundpalast« gesprochen wird, verwendet die Analyse durchgängig den neutraleren Ausdruck »Völkerbundgebäude«. 28 BW 1927, S. 1096. 232
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bäude für den Völkerbund zu begreifen, soll zunächst eine chronologische Skizze des Wettbewerbs und dessen Ergebnis dargestellt werden. Danach werden die im Material anzutreffenden Argumente, Denkfiguren und Positionierungen rekonstruiert.
3.1 Chronologie des Wettbewerbs Nach der Gründung des Völkerbundes29 1919, die in weiten Teilen mit der Hoffnung verknüpft war, nun nach dem Weltkrieg mit »modernen« Mitteln einen andauernden Weltfrieden herzustellen, entspann sich zunächst die Diskussion um den Sitz der neuen internationalen Gemeinschaft. Nachdem die Entscheidung für Genf fiel, wollte man durch einen internationalen Wettbewerb einen Entwurf für das neue Gebäude finden, welcher die Idee des Völkerbundes ausdrücken könne. Erst 1926, zwei Jahre nach der Einberufung der Wettbewerbs-Jury30, war das Programm zusammengestellt. Es wurde an 2.400 Architekten versandt. Diese hatten sechs Monate Zeit, um 18 Pläne, die Projektbeschreibung und den Kostenvoranschlag, der 13 Millionen Franken31 nicht übersteigen sollte, beim Völkerbund einzureichen. Am Stichtag, dem 25.1.1927, waren 377 Projekte eingetroffen, welche unter Wahrung der Anonymität zu begutachten waren. Aufgrund zweier Probleme (der Frage, inwieweit eine Baukostenüberschreitung tolerabel sei, und der Frage, ob die Pläne in Tusche gezeichnet hätten abgeliefert werden sollen) konnte das Auswahlgremium erst am 5. Mai die Entscheidung treffen: die jedoch darin bestand, keines der 377 Projekte zur Ausführung zu empfehlen. Trotzdem wurden neun recht unterschiedliche Projekte mit dem ersten Preis gewürdigt (vgl. Tab., Abb. 1). Diese Heterogenität wurde damit begründet, dass sich die zeitgenössische Architektur in einer Phase der Entwicklung und Neuorientierung befände.32
29 Zur Geschichte des Wettbewerbs vgl. Richard Quincerot: »Schlachtfeld Völkerbundpalast – Eine Chronologie der Ereignisse um den Internationalen Architekturwettbewerb für den Völkerbundpalast in Genf 1923-1927«, in: Werner Oechslin (Hg.), Le Corbusier/Pierre Jeanneret. Das Wettbewerbsprojekt für den Völkerbundpalast in Genf 1927, Zürich: Ammann Verlag 1988, S. 53-71. 30 Diese Jury bestand nach einigen personellen Änderungen aus Horta (Belgien), Hoffmann (Österreich), Lemaresquier (Frankreich), Burnet (Großbritanien), Moser (Schweiz), Muggia (Italien), Berlage (Holland), Gabo (Spanien) und Tengbom (Schweden). 31 So jedenfalls in der Bauwelt 1927, S. 677 sowie 1928, S. 123. 32 Vgl. R. Quincerot: Schlachtfeld, S. 63. 233
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9 Preise je 12.500 Franken
9 lobende Erwähnungen an 1. Stelle je 3.800 Franken
9 lobende Erwähnungen an 2. Stelle je 2.500 Franken
E. zu Putlitz mit R. Klophaus und A. Schock (Hamburg)
A. Fischer mit R. Speidel (Essen)
Hannes Meyer mit H. Wittwer (Basel)
Emil Fahrenkamp mit P. Bonatz mit A. Deneke (Düsseldorf) F. Scholer (Stuttgart)
A. Laverrière mit Ch. Thévenaz (Lausanne)
Le Corbusier mit P. Jeanneret (Paris)
W. Olsson (Stockholm)
J. Camoletti (Genf) mit J. C. Lambert und G. Legendre (Paris)
Julien Flegenheimer (Genf) mit H. P. Nenot (Paris)
H. T. Wydefeld (Amsterdam)
G. Birch-Lundgreen (Stockholm)
Nils Eynar Eriksson (Stockholm)
E. van Linge ningen)
Camille Lefèvre (Paris)
Patouillard-Demoriane (Paris)
A. Rosen (Kopenhagen)
Georges Labro (Paris)
L. Boileau mit Le Bourgois (Paris)
J. M. Luthmann mit H. Wouda (Haag)
Carlo Broggi mit G. Vaccaro und L. Franzi (Rom)
P. und L. Giudetti (Paris)
Hendrickx mit de Ligne (Brüssel)
Giuseppe Vago (Rom)
G. Boni mit A. Borri (Rom)
M. Piacentini mit G. Rapisardi und A. Manzoni (Rom)
(Gro-
H. Ahlberg (Stockholm)
Tab.: Preisträger des Wettbewerbs des Völkerbundes in Genf (vgl. WMH 1927: 347). Doch hatte die eigentliche Auseinandersetzung um das Völkerbundgebäude gerade erst begonnen. Die Presse war sich einig, dass das Ergebnis des Wettbewerbs das denkbar schlechteste sei, da man sich weder auf einen architektonischen Stil geeinigt noch einen Sieger gekürt hätte. Vielmehr hätte jeder Preisrichter sich für einen Entwurf entschieden. Aufgrund der öffentlichen Kritik setzte der Völkerbund die so genannte Fünferkommission ein, welche aus fünf Diplomaten bestand: aus Län-
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dern, welche nicht unter den prämierten Entwürfen zu finden waren.33 Die Kommission entschied im Dezember, dass der Entwurf von NenotFlegenheimer (Frankreich) unter Mithilfe von Broggi (Italien), Lefèvre (Frankreich) und Vago (Italien) zur Ausführung umgearbeitet und erwietert werden solle. Letztendlich wurde der Bau erst 1932 begonnen und 1936 bezogen. Die erste Sitzung des Völkerbundes im neuen Plenarsaal fand im September 1937, 18 Jahre nach dessen Gründung, statt.
Abb. 1: Die Preisträger: Le Corbusier/Jeanneret, Fahrenkamp, zu Putlitz, Eriksson, Lefèvre, Vago, Nénot/Flegenheimer, Broggi, Labro.
3.2 Analyse am empirischen Material der Architekturzeitschriften Nach diesem chronologischen Abriss sollen nun anhand des empirischen Materials die verschiedenen Denkfiguren und Diskurspositionen herausgeschält werden, die in den Debatten um den Wettbewerb zum Ausdruck kommen. Zunächst ist festzustellen, dass die hier untersuchten Architekturzeitschriften allesamt Kritik am Ausgang des Wettbewerbs, 33 Zur Fünferkommission gehörten Adatci (Japan), Osusky (Tschecheslowakei), Politis (Griechenland), Urrutia (Kolumbien) und Young (Großbritanien). 235
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der keinen Sieger küren konnte, üben. So erklärt Friedrich Paulsen, Hauptschriftleiter der Bauwelt, dass der »Wettbewerb um einen Völkerbundpalast [...] einer der bedeutendsten«34 sei, die man sich denken könne, dass man aber »nicht gut Le Corbusier oder Fahrenkamp und gleichzeitig einen Vertreter des Pariser oder römischen Hellenismus den Weg zur Ausführung ebnen wollen« könne.35 Damit wird (egal, welcher Entwurf bevorzugt wird) die Heterogenität der preisgekrönten Entwürfe gerügt – es wurde nun für jeden sichtbar, dass die in der Ausschreibung geforderten Bestimmungen, einen Bau zu entwerfen, der »durch die Reinheit seines Stils, die Harmonie seiner Linien berufen ist, ein Symbol für den friedlichen Ruhm des zwanzigsten Jahrhunderts zu sein«36, verschieden interpretiert wurden.
Abb. 2: Nénot/Flegenheimer, Modell des zur Ausführung vorgesehen Entwurfs. Nachdem in den ersten Berichten die Preisträger und einige Entwürfe (vornehmlich der deutschen Gewinner) veröffentlicht wurden, ändert sich dies, als im Juli die Ausstellung mit den 377 Entwürfen eröffnet wird; denn nun wird eingesehen, dass kaum ein Entwurf zur Ausführung reif sei.37 Man gibt sich enttäuscht: »selbst einem Optimisten dürfte es nach der Besichtigung der beinahe 400 Entwürfe schwer fallen, in dieser Anhäufung von fast ausschließlich formalistischen Versuchen und Phantasien den künstlerischen Querschnitt einer Generation zu erkennen, die ›einer neuen Architektur entgegen‹ geht«.38 Diese fehlende Einheit im architektonischen Bestreben zwingt sodann zur Gruppierung der vorgestellten Arbeiten. Hippenmeier erkennt vier Gruppen: erstens, »solche der alten Schule in Komposition und Darstellung (vorzugsweise Franzo34 35 36 37 38
BW 1927, S. 715. BW 1927, S. 716. Zit. n. BW 1927, S. 677. Vgl. BW 1927, S. 677. WMH 1927, S. 416.
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sen, Italiener, Belgier und Welschschweizer)«39; zweitens, eine Gruppe, hauptsächlich aus Schweden und Dänen bestehend, »die wohl die Tradition achtet, sie aber geistvoll entwickelt und anzuerkennende Fortschritte in der Baugesinnung zeitigt«40; drittens Architekten die eine Auflösung der Baumassen und Loslösung von früheren Formen anstreben und sich vorrangig »aus Deutschen, Holländern und Österreichern zusammen« setzt.41 Die letzte Gruppe versuche dagegen eine »absolute Vereinfachung unter Verzicht jeglicher äußerlichen Aufmachung«42 zu erreichen. Trotz dieser Heterogenität in Baugesinnung und Formensprache sei jedoch »eins [...] allen gemein: [...] das Fehlen der konstruktiven Grundlage, das Nichtbeherrschen der technischen Möglichkeiten unserer Zeit«.43 Dies kann in zwei Richtungen zur Kritik benutzt werden: zum einen gegen jene, welche im Stil der »École des beaux-arts«, einer als überwunden angesehenen Tradition, bauen. Dieser »Ton« sei gut bekannt und in den »fortschrittlichen Ländern« hätte man genug davon: »Ein Blick auf den Grundriß zeigt, mit welcher Gewaltsamkeit die Maske des durch die Einräumigkeit bestimmten antiken Tempels dem Bau aufgenötigt wird«.44 Auch die elegante und gewissenhafte Durchführung der Entwürfe von Lèfevre und »Schlegenheimer und Henot« [sic!]45 könne nicht darüber hinweg täuschen, dass die Entwürfe »bei den Formen eines Tempels oder Herrenschlosses Anleihen« machen und nicht ein »neues, unserer Zeit entsprechendes«46 Aussehen besitzen. Zum anderen kann »das Nichtbeherrschen der technischen Möglichkeiten unserer Zeit« auch gegen jene, die sich Konstruktivisten nennen, gewendet werden. Denn, so wird argumentiert, »die große Mehrzahl derer [...] beherrscht nicht die Konstruktion, sondern sie ist beherrscht von ihr, sie geht unter in dem Überschwang des Vollgefühls von Glas, Eisen, Beton«.47 Letztlich ist dies die wichtige Unterscheidung, nach der die Entwürfe begutachtet werden: »Beaux-Art« und damit die prämierten Entwürfe von Nenot-Flegenheimer, Vago, Broggi, Lefèvre werden grundweg ab39 40 41 42 43 44 45
WMH 1927, S. 454. WMH 1927, S. 456. WMH 1927, S. 456. WMH 1927, S. 458. WMH 1927, S. 416. BW 1927, S. 634. Gemeint sind Flegenheimer und Nenot, die späteren »Gewinner«. Allein die Tatsache, dass die Bauwelt die falschen Namen gebraucht – in der Bildunterschrift werden beide als »Schlechheimer und Henot« bezeichnet – zeigt den abfälligen Gestus gegenüber dieser Architekturströmung. 46 BW 1927, S. 634. 47 WMH 1927, S. 416. Hervorhebung im Orig. 237
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gelehnt, da »steinernes Pathos jeder Art unserer Zeit nicht entspricht«.48 Die »modernistischen« Entwürfe von Le Corbusier und Meyer/Wittwer werden auch kritisiert, aber nicht grundsätzlich verworfen. So erklärt Werner Hegemann, Schriftleiter von Wasmuths Monatshefte für Baukunst, in seiner polemisch-ironischen Sprache an einem Bericht Hans Bernoullis anknüpfend (der im Werk49 schrieb, dass Le Corbusiers Haus in der Weißenhofsiedlung »ein Genuß besonderer Art« sei, der jedoch »mit der Unbrauchbarkeit des Hauses«50 etwas teuer erkauft sei): »Wenn der historische Witz, 20 Millionen Franken für die Verwirklichung der phantastischen Launen Le Corbusiers auszugeben, wirklich gemacht werden sollte«51, müsse darauf gedrungen werden, dass man ihm jemanden an die Seite stellt, der dessen Scherze in ein benutzbares Gebäude verwandeln würde.
Abb. 3: Entwurf Le Corbusier/Jeanneret, Aufsicht. Der Grund, weshalb gerade Le Corbusiers Entwurf gegenüber der »Beaux-Arts«-Schule nicht vollkommen abgelehnt wird, scheint darin zu liegen, dass er trotz (oder wegen) seiner avantgardistischen Formensprache als »lebendig« und »zeitgemäß« erscheint. Le Corbusier wird vor allem wegen seines Versammlungssaals gelobt, der seine Form aufgrund von Akustikstudien bekommen hätte und nicht wegen traditioneller
48 49 50 51
ZBV 1927, S. 383. Dies ist eine wichtige Schweizer Architekturzeitschrift der Zeit. WMH 1927, S. 452. WMH 1927, S. 452.
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Vorbilder wie etwa dem Pantheon52, aber auch aufgrund der landschaftlichen Eingebundenheit des Gebäudes: »Wie [es] wirken würde, ist natürlich aus den Zeichnungen allein schwer zu sagen – schlecht wohl kaum«.53 Peter Meyer, ein Schweizer Verfechter der »modernen Architektur«, erklärt: »Man braucht vom Projekt Le Corbusier gar nicht besonders begeistert sein, und man kann vieles davon unreif, meinetwegen dilettantisch finden – die auf Stelzen schwebende Wohnung des Tagungspräsidenten dürfte zum Beispiel schwerlich schon ihre endgültige Form gefunden haben – trotzdem wird man sich nach Betrachtung der 377 Arbeiten eingestehen, daß man keine andere lieber verwirklicht sehen möchte«.54
Abb. 4: Entwurf Le Corbusier/Jeanneret, Montage. In dem halben Jahr zwischen der Verkündigung des Ergebnisses des Wettbewerbs und der endgültigen Entscheidung der Fünferkommission für Nenot und Flegenheimer kommt es zu einem Versuch der Definition der beiden Seiten der Differenz: »Teure Stilarchitektur – neuzeitliche, zweckgemäße Lösungen«55, so jedenfalls die Unterüberschrift von Sigfried Giedions Artikel. Alle untersuchten Texte, gleich welcher Zeitschrift, würden sich mit dieser Differenz einverstanden erklären, sich jedoch gleichwohl auf der zweiten Seite der Unterscheidung wähnen. In Frage steht nun: ist der Entwurf von Le Corbusier und Jeanneret die einzige Lösung oder sind andere Entwürfe wie der von Meyer und Wittwer oder der des Schweden Eriksson auch »neuzeitliche, zweckgemäße Lösungen«. 52 53 54 55
Vgl. BW 1927, S. 718 u. 1094. BW 1927, S. 718. ZBV 1927, S. 415. BW 1927, S. 1093. 239
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Dies wird durch eine Verknüpfung zur Bauaufgabe versucht zu entscheiden: die Entwürfe werden nicht vorrangig ästhetisch, technisch oder wirtschaftlich betrachtet, sondern im Hinblick auf die Symbolisierung des Völkerbundes. So führt Peter Meyer aus, dass Le Corbusiers Arbeit »die einzige von jener Sauberkeit der Gesinnung, jener entspannten, harmlosen, offenen Menschlichkeit« sei, die der Idee des Völkerbundes angemessen sei und »durch die das Gebäude dem Bauherrn helfen kann, das zu werden, was er eigentlich sein sollte«.56 Die Architektur Le Corbusiers verhelfe in dieser Argumentation also dem Völkerbund, etwas zu werden, was er noch nicht ist. Deutlicher wird dies im schon eingangs zitierten Artikel Giedions, in dem die Differenz zwischen ›Gespenstern‹ und ›Lebenden‹ aufgebaut wird. Wenn die »Gespenster einer verschwundenen Zeit« für den Völkerbund bauen würden, käme dies »eine[r] richtige[n] Baukatastrophe«57 gleich, denn das Völkerbundgebäude sei »mit den Mitteln vermuffter Stilrequisiten einfach unlösbar«.58 »Man kann es nicht anders sagen: ein Völkerbund, der sich die Geschichtsklitterung irgendeines Routiniers als sein Haus hinstellen läßt, ist glattweg eine komische Figur«.59 Deswegen kommt Giedion zu dem Schluss: »Ein Völkerbund der leben will, muß sich mit dem Leben verbinden«.60 »Leben« wird hier mit den Zeitdimensionen Gegenwart und vor allem Zukunft verknüpft, um sich argumentativ von allen Entwürfen abzugrenzen, welche sich an der Vergangenheit und einer repräsentativen Formensprache bedienen. Zumindest die Bauwelt61, die Baukunst62 und das Zentralblatt für Bauverwaltung63 setzen sich indirekt für Le Corbusiers Entwurf ein, die
56 57 58 59 60 61
ZBV 1927, S. 415. BW 1927, S. 1096. BW 1927, S. 1093. BW 1927, S. 1096. Ebd. Hier schreibt Sigfried Giedion seinen Artikel in dem er pro Le Corbusier, auch für Hannes Meyer u. z.T. für Eriksson votiert. Der Hauptschriftleiter Friedrich Paulsen, der auch in den anderen Beiträgen zur Debatte wohlwollend gegenüber Le Corbusier auftritt, bringt keine Distanzierung seitens der Schriftleitung, wenn er auch anderswo einem Sieg gegenüber skeptisch ist. 62 Wilhelm Heizer, Schriftleiter der Baukunst, schrieb: »Nochmals glimmte ein Hoffnungsfunke auf. Unter den mit ersten Preisen bedachten Entwürfen war der eines Genfers, der des vielumstrittenen Le Corbusier« (BK 1927, S. 407). Dies sei aber durch die Nominierung Nenot/Flegenheimer zunichte gemacht worden. 63 Die Schriftleitung, vertreten durch Dr. Gustav Lampmann, erklärt sich mit der Argumentation von Peter Meyer einverstanden (ZBV 1927, S. 384). 240
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Form ist absolut zurückhaltend.64 Sie erklärt, dass die Deutschen gut abgeschlossen hätten und hofft, dass die endgültige Entscheidung eine fachliche und keine politische werde.65 Wasmuths Monatshefte für Baukunst votieren für niemanden, bringen auch Artikel zu Entwürfen, die nicht ausgezeichnet wurden (etwa zu Perret). Die Deutsche Bauhütte bringt als Einzige einen Auszug aus Bruno Tauts offenen Brief, der die Unsinnigkeit des Wettbewerbswesens anklagt66, zeigt direkt nach der Nominierung der Preisträger ausschließlich den Entwurf von Bonatz und polemisiert in der Folge gegen die Projekte im »Beaux-arts«-Stil. Nach der Entscheidung des so genannten Fünferkomitees für den Entwurf von Nenot und Flegenheimer ist man sich in der Ablehnung dieser als »politisch« erkannten Entscheidung einig: Für Tengbom, das schwedische Jurymitglied, sprach der gefasste Beschluss »dem gesunden Menschenverstand Hohn.«67 Die Form gibt die Entscheidung in Gestalt einer Traueranzeige bekannt und erklärt, dass diese einen »niederschmetternden Eindruck gemacht« hätte.68 Für den Architekten Bourgeois ist »das Vorgehen der Völkerbundkommission ein europäischer Skandal«69 und für die Baukunst ist die »schöne und seltene Möglichkeit, die dieser größte Wettbewerb seit der ›Chicago Tribune‹ der modernen Baukunst versprach, [...] leider trotz allen Aufwands gänzlich unnütz vertan«.70 Damit verebbt die Debatte, jedoch nicht ohne die geradezu obligatorischen letzten (und zumeist polemischen) Worte. Vor allem die Deutsche Bauhütte erklärt, dass dieser letzte Akt dem »Herrengefühl der Herren Sieger, die sich nach außen hin ein möglichst theaterhaftes Bauwerk
64 Dies mag vielleicht auch daran liegen, dass die Debatte durch die zur gleichen Zeit stattfindende Ausstellung der Stuttgarter Weißenhofsiedlung des Werkbundes überschattet wurde. So handelt etwa das Septemberheft der Form nur von der Werkbundausstellung. 65 Vgl. FORM 1927, S. 253. 66 Dieser entspricht vorrangig einer volkswirtschaftlichen Diskussion (vgl. BH 1926, S. 262): Laut Schweizer Gebührenordnung bekomme der Architekt für einen (so detaillierten, wie vom Völkerbund verlangten) Entwurf 1,5 % der Bausumme (156.000 Franken) – es würden aber nur 156.000 Franken Preisgeld insgesamt zur Verfügung stehen. WMH (1927, S. 452) errechnen ähnlich, dass 2 Mio. Franken von den Wettbewerbsteilnehmern aufgewendet worden seien. Die bei diesen Argumentationen im Hintergrund stehende Überlegung scheint die der volkswirtschaftlichen Ressourcenverschwendung durch das Wettbewerbswesen zu sein. 67 BH 1928, S. 32. 68 FORM 1928, S. 30; vgl. S. 129. 69 BW 1928, S. 123. 70 BK 1928, S. 87. 241
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schaffen wollen«71, entspräche und verweist auf die eigene, schon vorher ausgedrückte Meinung, dass man in Genf bauen würde »wie Frankreichs Sonnenkönige gebaut haben« und dies »noch einige hundert Jahre« so weiter treiben würde.72 Die Baukunst erklärt ähnlich, dass die von der Fünferkommission entschiedene Gemeinschaftsarbeit auf einen »Mix einiger Kunstwerke« hinausliefe, um letztendlich »potenzierten Kitsch zu erhalten«.73 Was ist nun aus dieser Analyse herauszuholen? Oben wurde bereits die entscheidende Differenz zwischen »Teure[r] Stilarchitektur – neuzeitliche[n], zweckgemäße[n] Lösungen« angesprochen. In den Texten ist die Opposition zwischen Leben, Gegenwart und Zukunft auf der einen Seite; Vergangenheit, Repräsentation und Stilarchitektur auf der anderen überaus deutlich. Somit wurde Formalismus als das Alte und Tote entwertet, während alles »Neue« als lebendig und jugendlich bezeichnet und damit aufgewertet wurde. Das Lebensgefühl sei nunmehr die Richtlinie für Kunst, nicht die alte Formtradition. Doch wie ist die Einigkeit aller Stellungnahmen in sonst höchst divergenten deutschen Architekturzeitschriften (die sich auf der Seite der neuzeitlichen und zweckgemäßen Lösungen wähnten) erklärbar?
3.3 Conclusio der Analyse: Das »Leben« oder die »Leben« Dass das »Leben« zu dem Begriff des beginnenden 20. Jahrhunderts wurde, sahen schon die Zeitgenossen.74 Für Helmuth Plessner, der »Leben« in eine historische Reihe mit »Vernunft« und »Entwicklung« stellte, lag die Wirkmächtigkeit des Wortes an der historischen Situation, in der nur etwas »Unbestreitbares« »bezaubern« konnte: etwas geradezu 71 72 73 74
BH 1929, S. 339. BH 1927, S. 324. BK 1927, S. 411. Für Wolfgang Eßbach (»Vernunft, Entwicklung, Leben. Schlüsselbegriff der Moderne«, in: Ulrich Bröckling/Axel T. Paul/Stefan Kaufmann (Hg.), Vernunft – Entwicklung – Leben. Schlüsselbegriffe der Moderne. Festschrift für Wolfgang Eßbach, München: Fink 2004, S. 13-22) ist »Leben« in Anlehnung an Helmuth Plessner (Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einführung in die Philosophische Anthropologie (1928), 3. Aufl. Berlin: de Gruyter 1975, S. 3) der Schlüsselbegriff der »Moderne«. Auch in Foucaults Äußerungen zur Biomacht ist der entscheidende Referenzrahmen das »Leben«: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1 (frz. 1976), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 161ff. Vgl. auch Ulrich Dierse/K. Rothe, »Leben (Kap. V.)«, in: Joachim Ritter/ Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, Basel/Stuttgart: Schwabe 1980, S. 71-97, 89.
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Evidentes, »das diesseits aller Ideologien, diesseits von Gott und Staat, von Natur und Geschichte zu fassen war, aus dem vielleicht die Ideologien aufsteigen, von dem sie aber gewiß wieder verschlungen werden: das Leben.«75 »Leben« wird bei Henri Bergson, einem der Begründer der »Lebensphilosophie«76, als permanent schöpferischer Prozess verstanden. Im Zentrum seiner Analyse steht der Begriff des »élan vital«, jener Impuls, der die Quelle aller Ausprägungen und Variationen des »Lebens« sei. »Leben« besitze eine Tendenz zur Steigerung, zum Wachsen und sei als ein permanentes Werden zu verstehen. Letztlich sei dabei das »Leben« – so Simmels an Bergson anschließendes Diktum77 – nur durch das »Leben« selbst zu verstehen. Aus diesen Umkreisungsversuchen kann verständlich werden, dass das Konzept »Leben« als Impuls gegen Intellekt, Rationalismus und das Mechanische auftritt, und sich auf Gefühl, Instinkt und Mystik bezieht.78 Aber nicht nur im philosophischen Kontext wird das »Leben« wirkmächtig: auch andere Felder wie die Hygienebewegung, die Jugendbewegung, die Hinwendung zum Körper, die Bedeutungssteigerung von Sport und eigener sportlicher Betätigung, der Ausdruckstanz, die Rhythmusbewegung. All diese Phänomene zehr(t)en vom Konzept des »Lebens«, wenn auch in unterschiedlichen Deutungen. Mit Dominik Schrage ließe sich das Feld aufspannen, in welchem das Konzept »Leben« als notwendige Referenz auftaucht. Die These ist, dass das Abstraktum »Leben« »das Gemeinsame der beiden auf den ersten Blick widerstreitenden Perspektiven authentischen Erlebens und konstruktivistischer Optimierung darstellt«.79 Das Konzept wird also sowohl für die Sehnsucht nach Authentizität in Anspruch genommen als auch in der Suche nach weitgehender Artifizialisierung der Lebens(um-)welt. Damit rückt das Paradox in den Blick, dass »Leben« (als permanente Expansion und stetiges Wachstum) zum einen im Sinne von Triebhaftigkeit und fließendem ›Lebensstrom‹ auf so etwas wie »Natürlichkeit« und
75 H. Plessner: Stufen, S. 4. 76 Henri Bergson: Schöpferische Entwicklung (frz. 1907), Jena: Diederichs 1912. Vgl. U. Dierse/K. Rothe: Leben, S. 88. 77 Georg Simmel: »Vom Wesen des historischen Verstehens« (1918), in: GA 16, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 151-179, 178. 78 Natürlich ist Friedrich Nietzsche der Pate für eine solch ›vitalistische‹ Argumentation. Vgl. zur Wirkungsgeschichte nur Rüdiger Safranski: Nietzsche. Biographie seines Denkens, Frankfurt a.M.: Fischer 2002, S. 333ff. 79 Doninik Schrage: »Optimierung und Überbietung. ›Leben‹ in produktivistischer und in konsumistischer Perspektive«, in: Ulrich Bröckling/Axel T. Paul/Stefan Kaufmann (Hg.), Vernunft – Entwicklung – Leben. Schlüsselbegriffe der Moderne. Festschrift für Wolfgang Eßbach, München: Fink 2004, S. 291-303, 292. 243
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»Natur« zielt; zum anderen im Sinne von Produktivitätssteigerung in Richtung Künstlichkeit und Technik strebt. Deswegen wird »Leben« zur Referenz für jegliche Bestrebungen der »Lebenssteigerung«, sowohl in »romantischer« als auch »neusachlicher« Absicht.80 Und dies kann, so Schrage weiter, alles nur in einer Zeit der »realhistorische[n] Erfahrung umfassender Technisierung und Ästhetisierung der Lebensumwelt«81 geschehen: weil in diesem Moment das »Leben« sowohl in der Ablehnung als auch in der Steigerung dieser Erfahrung in Anspruch genommen werden kann. Genau das kann nun den Konsens unter den Architekturzeitschriften erklärbar machen. Im Konzept des »Lebens« wurde ein Begriff gefunden, der zweierlei auszudrücken vermochte. Einig waren sich die Protagonisten darin, dass es um das »Leben« gehen würde, doch was damit gemeint wurde, war höchst verschieden. Zwei verschiedene Lebensbegriffe werden in der Debatte also nebeneinander gesetzt: zum einen das ›konkrete‹ Leben, welches die Lebensgewohnheiten und -bedürfnisse der Individuen umfasst; zum anderen ein ›abstraktes‹ Leben im Sinne eines eher »wirklichkeitswollenden« und insofern mehr ›sachlichen‹, generalisierten und universalisierten Weltverhältnisses. Wenn Bezüge zum »Leben« hergestellt werden, ist demgemäß zwischen zwei Konzeptionen zu unterscheiden. Das erste begreift »Leben« als die anschaulich gegebene Lebenspraxis. Die Routinen und Gewohnheiten, die tagtäglich ausgeführt werden, werden in den Blick genommen. Es werden ›konkrete‹ Individuen betrachtet, die in Räumen und Gebäuden leben. Deswegen wird der auf Akustikstudien basierende Versammlungssaal von Le Corbusier für gut befunden und kann die im gleichen Entwurf enthaltene Wohnung des Präsidenten kritisiert werden.82 Das andere Konzept fokussiert eher auf das abstrakte oder grundlegende Prinzip des »Lebens« schlechthin, das als in einem permanenten »Werden« und in ständiger Produktivität bestehend gedacht wird – mit einem entsprechenden Menschenbild. Dies wird erstens durch den Verweis, in einer »neuen Zeit« zu leben, legitimiert; und zweitens durch die Inanspruchnahme einer spezifischen Rationalität unterstützt. In dieser Weise ist der Ausspruch Giedions zu lesen: »Ein Völkerbund, der leben will, muß sich mit dem Leben verbinden«.83 Ist bei dem ›abstrakten‹ Lebensbegriff die Vergangenheit und die Tradition nur als zu negierende 80 Vgl. Martin Lindner: Leben in der Krise. Zeitromane der neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne, Stuttgart/Weimar: Metzler 1994, S. 131ff. 81 W. Eßbach: Vernunft, S. 14. 82 Vgl. BW 1927, S. 718 u. 1094; ZBV 1927, S. 415. 83 BW 1927, S. 1096. 244
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im Blick, wird das ›konkrete‹ Individuum im anderen Lebensbegriff als in Geschichte, Tradition und Kultur stehend begriffen. Dementsprechend sind die Lebenskonzepte entweder auf die Zukunft ausgerichtet oder aber aus der Vergangenheit kommend gedacht. Damit bekommt das Konzept »Leben« zwei Zielhorizonte. Einmal ist das »Leben« das Irrationale, dass gegen Beruf und Arbeit, gegen die (rationalen) Zwänge des modernen »Lebens« gestellt werden kann: leerer Rationalismus und pulsierendes »Leben« bilden hier die Opposition. Auf der anderen Seite wird »Leben« selbst zum Prinzip. Es beschreibt eine spezifische Rationalität des Wachstums, des Werdens, der Produktivität. Erst wenn diese spezifische und geradezu demiurgische Rationalität in den Blick kommt, kann auch Le Corbusiers Sentenz: »Man revolutioniert nicht, indem man Revolution macht. Man revolutioniert, indem man die Lösung bringt«84, verständlich werden. »Leben« steht hier keineswegs gegen Rationalität, sondern wird geradezu mit ihr verknüpft. Insofern bildete in der Konzeption von »Leben« als abstraktes Prinzip das »Leben« selbst den Ausgangspunkt: Entsprechend der Prinzipien des »Lebens« muss gebaut werden. Das bedeutet aber auch, dass Architektur als Form das »Leben« zu gestalten versucht. Dies entspricht der »Vorstellung, daß auf reale Bedürfnisse keine Rücksicht genommen werden dürfe, [und] verbindet sich mit jener, ein ungeformtes in ein architektonisch geformtes Leben umzugießen, wobei hier tatsächlich so etwas wie eine Diktatur der Form entsteht«.85 Diese Konsequenzen wurden auch schon von den Zeitgenossen aufgedeckt, so schreibt etwa der Architekturkritiker Adolf Behne im 1930 erschienenen Artikel zur Siedlung Dammerstock: »Der Mensch hat zu wohnen und durch das Wohnen gesund zu werden, und die genaue Wohndiät wird ihm bis ins einzelne vorgeschrieben. Er hat, wenigstens bei den konsequenten Architekten, gegen Osten zu Bett zu gehen, gegen Westen zu essen und Mutterns Brief zu beantworten, und die Wohnung wird so organisiert, daß er es faktisch gar nicht anders machen kann [...] Hier in Dammerstock wird der Mensch zum abstrakten Wohnwesen, und über allen den so gut gemeinten Vorschriften der Architekten mag er am Ende stöhnen: »Hilfe [...] ich muß wohnen!«86 und später weiter: »Die Methode des Dammerstock ist die diktatorische Methode, die Methode des Entweder-Oder. Diktatur schneidet auseinander, ist unentwegt ge-
84 Le Corbusier: Städtebau, Stuttgart/Leipzig: DVA 1929, S. 253. 85 Markus Bernauer: Die Ästhetik der Masse, Basel: Wiese 1990, S. 161. 86 Adolf Behne: »Dammerstock« (1930), in: Felix Schwarz/Frank Gloor (Hg.), »Die Form«. Stimme des Deutschen Werkbundes 1925-1934. Neudruck Gütersloh: Bertelsmann 1969, S. 168-174, 170. 245
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radlinig, kennt zwei Flügel, aber keine Mitte [...] Die diktatorische Methode denkt: Entweder-Oder. Der Bewohner aber denkt: Und.«87 Das war das Programm der »modernen Architektur«, das sich auf »Leben« als Prinzip bezog. Doch daneben gab es das andere Programm, das »Leben« als konkrete Lebensweise, bestehend aus Gewohnheiten und alltäglichen Tätigkeiten, verstand. So sollte etwas überspitzt formuliert im ersten Fall gemäß einem abstrakten Prinzip, im anderen Fall für konkrete Individuen gebaut werden. Ein Indiz zum Schluss: Die hier skizzierte Debatte um das Völkerbundgebäude zeitigt in der Folge noch eine ungeahnte diskursive Wirkung. Denn es werden nur Entwürfe von Le Corbusier und Jeanneret und Meyer und Wittwer in Monographien dargestellt: und damit Entwürfe, die das Konzept des »Lebens« als abstraktes Prinzip verstanden. Bekannt sind also vorrangig zwei nie realisierte Entwürfe. Das tatsächlich gebaute Gebäude erscheint (soweit man es überblicken kann) hingegen in keiner Monographie zur Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Vielleicht wurde es tatsächlich von »Gespenstern« gebaut und folglich vergessen. Oder: wurde gerade deshalb das New Yorker UNO-Gebäude in »moderner« Formensprache von Wallace K. Harrison unter Mitarbeit von Oskar Niemeyer und Le Corbusier errichtet, damit die »United Nations« nun endlich »leben« können?
4 F a z i t – W a s w i r d d u r c h d i e An a l ys e d e r D i s k u r s e vo m P h ä n o m e n Ar c h i t e k t u r sichtbar? Die oft gehörte Antwort eines Architekten, der gefragt wird, warum die Höhe des Raumes dort so niedrig sei, oder das Fenster an dieser Stelle so lang, oder die Wegführung in dieser Art und Weise gestaltet ist, ist bezeichnend: ›das würde man eben so machen‹. Warum sich so und nicht anders entschieden wurde, ist letztlich nie vollkommen erklär- und auflösbar. Nie kann die Funktion oder die zu schaffende ›Atmosphäre‹, die Materialen, die technische Ausführung determinieren, wie etwas letztendlich gestaltet wird. Die Antwort auf die Frage nach dem »Warum« weiß der Architekt meist selbst nicht. Was er nutzt ist eine Art Sensorium – ein »Gespür«, eine »Haltung«, »Erzählungen«, manchmal die »Situation« oder den »genius loci« –, das ihm einen Weg weist durch die Kontingenz eines jeden Bauwerks, also durch die permanent
87 A. Behne: Dammerstock, S. 172f. 246
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bestehende Möglichkeit alles auch ganz anders machen zu können.88 Die Diskursanalyse zielt in ihrem Erkenntnisinteresse auf genau diese unbewusste und gleichzeitig wirkungsmächtige Struktur, mit der Kontingenz umzugehen. Diese Struktur ist historisch variabel, sie löst bei jedem Architekten andere Reaktionen aus, und sie erklärt, warum so und nicht anders gebaut wurde. Noch bezieht sich die Diskursanalyse dafür vor allem auf Texte (der Architekten, in Zeitungen und Architekturzeitschriften, öffentlichen Debatten, rechtlichen Vorschriften, ökonomischen Kalkulationen). Gegenüber Bildern, Fotografien, Modellen oder CADZeichnungen scheint die Diskursanalyse derzeit blind. Prinzipiell spricht allerdings nichts gegen eine Diskursanalyse anhand visuellen Materials. Der berühmte Blick durch die Ecke des Bauhauses etwa entfachte eine diskursive Wirkung ohne Worte: er plausibilisierte die neue Art zu bauen. Gerade für eine Architektursoziologie, die das Diskurskonzept in das Zentrum der Analyse stellt, ist dies von Bedeutung: so kann sie sichtbar machen, was Fotografien, Modelle, Zeichnungen von Architektur sichtbar machen.89 Die Diskursanalyse fragt also nicht, wer diese Architektur für wen gebaut hat; oder wie diese Architektur gebaut wurde. Sie versucht zu ergründen, welche Wissensformation, und das heißt: welche Denkgewohnheiten und Plausibilitäten erklären, dass man so und nicht anders baute. Insofern kann sie die sozialen Erwartungen herauskristallisieren, die sowohl gegenüber gebauter Architektur zum Ausdruck kommen, als auch für das architektonische Gestalten selbst von Bedeutung sind. Sie macht das Unsichtbare der Architektur sichtbar: die ausgeschlossenen, nicht realisierten Möglichkeiten.
88 Vgl. exemplarisch die Bemühungen Wittgensteins, das Haus in der Wiener Kundmanngasse zu bauen und sein ›Scheitern‹ – Architektur ist nicht mit Logik zu besiegen. Alles wunderbar auf den Punkt gebracht von Jan Turnovsky: Die Poetik eines Mauervorsprungs, Braunschweig: Vieweg 1987. 89 In diese Richtung geht Andreas Schwarting: »Der Sieg des neuen Baustils«. Geschichtskonstruktionen und Geltungsansprüche in der Architektur der Moderne«, in: André Brodocz u.a. (Hg.), Institutionelle Macht. Genese Verstetigung Verlust, Köln/Weimar: Böhlau 2005, S. 197-212. 247
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Literatur Behne, Adolf: »Dammerstock« (1930), in: Felix Schwarz/Frank Gloor (Hg.), »Die Form«. Stimme des Deutschen Werkbundes 1925-1934, Gütersloh: Bertelsmann 1969, S. 168-174. Bergson, Henri: Schöpferische Entwicklung (frz. 1907), Jena: Diederichs 1912. Bernauer, Markus: Die Ästhetik der Masse, Basel: Wiese 1990. Blumenberg, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorologie (1960), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999. Bödeker, Hans Erich (Hg.): Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte, Göttingen: Wallstein 2002. Bublitz, Hannelore: Diskurs, Bielefeld: transcript 2003. Dierse, Ulirch/K. Rothe: »Leben« (Kap. V.), in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 5, Basel/Stuttgart: Schwabe 1980, S. 71-97. Eßbach, Wolfgang: »Vernunft, Entwicklung, Leben. Schlüsselbegriffe der Moderne«, in: Ulrich Bröckling/Axel T. Paul/Stefan Kaufmann (Hg.), Vernunft – Entwicklung – Leben. Schlüsselbegriffe der Moderne. Festschrift für Wolfgang Eßbach, München: Fink 2004, S. 1322. Fischer, Joachim: »Die Bedeutung der Philosophischen Anthropologie für die Architektursoziologie«, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Soziale Ungleichheit – Kulturelle Unterschiede. Verhandlungen des 32. Kongresses der DGS in München 2004, Frankfurt a.M./New York: Campus 2006, CD, S. 3417-3429. Foucault, Michel: »Andere Räume« (frz. 1967), in: Jan Engelmann (Hg.), Foucault. Botschaften der Macht, Stuttgart: DVA 1999, S. 145-160. Foucault, Michel: »Über die Archäologie der Wissenschaften. Antwort für den Cercle d’èpistémologie« (frz. 1968), in: Ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. 1: 1954-1969, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 887–931. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens (frz. 1969), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981. Foucault, Michel: »Michel Foucault erklärt sein jüngstes Buch« (frz. 1969), in: Ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. 1: 19541969, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 980-991. Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses (frz. 1972), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998. Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit Bd. 1 (frz. 1976), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999. 248
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Foucault, Michel: »Macht und Wissen« (frz. 1977), in: Ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. 3: 1976-1979, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 515–534. Foucault, Michel: »Raum, Wissen und Macht« (frz. 1982), in: Schriften 4. 1980-1988, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 324-341. Gehlen, Arnold: Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei (1960), 3. erw. Aufl. Frankfurt a.M.: Athenäum 1986. Jaeger, Roland: Neue Werkkunst. Architektenmonographien der zwanziger Jahre. Mit einer Basis-Bibliographie deutschsprachiger Architekturpublikationen 1918-1933, Berlin: Mann 1998. Keller, Reiner: Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen, 3. Aufl. Wiesbaden: VS 2007. Keller, Reiner/Andreas Hirseland/Werner Schneider/Willy Viehöver (Hg.), Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, 1: Theorien und Methoden, 2. Aufl., Wiesbaden: VS 2006. Koselleck, Reinhart: Einleitung, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart: Klett Cotta 1972, S. XIII-XXVII. Le Corbusier: Städtebau (frz. 1925), Stuttgart/Berlin/Leipzig: DVA 1929. Lindner, Martin: Leben in der Krise. Zeitromane der neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne, Stuttgart/Weimar: Metzler 1994. Luhmann, Niklas: »Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition«, in: Ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, S. 9-71. Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992. Neumeyer, Fritz: Quellentexte zur Architekturtheorie, München u.a.: Prestel 2002. Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einführung in die Philosophische Anthropologie (1928), 3. Aufl. Berlin: de Gruyter 1975. Quincerot, Richard: »Schlachtfeld Völkerbundpalast – Eine Chronologie der Ereignisse um den Internationalen Architekturwettbewerb für den Völkerbundpalast in Genf 1923–1927«, in: Werner Oechslin (Hg.), Le Corbusier/Pierre Jeanneret. Das Wettbewerbsprojekt für den Völkerbundpalast in Genf 1927, Zürich: Ammann 1988, S. 5371.
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Safranski, Rüdiger: Nietzsche. Biographie seines Denkens, Frankfurt a.M.: Fischer 2002. Schöttler, Peter: »Wer hat Angst vor dem ›linguistic turn‹?« In: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), S. 141-151. Schrage, Dominik: »Was ist ein Diskurs? Zu Michel Foucaults Versprechen, ›mehr‹ ans Licht zu bringen«, in: Hannelore Bublitz/Andrea D. Bührmann/Christine Hanke/Andrea Seier (Hg.), Das Wuchern der Diskurse. Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults, Frankfurt a.M./New York: Campus 1999, S. 63-74. Schrage, Dominik: »Optimierung und Überbietung. ›Leben‹ in produktivistischer und in konsumistischer Perspektive«, in: Ulrich Bröckling/Axel T. Paul/Stefan Kaufmann (Hg.), Vernunft – Entwicklung – Leben. Schlüsselbegriffe der Moderne. Festschrift für Wolfgang Eßbach, München: Fink 2004, S. 291-303. Schrage, Dominik: »Kultur als Materialität oder Material – Diskurstheorie oder Diskursanalyse?«, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Soziale Ungleichheit – Kulturelle Unterschiede, Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München 2004, CD, Frankfurt a.M./New York: Campus 2006, S. 1806-1813. Schwarting, Andreas: »›Der Sieg des neuen Baustils‹. Geschichtskonstruktionen und Geltungsansprüche in der Architektur der Moderne«, in: André Brodocz u.a. (Hg.), Institutionelle Macht. Genese Verstetigung Verlust, Köln/Weimar: Böhlau 2005, S. 197-212. Simmel, Georg: »Vom Wesen des historischen Verstehens« (1918), Gesamtausgabe Bd. 16, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 151-179. Stäheli, Urs: Sinnzusammenbrüche. Eine dekonstruktive Lektüre von Niklas Luhmanns Systemtheorie, Weilerswist: Velbrück 2000. Sullivan, Louis H.: »Das große Bürogebäude, künstlerisch betrachtet« (am. zuerst 1896), in: Paul Sherman: Louis H. Sullivan – Ein amerikanischer Architekt und Denker, Frankfurt a.M.: Ullstein 1963, S. 144-149. Turnovsky, Jan: Die Poetik eines Mauervorsprungs, Braunschweig: Vieweg 1987. Vitruvius, M. Pollio: Zehn Bücher über Architektur (25 v. Chr.). Übers. u. erl. von J. Prestel, 3. Aufl. Baden-Baden: Koerner 1983.
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S i g l e n d e r ve rw e n d e t e n Z e i t s c h r i f t e n BW: Die Bauwelt. Zeitschrift für das gesamte Bauwesen; Organ der Reichs-Hochbau-Normung; Hauptschriftleiter: Friedrich Paulsen; Gütersloh; wöchentlich [Beilagen unnumeriert, extra angegeben]. BH: Deutsche Bauhütte. Zeitschrift der deutschen Architektenschaft; Hg.: Curt R. Vincentz; Hannover; zweiwöchentlich. FORM: Die Form. Zeitschrift für gestaltende Arbeit. Für den Deutschen Werkbund u. d. Verband Deutscher Kunstgewerbevereine; hg. v. Walter Curt Behrendt (Okt. 1925-Dez. 1926), Dr. Walter Riezler (ab Januar 1927); Berlin; monatlich. BK: Baukunst. Hg. von der Bauunternehmung Bernhard Borst, verantwortliche Schriftleitung: Herman Sörgel (Jan. 1925-April 1926), Wilhelm Heizer (Mai 1926-Dez. 1927), Dr. Rudolph Pfister (ab Jan. 1928); München; monatlich. WMH: Wasmuths Monatshefte für Baukunst. Hg. von Werner Hegemann; Schriftleiter: Leo Adler (1927/28), Hans J. Zechlin (ab 1929); Berlin; monatlich. ZBV: Zentralblatt für Bauverwaltung. Hg. im Preußischen Finanzministerium; Schriftl. für Ingenieurbau: Richard Bergius; für Hochbau: Dr. Nonn (bis März 1927), Dr. Gustav Lampmann (ab April 1927); Berlin; wöchentlich.
B i l d n a c hw e i s e Abb. 1, 2: Coll. Iconographique du Vieux Genéve. Abb. 3: gta Zürich. Abb. 4: Les editions d’Architecture SA, Erlenbach-Zurich.
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»The beautiful source of suburban w omanhood!« Die › Architektur der Gesellschaft‹ aus Sicht der Gender Studies SUSANNE FRANK
1 Das ›undisziplinierte‹ Projekt der Gender Studies Die Architektur der Gesellschaft aus der Sicht der Gender Studies beschreiben zu wollen ist ein anmaßendes Unterfangen. Denn die Gender Studies sind keine einheitliche Disziplin. Gender Studies können am ehesten als ein großes inter- oder transdisziplinäres Projekt beschrieben werden, zu dem Frauen-, Männer- und Geschlechter- sowie »Queer«ForscherInnen aus dem ganzen Spektrum der Wissenschaften beitragen, die theoretisch und methodisch unterschiedlichste Perspektiven einnehmen und sich vermutlich nur in dem einem Punkt einig sind: dass die Kategorie »Geschlecht« von grundlegender Bedeutung für die Beschreibung, Analyse und Veränderung gesellschaftlicher Phänomene und Prozesse ist. Die Fragen, wie diese Bedeutung zu erfassen und was genau unter »Geschlecht« zu verstehen ist, sind dann schon wieder Gegenstand hitziger Diskussionen. Insofern sind die Gender Studies ein sehr dynamisches und lebendiges Arbeitsgebiet.
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Von der Frauen- zur Geschlechterforschung Der Begriff Gender Studies ist noch recht jung und ebenfalls umstritten. Die Gender Studies haben sich aus der Frauenforschung entwickelt, die wiederum auf das Engste mit der zu Beginn der 1960er Jahre einsetzenden Zweiten Frauenbewegung verbunden war. Ausgangspunkt war die Beobachtung und Skandalisierung der strukturellen Diskriminierung und Marginalisierung von Frauen in Wissenschaft und Gesellschaft. Dementsprechend richtete sich das Forschungsinteresse zunächst darauf, die bislang weitgehend unbekannten spezifischen Lebenslagen, (Alltags-) Erfahrungen und Gefühlswelten von Frauen allererst zu erfassen, sichtbar zu machen und zu würdigen. Feministische Forschung war dabei von Anfang an ein radikal kritisches wissenschaftliches und politisches Projekt. Zum einen ging es darum, den strukturellen Androzentrismus der traditionellen Wissenschaft anzugreifen, zum anderen sollte das neue Wissen um die Ursachen und Erscheinungsformen der systematischen Benachteiligung von Frauen für eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse genutzt werden. Seit den 1980er Jahren hat die Frauenforschung eine Reihe von Fortentwicklungen erfahren, in deren Verlauf sich das Projekt erweitert und vertieft hat.1 Mit der Erkenntnis, dass sich die besondere oder ›andere‹ gesellschaftliche Situation von Frauen nur in Relation zu der der Männer erschließen und bewerten lässt, rückte das Verhältnis der Geschlechter immer stärker in den Blickpunkt. Gefragt wurde, wie die asymmetrischen Beziehungen zwischen den Geschlechtern gesellschaftlich produziert, organisiert und institutionalisiert werden. Indem diese Forschungen belegten, dass die Bedeutung von ›Geschlecht‹ je nach geschichtlichem und kulturellen Kontext stark variiert, wurde ›Geschlecht‹ seines ›natürlich‹ daherkommenden Charakters entkleidet und als eine historisch-dynamische, wandelbare soziokulturelle Kategorie konzipiert. Nicht mehr die unterschiedliche »biologische Natur« von Männern und Frauen, sondern das jeweils bestehende gesellschaftliche Geschlechterarrangement sollte und konnte die ungleichen gesellschaftlichen Positionen, Aufgaben, Ressourcen und Chancen von Männern und Frauen erklären. In der sozialwissenschaftlichen Diskussion wurde ›Geschlecht‹ zunehmend als eine »Strukturkategorie« gefasst. In dieser Sichtweise fungiert die Geschlechtszugehörigkeit als gesellschaftlicher »Platzanwei-
1
Zum Folgenden siehe v.a. Andrea Maihofer: »Von der Frauen- zur Geschlechterforschung. Modischer Trend oder Paradigmenwechsel?«, in: Widerspruch 44 (2003), S. 135-146.
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ser«: »Einem bestimmten Geschlecht zuzugehören heißt, einen bestimmten sozialen Ort zugewiesen zu bekommen: oben/unten, in der Familie/ in der Außenwelt, in der Genealogie, in der Arbeitsverteilung und in kultisch-religiösen Räumen. Nicht nur die soziale Schicht bestimmt darüber, welche Positionen, Funktionen, Lebenschancen Individuen zukommen. Darüber entscheidet auch die Geschlechtszugehörigkeit«.2 Dieses Verständnis von Geschlecht als »Strukturkategorie« ist seit den 1990ern wiederum präzisiert worden. So wurde deutlich, dass das Geschlechterverhältnis »eindimensional« konzipiert ist, wenn es lediglich die Beziehungen zwischen Frauen und Männern fokussiert.3 Immer deutlicher trat hervor, dass auch zwischen Frauen und zwischen Männern hierarchische Geschlechterverhältnisse bestehen. In diesem Zusammenhang richtete sich der forschende Blick nun vermehrt auf die Frage nach dem strukturprägenden Einfluss von ›Geschlecht‹ im Verhältnis zu respektive im Zusammenwirken mit anderen Kategorien sozialer Ungleichheit, namentlich Klasse und Ethnie. Aufgrund der unauflöslichen Verwobenheit von Geschlecht mit anderen gesellschaftlichen »Platzanweisern«, aber auch in Anbetracht der zunehmenden Pluralisierung der Lebensweisen insbesondere von Frauen erschien es immer fragwürdiger, undifferenziert von »den Frauen« oder »den Männern« zu sprechen. Diese Redeweise war vor allem von lesbischen und/oder postkolonialistisch-kritischen Feministinnen als unzulässig verallgemeinernd kritisiert worden, da sie unter der Hand die besondere Lebensweise einer bestimmten Gruppe von Frauen, nämlich der westlichen bürgerlichen weißen heterosexuellen Mittelschichtfrauen, zum Maßstab respektive zur Norm für alle Frauen erhob.4 Solche Mechanismen der Herstellung gesellschaftlicher Hegemonie auf der Basis herrschender Leitbilder waren zentrales Thema auch der in den späten 1980er Jahren einsetzenden kritischen Männerforschung.5 2
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Regina Becker-Schmidt: »Frauenforschung«, in: Roland Asanger/Gerd Wenninger (Hg.), Handwörterbuch Psychologie, München/Weinheim: PUV 1988, S. 194-199, 195. Dies.: »Geschlechterdifferenz, Geschlechterverhältnis: Soziale Dimensionen des Begriffs ›Geschlecht‹«, in: Zeitschrift für Frauenforschung 1/2 (1993), S. 37-46. A. Maihofer: Von der Frauen- zur Geschlechterforschung, S. 139. Vgl. z.B. Elizabeth Spelman: Inessential Women. Problems of exclusion in feminist thought, Boston: Beacon Press 1988; Rodríguez E. Gutiérrez: »Fallstricke des Feminismus. Das Denken ›kritischer Differenzen‹ ohne geopolitische Kontextualisierung. Einige Überlegungen zur Rezeption antirassistischer und postkolonialer Kritik«, in: polylog 4 (1999), http://them.polylog.org/2/age-de.htm vom 18.01.2009; A. Maihofer: Von der Frauen- zur Geschlechterforschung, S. 143. Robert W. Connell: Gender and Power, Cambridge: Polity Press 1987; ders.: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, 255
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Robert W. Connells Konzept der »hegemonialen Männlichkeit« hat über die Männerforschung hinaus Verbreitung gefunden. Es besagt, dass auch Männlichkeitsmuster in einem hierarchischem Verhältnis zueinander stehen, wobei der jeweils dominante Typus (und das bedeutete in den fordistischen Industriegesellschaften ebenfalls: westlich/bürgerlich/ weiß/heterosexuell) als »hegemonial«, andere demgegenüber als »untergeordnet« oder »marginalisiert« bezeichnet werden. Die Untersuchung der Herstellung von Männlichkeitsmustern zeigte, dass auch Männer ›nicht als Männer geboren‹, sondern in komplexen gesellschaftlichen Konstruktionsprozessen ›dazu gemacht‹ werden. Wie Frauen, aber anders als Frauen, erfahren »auch Männer eine geschlechtliche Disziplinierung und Normierung«.6 Diese Einsicht verhalf dazu, »die eingespielte Gleichsetzung von Frau und Geschlecht aufzugeben«7 und unterstrich eindrucksvoll die Erkenntnis, dass ›Frauen‹ und ›Männer‹ sich nicht als ›homogene Blöcke‹ gegenüber stehen, sondern in sich stark differenzierte, hierarchisch gegliederte soziale Gruppen darstellen, die vielfältige und komplexe, häufig auch widersprüchliche und vor allem konfliktreiche (Geschlechter-)Beziehungen unterhalten.8 In dem Maße, in dem der soziale Konstruktionscharakter von ›Geschlecht‹ (in Abgrenzung zu einer biologistischen oder naturalisierenden Perspektive) hervortrat, setzte sich die aus der englischen Sprache kommende Unterscheidung von ›Sex‹ und ›Gender‹ auch in der deutschen Fachterminologie durch. Im Unterschied zu ›Sex‹, dem so genannten ›biologischen Geschlecht‹, sollte ›Gender‹ das ›soziale‹, das heißt gesellschaftlich produzierte Geschlecht bezeichnen. Damit wurde die kulturelle Variabilität, das heißt auch die Veränderbarkeit der herrschenden Vorstellungen von ›weiblichen‹ und ›männlichen‹ Eigenschaften, Verhaltenserwartungen, sozialen Positionen und gesellschaftlichen Aufgabenbereichen betont. Die sozialen Konstruktionsmodi von ›Geschlecht‹
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Opladen: Leske + Budrich 1999; George L. Mosse: Das Bild des Mannes. Zur Konstruktion der modernen Männlichkeit, Frankfurt a.M.: Fischer 1997; Michael Meuser: Geschlecht und Männlichkeit. Soziologische Theorie und kulturelle Deutungsmuster, Opladen: Leske + Budrich 1998. A. Maihofer: Von der Frauen- zur Geschlechterforschung, S. 140. Ute Frevert: »Klasse und Geschlecht. Ein deutscher Sonderweg?«, in: Logie Barrow/Dorothea Schmidt/Jutta Schwarzkopf (Hg.), Nichts als Unterdrückung? Geschlecht und Klasse in der englischen Sozialgeschichte, Münster: Westfälisches Dampfboot 1991, S. 259-268, 268. Wie die Frauenforschung versteht sich auch die Männerforschung als kritische Wissenschaft in politisch-emanzipatorischer Absicht. Sie zielt auf die Überwindung geschlechtshierarchischer Strukturen, die nicht nur die Dominanz von Männern über Frauen festschreiben, sondern beide in sozialen Normierungs- und Disziplinierungsprozessen zurichten.
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respektive Männlichkeits- und Weiblichkeitsmustern (»Doing Gender«) wurden in der Folge aus unterschiedlichen theoretischen und disziplinären Perspektiven (marxistisch, psychoanalytisch, sozialisationstheoretisch, ethnomethodologisch, diskursanalytisch, poststrukturalistisch etc.) und anhand der unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereiche de-/rekonstruiert: soziale Situationen, Interaktionen und Strukturen, Organisationen und Institutionen, Diskurse, Wissensformen, Subjektivitäten, Körperpolitiken etc. – »alle Aspekte von Gesellschaft [...] kommen nun als mögliche Momente der gesellschaftlichen Konstruktion und Organisation von Geschlecht in den Blick, als vergeschlechtlichte und vergeschlechtlichende Elemente der jeweiligen Geschlechterarrangements«.9 Und dies gilt natürlich auch für die Architektur.
Gender is it! Mit diesen Erkenntnissen der Frauen-, Männer- und Geschlechterforschung geriet also die grundlegende Kategorie ›Geschlecht‹ ins Zentrum der Aufmerksamkeit.10 Die mittlerweile eingebürgerte und bis heute gebräuchliche analytische Trennung von Sex und Gender blieb nicht lange unhinterfragt. Nicht allein, aber am prominentesten von Judith Butler wurde die darin eingelagerte Vorstellung kritisiert, dass es ein an bestimmten Körpermerkmalen (Anatomie, Physiognomie, Hormone, Chromosomen) abzulesendes, offenbar unhintergehbares ›biologisches Geschlecht‹ gäbe, das dem ›sozialen Geschlecht‹ vorgelagert sei. Der Körper erscheine so als eine Art natürliche ›Grundlage‹ des Geschlechts, als biologisches Substrat, das dann soziokulturell ausgeprägt werde. Damit würde dieser »dem Reich der ›Natur‹ zugewiesen«, das heißt »als eine Art außerkultureller Tatbestand behandelt«.11 Gleiches gilt für die Vorstellung von binärer Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualitätsnorm: Mit der Betrachtung von ›Sex‹ als einer vordiskursiven Gegebenheit würden diese ebenfalls als ›natürlich‹ deklariert und dem sozialwissenschaftlichen Zugriff entzogen.12 9 A. Maihofer: Von der Frauen- zur Geschlechterforschung, S. 141. 10 Regine Gildemeister: Soziale Konstruktion von Geschlecht. Vortrag im Rahmen des virtuellen Seminars »Interdependenzen. Geschlecht, Klasse, Ethnizität« 2006, HU Berlin/Universität Gießen/Universität Kiel. http:// www2.gender.hu-berlin.de/geschlecht-ethnizitaet-klasse/indexb5e9.html vom 27.08.2007, S. 5. Wie Maihofer hervorhebt, beginnt »mit diesem theoretischen und empirischen Schritt […] die Geschlechterforschung im eigentlichen Sinne« (Von der Frauen- zur Geschlechterforschung, S. 140). 11 R. Gildemeister: Soziale Konstruktion, S. 3. 12 Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 24. 257
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Demgegenüber argumentierten die KritikerInnen, dass ›Sex‹ ebenso kulturell konstruiert sei wie ›Gender‹: »Aus am Körper verorteten Genitalien entstehen noch keine Geschlechter, und auch keine Geschlechterordnung – erst aus der Geschlechterordnung heraus können Genitalien mit Bedeutung aufgeladen, zu ›Geschlechtszeichen‹ werden«.13 Wenn sich somit aber herausstellt, dass ›Sex‹ schon immer ›Gender‹ ist, dann fällt die Unterscheidung von ›Sex‹ und ›Gender‹ erkenntnistheoretisch in sich zusammen14 – und damit auch die Vorstellung einer eindeutigen Trennlinie zwischen Natur und Kultur: »Natur (wird) als kulturell gedeutete in die soziale Konstruktion von Geschlecht hineingeholt«.15 Diese dekonstruktivistische Sicht auf Geschlecht und Sexualität machen sich »queere« Interventionen zu eigen, die diese »als Effekte bestimmter moderner Bezeichnungs-, Regulierungs- und Normalisierungsverfahren (begreifen), das heißt sie gehen Kultur nicht voraus (was implizierte, dass sie in dieser lediglich geformt würden), sondern sind gleich ursprünglich mit ihr«.16 Mit dem Ziel der Unterminierung angeblich stabiler Gewissheiten »lenkt queer den Blick dorthin, wo biologisches Geschlecht (sex), soziales Geschlecht (gender) und Begehren nicht zusammenpassen«.17 Nina Degele versteht Queer Studies deshalb als »Denkbewegung für wissenschaftliche Dezentrierung und Verunsicherung gegen das diskursive Regime der hetero- und androzentrischen Normalisierung«.18 Erklärte Absicht des Queering ist eine umfassende ›Entnaturalisierung‹ von Geschlecht und Sexualität. Zum multiparadigmatischen Feld der Gender Studies kann man heute also eine Vielzahl (auch widerstreitender) unterschiedlicher theoretischer und methodisch-begrifflicher Ansätze rechnen, die die mit der Frauenforschung aufkommende Einsicht in die fundamentale Bedeutung der Kategorie ›Geschlecht‹ für das Verständnis (nicht nur) der modernen Gesellschaft teilen. Geschlecht wird dabei nicht (mehr) vor allem als ein Merkmal von Personen aufgefasst, sondern als ein zentrales Organisations- und Strukturprinzip der Gesellschaft. Neben die Analyse der Wirkungen von ›Geschlecht‹ als ein wesentlicher (mit anderen Strukturkategorien zusammen wirkender) Faktor der ungleichen Positionierung im sozialen Raum sind vor allem Fragen nach den basalen Prozessen der 13 14 15 16
R. Gildemeister: Soziale Konstruktion, S. 4. J. Butler: Unbehagen, S. 24. R. Gildemeister: Soziale Konstruktion, S. 10. Sabine Hark: »Queer Interventionen«, in: Feministische Studien 11/2 (1993), S. 104. 17 Annamarie Jagose: Queer Theory. Eine Einführung, Berlin: Querverlag 2001, S 15. 18 Vgl. www.soziologie.uni-freiburg.de/degele/material/queer/queer.pdf vom 24.08.2007. 258
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kulturellen und sozialen Herstellung von ›Geschlecht‹, das heißt nach den »Modi und Medien« der Geschlechterkonstruktionen19 sowie nach den Möglichkeiten von deren Subversion getreten.
2 D i e › Ar c h i t e k t u r d e r G e s e l l s c h a f t ‹ a u s S i c h t der Gender Studies Viele dieser theoretischen Entwicklungen und Ausdifferenzierungen im Feld der Gendertheorie lassen sich auch an den geschlechterbezogenen Forschungen zu Stadt, Raum und Architektur nachvollziehen. Auch hier hat sich der Schwerpunkt schrittweise verlagert von einer frauenzentrierten Perspektive auf die gebaute Umwelt hin zur Betrachtung der Rolle und Bedeutung von ›Geschlecht‹ als gesellschaftlichem Ordnungsprinzip für die baulich-räumliche Gestaltung der Umwelt. Gleichzeitig wurde deutlich, welch starke Prägung die Geschlechterbeziehungen ihrerseits durch die baulich-räumlichen Strukturen der Gesellschaft erfahren.
Androzentrismus in Architektur und Planung Nicht zufällig kamen die frauenbewegten Pionierinnen, die Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre die grundsätzliche Frage nach dem wechselseitigen Verhältnis von Geschlecht und gebauter Umwelt auf die feministische Tagesordnung setzten und der »baulich-räumlichen HERRschaft«20 den Kampf ansagten, überwiegend aus den anwendungsbezogenen Fächern Architektur und Raumplanung.21 Als in ihren Disziplinen marginalisierte Fachfrauen und alltäglich Betroffene der von Männern »verplanten« Räume kritisierten sie, dass Frauen in das Denken der Wohnungs- und Städtearchitektur »weder als Aktive (Planerinnen) noch als Passive (Nutzerinnen) einbezogen« waren.22
19 Angelika Wetterer: »Konstruktion von Geschlecht. Reproduktionsweisen der Zweigeschlechtlichkeit«, in: Ruth Becker/Beate Kortendiek (Hg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, Wiesbaden: VS 2004, S. 122-131, 125. 20 Ulla Terlinden: »Baulich-räumliche HERRschaft. Bedingungen und Veränderungen«, in: beiträge zur feministischen theorie und praxis 4 (1980), S. 48-62. 21 Auch die geschlechterbezogene Auseinandersetzung mit der Architektur der Gesellschaft ist ein interdisziplinäres Projekt, an dem Architektinnen, Raumplanerinnen, Soziologinnen, Geographinnen u.a.m. – inzwischen zunehmend auch Männer – gemeinsam arbeiten. 22 Kerstin Dörhöfer (Hg.): Stadt – Land – Frau. Soziologische Analysen und feministische Planungsansätze, Freiburg: Kore 1990, S. 14. 259
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Dieser Ausgangslage entsprechend, konzentrierten sich die ersten Beiträge zu einer feministischen Architektur- und Planungsforschung auf die Kritik der strukturellen Nicht(be)achtung der frauenspezifischen Lebensbedingungen und Alltagsbedürfnisse im Wohnungs- und Städtebau. Diese frühen Untersuchungen, die häufig empirisch-pragmatisch auf eine Verbesserung der angeprangerten Missstände abzielten, haben schon bald eine Vielzahl von Informationen bereit gestellt, welche die mannigfachen Belastungen und Benachteiligungen von Frauen in den und durch die gebauten Strukturen belegten.23 Dies gilt in besonderem Maße für das Gebiet ›Wohnen/Wohnumfeld‹, das von Anfang an im Fokus der feministischen Architektur- und Planungskritik stand und auf das ich mich im Folgenden konzentrieren werde, da es mir besonders geeignet erscheint, den spezifischen Beitrag der Gender Studies zur Diskussion um die ›Architektur der Gesellschaft‹ zu verdeutlichen. Aus architektursoziologischer Perspektive wird Wohnen als »das gesamtgesellschaftlich verbreitetste Verhalten im Umgang mit Architektur« bezeichnet und gilt »von den Arten der Benutzung der Architektur« als »die gesellschaftlich bedeutsamste, weil sie die meisten Menschen während ihres Lebens einbezieht«.24 Mit Norbert Elias können »Wohnstrukturen als Anzeiger gesellschaftlicher Strukturen« interpretiert werden.25
Wohnstrukturen als Ausdruck patriarchaler Vergesellschaftung In diesem Elias’schen Sinne wurden die Wohnstrukturen der 1970er und 1980er Jahre als präziser »Anzeiger« nicht nur der bürgerlich-kapitalistischen, sondern auch der patriarchalen Verfasstheit der westlichmodernen Industriegesellschaften interpretiert: »als materialisierter Ausdruck eines hierarchischen Geschlechterverhältnisses«, das sich vor allem durch die systematische Marginalisierung von Haus- und Reproduk23 Vgl. z.B. Ulla Greiwe/Birgit Wirtz: Frauenleben in der Stadt. Durch Planung behinderter Alltag, Dortmund: Dortmunder Beiträge zur Raumplanung 1986; Kerstin Dörhöfer/Ulla Terlinden (Hg.): Verbaute Räume. Auswirkungen von Architektur und Stadtplanung auf das Leben von Frauen, 2. Aufl. Köln: Pahl-Rugenstein 1987. 24 Hans P. Thurn: »Architektursoziologie. Zur Situation einer interdisziplinären Forschungsrichtung in der BRD«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 24 (1972), S. 301-341, 321. 25 Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Berlin/Neuwied: Luchterhand 1969, S. 68ff.; s.a. Herbert Schubert: »Empirische Architektursoziologie«, in: Die Alte Stadt 32 (2005), H. 1, S. 1-27. 260
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tionsarbeit auszeichnete.26 In Abgrenzung zur in der Stadtforschung gängigen Sichtweise, welche die räumliche Organisation westlich-moderner Städte mit ihrer charakteristischen funktionalen Zonierung (›Arbeiten‹, ›Wohnen‹, ›Freizeit/Erholung‹, ›Fortbewegung/Verkehr‹)27 allein auf industriekapitalistische Strukturprinzipien zurückführte, konnte die feministische Kritik zeigen, dass in die baulich-räumliche Ausdifferenzierung der modernen Stadt von Anfang an die geschlechtsspezifische Verteilung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit eingelassen war, welche den Bereich der nicht entlohnten Reproduktionsarbeit (im umfassenden Sinne von Sorge und Versorgung) an Frauen delegierte, in die ›Privatsphäre‹ der Wohnungen und Wohnviertel einschloss (»HausFrau«) und damit auch räumlich auslagerte und isolierte. Der gesellschaftlichen Privilegierung der ›produktiven‹ Erwerbsarbeit entsprach die wohnungs- und städtebauliche Orientierung an der männlichen Norm des individuell motorisierten Familienernährers als dem Nutzer der städtischen Strukturen. Diese strukturelle Nichtbeachtung von Reproduktions- und damit ›Frauenarbeit‹ wiederholte sich in der Größe, Gestaltung und im Zuschnitt der Wohnungen selber. Insbesondere die staatlich normierten Grundrisse des sozialen Wohnungsbaus zeichneten sich durch die hierarchische Aufgliederung der überdies sehr engen Räume für eine standardisierte Vater-, Mutter- und Zwei-Kinderfamilie aus. Obwohl die Wohnung für viele Frauen der soziale und räumliche Lebensmittelpunkt war, wurde ihnen kein »eigener Raum« zugestanden.28 Im Zuge der Rationalisierung der Hausarbeit wurde der einzige »Frauenraum«, die Küche, vom zentralen Ort der Wohnung, der »Wohnküche«, auf einen minimal ausgestatteten, meist schlecht besonnten Arbeitsraum reduziert, in dem sich außer der arbeitenden Person niemand anderes mehr aufhalten konnte. Hausarbeit wurde so auch innerhalb der Wohnungen mehr und mehr isoliert und unsichtbar gemacht. Die Kinderzimmer waren viel zu klein für den Bewegungsdrang von Kindern, die deshalb im Flur oder im Wohnzimmer spielten. Die dabei entstehenden Nutzungskonflikte wur26 Ruth Becker: »Raum: Feministische Kritik an Stadt und Raum«, in: Dies./ Beate Kortendiek (Hg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, Wiesbaden: VS 2004, S. 652-664, 654. 27 Schon diese Bestimmung der zu trennenden städtischen Funktionen, insbesondere von Wohnen und Arbeiten, beruhte auf einem Androzentrismus, denn sie unterstellte: wer wohnt, arbeitet nicht. Diese Nichtanerkennung von Reproduktionsarbeit als Arbeit liegt auch der berüchtigten Bezeichnung von Großsiedlungen als »Schlafstädte« zugrunde. 28 Angesichts dieser Umstände wurde die Forderung nach dem »Zimmer für sich allein« (so der bekannte Romantitel von Virginia Woolf) zu einem geflügelten Wort in der Frauenbewegung. 261
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den häufig zu Lasten von Frauen gelöst. In Bezug auf das Wohn- und Quartiersumfeld der monofunktionalen Siedlungen wurden vor allem schlechte ÖPNV-Anbindungen, fehlende Einrichtungen zur Deckung des täglichen und speziellen Bedarfs (zum Beispiel Kinder- und Frauenärzte) sowie die mangelnde Ausstattung mit Kultur- und Freizeiteinrichtungen, Sport- und Spielstätten beanstandet.29
Architekturen als Medien sozialer Beziehungen Forschungen haben vielfach belegt, dass die wohnungs- und städtebaulichen Strukturen maßgeblich zur Erschwerung und Einengung des Alltagslebens von Frauen und zur Befestigung geschlechtsspezifischer Rollenzuweisungen beitrugen und so zum »Emanzipationshindernis«30 wurden. Normierter, standardisierter Wohnungsbau und funktionale Zonierung bewirkten demnach weit mehr als physische Distanzierung. Sie entfernten die Frauen real und symbolisch von und aus der Stadt und der Öffentlichkeit, beschnitten ihre Wahl- und Handlungsmöglichkeiten und damit auch die Chancen der Veränderung ihres gesellschaftlichen Status.31 Architektur erweist sich damit als wichtige »Konstruktionsmacht von Lebenswelten«32, hier der spezifischen Lebenswelten von Frauen. Wenn Architekturen zugleich ein »Mittel (sind), den einzelnen Mitgliedern der Gesellschaft ihren Ort und ihre Stellung im Gemeinwesen zuzuweisen«33, so haben die fordistischen Wohnarchitekturen und -strukturen deutlich artikuliert, dass der Platz von Frauen materiell und sym-
29 Kerstin Dörhöfer/Jenny Naumann: »Zur Lage der Frauen in städtischen Wohngebieten«, in: Marielouise Janssen-Jurreit (Hg.), Frauenprogramm – gegen Diskriminierung, Reinbek: Rowohlt 1979, S. 239-248; Ursula Paravicini: Habitat au féminin, Lausanne: Presses polytechniques et universitaires romandes 1990. 30 Myra Warhaftig: Emanzipationshindernis Wohnung: Die Behinderung der Emanzipation der Frau durch die Wohnung und die Möglichkeit zur Überwindung, Köln: Pahl Rugenstein 1985. 31 Daphne Spain: Gendered Spaces, Chapel Hill: University of North Carolina Press 1992, S. XI; Renate Borst: »Die zweite Hälfte der Stadt. Suburbanisierung, Gentrifizierung und frauenspezifische Lebenswelten«, in: Dies. u.a. (Hg.), Das neue Gesicht der Städte. Theoretische Ansätze und empirische Befunde aus der internationalen Debatte, Basel: Birkhäuser 1990, S. 237. 32 Heike Delitz: »Die Architektur der Gesellschaft. Architektur und Architekturtheorie im Blick der Soziologie«, in: Wolkenkuckucksheim – CloudCuckoo-Land – Vozdushnyi zamok. Internationale Zeitschrift für Theorie und Wissenschaft der Architektur 10 (2006), H. 1. 33 H. Schubert: Empirische Architektursoziologie. 262
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bolisch am Rande der Gesellschaft zu finden ist. Eigenheim-Suburbanisierung und sozialer Wohnungsbau drücken diese Marginalisierung gleichermaßen aus. Insofern Wohnstrukturen also eine große Rolle bei der Symbolisierung, Aufrechterhaltung und Verstärkung von Geschlechterbeziehungen spielen, sind sie besonders geeignet, die »gesellschaftsprägende Kraft von Architekturen«34 zu verdeutlichen. Diese Erkenntnisse machen zugleich deutlich, dass zwischen Architekturen und sozialen Strukturen und Prozessen eine Wechselbeziehung besteht. Einerseits unterstreichen Architekturen hierarchisch (nach Geschlecht, Klasse, Ethnie, Alter etc.) differenzierte soziale Beziehungen, andererseits und zugleich wiederum bringen sie solche Differenzierungen selber mit hervor. Aus Genderperspektive bedeutet dies: Annahmen über das Wesen der Geschlechter und die diesen entsprechenden Rollen gehen in die Gestaltung der gebauten Umwelt ein, werden buchstäblich versteinert oder betoniert und machen sich wiederum als Voraussetzungen geltend, unter denen Geschlechterbeziehungen ausgehandelt werden. Aus der Sicht der Gender Studies sind Architekturen deshalb mehr als nur »Anzeiger« (Elias), »Zeugen« oder »Spiegel« (Schubert) gesellschaftlicher Strukturen. Sie sind zugleich ein bedeutendes »medium through which social relations are produced and reproduced«.35
Charakteristika des feministischen Architekturverständnisses: Weiter Architekturbegriff und Alltagsbezug Wie diese Ausführungen zeigen, zeichnet sich die feministische Sichtweise auf die gebaute Umwelt durch einen weiten Architekturbegriff aus, der die Gesamtheit der baulichen Bestände vom einzelnen Gebäude bis zum architektonischen Ensemble und ausdrücklich auch die städtebaulichen Kontexte einbezieht.36 Dabei wird der ganze Prozess des Planens und Gestaltens in den Blick genommen: die Entstehung, Herstellung, Aneignung und Nutzung ebenso wie die Rezeption von Bauwerken. In die Analyse des Bauens gehen damit auch soziale (Macht-)Beziehungen wie Entscheidungs- und Beteiligungsstrukturen oder die
34 H. Delitz: Architektur der Gesellschaft. 35 Derek Gregory/John Urry: »Introduction«, in: Dies. (Hg.), Social Relations and Spatial Structures, Houndmills u.a.: Macmillan Education Ltd. 1985, S. 3; s.a. Barbara Zibell: »From outer space? Architektur und Gender Studies. Neue Perspektiven auf eine alte Disziplin«, in: Wolkenkukkucksheim 10 (2006), H. 1, S. 7. 36 B. Zibell: From outer space? S. 6f. 263
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(unterschiedliche) Stellung von ArchitektInnen im Produktionsprozess ein.37 Ein anderes wesentliches Kennzeichen der Gender-Perspektive auf Architekturen ist der starke Alltagsbezug. Dieser drückt sich in zweifacher Hinsicht aus: Zum einen betrachtet der feministische Blick gerade ›das alltägliche Bauen‹ respektive die ›Alltagsarchitektur der Gesellschaft‹ als besonders aussagekräftige »Anzeiger« und Medien der gesellschaftlichen Verhältnisse. Hierin unterscheidet sich die Gender-Sicht auf Architekturen fundamental von einer Architekturtheorie oder -soziologie, die die Strukturen und den Wandel der Gesellschaft vor allem an »starchitecture«, spektakulären, repräsentativen oder avantgardistischen Bauwerken ablesen will. Wenngleich Vertreterinnen der Gender Studies die gesellschaftsdiagnostische Bedeutung solcher Architekturen keinesfalls in Abrede stellen und selber gewinnbringend für geschlechterkritische Analysen nutzen, so unterstreichen sie in ihren Arbeiten doch die in den meisten Architekturbetrachtungen stets vernachlässigte große Wirkmächtigkeit gerade der Alltagsarchitekturen für die alltägliche Lebensgestaltung sowie deren Eigenschaft als Medien der alltäglichen materiellen und symbolischen Produktion und Reproduktion hierarchischer sozialer Beziehungen. Damit eng zusammenhängend ist zum anderen der Lebensalltag derjenigen, für die (nicht) geplant wird, ein wichtiger Maßstab der Betrachtung. In Bezug auf die Deutung und Bewertung architektonischer Produkte zeichnet sich das feministische Architekturverständnis durch den hohen Stellenwert aus, der nicht nur der formal-ästhetischen, auf die Symbolik von Bauwerken fokussierenden, sondern auch der sozialen, nutzungs- und gebrauchswertorientierten Dimension beigemessen wird.38
Architektonische Konstruktionen von Gender Mit dem Beitrag, den die Symboliken von Bauten und Räumen zur Konstruktion und Repräsentation von Geschlechterbildern und Geschlechterordnungen leisten, beschäftigt sich ein eher architekturtheoretisch und 37 Dieses weite Spektrum lässt sich auch an der Themen- und Perspektivenvielfalt von Readern und Sammelbänden zum Thema Architektur und Gender ablesen (z.B. Beatriz Colomina (Hg.): Sexuality & Space, Princeton: Princeton Architectural Press 1992; Jane Rendell et al. (Hg.): Gender Space Architecture. An interdisciplinary introduction, London: Routledge 2000; Dörte Kuhlmann/Kari Jormakka (Hg.): Building Gender. Architektur und Geschlecht, Wien: Ed. Selene 2002). 38 Kerstin Dörhöfer/Ulla Terlinden: Verortungen. Geschlechterverhältnisse und Raumstrukturen, Basel u.a.: Birkhäuser 1998, S. 10. 264
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kultursoziologisch ausgerichteter Forschungsstrang innerhalb der Gender Studies.39 Hier geht es um die Frage, wie Architektur (hier nun im engeren Sinne verstanden) »mit ihren räumlichen und nicht-räumlichen Mitteln Einfluss auf die Produktion, Reproduktion und Repräsentation von Geschlecht und Körper nimmt«.40 Dabei geht es vor allem um die geschlechtsspezifische Kodierung von Baustrukturen, -formen, Dimensionen, Materialien, Proportionen, Ornamenten. An zahlreichen Beispielen wird gezeigt, dass und wie die architektonische Formensprache sich bis heute archetypischer Bilder bedient, die vor allem auf die männliche und weibliche Körperform sowie auf primäre Geschlechtsmerkmale anspielen.41 So gelten geschwungene, gekurvte, sanfte, weiche Formen als feminin; gerade, geometrisch-strenge, harte und aufragende als maskulin.42 Damit aufs Engste verknüpft sind die historisch tief verwurzelten Vorstellungen von weiblicher Natur und Emotionalität sowie männlicher Zivilisation und Rationalität. Viele Architekturen erstreben gerade die Verbindung ›weiblicher‹ und ›männlicher‹ Prinzipen.43 Kerstin Dörhöfer
39 Vgl. z.B. Beatriz Colomina: »The Split Wall: Domestic Voyeurism«, in: Dies. (Hg.), Sexuality and Space, S. 73-78; Kerstin Dörhöfer: »Symbolische Geschlechterzuordnungen in Architektur und Städtebau«, in: Martina Löw (Hg.), Differenzierungen des Städtischen, Opladen: Leske + Budrich 2002, S. 127-140, 137ff.; Dörte Kuhlmann: Raum, Macht und Differenz. Genderstudien in der Architektur, Wien: Ed. Selene 2003. 40 D. Kuhlmann: Raum, Macht und Differenz, S. 12. 41 Vgl. Günther Feuerstein: Androgynos. Das Mann-Weibliche in Kunst und Architektur, Stuttgart: Ed. Axel Menges 1997. 42 Als ein besonders prägnantes Beispiel hierfür zitiert Kerstin Dörhöfer die Äußerung des Erbauers der Oldenburger Amalienbrücke, Bernhard Strecker (1981): »Der vokalische, schön gerundete Name Amalie ist der Name einer Frau, und dem ›genius loci‹ entspräche es daher, eine frauliche Brücke zu bauen. Dies ist auch geschehen. Dabei sind nicht nur die runden Formen der Frau, der Busen, der Hintern, die schöngewölbte Augenbraue etc. in die Brücke eingegangen, sondern das Wichtigste der Frau ist auch direkt mit in dem Bauwerk verwirklicht: die Fruchtbarkeit der Frau. Auf der Brücke wachsen Bäume! Die Brücke ist nicht nur fraulich, sie ist auch eine Mutter, sie bringt etwas hervor [...]. Das ›Wasserhafte‹ des Wassers, das Flüssige, das potentiell strömende, wird nun in der weit und flach abfallenden Treppe hervorgehoben [...]. (Das) verdeutlicht [...], daß wegen des oben beschriebenen Grundtenors, die fraulich-mütterliche Amalie, eine Treppe breit und bequem sein muß und ausladend, denn man will sich ja wonnevoll auf der schönen Frau aufhalten [...].« (Kerstin Dörhöfer: »Einleitung«, in: Dies. (Hg.), Stadt – Land – Frau. Soziologische Analysen und feministische Planungsansätze, Freiburg: Kore 1990, S. 14). 43 Herausragende Beispiele hierfür sind die Werke von Ebenezer Howard und Le Corbusier. Vgl. Susanne Frank: Stadtplanung im Geschlechterkampf, Opladen: Leske + Budrich 2003. 265
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interpretiert solche Formensprache als fortwährende Bekräftigung und »unumstößliche Stabilisierung« von Geschlechterdualität und Heterosexualitätsnorm. »Eines (bleibt) konstant: Die Ideologie der binären Ordnung der Geschlechter und ihrer Vereinigung zum räumlichen Akt der (Er-)Zeugung«.44 Architektonische Geschlechterkonstruktionen können aber auch weniger demonstrativ angelegt sein. In einer geschlechterkritischen Lesart von Alvar Aaltos 1939 für die Familie Gullichsen errichteten Villa Mairea deutet Dörte Kuhlmann vor allem die Anlage von Blickachsen und die Anordnung geschlechtlich konnotierter Räume als subtile Weise, die Geschlechter- und gesellschaftlichen Rollen ihrer jeweiligen Bewohner zu unterstreichen. Die Gullichsens sahen sich selber als »progessives who wanted to make a statement about art and society«.45 Dass Maire Gullichsen, Malerin und Bauherrin des Projekts, dennoch »in der Konstellation des Hauses eine sehr konservative Position«46 zugewiesen wird, macht Kuhlmann etwa an der hierarchischen Raumfolge der Schlafzimmer fest: von den Gäste- über die Kinderzimmer zu Maires und dann zu Harry Gullichsens Schlafzimmer. Am Ende dieser Sequenz befindet sich der Zugang zu Maires Atelier: »eine kleine Tür, die fast den Charakter einer Geheimtür hat«.47 Das Studio liegt erhöht und von den anderen Zimmern separiert. Kuhlmann kommentiert: »Als Mutter nimmt sie die Position zwischen ihrem Mann und den Kindern ein, als Malerin befindet sie sich im Innersten und bildet quasi die Essenz des Hauses, das nach ihr Villa Mairea benannt wurde.«48 Einerseits wird der eigenständige Charakter von Maires Tätigkeit betont, andererseits wird diese aber auch isoliert, ja versteckt. Als Ort der Kunst, die mit «dem Natürlichen« assoziiert wird, ist das Atelier organisch, ja »baumartig« geformt und markiert den »Übergang zur Natur«.49 Während ihr Mann, der Industrielle Harry Gullichsen, vom Fenster seines Büros sowohl Arbeitsabläufe seiner Fabrik als auch den Hauseingang, also den Außenraum überblicken und kontrollieren kann, weisen Maires Fenster in den Innenhof, wo sie die im Privatgarten spielenden Kinder im Auge hat, und in die umgebende Natur. Aus diesen und vielen anderen Beobachtungen folgert Kuhlmann, dass »im Kontrast zu der populären Ideologie, die die Frau mit der Natur verbindet, die Villa Mairea eher die bekannte 44 K. Dörhorfer: Symbolische Geschlechterzuordnungen, S. 137. 45 Sarah Menin/Flora Samuel: Nature and Space: Aalto and Le Corbusier, London/New York: Routledge 2003, S. 135. 46 D. Kuhlmann: Raum, Macht und Differenz, S. 13. 47 Ebd., S. 15. 48 Ebd., S. 15. 49 Ebd., S. 16. 266
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Schlussfolgerung von Simone de Beauvoir (suggeriert), dass man nicht als Frau geboren sei, sondern zur Frau gemacht würde.«50
Gender im Kontext In der ersten Phase der feministischen Stadt- und Architekturkritik, die nicht zufällig in der Ära der höchsten Verfestigung des traditionellen Geschlechterrollenmodells einsetzte, konzentrierten sich Analyse und Kritik auf die sträfliche Vernachlässigung der Anforderungen, die sich aus der alltäglichen Verrichtung von Haus- und Reproduktionsarbeit ergaben, und auf das Ziel von deren gesellschaftlicher wie planerischgestalterischer Aufwertung und Anerkennung. Diese anfängliche Fixierung auf den Lebensalltag von Hausfrauen und Müttern hat die feministische Stadt- und Architekturkritik längst überwunden. Mit der zunehmenden Differenzierung von Arbeits- und Lebenswelten trat die polarisierende Sichtweise auf Männer- und Frauenwelten in den Hintergrund zugunsten einer differenzierten Betrachtung unterschiedlichster Alltagsmuster und Lebenszusammenhänge.51 Die großen Unterschiede zwischen Frauen und zwischen Männern und die Vielfalt der Lebensentwürfe werden zunehmend wahrgenommen, etwa in Studien zu spezifischen Anforderungen von Migrantinnen an die Gestaltung gemeinschaftlich nutzbarer Räume52 oder in geschlechterbezogenen Analysen von Gentrifizierungsprozessen.53 So sind jüngere, hoch qualifizierte und gut verdienende Frauen und Homosexuelle als NachfragerInnen auf den innerstädtischen Wohnungsmärkten überproportional aktiv. Sie leben vielfach mit einem/einer ebenfalls erwerbstätigen PartnerIn in kinderlosen Haushalten zusammen. Aufgrund der Tatsache, dass in heterosexuellen Gentrifier-Haushalten weit seltener die typischen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilungen praktiziert werden als in traditionellen Haushalten, wird die Gentrifizierung auch als sozialräumlicher Ausdruck einer all-
50 Ebd. 51 B. Zibell: From outer space, S. 3. 52 Viktoria Waltz: »Muss das Kopftuch herunter? Zur Situation der Migrantinnen in unseren Städten«, in: Christine Bauhardt/Ruth Becker (Hg.), Durch die Wand! Feministische Konzepte zur Raumentwicklung, Pfaffenweiler: Centaurus 1997, S. 123-146. 53 Liz Bondi: »Gender Divisions and Gentrification: a Critique«, in: Transactions of the Institute of British Geographers N.S. 16 (1991), S. 190-198; Monika Alisch: Frauen und Gentrification: Der Einfluß von Frauen auf die Konkurrenz um den innerstädtischen Wohnraum, Wiesbaden: DUV 1993. 267
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mählichen Aufweichung überkommener Geschlechterrollen interpretiert.54 Ähnlich wird die »gay gentrification« als Resultat urbaner Emanzipationsbestrebungen gedeutet. Sie gilt als gezielte und bewusste Antwort einkommensstarker, überwiegend weißer Mittelklassemänner auf die Erfahrungen von alltäglicher Marginalisierung, sexueller Unterdrückung und aggressiver Homophobie: »Gentrification was just one oft the ways in which gay identity was consolidated, gay space was asserted and sexuality could be performed ›out of the closet‹ without fear of opposition.«55 Davon ausgehend, dass mit dem Geschlechterverhältnis auch die Heteronormativität in die physische und soziale Organisation von Räumen und Gebäuden eingeschrieben ist,56 feiert Aaron Betsky die befreiende Wirkung solcher »queer spaces«: »Gay men and women are in the forefront of architectural innovation, reclaiming abandoned neighborhoods, redefining urban spaces, and creating liberating interiors out of hostile environments.«57 Anders als dieses euphorische Zitat es nahelegen mag, wird dabei die Kehrseite dieser Entwicklungen von der kritischen Genderforschung keineswegs übersehen: Dass nämlich die Schaffung nicht-traditioneller, tendenziell emanzipatorischer Räume für die privilegierten GewinnerInnen des gesellschaftlichen Strukturwandels einhergeht mit der Verdrängung einkommensschwacher Schichten aus ihren angestammten Wohngebieten. Insofern belegen gerade die Unter54 Ann Markusen hat schon 1980 die Fachwelt mit ihrer feministischeuphorischen Interpretation provoziert, nach der die innerstädtischen Gentrifizierungsprozesse in weiten Teilen als ein Resultat des Zusammenbruchs des patriarchalen Haushalts anzusehen seien (»City Spatial Structure, Women’s Household Work and National Urban Policy«, in: Women and the American City. Special Issue of Signs 5 (1980), No. 3, S. 23-44, 35; zur Kritik siehe M. Alisch: Frauen, S. 116f.). 55 Tom Slater: »What is gentrification?«, in: Ders., Gentrification Web, http://members.lycos.co.uk/gentrification v. 20.01.2008. S.a. Larry Knopp: »Sexuality and urban space: a framework for analysis«, in: David Bell/Gill Valentine (Hg.), Mapping Desire. Geographies of Sexualities, London et al.: Routledge 1995, S. 149-161, 152 sowie die Pionierarbeit zur ›gay gentrification‹: Manuel Castells: »Cultural identity, sexual liberation and urban structure: the gay community in San Francisco«, in: Ders., The City and the Grassroots: A Cross-Cultural Theory of Urban Social Movements, London: Edward Arnold 1983, S. 138-170. Zu ›lesbian gentrifiers‹ s. Tamar Rothenberg: »And she told two friends: lesbians creating urban social space«, in: D. Bell/G. Valentine: Mapping Desire, S. 165-181. 56 D. Bell/G. Valentine: Mapping Desire; Michael Frisch: »Planning as a Heterosexist Project«, in: Journal of Planning Education and Research 21 (2002), S. 254-266. 57 Aaron Betsky: Queer Space. Architecture and Same-Sex Desire, New York: William Morrow & Co. 1997, Klappentext. 268
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suchungen von Gentrifizierungsprozessen die unlösbare Verbindung von »Geschlecht« und »Sexualität« mit anderen Strukturkategorien wie »Ethnie« oder »Klasse/Schicht«. Die hier zitierten Studien können exemplarisch für eine allgemeine Veränderung der Blickrichtung in der Analyse des Verhältnisses von Gender und Architekturen stehen: Thematisiert wird nicht mehr vor allem die Behinderung und Benachteiligung marginalisierter Gruppen durch baulich-räumliche Strukturen, sondern die aktive planerische Herstellung und Aneignung von Gebäuden, Räumen und Orten in oftmals widerständigen sozialen Prozessen.58
3 Suburbia als Geschlechterarchitektur Im Folgenden möchte ich die vorangegangenen Überlegungen am Beispiel des nordamerikanischen »Suburbia« schlaglichtartig illustrieren und diskutieren. Das nordamerikanische Suburbia, das ich als ein distinktes architektonisches Ensemble verstehe, bietet sich hierfür aus mehreren Gründen an. Erstens ist, wie gesehen, die Betrachtung von Wohnstrukturen besonders aussagekräftig für die Analyse von Geschlechterordnungen und Gesellschaftsstrukturen. Mit Suburbanisierung war – zumindest bis ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts – meist ganz selbstverständlich Wohnsuburbanisierung gemeint, das heißt die Schaffung und Abgrenzung reiner Reproduktionsräume. Zweitens hat Suburbia in der feministischen Debatte um die Gestaltung und Bedeutung der gebauten Umwelt einen herausragenden Stellenwert: Insofern die fordistische Suburbanisierung auf der Durchsetzung des typischen Lebensmodells der bürgerlichen Kleinfamilie mit vollerwerbstätigem männlichem Haushaltsvorstand einerseits und Vollzeit-Hausfrau und Mutter andererseits beruhte, steht der Begriff »Suburbia« aus Gender-Sicht für den patriarchal geprägten Raum schlechthin. Vor diesem Hintergrund eignet sich Suburbia drittens hervorragend zur Illustration der These, dass die gebaute Umwelt ein wesentliches Moment der gesellschaftlichen Konstruktion und Organisation von Geschlecht und also im Prozess des »Doing Gender« ist. Und viertens bieten die Veränderungsprozesse, die Suburbia im Laufe seiner gut 150jährigen Geschichte erfährt, bestes Material zur Veranschaulichung der historischen und kulturellen Wandelbarkeit architektonisch formierter Geschlechter- und Gesellschaftsarrangements.
58 R. Becker: Raum, S. 659. 269
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Das viktorianische Suburbia: »To make a house a home« Suburbia ist ohne seinen inneren Bezugs- und Referenzpunkt, die moderne kapitalistische Industriestadt, nicht zu denken. Der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzende Prozess der Suburbanisierung war unmittelbares Resultat der Bestürzung und des Entsetzens, mit denen die bürgerlichen Mittelschichten als führende gesellschaftliche Gruppen auf die Entwicklung der modernen Industriestädte reagierten. Übervölkerung und soziales Elend, mangelnde Hygiene, Klassen- und ethnische Konflikte sowie die Auflösung der ›natürlichen‹ Geschlechterordnung (Emanzipationsbestrebungen, Prostitution als das Übel der Zeit) ließen die Großstadt als akute Bedrohung der bürgerlichen Geschlechter- und Gesellschaftsordnung erscheinen.59 Abb. 1: Werbung in der ersten Phase der Suburbanisierung (1923).60
Auf die Schrecken der anomischen Großstadt reagierten die aufstrebenden städtischen Mittelschichten mit der Idealisierung der bürgerlichen Kleinfamilie: »In their thinking – soon accepted as ideal – the 59 Vgl. S. Frank: Stadtplanung im Geschlechterkampf. 60 »Long Island – The Sunrise Homeland«. Cover eines promotional booklets der Long Island Railroad Company u. des Long Island Real Estate Board. 270
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family became a special protected place, a repository of tender, pure, and generous feelings (embodied by the mother) and a bulwark and a bastion against the raw, competitive, and selfish world of commerce (embodied by the father) that was then beginning to emerge as the nation industrialized. [...] No longer simply a microcosm of the rest of society, the ideal family became a womblike ›inside‹ to be defended against the corrupting ›outside‹«.61 Um ihre Qualitäten entfalten zu können, benötigte die Familie einen adäquaten Ort, und dieser konnte nur außerhalb der Stadt errichtet werden. Der unmoralischen »Künstlichkeit« der industriellen Zentren wurde die tugendhafte »Echtheit« des Landlebens entgegengesetzt. Das naturnah gelegene Eigenheim, sowohl Sitz als auch Symbol des Familienlebens, wurde zum moralischen Fels in der Brandung von Immoralität und Sünde stilisiert. »Books of architectural drawings, along with illustrations in turn-of-the-century magazines, worked hard to shape domestic space to reflect and reinforce this ideal.«62 Auch Anlage und Gestaltung der Vorstadtgemeinden folgten ganz der Maxime, diese vom Erscheinungsbild der Stadt abzusetzen. Die traditionellen, als »uramerikanisch« beschworenen und bislang im American Farmhouse lokalisierten Werte des Landlebens wurden in das English Cottage verlegt, das als Haustypus die Suburbs der ersten Phase dominieren sollte.63 Natürliche Gegebenheiten wurden akzentuiert, ländliche Elemente kultiviert. Wiesen, Wälder, Hügel und Flussläufe mit Cottages, Gärten, Rasenflächen und gekurvten, baumbestandenen Straßen zu einem »romantischen«, häufig 61 Kenneth Keniston and The Carnegie Council on Children: All Our Children. The American Family Under Pressure, New York: Harcourt Brace 1977, S. 10f. 62 Don Mitchell: Cultural Geography. A Critical Introduction, Malden: Blackwell 2000, S. 204. 63 Vgl. John Stilgoe: Borderland. Origins of the American Suburb 18201939, New Haven: Yale UP 1988, S. 31. Im Bild des Cottages verschmolzen das am englischen Stil so sehr bewunderte Gefühl für das Pittoreske mit dem amerikanisch-republikanischen Sinn für das Einfache, Bodenständige und dem festen Glauben an die moralische Kraft einer gesunden und sorgfältig gestalteten Umgebung. Wie Stilgoe zusammenfaßt, bedeutete das suburbane Cottage im Verständnis von Planern und Reformern »not necessarily a small house, but a simple one, a place of rural virtue, the refuge of values assaulted by suddenly complicated urban life, a shelter against urban evil.« (S. 32). S.a. Kenneth Jackson: The Crabgrass Frontier. The Suburbanization of the United States, New York/Oxford: Oxford UP 1985, S. 63ff.; Robert Fishman: Bourgeois Utopias. The Rise and Fall of Suburbia, New York: Basic Books 1987, S. 121ff.; Mary Corbin Sies: »Suburban Ideal«, in: Neil Larry Shumsky (Hg.), Encyclopedia of Urban America. The Cities and Suburbs. 2 Vols., Santa Barbara Ca.: ABC-Clio 1998, S. 755. 271
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parkähnlichen Ensemble von bukolischer oder pastoraler Schönheit komponiert. Dreh- und Angelpunkt dieses Separierungsmodells war die Frau. Der suburbane ›cult of domesticity‹ war zugleich ein ›cult of true womanhood‹, eine utopisierende Verherrlichung jener natürlichen weiblichen Fähigkeit »to make a house a home«.64 Mit der schwärmerischen Idealisierung von Frauen und der Verklärung von weiblichen Werten ging zugleich die Begrenzung weiblicher Aktivität und Verantwortung auf die häusliche Sphäre einher. Die Entfernung der Frauen aus der Welt der Stadt und der Erwerbsarbeit war der zu entrichtende Preis für ihre unumschränkte Macht im häuslichen Bereich. Mit dieser Bestimmung wurde zugleich auch ein Männlichkeitsmuster etabliert: Das des suburbanen Pendlers zwischen den Sphären. Dass dieser zum Wohle der Familie in die korrupte und korrumpierende Welt der Stadt und der Arbeit eintauchen und sich dort die Hände schmutzig machen musste, wurde als unvermeidlich akzeptiert. Aber am Ende eines langen, harten Tages würde er sich in die Idylle seines suburbanen Familienheims zurückziehen – ein nachgerade paradiesischer Ort, so gestaltet, dass sich die reinigenden und regenerierenden Kräfte von Frau und Natur kongenial ergänzten, um den gestressten Geschäftsmann an Leib und Seele zu erfrischen, auf dass er am nächsten Tag sich erneut den Herausforderungen und Unbilden des städtischen Treibens aussetzen könnte.65 Aufgabe und Ziel der Suburbanisierung war es also, die zutiefst geschlechtlich codierte Ideologie der Separate Spheres architektonischraumplanerisch zu materialisieren und dadurch die Gesellschaft zu restabilisieren: »The growth of suburbia was to build into the physical environment that division between the feminine/natural/emotional world of the family and the masculine/rational/urban world of work«.66 In der Architektur der Suburbs, errichtet aus dem Geiste symbolischer Dichotomien, verschmolzen polarisierte Geschlechtercharaktere und polarisierte Raumbilder untrennbar miteinander. Einerseits wurden Bauten und Räume geschlechtlich definiert, andererseits die Geschlechter baulich-räumlich bestimmt.
64 Jane Davison/Leslie Davison: To Make a House a Home. Four Generations of American Women and the Houses they Lived in, New York: Random House 1994. 65 An dieser Stelle sei ausdrücklich betont, dass ich hier das suburbane Ideal schildere. Die Realität sah in vielerlei Hinsicht anders aus. Zum viktorianischen »Gender Trouble in Paradiese« (suburbane Emanzipationsbestrebungen, »male domesticity«, »Pendlerneurosen« etc.) S. Frank: Stadtplanung. 66 R. Fishman: Bourgeois Utopias, S. 62. 272
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Abb. 2: »Throughout the 1950s, magazine illustrators frequently depicted suburban women as hopelessly witless« (John Stilgoe). Die hohen Kosten des suburbanen Lebensstils erwiesen sich als zuverlässiges ökonomisches Selektionskriterium, das für die gewünschte soziale und ethnische Homogenität und damit den geteilten Wertehorizont der Suburb-Bewohner sorgte. »Residence in an ideal suburb would reify social status, guarantee social exclusivity, and enable suburbanites to control their social, physical, and, to the extent possible, political environments«.67 Insofern war Suburbia als gesellschaftliches Ordnungsmodell nicht nur Ausdruck und Resultat bürgerlicher Geschlechterideologie und Klassenbewusstseins, sondern zugleich auch ein Mittel der Geschlechterkonstruktion und Klassenbildung durch räumliche und ethnische Segregation.
Das fordistische Suburbia: »Female triviality« Nach dem Zweiten Weltkrieg verlor die suburbane Wohnform ihren upper-middle-class-Charakter und wurde breiten Schichten zugänglich. Als Reaktion auf den großen Mangel an bezahlbarem Wohnraum wurde an den städtischen Peripherien mit der Erschließung bislang unbebauten 67 M. C. Sies: Suburban Ideal, S. 755. 273
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Landes in ungeheurem Ausmaß begonnen, um so viele Menschen so schnell, so billig und so profitabel wie möglich unterzubringen. So genannte »instant suburbs«68 schossen wie Pilze aus dem Boden. Prototypisch für die massenproduzierten ›fordistischen‹ Suburbs der Nachkriegszeit standen die von der Firma Abraham Levitt & Sons errichteten und nach ihr benannten Levittowns (erbaut in Long Island, Pennsylvania und New Jersey). Die Gestaltung und funktionale Zonierung der Stadtlandschaften folgten in der fordistischen Epoche und vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg ganz dem Bild der Kleinfamilie mit pendelndem männlichen Familienernährer und suburbaner Vollzeit-Hausfrau-undMutter.
Abb. 3: Dan Weiner: Commuters arriving home on the 4:51 from Chicago, Park Forest, Illinois, 1953.
Für die soziale Homogenität sorgten nun die Developer, indem sie die Häuser strikt nach Kriterien von Einkommen, Alter und ethnischer Zugehörigkeit – das heißt fast ausnahmslos an junge weiße Familien – vergaben. Kritik an dieser Praxis wies Abraham Levitt mit seinem berühmten Ausspruch zurück: »We can solve a housing problem, or we can try 68 Scott Donaldson: The Suburban Myth, New York/London: Columbia UP 1969, S. 39. 274
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to solve a racial problem. But we cannot combine the two«.69 Charakteristisch für die Nachkriegssuburbanisierung war damit auch ein bislang ungekanntes Ausmaß an ökonomischer, ethnischer und generationeller Segregation. Das familienzentrierte Lebensmodell white/anglo/middleclass/heterosexual verallgemeinerte sich und wurde hegemonial.
Abb. 4: »Ohne Titel« (Grafik von Ellen Lupton).
Um dieses ›neue‹ Suburbia entbrannte in den 50er und 60er Jahren eine erbitterte Kontroverse, die als Diskussion der Frage gelesen werden kann, ob die Architektur ein getreulicher »Spiegel« der Gesellschaft ist. Ausgelöst wurde sie durch eine Fülle von Sozialreportagen, populärwissenschaftlichen und literarischen Texten sowie gemeindesoziologischen Studien, die sich kritisch mit dem neuen Gesicht der Suburbs und dem assoziierten Sozialcharakter und Lebensstil der Suburbaniten auseinan-
69 K. Jackson: Crabgrass Frontier, S. 241. In Levittown (Long Island) lebte bis in die 60er Jahre keine einzige farbige Familie. In den Suburbs anderer Developer stellte sich die Situation nicht anders dar: Max Lerner: »The Suburban Revolution«, in: Ders., America as Civilisation. Life and Thought in the United States Today, New York: Simon & Schuster 1957, S. 178f. 275
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dersetzten.70 Ironisch, bissig oder offen polemisch im Ton, prangerten diese Arbeiten vor allem die behauptete Erosion von Freiheit und Individualität sowie den Zwang zur Konformität als Folge der sozialen Selektivität und der sterilen Gleichförmigkeit suburbanen Lebens an. Dabei wurde vom »Gesicht«, vom äußeren Erscheinungsbild der Suburbs umstandslos auf die Eigenschaften ihrer Bewohner geschlossen, das heißt, die Studien sind durch einen starken architektonischen und umweltbezogenen Determinismus geprägt. Die massenfabrizierten, gleichförmigen Vorstädte mit ihren uniformen, vorgefertigten Häusern sollten, so die übereinstimmende Diagnose, ebenso genormte und standardisierte Massen- resp. »Herdenmenschen«71 anlocken und hervorbringen: »Mass produced, standardized housing breeds standardized individuals, too.«72 Auffällig ist, dass die Beschäftigung mit dem Alltagsdasein suburbaner (Haus-)Frauen breiten Raum und eine Schlüsselstellung bei der Bewertung des suburbanen Lebensstils einnahm.73 Dabei dienten sowohl der Suburbia durchgehend zugeschriebene, essentiell weibliche Geschlechtscharakter als auch die Lebenssituation und Lebensführung suburbaner Haus-Frauen den Forschern als Ausweis und Beleg der unterstellten Geist- und Substanzlosigkeit suburbanen Lebens. Die dem suburbanen Lebensstil in der kritischen Literatur häufig vorgehaltene Trivialität erscheint in solchen Schilderungen als eine spezifisch weibliche Trivialität.74 Die Bestimmung von Suburbia als »female environment« wurde so von einer Wertschätzung zum Stigma. Die Ansprüche an eine gute Haus-Frau, Gattin und Mutter waren nach wie vor hoch, aber Arbeit und Anstrengungen, die es kostete, diese zu erfüllen, erfuhren keine gesellschaftliche Anerkennung und Wertschätzung mehr, sondern wurden allgemein bemitleidet, belächelt oder gar verächtlich gemacht. Immer mehr Frauen empfanden das suburbane Dasein als eine Falle, aus der es kein Entrinnen gab (»suburban entrapment«). Mit dem Erscheinen von Betty Friedans bahnbrechender Sozialstudie »The Feminine Mystique« im Jahre 1963, in der sie Suburbia als Ort und Ursache eines pathologischen »Weiblichkeitswahns« analysierte: als Ort, dessen baulichräumliche und sozio-kulturelle Konstruktion Frauen in den »Käfig ihrer Rolle« sperrte, wurde die Kritik offen feministisch. Fortan wurde Sub-
70 Hierzu ausführlich S. Frank: Stadtplanung, S. 303ff. 71 Erich Fromm: Der moderne Mensch und seine Zukunft: eine sozialpsychologische Untersuchung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1960. 72 Sidonie M. Gruenberg: »Homogenized Children of New Suburbia«, in: The New York Times Magazine vom 19.9.1954, S. 14. 73 Vgl. hierzu ausführlich S. Frank: Stadtplanung, S. 310ff. 74 John Carey: The Intellectuals and the Masses. Pride and Prejudice Among the Literary Intelligentsia 1880-1939, London: Faber & Faber 1992, S. 52. 276
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urbia in den entstehenden urban gender studies als eine »antifeministische Umgebung« analysiert und verurteilt: »As mere geographical extension of our male-centered society, suburban environments offer a secondary place to women, a place inhibiting the full expression of the range of women’s roles, activities, and interests.«75 Dem dominanten städtebaulichen und architektonischen Gestaltungsprizip »A woman’s place is in the home«76 setzte die entstehende Frauenbewegung entschieden ein programmatisches »A Woman’s Place is in the City«77 entgegen.
Das postfordistische Suburbia: »The beautiful source of suburban womanhood!« Im Zuge des in den 1970er Jahren einsetzenden umfassenden Strukturwandels begann eine neue, die dritte Phase der Suburbanisierung, deren explosive Wachstumsdynamik ihren Zenit in den späten 1980er Jahren erreichte und die sich in abgeschwächter Form bis heute fortsetzt. Im Unterschied zu den vorherigen Phasen handelte es sich bei der »new suburbanization«78 nicht in erster Linie um Wohnsuburbanisierung, sondern vielmehr um die Ansiedlung vormals zentraler Handels-, Verwaltungs- und Dienstleistungsfunktionen in den Suburbs. Damit hat sich das Verhältnis von City und Suburb im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts grundlegend gewandelt. Suburbs sind nicht länger als von den Inner Cities abhängige, diesen unter- und nachgeordnete städtische Räume, also als Sub-Urbs zu betrachten. Vielmehr sind sie zu eigenständigen, dynamischen, mit den Städten auf komplexe Weise zugleich konkurrierenden und interagierenden Entwicklungspolen gereift. Der ökonomische Strukturwandel ließ auch die etablierten Geschlechterordnungen nicht unberührt. So waren es gerade die mit dem Suburbia der fordistischen Phase verknüpften Geschlechterbilder und 75 Sylvia F. Fava: »Women’s Place in the New Suburbia«, in: Gerda R. Wekerle/Rebecca Peterson/David Morley (Hg.), New Space for Women, Boulder Co.: Westview Press 1980, S. 129. 76 Dolores Hayden: »What Would a Non-Sexist City Be Like? In: Catherine Stimpson et al. (Hg.), Women and the American City, Chicago: UCP 1980, S. 167-184, 179; Suzanne Mackenzie/Damaris Rose: »Industrial Change, the Domestic Economy and Home Life«, in: James Anderson/Simon Duncan (Hg.), Redundant Spaces in Cities and Regions? London: Academic Press 1982, S. 155-200, 170. 77 Gerda R. Wekerle: »A Woman’s Place is in the City«, in: Antipode. A Journal of Radical Geography. Special Issue on ›Women and the Built Environment‹ 16 (1984), Nr. 3, S. 11. 78 Thomas Stanback: The New Suburbanizaton. Challenge to the Central City, Boulder et al.: Westview 1991. 277
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die Lebenssituation der suburbanen Haus-Frauen, die in den umfassenden Restrukturierungsprozessen der 1970er und 80er Jahre von Unternehmern als Standortfaktoren entdeckt, genutzt und dadurch zugleich aber auch dynamisiert und verändert worden sind. Mehrere Untersuchungen79 belegen, dass es nicht allein die altbekannten Gründe wie bessere Verkehrsanbindung, günstigere Bodenpreise oder niedrigere Mietkosten waren, die viele Manager veranlassten, ihre Unternehmen ganz oder teilweise nach Suburbia zu verlagern: Diese Maßnahme zielte maßgeblich auch auf die Erschließung eines begehrten Reservoirs an weiblichen Arbeitskräften, das bisher aufgrund seiner sozialräumlichen Isolation nicht verfügbar war. »Developers viewed it as a truism that office buildings had an indisputable advantage if they were located near besteducated, most conscientious, most stable workers – underemployed females living in middle-class communities on the fringes of the old urban areas.«80 Von den Unternehmern wurden der mit Suburbia verbundene ›Geschlechtscharakter‹ der fordistischen Periode, das heißt das mit den Suburbs verbundene Bild von eher konservativ-traditionell und familiär orientierten Frauen mit geringen Karriereambitionen, gezielt in Wert gesetzt. Die Suburbias Frauen zugeschriebenen, von Kulturkritikern und Sozialwissenschaftlern eben noch verteufelten Eigenschaften und Werthaltungen wurden von Unternehmern nun als besonders attraktiv entdeckt: »We get a lot of women who get married, and then work here because of the opportunity to work close to home. Most of them have worked before, and most have some college experience. They have families and own homes, so they tend to be more stable workers, with a stronger work ethic [...] When we moved out here, we tapped the beautiful source of suburban womanhood!«81 Es war ein Geschäft zum beiderseitigen Nutzen: Die Arbeitgeber fanden die geeigneten, flexiblen, an-
79 Barbara Baran: »Office Automation and Women’s Work. The Technical Transformation of the Insurance Industry«, in: Manuel Castells (Hg.), High Technology, Space and Society, Beverly Hills, Ca.: Sage 1985, S. 143-171; Kristin Nelson: »Labor Demand, Labor Supply and the Suburbanization of Low-Wage Office Work«, in: Allen J. Scott/Michael Storper (Hg.), Production, Work, Territory. The Geographical Anatomy of Industrial Capitalism, Winchester, Ma.: Allen & Unwin 1986, S. 149-171; Paul Lewis: Shaping Suburbia. How Political Institutions Organize Urban Development, Pittsburgh: UP 1996; Virginia Carlson/Joseph Persky: »Gender and Suburban Wages«, in: Economic Geography 75 (1999) 3, S. 237253; Joel Garreau: Edge City. Life on the New Frontier, New York: Doubleday 1991. 80 J. Garreau: Edge City, S. 112. 81 Zit. in: ebd., S. 154. 278
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passungsbereiten und kostengünstigen Arbeitskräfte, die Frauen die gesuchte ›zusätzliche‹ Beschäftigung, die sich mit ihren häuslichen und familiären Pflichten verbinden ließ. Heute ist eine im Suburb lebende Frau mit höherer Wahrscheinlichkeit erwerbstätig als eine Innenstadtbewohnerin.82 Damit zeichnet sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts eine grundlegende Umkehrung der Bedeutungen von City und Suburb für die Lebenslagen ihrer Bewohnerinnen ab. Weit von ihrer vormaligen Bedeutung entfernt, middle-classFrauen vom städtischen Erwerbsleben zu isolieren und auf eine »neighborhood«-orientierte Häuslichkeit festzulegen, wurden nun ausgerechnet die Suburbs zum Setting der Reintegration von Suburbias Frauen in die Erwerbsbevölkerung der Dienstleistungsgesellschaft.83
Abb. 5: Housewife leaving for work.
Die »Falle« wurde zum »Sprungbrett«. Die beschriebenen Veränderungen der funktionalen und sozialräumlichen Strukturen der Suburbs drücken sich auch in der Heterogenisierung der demographischen Zusam-
82 Susan Hanson/Geraldine Pratt: Gender, Work and Space, London/New York: Routledge 1995, S. 40f. 83 R. Fishman: Bourgeois Utopias, S. 195. 279
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mensetzung und der Pluralisierung der Lebensstile aus. Verschiedene Studien haben gezeigt, wie die vormaligen charakteristischen Merkmale des suburbanen Familiarismus der klassischen Phase – wie Verheiratetenstatus, Kinderbezogenheit und geschlechtsspezifische Arbeitsteilung – ihre Dominanz in der nachindustriellen Phase zugunsten von anderen Lebens- und Haushaltsformen einbüßen.84 Für die abtretende erste Generation rücken Angehörige ethnischer Minderheiten nach. »Suburbs are now becoming – albeit not always willingly – multiclass, multiethnic, and multiracial«.85 Auch Homosexuelle haben die Suburbs erobert. Zum einen leben Schwule und Lesben offen in Suburbia86, zum anderen gibt es viele Suburbs, die als »gay« markiert und auch beworben werden. Es ist heute empirisch also kaum noch möglich, Suburbia mit dem traditionellen Familien- und Lebensmodell mit entsprechender Geschlechterrollenverteilung zu identifizieren; die hegemonialen Männlichkeits- und Weiblichkeitsmuster erodieren. Suburbia verliert seinen Ausnahmestatus als herausragender Ort hetero- und androzentrischer Normalisierung. In einer Reihe neuerer literarischer und filmischer Werke wie T. C. Boyles Roman América oder Sam Mendes’ Kinofilm American Beauty wird Suburbia denn auch als Setting einer Krise traditioneller Männlichkeit inszeniert: als der Ort, an dem nicht nur Frauen, sondern vor allem auch Männer an den zugeschriebenen Rollenmustern und Verhaltenserwartungen verzweifeln.
4 Diskussion Am Beginn des 21. Jahrhunderts ist also von den materiellen und symbolischen Grundlagen, Überzeugungen und Bewertungen, auf denen Suburbia als bürgerliche Geschlechterarchitektur einst gründete, empirisch kaum etwas übrig geblieben – und diese Wandlungsprozesse hebe ich vor allem deshalb hervor, weil sich das Erscheinungsbild der sub84 Vgl. z.B. Hugh A. Wilson: »The Family in Suburbia: From Tradition to Pluralism«, in: Barbara M. Kelly (Hg.), Suburbia Re-Examined, New York: Greenwood Press 1989, S. 85-93; Len J. Evenden/Gerald E. Walker: »From Periphery to Centre. The Changing Geography of the Suburbs«, in: Larry S. Bourne/David F. Ley (Hg.), The Changing Social Geography of Canadian Cities, Montreal et al.: McGill-Queen’s UP 1993, S. 234-251, 246. 85 Rosalyn Baxandall/Elisabeth Ewen: Picture Windows. How the Suburbs Happened, New York: Basic 2000, S. 250. 86 Wayne Brekhus: Peacocks, Chameleons, Centaurs. Gay Suburbia and the Grammar of Social Identity, Chicago: UCP 2003. 280
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urbanen Wohnsiedlungen selber in dieser Zeit kaum verändert hat. Suburbia zeigt, dass sich die Bedeutung der gebauten Umwelt ebenso wie die für sie charakteristische Beziehung von sozialräumlichen Strukturen und Geschlechterarrangements sich mit veränderten gesellschaftlichen Bedingungen ebenfalls grundlegend wandeln kann, ohne dass das äußere Erscheinungsbild diesen Prozess widerspiegeln muss. Insofern ist es nicht immer ungefährlich, die Architektur der Gesellschaft vor allem am »Gesicht« ihrer Städte oder Bauwerke ablesen zu wollen. Die geschlechterbezogene Beschäftigung mit Suburbia im historischen Wandel belegt meines Erachtens auch, dass es aus architektursoziologischer Sicht äußerst lohnenswert ist, sich mit Gebäuden und baulichen Ensembles im Bestand zu befassen. Während neue, herausgehobene Bauwerke geeignet sind, die aktuelle Verfasstheit und das Selbstverständnis einer Gesellschaft zu reflektieren, kann die Beschäftigung mit der Entwicklung älterer, alltagsbezogener Umwelten gerade für die Beschreibung und Deutung des Wandels der Gesellschaft (und ihrer Geschlechterordnung) aufschlussreich sein. Und schließlich macht das Beispiel Suburbia deutlich, dass Architektur kein zuverlässiger »Spiegel« der Gesellschaft ist. Was man in den jeweiligen Objekten erkennt, liegt zum einen sehr stark in den Augen der Betrachtenden, das heißt also maßgeblich auch in der jeweiligen theoretischen Perspektive. Zum anderen sind Architekturen Gegenstand vielfältiger Deutungskämpfe sowie Aushandlungs- und Veränderungsprozesse. Diese letzteren Aspekte möchte ich in Anbetracht des sozialräumlichen Determinismus, den viele ArchitektursoziologInnen ebenso wie größere Teile der feministischen Stadtkritik explizit oder implizit an den Tag legen, ausdrücklich hervorheben: Baulich-räumliche, physischmaterielle Strukturen beeinflussen und prägen, ermöglichen oder behindern soziales Handeln (von Männern und Frauen) ebenso wie soziale (Geschlechter-)Beziehungen, aber sie determinieren weder das eine noch die anderen.
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» Home Te rritories« im Alltag. Die › Architektur der Gesellschaft‹ aus Sicht der Cultural Studies UDO GÖTTLICH
1 Einleitung Architektur stellt ein unhintergehbares Moment unseres Alltags dar, das in den Cultural Studies bislang nicht als eigenständiger Forschungsgegenstand hervorgetreten ist. Das bedeutet aber nicht, dass Architektur nicht doch einen Bezugspunkt der kultur- und medienwissenschaftlichen Überlegungen in den Cultural Studies bildet. So lassen sich eine Reihe unterschiedlicher Arbeiten finden, die sich Fragen zur Verbindung von spezifischen Orten über Zeit und Raum hinweg gewidmet haben, die sich mit der Verbreitung und Nutzung transnationaler Medienangebote seit den 1990er Jahren als kultur- und gesellschaftstheoretische Herausforderung ergaben.1 Eine an den Massenmedien und der Entwicklung transnationaler Kommunikation orientierte Perspektive verfolgt vor allem David Morley, wobei sich sein Interesse an Architektur unter anderem auf die durch Medien geschaffenen »Innenräume« mit deren alltagskulturellen Qualitäten erstreckt, die eng mit medientechnischer Mobilität in der Gegenwartsgesellschaft verbunden sind. Morley hat vor allem das Wohnzimmer als den Ort diskutiert, in dem sich die vielfältigen Prozesse berühren und durchdringen und zu einer eigenen Topologie des Alltags beitragen, aus der kulturelle Ordnungen und Identitäten hervor-
1
Vgl. allgemein Stuart Hall: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften Bd. 2, Hamburg: Argument 1994. 289
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gehen.2 Seine gemeinsam mit Kevin Robins verfolgte Analyse zur Entstehung von transnationalen Identitätsräumen3, hat Morley in seinem Buch »Home Territories: Media, Mobility und Identity«4 mit Blick auf die alltagskulturellen Folgen von Globalisierungs- und Migrationsprozessen ausgeweitet und anhand einer Fülle von, auf die »virtuelle Architektur« des Heimes respektive von Heimat (im Verständnis von »home territories«) bezogenen Beispielen vertieft.5 Auf eigenständige Weise schließt Morley in seinen Arbeiten an die Überlegungen von Raymond Williams zur »mobilen Privatisierung« an6, die im Umfeld des »kulturellen Materialismus« die gesellschaftstheoretische Auseinandersetzung mit Prozessen der ›Privatisierung‹, ›Intimisierung‹ sowie ›Mobilisierung‹ und dem Einfluß von Medientechnologien auf den Alltag und alltägliche Räume vorgezeichnet haben. Es sind diese, mit den Begriffen beschriebenen Prozesse, die für die Behandlung architektursoziologischer Fragen aus Sicht der Cultural Studies vielversprechend erscheinen, da sie Massenmedien wie zum Beispiel das Fernsehen als Teile jener Technologien auffassen, die vergleichbar mit den modernen Verkehrstechniken Menschen nicht nur Einblicke in andere bzw. fremde Räume vermitteln, sondern gerade durch ihre symbolische und imaginative Bedeutung an einer »virtuellen Architektur« des Alltags mitarbeiten, die in privaten Räumen – wie zum Beispiel dem Wohnzimmer –, aber auch öffentlichen Räumen – wie zum Beispiel beim Public Viewing – greifbar wird, das heißt zu einer spezifischen Ordnung des Alltags sowie von alltagskulturellen Bedeutungen und Praktiken beiträgt.7 2 3 4 5
6 7
David Morley: »Where the Global Meets the Local: Aufzeichnungen aus dem Wohnzimmer«, in: Montage/AV 6 (1997), H. 1, S. 5-35. David Morley/Kevin Robins: Spaces of Identity. Global Media, Electronic Landscapes and Cultural Boundaries, London: Routledge 1995. David Morley: Home Territories. Media, Mobility and Identity, London: Routledge 2000. Architektur spielt aber auch in jenen Cultural Studies-Arbeiten eine Rolle, in denen etwa am Beispiel von Flughäfen analysiert wurde, wie diese als »suburbs of an invisible world« (D. Morley: Home Territories, S. 173) funktionieren. Ferner wurde am Beispiel des städtischen Raumes die Rolle von Orten des Konsums thematisiert, wie Shopping-Malls sie darstellen. Vgl. Udo Göttlich/Rainer Winter: »Postfordistische Artikulationen von Stadtarchitektur, Konsum und Medien. Der Potsdamer Platz aus der Perspektive der Cultural Studies«, in: Joachim Fischer/Michael Makropoulos (Hg.), Potsdamer Platz. Soziologische Theorien zu einem Ort der Moderne, München: Fink 2004, S. 81-105. Raymond Williams: »Problems of the Coming Period«, in: New Left Review 140 (1983), S. 7-18. Die folgenden Ausführungen gehören in den Kreis von Überlegungen, die sich im Zusammenhang mit der Anwendung und Fortführung des Kon-
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David Morley zeigt in diesem Zusammenhang wie Raymond Williams, dass die kulturelle Form eines Verbreitungsmediums auch eine materialistische, die Lebensweisen formierende Bedeutung hat, indem sie sowohl die materiellen Bedingungen oder Strukturen als auch die symbolischen Vorstellungen und Repräsentationen privater und öffentlicher Räume – und die mit diesen Räumen verbundenen Identitäten – berührt. In diesem Sinne wurde Architektur bislang nur selten als Aspekt des Sozialen behandelt. Zur Veranschaulichung der analytischen Rolle des Konzeptes der »mobilen Privatisierung«, das sich begrifflich beim ersten Zuhören durchaus nicht nur als widersprüchliche Vereinheitlichung, sondern auch als unschön klingende Wendung darstellt, möchte ich im Anschluß an die zwei folgenden Kapitel – in denen ich eine kurze theoretische Einordnung der Cultural Studies sowie eine darauf aufbauende Diskussion zur Genese und Reichweite des Konzepts der mobilen Privatisierung verfolge – anhand von zwei Beispielen den Fokus dieses Konzepts diskutieren. Die Perspektive der Cultural Studies erstreckt sich an dieser Stelle auf die Deutung und Behandlung von künstlerischen Ausdrucksformen bzw. Artefakten, in denen die Erfahrung der mobilen Privatisierung im Alltag selbst zum Gegenstand geworden ist. Für die beispielhafte Diskussion der auch für die Architektursoziologie relevanten Frage der ›Mobilität‹ beziehe ich mich auf Jacques Tatis Auseinandersetzung mit der Architektur der Moderne in seinem Film »Playtime« aus dem Jahr 1967. In der Rezeption wurde der Film u.a. als eine avantgardistische Science Fiction über die Architekturkultur der Zukunft aufgefasst. Als weiteres Beispiel beziehe ich mich auf Arbeiten der britischen Künstlerin Rachel Whiteread, die sich in ihren Skulpturen »Ghost« und »House« mit der Frage des architektonischen Wandels von Privatheit zu Beginn der 1990er Jahre auseinandergesetzt hat. Während Tati anhand von typischen Szenen dem Zusammenhang von Alltag und Architektur in der Moderne nachgegangen ist, spürt Whiteread mit den Mitteln der Plastik dem nach, was von diesem Alltag bestehen bleibt. Verlassene zepts der »mobilen Privatisierung« von Raymond Williams in den Cultural Studies ergeben, denen ich an unterschiedlicher Stelle in medientheoretischer Hinsicht nachgegangen bin: Vgl. Udo Göttlich: »Cultural Studies und das Konzept der ›mobilen Privatisierung‹ im Spiegel der Medien- und Öffentlichkeitskritik«, in: Barbara Becker/Josef Wehner (Hg.), Kulturindustrie Reviewed. Ansätze zur kritischen Reflexion der Mediengesellschaft, Bielefeld: transcript 2006, S. 251-266; ders.: »Von der Fernseh- zur Netzwerkgesellschaft: Mobile Privatisierung als kulturelle Kontinuität in der Mediengesellschaft«, in: Lutz Hieber/Dominik Schrage (Hg.), Technologieentwicklung und Massenmedien, Bielefeld: transcript 2007, S. 181195. 291
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private Innenräume werden von ihr mit dem technischen Verfahren des Abgusses nach außen gekehrt und auf diese Art als massive Plastik architektonisch materialisiert. In ihren Skulpturen erscheint das üblicherweise den Blicken verborgene Private dadurch als öffentliche Plastik.
2 Die soziologische Theorie der Cultural Studies Zu den Cultural Studies und ihrer besonderen kulturwissenschaftlichen Perspektive und Position sind im letzten Jahrzehnt auch im deutschsprachigen Raum grundlegende Arbeiten publiziert worden, die die Reichweite und Besonderheit des Projekts vorstellen und diskutieren.8 Die Beziehung von Soziologie und Cultural Studies ist für die entscheidenden theoretischen Fragen jedoch noch nicht weiter aufgearbeitet.9 Für eine erste Rahmung lässt sich feststellen, dass zu dem Zeitpunkt, an dem sich die deutsche Soziologie der Nachkriegszeit auf dem Weg ihrer internationalen Orientierung und Schulenbildung befand, sich in England das scheinbar von der Soziologie entfernt stehende, heute überwiegend als kulturwissenschaftlich ausgerichtet verstandene Projekt der Cultural Studies, seit den frühen 1960er Jahren entwickelte. Der von den Cultural Studies vertretene kulturtheoretische Ansatz sollte sich nicht nur als eine Herausforderung für die Soziologie – und hier besonders für die Bestrebungen zu einer Kultursoziologie, die mehr als eine Bindestrichsoziologie sein sollte erweisen, sondern auch für die Entwicklung der Kulturwissenschaft richtungsweisend sein. Auch wenn sich die Cultural Studies in ihren Anfängen wenig für die Probleme der traditionellen Soziologie zu interessieren schienen, machte man im Selbstverständnis Stuart Halls am Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) in Birmingham gerade das, was von der britischen Soziologie
8
9
Vgl. Rainer Winter: Die Kunst des Eigensinns. Cultural Studies als Kritik der Macht, Weilerswist: Velbrück 2001. Vgl. ferner Udo Göttlich: »Die Wahrnehmung der Cultural Studies. Cultural Studies zwischen hilfswissenschaftlicher Vereinnahmung und radikaler Kontextualität«, in: Sociologia Internationalis 39, H. 2 (1999), S. 189-220, 202, und Oliver Marchart: Cultural Studies, Konstanz: UTB 2008. Vgl. zum folgenden Udo Göttlich: »Die Soziologie der Cultural Studies. Cultural Studies als Programm einer kultursoziologischen Forschung«. Editorial zum Themenheft Cultural Studies, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 32 (2007), H. 4, S. 3-13; ders./R. Winter: Postfordistische Artikulationen.
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zu erwarten gewesen wäre10: Eine kritische Analyse der klassengesellschaftlichen Reproduktionsformen unter dem Einfluß massenkulturellen Entwicklungen, die zu alltagskulturellen Veränderungen beitrugen, die im wesentlichen ideologiekritisch analysiert wurden, jedoch zugleich auch Fragen nach Widerstand und Opposition aufwarfen. In einem allgemeinen Sinne umfassen Cultural Studies ein breites Spektrum an Formen der Kulturanalyse und -forschung, das vor dem Hintergrund eines anthropologischen Kulturverständnisses, in dem Kultur als gesamte Lebensweise aufgefaßt wird, verschiedene Berührungspunkte mit der Soziologie aufweist. In einem engeren Verständnis stellen die Cultural Studies jedoch ein spezifisches sozial- und kulturwissenschaftliches Projekt dar, das sich der Analyse und Kritik des gesellschaftlichen Lebens subjektiver Formen widmet, in deren Erforschung es um das Problem der Einbettung kultureller Formen und kulturellen Handelns in die Textur der Alltagskultur und des alltäglichen Handelns geht.11 Als eine in diesem Sinne zu verstehende Kultursoziologie und -theorie, d.h. als theoretische Formation, die mit Grundfragen kultureller und sozialer Produktion, Reproduktion sowie Repräsentation und Identitätsbildung befasst ist, beschäftigen sich die Cultural Studies überwiegend mit Fragen, wie Individuen in verschiedenen sozio-kulturellen Zusammenhängen ihre (Alltags-)Kultur schaffen, erfahren und kommunizieren und welchen Einflüssen sie von Seiten institutioneller und symbolischer Ordnungen unterliegen. Diese Reflexionen zielen nicht von ungefähr auf die Analyse der Medienkultur und Mediengesellschaft. Das Interesse gilt aktuell vor allem jenen Praktiken, in denen die ›global‹ erzeugten und transnational verbreiteten Produkte der Massenkommunikation in lokalen Kontexten angeeignet und verarbeitet werden. In diesem Zusammenhang zielen sie auf die Interpretationen, Bedeutungsverschiebungen und Aktivitäten, die sich auf Seiten der ›Rezipienten‹ in deren Alltag abzeichnen. Diese Perspektive stützt sich auf Praktiken und Erfahrungen im Umgang mit symbolischen Formen, die nicht nur historisch oder sozial, sondern auch unmittelbar praxisbezogen kontextualisiert werden. Das Konzept der »mobilen Privatisierung« erlaubt vor diesem praxistheoretischen Problemhintergrund eine spezifische theoretische Perspektivierung der sozialen und kulturellen Entwicklung, deren architektursoziologische Ein10 Vgl. David Inglis: »The Warring Twins: Sociology, Cultural Studies, Alterity and Sameness«, in: History of Human Sciences 20 (2007), H. 2, S. 99-122. 11 Vgl. Richard Johnson: »Was sind eigentlich Cultural Studies?«, in: Roger Bromley/Udo Göttlich/Carsten Winter (Hg.), Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung, Lüneburg: zu Klampen 1999, S. 139-188. 293
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dringtiefe im folgenden aufgezeigt und diskutiert werden soll. Für David Morley stellt sich diese Relevanz bereits im Zusammenhang mit der Deutung der spezifischen Erfahrung des häuslichen Fernsehkonsums her, zu deren Voraussetzung die simultane Erfahrung des »[...] staying home and imaginatively, at least, going places«12 gehört, aus der die virtuelle Architektur des Alltags überhaupt erst hervorgeht. Dieses Beziehungsverhältnis bildet somit die Folie für die spezifische Thematisierung der alltagskulturellen Rolle von Architektur in der Mediengesellschaft aus Sicht der Cultural Studies, in welcher ›Privatheit‹ und ›Mobilität‹ sowohl ein von Architektur mitgestiftetes, als auch ein darauf ausstrahlendes Spannungsfeld darstellen; respektive eine ›mobile‹ und ›imaginäre‹ Architektur ausbilden, über deren gesellschaftliche und soziale Bedeutung es weiteren Aufschluß zu erlangen gilt. Die in diesem Verhältnis zum Ausdruck kommende ›virtuelle‹ Seite von Architektur ist untrennbar mit den Verbreitungsmedien und ihrer Rolle bei der Strukturierung und Schaffung privater und öffentlicher Räume verbunden. Sie dürfte neben der prägenden Kraft für das alltägliche Bewusstsein von Architektur auch mit der Schaffung neuer medienvermittelter Formen von Gemeinschaft weiteren Einfluß auf die ›Architektur der Gesellschaft‹ haben. Diese Verbindung wird uns abschließend noch einmal in der Diskussion der Beispiele zu Jacques Tati und Rachel Whiteread begegnen und interessieren, die ihrerseits eine Analyse dieses Problems mit den Mitteln des Films und der Skulptur verfolgen.
3 M o b i l e P r i va t i s i e r u n g u n d Ar c h i t e k t u r : d i e i m p l i z i t e › Ar c h i t e k t u r s o z i o l o g i e ‹ d e r Cultural Studies Raymond Williams hat sich in seinen zahlreichen kulturwissenschaftlichen Arbeiten – die ihn in den späten siebziger Jahren im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit der Kultursoziologie zur Formulierung einer Eigenen, unter dem Begriff des »kulturellen Materialismus« bekannt gewordene Kulturtheorie geführt haben –, mit Fragen der an der kulturellen Produktion und Reproduktion beteiligten Elementen und Aspekten des Alltags auseinandergesetzt und die Ausbildung kultureller Formen in der Moderne verfolgt.13 Mit Blick auf die medientechnische Entwicklung, die zu diesem Zeitpunkt vom Fernsehen und der vom Fernsehen ausgehenden Verän12 Vgl. D. Morley: Home Territories, S. 149. 13 Raymond Williams: Marxism and Literature, Oxford: Oxford University Press 1977; ders.: Culture, London: Fontana Press 1981. 294
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derung des privaten Raumes geprägt war, ging es ihm um die Erklärung des Zusammenhangs der Trias von Technik, sozialen Institutionen und Kommunikation. Beispielgebend für diese Auseinandersetzung ist bis heute sein Buch »Television, Technology and Cultural Form« aus dem Jahr 1974, in dem er erstmals darlegte, dass Medien mehr sind als bloße Technologien, in dem er sie als besondere Produktionsmittel titulierte: »They are means of production, developed in direct if complex relations with profoundly changing and extending social and cultural relationships: changes elsewhere recognizable as deep political and economic transformations.«14 Zusammenfassend gesprochen geht diese Annahme auf die Idee zurück, dass sich eine kulturelle Form (hier die des Fernsehens) keineswegs unabhängig von ihren materiellen Voraussetzungen (darin eingeschlossen die technischen) begreifen lässt, selbst wenn diese sich in der Erscheinung selber nicht zeigen und sich auch in der Analyse nicht im kruden materialistischen Sinn als einfach darauf zurückführbar oder daraus ableitbar erweisen. Auf die theoretische Einkleidung des Vermittlungsproblems kommt es somit in einem ersten Schritt an, die noch dadurch erschwert wird, dass sich eine kulturelle Pluralisierung unter dem Einfluß medientechnischer Entwicklungen abzeichnet, die zu einem permanenten Wandel dieser kultureller Formen, zumindest aber zur laufenden Veränderung von Elementen derselben beiträgt. Gerade die bisherige Form des Fernsehens als kulturelle Tätigkeit ist in den letzten Jahrzehnten nicht unverändert geblieben, wovon auch die veränderte Form des architektonischen Bezugs in privaten und öffentlichen Räumen ein Zeugnis gibt, wenn der Fernsehempfang nun an Orten möglich und selbstverständlich wird, die private Räume längst verlassen haben, in der Rezeption jedoch wieder Situationen von Privatheit erzeugen. Das für die nachfolgenden Überlegungen maßgebliche Schlagwort der mobilen Privatisierung nutzt Williams für die Erklärung solcher kulturellen Veränderungen und Prozesse. Die widersprüchliche Vereinheitlichung, die der Begriff leistet, geschieht mit Blick auf das Auseinanderstreben der für die Konstitution von »Home Territories« bis zu diesem Zeitpunkt entscheidenden Elementen, ohne dass die Idee oder das Konzept von »Home Territories« (das soviel heißt wie Heimat) aufgegeben werden müßte. Sein innerer, hier durch medientechnische Entwicklungen bewirkter, Wandel ist das Entscheidende, dessen Bedeutung wiederum auch architektursoziologisch aufschlussreich ist.
14 Raymond Williams: Television, Technology and Cultural Form, London: Fontana Press 1974, S. 54. 295
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Mit Williams vergleichbare Überlegungen zur Raumkomponente von Medien und deren Wandel hat auch James Carey angestellt15, wobei er als einer der Ersten herausgestrichen hat, dass die modernen Kommunikationstechniken zur Entstehung neuer Gemeinschaften beitragen, die nicht ortsgebunden, sondern mobil und räumlich zu verstehen sind und die allein symbolisch miteinander vermittelt sind. Gesellschaftstheoretisch steht dahinter der von Anthony Giddens16 betonte Aspekt, dass sich mit dem Anbruch der Moderne das Örtliche vom Räumlichen löse, was unter anderem auf die Rolle der Kommunikationstechniken zurückgeht, die wie im obigen Beispiel gezeigt, dennoch ihre »gemeinschaftsbildende Kraft« in dem Sinne behalten, dass sie die Herstellung von Privatheit als der Sphäre ermöglichen, aus der öffentliche Kontakte erst entwickelt werden. Nach Kevin Robins zeigt sich in dieser Entwicklung, dass »issues around the politics of communication converge with the politics of space. Questions of communication are also about the nature and scope of community«.17 Die Herleitung des Konzepts der mobilen Privatisierung steht an dieser Stelle im engen Zusammenhang mit der in mediensoziologischer Hinsicht keineswegs weltbewegenden, sondern eher trivialen Beobachtung, dass die Anfang des 20. Jahrhunderts noch neuen Medientechniken – vor allem die des Rundfunks – zum einen eine die Gesellschaft wie die Kultur auf spezifische Weise mobilisierende Bedeutung haben: sie erlauben und ermöglichen eine historisch erstmalig gegebene Verbindung entfernt liegender Orte; während der Ort, in dem sie wirken, funktionieren oder in dem sie genutzt werden, der private Raum ist. Dessen »Innenseite« im Sinne von Privatheit mit seiner spezifischen Form von Architektur des privaten Raumes, begann sich mit der Mobilität im Industriekapitalismus selbst erst herauszukristallisieren und ist seitdem in einem beständigen Wandlungsprozess begriffen. Spätestens seit den späten achtziger und frühen neunziger Jahren schließlich sind die Grenzen der »Home Territories« aufgrund der Entwicklung der Satellitentechnik nicht mehr länger mit den Grenzen des Nationalstaats deckungsgleich, was auch Konsequenzen für die individuelle und kollektive Identitätsbildung mit sich trägt. Entgegen heutigen, auf das Internet bezogenen Überlegungen kann hervorgehoben werden, dass eine solche Erfahrungsweise bereits seit den späten 1960er Jahren mit keinem Medium stärker verbunden war als mit dem Fernsehen, die sich erst in der Folge auf andere Verbreitungs15 James Carey: Culture als Communication, London: Unwin Hyman 1989. 16 Anthony Giddens: The Consequences of Modernity, Cambridge: Polity Press 1990, S. 18. 17 K. Robins, zit. nach D. Morley: Home Territories, S. 87. 296
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medien – zum Beispiel auf Multimedia – übertragen hat, wobei sich allerdings viele der Nutzungsweisen, die man noch vor zehn Jahren für möglich gehalten hatte, nicht in der entsprechenden Form auch realisiert haben. Das liegt nicht zuletzt daran, dass das Fernsehen in der Funktion als Leitmedium der Gesellschaft auch gegenwärtig nicht abgelöst wurde. Somit gilt für den kulturellen Erfahrungshorizont im Umgang mit dem Fernsehen eine relative Stabilität auch über Generationengrenzen hinweg. Dieser Entwicklungsrahmen ist gerade auch für die Betrachtung der ›Architektur der Gesellschaft‹ zentral, wenn es um die Analyse und Miteinbeziehung imaginärer Räume geht, die durch Medien geschaffen werden, und die – so die These – eine der Architektur vergleichbare Rolle in der Schaffung von privaten und öffentlichen Räumen haben. Auch an diesem Zusammenhang zeigt sich, dass es nicht allein um den materiellen Kern von Architektur mit seiner Wirkung geht. Die Architektur des »virtuellen Raumes« erlangt in diesem Prozess mehr als eine symbolische Bedeutung, wie sie sich vergleichbar mit den Mitteln der Lichtarchitektur gegenwärtig viel unmittelbarer im öffentlichen Raum für den Betrachter aufdrängt, als mit den längst habitualisierten Massenkommunikationsmedien. Im gewissen Sinne kann man sich diesen Zusammenhang auch aus der Perspektive Bourdieus verdeutlichen, wenn dieser die Ordnung des kabylischen Hauses betrachtet: bei der es sich von ihrem Anlaß her nicht um eine architektursoziologische Betrachtung handelt, die aber entscheidende Aussagen zur Häuslichkeit als Element respektive Produkt der Architektur enthält und in diesem Zusammenhang nicht nur das Innere des Hauses, sondern auch den Hof und das Geschehen jenseits seiner Mauern aus der Perspektive des Inneren mit im Blick haben muss. Sucht man hier nach Entsprechungen mit den im Konzept der ›mobilen Privatisierung‹ beschriebenen »medientechnischen Mobilisierung«, so lässt sich mit Blick auf die Arbeiten von Gillespie über die Folgen der Transnationalisierung herausstreichen, dass das Wohnzimmer einer indischen Familie in Southall – massenmedial – auch tagesaktuell mit Familienangehörigen in Delhi synchronisiert sein kann.18 Ein vergleichbares Beispiel liefern Touristenhochburgen auf Mallorca oder vergleichbaren Ferienzielen, in denen das deutsche Fernsehprogramm empfangen werden kann, obwohl sich die Individuen räumlich an einer vollkommen anderen Stelle Europas befinden.
18 Marie Gillespie: Television, Ethnicity and Cultural Change, London: Routledge 1995. 297
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Die Erfahrungsweise, die diese kulturelle Form erlaubt oder mit sich trägt, besteht auch auf dem zweiten Blick aus zwei gegensätzlichen Elementen, was die Alltagspraxis erstaunlicherweise aber keineswegs nachhaltig zu beeinträchtigen scheint. ›Mobilität‹ als Inbegriff des ständigen Ortswechsels wird mit ›Privatheit‹ und der mit Privatheit verbundenen Vorstellung eines fixen Ortes verbunden, wobei die Letztere längst nicht nur an einem Ort gegeben ist oder sein muß, sondern in dem von Radiowellen geschaffenen Raum entsteht, ja diesen virtuellen Raum überhaupt zur Voraussetzung von Privatheit hat, die überall hin mit transportierbar scheint. Um mit Morley zu sprechen, der sich für die Behandlung dieser Frage auf Morse stützt, besteht die Frage darin: »how the media connect the place of ›our idyll, our self-sufficient and bounded place [...] the space in front of the television set‹ to other, geographically distant but communicationally present places.«19 Wie an der Palette der behandelten Beispiele deutlich wird, lässt sich das Konzept der ›mobilen Privatisierung‹ zur Beschreibung einer grundlegenden gesellschaftlichen Tendenz der Moderne nutzen, die vor allem auch an der ›Auswirkung‹ der neuen Verbreitungsmedien weiter beobachtet werden kann, die als eine Voraussetzung der Medienkultur im zwanzigsten Jahrhundert gewertet werden muss. Die Grundannahme zu dieser Tendenz lautet: »In the very broadest perspective, there is an operative relationship between a new kind of expanded, mobile and complex society and the development of a modern communication technology«.20 Das, was auf den ersten Blick an dieser Formulierung wie eine deterministische Annahme zu den Ursachen der medientechnischen Entwicklung klingt, ist bereits auf das kulturelle Produkt gerichtet, das aus dem spezifischen gesellschaftlichen Zusammenhang von Medientechnik und Medienorganisationen hervorgeht. Und dieses Produkt ist offensichtlich nur in einer widersprüchlichen und eben auch merkwürdig klingenden Verbindung zu haben, die unzweifelhaft auch ihren Einfluß auf die Architektur der Moderne hat; respektive – hierauf kommt es mir an dieser Stelle an –, zur spezifischen Form einer ›virtuellen Architektur‹ des Alltags beiträgt. Die fortschreitende Mediatisierung aller Lebensbereiche gibt hier die weitere Entwicklungsrichtung vor, die mit der Entstehung virtueller oder imaginärer Orte bislang nur sehr allgemein beschrieben ist. Betrachtungen zur alltäglichen Situation des Fernsehens, wie sie zum Beispiel Jacques Tati bereits in den sechziger Jahren angestellt hat, 19 D. Morley: Home Territories, S. 87. 20 R. Williams: Television, S. 20. 298
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sind in diesem Zusammenhang als wichtige Auseinandersetzungen mit dieser Entwicklungstendenz zu sehen, insbesondere dann, wenn sie sich wie in den Filmen »Mon Oncle« und »Playtime« nicht nur als Interpretationen zur Architektur der Moderne äußern, sondern im Zuge der Realisierung des für diese Interpretation notwenigen Filmsets selbst sogar ein entscheidendes Kapitel jüngerer Architekturgeschichte geschrieben haben, worauf ich weiter unten nochmals eingehen werde.21 Die Analyse zur historischen Herausbildung dieser kulturellen Form hat Williams nicht allein auf die Suche nach Vorläufermedien, sondern auf die Suche nach jenen besonderen, in der industriellen Revolution selbst eingeschlossen liegenden kulturellen Tendenzen gestützt, die sich seiner Sichtweise nach bereits frühzeitig als Vorformen der ›mobilen Privatisierung‹ zu erkennen gaben; und die den Ausgangspunkt einer Entwicklung darstellen, deren Auswirkungen auf unterschiedlichen sozialen und kulturellen Feldern beobachtet und analysiert werden können: Das naturalistische Drama, die fortgenommene vierte Wand des Bühnenraumes mit der Öffnung zum Theaterpublikum, die den Blick auf private Interieurs in den Dramen Ibsens und Strindbergs freigibt, gilt ihm als »Urszene« dieser heute massenhaften Situation. Die elektronischen Medien leisten ihren Beitrag dazu, dass die Menschen – vergleichbar mit den Situationen im Bühnenraum – nun in ihren eigenen (ab-)geschlossenen Räumen sitzen und im Fernsehen auf Nachrichten von ›Draußen‹ warten, womit die ›Mobilität‹ in der Privatheit ihren Ausgangspunkt hat. Die in den Dramen prototypisch eingefangene Erfahrung des alltäglichen Lebens erstreckt sich auch für das 20. Jahrhundert nicht von ungefähr auf das familiäre Heim und seine medientechnische Ausstattung: »The new ›consumer‹ technology which reached its first decisive stage in 1920s served this complex of needs within just these limits and pressures. [...] Some people spoke of the new machines as gadgets, but they were always much more than this. They were the applied technology of a set of emphasis and responses within the determining limits and pressures of industrial capitalist society«.22 21 Bereits vor »Playtime« hatte Jacques Tati mit dem Film »Mon Oncle« (1958) ein erstes Beispiel für diese Art der Auseinandersetzung mit der Architektur der Moderne geliefert. Cinecittà und die Filme Federico Fellinis sind in dieser Richtung ebenfalls in architektursoziologischer Perspektive von vergleichbarer Relevanz. Vgl. zur Bedeutung von Tatis Filmen für die Architekturgeschichte Winfried Nerdinger (Hg.): Die Stadt des Monsieur Hulot. Jaques Tatis Blick auf die moderne Architektur, München: Architekturmuseum München 2004. 22 R. Williams: Television, S. 27. 299
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In der Anwendung des Begriffs ›mobile Privatisierung‹ geht es also um die kulturellen Folgen des Prozesses von »mobility and change, not just as abstractions but as lived experiences«23: der darin gelegenen Möglichkeiten und Einschränkungen also. Daher erstreckt sich das Interesse bis in die siebziger und achtziger Jahre vor allem an der Ausbildung der privaten Wohnung, während es in einer aktuellen Erweiterung auch um öffentliche Räume wie zum Beispiel das Zugabteil (mit seinen privaten Handygesprächen und Filmen auf dem Notebook sowie digitalem Fernsehempfang auf dem UMTS-Handy) gehen muss: hier erstreckt sich die Form privater Interieurs mit ihren typischen Handlungen weiter in die Öffentlichkeit hinein und verändert auch diese. Gerade vor diesem Hintergrund erbringt Williams mit dem Konzept der ›mobilen Privatisierung‹ nicht nur einen Ertrag für die Kultursoziologie, wenn er auf den für die Herausbildung der Privatsphäre maßgeblichen Umstand verweist, dass diese als Ausdruck einer auf Individualisierung und Kommerzialisierung angelegten Kultur zu verstehen ist, die auf der einen Seite die Mobilität der Individuen fordert und befördert, diese auf der anderen Seite scheinbar in Widerspruch dazu in ihren abgeschlossenen Wohneinheiten privatisiert (wenn nicht sogar isoliert), was auf die besagte widersprüchliche Vereinheitlichung deutet. Dieser Prozess hat aber auch zu architektonischen Lösungen beigetragen, die unter der Auspiz ihrer medientechnischen Voraussetzung – wenn man will, als weitere verkehrstechnische Voraussetzung – bislang nicht weiter reflektiert scheinen und auch nicht bis zu den Konsequenzen virtueller Architektur durchdacht erscheinen, die in der als »Mediatisierung« beschriebenen Entwicklung ihren Ausgangspunkt hat.24 Vor allem die Vorstellung einer ›operativen‹ (d. h. nicht deterministischen) Beziehung zwischen kultureller Form und medientechnischer Entwicklung berührt zwangsläufig auch den Wandel von Privatheit und ihrer ›virtuellen‹ Architektur, wenn diese nun nicht mehr an einen fixen Ort gebunden ist, sondern zusammen mit den Medien als transportierbare private Hülle mobilisiert scheint. Der Logik des Begriffs der ›mobilen Privatisierung‹ folgend, entspräche diese Form nach Siegfried Zielinski einer »privaten Mobilisierung«. Eingedenk dieser Doppelung des Konzepts als ›mobile Privatisierung‹ und ›private Mobilisierung‹ hat Zielinski in seinen historischen Betrachtungen zur Medienentwicklung folgendes zur theoretischen Reichweite herausgestrichen:
23 Ebd., S. 22. 24 Vgl. zum Konzept der Mediatisierung Friedrich Krotz: Die Mediatisierung kommunikativen Handelns, Wiesbaden: VS 2001. 300
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»Im re-konstruierenden Gang durch die Geschichte der Empfängerentwicklung sind die Spuren des Weges deutlich, die auf diesen Fluchtpunkt der mobilen Privatisierung/privaten Mobilisierung hinweisen. Und zwar von Anfang an [...] In der Nachkriegsentwicklung dominierte deutlich zunächst die Privatisierung, in der differenzierten Ausformung des Fernsehers als Möbelstück mit virtueller Bildbesetzung, als repräsentativem länger lebendem Gebrauchsgut mit hohem Status-quo-Wert, als ›Negativem Wohnzimmertisch‹ (Günther Anders). Die Familie und ihre architektonische Einkapselung war vorübergehend der zentrale Bezugsgesichtspunkt kultureller Identität außerhalb des Arbeitsprozesses. [Schließlich] drangen schon im letzten Drittel der fünfziger Jahre auch mobile Apparate auf dem Markt vor. [...] Der transistorbetriebene transportable Fernseher mit eingebauter Antenne diente zunächst vor allem, zur Ausdehnung der privat-zentrierten Medienaktivität in halb-öffentliche Lebenszusammenhänge wie den Campingplatz, war aber in dieser Funktionsbestimmung bereits Signifikant für die Tendenz zur privaten Mobilisierung.«25
In den angesprochenen Entwicklungsdimensionen finden sich jeweils auch Aspekte des sozio-technischen und sozio-kulturellen Wandels. Denn die Mobilität fordert und bedingt Kontakte, die allein aus der Sphäre der Privatheit heraus entwickelt werden müssen oder aufrecht erhalten werden können, wobei bis heute vor allem die Medienöffentlichkeit als ein Erfahrungsraum erscheint (und je nach Perspektive sogar den einzig gültigen Erfahrungsraum bildet), in dem sich die gesellschaftlichen Interessen ausdrücken. Wie aber ist es mit der »virtuellen Architektur« der (vor allem neuen) Medien bestellt und welche Konsequenzen haben diese für die Architektur des privaten Heims? Kurz: Was geschieht mit der Privatsphäre selber und zu welcher kulturellen Form trägt ihr aktueller Wandel unter dem weiteren Einfluß medientechnischer Veränderungen bei? Über die konkreten kulturellen Formen und Erfahrungen ist wegen der Neuheit so mancher Entwicklung in alltagskultureller Perspektive bislang wenig genaues bekannt und damit auch über die veränderten Beziehungen zur Architektur respektive zu den möglichen Auswirkungen auf die Architektur öffentlicher Räume oder Plätze in der Zukunft. Die Analyse und Betrachtung der bislang dem Fernsehen zugehörenden Räume führt immer noch in private Räume, auch wenn diese mittlerweile eine andere Beziehung zur Öffentlichkeit aufweisen, etwa wenn die Öffentlichkeit durch die Ausbreitung von Medien selber privatisiert wird oder als privatisiert erscheint.26
25 Siegfried Zielinski: Audiovisionen, Reinbek: Rowohlt 1989, S. 164ff. 26 Sowohl durch die verbreitete Nutzung multimedialer Reklametafeln und Großbildschirme durch private Unternehmen nicht nur im Stadtraum son301
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Das hinter dieser Entwicklung stehende Problem hat Zielinski in seinem Buch »Audiovisionen« im Anschluß an Williams’ Konzept der ›mobilen Privatisierung‹ als Frage nach dem »Bedingungszusammenhang« bei der »allmählichen Herausbildung einer neuen Identität für die Subjekte« im Rahmen medientechnischer Dispositive verstanden und mit einem Seitenblick auf die sozialen Folgen herausgearbeitet, dass diese Individualität in »lediglich affirmativer Entfaltung« zu jener Singularisierung führt, »wie wir sie als Einfallstore für das kulturindustrielle Dispositiv beschrieben haben. Aber die ›mobile Privatisierung‹ ist ambivalent. Sie ist auch verbindbar mit alternativen Lebensentwürfen und im Gruppenzusammenhang verallgemeinerbar«.27 Aus dieser Perspektive betrachtet stellt das Konzept der mobilen Privatisierung/der privaten Mobilisierung (in seiner widersprüchlichen Vereinheitlichung) den Prozess der Ausbildung einer spezifischen, für den aktuellen »Öffentlichkeitszusammenhang« prägenden kulturellen Form in den Mittelpunkt und nutzt diese für die Deutung und Beurteilung der kulturellen Form des Mediums und der der modernen Medienkultur. So macht das Konzept und die mit ihm eingenommene Perspektive unter anderem darauf aufmerksam, dass diese Organisationsform des Sozialen, die für die im Privaten isolierten Individuen vor allem eine Verbindungsmöglichkeit qua Medientechniken erkennt, nicht nur zu einer spezifischen Organisationsweise von Kommunikationsmedien, sondern eben auch zu einer ganz bestimmten institutionellen Ausbildung des Privaten selber führt, was vor allem auf aktuelle Herausforderungen der Öffentlichkeitstheorie verweist. Ein aktuelles Thema stellen in diesem Fall »Medien-Cities« dar, die Krätke aus raum- und zeitbezogener, stadtplanerischer und nicht zuletzt medienökonomischer Perspektive analysiert hat.28 Für das vorliegende Beispiel verweisen solche Überlegungen darauf, nicht nur von ›virtuellen‹ Architekturen zu sprechen, sondern auch die durch Medientechniken unterstützten oder bewirkten neuen Formen der Gemeinschaftsbildung als architektursoziologische Herausforderung zu nehmen.
dern auch an Flughäfen und Bahnhöfen usw. als auch durch die immer stärkere Nutzung mobiler privater Medien in öffentlichen Räumen durch Einzelne, durch die im öffentlichen Raum laufend private Situationen entstehen und vergehen. 27 S. Zielinski: Audiovisionen, S. 279. 28 Vgl. Stefan Krätke: Medienstadt. Urbane Cluster und globale Zentren der Kulturproduktion, Opladen: Leske + Budrich 2002. 302
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4 M o b i l e P r i va t i s i e r u n g / P r i va t e M o b i l i s i e r u n g u n d Ar c h i t e k t u r Die architektursoziologische Analyse der bislang im Zusammenhang mit dem theoretischen Konzept diskutierten (medien-)kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklung soll in diesem Abschnitt nun anhand von zwei exemplarischen Perspektiven vertieft werden. Die Auswahl der zu diesen Positionen gehörenden Beispiele ging von der Frage aus, welche Aspekte neben den bislang benannten sich überhaupt zur »Bebilderung« der architektursoziologischen Relevanz des Konzepts der ›mobilen Privatisierung‹ heranziehen lassen, dass ja auf seine Art bereits auf die durch medien- und rundfunktechnische Entwicklungen bewirkten Folgen für die Architektur der Gesellschaft verweist. Unmittelbar drängen sich zunächst Vorstellungen von endlosen Reihenhaussiedlungen in Vor- und Kleinstädten sowie modernen Dörfern auf, die seit den fünfziger Jahren einen bleibenden Eindruck von den sozialen und architektonischen Konsequenzen der mit der ›mobilen Privatisierung‹ beschriebenen Lebensweise zu geben scheinen. Nach den bisherigen Ausführungen darf aber bezweifelt werden, dass mit dieser spezifischen Architektur der Moderne auch bereits ein architektonisch sprechendes Bild des Privaten sowie der Öffentlichkeit respektive des Öffentlichkeitszusammenhangs der ›mobilen Privatisierung‹ gegeben ist, das für den Alltag und die Erfahrung konstitutiv ist. Denn es ist die im Zusammenhang mit Medientechniken entstehende virtuelle Architektur, welche die Cultural Studies im Blick haben. Sie beziehen sich dabei grundsätzlich auf die Qualitäten und Formen moderner Öffentlichkeiten als Identitätssphären, wozu auch der Blick in die privaten alltäglichen Zusammenhänge gehört, in denen die Identitäten wirksam sind und zu Handlungen ermächtigen oder befähigen. Ein Blick auf Reihenhaussiedlungen alleine vermag das Gemeinte daher nicht zu veranschaulichen, vor allem aber wäre es kein hinreichender Beleg für den Einfluß der »virtuellen Architektur« auf den Alltag. Eine Ahnung von dieser Entwicklung, ihren architektonischen Konsequenzen und den sich darin wiederum ausdrückenden gesellschaftlichen Beziehungen ermöglichen hingegen eindrucksvoll die Filme »Mon Oncle« und »Playtime« von Jacques Tati aus den Jahren 1958 und 1967. Bereits die Vorbereitungsgeschichte des Films »Playtime«, in deren Zuge »Tativille« nach sechs Monaten Aufbauzeit hervorging – das dann über fast vier Jahre bestand hatte –, stellt ein eigenes filmarchitektonisches Kapitel dar, das bis heute Stoff für filmwissenschaftliche Auseinandersetzungen liefert. Eine Deutung dieses Films aus der Perspektive der mobilen Privatisierung kann ich an dieser Stelle unmöglich leisten, 303
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wobei unter dem Gesichtspunkt der Zeitgenossenschaft von Williams und Tati interessante Rückfragen für die jeweilige Deutung der gesellschaftlichen Entwicklung möglich wären. Vielmehr ist es die Absicht, anhand einer zentralen Filmsequenz augenfällig zu machen, wie Tati die von Williams geschilderten Folgen der (medien-)technischen Entwicklung mit den Mitteln des Mediums Film reflektiert hat. Die Auswirkungen der ›mobilen Privatisierung‹ werden in Tatis Film mit Bezug zur Rolle des Fernsehens insbesondere an einer fast zehnminütigen Sequenz augenfällig, in deren Mittelpunkt die hell erleuchteten Fenster eines modernen Wohnkomplexes am frühen Abend stehen. Diese entscheidende, auf die privaten Räume bezogene Filmsequenz zeigt in der zentralen Einstellung – sozusagen als Ausschnitt des realen Lebens – die ersten beiden Stockwerke eines modernen Appartmenthauses, in dem jeweils zwei Wohnzimmer pro Stockwerk mit großflächigen Scheiben nebeneinander angeordnet sind. Auf diesen insgesamt vier Bühnen privater Räume spielen sich die üblichen Freizeitverrichtungen der Bewohner ab, die sich nach getaner Arbeit zu entspannen suchen. Dass in den Wohnzimmerszenen das Fernsehen als Tätigkeit im Mittelpunkt steht, das zugleich für die uns allen bekannte flackernde Beleuchtung der Filmszene sorgt, ist sicher kein Zufall.29
Abb. 1: Filmstill aus Jacques Tati: Playtime (Die Wohnungen Schneider und Giffard) (1967).
29 Für den filmischen Eindruck entscheident ist, dass Tati im 70-MillimeterFormat drehte (der vierfachen Oberfläche eines 35-Millimeter-Films), was es ihm ermöglichte, die gesamte Szene mit ihren Parallelhandlungen in einer einzigen Einstellung zu drehen. 304
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Tati gestaltet die Sequenz so, dass er von einer Totalen, mit der er das gesamte Haus mit seinen beiden Etagen erfasst, zunächst auf das Geschehen in einem der Wohnzimmer fokussiert und dann im Wechsel der Kameraperspektiven mal zwei nebeneinanderliegende Wohnzimmer zeigt, worauf er wieder in nur eines hinschwenkt und in der Mitte des Aktes auch nochmals alle beiden Etagen mit vier Zimmern in der Totalen zeigt. Die Gleichartigkeit der Verrichtungen der Bewohner wird in dem einen Fall wie unter einem Mikroskop gezeigt, während die Totale wie die Vitrine eines Sammlers wirkt, der hier seine Trouvaillen ausstellt.
Abb. 2: Rachel Whiteread: Ghost, 1990.
Darüber hinaus finden sich Sequenzen zur Mobilität, die die mit dem Begriff der mobilen Privatisierung beschriebene Entwicklung nicht weniger augenfällig machen. So erscheinen die berühmten Bauwerke der Stadt lediglich noch als Spiegelungen im Glas der Gebäude und geben einen eigenen Kommentar zu den Konsequenzen der medientechnischen Mobilisierung, die alles im Hier und Jetzt virtuell verfügbar macht, aber uns zugleich von den Erfahrungszusammenhängen des Gezeigten fern hält. Die Menschen im Film, die in Paris eine Haushaltsmesse besuchen, sind mit ihren Alltagsgeschäften zu sehr beschäftigt, als dass sie den Stadtraum überhaupt noch wahrnehmen könnten. Heutzutage führen Bildschirme anstelle der Glasfronten oder -türen die architektonischen Perlen von Metropolen bereits bei der Ankunft am Flughafen aber auch auf Kongressen in Tagungshotels oder auf Messen vor, da die Teilnehmer an diesen Veranstaltungen kaum je in die Innenstädte und an die Orte gelangen, für die die Städte architektonisch stehen. 305
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Abb. 3: Rachel Whiteread: House, 1993.
Einen spezifischen Aufgriff der hier diskutierten Veränderungen leisten aus der Position der Skulptur die Arbeiten von Rachel Whiteread, die im Jahr 1993 den Turner Prize für ihre Arbeit »House« erhielt. Ihr Interesse gilt dabei der Innenseite privater Räume als Leerstelle unseres Wissens und unserer Vorstellung von Architektur. Eine Perspektive auf diese Innenseite des Privaten leistete sie erstmals mit ihrer Arbeit »Ghost« (1990), mit der sie auf diese Leerstelle im Bewusstsein über die architektonische Komplexität der Privatheit und deren Wandel verwiesen hatte. Mit den Mitteln des Abgussverfahrens kehrt sie in ihren Skulpturen das Innere nach außen und macht es dadurch öffentlich. Die Oberfläche der monumentalen Plastiken aber bleibt verschlossen und zeigt, wie hermetisch das Innen vom Außen abgeschottet ist und sich auch dann nicht unmittelbar erschließt, wenn es nach Außen gekehrt erscheint. Die Arbeit »House« (1993) thematisiert diese Leerstelle in einen größeren, auf den Wandel von Stadtvierteln und privater Behausungen zielenden Kontext. Hierbei fertigte sie einen Abguss eines der letzten Häuser eines Wohnviertels aus dem späten 19. Jahrhundert in East London, das abgerissen wurde. Im Prospekt, mit dem die Aktion beschrieben wurde, heißt es zu dieser Arbeit:
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»Like many public sculptures and memorials, »House« is a cast. But unlike the bronzes which commemorate triumphs and tragedies, great men and heroic deeds, this new work commemorates memory itself through the commonplace of home. Whiteread’s in situ work transforms the space of the private and domestic into the public – a mute memorial to the spaces we have lived in, to everyday existence and the importance of home«.30
Die Skulpturen Whitereads stellen nicht nur monumentale Abgüsse von privaten Innenräumen dar, mit denen dieser Sphäre ein mit der Plastik benennbarer Ort zugewiesen wird. Die Plastiken lassen sich vielmehr als Konservierungsversuch einer Lebensform im Wandel verstehen, der mit Blick auf aktuelle Veränderungen des Privaten einen architektonischen Kommentar zu den neuen mobilen Lebensformen darstellt, zumal dann, wenn den heutigen mediatisierten Räumen sogar die »interior spaces« abhanden zu kommen drohen, so dass von ihnen Abgüsse kaum mehr zu erstellen sein werden. Welche neuen Erfahrungen in dieser Entwicklung liegen und welche Verbindung zu neuen »home territories« sich einstellen, scheint mir an dieser Stelle eine interessante und spannende architektursoziologische Herausforderung zu sein, der ich in diesem Beitrag aber nicht weiter nachgehen kann.
5 Resümee Das in diesem Beitrag verfolgte Problem der ›mobilen Privatisierung‹ ist bislang nicht näher im Hinblick auf architektursoziologische Bezüge beschrieben worden, was David Morley im übrigen damit begründet, dass sich die avantgardistischen Bewegungen auch in der Architektur – und nicht nur in der Kunst – immer auch in Opposition zu den Werten gesehen hätten, die mit Häuslichkeit assoziiert werden.31 Generell scheint der Bezug von Medien zur Architektur respektive zu architektursoziologischen Fragen ein Forschungsfeld, das erst noch abzustecken ist. Im vorliegenden Zusammenhang diente mir das Konzept zur Beschreibung einer auch weiter zu beobachtenden medientechnischen Mobilisierung der Individuen – die sich aktuell nochmals grundsätzlich anders darstellt als in den frühen Fernsehjahren – und die im Zusammenhang mit einer sich nochmals verstärkenden Privatisierung des Einzelnen steht. Mit Blick auf die neueren Medientechniken (Handy, iPod) lässt sich schließen, dass diese das aus dem lebendigen Öffentlichkeitszusammenhang 30 Zit. nach dem Ankündigungs-Flyer zu Rachel Whiteread-House 1993 (http://www.artistsineastlondon.org. 15.10.2007). 31 D. Morley: Home Territories, S. 60f. 307
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herausgefallene Individuum zu ihrem Ziel haben, wobei sie zu einem weiteren Wandel der Privatheit im Zeichen einer ›virtuellen‹ Architektur beitragen. Im Kontext der mit dem Begriff der mobilen Privatisierung beschriebenen widersprüchlichen Vereinheitlichung wäre somit auch die Entwicklung von virtuellen Architekturen weiter zu analysieren und in ihrer gesellschaftlichen Leistung zu bewerten, da sie die getrennten Individuen, die aus ihren an Innenräume gebundenen privaten Sphären herausgelöst werden, qua Technikeinsatz auf grundlegend neue Art miteinander verbinden und gemeinschaftliche Orte schaffen, die (unter anderem im Second Life) gerade im Entstehen begriffen sind. An Stelle solcher Überlegungen trifft man in der Mediensoziologie vielfach noch auf eine Verfallsthese, die, wie am Beispiel Sennetts32 zu sehen, das Vordringen der Intimität in der Öffentlichkeit kritisiert, ohne die Frage zu stellen, welche Form von Privatheit in der Spätmoderne unter Bedingungen der Enttraditionalisierung und Individualisierung – um nur zwei Schlagworte der aktuellen Gesellschaftsanalyse zu nennen – als Folge ›virtueller‹ Architektur entwickelbar ist. Ausgeblendet wird mit einer solchen öffentlichkeitstheoretischen Kritik der Intimisierung der bereits von John Carey angesprochene neue Erfahrungsgehalt33: der sich – wie einleitend gesagt – mit der durch die neuen Medientechniken möglichen Gemeinschaftsbildung ergibt, womit sich auch die Grenzen bisheriger »home territories« und der mit ihnen verbundenen kulturellen Ordnungen und Semantiken verändern.
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32 Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt a.M.: Fischer 1996. 33 James Carey: Culture as Communication, London: Unwin Hyman 1989. 308
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B i l d n a c hw e i s e Abb. 1: Les Films de Mon Oncle. Abb. 2: Peter Cox. Abb. 3: John Davies.
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S ymbolische Macht und Habitus des Ortes. Die › Architektur der Gesellschaft‹ aus Sicht der Theorie(n) sozialer Ungleichheit von Pierre Bourdieu JENS S. DANGSCHAT
Einleitung Der Architektur wird immer wieder vorgeworfen, sie sei an den Interessen der Herrschenden ausgerichtet, nur für die da oben da; das heißt, sie inszeniere die Interessen von Macht, Geld und Prestige: Architektur sei elitär, über die Einordnung als künstlerisches Fach von der Realität entrückt und der allgemeinen Kritik enthoben. In diesem Beitrag sollen die Thesen Bourdieus zur sozialen Ungleichheit dafür genutzt werden, die Rolle der Herstellung von gebautem Raum (Städtebau, Landschaftsplanung, Architektur) in der Auseinandersetzung um den öffentlichen Raum in Großstädten zu analysieren. Dabei wird »Raum« als relationale Größe im Wechselspiel zwischen der Herstellung und Syntheseleistung sozialräumlicher Situationen durch die Nutzenden verstanden.1 Insbesondere in der »europäischen Stadt« sind mit dem öffentlichen Raum Erwartungen verbunden, die durch spezifische Nutzungen und soziale Kontrolle perpetuiert werden.
1
Vgl. Dieter Läpple: »Essay über den Raum. Für ein gesellschaftswissenschaftliches Raumkonzept«, in: Hartmut Häußermann u.a. (Hg.), Stadt und Raum – Soziologische Analysen, Pfaffenweiler: Centaurus 1991, S. 157207, und Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 158-161. 311
JENS S. DANGSCHAT
Die Nutzung des öffentlichen Raumes von unterschiedlichen sozialen Gruppen erzeugt zunehmende Probleme. Die Ursachen sind einerseits die Zunahme sozialer Ungleichheit in den sozioökonomischen, -demographischen und -kulturellen Dimensionen; andererseits die Verknappung des öffentlichen Raumes durch Verkehrsinfrastrukturen und Privatisierungen.2 Da Verhaltensunterschiede zu Verunsicherungen führen, wird der Raum zunehmend kontrolliert, ästhetisiert und »aufgeräumt«.3 Da der öffentliche Raum aber nie und nirgends für alle zugänglich war, ist dessen Nutzung ein Teilaspekt der Frage »Wem gehört die Stadt?« Damit kann der Zugang zu und die Nutzung des öffentlichen Raumes zugleich als Ausdruck und Reproduktion gesellschaftlicher Ungleichheiten interpretiert werden. Die zunehmenden Problematiken um den städtischen öffentlichen Raum sind wesentlicher Bestandteil des Diskurses um das Fortbestehen der »europäischen Stadt«.4 In diesem Zusammenhang wird von der Teilung der Stadt5 gesprochen und das Ende der Integrationsfähigkeit der Stadt beschworen.6 Umgekehrt wird nach Möglichkeiten gesucht, die Gestaltung des öffentlichen Raumes als Beitrag
2
3
4 5
6
Vgl. Andreas Feldtkeller: Die zweckentfremdete Stadt. Wider die Zerstörung des öffentlichen Raumes, Frankfurt a.M./New York: Campus 1994; Ute A. Lehrer: »Is there Still Room for Public Space? Globalizing Cities and the Privatization of the Public Realm«, in: INURA (Hg.) 1998, S. 200207. Vgl. Susan Christopherson: »The Fortress City: Privatized Spaces, Consumer, Citizenship«, in: Ash Amin (Hg.), Post-Fordism. A Reader, Oxford/Cambridge: Blackwell 1994, S. 409-427; Jens S. Dangschat: »Segregation und Sicherheitsaspekte in Städten«, in: Der Städtetag 2/2007, S. 1216; Hubert Beste: »Policing the Poor«, in: Christoph Gusy (Hg.), Privatisierung von Staatsaufgaben. Kriterien-Grenzen-Folgen, Baden-Baden: Nomos 1998, S. 180-214; Jan Wehrheim: Die überwachte Stadt: Sicherheit, Segregation und Ausgrenzung, Opladen: Leske + Budrich 2002. Vgl. Walter Siebel: »Einleitung: Die europäische Stadt«, in: Ders. (Hg.), Die europäische Stadt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 11-50. Vgl. Peter Marcuse: »›Dual City‹: A Muddy Metaphor for a Quartered City«, in: International Journal of Urban and Regional Research 13 (1989), S. 697-708; Stefan Krätke: »Städte im Umbruch. Städtische Hierarchien und Raumgefüge im Prozeß gesellschaftlicher Restrukturierung«, in: Renate Borst u.a. (Hg.), Das neue Gesicht der Städte. Theoretische Ansätze und empirische Befunde aus der internationalen Debatte, Basel et al.: Birkhäuser 1990, S. 7-38; Neil Smith: The New Urban Frontier. Gentrification and the Revanchist City, London/ New York: Routledge 1996; Jens S. Dangschat (Hg.): Modernisierte Stadt – gespaltene Gesellschaft? Opladen: Leske + Budrich 1999. Vgl. Wilhelm Heitmeyer: »Versagt die ›Integrationsmaschine‹ Stadt? Zum Problem der ethnisch-kulturellen Segregation und ihren Konfliktlagen«, in: Ders./Rainer Dollase/Otto Backes (Hg.), Die Krise der Städte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 443-468.
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SYMBOLISCHE MACHT
zur gesellschaftlichen Kohäsion zu verstehen7, wobei hier nicht nur städtebauliche und architektonische Gestaltung im Vordergrund stehen, sondern auch partizipative Elemente des Planungsprozesses und vor allem die Ordnung der Nutzung nach der (Um-)Gestaltung. Wer sich wie, zu welcher Zeit und zu welchem Zweck im öffentlichen Raum aufhält, ihn besetzt und durch seine Erscheinung und Verhalten andere Gruppen verängstigt und verdrängt, ist Ausdruck gesellschaftlicher Positionierungen, wirkt sich aber auch auf die gesellschaftliche Position aus.8 Mit Hilfe der theoretischen Ansätze von Pierre Bourdieu zur sozialen Ungleichheit soll am Fall der Umgestaltung des Karlsplatzes in Wien deutlich werden, wie die architektonische, landschaftsplanerische und städtebauliche Umgestaltung des öffentlichen Raumes dazu beiträgt, die sozialen Hierarchien zu restrukturieren. Dazu wird vor allem Bourdieus Struktur-Habitus-Praxis-Konzept9 angewandt (s. Kap. 2); es werden seine Überlegungen zum Wechselverhältnis zwischen der Aneignung des physischen Raumes und der Position im sozialen Raum10 herangezogen, um die Aneignung des physischen Raumes als Praxis sozialer Positionierung zu analysieren (s. Kap. 3). Im 4. Kapitel wird der Zusammenhang zwischen der raumbezogenen Hierarchisierung sozialer Gruppen und der Herstellung von gebautem Raum analysiert, bevor im 5. Kapitel schließlich der Karlsplatz als Fallbeispiel vorgestellt wird; er ist wichtigster U-Bahn-Knoten, Ort einer hohen Konzentration von Kultur- und Bildungseinrichtungen sowie traditionell Treffpunkt von KonsumentInnen und Verkäufern legaler und illegaler Drogen.11 Dessen Umgestaltung steht im Mittelpunkt der Beschreibung. Im 6. Kapitel werden schließlich die Beobachtungen über die Gestaltung des öffentlichen
7
Vgl. Andrea Breitfuss u.a.: Integration im öffentlichen Raum, Stadt Wien, Magistratsabteilung 18, Werkstattbericht Nr. 82, Wien 2006. 8 Peter Bremer/Norbert Gestring: »Urban Underclass – neue Formen der Ausgrenzung auch in deutschen Städten?«, in: PROKLA – Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 27 (1999), H. 106, S. 55-76; Peter Noller: Globalisierung, Stadträume und Lebensstile. Kulturelle und lokale Repräsentationen des globalen Raumes, Opladen: Leske + Budrich 1999. 9 Vgl. Pierre Bourdieu: »Struktur, Habitus, Praxis«, in: Ders., Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S. 139-202. 10 Unter sozialem Raum versteht Bourdieu keinen geographischen oder physischen Raum, sondern den mehrdimensionalen Raum der Gesellschaft, in der einzelne soziale Gruppen in gesellschaftliche relevanten Bereichen (»soziale Felder«) gemäß ihrer Kapitalvolumen und -strukturen relational verteilt sind; vgl. ders.: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982, S. 248-276. 11 Die Szene bestand ursprünglich ausschließlich aus Männern, in den letzten Jahren kamen vereinzelte Frauen hinzu (ca. 5 bis 10 Prozent). 313
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Raumes durch Architektur, Landschaftsplanung und Städtebau auf gesellschaftliche Herrschafts- und damit Ungleichheitsverhältnisse resumierend zusammengefasst.
1 Die Theorie der Reproduktion sozialer Ungleichheit Im Rahmen seiner Gesellschaftsanalysen ist Pierre Félix Bourdieu bemüht, die makro- und mikrosoziologischen Ebenen aufeinander zu beziehen, ohne den Fehler des Objektivismus (Vernachlässigung der Möglichkeiten der Handelnden) und des Subjektivismus (Vernachlässigung der prägenden Kraft von Strukturen) zu begehen. Er konzentriert seine Überlegungen auf das Spannungsverhältnis zwischen der objektiv-materiellen (Sozialer Raum) und der symbolischen Ebene (Raum der Lebensstile).12 Der klassenspezifische Habitus vermittelt zwischen beiden Sphären. Subjekte und soziale Gruppen sieht Bourdieu in einer permanenten und konflikthaften Auseinandersetzung um gesellschaftliche Positionen im Sozialen Raum (die durch »soziale Felder« strukturierte Gesellschaft). Der Habitus, der im Zuge der Sozialisation in Abhängigkeit der jeweiligen Ressourcen erworben wird, bestimmt die Dispositionen, mit denen die Einzelnen in den sozialen Feldern operieren. Um diese Logik der Reproduktion des Systems sozialer Ungleichheit zu verdeutlichen, verwendet Bourdieu die Struktur-Habitus-Praxis-Reproduktions-Formel.13 Er geht dabei von drei analytisch unabhängigen, aber relational verbundenen Ebenen der gesellschaftlichen Ungleichheit aus: – der Struktur sozialer Ungleichheit (Klassen), (»Geschmack«) – dem Habitus einzelner Personen oder Gruppen – der Praxis des Handelns, der Lebensstil.14
12 Das Wechselverhältnis beider Räume bildet die Grundlage seiner Überlegungen in »Die feinen Unterschiede«; vgl. Eva Barlösius: Kämpfe um soziale Ungleichheit. Machttheoretische Perspektiven, Wiesbaden: VS 2004, S. 116-185. 13 P. Bourdieu: Struktur. 14 Vgl. Stephan Hradil: »Alte Begriffe und neue Strukturen. Die Milieu-, Subkultur- und Lebensstilforschung der 80er Jahre«, in: Ders. (Hg.), Zwischen Bewußtsein und Sein. Die Vermittlung »objektiver« Lebensbedingungen und »subjektiver« Lebensweisen, Opladen: Leske + Budrich 1992, S. 15-55 mit der Unterscheidung in soziale Lage, soziales Milieu (Makround Mikro-Milieu) und Lebensstil. 314
SYMBOLISCHE MACHT
Zwischen diesen Ebenen bestehen keine deterministischen Beziehungen. Jedoch geht Bourdieu davon aus, dass die Klassenlage die Breite möglicher Habitusformen einschränke und der Habitus nur einen Teil möglicher Praxisformen nahelege. Er unterstellt zudem, dass die Art der Praxis auf den Habitus zurückwirke, dieser also nicht starr sei, sondern reflexiv genutzt werden könne. Der so veränderte Habitus könne wiederum dazu führen, dass sich die Struktur ändere. Da Bourdieu soziale Situationen als von Macht- und Herrschaftsungleichheiten geprägt sieht, ist der Wettbewerb um Positionen über die symbolische Macht15 bestimmt. Die Zuerkennung von symbolischem Kapital ist Basis der gesellschaftlichen Hierarchie. Durch die gesellschaftliche Praxis wird diese reproduziert: Die Willkür der Machtverteilung wird vor allem symbolisch aufrechterhalten und legitimiert. Bourdieu geht im Kern seiner Klassentheorie also davon aus, dass Ungleichheitsstrukturen in einer Gesellschaft durch spezifische Prozesse reproduziert werden. Die herrschende Klasse (Bourgeoisie mit dem »Habitus des legitimen Lebensstils«16) verfüge neben dem ökonomischen Kapital insbesondere über kulturelle Codes, die Verhaltensweisen hervorbringen, über welche die eigene Machtposition bewahrt wird. Dies werde vor allem dadurch gestützt, dass dieses System von der Mittelklasse – der Klasse des Kleinbürgertums mit dem Habitus »des Strebens« – kopiert wird.
1.1 Struktur der Klassen Die Struktur der Gesellschaft und damit die relativen Positionen sozialer Klassen im sozialen Raum sind durch das Kapital bestimmt. Nach der Kapitaltheorie17 verfügen soziale Gruppen über unterschiedliche Kapitalien, das sie in ihren Möglichkeiten nach Art, Zusammensetzung und Volumen in den sozialen Feldern unterschiedlich einsetzen, um die eigene Position zu verteidigen oder die gewünschte anzustreben. Damit hat die Kapitaltheorie über die Biographie der Kapitalentwicklung auch einen dynamischen Charakter. Bourdieu unterscheidet:
15 Vgl. Pierre Bourdieu/Jean-Claude Passeron: Grundlagen einer Theorie der symbolischen Gewalt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973; Pierre Bourdieu: Die verborgenen Mechanismen der Macht, Hamburg: VSA 1992. 16 Vgl. Pierre Bourdieu: »Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital«, in: Reinhard Kreckel (Hg.), Soziale Ungleichheiten. Soziale Welt, SH 2, Göttingen 1983, S. 183f. 17 Vgl. P. Bourdieu: Ökonomisches Kapital. 315
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– – – –
ökonomisches Kapital (Einkommen, Besitz, Vermögen), kulturelles Kapital (Bildungstitel (institutionalisiert), kulturelle Güter (objektiviert) sowie kulturelles Wissen, Geschmack, Fertigkeiten und Benehmen (inkorporiert), soziales Kapital (institutionalisierte soziale Beziehungen) und symbolisches Kapital (Ansehen, Prestige, Charme als Kommunikation der eingesetzten anderen Kapitalien in den sozialen Feldern, und damit der Position).18
Bourdieu geht davon aus, dass die Kapitalarten gegeneinander eingetauscht werden können (um geldwerte Vorteile oder um kulturelles Kapital zu erlangen); dass sie dem Risiko der Inflation unterliegen (das gilt auch für das kulturelle Kapital); dass sie teilweise an die Person gebunden sind und daher im Sozialisationsprozess angeeignet werden müssen, also nur bedingt vererbt werden können. Er geht weiter davon aus, dass jedes soziale Feld (vor allem der öffentliche Raum, aber auch der Arbeitsplatz, der Verein, die Wohnung, die Familie) den Einsatz einer je spezifischen Kombination der Kapitalarten nahelege, wodurch sich die Ungleichheiten reproduzieren. In seiner Darstellung des sozialen Raumes beschränkt sich Bourdieu jedoch auf das Kapitalvolumen insgesamt und auf den Anteil an ökonomischem und kulturellem Kapital. Während für ihn die Kapitalmenge die Klassenlage und den Habitus bestimmt, beschreibt er die Varianz in der Mittelklasse vor allem über die Dichotomie aus Geld und Intellekt.19 Das soziale Kapital – das er als vertikal hierarchisiert ansieht – und das symbolische Kapital sind also weniger für die Position im sozialen Raum bedeutsam als für die »feinen Unterschiede«, für Variationen vor allem auf der Praxisebene. Die unterschiedliche Möglichkeit, sich ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital anzueignen und über symbolisches Kapital zu kommunizieren, wird wiederum durch weitere Merkmale sozialer Ungleichheit wie Geschlecht, Ethnie, Rasse, Alter, Kohorte, Haushaltstyp und
18 Im zentralen Aufsatz zur Kapitaltheorie (Ökonomisches Kapital) geht Bourdieu von drei Kapitalarten aus; das symbolische Kapital wird nicht immer erwähnt (vgl. aber P. Bourdieu/J-Cl. Passeron: Grundlagen, wo die Transferierbarkeit in ökonomisches Kapital und Kategorien der Macht betont wird). Im Aufsatz zur raumbezogenen sozialen Ungleichheit (P. Bourdieu: Physischer, sozialer) kommt das symbolische Kapital nicht als Begriff vor; thematisiert wird jedoch die Besetzung attraktiver Räume als symbolische Handlung zur Festigung der eigenen Klassenposition (S. 2630; s. Kap. 3). 19 Vgl. P. Bourdieu: Die feinen Unterschiede, S. 212f. 316
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Herkunft bestimmt.20 Diese Merkmale stehen nicht in einer kausalen, mathematisch messbaren Ordnung, sondern die Klassenlage wird durch die Wirkungsweise der jeweiligen »Struktur der Beziehungen zwischen allen relevanten Merkmalen«21 in den sozialen Feldern bestimmt. In welchem Zusammenhang die einzelnen Merkmalsausprägungen sozialer Ungleichheit stehen und wie sie auf die Herstellung, den Verfall und die Konvertierbarkeit der einzelnen Kapitalarten einwirken, ist zwar von der jeweiligen sozialen Situation abhängig, wird aber entscheidend über den Habitus bestimmt und über das symbolische Kapital vermittelt.
1.2 Habitus Der Habitus ist die zentrale Kategorie in Bourdieus Theoriegerüst.22 Bourdieu versteht darunter eine an Personen und soziale Gruppen gebundene Disposition der Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata, die vor allem die Rahmungen für die Handlungen bildet. Der Habitus integriert sämtliche Gewohnheiten, Einstellungen, Moral- und Wertvorstellungen, Dispositionen und Lebensweisen sowie die Körperhaltungen. In der wechselseitigen Wahrnehmung von Handlungen wird zwischen den AkteurInnen in Kategorien des symbolischen Kapitals kommuniziert. Der Habitus wird im Sozialisationsprozess im Rahmen der durch die Klassenlagen bestimmten Ressourcen als verinnerlichtes Muster herausgebildet. Hierdurch wird die »Welt« aktiv erschlossen und es werden die normativen Regeln sowie das je relevante gesellschaftliche Wissen angeeignet. Auch wenn der Habitus durch Rückkopplungen aus der Praxis verändert werden kann, kann er nie vollständig verlassen werden. Über Wahrnehmungen, Denkmuster, Bewertungen und Sichtweisen entstehen (Sub-)Kulturen mit einheitlichem Habitus. Über den Habitus wird die Ordnung der Gesellschaft mit den subjektiven Praktiken von Personen und sozialen Gruppen in Relation gesetzt. In diesem dialektischen Spannungsverhältnis aus Position und Disposition werden die sozialen Felder bestimmt, gegeneinander abgegrenzt und in ihnen um gesellschaftliche Rangplätze gekämpft. Als klassenabhängiges, gelerntes Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschema bildet der Habitus die »strukturierte 20 Ebd., S. 182; vgl. Jens S. Dangschat: »Geld ist nicht (mehr) alles – Gentrification als räumliche Segregierung nach horizontalen Ungleichheiten«, in: Jörg Blasius/Ders. (Hg.), Gentrification – Die Aufwertung innenstadtnaher Wohngebiete, Frankfurt a.M.: Campus 1991, S. 69-91; ders.: »Klassenstrukturen im Nach-Fordismus«, in: Peter A. Berger/ Michael Vester (Hg.), Alte Ungleichheiten – Neue Spaltungen, Opladen: Leske + Budrich 1998, S. 49-88. 21 P. Bourdieu: Die feinen Unterschiede, S. 182. 22 Vgl. Beate Krais/Gunter Gebauer: Habitus, Bielefeld: transcript 2002. 317
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Struktur«, lässt aber Raum für reflexive und kreative Handlungsformen (»strukturierende Struktur«) und wird über »Automatismen« inkorporiert.
1.3 Praxis Mit der Praxis sind die feldabhängigen täglichen Handlungsroutinen gemeint, die sich auf spezifische sozial-räumliche Situationen beziehen. Bourdieus Verständnis der Praxis zielt weder auf strukturfunktionalistische Determinismen noch sieht es Menschen als frei Handelnde an. Die einzelnen Felder bestimmen vielmehr den Spielraum in Abhängigkeit der Klasse und des erworbenen »praktischen Sinnes«. Aus der Sicht Bourdieus verhalten sich also die »Individuen nicht […] voraussetzungslos zueinander«, sondern sie agieren »in den von ihren Vorgängern (aber auch von ihnen selbst) produzierten Gravitations- und Kampffeldern«, in denen sie »ihre Geschichte und Gesellschaft im wahrsten Sinne des Wortes stets mit sich herumtragen – in Form einverleibter Dispositionen, Bewegungen, Haltungen ihrer Körper, die Hinweise auf soziale Positionen und Distanzen sowie die einzuhaltenden Verhaltensweisen bzw. Distanzstrategien geben.«23 In diesem Aufsatz zum architektursoziologischen Aspekt der Gesellschaftstheorie Bourdieus soll vor allem das Agieren im öffentlichen Raum in einem Feld beschrieben werden, das im Rahmen einer Schutzzonen-Verordnung durch die Ausgrenzung bestimmter Bevölkerungsgruppen gekennzeichnet ist. Es stellt sich die Frage, wer unter welchen Bedingungen im durch Städtebau und Architektur (place making24), aber auch durch die Anwesenheit von sozialen Gruppen und ihren Verhaltensweisen geprägten öffentlichen Raum (spacing25) wie agieren darf. Städtebau und Architektur sind an der Herstellung hierarchisierter Räume beteiligt, die auch zum Ausschluss einzelner sozialer Gruppen aus dem öffentlichen Raum führen.
23 Gerhard Fröhlich: »Kapital, Habitus, Feld, Symbol. Grundbegriffe der Theorie bei Pierre Bourdieu«, in: Ingo Mörth/Ders. (Hg.), Das symbolische Kapital der Lebensstile. Zur Kultursoziologie der Moderne nach Pierre Bourdieu, Frankfurt a.M./New York: Campus 1994, S. 31-54, 34. 24 Vgl. Patsy Healey: »Institutionalist Theory, Social Exclusion and Governance«, in: Ali Madanipour/Göran Cars/John Allen (Hg.), Social Exclusion in European Cities. Processes, Experiences and Responses, London/New York: Rotledge 1998, S. 53-73. 25 Vgl. M. Löw: Raumsoziologie. 318
SYMBOLISCHE MACHT
2 D i e Ar c h i t e k t u r s o z i o l o g i e a u s S i c h t d i e s e r Theorie sozialer Ungleichheit 2.1 Aneignung von physischem Raum als Symbol und Verstärkung der Position im sozialen Raum Der Aufenthalt im öffentlichen Raum wird unter der Perspektive Bourdieus als Reproduktion sozialer Macht- und Herrschaftsverhältnisse betrachtet, die dazu dienen, bestehende Ungleichheitsstrukturen zum Ausdruck zu bringen und zu reproduzieren. Dabei wird davon ausgegangen, dass »jede Art sozialer Organisation […] auf der Gemeinsamkeit des Raumes« beruht. »Raum ist ein Strukturierungsmoment sozialer Organisation«.26 Darüber hinaus wird von einem relationalen Raumverständnis27 ausgegangen, das heißt einem Raumverständnis, nach dem der Raum keine ausschließlich geografisch-materielle Einheit ist und nicht von seinen ›Inhalten‹ getrennt werden kann, wie es die Container-Vorstellung von Raum beinhaltet. Raum bildet sich vielmehr aus: – dem Wechselverhältnis aus einer durch Architektur geprägten Materialität und – der sie konstruierenden Ordnung (Markt, Planung, ›moral order‹), symbolischen Gehalt (als »kollektives Ge– aus überindividuellem dächtnis«28 über Nutzung und Attraktivität im Sinne einer longue durée), aus den Konstruktionsleistungen der jeweiligen AkteurInnen im – Raum (vor dem Hintergrund ihrer Klassenlage und Habitusform) sowie – deren Anwesenheit, Aussehen und Verhalten im Raum (›spacing‹) als Praxis. Architektur, Städte- und Landschaftsbau kommen in diesem Zusammenhang die Bedeutung zu, die »Bühne« für das Wechselspiel aus Positionierungen im Raum, Rollenübernahmen und Reproduktion sozialer Positionierungen herzustellen. Damit wird Architektur zum Verstärker sozialer Ungleichheit. ›Bühne‹ und ›Bühnenbild‹ legen zwar keine Rollenübernahmen fest, legen sie aber nahe oder schränken den Spielraum ein. Die Ästhetik als Ausdruck habituellen Geschmacks signalisiert darüber hinaus die symbolische Ordnung. Die Funktionalität erleichtert 26 Bernd Hamm: Einführung in die Siedlungssoziologie, München: Beck 1982, S. 23. 27 Vgl. D. Läpple: Essay. 28 Vgl. Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis (frz. 1939), Frankfurt a.M.: Fischer 1985. 319
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oder verhindert zudem ein je spezifisches Verhalten, so dass man es nicht nur mit einer ›Bühne‹ zu tun hat, sondern mit dem symbolischen Kapital selbst, das als Handlungsanweisung wirkt. Die »eingeladenen« RollenspielerInnen kontrollieren einander und reagieren vor dem Hintergrund ihres Habitus durch die Dispositionen, Bewegungen und Haltungen ihrer Körper29: sie tragen »allezeit« ihre »Habitusformen mit sich herum, die erst die soziale Person mit allen ihren Dispositionen ergeben«.30 Diese Sichtweise auf Raum entspricht dem Verständnis des »Feldes« bei Bourdieu. Er geht zudem davon aus, dass gesellschaftliche Formationen die »Tendenz« aufweisen, »sich mehr oder weniger strikt im physischen Raum in Form einer bestimmten distributionellen Anordnung von Akteuren und Eigenschaften niederzuschlagen. Daraus folgt, daß alle Unterscheidungen in bezug auf den physischen Raum sich wiederfinden im reifizierten sozialen Raum (oder was dasselbe hinausläuft, im angeeigneten physischen Raum)«.31
Die Form, in der der Raum angeeignet wird, ist also ein Spiegel der Rangordnungen und Herrschaftsverhältnisse. Aus der ostentativen Zurschaustellung von Macht durch die Zurschaustellung des angeeigneten physischen Raumes »folgt, daß der vom Akteur eingenommene Ort und sein Platz im angeeigneten physischen Raum hervorragende Indikatoren für seine Stellung im sozialen Raum abgeben«.32 Man muss jedoch davon ausgehen, dass sich Ungleichheiten im Raum nicht nur spiegeln und die Verteilung sozialer Gruppen im Raum daher Indikator ihrer gesellschaftlichen Position ist (wie in der Segregationsforschung33). Vielmehr werden durch die ungleichen Chancen, sich an attraktiven Orten im Raum zu platzieren, die Ungleichheiten auch verstärkt34 (s. Tab. 1). Die Inhaber umfangreichen Kapitals können nach Bourdieu auch bei der Aneignung von Raum den Clubeffekt nutzen:
29 30 31 32 33
Vgl. G. Fröhlich: Kapital, Habitus, Feld, S. 34. P. Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis, S. 181. P. Bourdieu: Physischer, sozialer, S. 26. Ebd. Vgl. Jens S. Dangschat: »Soziale Ungleichheit, gesellschaftlicher Raum und Segregation«, in: Ders./Alexander Hamedinger (Hg.), Lebensstile, Soziale Lagen und Siedlungsstrukturen, Hannover: ARL 2007, S. 21-50 34 Vgl. Jens S. Dangschat: »Raumkonzept zwischen struktureller Produktion und individueller Konstruktion«, in: Ethnoscripts 9 (2007), H. 1, S. 24-44; vgl. auch Monika Alisch/Ders.: Armut und soziale Integration. Strategien sozialer Stadtentwicklung und lokaler Nachhaltigkeit, Opladen: Leske + Budrich 1998.
320
SYMBOLISCHE MACHT
»Kapital [...] ermöglicht gleichermaßen, sich die unerwünschten Personen und Dinge vom Leib zu halten, wie sich den begehrten Personen und Dingen zu nähern und damit die zu ihrer Aneignung notwendigen Aufwendungen [...] so gering wie möglich zu halten«.35
Territorium (physischer Raum)
Angeeigneter physischer Raum (reifizierter sozialer Raum)
Sozialer Raum (Gesellschaft)
Ort
Platz
Feld/relative Position
Dauerhafte o. zeitweilige Situierung vor Ort
Ostentative Zurschaustellung des Besitzes (symbolische Identifikation)
Soziale Lage, klassenspezifischer Geschmack, distinktive Lebensstile
Tab. 1: Raum- und Ungleichheitskategorien des physischen, angeeigneten und sozialen Raumes. Also können sich obere Klassen über den Preis, aber auch den Einsatz von kulturellem und sozialem Kapital nicht nur ihren Wohnraum, sondern auch ihre Nachbarschaft aussuchen; sie können sich auch durch die Kontrolle und Gestaltung des öffentlichen Raumes unerwünschte soziale Gruppen ›aus den Augen und aus dem Sinn‹ schaffen. Aber nicht nur die Schließungstendenzen der oberen Klassen durch die Raumaneignung sind relevant, sondern umgekehrt werden auch »die Personen ohne Kapital physisch oder symbolisch von den sozial als selten eingestuften Gütern ferngehalten und dazu gezwungen, mit den unerwünschtesten Personen und am wenigsten seltenen Gütern zu verkehren.«36
Die Möglichkeiten der Platzierung und symbolischen Darstellung im Raum verstärken also die Ungleichheitsstrukturen. Als ›Lohn‹ der Aneignung von Orten sieht Bourdieu entsprechend die Möglichkeit, Raum-
35 Bourdieu, Physischer, sozialer, S. 30. 36 Ebd. 321
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profite zu erzielen.37 Die »Struktur der räumlichen Verteilung der Machtfaktoren, das heißt der dauerhaft und legitim angeeigneten Eigenschaften und der AkteurInnen mit ungleichen Chancen des Zugangs beziehungsweise der materiellen und symbolischen Aneignung«, stellt die »objektivierte Form eines Zustandes sozialer Auseinandersetzung um [...] Raumprofite dar«.38 Dabei unterscheidet Bourdieu Lokalisationsprofite, Okkupations- und Raumbelegungsprofite sowie ökonomische Vorteile (s. Tab. 2). Lokalisationsprofite
Situationsrenditen (Nähe/Ferne); Positions- oder Rangprofite (Adresse)
Okkupationsprofite
Wohnfläche, unverbaubarer Blick
Physische Inbesitznahme (Miete, Pacht, Eigentum) ökonomisches Kapital
Kulturelle Inbesitznahme; Habitus, kulturelles Kapital
Tab. 2: Unterschiedliche Aspekte der Raumprofite. Neben der Möglichkeit, von der Raumergreifung zu profitieren, ist für Bourdieu der »angeeignete Raum […] einer der Orte, an denen Macht sich bestätigt und vollzieht, und zwar in ihrer sicher subtilsten Form: der symbolischen Gewalt als nicht wahrgenommener Gewalt«.39 Vor allem das Ergebnis der Inbesitznahme von Raum erzeugt symbolische Macht und macht damit symbolische – und damit sehr reelle – Herrschaft erst möglich. Während der Besitz von Wohnraum über Rechtstitel strikt geregelt ist, unterliegt der öffentliche Raum einer informellen Kontrolle, die auf der einen Seite als Ort demokratischer Freiheit in der »europäischen Stadt« abgeleitet, auf der anderen Seite vor Ort über soziale Kontrollen hergestellt wird. Das bedeutet, »dass sich auf dem Wege ihrer Realisierungen in den Strukturen des angeeigneten physischen Raumes die unausgesprochenen Imperative der sozialen Ordnung und die verschwiegenen Ordnungsrufe der objektiven Hierarchie in Präferenzsysteme und mentale Strukturen umwandeln«.40 Diese »unausgesprochenen 37 Vgl. Pierre Bourdieu: »Ortseffekte«, in: Ders. et. al., Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft (frz. 1993), Konstanz: UVK 1997, S. 159-167. 38 Ebd. 39 Ebd., S. 27. 40 Ebd. 322
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Imperative der sozialen Ordnung« und die »verschwiegenen Ordnungsrufe« – so die These Bourdieus – werden unter anderem nun aber durch die architektonische Gestalt hergestellt. »Der soziale Raum ist somit zugleich in die Objektivität der räumlichen Strukturen eingeschrieben und in die subjektiven Strukturen, die zum Teil aus der Inkorporation dieser objektivierten Strukturen hervorgehen«.41 Das Zusammenspiel der Herstellung von Raum in seiner anschaulichen Erscheinung (Infrastruktur, Architektur, Menschen) und Symbolwirkung, sowie den Praktiken im Raum kann in der ›Struktur-HabitusPraxis-Reproduktionsformel‹ (SHPR) sozialräumlicher Ungleichheiten dargestellt werden. In Erweiterung der einfachen SHPR bei Bourdieu (zur Erklärung der sich reproduzierenden gesellschaftlichen Ungleichheitsgefüge) wird hier von einer doppelten Struktur-Habitus-Praxis-Reproduktionsformel ausgegangen. Damit kann verdeutlicht werden, dass jede der drei Ebenen (Makro, Meso, Mikro) in ihrer Funktion der Reproduktion sozialräumlicher Ungleichheit vor allem dann funktioniert, wenn die Ebenen je durch die selbstverstärkende einfache SHPR reproduziert werden (s. Tab. 3). Die Makro- und Mikro-Ebene ergeben für sozial-räumliche Praktiken das ›framing‹, die mentale Bühne für strategisches Raumergreifen (»Politik der Lebensstile«). Im Zentrum dieser zweifachen Reproduktion steht der »Habitus des Ortes« (als Meso-Habitus oder als »Habitus des Habitus«). Hier sind die historischen Ereignisse und überkommenen sozialen Strukturen und Mentalitäten im Sinne des »kollektiven Gedächtnisses« als »Image des Ortes« gespeichert; zugleich reproduziert sich dieser Habitus durch die Praktiken vor Ort.
2.2 Architektur als Form von An- und Zueignung von öffentlichem Raum Wenn Architektur dazu dient, öffentliche Orte spezifischen sozialen Gruppen zuzueignen und andere auszugrenzen (insofern deren Aufenthalt dadurch unwahrscheinlich gemacht wird, wichtige Ausstattungen fehlen oder die Ästhetik nicht akzeptiert wird), ist sie ein Herrschaftsinstrument. Gerade im Wettbewerb der Städte um Wirtschaftsfreundlichkeit, Attraktivität für TouristInnen und Lebensqualität werden bei der Umgestaltung von Bahnhöfen und anderen zentralen Orten Architektur und Landschaftsplanung so eingesetzt, dass der Ort für spezifische soziale Milieus (für mittlere und obere Schichten) als attraktiv angesehen
41 Ebd., S. 28. 323
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Aggregationsebene Reproduktion sozialer Ungleichheit
Allgemeine Prozesse
Subebene
Spezifische Prozesse
SOZIALE UNGLEICH- MakroHEIT Struktur
(Struktur)
Politische Regulation der Ungleichheit
MakroHabitus
MAKRO-EBENE
Vergesellschaftung in Ungleichheitsstrukturen
MakroPraxis
Intern. Arbeitsteilung, Globalisierung, Liberalisierung Wertewandel u. -pluralisierung; Flexibilisierung und Deregulierung Standortwettbewerb, Governance Physische Struktur, Infrastruktur,
Reproduktion des Ortes
SOZIAL-ÖRTLICHE ORGANISATION
MesoStruktur
Wohnbaustruktur, Sozialstruktur, lokal gebundene Ressourcen u. Constraints
(Habitus)
Habitus des Ortes / Mikro-Milieus
MesoHabitus
Symbolik des Ortes, Wertesysteme, politische Kultur, soziales Klima
MesoPraxis
Politik der
MESO-EBENE
Vergemeinschaftung vor Ort
Reproduktion des Alltags
INDIVID. LEBENSORGANISATION
Kapitalarten, Alter, Mikro- Geschlecht, Kohorte, Struktur Ethnie, Ressourcen, Constraints
(Praxis)
(sub-)kulturelle Werte
MikroHabitus
MIKRO-EBENE
(raumbezogenes) Verhalten
MikroPraxis
Lebensstile
Mentalitäten/ Deutungsmuster Lebensstile
Tab. 3: Struktur-Habitus-Praxis-Reproduktionsformel sozial-räumlicher Ungleichheit.
324
SYMBOLISCHE MACHT
wird.42 Um die »Demarkationslinie« zwischen den »guten« und »schlechten Territorien« zu ziehen, sind in vergangenen historischen Phasen stets architektonische, städtebauliche und landschaftsplanerische Elemente eingesetzt worden. Symbolische Macht entsteht dadurch, dass eine symbolische Ordnung installiert, aufrecht erhalten und legitimiert wird, aus der sich eine unbewusste Anpassung der subjektiven Bewusstseinsstrukturen an die »objektiven« sozialräumlichen Strukturen ergibt. Bourdieu sieht dies als Element der »symbolischen Macht«, über die es gelingt, »Bedeutungen durchzusetzen, indem sie die Kräfteverhältnisse verschleiert, die ihrer Kraft zugrunde liegen«.43 Darüber hinaus erinnert er daran, dass »Herrschaft über den Raum […] eine der privilegiertesten Formen von Herrschaftsausübung« bildet: »so wurde schon immer die Manipulation der räumlichen Verteilung der Gruppen in den Dienst der Manipulation der Gruppen selbst gestellt«.44
2.3 Architektur als symbolische Dimension sozialer Ungleichheit: »Geschmack« Bourdieu geht es darum, wie kulturelle Codes der Bildungseliten so eingesetzt werden, dass sie für sie selbst dank ihrer Sozialisation erreichbar sind. Während Bourdieu zunächst stark an nationalen Codes orientiert war, kritisierte er zunehmend die wachsende Internationalisierung der Codes einer »globalen Elite«. Mit Architektur wird eben nicht nur ein materielles Substrat im Sinne von Bau- und Nutzungsstrukturen hergestellt, sondern eine Symbolik. Diese symbolische Macht wird dreifach diskutiert und legitimiert: a) in der »Freiheit des Entwurfs« und des »Künstlers«; b) in der Orientierung an internationalen Standards, die von wenigen Architekturbüros bestimmt werden; c) von den »Nutznießern« der Architektur über die Identifikation mit ArchitektInnen. Schließlich identifizieren sich Städte und Regionen ihrerseits mit »bekannten ArchitektInnen«45 und setzen auf Architektur und Städtebau. Architektur ist 42 Vgl. S. Christopherson: The Fortress City; Britta Grell/Dominik Veith/ Jens Sambale: »Inner! City! Action! – Crowd Control, Interdictory Space and the Fight for Socio-Spatial Justice«, in: INURA 1998, S. 208-215; Jens S. Dangschat: »Raum als Dimension sozialer Ungleichheit und Ort als Bühne der Lebensstilisierung? – Zum Raumbezug sozialer Ungleichheit und von Lebensstilen«, in: Otto G. Schwenk (Hg.), Lebensstile zwischen Sozialstrukturanalyse und Kulturwissenschaft, Opladen: Leske + Budrich 1996, S. 99-135. 43 P. Bourdieu/J-Cl. Passeron: Grundlagen, S. 12. 44 P. Bourdieu: Physischer, sozialer, S. 30. 45 Seitdem Frank Gehry in Bilbao das Guggenheim-Museum entworfen und gebaut hat, was sich als ein großer touristischer Erfolg herausgestellt hat, 325
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damit zweifach Element sozialer Distinktion: Im Architekturdiskurs zur Objektivierung des symbolischen Kapitals (der Bilder, Images und Renderings) und im Ausdruck des gebauten Raumes zur Objektivierung des kulturellen Kapitals. Architektur trägt damit direkt zur Hierarchisierung von Orten und zu selektiven Aneignungsmöglichkeiten bei. Dies wird in Folge anhand der Ausgrenzung sozialer Randgruppen aus dem öffentlichen Raum durch landschafts- und städtebauliche sowie architektonische Qualitäten des Wiener Karlsplatzes gezeigt.
3 Der (Un-)Sicherheitsdiskurs um den Karlsplatz in Wien 3.1 Die Entwicklung der Sicherheitsdiskurse Vor etwa 20 Jahren hat ein Sicherheitsdiskurs in deutschen (und österreichischen) Großstädten eingesetzt46, verursacht durch den Konsum und Handel illegaler Drogen sowie der damit einhergehenden Beschaffungskriminalität und Prostitution. Da diese Handlungen häufig ethnisiert wurden, wurde dadurch eine zunehmende Xenophobie unterstützt. Zudem sorgten Armut, Verwahrlosung und Obdachlosigkeit sowie »abhängende« Jugendliche für weitere Verunsicherungen im öffentlichen Raum. Das Umfeld von Bahnhöfen und Fußgängerzonen wurde zu Orten einer Klientel, die Verunsicherung und Ängste auslöste. In dieser Situation suchten Kommunen die »Lösung« ihrer Probleme durch den Import von Strategien, die in New York »erfolgreich« eingesetzt wurden. Mit Argumenten, die auf der broken windows-Theorie47 aufbauen, ging man davon aus, dass baulicher Verfall im öffentlichen Raum mit sozialen Problemen Hand in Hand gehen. Ohne über Ursachen und Folgen länger nachzudenken, geht es in der Strategie, die vom damaligen New Yorker Bürgermeister Rudolph W. Giuliani in Europa angepriesen wurde, darum, die Kontrolle über den Raum wieder einzuführen. Da die an diesen Orten anwesenden sozialen Gruppen mit eigenständiger sozialer Kontrolle überfordert schienen, trat wollen viele Städte »ihren Gehry« haben, um ebenfalls an einen wirtschaftlichen Erfolg anknüpfen zu können. 46 Helge Peters: »Die Inszenierung ›Innere Sicherheit‹ – Zur Einführung in das Thema«, in: Ronald Hitzler/ders. (Hg.), Inszenierung: Innere Sicherheit, Opladen: Leske + Budrich 1998, S. 9-23; 47 Diese geht auf James Q. Wilson zurück. Sie besagt, dass eine bauliche Verwahrlosung (urban decay) mit einem sozialen Niedergang Hand in Hand gehe; daher sei es angebracht, frühzeitig und konsequent präventive Maßnahmen zu ergreifen. 326
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an deren Stelle eine institutionelle Kontrolle meist in Zusammenarbeit von Polizei und privaten Sicherheitsdiensten48 unter Einsatz technischer Hilfsmittel wie Kameras und Abhöranlagen.49 Ein wichtiger Bestandteil dieser Strategie ist Crime Prevention Through Environmental Design auf der Basis architektonischer, städtebaulicher und landschaftsplanerischer Maßnahmen, durch: – Optimierung der Sichtbarkeit an Parkplätzen, Garagen, Unterführungen, Hauseingängen (natural surveillance), – Klare rechtliche und organisatorische Trennung zwischen öffentlichem und privatem Raum (territorial reinforcement), – Eindeutige Wegführung sowie Kontrolle von Eingangssituationen (natural access control), und – Maßnahmen zur Sicherungen gegen Einbrüche (target hardening). Das bedeutet, dass mit städtebaulichen und architektonischen Maßnahmen die Ordnung im öffentlichen Raum im Sinne einzelner Gruppen hergestellt wird: »Dieses Beharrungsvermögen der Kapitalstrukturen hängt zum einen damit zusammen, dass sie sich in der Regel im Rahmen von Institutionen und Dispositionen reproduzieren, die ihrerseits Produkte von Kapitalstrukturen sind und deshalb auch auf sie abgestimmt sind; selbstverständlich wird es aber durch gezieltes politisch-konservatives Handeln noch verstärkt, nämlich durch eine Politik der Demobilisierung und Depolitisierung, die darauf abzielt, die ›Beherrschten‹ in einem bloß praktischen Gruppenzustand zu halten, so daß sie lediglich durch das Zusammenspiel von Anordnungen miteinander in Verbindung treten und dazu verurteilt sind, wie ein Aggregat zu funktionieren und auf die immer gleichen isolierten und additiven Praktiken […] beschränkt zu bleiben.«50
48 Dieser ›multi agency approach‹ hat z.B. Mitte der 1990er am Hamburger Hauptbahnhof zum Zusammenspiel von sechs Institutionen geführt: der Polizei, dem Bundesgrenzschutz, der U- und S-Bahn-Wache sowie einem schwedischen und einem niederländischen privaten Sicherheitsdienst, die sich im Rahmen EU-weiter Ausschreibungen durchgesetzt hatten. 49 Vgl. Jan Wehrheim: »Von der Urban Underclass zu Zero Tolerance. Über Armut und Polizei in US-amerikanischen Städten«, in: Forum Wissenschaft 2/1999, S. 6-11. 50 P. Bourdieu: Ökonomisches Kapital, S. 183. 327
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3.2 Das Beispiel Karlsplatz
1
2
1
U-BahnEingang/ Opernpassage
2
U-Bahn-Ein gang/Künstlerhauspassage
3
Ev. Schule
4
TU-Hauptgeb. Bevorzugter Aufenthaltsort bis 2003
Schutzzone seit 14.2.2005
3 4
Bevorzugte Aufenthaltsorte seit 2005
Karte: Lage des Karlsplatzes. Der Karlsplatz an der Grenze zur Innenstadt weist die größte Konzentration traditioneller kultureller Einrichtungen in Wien auf. An ihm liegen viele Lehr- und Kultureinrichtungen (s. Karte). Der Platz ist über die Opernpassage mit dem Opernring, dem Ort der traditionsreichen Hotels und der Innenstadt, einem Wohnort der Wohlhabenden, mit dem Naschmarkt und der Sezession verbunden. Es ist also auch der Ort der traditionellen BildungsbürgerInnen und der TouristInnen. Der Karlsplatz ist in Teilbereiche gegliedert: im Westen und Norden trennen mehrspurige Straßen die Gebäude vom eigentlichen, tiefer liegenden Platz, einer umfangreichen zusammenhängenden Aufenthaltsfläche im und um den Resselpark für unterschiedliche Gruppen (Kinderspielplatz, Skaterbahn, Ruhesitze). Der Karlsplatz ist aber auch einer der wichtigsten Umsteigebahnhöfe des Personennahverkehrs. Der U-Bahnhof ist über eine unterirdische Einkaufszone, die Opernpassage, erreichbar, von der aus UBahn sowie Straßenbahn und Bus erschlossen werden. Der Karlsplatz ist aber auch seit den 1980ern Treffpunkt einer Drogenszene (s. Abb. 1). Die Szene aus Junkies, Klein-Dealern, Alkoholkranken, Armen und Obdachlosen wurde lange toleriert und von den Mitarbeitern der Polizeiwache (in der Opernpassage) eher distanziert
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beobachtet, bisweilen nur durch das »Junkie-Jogging«51 unterbrochen. Mit dem Anwachsen der Szene wurde jedoch die Kritik umfangreicher und schärfer. Man werde zunehmend »angeschnorrt«; die Eltern der naheliegenden Evangelischen Grundschule intervenierten bei der Schulleitung. Sicher ist, dass die Szene als ein »optisches Problem« wahrgenommen wurde: sichtbare Armut, Verwahrlosung und psychische Erkrankung erzeugen Ängste und Verunsicherungen.
Abb. 1: »Szene« vor dem Umbau (bis 2002). Im Jahr 2003 wurde mit dem Umbau des Karlsplatzes begonnen, insofern er Aufenthaltsort der Drogen-Szene war, indem Beete und Bänke entfernt wurden. Stattdessen wurde vor dem Eingang zur Opernpassage ein »Toleranzbereich«, durch Blumentröge abgegrenzt, geschaffen (s. Abb. 2). Dort konnte sich die Szene aufhalten; auch wenn es ungemütlicher war: Es war ein funktionierender Treffpunkt und die Polizei konnte die Szene überblicken. Da jedoch die Klagen der Eltern von Kindern der Evangelischen Grundschule nicht nachließen, wurde auf der Basis eines neu geschaffenen Gesetzes eine Schutzzone eingerichtet (s. Karte),
51 Dieser Begriff soll nach Günter P. Stummvoll (»Junkie-Jogging am Karlsplatz. Die Schutzzone und der verrechtlichte öffentliche Raum«, in: Dérive. Zeitschrift für Stadtforschung 24 (2006), S. 20-24, 24) von der Polizei für Vertreibungen bzw. Verfolgungsjagden zwischen Polizisten und Dealern verwendet werden. 329
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in der sich bestimmte Menschen nicht aufhalten durften.52 Wer dies ist, wird ebenfalls beschrieben: potenzielle StraftäterInnen.53 Das bedeutet, dass man davon ausgeht, dass bestimmte Menschen mit einem Anfangsverdacht sich an bestimmten Orten nicht aufhalten dürfen – an anderen Orten schon. Man nutzt also eine veränderte Strafverfolgung und Rechtsprechung, für die der Ort des potenziellen Geschehens bedeutsamer ist als die strafbare Handlung selbst: Man schützt einen Ort, während die dort als Ordnungswidrigkeit eingeordneten Handlungen an anderer Stelle toleriert werden. Es geht also kaum um Kriminalitätsprävention, eher um den Schutz dieses Ortes.
Abb. 2: Verlagerung an den »provisorischen Ort«, direkt im Eingangsbereich der Opernpassage.
52 Nach § 36a, Abs. 1 des österreichischen Sicherheitspolizeigesetzes kann »die Sicherheitsbehörde […] an einem bestimmten Ort, an dem überwiegend minderjährige Menschen in besonderem Ausmaß von auch nicht unmittelbar gegen sie gerichteten strafbaren Handlungen nach dem Strafgesetzbuch [...] bedroht sind, auf Anregung mit Verordnung zur Schutzzone erklären. Die Schutzzone umfasst ein Schutzobjekt, insbesondere Schulen, Kindergärten und Kindertagesheime, sowie einen genau bezeichneten Bereich im Umkreis von höchstens 150 m um dieses Schutzobjekt«. 53 Nach § 36a, Abs. 3 ebd. sind »Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes […] ermächtigt, einen Menschen, von dem aufgrund bestimmter Tatsachen, insbesondere wegen vorausgegangener gefährlicher Angriffe, anzunehmen ist, dass er strafbare Handlungen [...] begehen werde, aus der Schutzzone wegzuweisen«. 330
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In Folge der Schutzzonen-Regelung verlagerte sich der Treffpunkt54 zwischen den Eingang zur Künstlerhaus-Passage (den »Hintereingang« des Bahnhofs) und in die Opernpassage selbst (s. Karte). Insbesondere bei schlechtem Wetter und in den Abend- und Nachtstunden wirkte die Szene in der Enge der Opernpassage bedrohlicher, weil einerseits das Passieren schon aufgrund der vielen Menschen schwieriger wurde und man unausweichlicher mit Krankheit, Verwahrlosung und abweichendem Verhalten konfrontiert wurde. Die Betreiber der Ladenlokale der Opernpassage waren über diese Verlagerung unterschiedlicher Meinung, weil es für die einen »neue Kunden«, für andere eine zusätzliche Belästigung war.55 Die Szene selbst reagierte anfangs eher empört, was zu einer Verschärfung der Situation beitrug. Der gesamte Resselpark wurde 2006 erneut umgestaltet. Das »pflegeleichte« Buschwerk wurde durch Hügelbeete ersetzt – man wollte offiziell ein mediterranes und transparentes Image erzeugen, wollte tatsächlich jedoch die Erdverstecke für illegale Drogen erschweren. In der Schutzzone wurde der Platz umgestaltet und dadurch der Aufenthaltsort zum Transitraum. In dem abschüssigen Gelände wurden Bäume in Reihen gesetzt, Lampen installiert, Sitzgelegenheiten entfernt. Die Polizeiwache wurde in ein Ladenlokal im Eingangsbereich verlagert.56 Ihr wurde die »HelpU« zur Seite gestellt, bestehend aus MitarbeiterInnen des Fonds Soziales Wien und der Wiener Linien, die soziale Konflikte im Raum niedrig schwellig bearbeiten sollen (s. Abb. 5). Die Polizeiwache wurde durch Kameras und ein automatisches »Gartentor« abgesichert. Die verglaste Front wurde mit einer Aluminium-Konstruktion versehen, die den Einblick in die Wache erschwert. Mit dieser archi-
54 Sie wird von Uwe Hincziza, Streetworker am Karlsplatz und Leiter der Einrichtung »Streetwork« auf 70-150 Menschen eingeschätzt; die Streetworker vor Ort haben täglich 250 Kontakte und tauschen 300 bis 400 Spritzen. Vgl. Günter P. Stummvoll/Christoph Gollner: »Gespräch mit Uwe Hincziza, ›Es hat sich eingespielt‹ oder ›Die Schutzzone ist kein Thema mehr‹«, in: Dérive. Zeitschrift für Stadtforschung 24 (2006), S. 25-29, 26. 55 Das Team Focus hat im Auftrag des Wiener Fonds »Soziales Wien« im ersten Halbjahr 2006 eine Nutzungsanalyse unter den Mitgliedern der Szene, unter PassantInnen und Geschäftsleuten sowie den VertreterInnen der Kultur- und Bildungseinrichtungen sowie sozialer Einrichtungen durchgeführt; vgl. Marianne Kolar/Alexandra Rajchl: Bericht Karlsplatz. Studie im Auftrag vom Fonds Soziales Wien, Wien 2005. 56 Dem Vernehmen nach soll sich eine Bäckerei-Kette, die bis dahin mit einem Verkaufs-Container in der Opernpassage vertreten war, mit 400.000 Euro am Umbau der Polizeiwache beteiligt haben. Im Gegenzug wurde ihr das ehemalige Wachlokal überlassen, das zum Backshop in bester Lage ausgebaut wurde. 331
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tektonischen Geste wurde die Grenzlinie zwischen dem Verborgenen der Ordnungsmacht und der Transparenz der kontrollierten Öffentlichkeit nicht nur funktional unterstrichen, sondern aufgrund der Materialwahl (durch scharfkantiges Aluminium) als abweisend betont (s. Abb. 3, 4).
Abb. 3: Polizeiwache mit Schutzzone (im Anschnitt), ehemaliger Treffpunkt der Szene (im Hintergrund die Evang. Grundschule, die Anlass für die Schutzzone war).
Das Ergebnis ist, dass im Namen einer bürgerlichen Öffentlichkeit, insbesondere formuliert von (anonymen) Eltern der Evangelischen Grundschule, unliebsame soziale Gruppen ›aus den Augen und aus dem Sinn‹ geschaffen wurden, denn sie können ihr abweichendes Verhalten nicht mehr dort (woanders aber schon) ausführen. Der »sozial abweichenden« Klientel ist für deren Zusammenhalt nicht nur ein Ort genommen worden, sondern es ist ihnen auch kein Ausweichort angeboten worden. Sie wurden schlicht in den Bereich knapp jenseits der Schutzzone abgedrängt, wo sie noch auffälliger und störender sind. Das hat das Aggressionspotential auf beiden Seiten erhöht. Das Ergebnis: »Das abweichen-
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de Verhalten vereinigt die aufrechten Gemüter und läßt sie zusammenrücken«.57
Abb. 4: Polizeiwache mit »befreitem« Eingang zur Opernpassage. Obwohl von den meisten Passanten die »Szene« nicht als gefährlich wahrgenommen wurde (viel eher wurde Mitleid beim – wenn auch ›unangenehmen‹ – Anblick der verelendeten und kranken Menschen zum Ausdruck gebracht58), sollen seit 2004 circa 8.000 Anzeigen erstattet und circa 500 Straftäter »behandelt« worden sein.59 Erst die Einrichtung einer Schutzzone gibt der Polizei die Möglichkeit, einzuschreiten, indem sie Personen des Ortes verweist. Im Wiederholungsfall können Geldstrafen bis zu 360 Euro ausgesprochen oder Freiheitsstrafen bis zu zwei Wochen Haft verordnet werden.60 Damit verschiebt sich die kriminalistische Logik von der präventiven Verhütung zum Schutz von Orten vor 57 Émile Durkheim: Regeln der soziologischen Methode, zit. n. Rüdiger Peuckert: »Abweichendes Verhalten und soziale Kontrolle«, in: Hermann Korte/Bernhard Schäfers (Hg.), Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie, 6. Aufl. Opladen: Leske + Budrich 2002, S. 110. 58 M. Kolar/A. Rajchl: Bericht Karlsplatz, S. 24. 59 In der Einkaufspassage kann nach § 78c StVO aufgrund eines »unbegründeten Stehenbleibens« eine Verwaltungsstrafe in Höhe bis zu 70 Euro verhängt werden; vgl. P. Stummvoll/C. Gollner: Es hat sich eingespielt, S. 27. 60 Vgl. Sandra Schneeweiß: Die Bedeutung der Videoüberwachung für die Konstitution von Räumen – am Beispiel des Wiener Karlsplatzes, Universität Wien 2007, Unveröff. Magistraarbeit. 333
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bestimmten Handlungen im Sinne einer »gereinigten Ästhetik«. Die Frage bleibt, welche potentiellen Straftaten für wen im Vorwege »sichtbar« sind und welche nicht. Und: In welchem Auftrag auf der Basis mehr oder weniger gut bestätigter Vorurteile eingegriffen wird, um die »Ordnung« zu wahren.
Abb. 5: Eingang zu Help U. Eine weitere Frage ist, welche städtebauliche Gestalt und welche ästhetische Sprache als notwendig angesehen werden, um diese »Ordnungsrufe an die Körper« wirksam werden zu lassen: mit welchen mehr oder wenigen subtilen kulturellen Codes gearbeitet wird, die bürgerliche Gruppen als angenehme Aufenthalts-, zumindest Durchgangssituationen wahrnehmen, für andere Gruppen aber ›no go areas‹ sind.61 Es geht also um die Herrschaft über den Raum unter Berufung auf das öffentliche Interesse. Um den »verloren« gegangenen öffentlichen Raum wieder zurück zu gewinnen, wird den machtlosen Gruppen die räumliche Basis ihres sozialen Kapitals genommen – das einzige Kapital, das sie haben. Die Verlagerung der Auseinandersetzung in das Feld symbolischer
61 Deswegen wurde seitens des Wiener Amtsführenden Stadtrates für Stadtplanung und Verkehr für die (durch die Anwesenheit der Drogenszene belastete) Opernpassage ein Architektur-Wettbewerb ausgelobt. Zugleich soll der Alkoholverkauf in der Passage unterbunden und die Wände mit Fotos der Hochkultur (Kulturgebäude; Fotos der Wiener Philharmoniker, der Spanischen Hofreitschule) geschmückt werden. 334
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Macht, in die architektonische (Um-)Gestaltung des öffentlichen Raumes ersetzt die normative Argumentation.
3.3 Die Reproduktion hierarchisierter Räume durch Architektur Abschließend soll die Umgestaltung des Karlsplatzes mit Hilfe der doppelten Struktur-Habitus-Praxis-Reproduktionsformel analysiert werden. Ausgangspunkt ist eine zunehmende Ausdifferenzierung der Stadtgesellschaft, die im öffentlichen Raum sichtbar wird. Da die Ungleichheiten nicht ausschließlich nach Einkommens-Kategorien bestehen, sind mit ihnen auch eine Ausdifferenzierung von Werten und Lebensstilen verbunden. Um die »alte Ordnung« wieder herzustellen, investiert man in die Gestaltung des öffentlichen Raumes. Auf die vertikal und horizontal ausdifferenzierte Gesellschaft wird vor dem Hintergrund einer überfordernden Bandbreite an Verhaltensweisen im öffentlichen Raum mit einer veränderten Form der politischen Regulation (Strafrecht) reagiert (Makro-Habitus). Diese Praktiken der Makro-Ebene ordnen den zentralen öffentlichen Raum neu, in der Neuordnung der »Schaufenster« der Stadt, ihrer »Visitenkarte« für Tourismus und Management. Auf der Ebene der Erscheinungsformen (Meso-Ebene) liegen die sozialräumlichen Settings an Bahnhöfen, an Unterführungen, auf Plätzen, in Parks, die in Konflikt mit anderen Nutzungsinteressen stehen. Der bürgerliche »Habitus des Ortes« ist durch den Aufenthalt subkultureller Gruppen dann in Gefahr, wenn die »Parallel-Existenz« vor Ort in Verunsicherung bei denen umschlägt, die sich den Ort aufgrund der Komposition ihres Kapitalvolumens ausgesucht haben. Vor dem Hintergrund begleitender architektonischer Veränderungen geht es auch darum, den innerstädtischen Plätzen einer »neuen Urbanität« einen Habitus zu geben, der die Praxis vor Ort prägt (»Politik der Lebensstile«). Um den Alltag am Ort bestimmen zu können, werden diejenigen bestärkt, die ähnliche soziale Merkmale aufweisen. Das ist die Voraussetzung dafür, dass man sich dort, wo man lebt, »zuhause« fühlt, sich mit dem Ort identifiziert; zum anderen und die Garantie dafür, sich Unerwünschtes fern zu halten. Erst in dieser »gereinigten« Mikro-Welt, unterstützt von Semiotiken der Inklusion und Exklusion wird der eigene Lebensstil durchgesetzt. So schafft der umgebaute Karlsplatz als »institutionalisierter Raum«62 ein Verhalten, ist auch dann als »Ordnungsruf« wirksam, wenn keine AkteurInnen anwesend sind.
62 M. Löw versteht in ihrer Soziologie des Raumes, S. 164 als »institutionalisierte Räume … jene, bei denen die (An)Ordnung über das eigene Han335
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4 F a z i t : Ar c h i t e k t u r u n d S t ä d t e b a u s i n d wirkmächtig – aber nicht determinierend Architektur ist als gebauter Raum und als gesellschaftlicher Diskurs Teil der an Ort und Zeit gebundenen Kulturproduktion. Bourdieu sieht vor allem in der Definitionsmacht über die gesellschaftliche Bedeutung kultureller Praktiken und Werte die Möglichkeit der oberen Klassen, ihre Position durch die Unterordnungsmechanismen der »trivialen Kultur« zu reproduzieren. Daher sollte die Bedeutung von Architektur als Kulturproduzent sozialer Ungleichheit betrachtet werden. Bourdieu hat die Gegenwart einmal als die »ästhetische Periode«63 beschrieben; und dies trifft insbesondere auf Architektur zu, insofern diese seit mehr als 20 Jahren wieder extrovertierter auftritt. Architektur dient dem Unterstreichen von Alleinstellungsmerkmalen und damit als symbolisches Kapital: von EigentümerInnen und Nutzenden, DeveloperInnen, KommunalpolitikerInnen. Architektur wird damit zur ›unique selling proposition‹ für Unternehmen und Städte, wobei Letztere diese zur ›unique local proposition‹, zum Alleinstellungsmerkmal des Ortes umzuformulieren suchen. Zum unternehmerischen Ansatz in Stadt- und Regionalpolitik gehört auch, einen »gesäuberten« Stadtraum zu schaffen, der von den »neuen Urbaniten« angenommen wird. Die Abwesenheit von Schmutz, unliebsamen MitbewohnerInnen und Gefahr soll durch die Kontrolle der städtischen Territorien sichergestellt werden. Die Sichtbarkeit dieser »Sicherheit vor Unsicherheit« wird durch ihre ästhetische Inszenierung sichergestellt. Darin wird symbolisches Kapital zur symbolischen Herrschaft. Über diese Zusammenhänge sind sich Viele kaum bewusst; auch nicht darüber, dass Funktionalität und Tauschwertorientierung an Bedeutung verlieren zu Gunsten der symbolischen Wirkung des Gebauten, die unmittelbar in ökonomisches Kapital transferiert wird. Denn die architektonische Ästhetik wird zumeist als »doppelt losgelöst« betrachtet: Vom Nutzwert und der Funktionalität sowie der Möglichkeit, ökonomischen Mehrwert zu schaffen. Sie wird rein künstlerisch diskutiert. Vor diesem Hintergrund ist »gute Architektur« das, was mit hohem kulturellem Kapital ausgestattete Einzelne als diese bezeichnen.64 Die Ardeln hinaus wirksam bleibt und genormte Syntheseleistungen (Achtung: Schutzzone; J. S. D.) und Spacing (den Ort zu meiden, J. S. D.) nach sich zieht.« 63 Pierre Bourdieu: »Die historische Genese einer reinen Ästhetik«, in: Gunter Gebauer/Christoph Wulf (Hg.), Praxis und Ästhetik. Neue Perspektiven im Denken Pierre Bourdieus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 1432. 64 Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass es kaum (keine?) empirische Forschung zur Wirkung von architektonischen Elementen auf Be336
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chitektur als Disziplin ist überwiegend selbstreferenziell. Aus der Sicht der Theorie sozialer Ungleichheit ist sie allerdings sozial distinktiv. Mike Davis hebt in diesem Sinn die Bedeutung der Architektur für soziale Schließungsprozesse hervor, indem er darauf hinweist, dass in »vielen Fällen […] die Semiotik des sogenannten zu verteidigenden Raumes ungefähr so subtil [ist] wie ein großspuriger weißer Polizist. Die schicken, pseudo-öffentlichen Räume von heute – Luxus-Einkaufspassagen, Bürozentren und so weiter – sind voll unsichtbarer Zeichen, die den Anderen aus der Unterschicht zum Gehen auffordern. Architekturkritikern entgeht zwar meist, wie die gebaute Umwelt zur Segregation beiträgt, aber die Parias – arme Latinofamilien, junge schwarze Männer oder obdachlose alte weiße Frauen – verstehen ihre Bedeutung sofort«.65
Es gibt eine lange Tradition im architektonischen Diskurs, in der an die Determination des gesellschaftlichen Handelns durch den gebauten Raum geglaubt wird. Seit Camillo Sitte 1889 von der Hoffnung ausging, dass die Gesellschaft an der Kunst des Städtebaus genesen werde66, tauchten im Selbstverständnis der Architekten immer wieder Bilder von »Hygienikern« oder »Sozialtechnokraten« auf, die eine »gute«, »bessere«, »gesunde« Gesellschaft erzeugen wollten. Der gebaute Raum bewirkt in diesem Sinne sicher kaum etwas; mit ihm kann vermutlich mehr verhindert als »erzeugt« werden. Er kann gleichwohl nahelegen, etwas zu tun oder zu unterlassen. Darüber hinaus hat er aus der Sicht Bourdieus eine nicht zu unterschätzende symbolische Macht, die soziale Unterschiede reproduziert: Architektur ist ein Mittel der Distinktion. Auf diese gesellschaftsdifferenzierende Wirkung von Architektur wäre stärker zu achten und als architectural mainstreaming bewusst einzusetzen. Wird Architektur zur Gestaltung einer »neuen Urbanität« genutzt, sollten sich die Akteure über deren selektive Wirkung bewusst sein. Wie sie sich dann entscheiden, steht in ihrer Verantwortung: Es gibt gute – gesellschaftstheoretisch durchschaubare – Gründe für jeweils unterschiedliche soziale Gruppen, den öffentlichen Raum als »das Eigene« zu markieren.
wertungsraster der Bevölkerung respektive eine Differenzierung nach sinnvollen sozialen Gruppierungen (nach Bourdieu: Habitusformen) gibt. 65 Mike Davis: City of Quartz, Berlin/Göttingen: Schwarze Risse/Rote Straße 1994, S. 262. 66 Camillo Sitte: Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen (1889), Basel et al.: Birkhäuser 2002. 337
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B i l d n a c hw e i s e Abb. 1-5: Jens Dangschat.
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Materialität und Bild. Die › Architektur der Gesellschaft‹ aus strukturierungstheoretischer Perspektive 1 MARTINA LÖW
»Architektursoziologie«, schreibt Bernhard Schäfers in seiner Einführung, »untersucht die Zusammenhänge von gebauter Umwelt und sozialem Handeln unter Berücksichtigung vorherrschender technischer, ökonomischer und politischer Voraussetzungen«.2 In dieser keineswegs untypischen Darstellung des Aufgabenbereichs der Soziologie obliegt es der Soziologie, die Effekte, die Architektur auf Handeln hat, zu rekonstruieren oder/und das doing architecture, die Herstellung von Architektur im Handlungsprozess zu analysieren. Es hat sich eine Arbeitsteilung zwischen den Disziplinen Architektur und Stadtplanung, Denkmalpflege sowie Soziologie etabliert, derzufolge die Architektur als Wissenschaft eine hohe Aufmerksamkeit auf die Bildhaftigkeit von Architektur richtet (insbesondere deshalb, weil die Architektur Zukunftsentwürfe erarbeitet, die aufgrund des visionären Charakters auf Bilder als Vermittler angewiesen ist3); die Denkmalpflege die Substanz, die es zu bewahren gilt, 1 2 3
Ich danke Peter Noller und Gerhard Vinken, deren Überlegungen zum Stadtbild in diese Ausarbeitung eingeflossen sind. Bernhard Schäfers: Architektursoziologie. Grundlagen – Epochen – Themen, Wiesbaden: VS 2006, S. 22. Peter Mörtenböck: Die virtuelle Dimension. Architektur, Subjektivität und Cyberspace, Wien: Böhlau 2001; Joseph Imorde: »Imitation als Entwurfsproblem. Der italienische Platz im Norden«, in: Bruno Klein/Paul Sigel (Hg.), Konstruktionen urbaner Identität. Zitat und Rekonstruktion in Architektur und Städtebau der Gegenwart, Göttingen: Lukas 2007, S. 99108. 343
MARTINA LÖW
im Auge behält4; und die Soziologie auf den Nutzer und die Nutzerin blickt (zuweilen auch auf den Architekten und die Architektin als professionelle Akteure). Wie immer sind solche Arbeitsteilungen entlastend, sie schaffen Spezialisierungen, aber ihnen wohnt der Verzicht inne, »das Ganze« wenigstens dem Bestreben nach in den Blick zu nehmen. Die Rolle der Soziologie ist in diesem Prozess besonders prekär: Erstens hat das Aufrufen eines Nutzers und einer Nutzerin an Glaubwürdigkeit verloren, seit viele Projekte der Bürgerbeteiligung gescheitert sind, weswegen viele ArchitektInnen und PlanerInnen der moderierenden Rolle der Soziologie im Feld von Nutzungsinteressen mit Desinteresse begegnen. Zweitens lassen sich thematische Wieder-Annäherungen zwischen Denkmalpflege und Architektur beobachten, aus denen die Soziologie bislang als Disziplin weitgehend ausgeschlossen ist5: Das Grundverständnis der modernen Denkmalpflege, substanzerhaltend, -schützend oder -pflegend zu arbeiten, sieht sich in hohem Maße konfrontiert mit einer gesellschaftlichen Nachfrage nach Bildern, speziell nach »historischen« Stadtbildern, die mit Substanzdenken nur schwer vermittelbar sind. Dementsprechend steigt die Reflexionskultur in den planenden/bauenden Disziplinen in Bezug auf die Vermittlung von Bild und Materialität.6 Der folgende Beitrag stellt sich dem Problem, dass beide Felder, die Bilder- und die Materialitätstheorie, in der Soziologie unterentwickelt sind. Ausgehend von dem Gedanken, dass eine – nach einer längeren Phase der Latenz sich neu konstituierende – Architektursoziologie ihren Gegenstand nicht unabhängig von seiner Bildhaftigkeit und seiner Materialität konstruieren kann, werden die Möglichkeiten ausgelotet, Archi-
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Gerhard Vinken: »Gegenbild –Traditionsinsel – Sonderzone. Altstadt im modernen Städtebau«, in: Ingrid Scheurmann/Hans-Rudolf Meier (Hg.), Echt – alt – schön – wahr. ZeitSchichten der Denkmalpflege, Bd. 2, Berlin/München: Deutscher Kunstverlag 2006, S. 190-201. Vgl. z.B. die von Hans-Rudolf Meier u.a. ausgerichtete Tagung an der TU Dresden zu »StadtBild und Denkmalpflege«: Sigrid Brandt u.a. (Hg.): StadtBild und Denkmalpflege. Konstruktion und Rezeption von Bildern der Stadt, Berlin/Dresden: Jovis 2008. Hans-Rudolf Meier: »Stadtentwicklung zwischen Denkmalpflege und Geschichtsfiktion«, in: Bruno Klein/Paul Sigel (Hg.), Konstruktionen urbaner Identität. Zitat und Rekonstruktion in Architektur und Städtebau der Gegenwart, Göttingen: Lukas 2007, S. 161-172. Ders. (Hg.): Denkmale in der Stadt – die Stadt als Denkmal. Probleme und Chancen für den Stadtumbau, Dresden: TUDpress 2006. Gerhard Vinken: Die neuen Ränder der alten Stadt. Modernisierung und »Altstadt-Konstruktion« im gründerzeitlichen Basel, in: Vittorio M. Lampugnani/Matthias Noell (Hg.), Stadtformen. Die Architektur der Stadt zwischen Imagination und Konstruktion, Zürich: gta 2005, S. 131-141.
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MATERIALITÄT UND BILD
tektur strukturierungstheoretisch zu deuten. Der Blick auf die Bildhaftigkeit und Materialität der Architektur ergibt sich nicht nur aus der interdisziplinären Anschlussfähigkeit der Soziologie, sondern auch und vor allem aus der gesellschaftlichen Dimension des Bilderstreites.
Strukturierungstheorie Unter dem Begriff »Strukturierungstheorie« subsumiert man vor allem die Arbeiten von und mit Bezug auf Anthony Giddens. Mit einer starken Nuancierung des Akteurs erarbeitet Giddens einen Ansatz der soziologischen Theorie, der Handeln und Struktur nicht länger als dualistisch sich gegenüber stehende Analyseebenen konzipiert, sondern stattdessen die Realisierung und Reproduktion von sozialen Strukturen im Handeln in den Blick nimmt.7 Ausgangspunkt der Theoriebildung ist die Annahme einer gegenseitigen Bedingtheit von Handeln und Struktur, weswegen der Autor von der »Dualität von Struktur und Handeln« oder auch von einer »Dualität der Struktur« spricht. Der Begriff der ›Dualität‹ bezeichnet eine Zweiheit, keine Gegensätzlichkeit, wie sie in der Rede vom ›Dualismus‹ zum Ausdruck kommt. Mit der Dualität von Struktur und Handeln wird betont, dass die »Regeln und Ressourcen, die in die Produktion und Reproduktion sozialen Handelns einbezogen sind, gleichzeitig die Mittel der Systemreproduktion darstellen«.8 In Alltagsroutinen werden – oft nicht reflektiert, sondern nur praktisch bewusst – in sozialer Bindung an konkrete Räume und Zeiten soziale Strukturen verfestigt, gepflegt und verkörpert: sie werden im Handeln hergestellt und gleichzeitig verstetigt. An die theoretische Stelle rationaler Entscheidungskonstellationen, vor denen die Individuen (etwa im Sinne der Rational Choice Theorie) im sozialen Handeln zu stehen scheinen, treten dann kontinuierliche, rekursive Handlungsroutinen. Handeln wird nach Giddens nicht über Normen definiert, sondern über regelmäßige, symbolisch wirkende Praktiken.9 Über diese Wende hin zur ›Praxis‹ hinaus wird in der Strukturierungstheorie damit aber auch die Materialität sozialer Wirklichkeit systematisch analysiert. Im routinierten und habitualisierten menschlichen Handeln entstehen, so die Annahme, Strukturen als 7 8
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Vgl. Anthony Giddens: Central Problems in Social Theory. Action, Structure and Contradiction in Social Analysis, London: Macmillan 1979. Anthony Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung, Frankfurt a.M./New York: Campus 1988, S. 70. Die Giddensche Strukturierungstheorie hat in der Praxisorientierung Parallelen zu den Arbeiten von Pierre Bourdieu. 345
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materielle Qualitäten. Der menschliche Körper und die Artefakte (wozu auch Bilder gezählt werden können) ermöglichen in ihrer Materialität das Handeln. Umgekehrt verfestigen sich im Handeln die sozialen Strukturen in dem Sinne materiell, als die Körper spezifisch geformt werden, die Artefakte typische Formate annehmen und die räumlichen Anordnungen an die Routinen angepasst werden. Die ›Dualität‹ von Handeln und Struktur ist in diesem Denkansatz kein einseitiges Ableitungsverhältnis, sondern ein permanenter Wirkungszusammenhang.
Materialiät und Bildhaftigkeit In Europa und in den USA wird seit den 1980er Jahren unter dem Stichwort der »Krise der Städte« über Phänomene wie Urban Sprawl, Ghettoisierung und Musealisierung der Innenstädte diskutiert. Leitbild dieser Debatte ist die »europäische Stadt« mit ihren klaren Grenzen gegenüber dem Umland, ihrer markanten Stadt-Physiognomie und ihrem am Marktplatz orientierten öffentlichen Raum. Im Zentrum der Krisenwahrnehmung steht der Verlust eines klar erkennbaren, ästhetisch wertvollen Stadtbildes, das unhinterfragt als Voraussetzung für ein funktionierendes Stadtleben gilt und zum Kampfplatz für politische, wirtschaftliche und soziale Interessen gerinnt. In Deutschland erhält kaum ein Themenfeld gegenwärtig so viel öffentliche Aufmerksamkeit wie die Gestaltung der Städte. Zahlreiche BürgerInnen beteiligen sich an Bürgerentscheiden zu Planungsprojekten und organisieren Kampagnen gegen (›zu moderne‹) Neubauten. Vehement und mit großer medialer Aufmerksamkeit wird etwa um das neue (alte) Bild des kaiserlichen »Krönungswegs« in Frankfurt am Main, um den Bau von Hochhäusern in Köln und München, um Brücken und Kirchen in Dresden oder um den Wiederaufbau von Schlössern in Braunschweig und Berlin gestritten. Derartige Auseinandersetzungen um das Stadtbild bilden einen aktuellen Kumulationspunkt (und Kulminationspunkt) bürgerlichen Engagements. Stadtbilddebatten, und damit vor allem Debatten um die Chancen und Risiken der modernen Architektur oder aber der ›kritischen‹ Rekonstruktion, sind in allen großen Städten der Welt als Fragen nach dem »Wie« des Zusammenlebens relevant. Eingelagert in diese Frage nach den Stadtbildern ist eine für die deutsche Gesellschaft hoch relevante Frage nach Möglichkeiten der Stadt- und Gesellschaftsentwicklung nach dem Nationalsozialismus; eine für Europa bedeutsame Frage nach den Besonderheiten der »europäischen Stadt« und ihrer ambivalenten Rolle in der Welt als ästhetisches Vorbild bei gleichzeitigem Bedeutungsver346
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lust angesichts weltweiter Tendenzen zur Herausbildung von »Megacities«; sowie eine in internationalerPerspektive sich herauskristallisierende Notwendigkeit, solche Megacities in Afrika, Asien und Südamerika nicht länger in erster Linie als Problemfälle (in Hinsicht auf Umweltkatastrophen, Unregierbarkeit, Verkehrschaos, Slums) der Stadtentwicklung zu verhandeln, sondern deren ästhetisch-soziale Formung zu beachten. Die Verquickungen von Bild- und Materialitätsfragen in Architekturentscheidungen sind vielfältig. Veduten werden zwar häufig als Quelle für die historische Rekonstruktion herangezogen, können aber nur sehr eingeschränkt als Belege für den tatsächlichen topografischen Bestand der Städte Verwendung finden, weil die Produktionen von Städtebildern traditionell ein erhebliches ideologisches, legitimatorisches und hagiografisches Strategiepotential aufweisen. Die Durchsetzung der modernen Stadt und des Funktionsparadigmas wiederum kann als Verdrängung des Bildes (und seiner Bedeutungsgehalte) aus den Räumen der Stadt gelesen werden. Die Kritik an der modernen, an der »funktionalen« Stadt formuliert sich entsprechend im Namen des »Bildes«.10 Die Architekturkritik und damit auch eine tiefe Skepsis vieler Bevölkerungsgruppen gegenüber der »modernen Architektur« richtet sich demnach gegen die Bildlosigkeit des gebauten Raums: gegen den Glauben, die »Funktion« eines Gebäudes unabhängig von der bisher tradierten Bedeutung, dem Sinn, von Gedächtnis, Orientierung und Identität und ihrer – notwendig ›bildlichen‹ – Verankerung materialisieren zu können. Eine Soziologie der Architektur steht damit vor der Aufgabe, die Materialität des Gegenstands »Architektur« in die Analyse integrieren zu müssen, ohne dessen Bildwert zu leugnen. Die Materialität teilt mit dem Raum das Schicksal, in der soziologischen Theoriebildung über lange Phasen als offensichtlich gegebene, gesellschaftstheoretisch aber wenig relevante Rahmenfigur zu erscheinen: »Until recently social sciences has had problems in thinking about materiality. Materials have unusually been present in what’s written because it’s so obvious that the world and its relations are made of materials. But, at the same time, they have also been strangely absent from it – perhaps because it is so obvious that the world is made of materials that they’ve been taken-for-granted«.11 Die große Ausnahme ist selbstverständlich Karl Marx. Die Begriffe ›Materie‹ respektive ›materielle Ba10 Am bekanntesten bei Kevin Lynch: The Image of the City, Cambridge/ Mass.: MIT 1960. 11 John Law: Materialities, Spatialities, Globalities 1999 (www.lancs.ac.uk/ fass/sociology/papers/law-hetherington-materialities-spatialitiesglobalities.pdf vom 2.10.2007), S. 2. 347
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sis‹ sind für ihn jedoch keine festen Einheiten mit definierbaren Qualitäten12; vielmehr fasst Marx unter ›Materialität‹ die Dimensionen der Praxis und der Produktion. Er grenzt dazu – gegen Hegel – das Materielle vom ›Geistigen‹ ab und definiert auf diese Weise zwei Typen von Arbeit: Hand- und Kopfarbeit. Materialität der Existenz meint dann die Lebens-»Wirklichkeit« im Unterschied zur Gedankenwelt, und verweist in diesem Sinne auf die existentielle Notwendigkeit von praktischer Tätigkeit sowie auf den Einsatz von (gesellschaftlich je unterschiedlichen) Technologien zur Beherrschung der Natur. Karl Marx hat mit diesem Materialitätsverständnis und mit seiner Betonung der Bedeutung der Materialität dazu beigetragen, dass erstens die Bedeutung der Stofflichkeit vor allem in einer Soziologie der Technik weiter diskutiert wurde.13 Zweitens führte er Materialität als produktive Kraft ein. In dem berühmten Satz, dass die »Handmühle« eine »Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten« ergebe14, schrieb Marx der technischen Sachwelt (und darin auch der Architektur) und der Technologie eine die Gesellschaftsstruktur determinierende Wirkung zu. Menschliche Existenz ist auch und wesentlich – so die zentrale Idee – über die materiellen Verhältnisse bestimmt. Auch wenn dem Gedanken in der Soziologie oft widersprochen wurde, dass der Materialität selbst eine »bewegende Kraft« innewohnt15, so hat sich im Rahmen der Akteur-Netzwerk-Theorie erneut und sehr wirkmächtig eine theoretische Perspektive etabliert, derzufolge technische Artefakte aktiv auf Handlungszusammenhänge einwirken und gar nicht ohne diese zu denken sind.16 Artefakte ›handeln‹ in dem Sinne, dass sie Veränderungen bewirken. Diese Einsicht hat die Techniksoziologie beeinflusst, den Beitrag der Technik für die 12 Georges Labica/Gérard Bensussan: Kritisches Wörterbuch des Marxismus, hg. von Fritz Wolfgang Haug, Berlin: Argument 1986, S. 854ff. 13 Werner Rammert/Ingo Schulz-Schaeffer: Technik und Handeln – Wenn soziales Handeln sich auf menschliches Verhalten und technische Artefakte verteilt, 2002 (httpwww2.tu-berlin.de/~soziologie/Tuts/Wp/ TUTS_WP _4_2007.pdf vom 2.10.2007). 14 Karl Marx: Das Elend der Philosophie (1847), Marx Engels Werke Bd. 4, Berlin: Dietz 1972, S. 130. 15 Vgl. z.B. Émile Durkheim: Die Regeln der soziologischen Methode (frz. zuerst 1895), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. Vgl. zusammenfassend zur Frage der Strukturierung der Welt durch räumlich-materielle Verhältnisse Martina Löw: »Zwischen Handeln und Struktur. Grundlagen einer Soziologie des Raums«, in: Fabian Kessl/Hans-Uwe Otto (Hg.), Territorialisierung des Sozialen. Regieren über soziale Nahräume, Opladen: Barbara Budrich 2007, S. 81-100. 16 Bruno Latour: »Mixing Humans and Nonhumans Together. The Sociology of a Door-Closer«, in: Social Problems 35 (1988), H. 3, S. 289-310. 348
MATERIALITÄT UND BILD
Aufrechterhaltung sozialer Ordnung konsequenter in den Blick zu nehmen.17 Die Frage ist, ob und wie sich eine solche Perspektive gewinnbringend für eine Grundierung der Architektursoziologie gewinnen lässt. »What buildings do« fragt Thomas Gieryn18 und findet die Antwort: Sie stabilisieren soziales Leben. Sie stehen nicht nur imposant herum, sondern werden zu Objekten der Interpretation und Erzählung, beeinflussen aber auch in ihrer materiellen Anwesenheit Handlungsabläufe. »We shape our buildings and afterward our buildings shape us« zitiert Gieryn Winston Curchill.19 Lars Frers zeigt in einer empirischen Arbeit zu Fährterminals und Bahnhöfen, wie diese durch die Formung ihrer Materialität Menschen in Handlungsabläufe zwingen, wie Abweichungen von den in Stein gegossenen Pfaden Sanktionen hervorrufen und wie die menschlichen Körper sich kontinuierlich den materiellen Körpern fügen.20 Übertragen auf Architekturen heisst dass, das diese nicht nur zu dem werden, was Menschen aktiv mit ihnen tun, sondern ihrerseits eine ›Kraft‹ (Durkheim) darstellen, die soziale Praktiken strukturiert. Architektur ist, wie Heike Delitz es ausdrückt, nicht nur der nachrangige ›Ausdruck‹ der Gesellschaft, sondern auch ein »Vergesellschaftungsmittel«.21 Gebäude sind – nicht nur, aber auch – technische Artefakte, die wesentlich über Materialitiät definiert sind. Wie alle Technologien und nichtsprachlichen ›Substanzen‹ sind sie Objekte der Interpretation, Repräsentation und Erzählung. Im Bau realisieren sich Erzählungen; ein Gebäude kann aber auch eine Erzählung unterstützen, sie hängt an ihm, an seiner Materialität.22 Als Problem stellt sich nun, dass nicht nur die Soziologie die Materialität als Themenfeld lange vernachlässigt hat23, sondern zudem gesellschaftlich die Frage der Materialität von Architektur unter die Frage ihrer Bildbedeutung untergeordnet wird. Dies zeigt sich nicht nur darin,
17 Siehe W. Rammert/I. Schulz-Schaeffer: Technik und Handeln, S. 17. 18 Thomas F. Gieryn: »What buildings do«, in: Theory and Society 31 (2002), S. 35-74. 19 Ebd., S. 35. 20 Lars Frers: Einhüllende Materialitäten, Bielefeld: transcript 2008. 21 Heike Delitz: »Architektur als Medium des Sozialen: Ein Vorschlag zur Neubegründung der Architektursoziologie«, in: Sociologia Internationalis 43 (2005), H. 1/2, S. 1-23, 8. 22 Vgl. Christian Peters: »Politische Architektur und die Sichtbarkeit der Macht«, in: Sociologia Internationalis 41 (2003), H. 2, S. 181-208. 23 Siehe als neuere Publikationen z.B. David Miller (Hg.): Materiality. Durhan, New York: Duke University Press 2005; Carl Knappett: Thinking through Material Culture: An Interdisciplinary Perspective, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2005. 349
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dass bei Bürobauten nicht selten die Abrisskosten bereits in die Baukosten einberechnet werden (womit man also die gebaute Materialität gewissermaßen von vornherein als disponibel versteht), sondern auch – und vielleicht vor allem – an der Rolle des Denkmalschutzes. Gerhard Vinken zeigt an den Fallbeispielen der Altstädte von Basel und Köln, dass im 20. Jahrhundert eine Sanierungspraxis ihren Höhepunkt erreichte, welche sich in erster Linie auf bildhafte Werte konzentrierte.24 Unter dem Einfluss der Heimatschutzbewegungen erweiterte sich der Denkmalbegriff um die Vorstellung, dass das »Stadtbild« zu schützen sei. Vinken zeichnet nach, wie sich die Altstadt sukzessive als eine Zone des Städtebaus herausbildete, der allein die Bildhaftigkeit abzielte. Nimmt man ernst, dass die Denkmalpflege doch ursprünglich – seit Dehio und Riegl25 – auf den Substanzschutz, das heißt auf den Erhalt der materiellen Qualität verpflichtet war, dann ist eine Sanierungspraxis, welche auf die Modernisierung des Bildes zielt, ein Hinweis auf eine tiefgreifende gesellschaftliche Veränderung. »Ziel der Sanierung ist nicht substantieller Schutz und auch nicht historische Treue – mit den Implikationen des Widersprüchlichen, Zufälligen, Vieldeutigen – sondern die ästhetische Vermittlung ihrer ›Gestalt‹, eines idealisierten und homogenisierten Blicks«.26 Das heisst konkret, dass Dächer und Fenster vereinheitlicht, die Spuren der Industrialisierung und des Historismus getilgt und Neubauten in unspezifischem Heimatstil erbaut werden. Vinken zeigt, dass im Namen des Bildes fortan eine heterogene Gebäudesubstanz von unterschiedlichem Alter und damit auch differierendem Einfluss auf Handlungsabläufe einer Homogenität, Prägnanz und Eindeutigkeit unterworfen wird. Dies gilt beispielsweise auch für den Wiederaufbau der zu 95 Prozent vom Krieg zerstörten Stadt Köln. Als Bild soll das ›Wesen‹ und der Charakter dieser Stadt (wieder-)hergestellt werden. Demgegenüber ist die ›Materie‹ im Sinne der historischen Bausubstanz im gesellschaftlichen Bewusstsein als Bedeutungsträger sekundär. Letztlich scheint also unterstellt zu werden, dass es bei der Architektur nicht auf die Materialität ankommt, sondern allein auf die visuelle Dimension. Auch heute rechtfertigt zum Beispiel der Frankfurter Planungsamtsleiter Dieter von Lüpke die Entscheidung, dass auf dem Grund des abzureißenden Technischen Rathauses am Frankfurter Römer weitere Altstadt-Häuser nach alten Postkar-
24 Gerhard Vinken: Sonderzone Heimat. Altstadt im modernen Städtebau, vorauss. 2009. 25 Georg Dehio/Alois Riegl: Konservieren, statt restaurieren. Streitschriften zur Denkmalpflege um 1900, Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg 1988. 26 G. Vinken: Sonderzone Heimat, S. 114. 350
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tenmotiven aufgebaut werden sollen, damit, dass die »Profilierung des Stadtbildes [...] in Frankfurt besonders wichtig« sei.27 Diese Zuspitzung und Vereinseitigung der architektonischen Aufgabe auf die Herstellung von Bildqualitäten ist nicht auf die Altstädte begrenzt. In der Architekturtheorie wird seit der Postmoderne dem bildhaften Verfahren insgesamt wieder Augenmerk geschenkt.28 Die Produktion, Rezeption und Vermarktung architektonischer Bilder dient für diese Architekturtheorie der Formierung der ›Stadt der Zukunft‹. Weltweit ist derzeit zu beobachten, wie die Städte (trotz ihrer Differenzen) mit Hilfe von Bildern gezielt versuchen, sich ein ›Label‹ zu geben: ihre Besonderheit herauszustellen, um im globalen Konkurrenzkampf um TouristInnen, KonsumentInnen, hochqualifizierte Arbeitskräfte sowie neue EinwohnerInnen zu werben. Architektur wird zunehmend in diese städtischen Imagekampagnen eingespannt. Die Konkurrenz um das höchste Bauwerk, um StararchitektInnen und um das publicityträchtigste, signalwirksamste »signature building« prägt die Entscheidungen der Stadtentwicklung. Die Bilder, welche die Architektur schafft, sollen Standortvorteile bieten und verteidigen. Die Produktion und Rezeption städtischer Bilder trägt in diesem Diskurs wesentlich dazu bei, die Identität und imaginierte ›Einheit‹ der Stadt zu organisieren und touristisch zu vermarkten. Berücksichtigt man, dass der Bildbegriff gleichzeitig die mentale Aktivität (sich ein Bild machen) und die technisch-künsterlerische Produktion (das physische Bild) bezeichnet, dann sind das Architektur- und Stadtbild zunächst eine Leistung der Imagination, welche aber durch zirkulierende physische Bilder unterstützt wird. Die Bezeichnung »Architekturbild/Stadtbild« kann im Sinne der Erscheinung eines Gebäudes respektive einer Stadt einschließlich ihrer charakteristischen Elemente und Strukturen gewendet werden: Das Bild gilt hier als Träger des Charakteristischen und Spezifischen, das die Gewordenheit, aber auch die projizierte ›Identität‹, das Ideal einer Form repräsentiert. Das Bild ist auf diese Weise ein Medium, welches die Defizite der technischen Moderne vor Augen führt, weil in der Suche nach Bildhaftigkeit auch die Suche nach dem Ortsbezug und einem Charakter eingewoben ist. Bilder dienen der Idealisierung und Vermarktung homogenisierter Städte und sind Teil der global homogenisierenden Praktiken (globaler Bilderfundus und -export); gleichzeitig wird in der Forderung nach Bildhaftigkeit der Ar27 Claus-Jürgen Göpfert/Claudia Michels: »Interview mit Dieter von Lüpke. »Ich erwarte, dass die neue Altstadt Identität stiftet«, in: Frankfurter Rundschau vom 19.05.2007, S. 24. 28 Heinrich Klotz (Hg.): Die Revision der Moderne. Postmoderne Architektur 1960-1980, Frankfurt a.M., München: Prestel 1984. 351
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chitektur dem Homogenisierungsdruck aber auch subversiv begegnet: insofern die Forderung sich gegen das immer gleiche Erscheinungsbild richtet und das Besondere sucht. Das Bild im Kontext der Architektur ist sowohl Agent als auch Kritik an der weltweiten Homogenisierung.
S t a d t u n d Ar c h i t e k t u r strukturierungstheoretisch denken Stadt und Architektur sind in der Dimension der Bildhaftigkeit aufeinander verwiesen: Das Stadtbild braucht die Architektur, um sich zu formen; die Architektur wird über ihre Bildersprache bewertet. Die disziplinär eingeführte Unterscheidung zwischen Stadtplanung und Architektur war immer unpräzise, weil die Gegenstandsbereiche kaum zu isolieren sind.29 Es empfiehlt sich demnach nicht, sie soziologisch in einer Spaltung zwischen Architektur- und Stadtsoziologie zu wiederholen. Vielmehr kann Stadt und Architektur strukturierungstheoretisch gleichermaßen darüber erfasst werden, dass beide sozial konstruierte, technisch-materielle Gefüge sind, die nicht nur Ergebnis von und Zwang zur Praxis sind, sondern aufgrund variierender Materialitäten diese Praxis auch different formen und in ihr bildhaft interpretiert werden. Zur Gegenstandsbestimmung der Architektursoziologie liegt es demzufolge nahe, ein gemeinsames Drittes zu suchen. Stadt- und Architektur vereint, dass sie über das Aufspannen von Raum gedacht werden.30 »Die Geschichte der Baukunst« schreibt August Schmarsow 1894, »ist eine Geschichte des Raumgefühls«.31 Über den Raum werden Stadt und Architektur als Formationen gedacht, welche nur in der Bewegung erfahren und hergestellt werden können. Um Architektursoziologie aus der Dynamik der Räume, ihrer Prozesshaftigkeit, ihrem Gewordensein, ihrer Vielfältigkeit, aber auch aus
29 Daniel Libeskind: »Stadt und Sein«, in: Timo Beyes u.a. (Hg.), Die Stadt als Perspektive. Zur Konstruktion urbaner Räume, Ostfildern: Hatje Cantz 2006, S. 32-43. 30 Vgl. zusammenfassend zur Bedeutung des Raums in der Architektur Dirk Baecker: »Die Dekonstruktion der Schachtel: Innen und Außen in der Architektur«, in: Niklas Luhmann/Frederick D. Bunsen/Ders., Unbeobachtbare Welt: Über Kunst und Architektur, Bielefeld: Haux 1990, S. 67-104; sowie August Schmarsow: »Das Wesen der architektonischen Schöpfung« (zuerst 1894, Auszug), in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 470-484. Zur Bedeutung von Raum für die Stadt Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001. 31 A. Schmarsow: Das Wesen, S. 482. 352
MATERIALITÄT UND BILD
ihrer Strukturierungskraft zu begreifen, schlage ich vor, die Giddensche Erkenntnis einer Dualität von Struktur und Handeln auf eine Dualität von Raum auszuweiten.32 Das bedeutet, konzeptionell davon auszugehen, dass räumliche Strukturen eine Form von Handeln hervorbringen, welches in der Konstitution von Räumen eben jene räumlichen Strukturen reproduziert. Die Rede von einer Dualität von Raum bringt so die Überlegung zum Ausdruck, dass Räume nicht einfach nur existieren, sondern dass sie im Handeln geschaffen werden und als räumliche Strukturen, eingelagert in Institutionen, Handeln steuern. Menschen handeln in der Regel repetitiv, das heisst, sie gewöhnen sich Routinen an respektive erlernen Routinen, die ihre Aktivitäten in gewohnten Bahnen verlaufen lässt. Sie müssen nicht lange darüber nachdenken, welchen Weg sie einschlagen, wo sie sich platzieren, wie sie Waren lagern und wie sie Dinge und Menschen miteinander verknüpfen. Sie haben ein Set von gewohnheitsbedingten Handlungen entwickelt, welches ihnen hilft, ihren Alltag zu gestalten. Um dies genau zu verstehen, hilft die von Anthony Giddens vorgeschlagene Unterscheidung in diskursives Bewusstsein (jene Sachverhalte, die Handelnde in Worte fassen können) und praktisches Bewusstsein, welches das Wissen (auch im körperlichen und emotionalen Sinn) umfasst, welches Handelnde im Alltag aktualisieren, ohne auf bewusste Reflexionsprozesse zurückzugreifen. Beide Bewusstseinsformen werden im alltäglichen Handeln ergänzt durch das Unbewusste, durch verdrängte Motive des Handelns. Die Konstitution von Raum geschieht in der Regel aus einem solchen praktischen Bewusstsein heraus. Das zeigt sich besonders darin, dass Menschen sich selten darüber verständigen, wie sie Räume schaffen. In der fortwährenden wechselseitigen Konstitution von sozialem Handeln und sozialen Strukturen entstehen Räume als Ergebnis und Voraussetzung des Handlungsverlaufs. Räume sind, da sie im Handeln entstehen und auf Konstruktionsleistungen basieren, stets sozial. Platzierte Objekte, welche zu Räumen verknüpft werden, sind zunächst materiell. Diese Materialität ist jedoch nicht als »reine«, »unbeeinflusste«, gar »natürliche« erkenn- oder erfühlbar; sie steht nicht jenseits des Sozialen. Als vergesellschaftete Wesen nehmen Menschen vielmehr auch die Materialität durch ihr je tradiertes System von Sinn- und Bildgebungen wahr. Nimmt man Giddens’ Kategorie der Dualität von Handeln und Struktur ernst, dann steht als Anfangsannahme einer solchen Architektursoziologie demnach, dass Raum als »Anordnung« (im Sinne von Potential und Zwang) sozial strukturierend wirkt, und diese sozialen Strukturen im Akt der »Platzierung« (den Prozess des Errichtens, Bau32 Vgl. ausführlich M. Löw: Raumsoziologie, S.152ff. 353
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ens oder Positionierens) und »Synthese« (aktive Verknüpfung platzierter Elemente über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse) zugleich stets individuell und kollektiv hergestellt werden. Nicht jede Platzierung ist allerdings schon strukturbildend. Struktur ist mehr als die individuelle Handlung. Vor allem aber ist Raum selbst eine gesellschaftliche Struktur, insofern er die Ordnung des Nebeneinanders zum Ausdruck bringt. Als solche ist er sozial- und kulturwissenschaftlich von besonderem Interesse: in seiner Verwirklichung im Handeln (und dies auch im subversiven Sinn). Die materiale Qualität von Räumen trägt dabei zur Strukturierung der sozialen Praxen wesentlich bei. Bilder als symbolische Verdichtungsleistungen überlagern ihrerseits die Materialität der Räume; ihre Wirkung kann jedoch nur kontextualisierend verstanden werden. Sie bieten Deutungsmuster an, die als »visuelle Argumente«33 ihre politische, historische und normative Bedeutung im Sozialen entwickeln und soziologisch an die Materialität der Raumkonstitution rückgebunden werden müssen. Die Materialität der Stadt kann dann als raum-zeitlicher Gedächtnisspeicher baulich und landschaftlich historisch gewachsener Eigenheiten gedacht werden, der das unverwechselbare materiell-physische Substrat für die sinnlich-körperliche Erfahrung eines Ortes ausmacht. Während sich in den textbasierten Wissenschaften nach wie vor eine im europäischen Bildungskontext tief verwurzelte Privilegierung von (hermeneutisch gedachtem) Text-Sinn als Bedeutung und Tiefe artikuliert, die das Bild als Verflachung und Vereinfachung abqualifiziert, hebt der »pictorial«34 oder »iconic turn«35 das Wahrnehmungs- und Erkenntnispotential des Bildes hervor. Bilder werden interpretationsbedürftig. Die als spatial turn gefasste Denkbewegung wiederum diskutiert den Raum als grundlegende Formung und materiell fundierte Relationenbildung gesellschaftlicher Alltagspraktiken und Erzählpraxis. In der Architektursoziologie wird es möglich, so möchte ich zuspitzen, »iconic« respektive »pictural turn« und »spatial turn« in einer Weise zusammenzuführen, dass der Ortsbezug von Bildern sowie die Leistungsfähigkeit von Bildern für die Herstellung von Räumen und für die (Sozial-)Strukturbildung durch Räume in den Blick genommen werden kann.
33 Dieter Mersch: »Visuelle Argumente. Zur Rolle der Bilder in den Naturwissenschaften«, in: Sabine Maasen u.a. (Hg.), Bilder als Diskurse, Bilddiskurse, Weilerswist: Velbrück 2006, S. 95-116. 34 William J. T. Mitchell: Picture Theory. Essays on Verbal and Visual Representation. Chicago/London: University of Chicago Press 1994. 35 Gottfried Boehm: »Die Wiederkehr der Bilder«, in: Ders. (Hg.), Was ist ein Bild? München: Fink 1994, S. 11-38. 354
MATERIALITÄT UND BILD
Das Darmstädter Staatstheater
Abb. 1: Darmstädter Stadttheater. Im nahezu völlig vom Krieg zerstörten Darmstadt wird 1961 ein Theaterneubau beschlossen, welcher Großes und Kleines Haus, Werkstattbühne, Werkstätten, Magazine, Aufenthaltsräume sowie Verwaltungsräume unter einem Dach unterbringt. Den bundesweiten Wettbewerb gewinnt Rolf Prange. Das fast 40.000 Quadratmeter große kubische Gebäude ist in der Außenansicht durch eine weitgehend konturlose durchgehende Fassadenfläche gekennzeichnet, welche von zwei monumentalen Würfeln gekrönt wird. Mit Materialien wie Sichtbeton, Marmorverkleidung und Wellblech trägt der Bau die Zeichen der Moderne. Zur Fertigstellung des Baus nach 10jähriger Bauzeit – nun unter dem Label »Staatstheater« – schreibt Rolf Prange in der Festdokumentation36, dass »optimale funktionale Zusammenhänge« im Vordergrund der Planung gestanden hätten. Er vergleicht den Theaterbetrieb mit einem Industriebetrieb und betont, dass wirtschaftliches Denken und Arbeiten unerlässlich seien. »Nicht zuletzt gehörte es zu unseren Zielvorstelllungen, den gesamten Baukörper – innen wie außen – mit möglichst wenigen, einfachen und preisgünstigen, aber dauerhaften Materialien zu gestalten«.37 Auf den vier Seiten, die Prange in der Dokumentation zur Verfügung stehen (davon zwei Seiten Zeichnungen), betont der 36 Rolf Prange: »Planung«, in: Staatstheater u. Staatsbauamt Darmstadt (Hg.), Staatstheater Darmstadt, Langen o. J.: R. Schulze (1972), S. 3-6, 3. 37 Ebd., S. 5. 355
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Architekt ausnahmslos den rationellen und funktionalen Charakter des Baus. Die Garderobe mit Servicepersonal wird etwa durch einfache, schmale Schränke (Spinds) ersetzt. Entsprechend der Darmstädter Stadtplanung zur »autogerechten Stadt« und durch die Hanglage begünstigt öffnete sich das Gebäude zur Stadt hin über die Tiefgarage. Mit eigener Busspur ausgestattet diente der gesamte Unterbau des Theaters als Parkgarage. Man betritt also das Gebäude von unten.
Abb. 2: Eingang zum Staatstheater Darmstadt 1972. An die Stelle eines Eingangstors spricht Prange von der »Portalzone«.38 Er charakterisiert seine Idee zu dieser Zone als die Herausforderung, einerseits variabel genug zu bauen, um multitfunktionale Nutzungen möglich zu machen; und andererseits eine »Wartehallen«-Funktion zu erfüllen. Die Portalzone wird von Prange als Innenraum gedacht. Er stellt sich damit nicht das Problem, wie das Gebäude sich zur Stadt verhält respektive wie über das Portal der Übergang organisiert wird, sondern sieht das Problem mit der Motorisierung gelöst. Der Besucher und die Besucherin scheinen selbstverständlich mit dem Automobil oder Bus vorzufahren. 34 Jahre später wird der Theaterbau ein zweites Mal eröffnet. Um technische Mängel zu beseitigen, aber auch weil man das Theater »mit einem Male als hässlich« empfand, »denn es passte nahtlos in das Klischee einer tristen, grauen Betonarchitektur«39, wird Arno Lederer mit dem Umbau beauftragt. Tatsächlich zeigt sich in einer 2004 durchge-
38 Ebd. 39 Arno Lederer: »Ein grosses Haus, mitten in der Stadt«, in: Hessisches Baumanagement (Hg.), Staatstehater Darmstadt in neuem Gewand, Frankfurt a.M.: Selbstverlag 2006, S. 38-39. 356
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führten Studie zur Wahrnehmung des Staatstheaters Darmstadts40, dass das Gebäude im Unterschied zu den Werkinszenierungen ausgesprochen schlecht bewertet wird. In Bezug auf die Frage, was am Staatstheater Darmstadt stört, sind die Antworten der verschiedenen Fokusgruppen (TheatergängerInnen; GelegenheitsgängerInnen, NichtbesucherInnen) relativ ähnlich: Der zentrale Kritikpunkt ist das optische Erscheinungsbild des Staatstheaters Darmstadt. Der funktionale Bau wird nicht nur als nicht schön, sondern als geradezu hässlich empfunden und als »Betonklotz, der sehr kalt wirkt« beschrieben. Eine gelegentliche Theatergängerin bezeichnet das Staatstheater gar als einen »Stasiklotz«, in dem man das Gefühl habe, nicht atmen zu können. Die Atmosphäre wirke bedrückend. Der Bau sei abweisend und die gelegentliche Theatergängerin hat das Gefühl, das Staatstheater würde zu ihr sagen: »Komm nicht zu mir«. Als Problem wird durchweg deutlich, dass das Theater heute im Kontext von ›Luxus‹, Glamour und Event situiert wird. Ein moderner funktionaler Bau, der das Theater als ›Betrieb‹ in einem Zusammenhang mit industrieller Fertigung denkt, ist mit dieser Erwartungshaltung nicht in Einklang zu bringen. So beschreibt eine junge Theatergängerin Theater wie folgt: »Theater ist für mich was Glamouröses. Das hat für mich mit Luxus zu tun, ja. Und Luxus kann man unheimlich gut genießen«. Ein klassizistischer oder barocker Theaterbau wird als idealer Kontext für einen Abend im Theater entworfen. Dort scheint der geeignete, festive räumliche Kontext geboten. In Darmstadt ist es die (rekonstruierte) alte Oper in Frankfurt am Main, die zur Referenz für die ideale Spielstätte wird. Ein »Theater-Nichtbesucher« fasst entsprechend zusammen: »in der Alten Oper, irgendwas, könnt ich mir vorstellen, eher mal wieder nach Frankfurt dann zu gehen und mir ein Theater oder eine Oper oder eine Operette anzusehen, weil das ganze Haus innen drin auch schöner ist, find ich, wie jetzt hier in Darmstadt. Also Darmstadt, glaub ich, brauch ich nicht«. Dass Prange seinen Bau von der Funktion her denkt und Sinn, Gedächtnis und Identität sowie das Außergewöhnliche und den Luxus in der baulichen Gestaltung verweigert, führt über die Jahrzehnte zur starken Ablehnung der baulichen Gestalt. Wer Luxus sucht, will nicht über die Parkgarage eintreten. Die Materialität des ungestrichenen Betons, die
40 Martina Löw u.a.: »Wie machen wir’s, dass alles frisch und neu und mit Bedeutung auch gefällig sei?« Eine empirische Untersuchung zu Freizeitund Theaterkompetenzen von Darmstädter Bürgern und Bürgerinnen. 2004 (http://raumsoz.ifs.tu-darmstadt.de/forschung/fo02-projekte/bericht/ theater.pdf. vom 2.10.2007). 357
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Pfade der Tiefgarage zwingen zu Handlungsabläufen, deren Akzeptanz so weit schwindet, dass ein Umbau in Auftrag gegeben wird. Die soziale Ordnung, die sich im Bau der 1970er Jahre realisieren sollte, war Gleichheit. Es wurde in der architektonischen Gestaltung keine Differenz zwischen Fabrik und Theater gemacht; man betrat das Gebäude wie ein Kaufhaus durch die Tiefgarage. Die feinen Unterschiede auch zwischen den Einzelnen wurden von der Architektur nicht betont, sondern verwischt. Das zeigt sich auch an der Gestaltung der Zuschauerräume. Auf Logen wurde völlig verzichtet; jede/r saß auf dem gleichen Stuhl. Dass der Sitzplatz je nach Position unterschiedlich viel kostete, war das einzige Zugeständnis an die kapitalistische Klassengesellschaft. Wenn heute der Garderobenbereich eine Atmosphäre »wie im Schwimmbad« (wie es eine Theatergängerin kritisch formuliert) habe; wenn die Fassade mit dem Charme einer »Müllverbrennungsanlage« verglichen wird, dann deutet das nicht einfach auf eine Wiedereinführung des Strebens nach hierarchischer Gliederung hin. Vielmehr wird die räumliche Umsetzung des demokratischen Willens in einer der zentralen Institutionen des Bildungsbürgertums in einem Maße als selbstverständlich erachtet, dass jede/r für einen Abend lang den Anspruch erhebt, Bildungsbürger spielen – und damit sein – zu dürfen. Wie in der Konstruktion der Altstadt, so wird auch von dem Theaterbau die Herstellung von symbolischen, sozialkonstitutiven Bildqualitäten erwartet. Das Staatstheater hat reagiert und sich (vorerst) für den Vorbau eines neuen Portals entschieden. Der neue Eingangsbereich ist plastisch geformt. Wie der Architekt Arno Lederer betont, gilt es, das Bauwerk zur Stadt zu öffnen. Das Portal soll als einladende Geste wirken. Tatsächlich ist die Sprache des Portals allerdings irreführend: da der Eingang zwar betont, aber nicht inszeniert wird. Vielmehr ist es eine trichterförmig sich ausweitende Loggia, die dem Zuschauer und der Zuschauerin in der Pause den Blick auf die Stadt gönnt. Gleichzeitig wirkt die Loggia von außen aber wie ein Bildschirm: sie überträgt wie auf eine Leinwand das Pausengeschehen in die Stadt. Der Ort wird durch die Raumkonstitution im Grenzbereich öffentlich. In einer zweiten Befragung Darmstädter BürgerInnen nach dem Umbau41 zeigt sich, dass dieser als deutlicher Gewinn, aber nicht als zufrieden stellende Lösung interpretiert wird. Nun nach dem Image des Staatstheaters Darmstadt befragt, antworten viele Befragte mit Traditionserzählungen (»[D]es Weiteren weist das Staatstheater einen hohen
41 Martina Löw/Silke Steets/Sergeij Stoetzer u.a.: Das Image des Staatstheaters Darmstadt. Eine empirische Untersuchung der Meinungen und Erfahrungen, TU Darmstadt 2007 (www.raumsoziologie.de). 358
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Traditionswert auf, der bis zu Georg Büchner reicht«). Ein Politiker kommentiert die Idee, Darmstadt als Theaterstadt zu denken, indem er ausführt: »Darmstadt würde damit im einundzwanzigsten Jahrhundert an die Tradition von Großherzog Ludwig anknüpfen und diese in die Zukunft hinein retten«. Der Darmstädter Oberbürgermeister Walter Hoffmann bezieht sich in einer Rede zum Festakt anlässlich der Wiedereröffnung des Großen Hauses im Staatstheater Darmstadt im September 2006 ebenfalls auf den Großherzog: »Ich will hier nur kurz erinnern an Darmstadts große Theatertradition: Vom Großherzoglichen Hoftheater angefangen, Großherzog Ludwig I. sei Dank, der ein großer Theaterliebhaber war [...] Erinnert sei auch an Darmstadts große OpernTradition. An den legendären Darmstädter Hofkapellmeister Christoph Graupner, dem Zeitgenossen Bachs und Telemanns. Graupner wirkte weit über Darmstadts Grenzen hinaus«. Auch Ruth Wagner (Staatsministerin und stellvertretende Ministerpräsidentin des Landes Hessen a. D.) hebt in ihrem Grußwort zum 30-jährigen Geburtstag des Staatstheaters Darmstadt die »lange, gute Tradition« hervor.42 Sie beschreibt, wie sich das Darmstädter Staatstheater aufgrund des Bemühens Großherzog Ludwigs I. zum Bürgertum öffnete und nicht mehr länger nur die »privilegierte Hofgesellschaft« Zugang hatte. Die Gegenwart des Staatstheaters wird heute also aus einer vormodernen Vergangenheit heraus beschrieben: es wird das Image aus einer die gesellschaftlichen Brüche ignorierenden Tradition begründet. Während der Neubau von Prange bewusst keine eindeutige Beziehung zur Vergangenheit herstellte, sondern in der Modernität und Funktionalität der Hinwendung zur Zukunft und dem Abwenden von der Vergangenheit Ausdruck verleihen wollte, wird nun der Gedanke an eine vormoderne Vergangenheit der Stoff, aus dem Kritik an Bildlosigkeit und fehlender Inszenierungskultur formuliert wird. Das Staatstheater hat mit dem »Kussmund« (wie das Portal zuweilen beschrieben wird) gleichwohl versucht, ein unverwechselbares, zeitgenössisches Bild zu platzieren. Statt der technischen Moderne soll der Charakter und der Stadtbezug gestärkt werden. Der bildhafte Vorbau überlagert nun die Materialität des kubischen Baus, macht jedoch dessen Aussage und Erleben nicht unmittelbar vergessen. Auch nach dem Umbau bescheinigen die EinwohnerInnen der baulichen Gesamterscheinung des Theaters mangelnde »Authentizität«: es wirke unecht, wie ein »hilflos geliftetes Gesicht«. Das Theater wird beschrieben als »ein riesiger Kasten«; von außen sei es eine Mischung aus »Hochregallager«, überdimensioniertem »Aktenschrank« und gigantischem »Tresor«, ein »grauer 42 Presseamt Darmstadt: Darmstädter Dokumente, Darmstadt 2002, S.10. 359
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Betonklotz« und »Betonwürfel«. Die Fassadenarbeiten und die Renovierungen werden von den Darmstädter BürgerInnen gewürdigt, deshalb »lieben« sie den Bau aber noch lange nicht.
Abb. 3: Staatstheater Darmstadt. Neues »Portal«. Um es zu pointieren: Der Bau des Darmstädter Staatstheaters kann als Beispiel für die zeitgenössischen Versuche gesehen werden, die Materialität mit Bildqualitäten zu überschreiben. Er ist aber gleichzeitig auch ein Beispiel dafür, dass die künstlerisch-technische Produktion von Bildern auf mentale Aktivitäten des Sich-ein-Bild-Machens trifft, welche mit Erinnerungen und Wissen unterlegt sind. Die Routinen der Raumkonstitution im alten Theaterbau wirken in den Bewertungen der Darmstädter BürgerInnen ebenso fort wie die modernen Formen und das Streben nach Traditionsinszenierung. Als Dualität von Raum beschreibbar, existiert somit eine Parallelität der Reproduktion der strukturellen Organisation von Abläufen und routinierter Reproduktion. Der Bau des Staatstheaters durchbricht die Routinen, wenn Darmstädter BürgerInnen einen Ort finden wollen, an dem nicht nur Stücke inszeniert werden, sondern der Abend zum luxuriösen Event wird und sie dann einen funktionalen Bau betreten, der das Theater einem industriellen Betrieb gleichsetzt und es in die Normalität des Alltags eingliedert. Um den nicht zu kittenden Gegensatz zwischen Traditions-Ereignis und funktionaler Architektur genau zu jenem irritierenden Stolperstein werden zu lassen, den Kunst häufig sucht, um zu irritieren und zu bewegen, hätte es öffentlicher Architekturdebatten bedurft. Tatsächlich würdigen nicht einmal diejenigen TheatergängerInnen, die avangardistische
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Inszenierungen präferieren, den Bau von Rolf Prange für seine Distanz zum durchschnittlichen oder ›populären‹ Geschmack. So blieb undiskutiert, ob im Staatstheater als Ort der Kunst nicht gerade die Spannung zwischen der von Gerhard Vinken analysierten Erwartung an eine homogenisierende Inszenierungsbebauung und die Wut auf die harte funktionale Materialität produktiv hätte genutzt werden können; ob also, wenn Raumkonstitution sich aus der Dualität von Handeln und Struktur ergibt, nicht gerade die Kunst die Aufgabe hätte übernehmen können, gegenkulturelle Raumkonstitutionen43 und damit Raumverunsicherungen gezielt zu produzieren und zu thematisieren. Stattdessen wird mit dem erneuten Umbau versucht, die Dissonanz zwischen Raumerfahrung und Raumerwartung zu harmonisieren. Zeitgenössisch beliebte, von Computergrafik inspirierte, mit Bildschirmassoziationen aufgeladene Rundungen werden gegen die kubische Form gesetzt. Die Auftraggeber wählen damit den Weg, die Potenz der Materialität abzufedern. Wie die Umfrage zeigt, besänftigt der Versuch die BürgerInnen. Befriedet ist der Konflikt damit nicht. Zusammenfassend bedeutet dies, dass Bild und Materialität sich überlagernd und gegenseitig in Dienst nehmend in die Raumkonstitution einfließen. Durch die Bezugnahme auf den konkreten Ort in der Architektur werden Bilder stets materiell gebunden, gleichzeitig leisten diese Bilder Deutungsangebote und bieten den Schauplatz für Deutungsstreits in der Herstellung materieller Räume. Die Soziologie kann diese beiden konstituierenden Aspekte von Architektur (Bild und Materialität) unter der Perspektive eines strukturierungestheoretischen Ansatzes als Praxis konzipieren. Damit wird die Herstellung von Architektur als stukturierende und zu reprodzierende Leistung begriffen, welche in ihren Platzierungen und Syntheseangeboten stets sozial zu verhandeln ist.
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43 Vgl. zum Begriff der gegenkulturellen Räume M. Löw: Raumsoziologie, S. 183ff. 361
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B i l d n a c hw e i s e Abb. 1 und 3: Barbara Aumüller. Abb. 2: Angelika Seng.
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Architekturs oz iologie. Zur Geschichte einer Disziplin BERNHARD SCHÄFERS »Architektur wird erst vollkommen durch die Vermittlung des Menschen, der sie erlebt.« Tadao Ando
1 Z u m G e g e n s t a n d d e r Ar c h i t e k t u r s o z i o l o g i e Aus soziologischer Sicht liegt das erkenntnisleitende Interesse an der Architektur in der Relevanz der gebauten Umwelt für die Strukturierung des sozialen Handelns. Zugleich verweist die Omnipräsenz von Bauwerken sehr verschiedener Art nicht nur auf die Vielzahl menschlicher Aktivitätsfelder wie Wohnen und Arbeiten, sondern auch auf Kulturstufen und die dem Boden eingeschriebenen Ausprägungen der Besitz- und Herrschaftsverhältnisse. Die Hervorbringungen der Architektur respektive des Städtebaus sind somit der sichtbarste Ausdruck des sozialen und kulturellen Wandels. Diese »architektonischen sozialen Fakten« – wie man in Anlehnung an Émile Durkheims faits sociaux sagen könnte – finden auch in jenen speziellen Soziologien zu wenig Berücksichtigung, in denen die »Definition der Situation« ganz wesentlich von räumlichen Konstellationen abhängt, zum Beispiel in der Soziologie der Bildung und Erziehung, der Arbeit, der Familien und Lebensgemeinschaften, der Freizeit und des Sports. Die gebauten »materiellen Substrate« (Émile Durkheim) haben – entsprechend der Qualität der Bauwerke – positive oder negative Auswirkungen für das jeweilige soziale Handeln und die Form der Kommu-
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nikation; Architektur ist, wie es Heike Delitz ausdrückt, »ein Medium des Sozialen«.1 Die hiermit verknüpften Analysefelder können wie folgt differenziert werden: Architektursoziologie – fragt nach den Grundlagen der Orientierung der Menschen im Raum respektive der gebauten Umwelt. Hierbei spielen Symbole und Zeichen und die »Sprache der Architektur« mit ihren Semantiken und Codierungen eine wichtige Rolle; – analysiert die klassen- und kulturspezifischen Raumnutzungsmuster, unter Einschluss der gender- und altersspezifischen Besonderheiten; – untersucht die sozialen und kulturellen Ursachen der Veränderung architektonischer Stile und den Wandel der Bauaufgaben. Epochen der Kultur-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte werden so als Epochen der Architektur- und Stadtgeschichte einsichtig; – berücksichtigt die sozialen, technischen, ökonomischen und rechtlichen Dimensionen des Bauens, der Eigentumsverhältnisse und den Wandel der Architektur als Beruf. Aus diesen (keineswegs abschließend genannten) Aufgabenfeldern der Architektursoziologie lässt sich folgende Definition »ableiten«2: »Architektursoziologie untersucht die Zusammenhänge von gebauter Umwelt und sozialem Handeln, unter Berücksichtigung der technischen, ökonomischen und politischen Voraussetzungen. Hierbei kommt den klassen- und kulturspezifischen Raumnutzungsmustern und den architektonischen Symbolsystemen besondere Bedeutung zu. Untersuchungsfelder sind weiterhin die Strukturen des Bauprozesses und der Partizipation, die jeweiligen Eigentumsverhältnisse und der Wandel von Architektur als Beruf.«
Bei dem Bedeutungsumfang der Architektur für das soziale Handeln und die Sozialstruktur ist überraschend, dass sich erst in der Gegenwart eine entsprechende spezielle Soziologie ausbildet. Die speziellen Soziologien, in denen Fragen der Raumnutzung respektive der Vorstrukturierung spezifischer Handlungsfelder durch die gebaute Umwelt eine Rolle spielen, lassen sich kaum sinnvoll begrenzen. Das Spektrum reicht von der inhaltlich bei vielen Themen komplementären Stadt- und Wohnungssozio1
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Heike Delitz: »Architektur als Medium des Sozialen. Ein Vorschlag zur Neubegründung der Architektursoziologie«, in: Sociologia Internationalis. 43 (2005), H. 1-2, S. 1-25. Vgl. Bernhard Schäfers: Architektursoziologie. Grundlagen – Epochen – Themen (2003), 2., durchg. Aufl. Wiesbaden: VS 2006, S. 22.
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logie bis zur Bevölkerungs- und Familiensoziologie, von der Arbeitsund Berufssoziologie bis zur Soziologie der Freizeit oder des Alters. Es wäre eine lohnende Aufgabe, Ergebnisse der empirischen Sozialforschung daraufhin zu befragen, ob und wie das architektonische Umfeld bei den jeweils dominanten Handlungsfeldern in die Analysen einbezogen wird.
2 Vorläufer Wie bei allen Gebieten der Soziologie gibt es auch für die Architektursoziologie wichtige Beiträge vor ihrer Etablierung als Disziplin im engeren Sinn. Für die Soziologie der Architektur, der Stadt und des Wohnens ist an wichtiger Stelle Wilhelm Heinrich Riehl (1823-1897) zu nennen. Riehl hat nicht nur Fragen der Auswirkungen von Kapitalismus und Liberalismus auf Architektur und Städtebau behandelt, sondern auch Folgewirkungen von »Gleichmacherei« auf die Ästhetik des Bauens bezogen. Veränderungen in der Bauweise und ihrer Symbolsprache deutete Riehl als (gewollte) Veränderungen der sozialen und politischen Verhältnisse. So heißt es zum Beispiel über den Zusammenhang von Haus und Familie: »Der Eifer, mit welchem die moderne Baupolizei ihr Interdikt gegen die Erker seit mehr als hundert Jahren gehandhabt hat [...], ist höchst charakteristisch. Die äußerliche Gleichmacherei der Häuser hängt eng zusammen mit der Nivellierung des Staates, der Gesellschaft, der Familie, die einen Grundzug der Bestrebungen des achtzehnten und theilweise auch noch des neunzehnten Jahrhunderts bildet«.3 Der Klage über die geistigen und architektonischen Importe aus Amerika folgt eine Kritik der in den 1840er Jahren durch Franz Karl Leo von Klenze und Friedrich von Gärtner fertig gestellten Münchener Ludwigstraße, einem Ensemble klassizistischer Bauten zwischen Feldherrnhalle und Siegestor: »Sie nimmt sich bei aller Schönheit im Einzelnen dennoch aus wie ein todtes akademisches Modell, nicht wie eine natürliche Straße [...]. Allen ihren schönen Häusern sieht man es an, daß sie theoretisch ersonnen, nicht aus dem praktischen Bedürfniß von innen heraus gebaut worden sind [...]. Jedes Haus hat nur eine Front, keines ein Profil«.4 Ansätze zu einer Architektursoziologie, ohne dass sie als solche bezeichnet wären, finden sich vor allem bei Georg Simmel (1858-1918), einem Mitbegründer der (deutschen) Soziologie. Seine Beiträge zur So-
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Wilhelm Heinrich Riehl: Die Familie (1855), Paderborn: Schöningh 1936, S. 221. Ebd., S. 231. 367
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ziologie von Ästhetik und Stil, von Raum und Grenze bilden bis heute ein nicht ausgeschöpftes Reservoir auch für Ansätze der Architektursoziologie. Das IX. Kapitel seiner Soziologie5, Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft, ist vor allem durch eine sich gegenüber der Architektur- und Stadtsoziologie verselbstständigende »Soziologie des Raumes« ausgewertet worden.6 Obwohl Simmel nachdrücklich auf die »Raumbedeutung der Dinge und Vorgänge« für alle »Vergesellschaftungsformen« (Simmel) verweist, sind für ihn die räumlichen Muster zunächst nicht das Entscheidende für das soziale Handeln und seine Motivation. »Nicht die Form räumlicher Nähe oder Distanz schafft die besonderen Eigenschaften der Nachbarschaft oder Fremdheit«. Räumliche Formen haben danach in genuin sozialen und sozialpsychologischen Voraussetzungen ihre Wurzeln. Bei den »Grundqualitäten der Raumform, mit denen Gestaltungen des Gemeinschaftslebens rechnen« müssen, ist vor allem auf die Bedeutung klarer Grenzziehungen hinzuweisen; ohne sie ist keine soziale Ordnung möglich. Der soziologische Blick Simmels auf dieses Phänomen zeigt sich in einem einzigen Satz: »Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt«.7 Aussagen in seiner »Soziologischen Ästhetik« (1896) zeigen in integraler, also in fachspezifisch noch nicht auseinander gerissener Perspektive, Zusammenhänge zwischen der Psyche des Menschen, sein nur in »Ordnungen« (zum Beispiel Symmetrien) stabilisierbares inneres Gleichgewicht und verbindenden Gemeinsamkeiten mit anderen Menschen (zum Beispiel über die Entwicklung von »Stil«). In allen Herrschafts- und Kunstepochen, bis zur Herausbildung der »individualistischen Gesellschaftsform« (Simmel), war eine »Tendenz zur Symmetrie, zu gleichförmiger Anordnung der Elemente nach durchgehenden Prinzipien« zu beobachten, zumal in despotischen Gesellschaftsformen. Mit Recht habe man »die ägyptischen Pyramiden als Symbole des politischen Bauens bezeichnet«. Doch der »Reiz der Symmetrie, mit ihrer Ausgeglichenheit, ihrer äußeren Geschlossenheit, ihrem harmonischen Verhältnis der Teile zu einem einheitlichen Zentrum wirkt sicher in der
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Georg Simmel: »Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft«, in: Ders., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (1908), Berlin: Duncker & Humblot 1968, S. 460-526. Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001. Markus Schroer: Räume, Orte, Grenzen: auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. G. Simmel: Der Raum, S. 467.
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ästhetischen Anziehungskraft mit, die die Autokratie, die Unbedingtheit des einen Staatswillens auf viele Geister ausübt«. In der »individualistischen Gesellschaft mit ihren heterogenen Interessen, mit ihren unversöhnlichen Tendenzen« versuchen die Menschen, aus der mit Symmetrie bezeichneten Abgeschlossenheit der Kreise auszutreten: um einerseits miteinander in immer neue »Wechselwirkungen« zu treten, andererseits um Distanz zueinander zu gewinnen und zu wahren. »Asymmetrische Gestaltungen« geben dem »individuelleren Recht jedes Elements mehr Raum für frei und weit ausgreifende Beziehungen«. Die moderne Kunst- und Kulturentwicklung habe den »tiefen psychologischen Zug« zur »Distanzvergrößerung zwischen den Menschen und seinen Objekten« zum Ausdruck gebracht.8 Mit diesen Aussagen Simmels sind fundamentale »Logiken« der Raumnutzung angesprochen. Phänomene wie Nähe und Distanz, Kollektivität und Individualität werden auch als Elemente spezifischer Raumnutzungen einsichtig. Darüber hinaus zeigte Simmel, was unter Gesichtspunkten einer soziologischen Analyse von Raum, Symbol und Gegenständen sehr heterogener Art – Mode, Schmuck, Stil, Großstadt – alles zum Thema einer speziellen »Soziologischen Ästhetik« respektive Soziologie der Architektur werden kann: Elemente des Bauens, der Konstruktion und der Gegenstände des Alltags, seien es Eingänge oder Fenster, Fassaden und Dächer; Treppen und Traufen, Raumhöhen und Raumaufteilungen. Simmel, wie auch später Walter Benjamin (18921940) oder Siegfried Kracauer (1889-1966), konnte aus solchen Bauteilen auf die zugrunde liegenden Trends der Mode und des Stils, der Ökonomie und der Gesellschaftsstruktur zurück schließen. Von Simmels Bestimmungen der sozialen Bedeutung von Grenzziehungen ist es nur noch ein Schritt zu einer anthropologisch und kulturanthropologisch fundierten »Soziologie der Territorialität«, die als Grundelement einer Soziologie des Raumes und der Architektur anzusehen ist.9 Aus Sicht der Soziologie gibt es zur Architektur, zum Wohnen und zur Stadtplanung keine direktere Verbindungslinie als den Raum. Raum ist in der Tat ein »Strukturierungsmoment sozialer Interaktionen«.10 Der Mensch bewegt sich immer in einem bestimmten Raum, der vom um-
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Georg Simmel: »Soziologische Ästhetik«, in: Ders., Soziologische Ästhetik, hg. und eingel. von Klaus Lichtblau, Darmstadt: WBG 1998, S. 77-92. 9 Vgl. das Kap. »Raum und räumliches Verhalten«, in: B. Schäfers: Architektursoziologie, S. 27-42, v.a. Tab. 1: »Vom Territorium des Selbst zum öffentlichen Raum« (S. 34). 10 Bernd Hamm/Ingo Neumann: Siedlungs-, Umwelt und Planungssoziologie. Ökologische Soziologie Bd. 2, unter Mitarbeit von Peter Suska und Gabi Gotzen, Opladen: Leske + Budrich 1996, S. 52. 369
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bauten Raum über die Siedlungs- und Infrastruktur bis zur »freien Natur«, dem nicht bebauten beziehungsweise kultivierten Raum reicht. Gebauter Raum begrenzt und erweitert, animiert oder behindert menschliche Aktivitäten und gibt ihrer Vielgestaltigkeit Ausdruck: vom individuellen Arbeits- bis zum Hobbyraum, vom Kultraum der Religionen bis zum öffentlichen Raum. Den »Raum an sich« jedoch gibt es aus Sicht der Soziologie nicht. Raum ist immer sozial »konstruiert«, mit spezifischen Bedeutungen, Aneignungs- und Eigentumsformen und Funktionen versehen. Er ist Teil der erwähnten »Definition der Situation« und damit ein strukturierendes Element von Handlungsabläufen. Der jetzt wieder aktualisierte Begriff des Sozialraums bringt das klar zum Ausdruck.11
3 Nachbardisziplinen Die Architektursoziologie kann nur dann reüssieren, wenn sie die Ergebnisse der Architekturtheorie und der Architektur- und Kunstgeschichte zur Kenntnis nimmt und in ihren eigenen Ansatz integriert. Hierfür seien nur zwei Beispiele genannt: Die Geschichte der Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts von Leonardo Benevolo und die Vorlesungen zur Neuen Architektur von Julius Posener. Das in seiner profunden Kenntnis von geschichtlicher und gesellschaftlicher Entwicklung immer wieder erstaunende Werk des Italieners Leonardo Benevolo (geb. 1923 in Orta), der auch als Architekt gearbeitet hat und an der damals Aufsehen erregenden Altstadtsanierung von Bologna beteiligt war, ist deshalb ein Vorbild auch für die Architektursoziologie, weil die Architektur aus den geistig-kulturellen Strömungen und dem Wandel von Wirtschaft, Sozialstruktur und Klassenlage erklärt wird. Hinzu kommt eine umfangreiche Darstellung der wichtigsten Architekten der letzten 200 Jahre, ihrer Werke und ihrer Neuerungen, immer in Bezug auf die sich verändernde Gesellschaft. »Es gilt also«, schreibt Benevolo im Vorwort zu seinem zweibändigen Werk12, »das Beobachtungsfeld zu erweitern und zahlreiche technische, soziale und wirtschaftliche Gegebenheiten unter die Lupe zu nehmen, die sich seit 1750 ständig verändern, ohne dass zunächst ihr Zusammenhang mit der Architektur offenbar wird«. Einen großen Stellenwert in der Konzeption Benevolos haben der Wandel der Bautechniken und die technisch-infrastrukturellen Grundlagen 11 Über Gemeinsamkeiten und Unterschiede vgl. Marlo Riege/Herbert Schubert (Hg.): Sozialraumanalyse. Grundlagen – Methoden – Praxis, 2. verb. Aufl. Wiesbaden: VS 2005. 12 Leonardo Benevolo: Geschichte der Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts (ital. 1960), 2 Bde., München: dtv 1978, S. 6. 370
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für die Entwicklung der industriellen Großstadt des 19. Jahrhunderts, die der Architektur – wie am Beispiel von Paris oder Chicago demonstriert – völlig neue Bauaufgaben stellen. Der zweite Band behandelt die Geschichte der modernen Bewegung und ihr nicht unproblematisches Verhältnis zum Städtebau. Ebenfalls der Moderne verpflichtet sind die Vorlesungen des Architekturhistorikers Julius Posener (1904-1996) an der TU Berlin im Jahr 1979.13 Für den Zeitraum von circa 1880-1930 zeigen sie den Wandel der konstruktiven Auffassungen im Zusammenhang mit den technischen Neuerungen und sozialen Entwicklungen. Neben diesen Darstellungen zur Architektur der Moderne und ihrer Voraussetzungen in der »Doppelrevolution« ist auf die Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts zu verweisen, die in mehreren Kompendien vorliegen. Aus der Textsammlung von Ulrich Conrads14 seien zwei Beispiele genannt. In der vor allem von Le Corbusier und Siegfried Giedion formulierten »Erklärung von La Sarraz« (1928), die als Gründungsurkunde der Congrès Internationaux d’Architecture Moderne (CIAM) gilt, heißt es unter anderem, die Unterzeichner seien sich bewusst, »dass die Strukturveränderungen, die sich in der Gesellschaft vollziehen, sich auch im Bauen vollziehen und dass die Veränderung der konstitutiven Ordnungsbegriffe unseres gesamten geistigen Lebens sich auch auf die konstitutiven Begriffe des Bauens bezieht«. Und im berühmten »Verschimmelungsmanifest gegen den Rationalismus in der Architektur« (1958) des Wiener Malers und »Architekturdoktors« Friedensreich Hundertwasser (1928-2000) lesen wir: »Die Architektur unterliegt bei uns derselben Zensur wie die Malerei in der Sowjetunion […]. Die verantwortungslose Zerstörungswut der konstruktiven funktionellen Architektur ist bekannt. Sie wollten die schönen Häuser mit Stuckfassaden der neunziger Jahre und des Jugendstils einfach abreißen und ihre leeren Gebilde hinpflanzen«.
13 Julius Posener: »Vorlesungen zur Geschichte der Neuen Architektur«, in: arch+ 48 (1979), 53 (1980), 59 (1981), 64/65 (1982), 69/70 (1983). 14 Ulrich Conrads (Hg.): Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts, 2. Aufl. Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg 1981, S. 103, 149. 371
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4 Etappen der Etablierung 4.1 Anfänge und verpasste Chancen in den 1920er Jahren Die Geschichte des Bauhauses, der »erfolgreichsten Bauhütte der Welt«, ist auch mit der Geschichte der frühen Architektursoziologie verknüpft. Bei den Protagonisten des Neuen Bauens und in Teilen der Soziologie respektive sozialistisch orientierten Gesellschaftstheorie gab es eine große, aber kaum wechselseitig wahrgenommene Übereinstimmung; architektonischer Gestaltungs- und sozialer Veränderungswille waren für die meisten Mitglieder des Bauhauses eine Frage der Ethik und der gesellschaftlichen Verantwortung. »Der Glaube an eine bessere Gesellschaft in einer besseren Welt war der Motor, der die Bemühungen um eine bessere Architektur vorantrieb; diese sollte nicht individualistisch, sondern kollektiv sein, sich nicht auf Einzelbauwerke beschränken, sondern in vervielfältigbaren architektonischen und städtebaulichen Eingriffen, nicht national, sondern international äußern«.15 In einem der wichtigsten Beiträge zu diesem neuen Gestaltungswillen schrieb der damalige Direktor des Bauhauses, Walter Gropius (18831969): »Die Erkenntnis wächst, dass ein lebendiger Gestaltungswille, in der Gesamtheit der Gesellschaft und ihres Lebens wurzelnd, alle Gebiete menschlicher Gestaltung zu einheitlichem Ziel umschließt – im Bau beginnt und endet«.16 Doch es gab zwischen der avancierten Architekturtheorie der Moderne und der damaligen Soziologie keine ›Korrespondenz‹. Es ist nicht bekannt, dass Gropius oder Mies van der Rohe – von Le Corbusier oder J.J.P. Oud zu schweigen – Simmel oder vergleichbare Texte gelesen hätten; aber sie lasen, wie für the modernists nachgewiesen wurde17, die 1911 erschienenen Principles of Scientific Management von Frederick W. Taylor und stimmten mit seinen Prinzipien von Ökonomie und Effizienz, auch am Arbeitsplatz, voll überein: weil nur so ein besserer und preisgünstiger Wohnungsbau für die industrielle Arbeitsbevölkerung erreichbar war.
15 Vittorio M. Lampugnani: »Rationalismus«, in: Ders. (Hg.), Hatje-Lexikon der Architektur des 20. Jahrhunderts, Stuttgart: Hatje 1983, S. 245-250, 246. 16 Walter Gropius: Internationale Architektur (1924). Mit e. Anmerkung des Herausgebers und e. Nachwort von Peter Hahn, Faksimilie-Nachdruck der 2. Aufl. von 1927, Mainz: Langen 1981, S. 6. 17 Mauro F. Guillén: The Taylorized Beauty of the Mechanical. Scientific Management and the Rise of Modernist Architecture, Princeton/Oxford: Cloth 2006. 372
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Der Nachfolger von Walter Gropius in der Leitung des Bauhauses, der Schweizer Hannes Meyer (Direktorat 1928-1930), versuchte eine bestmögliche Annäherung von sozialistischer Gesellschaftstheorie und einer neuen Ästhetik verpflichteten Architektur zu erreichen. Hierbei sollte der Soziologie als neuer Leitwissenschaft eine dominante Rolle zukommen. Im Mitglied des Wiener Kreises des »Logischen Positivismus«, dem Soziologen und Philosophen Otto Neurath (1882-1945), sah er beide Komponenten beispielhaft vereint. Wie alle Wiener Positivisten ging Neurath davon aus, dass auch die »Gestaltung des wirtschaftlichen und sozialen Lebens nach rationalen Grundsätzen« möglich sei.18 Neurath wurde von Meyer eingeladen, sein Programm einer internationalen Bildsprache, ISOTYPE, vorzutragen. Das Kürzel steht für: International System Of TYpographic Picture Education. Mit dieser Bildsprache, an deren Universalität Neurath ebenso wenig zweifelte wie Gropius an der weltweiten Durchsetzbarkeit des »Internationalen Stils«, war auch ein Erziehungsprogramm verknüpft. In der Architektur und im Stadtraum hat nicht nur die Symbolsprache der Architektur im engeren Sinn ihren Stellenwert, sondern auch die »Lesbarkeit« des Gebäudes vermittels orientierender und funktionsbestimmender Piktogramme. Zu erwähnen bleibt, dass nach der Entlassung Meyers sein Nachfolger, Ludwig Mies van der Rohe (1886-1969), die Soziologie wieder aus dem Lehrplan verschwinden ließ (was auch auf drastische Sparmaßnahmen zurückzuführen war).
4.2 Kritik des Funktionalismus in den 1960er Jahren Die Kritik der Grundsätze des Neuen Bauens aus soziologischer und sozialpsychologischer Sicht erfolgte mit einer auch durch den Nationalsozialismus verursachten Verspätung erst in den 1960er Jahren, nun als Abrechnung mit dem Funktionalismus und der Ökonomisierung und Funktionalisierung von Architektur und Städtebau seit den 1950er Jahren. Die »Keimzelle« dieser Kritik war das von Alexander Mitscherlich geleitete Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt am Main, aber auch das dortige »Institut für Sozialforschung« und Beiträge zur Ästhetik von Theodor W. Adorno (1903-1969) äußerten sich in ähnlicher Weise. Der kritische Standpunkt gegenüber dem Funktionalismus in Städtebau und Architektur erreichte öffentliche Resonanz durch die 1968 veröffentliche Schrift »Architektur als Ideologie«, von Heide Berndt, Alfred Lorenzer und Klaus Horn (alle Mitarbeiter am Sigmund-Freud-
18 Zit. bei Manfred Geier: Der Wiener Kreis, 3. Aufl. Reinbek: Rowohlt 1998, S. 22. 373
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Institut). Die Kritik am Internationalen Stil, zu dessen Durchsetzung das Bauhaus durch die erzwungene Emigration der meisten seiner Direktoren und Mitarbeiter erheblich beigetragen hatten, geriet – ein wenig paradox – zum Element der Kritik am Kapitalismus und Imperialismus der westlichen, von den USA dominierten Welt. Der Funktionalismus wurde nun in dieses Verdikt hineingezogen. Seine Besonderheit als Stil liege, so schrieb Heide Berndt 1978, »in der exakten Darstellung des Prinzips, das das Leben auf der zweiten Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung reguliert: Beherrschung durch Berechnung zu vollenden«.19 Die Kritik von Architektur und Städtebau unter dem abwertend gemeinten Begriff des Funktionalismus verstärkte sich zunehmend, so Klaus von Beyme, als sich der Einfluss der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule der Soziologie immer mehr durchsetzte. Zumal in der Gestalt von Theodor W. Adorno habe die Kritische Theorie aus der amerikanischen Emigration eine tiefe Abneigung gegen den Funktionalismus mitgebracht.20 Adorno formulierte sein Verdikt in einem Vortrag auf einer Tagung des Deutschen Werkbundes 1965, mit dem Titel »Funktionalismus heute«.21 Seine Kernthesen lauteten: – Keine Form ist gänzlich aus ihrem Zweck heraus geschöpft (gegen das Credo des Funktionalismus gerichtet: form follows function); – auch der Funktionalismus, der mit dem Wiener Adolf Loos sich des Ornaments als des Unwahren entledigen wollte, sei in den Warenund Tauschcharakter seiner eigenen kapitalistischen Epoche tief verstrickt und verfüge nicht über die Mittel, aus diesen Zwängen auszubrechen. Heide Berndt kritisierte am Funktionalismus – im Anschluss an Herbert Marcuses in der Studentenrevolte einflussreiche Schrift The OneDimensional Man (1964) – dessen »eindimensionale Ästhetik«; er spiegele jene »Eindimensionalität der gesamten gesellschaftlichen Entwicklungsrichtung wider«, die für die Verselbstständigung der technischen Mittel gegenüber gesellschaftlichen Zielsetzungen typisch sei.22 Klaus Horn kritisierte im genannten Band sehr scharf das Bauprogramm von Le Corbusiers Unité d’Habitation, jener spektakulären Wohneinheit für
19 Heide Berndt: Die Natur der Stadt, Frankfurt a.M.: Neue Kritik 1978, S. 191. 20 Klaus von Beyme: Der Wiederaufbau: Architektur u. Städtebaupolitik in beiden deutschen Staaten, München: Piper 1987, S. 92. 21 Theodor W. Adorno: »Funktionalismus heute« (1965), in: Ders., Ohne Leitbild. Parva Aestehetica, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1967, S. 104-127. 22 Heide Berndt/Alfred Lorenzer/Klaus Horn: Architektur als Ideologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1968, S. 40. 374
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circa zweitausend Menschen, die auch in Berlin nach dem weltberühmten Vorbild von Marseille im Zusammenhang der Städtebauausstellung 1957 errichtet worden war. Das »Unheimliche dieser Architektur« sah Horn darin, inmitten einer Millionenstadt Autarkie anstreben zu wollen; diese »pseudo-großstädtische Lebenszelle« gleiche einem »programmierten Verhaltensrepertoire, das durch keine Äußerung dysfunktional unterbrochen werden will«.23 Alfred Lorenzer verwies in seinem Beitrag über die »sozialpsychologische Funktion der Architektur« auf die Folgen »rücksichtsloser Zweck-Rationalität« der funktionalistischen Architektur: Sie führe zur »Regression in den Kitsch«, zum Rückzug dorthin, wo man das »Glück imWinkel« zu finden meine.24 So berechtigt einzelne Kritikpunkte waren, zielten sie im Hinblick auf eine Generalabrechnung mit dem Funktionalismus letztlich doch ins Leere, unabhängig davon, dass der soziale Impetus für das funktionale Neue Bauen in den 1920er Jahren völlig aus dem Blick geraten war. Bei Architekten und Stadtplanern stießen sie darum kaum auf Zustimmung. Der »Sündenbock« für den »kapitalistischen Städtebau«, wenn denn einer gesucht werden musste, konnte nicht allein im Funktionalismus liegen. Im Gegenteil: Vergleichsuntersuchungen in den Städten Berlin und Warschau, London und Moskau25 konnten zeigen, dass es auch in den Innenstädten der sozialistischen Metropolen, trotz eines »nichtkapitalistischen«, kollektiven Bodenrechts, den gleichen Verdrängungswettbewerb gab wie im angeblich kapitalistisch-funktionalistischen Städtebau.
4.3 Zwischenbilanz Weder aus den skizzierten Ansätzen der Architektursoziologie in den 1920er Jahren noch seit den 1960er Jahren entwickelte sich eine eigenständige Architektursoziologie. Für die 1920er Jahre lagen die Gründe in der noch geringen Spezialisierung und mangelnden Institutionalisierung der Soziologie, aber auch in der Zäsur des Jahres 1933. Für die 1960er Jahre ist davon auszugehen, dass die sich etablierende Stadt- und Regionalsoziologie, vor allem aber die Wohnungssoziologie, eine eigenständige Architektursoziologie trotz bemerkenswerter Ansätze, erst gar nicht aufkommen ließ; ihre Beiträge wurden gleichsam »aufgesogen«, wohl auch aus dem Grund, dass die als genuin soziologisch angesehenen Themen, wie die nach der Gesellschaftsstruktur, ihren Klassen- und Herr23 Ebd., S. 118. 24 Ebd., S. 52. 25 Jürgen Friedrichs (Hg.): Stadtentwicklungen in kapitalistischen und sozialistischen Ländern, Reinbek: Rowohlt 1978. 375
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schaftsverhältnissen, sich eher an der »kapitalistischen Stadt« als an einzelnen Bauwerken darstellen lassen. Einen ersten Überblick zum Stand der Architektursoziologie versuchte Hans Peter Thurn im Jahr 1972. Er ging aus von Siegfried Giedions bekanntem Werk »Architektur und Gemeinschaft« (1956). Giedion (1893-1968) hatte als Sekretär und unermüdlicher Organisator der 1928 in La Sarraz in der Schweiz gegründeten Congrés Internationaux d’Architecture Moderne (CIAM) und mit seinem in den USA erarbeiteten Werk Space, Time and Architecture Einfluss auf das Selbstverständnis der Moderne und ihre Architekturtheorie. Thurn nennt als zentral für Giedions Ansatz dessen Frage, auf welche Weise es dem Architekten gelingen könnte, in einer Zeit schwindenden Gemeinschaftsbewusstseins Gebäude zu schaffen, die Ausdruck eines neuen Gemeinschaftsbewusstseins sind. Le Corbusiers Werk sei der »erste bedeutende Versuch in den fünfziger Jahren«, Architektur in einem veränderten gesellschaftlichen Umfeld zu thematisieren.26 Thurn konnte noch davon ausgehen, dass es das Stichwort »Architektursoziologie« in keinem der damals vorhandenen Wörter- respektive Handbücher der Soziologie gab. Seit den späten 1960er Jahren konnte die Stadt- und Regionalsoziologie an mehreren Fakultäten der Architektur und des Städtebaus etabliert werden, aber es gab weiterhin keine kontinuierlich arbeitende und institutionell verankerte Architektursoziologie. Ihre Themen respektive Analysen fanden sich vor allem in den damals sehr zahlreichen wohnungssoziologischen Untersuchungen (auf die hier nicht eingegangen wird).
5 E rw e i t e r u n g d e r P a r a d i g m e n Obwohl die Soziologie der Architektur in den 1960er Jahren von einer Institutionalisierung weit entfernt war, erschienen immer mehr Arbeiten, die ihr Themenfeld strukturierten. Das lag zunächst an der damals zügig voranschreitenden Ausdifferenzierung der speziellen Soziologien und der Expansion des Faches ganz allgemein. Auch in den Fakultäten der Architektur und des Städtebaus sowie an Kunsthochschulen wurden nun Professuren für Soziologie eingerichtet. Hinzu kam ein zunehmendes öf26 Hans P. Thurn: »Architektursoziologie. Zur Situation einer interdisziplinären Forschungsrichtung in der BRD«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 24 (1972), S. 301-341, 301. Siegfried Giedion: Architektur und Gemeinschaft, Hamburg: Rowohlt 1956. Ders.: Raum Zeit Architektur. Die Entstehung einer neuen Tradition (am. 1941), Basel: Birkhäuser 2000. 376
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fentliches Interesse an den Hervorbringungen des Wohnungs- und Städtebaus, das die Etablierung der Stadt- und Regionalsoziologie beschleunigte. Seit 1975 gibt es eine entsprechende Sektion in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.
5.1 Phänomenologische Ansätze und Zivilisationstheorie Seit Beginn der 1970er Jahre kam es zu einer Erweiterung der theoretischen Ansätze in der Soziologie, die bis dahin sehr einseitig vom Strukturfunktionalismus und der Systemtheorie und seit den späten 1960er Jahren von verschiedenen Spielarten des Neo-Marxismus dominiert war. Von Bedeutung für die Architektursoziologie waren und sind vor allem die von der Phänomenologie ausgehenden Ansätze und die Zivilisationstheorie von Norbert Elias.27 Das in Deutschland wohl bekannteste stadtsoziologische Werk, Hans Paul Bahrdts »Soziologische Überlegungen zum Städtebau«28 basiert bei der Darstellung des öffentlichen Verhaltens und seiner architektonischen Voraussetzungen auf phänomenologischen Sichtweisen. In einer explizit phänomenologisch orientierten Untersuchung haben die Architekten Alban Janson und Thorsten Bürklin die »Interaktionen mit dem architektonischen Raum«29 am Beispiel der venezianischen Plätze untersucht. Ebenso werden die anthropologischen Voraussetzungen des architektonischen Raumerlebens deutlich, wobei dem Blickfeld respektive dem, was von den Gebäuden aus welcher Perspektive und bei welchem Bewegungsablauf wahrgenommen wird, eine grundlegende Bedeutung zukommt.30 Da die Ausdifferenzierung der (architektur-)soziologischen Paradigmen letztlich das Thema des vorliegenden Bandes ist, sei nur auf einen weiteren Ansatz verwiesen: die Zivilisationstheorie von Norbert Elias. Hier leistete Peter R. Gleichmann (1932-2006) eine wichtige »Übersetzungsarbeit«. Für Gleichmann war die Architektur des Wohnungsbaus im Zusammenhang mit dem Städtebau und der Hygienebe27 Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2. Bde. (1939), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. 28 Hans P. Bahrdt: Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau (rde 1961). Hg. von Ulfert Herlyn, Opladen: Leske + Budrich 1998. 29 Alban Janson/Thorsten Bürklin: Auftritte – Scenes. Interaktionen mit dem architektonischen Raum: die Campi Venedigs. Interaction with Architectual Space: the campi of Venice, Basel u.a.: Birkhäuser 2002. 30 Zur Begründung der Architektursoziologie aus der »Phänomenalität der Architektur« und den Analysemöglichkeiten auf der Basis der Philosophischen Anthropologie vgl. H. Delitz: Architektur als Medium des Sozialen. 377
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wegung seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein ganz entscheidendes Vehikel bei der Verallgemeinerung von Zivilisationsstandards. Gleichmanns Arbeiten hatten zum Ziel, zur Erforschung des »Prozesses der Architektonisierung des menschlichen Verhaltens«31 beizutragen. Er weist darauf hin, wie auch neue Bautechniken und Wohnstandards – Wasserspülung, Gas und Elektrizität zum Beispiel – in das Verhaltensrepertoire und die Veränderung der häuslichen Formen des Zusammenlebens integriert werden müssen. Schülerinnen und Schüler von Peter R. Gleichmann setzen mit ihren Arbeiten, so zum Wandel des Wohnens und zum Leistungsvermögen einer empirischen Architektursoziologie, diesen Ansatz fort.32
5.2 Die Postmoderne In der seit den späten 1960er Jahren – vor allem in der Philosophie und der Architektur – geführten Diskussion um die Postmoderne gab es nach der Funktionalismusdebatte ein weiteres Feld, in der die Soziologie sich zur Architektur, wenn auch mit unverzeihlicher Verspätung, zu Wort gemeldet hat.33 Weder die damaligen Analysen zur Sozialstruktur der deutschen Gesellschaft noch die über Architektur und Wohnen ließen erkennen, dass sich die sozialen Differenzierungen immer mehr »jenseits von Stand und Klasse« (Ulrich Beck) und traditionaler Lebensläufe und Lebensstile bewegten. Es war der Architekturtheoretiker Robert Venturi, der 1966 schrieb: »Ich will über eine komplexe und widerspruchsfreie Architektur sprechen, die von dem Reichtum und der Vieldeutigkeit moderner Lebenserfahrung zehrt«. Im gleichen Text – ursprünglich für eine Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art verfasst – hieß es: »Ich ziehe eine vermurkste Lebendigkeit einer langweiligen Einheitlichkeit vor«.34
31 Peter R. Gleichmann: »Architektur und Zivilisation«, in: archithese 2/1987, S. 40-47, 44. 32 Katharina Weresch: Wohnungsbau im Wandel der Wohnzivilisierung und Genderverhältnisse, Hamburg/München: Dölling & Galitz 2005; Herbert Schubert: »Empirische Architektursoziologie«, in: Die alte Stadt. Vierteljahresschrift für Stadtgeschichte, Stadtsoziologie, Denkmalpflege und Stadtentwicklung, H. 1/2005, S. 1-27. 33 Heinz-Günther Vester: Soziologie der Postmoderne, München: Quintessenz 1993. 34 Robert Venturi: »Komplexität und Widerspruch in der Architektur« (am. 1966), zit. n. Fritz Neumeyer: Quellentexte zur Architekturtheorie, München et al.: Prestel 2002, S. 510-523, 516. 378
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In den Schriften zur postmodernen Architektur, zumal von Charles Jencks35, rückten Aufgaben einer neuen Semantik des Bauwerks, einer Doppelcodierung und eines kommunikativen Feldes, das differenzierter als bisher zu besetzen sei, in den Mittelpunkt. Die zum Teil sehr ablehnende Haltung gegenüber der Postmoderne, zum Beispiel von Jürgen Habermas36, übersah entscheidende Wandlungen im sozialstrukturellen Bereich und die seit den 1960er Jahren sich ankündigenden neuen sozialen und kulturellen Bewegungen. In einem zuerst 1982 veröffentlichten Vortrag über »Moderne und postmoderne Architektur« schrieb Habermas, dass er volles Verständnis habe für Kritik an der »seelenlosen Behälterarchitektur, an dem fehlenden Umweltbezug und der solitären Arroganz ungegliederter Bürogebäude« und dass die »Deformationen in der Nachfolge, sogar im Namen des internationalen Stils« zu beklagen seien.37 Doch mit Bezug auf die postmoderne Architektur sprach er von »Fluchtbewegungen«, von »surrealistischen Bühnenbildern« und von »kulissenhafter Architektur«. Der Architekturtheoretiker Heinrich Klotz, der in Frankfurt a.M. das Deutsche Architekturmuseum (DAM) und in Karlsruhe das Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) gründete, kam zu einer positiveren Bewertung: Die Postmoderne habe »aus der Bedeutungsverengung des bloß technologischen Konstruierens als auch aus der Inhaltsleere des Zweckrationalismus (Funktionalismus)« herausgeführt.38
6 Schlussbemerkungen Eine neuerliche Zwischenbilanz Anfang der 1990er Jahre zeigte erste Konturen auf dem Weg zu einer eigenständigen Disziplin. Doch auch die von Katharina Weresch im Jahr 1993 vorgelegte Bibliographie zur Architektursoziologie, die Beiträge aus mehreren Jahrzehnten aufweist, kann nicht dokumentieren, dass dieser Schritt bereits vollzogen ist.39 Einen weiteren Schritt hin zur Etablierung des Faches führte die von Bernhard Schäfers initiierte Ad-hoc-Gruppe »Architektursoziologie« auf 35 Charles Jencks: »Die Sprache der postmodernen Architektur. Die Entstehung einer alternativen Tradition« (engl. 1977), Stuttgart: dva 1978. 36 Jürgen Habermas: »Moderne und postmoderne Architektur« (zuerst in: arch+ 61, 1982), in: Ders., Die neue Unübersichtlichkeit. Kleine Politische Schriften V, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, S. 11-18. 37 Ebd., S. 14f. 38 Heinrich Klotz: Architektur. Texte zur Geschichte, Theorie und Kritik des Bauens, Ostfildern: Ruit 1996, S. 255. 39 Katharina Weresch: Bibliographie zur Architektursoziologie mit ausgewählten Beispielen, Frankfurt a.M.: Lang 1993. 379
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dem 32. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie im Jahr 2004 in München.40 In Lexika und Wörterbüchern der Soziologie finden sich dennoch nur wenige Einträge zur Architektursoziologie.41 Wie auf anderen Gebieten in der Wissenschaft geht auch in der Soziologie der Weg der Spezialisierung respektive der Ausdifferenzierung gegebener Disziplinen weiter. Selbst in der Empirischen Sozialforschung lässt sich die Komplexität – und Widersprüchlichkeit – der Ansätze nicht mehr in einer einzigen Sektion unterbringen; ähnlich verhält es sich mit der Soziologie der Familie. Es erschien seinerzeit, als ich an den Entscheidungsprozessen beteiligt war, nicht ratsam, in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie neben der Familiensektion eine eigene Sektion »Soziologie der Kindheit« zu gründen; letztlich wurden wir doch überzeugt. Vergleichbares kann von einer sich gegenüber der Wohnungs- und Stadtsoziologie verselbstständigenden Architektursoziologie gesagt werden. Doch vielleicht ist es nicht mehr ganz so, wie Herbert Schubert noch im Jahr 2005 hervorhob: »Architektursoziologische Fragestellungen führen – im Gegensatz zur Architekturpsychologie – ein Schattendasein«.42 Auch Heike Delitz resümiert in ihrem »Vorschlag zur Neubegründung der Architektursoziologie« aus dem gleichen Jahr, dass diese Disziplin »bisher keinen eigenen Stellenwert« habe.43 Auch künftig werden wichtige Beiträge zu den Themenbereichen der Architektursoziologie nicht unter dieser Flagge segeln, sondern in den seit langem etablierten Disziplinen der Wohnungs- und Stadtsoziologie und den »Nachbardisziplinen« der Kunst- und Baugeschichte zu finden sein. Die Grenzen sind und bleiben fließend, wie ein einfaches Beispiel verdeutlichen kann: Soziologische Analysen, die den öffentlichen Raum thematisieren, sind notwendig auf die Analyse der architektonischen »Randbedingungen« bestimmter Plätze ebenso verwiesen wie auf die Lage des Platzes in der Stadtstruktur und Stadtgeschichte. Die Analysen zum Potsdamer Platz als einem »Ort der Moderne« bringen das beispielhaft zum Ausdruck.44 40 Vgl. die Beiträge in Karl-Siegbert Rehberg (Hg.): Soziale Ungleichheit – Kulturelle Unterschiede. Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München 2004, Frankfurt a.M.: Campus 2006 (CD-Rom). 41 Bernd Hamm: »Architektursoziologie«, in: Günter Endruweit/Gisela Trommsdorff (Hg.), Wörterbuch der Soziologie, 2. völlig neubearb. und erw. Aufl. Stuttgart: Lucius & Lucius 2002, S. 33-34, S. 33. 42 H. Schubert: Empirische Architektursoziologie, S. 1. 43 H. Delitz: Architektur als Medium des Sozialen, S. 2. 44 Joachim Fischer/Michael Makropoulos (Hg.): Potsdamer Platz: soziologische Theorien zu einem Ort der Moderne, München: Fink 2004. 380
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Ein weiterer Punkt ist hervorzuheben: Eine verselbstständigte Architektursoziologie wird nur dann in Lehre und Forschung auf Dauer gestellt werden können, wenn sie mit der Architektur und auch mit der Kunstgeschichte kooperiert. Doch die Kooperation muss ein anderes Fundament und Selbstverständnis haben als die seit Ende der 1960er Jahre sich anbahnende intensive Zusammenarbeit der Architekten und Stadtplaner mit der Soziologie; sie wurde, das ist bekannt, bald wieder beendet. Zu Beginn, im Jahr 1967, schrieb Walter Siebel: »Aus dem Dilemma zwischen künstlerischem Selbstverständnis und der gesellschaftlichen Bedingtheit und Wirkung seiner Arbeit wendet sich der Architekt an die Soziologie«.45 Die Missverständnisse lagen auf beiden Seiten: In einer oft leichtfertigen »Gläubigkeit« der Architekten im Hinblick auf das Leistungsvermögen der Soziologie, ihnen konkrete Gestaltungsvorschläge zu machen, und in der zum Teil abwegigen Selbstüberschätzung einiger Soziologen bezüglich dessen, was sie analytisch verantwortbar tatsächlich einbringen können. Davor wurde bereits damals, im Jahr 1970, gewarnt.46 Soziologie darf nicht missdeutete Stadtplanungswissenschaft und Architekturbevormundung sein, sondern muss durch ihre gegenwartsbezogenen Analysen Architekten und Stadtplaner über die für sie relevanten Fakten – wie Familie, Arbeitswelt oder Formen der Individualisierung – aufklären. Für kritische Anmerkungen und Recherche danke ich Alexa M. Kunz.
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BERNHARD SCHÄFERS
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Zur Doppelpotenz der Architektursoz iologie: Was bringt die Soziologie der Architektur – Was bringt die Arc hitektur de r Soz iologie? JOACHIM FISCHER
Es gibt die ›Architektursoziologie‹, man braucht sie nicht mehr zu gründen. Unübersehbar hat sich im deutschsprachigen Raum in den letzten Jahren eine Disziplin unter diesem Titel ausgebildet, mit einem ersten Kompendium1, Texten zur Grundlegung und Methodik2, mit ersten Fallstudien3 und einer einschlägigen Website.4 Man kann mit und in dieser 1 2
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Bernhard Schäfers: Architektursoziologie. Grundlagen – Epochen – Themen (2003), 2., durchges. Aufl. Wiesbaden: VS 2006. Bernhard Schäfers: »Zur Begründung der Architektursoziologie«, in: Soziologie 33 (2004), S. 35-48; Joachim Fischer: »Die Bedeutung der Philosophischen Anthropologie für die Architektursoziologie«, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Soziale Ungleichheit – Kulturelle Unterschiede. Verhandlungen des 32. Kongresses der DGS in München 2004, Frankfurt a.M./New York: Campus 2006, CD, S. 3417-3429; Herbert Schubert: »Empirische Architektursoziologie«, in: Die Alte Stadt 32 (2005), S. 1-27; Heike Delitz: »Architektur als Medium des Sozialen. Ein Vorschlag zur Neubegründung der Architektursoziologie«, in: Sociologia Internationalis 43 (2005), H. 1/2, S. 1-23. Dies.: Architektur als »Medium des Sozialen«, phil. Diss. TU Dresden 2009. Z.B. Michael Makropoulos: »Die infrastrukturelle Konstruktion der ›Volksgemeinschaft‹. Aspekte des Autobahnbaus im nationalsozialistischen Deutschland«, in: Ulrich Bröckling/Axel T. Paul/Stefan Kaufmann (Hg.): Vernunft – Entwicklung – Leben. Schlüsselbegriffe für die Moderne. Festschrift für Wolfgang Eßbach, München: Fink 2004, S. 185-204; Joachim Fischer: »Prager Straße in Dresden. Zur Architektursoziologie eines utopischen Stadtensembles«, in: Ausdruck und Gebrauch 5 (2005), S. 4-14; Heike Delitz: »Gebaute Begehrlichkeit. Zur Architektursoziologie 385
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Disziplin arbeiten. Die Wahlverwandtschaft zur Disziplinbildung in anderen nationalen Soziologietraditionen wird deutlich.5 Dieser Aufbau der Disziplin eröffnet die Aussicht einer gleichsam strategischen Anschlussreflexion: Was kann man mit dieser Architektursoziologie alles machen, in welchen Kontexten bringt man sie zur Geltung, für wen kann man ihr Aufschließungspotential entfalten? Perspektivisch wird ein doppeltes Potential sichtbar – das ist die These, die hier verfolgt wird: Eine Soziologie der Architektur kann Folgen für die Architektur und für die Soziologie haben. Was bringt die Soziologie die Architektur? Architektursoziologie kann einen Dienst für die »Architektur« leisten, für alle, die mit der Architektur professionell beschäftigt sind: Architekten und Architektinnen, Stadtplaner, Architekturtheoretiker und -kritiker, Studierende der Architektur. Was leistet die Soziologie für die Architektur – und zwar so, dass sie nicht nur eine Randdisziplin, sondern unverzichtbar für Theorie und Praxis der Architektur sein würde? Mindestens ebenso interessant die Perspektive in umgekehrter Richtung: Was bringt die Architektur der Soziologie? Was verschiebt sich durch die Architektursoziologie in der Soziologie – wenn Architektur nicht nur aus soziologischen Prämissen als ein neues, spezielles Anwendungsfeld erschlossen wird, sondern Architektur sozialtheoretisch als soziales Grundphänomen im Inneren der Soziologie selbst zur Geltung kommt? Um die Potenz des Architekturphänomens für die Allgemeine Soziologie zu entfalten, muss man die Architektursoziologie durch die Raum- und Stadtsoziologie schleusen – mit Folgen für beide –, um mit ihr schließlich im Zentrum der gesellschaftstheoretischen Diagnostik der Moderne zu operieren. Die Architektursoziologie würde systematisch bedeutend für die Orientierung der Soziologie selbst.
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der Konsumgesellschaft in Deutschland«, in: Dominik Schrage/Kai-Uwe Hellmann (Hg.), Das Management des Kunden. Studien zur Soziologie des Shopping, Wiesbaden: VS 2005, S. 39-66. Die von Heike Delitz erstellte Website http://www.architektur-sozio logie.de. Florent Champy: Sociologie de l’architecture, Paris: La Découverte 2001; Thomas Gieryn: »What Buildings do«, in: Theory and Society 31 (2002), S. 35-74; Paul Jones: The Sociology of Architecture: Constructing Identities, Liverpool: UP 2009.
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1 W a s b r i n g t d i e S o z i o l o g i e d e r Ar c h i t e k t u r ? Ar c h i t e k t u r s o z i o l o g i e f ü r Ar c h i t e k t e n Inwiefern könnte die Soziologie in Gestalt der Architektursoziologie aufschlussreich sein für alle, die beruflich mit Architektur befasst sind, mit der Kunst und Wissenschaft des Entwurfs von Gebäuden, Gebäudekomplexen, der Stadt, der Erhaltung und Umgestaltung ganzer Siedlungen, der öffentlichen Beurteilung des Gebauten, dem Management von Architekturdebatten? Wichtig ist zunächst, die Architektursoziologie identifizierbar zu machen, indem man sagt, was sie nicht ist: Sie ist nicht zu verwechseln mit der Architekturtheorie (der Ideengeschichte der Architektur in Vergangenheit und Gegenwart), mit der Kunst- und Baugeschichte der Architektur6, mit der Architekturkritik (im Sinne der Wertung von Planungen, Bauwerken oder architekturtheoretischen Konzepten); Architektursoziologie ist weder Architekturpsychologie7, Architekturkulturwissenschaft (zum Beispiel in Gestalt der Semiotik8), noch geht sie im politikwissenschaftlichen Interesse an der repräsentativen Architektur der Demokratie auf.9 Sie ist keine Philosophie der Architektur.10 Eine Kooperation mit diesen Disziplinen ist für die Architektursoziologie fruchtbar, aber sie funktioniert nur bei einer klaren Identität als Soziologie der Architektur.
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Zur Geschichte der Architektur des 20. Jahrhunderts z.B. Wolfgang Pehnt: Deutsche Architektur seit 1900, München: DVA 2005. Nikolaus Pevsner: Europäische Architektur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Mit e. Beitrag zur Architektur seit 1960 von Winfried Nerdinger, 9. Aufl. München: Prestel 2008. 7 Peter R. Richter: Architekturpsychologie. Eine Einführung, 3. Aufl., Lengerich u.a.: Pabst 2008. 8 Umberto Eco: »Function and Sign. The Semiotics of Architecture«, in: Geoffrey Broadbent/Richard Bunt/Charles Jencks (Hg.), Signs, Symbols, and Architecture, New York: Wiley 1980, S. 11-70. 9 Hans Vorländer (Hg.): Zur Ästhetik der Demokratie. Formen der politischen Selbstdarstellung, Stuttgart/München: DVA 2003. 10 Impulsgebend: Martin Heidegger: »Bauen, Wohnen, Denken« (1954), in: Ders., Vorträge und Aufsätze, Pfullingen: Neske 1967, S. 139-156. Peter Sloterdijk: Sphären I. Blasen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998. Systematisch, zur Ethik und Ästhetik der Architektur Christian Illies: »Die Architektur als Kunst«, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 50/1 (2005), S. 57-76. Ders./Nicholas Ray: »Philosophical Issues of Architecture«, in: Dov M. Gabbay/Paul Thagard/John Woods (Hg.), Handbook of the Philosophy of Technology and Engineering Sciences, Amsterdam: Elsevier (im Druck). 387
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1.1 Architektursoziologie – Die soziologische Kernintuition für die Architektur Ausgangspunkt ist, dass sich Architekten, Stadtplaner, Architekturtheoretiker und -kritiker und Denkmalpfleger immer schon implizit ›architektursoziologisch‹ artikulieren: wenn sie sich über die soziale Dimension der Entwürfe, der Absichten und Bedeutungen des Gebauten äußern. Diese in die Architektur ›eingebaute‹ Sozialdimension nimmt eine Soziologie der Architektur explizit auf. Von der Soziologie aus die Perspektivierung der Architektur behutsam weiterführend – um nicht zum Auftakt zu viel vom Soziologiepotential zu verschenken – kann man sagen: die »Wechselwirkungen«, die Vergesellschaftung zwischen den Akteuren, dem Einen und dem Anderen, dem Subjekt und dem »Sozius« (dem »Gefährten«), zwischen den formierten Subjekten einer gesellschaftlichen Formation, vollziehen sich auch in der Konstitution und Gestaltung von Räumen: in der Einräumung von Siedlungen, Häusern, Städten, Brücken, Landschaften, mit Türen, Fenstern und Türmen, Denkmalen und Plätzen; und über die Innengliederung des umbauten Raums. Um die ganze Soziologie mit hineinzunehmen, kann man bei dieser Perspektivierung der Architektur dahin gestellt sein lassen, ob sich das »soziale Apriori«, die Formierung des Sozialen eher intersubjektiv oder transsubjektiv (überpersönlich) konstituiert. Wichtig für eine Soziologie der Architektur ist allerdings, das komplexe Spektrum der sozialen Formen im Blick zu behalten, also wie Simmel unübertroffen unbestechlich (aus seiner Metropolenerfahrung) formuliert hat: das »Miteinander, Füreinander, Ineinander, Gegeneinander, Durcheinander«.11 Wenn sich die Vergesellschaftung auch über, im und durch den gebauten Raum vollzieht, sind von Beginn an Kooperation und Konflikt, Verständigung und Rivalität, Differenzierung und Integration, Über- und Unterordnung, Macht und Ohnmacht, Inklusion und Exklusion eingebaut. Architektur ist so brisant und penetrant wie das Soziale selbst. Dass sich das Soziale grundlegend durch die Bauerschließung des Raumes seinen »Weg« bahnt, über »Wege« und »Brücken« Verkehrsformen12 erschließt und durch künstliche Grenzziehungen – »Wände« und ihre »Türen« – semipermeable Zugehörigkeit und Abschirmung
11 Georg Simmel: »Soziologie der Geselligkeit« (1911), in: Ders., Soziologische Ästhetik, hg. u. eingel. v. Klaus Lichtblau, Darmstadt: WBG 1998, S. 191-205. 12 »Verkehrsformen« hier im mehrfachen Sinn des Wortes seit dem 19. Jahrhundert: die Verkehrsbauten des räumlichen Zueinanderkommens, die Handels- und Austauschbeziehungen, der Umgang miteinander (Verkehrssprache), die Paarung von exogamen Geschlechtspartnern. 388
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markiert, ist der klassischen Soziologie präsent gewesen.13 Zugleich bringt eine Soziologie der Architektur den umgekehrten Zusammenhang von gebauter Umwelt und sozialer Mitwelt in den Blick: die rückwirkende Kraft der Architekturen, die mit ihren »Bautypen«14 und ihren Baustilen die »Chance« implizieren, Bewegungsweisen, Geschwindigkeiten, Wahrnehmungen und damit Interaktionsmodi nahezulegen und andere zu blockieren.15 Das Gebaute in seiner »Effektivität« kann hier selbst als »Aktant«, als »Sozius«, als Mitspieler des Sozialen von der Architektursoziologie verstanden werden.16 Der gebaute, umbaute Raum suggeriert – nonverbal – kultur- und schichtspezifische »Raumnutzungsmuster«. Hat die Soziologie im Hinblick auf die Architektur so das anonyme Feld zwischen gebauter Umwelt und sozialer Mitwelt eröffnet, kann sie nun die Figur des Architekten »soziologisieren«. Eine Architektursoziologie für Architekten muss die »Figur« des Architekten in ihrer historisch-soziologischen Konstitution professionssoziologisch spezifizieren. Das grundlegende soziale Beziehungsmuster in der Architektur ist die Figuration Bauherr-Architekt-Nutzer (respektive Nutzerin). Dass die Relation notwendig triadisch ist, weil Bauherr und Nutzer nicht kongruent sind, dass Architekten (bisher weitgehend männlich) nicht nur im Auftrag des (öffentlichen oder privaten) »Bauherrn«, sondern immer auch in Erwartung der Nutzer bauen, sieht man schlagartig daran, dass sie bereits immer auch für Frauen (die bei der weltweit und weltgeschichtlich gebauten Architektur überwiegend nicht Auftraggeber oder Baumeister waren) mitgeplant und -gebaut haben.17 Zelte, Häuser und Höfe, aber auch öffentliche Räume, sind auch auf Frauen als Nutzerinnen hin orientiert worden.18 Da eine zentrale »Gabe« im Verhältnis von Männern und Frauen durch alle Hochkulturen hindurch bis in die Moderne der zur Verfügung gestellte umbaute Raum war, die Wohnpräferenz (für sie und eventuelle Neuankömmlinge) mit ein Selektionsparameter der Frauen
13 Georg Simmel: »Brücke und Tür«, in: Ders., Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft, hg. v. Michael Landmann, Stuttgart: Koehler 1957, S. 1-7. 14 Ernst Seidl (Hg.): Bautypen. Funktionen und Formen der Architektur, Stuttgart: Reclam 2006. 15 B. Schäfers: Architektursoziologie, S. 35. 16 H. Delitz: Architektur als Medium des Sozialen (2009). 17 Man muss differenzieren für nichtmoderne (nomadische) Architekturen, bei denen die Frauen die Zeltwände weben. 18 Zum Haus der Kabylen als nicht-moderner Kompromissbildung zwischen den Geschlechtererwartungen und -interessen vgl. Pierre Bourdieu: »Das Haus oder die verkehrte Welt«, in: Ders., Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 468-489. 389
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bildete, waren architektursoziologisch gesehen auch Frauen über ihre Nutzererwartungen, ihre Geschmacksbildung und -entscheidung eine permanente Steuerungsgröße der Architekturgeschichte: ihre Erwartungen mussten mit erwartet werden. In diesem Sinne haben Frauen, je nach ihren Interessen und Einflussmöglichkeiten, vermittelt über den »Bauherren«, die Baumeister bauen lassen. Über das Beziehungsgefüge Bauherr-Architekt-Nutzerin erlaubt es die Architektursoziologie, eine feminine Soziogenese bestimmter Bautypen (zum Beispiel Tempel, Kirchen, Klöster, Hofhäuser, Wohnhäuser, Villen, Schlösser, Marktplätze, Theater, Passagen, Kaufhäuser) und vielleicht auch Baustilen zu rekonstruieren.19 Diese Figuration ist der Prototyp für das tertiäre Beziehungsgefüge des Architekten überhaupt. Soziologisch entscheidend ist, dass der Architekt bei seinen Bauaufgaben eine Drittenfunktion hat: dass er Erwartungen aus verschiedenen Richtungen erwarten und mit den technischen Möglichkeiten, topographischen und klimatischen Bedingungen koordinieren muss: die des Auftraggebers, die der Nutzer. Diese tertiäre Position, die sein Berufsfeld disponiert (Mittler, Sündenbock) vervielfacht sich, wenn man die Position der Rivalität (die Konkurrenz mit anderen Baumeistern in Wettbewerben), die Position der Kooperation (mit Handwerkern, Bauleiter, Statiker, Haustechniker), die Position des Übersetzers (der die latenten Menschen-, Welt- und Gesellschafts-Ideen des Kollektiven in eine baukörperliche Gestalt transformiert) hinzunimmt. Die zu erwartenden Erwartungen komplizieren sich, wenn Bauherr und Investor sich differenzieren, zu den konkreten Nutzern Bauämter, politische Entscheidungsgremien, Bürgerbeteiligungen hinzukommen.20 Architektursoziologisch lässt sich also die Sozialdimension in der Sachdimen-
19 Diese Beobachtung ist zunächst trivial – bedarf dann aber der speziellen Erforschung. Vgl. z.B. Werner Sombart: Liebe, Luxus und Kapitalismus (1912), München: dtv 1967, S. 127-140, mit erhellenden Bemerkungen zum »Sieg des Weibchens« (»Wohnluxus«, »Luxus in der Stadt«) in der Formierungsphase des modernen Kapitalismus. Hat man diese Mitberücksichtigung von Frauenerwartungen in der Architekturgeschichte verstanden, greifen die kritischen Differenzierungen der »gender studies«. Vgl. Susanne Frank in diesem Band. 20 Die Genese und Wandlung des »Architekten« ist sinnvoll nur soziologisch zu rekonstruieren: Martin Warnke: Bau und Überbau. Soziologie der mittelalterlichen Architektur nach den Schriftquellen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984. Oliver Schmidtke: Architektur als professionalisierte Praxis – Soziologische Fallrekonstruktion zur Professionalisierungsbedürftigkeit von Architektur, Frankfurt a.M.: Humanities-Online 2006. 390
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sion des Gebauten21 selbst aufweisen, insofern das je Gebaute eine konstruktive Kompromissbildung erwarteter verschiedener Erwartungen ist.
1.2 Architektursoziologie – die integrierende Kraft der Soziologie für die Architektur Eine Soziologie der Architektur kann nicht so gemeint sein, als trete nun zusätzlich zu den ökonomischen, rechtlichen, medialen, politischen Aspekten, mit denen der Architekt neben den bauphysikalischen, technologischen und konstruktiven befasst ist, ein »sozialer Aspekt« mit hinzu. Umgekehrt gilt: Da die Soziologie für alle Sozial- und Kulturwissenschaften die Schlüsseldisziplin ist, da sie überhaupt die Ausdifferenzierung des Ökonomischen, des Rechtlichen, des Politischen, des Religiösen und Ästhetischen, des Massenmedialen zu Teilsystemen des Sozialen rekonstruiert, kann sie diese Auffächerungsleistung auch für die Architektur erbringen. Die Architektursoziologie ersetzt nicht die Kenntnis des Baurechts, der Kalkulation, der politischen Verfahren und ästhetischen, religiösen, insgesamt kulturellen Aspekte – aber als Soziologie der Architektur kann sie die Übersetzbarkeit zwischen diesen Dimensionen des Sozialen mit seinen Normierungen, Normalisierungen und Spielräumen aufzeigen. Dem gesamten Baugeschehen wohnt eine Sozialdimension inne, und diese differenziert sich in ökonomische (Verfügung über Ressourcen), rechtliche (Eigentum, öffentliches Baurecht), politische (Stadtplanung) und kulturelle, religiöse und ästhetische Aspekte aus, die je einer eigenen Codierung folgen. Nur wenn man mit der Einbettung der gebauten Umwelt in die Sozialität ansetzt, erschließt sich für das Architekturbewusstsein die Brisanz des Axioms der Architektursoziologie, die Architektur sei ein »Medium« der Gesellschaft (Delitz). Architektur ist auch, aber eben nicht nur ein Anzeiger, Spiegel, Ausdruck für bereits geklärte Verhältnisse der Gesellschaft. Architektursoziologie zielt vielmehr auf den Kern des Architektenbewusstseins – den »Entwurf« – wenn sie postuliert: im Wandel der Bauaufgabe, der Grundrisslösung, der Größenordnung, des Materials, der Gestalt, von Fenstern und Eingängen, Treppen und Raumgliederungen rafft sich ein erst latenter sozialer Wandel, der Zug der Zeit, der gespenstisch seine Gleise vor sich her wirft, zu einer fixierten Raumgestalt, in der der Wandel selbst sich anerkennt oder – vor sich 21 Sachdimension des Gebauten heißt: im Kerngeschäft des Baumeisters muss im Entwurf das zu Bauende, je nach Bauaufgabe, gemessen, ausgezählt, berechnet, gezeichnet werden. Ernst Neufert: Bauentwurfslehre (1936), 39., überarb. u. aktual. Aufl., Braunschweig: Vieweg + Teubner 2009. 391
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selbst erschrocken – abbricht und neu aufbricht.22 Erst durch die Architektursoziologie wird auch die Stadtsoziologie für die Architekten interessant, wenn die Stadt vom Bauen her gedacht wird: von der Kernkompetenz des Architekten her.
1.3 Architektursoziologie – die multiperspektivische Kraft der Soziologie für die Architektur Hat die Soziologie der Architektur die Kraft, verschiedenste Parameter der Architektur zu kontrahieren, bietet sie im Gegenzug die reflexive Vielfach-Perspektivierung. Die Architektursoziologie bietet dem Architekten die irreduzible Theorienvielfalt der Soziologie und die Methodenvielfalt der Sozialforschung. Diese Vielfalt ist ein springender Punkt: nur über ihn kann man langfristig die Potenz für Architekten entfalten. Man muss erinnern, dass ein erster Versuch der Etablierung einer Architektursoziologie Ende der 1960er Jahre daran gescheitert ist23, dass er in der Soziologie im Ausgang von einer kritisch-materialistischen Theorie Architektur als Gesellschaftspraxis und -wissenschaft definierte und monopolisierte – die Soziologie der Architektur auf eine zu schmale Theoriebasis stellte. Diese Rückbindung an eine (neo-)marxistische, kapitalismuskritische Gesellschaftstheorie samt einer dogmatischen Architekturkritik entsprach bereits zu jener Zeit nicht dem pluralen Theorienstand der Soziologie und war auch mit Bezug auf Vorläufer einer Soziologie der Architektur theoriegeschichtlich unplausibel, theorieystematisch zu eng und forschungsperspektivisch kurzsichtig. Der multiperspektivische Zustand des Faches Soziologie ist seit den 1980er Jahren, auch im Auftauchen neuer Paradigmen (Poststrukturalismus, Cultural Studies, Gender Studies, Rational-Choice) als Konstitution der Disziplin etabliert24 und hat theorietechnisch zu Formen des Theorienvergleichs geführt. Eine Variante (der »Theorienvergleich an einem Fall«) hat sich bereits ein Architektur- und Stadtphänomen (»Potsdamer Platz«) als Bewährungsprobe gewählt25 und sieben ver22 Die gesellschaftskonstitutive Funktion der Architektur gilt auch für die vormoderne (bzw. jetzt, soweit noch greifbar, nicht-moderne) Nomadenarchitektur. Vgl. Heike Delitz: »Die zweite Haut des Nomaden. Zur sozialen Effektivität nicht-moderner Architekturen«, in: Peter Trebsche/Nils Müller-Scheeßel (Hg.): Bausteine einer Soziologie vormoderner Architekturen, Münster: Waxmann 2009 (im Erscheinen). 23 Vgl. den Beitrag von Bernhard Schäfers in diesem Band. 24 Die neueste Dokumentation: Georg Kneer/Markus Schroer (Hg.): Soziologische Theorie. Ein Handbuch, Wiesbaden: VS 2009. 25 Joachim Fischer/Michael Makropoulos (Hg.): Potsdamer Platz. Soziologische Theorien zu einem Ort der Moderne, München: Fink 2004. 392
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schiedene Theorien aufgefordert, ihre Erschließungskraft an diesem »Ort der Moderne« zu klären.26 Dort ist angespielt, was erst der vorliegende Band systematisch entfaltet: Dass sich die »Architektur der Gesellschaft« aus verschiedenen Theorien verschieden konzeptualisiert. Das Spektrum der »sozialen Morphologie«, Figurationssoziologie, phänomenologisch-hermeneutischen Soziologie, Institutionenanalyse, historisch-soziologischen Wahrnehmungstheorie, Philosophischen Anthropologie, Systemtheorie, Diskursanalyse, Cultural und Gender Studies, Ungleichheitstheorie und materialistischen Strukturierungstheorie zeigt die verschiedenen Möglichkeiten, das Interpenetrationsverhältnis von Sachund Sozialdimension in der Architektur, gebauter Umwelt und Mitwelt je zu perspektivieren. Dass diese Theorienvielfalt dem Bewusstsein der Architekten und Architektinnen entgegenarbeiten könnte, einem Bewusstsein, das habituell und professionell das eine Bauphänomen aus verschiedenen Perspektiven entwirft, sei nur am Rande vermerkt. Die verschiedenen Theorierichtungen halten sich gegenseitig in Schach: Sie verhindern, dass die Partie der »Architektur der Gesellschaft« zugunsten einer Perspektive aufgelöst wird.
1.4 Architektursoziologie im Zentrum der Architektur: Architektur der Gesellschaft Eine so in ihrem derzeitigen Stand umrissene und pointierte Disziplin Architektursoziologie könnte tatsächlich für die Architektur bedeutend sein. In der Theorieausbildung wäre die Architektursoziologie effektiv, insofern sie neben der kunst- und technikhistorischen Bestandsaufnahme eine theoriegeleitete Aufklärung über die Sozialdimension (historischer) Architekturen ermöglicht. Die Rekonstruktion sozio-historischer Aprioris würde stärker als bisher sichtbar machen, inwiefern die unsichtbaren Prinzipien der jeweiligen Sozialität an den sichtbaren Bauten mitwirken.27 Werdende Architekten und Architektinnen gewännen ein reflektiertes Bewusstsein der »Architektur der Gesellschaft«: die Gesellschaft baut im Rücken ihrer Entwürfe mit und wird zugleich im Medium der schöpferischen Konstruktionen über sich selbst unterrichtet. In der Praxis der Architektur würde Architektursoziologie als Planungsbeihilfe
26 Dazu gehörten: Kritische Theorie, Systemtheorie, Philosophische Anthropologie, Cultural Studies, Gender Studies, Poststrukturalismus, Rational Choice Theorie. 27 Vgl. z.B. Bernhard Schäfers’ architektursoziologische Rekonstruktion des 19. und 20. Jahrhunderts: Architektursoziologie, S. 59-165. Außerdem die Fallstudien von Heike Delitz für das 20. Jahrhundert: Architektur als Medium des Sozialen (2009), S. 143-226. 393
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fungieren – nicht in normativer Absicht, sondern in der Systematisierung der differenten sozialen Parameter des Bauens. Immer geht es darum, wie Innenräume von Außenhüllen separiert und perforiert werden und wie die Baukörper untereinander »verkehren«, Verkehrsformen der Gesellschaft bahnen. Als Architektursoziologie bietet die Soziologie die Distanzleistung des soziologischen Blicks: Jede Architektur ist von der Gesellschaft her angreifbar, jede Konstruktion destruierbar – in der Belagerung, in der Zerstörung, im Verfall, im Abriss. Architektursoziologie erlaubt den Architekten auch, den jeweiligen Architekturstreit – die Debatten um Konstruktion, De-konstruktion, Rekonstruktion von Baukörpern – zu entschlüsseln. So aufgestellt, könnte »Architektursoziologie« in das Curriculum der Architekturfakultäten einziehen.
2 . W a s b r i n g t d i e Ar c h i t e k t u r d e r S o z i o l o g i e ? Ar c h i t e k t u r s o z i o l o g i e f ü r S o z i o l o g e n Ich drehe die Perspektive um. Inwiefern ist die Architektursoziologie aufschlussreich für die Soziologie: für die Allgemeine Soziologie oder für die soziologische Diagnostik der Moderne? Vom Status her könnte die Architektursoziologie in der Disziplin Soziologie immer noch als marginal erscheinen, im Vergleich zum Beispiel zur Industrie- und Betriebssoziologie, zur Wirtschafts-, Technik-, Rechts-, Mediensoziologie. Die folgenden Überlegungen kreisen um ein einziges Ziel: die Architektursoziologie von der Peripherie in das Zentrum der Soziologie zu schleusen; gelänge das, hätte Architektursoziologie einen zentralen Status für die Sozialtheorie und für die Beobachtung der modernen Gesellschaft.28 Das setzt auf der Sachebene voraus, zu klären, warum die ›schwere‹ Architektur (und über sie der Raum und die Stadt) mitten in der Moderne, mitten in flinker geld- und rechtsgesteuerter und überlokal massenmedialer Kommunikation zentral für die Moderne ist. Diese Einschleusung der Architektursoziologie ins strategische Zentrum der Soziologie verlangt vier Stufen. Zunächst ist die Architektur aus ihrer Phänomenalität her als ein – im Kontrast zu anderen kulturellen Medien – eigenlogisches Medium zu präzisieren. Dies ist die Voraussetzung, um die konstitutive Sozialdimension der Architektur in ihrer Wucht zu erschließen – und zwar durch eine sozialtheoretische Umakzentuierung der Raumsoziologie und eine Umwandlung der Stadtsoziologie. Hat 28 Vgl. den ersten Versuch zu dieser Begründung der Architektursoziologie: Joachim Fischer: »Die Bedeutung der Philosophischen Anthropologie für die Architektursoziologie«. 394
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man die Architektur als das »schwere Kommunikationsmedium« der Vergesellschaftung so weit geführt, findet sich die Architektursoziologie im Zentrum der soziologischen Modernediagnostik wieder: Man erkennt, warum Architekturdebatten keine Nebendebatten, sondern Zentraldebatten gegenwärtiger Vergesellschaftung sind.
2.1 Architektur – zur Eigenlogik eines Mediums der kulturellen Welt- und Selbsterschließung: Baukörpergrenze Um die Architektursoziologie ins Zentrum der Soziologie zu bringen, muss man einen wichtigen Schritt ohne Soziologie gehen – gleichsam einen Anlaufrückschritt nehmen. Um der Architektursoziologie das Momentum in der Soziologie geben zu können, darf die Soziologie nicht bei der Soziologie der Architektur anfangen. Sie muss einen Umweg gehen, indem sie die Architektur noch vor ihrer Sozialdimension erschließt. Es ist für die Architektursoziologie zentral, die Architektur von der Kultursoziologie her vorzubereiten. Sie muss Architektur in ihrer Phänomenalität als eigenlogisches Medium der kulturellen Welt- und Selbsterschließung nachvollziehen, im Vergleich mit anderen Medien. Die Soziologie begreift die Architektur zu oft zu rasch in der Analogie zu anderen kulturellen Medien, mit denen sie bereits vertraut ist. Architektur funktioniert aber nicht wie eine »Sprache«, wie ein »Text«, wie ein »Bild«, wie eine »Skulptur«, wie »Musik«, nicht wie ein technisches »Artefakt«: anders als diese anderen Medien des Welt- und Selbstzuganges. Zwar ist es möglich (und folgenreich), die Architektur metaphorisch nach dem Muster anderer Medien aufzufassen, aber in der Grundlegung birgt auch nur eine dieser uneigentlichen Redeweisen über Architektur die Gefahr der Verkennung, und zwar gerade ihrer spezifisch sozialen Dimension.29 Die Eigenlogik der Architektur zu ermitteln, heißt auf das spezifische »Wie« der kulturellen Welt- und Selbsterschließung im Bauwerk achtgeben – noch vor der Frage des Zweckes, der Funktion. Eine Schu29 Selbstverständlich steigert und verändert Architektur als Medium ihre Wirkung durch andere Medien, z.B. Sprache und Bildlichkeit: Diskurse, vom Stadtgeschwätz bis zur gepflegten Semantik der Architekturkritik kreisen um das Gebaute, wirken durch Namengebung, Verballhornung, lobende Aufladung, historischen Vergleich an der Bedeutungsentfaltung und Bedeutungsverschiebung von Bauwerken und Stadtensembles mit. Ebenso wirken »Architekturbilder« rückwirkend an der Entfaltung von Architektur mit, von den Stadtveduten bis hin zur fotografischen Bildpolitik bei der Durchsetzung des Bauhaus-Stils. Aber die Architektur selbst funktioniert nicht wie eine »Sprache« oder ein »Bild«. 395
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lung für diese Aufgabe ist Cassirers Differenztheorie der »symbolischen Formen«: die Medien des Welt- und Selbstzuganges (wie Sprache, Mythos, Technik, Wissenschaft) in ihren Funktionsweisen so voneinander zu unterscheiden, dass sie nicht miteinander verwechselt werden können, dass jede als spezifische Verknüpfungsart von Sinnlichkeit und Sinn zur Geltung kommt.30 Charakteristisch ist dann für die Architektur als kulturelles Medium die Umschließung eines Raumes, die Grenzziehung zwischen Innen- und Außenraum durch Wand, Decke, Boden, in die zugleich Schließungsöffnungen eingefügt sind. Architektur als kulturelles Medium ist die Setzung und Erfahrung semipermeabler »Baukörpergrenzen« – wie ich es zu nennen vorschlage –, künstlicher Baukörpergrenzen – gleichsam die Erfahrung einer dritten Haut, nach der Körperhaut und der Kleidung. Diese phänomenale Eigenlogik der Architektur ist keine neue Entdeckung, man muss sie nur erneut zur Geltung bringen, um durch sie die Sozialdimension der Architektur zu erreichen. Bekannt ist die Architekturtheorie Gottfried Sempers, der – in seiner Kleider- und Maskentheorie des Bauens – die Wände aus dem Gewand, dem gewundenen Flechtwerk hergeleitet hat, aus dem diese künstlichen Grenzen des Baukörpers hergestellt werden.31 Wenn es Architektur gibt, ist die kulturelle Eigenlogik der Baukörpergrenze, die künstliche Umschließung in Kraft, ontogenetisch und phylogenetisch vorgängig: gleich ob es sich um Zeltarchitektur oder um Glasarchitektur oder um eine Raumstation handelt. In dieser Medienlogik der Architektur wird in spezifischer Weise Welt und Selbst angeordnet, und an diese Funktionsweise schließen sich immer schon Funktionen an. In den Baukörpergrenzen sichert das menschliche Lebewesen die Gefährdetheit und Gleichgewichtslosigkeit seiner körperlichen Existenz (Temperatur-, Witterungsschutz) und reguliert zugleich durch diese artifiziellen Grenzen sein Erscheinen in der Welt – wie umgekehrt das Erscheinen der Welt in seinem künstlichen Bezirk. Als Baukörpergrenze ist Architektur notwendig die Kopplung von Funktion und Ausdruck, wie bereits Kleid und Haut. Diese Eigenlogik der Architektur wird prägnant im Kontrast zu anderen Medien. Anders als in der atemleichten Sprache sind die Bauartefakte schwer und (zumeist) fixiert. Anders als im Text, der den Sinn sukzessiv entfaltet, ist der Baukörper simultan gegeben (in der Begehung 30 Ernst Cassirer selbst behandelt die Architektur nur am Rande: Philosophie der symbolischen Formen (1923-1929), Darmstadt: WBG 1953. 31 Gottfried Semper: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten, oder praktische Ästhetik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde, Erster Band: Die textile Kunst für sich betrachtet und im Verhältnis zur Baukunst, Frankfurt a.M.: Verlag für Kunst und Wissenschaft 1860, § 60, S. 227ff. 396
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sich vertiefend).32 Anders als das Bild, das in seiner zweidimensionalen Fläche etwas sehen lässt, dem der Betrachter gegenübersteht, bewegt sich das Lebewesen im Verhältnis zum Bauwerk innen wie außen, erfährt die elementare Differenz von System und Umwelt.33 Obwohl wie die Skulptur dreidimensional, ist das Bauwerk keine Plastik: es ist eine Raumhülle, die das Subjekt umschließt und damit das Subjekt-ObjektVerhältnis unterläuft. Obwohl technisch konstruiert, ist das Bauwerk kein Artefakt nach Analogie eines Gerätes – es funktioniert nicht wie ein »Berliner Schlüssel«: Der Prototyp des Artefaktes (auch in seinem Status als »Aktant«)34 ist das Instrument, das Zuhandene, das sich zwischen die manipulierende Hand und das Vorhandene schiebt. Der Prototyp der Architektur ist hingegen der umschlossene Raum, in den man schlüpft und aus dem man blickt und tritt. Architektur vermittelt am Objekt im Objekt die Anschauung der Reduktion von Komplexität, stabilisierter Binnenkomplexität im Grenzverhältnis zur Welt-im-Übrigen. Schließlich ist Architektur nun in ihrer Baumasse nicht einfach als Materialität adäquat verstanden, also der kompakten raumfüllenden Stofflichkeit gegenüber abstrakten Strukturen. Die Pointe der Architektur ist der künstliche Hohlraum in der Materie aus Materie: die ausgesparte Materie. Deshalb evoziert die Baukörpergrenze nach innen und außen die Erfahrung von System-Umwelt-Grenzen, nach oben und unten Schichtengrenzen. Anders als Musik wiederum, die mit der Architektur die umhüllende „Atmosphäre“35, den Widerfahrnischarakter teilt, ist Architektur in ihrer harten Materialität (und sei sie aus Flechtwerk oder Glas) ein bleibendes, schwer wegschaffbares, nie ausschaltbares Medium der Selbstund Welterfahrung. Musik hebt an und verklingt, das Bauwerk harrt und bleibt.
32 Die Redeweise von einer »Architektursprache«, vom Bauwerk als »Einschreibung« eines Sinns in das Material trifft die Phänomenalität der Architektur sowenig wie die aus der linguistischen Semiotik stammende Vorstellung, der Nutzer sei eine »Leser« des Baukörpers. Zur Semiotik der Architektur vgl. Schäfers: Architektursoziologie, S. 43, 57. Zur differierten Beurteilung der Leser- und Übersetzermetapher: William Whyte: »How do buildings mean? Some issues of interpretation in the history of architecture«, in: History and Theory 45 (May 2006), S. 153-177. 33 Architektur ist immer gezeichnet und insofern ein im Entwurf sichtbares »Bild«; das zentrale Medium des Entwurfs ist aber das »Modell«, durch das die Innen-Außen-Erfahrung simuliert wird; diese Simulation ist es, die das computergestützte Entwerfen fortsetzt. 34 Bruno Latour: Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften, Berlin: Akademie 1996. 35 Hermann Schmitz: Der Gefühlsraum. Das System der Philosophie, Bd. 3, 2. Teil, Bonn: Bouvier 1969. 397
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»Es wird nicht etwas im Raum gebaut, sondern archaischer Hüttenbau wie moderne Architektur betreiben beide Herstellung und Gestaltung von Raum. Der Raum entsteht gleichzeitig mit und durch das Bauen«.36 Jede dieser Raumbildungen ist eine Grenzziehung, die ein Drinnen von einem Draußen unterscheidet und ein Oben und Unten. Von allen menschlichen Lebewesen wird dies ständig körperlich erlebt, angeschaut, gespürt37, – zwischen dem »Ein-wohnen« des markierten Raumes und dem Auswärtig-Sein, zwischen dem Darüberstehen im oberen Stock und dem Darunter-Stehen im Parterre oder Keller. Menschen bewohnen und gebrauchen diese je zwischen einem Außen und einem Innen markierten, in ein Oben und ein Unten geschichteten und in sich gegliederten Räume als Räume des Schlafens, Kochens, Arbeitens, der Körperpflege, als Habitate der Kohabitation, als Räume und Ecken der Kinder, der Bildung, des Speicherns und Handelns, der Unterhaltung, der Ehrfurcht, des Schutzes und der Abwehr, des Weg- und Einschließens: dann sitzt man im »Bau«, in dem vielleicht die Gedanken noch frei sind, aber nicht mehr die körperliche Bewegung. Der architektonische Raum ist der Nullpunkt von Nähe und Ferne: Die Peripherie einer Territoriumsgrenze erschließt sich vom Haus aus, das Meer vom Hafen, dem Port, der Pforte an der Grenze von Land und Meer.
2.2 Architektursoziologie als Schlüssel der Raumsoziologie: Architektur als Kommunikationsmedium Hat man die Architektur als »Baukörpergrenze« bestimmt, hält man den Schlüssel zur Raumsoziologie in der Hand. Das geht dadurch, dass man von einem kulturtheoretischen Mediumsbegriff (Cassirer) zu einem soziologischen Begriff des Mediums als Kommunikationskoordination umschaltet (Simmel, Luhmann) – wie bei einem Gestaltswitch. Architektur als die künstliche raumbildende Grenze ist immer zugleich Ausdruck dieser Grenze. Da jede von Menschen konstruierte Baukörpergrenze genuin auch expressiv ist, enthält sie das Potential, eine darstel-
36 Andreas Ziemann: Die Brücke zur Gesellschaft. Erkenntniskritische und topographische Implikationen der Soziologie Georg Simmels, Konstanz: UVK 2000, S. 260f. 37 Dieses Entsprechungsverhältnis von Körperlichkeit und Raumerschließung ist von Phänomenologen wie Otto F. Bollnow (Mensch und Raum (1963), Stuttgart: Kohlhammer 1980) und Bernhard Waldenfels (»Leibliches Wohnen im Raum«, in: Gerhart Schröder/Helga Breuninger (Hg.), Kulturtheorien der Gegenwart, Frankfurt a.M.: Campus 2001, S. 179-202) differenziert beschrieben worden. 398
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lende und kommunikative Grenzziehung vor Anderen, eine Sinnofferte zu sein. Architektur ist ein Kommunikationsmedium – das Kommunikationsmedium des sozialen Raumes und darüber konstitutiv für Vergesellschaftung. Die klassische »Raumsoziologie« ist architektursoziologisch grundiert, wenn man Simmels Kapitel »Der Raum und die räumlichen Ordnungen« vom Leittext »Brücke und Tür« her liest. Simmel hat seinem raumsoziologischen Text direkt die konzentrierten Studien über »soziale Begrenzung«, die »Soziologie der Sinne« und die Soziologie des »Fremden« zugeordnet.38 Darin entwickelt er eine soziologische Doppelbestimmung des Menschen: Menschen sind Lebewesen, die sinnlich (im »Blick«, der »unmittelbarsten und reinsten Wechselbeziehung«39) voreinander erscheinen, und zugleich müssen sie als speziell menschliche Lebewesen damit fertig werden, »das Grenzwesen [zu sein], das keine Grenze hat«40 – am deutlichsten am Phänomen des »Fremden«. Simmel hat die Körperlichkeit des Sozialen, den sinnlichen Kontakt wie kein anderer thematisiert. »Brücke« und »Tür«, »Wege« und »Fenster« sind für ihn raumsoziologische Urphänomene. Für die Vergesellschaftung kommt alles darauf an, dass die unfestgestellten »Grenzwesen« im Material des Sichtbaren, Hörbaren, des Riechbaren, Tastbaren »Wege« und »Brücken« zueinander finden und zugleich eine künstliche »soziale Begrenzung« suchen, die als Hülle, als Mantel »Entlastung« des Innersten bringt. Deshalb Simmels notorisches Interesse an der Soziologie des »Kleides«, des »Schmucks«, des »Parfüms«, des »Gesichts«, des »Schauspielers«, der »Rolle« – weil sich hier diese künstlichen, expressiven Grenzziehungen in der sinnlichen »Wechselwirkung« aufklären lassen. Diese Grenzziehung hat Simmel als konstitutive »Stilisierungserscheinung«, als natürliche Künstlichkeit, als vermittelte Unmittelbarkeit des Sozialen charakterisiert, wenn er die Medien des Parfüms, des Schmucks und der Kleidung zusammenzieht: »Das Parfüm leistet […] durch Vermittlung der Nase, was der sonstige Schmuck durch die des Auges. Es fügt der Persönlichkeit etwas völlig Unpersönliches, von außen Bezogenes hinzu, das nun aber doch so mit ihr zusammengeht, dass es von ihr auszugehen scheint.« Man kann ergänzend auch an ein Bauwerk denken, wenn Simmel fortfährt: »Es vergrößert die Sphäre der Per38 Georg Simmel: »Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft«, in: Ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (1908), Berlin: Duncker & Humblot 1968, S. 460-526. Die einschlägige Studie zu Simmels Raumsoziologie im Zusammenhang seiner Soziologie: Andreas Ziemann: Die Brücke zur Gesellschaft. 39 G. Simmel: Der Raum, S. 484. 40 G. Simmel: Brücke und Tür, S. 6. 399
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son, wie die Strahlen des Goldes und des Diamanten, der in der Nähe Befindliche [der Andere] taucht darein ein und ist gewissermaßen so in der Sphäre der Persönlichkeit gefangen. Wie die Kleidung verdeckt es die Persönlichkeit mit etwas, was doch zugleich als deren eigne Ausstrahlung wirken soll«.41 »Wege« und »Brücken«, »Wände« und »Türen« sind die raumbildenden sozialen Übergänge und Grenzregulierungen. So wie Kleider Leute machen – so könnte man im Anschluss an Simmel sagen –, machen die Umschließungsmäntel die Bauwerke – und formieren die hinein- und hinausschlüpfenden Personen. Durch die semipermeablen Baukörpergrenzen erscheinen die Menschen dauerhaft voreinander, sichern sich, eignen sich Grund und Boden an, bringen sich zur Geltung, bedrohen und verlocken einander. Sie kommunizieren im und durch den bebauten, beharrlichen Raum: schließen sich ab und andere ein (durch Fortifikation etc.) und räumen sich einander Raum zur Erscheinung ein (auf öffentlichen Plätzen etc.). Zwischen diesen Extremen verharrt das Nebenund Gegeneinander der Häuser, von „Bau und Gegenbau“.42 Man muss nur eine Drehung innerhalb der Sozialtheorie der Architektur noch vollziehen, damit die Architektursoziologie die Raumsoziologie aufschließt: Genau gesehen liegen die raumkonstituierenden Baukörper selbst wie (menschliche) Körper zueinander, sie sind vor-, für-, gegeneinander positioniert und expressiv zueinander orientiert. Das liegt daran, dass »nach dem Vorbild des Körpers gebaut wird. […] beim Bau der Gebäude ist der menschliche Körper das stets herangezogene Ideal. Die geläufigen körperlichen Begriffe von Kopf und Fuß, Gesicht und Rücken tauchen als Unterscheidungen von oben und unten, vorn und hinten am Gebäude als Dach- und Untergeschoss, Vorder- und Rückseite wieder auf«.43 Und in Analogie zur menschlichen Haut: »Vor allem aber folgt die Differenz von innen und außen, die für das Wohnen eine eminente Bedeutung hat, unmittelbar dem Körperschema. Ebenso wie Eigen- und Fremdkörper voneinander getrennt werden, wird auch in der Architektur ein Eigenbereich von einem Fremdbereich, die Privatsphäre von der Öffentlichkeit unterschieden«.44 Damit hat man die Denkmöglichkeit einer Kommunikationstheorie der Architektur: Menschen kommunizieren durch den gebauten Raum miteinander, weil die Baukörper 41 G. Simmel: Der Raum, S. 490. 42 Martin Warnke: »Bau und Gegenbau«, in: Hermann Hipp/Ernst Seidl (Hg.), Architektur als politische Kultur. Philosophia practica, Berlin: Reimer 1996, S. 11-18. 43 Markus Schroer: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raumes, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 280f. 44 Ebd. 400
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selbst in einer Als-Ob-Kommunikation zueinander liegen. Das ist für die Ontogenese menschlicher Neuankömmlinge ebenso unhintergehbar wie für die Phylogenese – wenn man sich die »Architektur ohne Architekten« überlieferter oder noch existierender nicht-moderner Siedlungen ansieht45, in denen die Zelte und Hütten, die Höhlen immer schon zueinander angeordnet sind, der Raum immer schon sozial relationiert ist. Diese Suggestion wird durch die Dauerpräsenz von Bauwerken gestützt: Sie senden immer, ihre Antennen sind immer auf Empfang eingestellt, im Vergleich zur doch nur sporadisch einsetzenden Sprache, Bildlichkeit, Musik. Der Animismus der kindlichen Wahrnehmung, dass auch Häuser im Verhältnis zueinander etwas wollen und verbergen, findet seine Stützung darin, dass in der Beobachtung Menschen in Zelte hineinschlüpfen, aus Hütten heraustreten, sich an Fenstern zeigen. Dieser Animismus verliert sich auch bei den Erwachsenen nicht, die um die Sachdimension von Baukörpern wissen: selbst bei der Wahrnehmung geräumter Häuser appräsentiert die Wahrnehmung das Gesehenwerden aus dem Haus, den anonymen Blick aus dem Inneren.46 So soziologisiert, fundiert Architektur Raum, fungiert die Architektur als Organon der Raumsoziologie. Deshalb fundiert Architektursoziologie die Raumsoziologie.47 Die Architektur ist nicht nur »gebaute Umwelt« der Mitwelt, Materialisierung des Sozialen, sondern als Bauwelt immer bereits Mitwelt, weil die Bauten selbst zueinander Mitweltcharakter annehmen und dadurch den Raum dauerhaft sozial relationieren. Der »sozialkonstitutive« Charakter von Baukörpergrenzen macht plausibel, warum umgekehrt die je konkrete Vergesellschaftung auf die je spezifische »Sozialregulation« der Architektur so scharf ist, es zum Kampf um die je spezifische Repräsentation kommt, zum Ringen um das Ver45 Bernhard Rudofsky: Architektur ohne Architekten. Eine Einführung in die anonyme Architektur (1963), Salzburg/Wien: Residenz-Verlag 1989. 46 Zum sozialtheoretischen Grundaxiom des Ausdrucksüberschusses der menschlichen Wahrnehmung Max Scheler: Wesen und Formen der Sympathie (1913). Gesammelte Werke Bd. 7, 6. Aufl., Bonn: Bouvier 2006, S. 7-258, 233f. Alle Phänomene werden in der menschlichen Wahrnehmung zunächst als belebt wahrgenommen; erst in einer nachträglichen Limitierung des Ausdrucksüberschusses wird die Sachdimension von der Sozialdimension abgezogen. Vgl. die Spiegelneuronen-Theorie als neurobiologische Zusatzbestätigung dieser Sozialtheorie der universellen Expressivität: Giacomo Rizzolatti/Corrado Sinigaglia: Empathie und Spiegelneurone. Die biologische Basis des Mitgefühls, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. 47 Das gilt sowohl im Verhältnis zur ›voluntaristischen‹ Raumsoziologie (Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001) wie zur eher realistischen Raumsoziologie von Markus Schroer: Räume, Orte, Grenzen: beide verstehen Architektur als bloßen Anwendungsfall der Raumsoziologie. 401
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hältnis der Baukörper zueinander.48 Immer kreisen die Architekten auch um das Erscheinungsverhältnis der Baukörper voreinander. Erst unter dieser Voraussetzung gilt der vielzitierte Satz Simmels: Die Grenze ist »eine soziale Tatsache, die sich räumlich formt«. Erst jetzt erhält die Vorstellung ihre Schwere, dass alle menschlichen Bereiche der Architektur anvertraut und ausgeliefert sind. Die Verknüpfung des sozialkonstitutiven Charakters der Baukörpergrenzen mit ihrer gesellschaftsgeschichtlichen Sozialregulation macht die Architektursoziologie als Kern der Raumsoziologie aus. Hat man die Architektur sozialtheoretisch bestimmt, kann man sie mit anderen Kommunikationsmedien vergleichen. Die Vergesellschaftung bringt auch »andere Formen des Beisammenseins« hervor, andere Medien, um die Anschlüsse zwischen ›Grenzwesen, die keine Grenze haben‹49, zu ermöglichen. Sprache, Recht oder Geld sind als symbolisch operierende Kommunikationsmedien geradezu dadurch gekennzeichnet, dass in ihnen die Wechselwirkung Raumgrenzen überschreitet.
2.3 Architektur im Zentrum der Stadtsoziologie: das »schwere Kommunikationsmedium« Architektursoziologie bedeutet eine Umakzentuierung der Stadtsoziologie. Durch die Architektur bildet sich der soziale Raum und durch den baulich erschlossenen Raum die Stadt. Soziologisch gesehen liegt in der Konsequenz dessen der Schwerpunkt der Stadt nicht in den sozialen Interaktionen in ihr, sondern in den Baukörpern, entlang derer sich die Menschen orientieren und koordinieren. Die Stadt als soziales System funktioniert primär über die Baukörper, die städtische Kommunikationen vorcodieren. Zugespitzt gesehen gehört nicht den Bewohnern die Stadt, sondern die Stadt besitzt sich selber. Selbst in einer vollständig unbewohnten Stadt würden die Gebäude in ihren semipermeablen Baukörpergrenzen noch in einer Quasi-Kommunikation zueinander verharren. Damit verschiebt sich kraft der Architektursoziologie in der Stadtsoziologie der Akzent vom Sozialraum Stadt zum Baukörperraum Stadt.
48 Georg Simmel: »Exkurs über die Soziologie der Sinne«, in: Ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Gesellschaft (1908), Berlin: Duncker & Humblot 1968, S. 483-493. Zur sozialtheoretischen Unterscheidung der »sozialkonstitutiven« von den »sozialregulativen« Aspekten in Simmels »Soziologie der Sinne« Joachim Fischer: »Simmels ›Exkurs über die Soziologie der Sinne‹. Zentraltext einer anthropologischen Soziologie«, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 27 (2002), H. 2, S. 613. 49 Vgl. G. Simmel: Brücke und Tür, S. 6. 402
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Die Stadt ist, noch bevor jemand die Lippen bewegt oder mit Geld klimpert, in Bau und Gegenbau eine Fülle von Kommunikationsofferten. So wird klar, dass die interagierenden Subjekte durch die gebaute Welt, an die sich anschmiegen, durch die sie permanent dahin wandeln, mit denen sie sich identifizieren, immer schon mit- und gegeneinander kommunizieren. Menschliche Lebewesen tauchen als Neuankömmlinge in ihren bebauten Räumen auf, als Neugeborene oder Zugezogene, verrichten ihre Werke und Aktionen und verschwinden wieder – aber die Stadt bleibt in der Beharrlichkeit ihrer Baukörper, an deren Codierung jede Generation neu anknüpfen kann. Das gilt ubiquitär, für das alte Babylon wie für chinesische Millionenstädte, für brasilianische Favelas wie für arabische Palm Islands. Zweifellos funktioniert die Architektur als gebaute Umwelt für Interaktionen, ist also der bauliche Hintergrund für das stilisierte soziale Verhalten der Akteure oder Flaneure im öffentlichen Raum.50 Gleichzeitig – oder noch vorweg – ist Architektur die Mitwelt von Interaktionen. Das ist das sozial relevante Basisfaktum. Alle Baukörper und die gebaute Stadt sind ihrer Grenzziehung objektivierte Eigenkomplexität im Verhältnis zur Umwelt, stehen einander und den menschlichen Subjekten gegenüber – und zugleich werden sie von diesen bewohnt: mikrosoziologisch im Haus, makrosoziologisch in der gebauten Stadt. Wie ist dieses Verhältnis adäquat zu benennen? Zweifellos sind die Menschen »Nutzer« von Gebäuden – Medien-Nutzer könnte man sagen. Aber »Nutzer« bezieht sich zu stark auf die Sachdimension; andererseits sind »user« nur selten »Zeichenleser« von Gebäuden (bei Orientierungsbedarf, als Kunstgeschichtler). Eher sind die (Inter-)Akteure im Verhältnis zu den Baukörpern »Gleiter«: die Wahrnehmung und Bewegung gleitet an den Baukörpern entlang, schlüpft in sie hinein und wieder hinaus – und dabei gleitet die architektonische Sinnofferte beiläufig in die Menschen hinein. Jedes Haus signalisiert mit seinen Schwellen und Türen Hausrecht und Gastrecht, jede Fassade kommuniziert eine profilierte Lebenssphäre, deren Rückseite verdeckt bleibt, die ganze Stadt schirmt
50 Hans Paul Bahrdt: Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau (1961), hg. v. Ulfert Herlyn, Opladen: Westdeutscher Verlag 1998; Erving Goffmann: »Territorien des Selbst«, in: Ders., Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung (1971), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 54-96. Alban Janson/Thorsten Bürklin: Auftritte – Scenes. Interaktionen mit dem architektonischen Raum: die Campi Venedigs. Interaction with Architectural Space: the campi of Venice, Basel/Boston/Berlin: Birkhäuser 2002. 403
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sich gegen das Andere ihrer selbst (Erde und Atmosphäre) ab: all das kommuniziert diese Grenzleistung.51 Was wird im Kommunikationsmedium Architektur kommuniziert? In jedem Fall die Differenzierung von Funktionen, das Auseinanderhaltung spezialisierter Teilsysteme der Gesellschaft: von Profan- und Sakralsphäre, privater und öffentlicher, Ernst-, Produktions-, Spiel- und Konsumsphäre (im Sinne von »Bautypen«52), standardisierte Offerten, die Anschlusskommunikationen signalisieren oder ausblenden. In jedem Fall wird via Architektur Stratifikation, Schichten- und Klassendifferenzen, soziale Ungleichheit kommuniziert, in den Bauwerken selbst (die Beletage); in den Wohnlagen (downtown, uptown), der Unterscheidung von Zentrum und Peripherie. In jedem Fall prozessiert in der Architektur die Kommunikation auch entlang der Generationen: ein in seinen Folgen für die Vergesellschaftung unabsehbares Momentum. In den »Baustilen« geht es um Existenzfragen, um Leben und Tod insgesamt – und zwar nicht nur als ein- und ausgrenzende oder einstürzende Mauern, sondern als »Stilisierungserscheinung« – wenn man sich die Titel »Tod und Leben großer amerikanischer Städte« oder »gemordete Stadt«53 in Erinnerung ruft. Die Baukörper in ihrem jeweiligen Baustil sind Kommunikationsofferten, gestatten oder blockieren Atmosphären und Posen des Lebens.54 Und in jedem städtischen Baukörperraum, sei er noch so »mo-
51 Eine weiter entwickelte, architektursoziologisch fundierte Stadtsoziologie müsste neben den »Immobilien« als kommunizierenden unbeweglichen Baukörpern die »Mobilien« als (selbst-)bewegliche Verkehrskörper einbeziehen, in denen zwischen und neben den Bauten die Stadtbewohner im jeweiligen Design (früher: Transporttiere, Kutschen; heute: Automobile, öffentliche Verkehrskörper, Fahrräder) im Vorbeigleiten voreinander erscheinen – ganze Städte sind z.B. auf diese Art der Kommunikation durch automobilen Verkehr konzentriert (Los Angelos). 52 E. Seidl (Hg.): Bautypen. 53 Jane Jacobs: Tod und Leben großer amerikanischer Städte (1961), Gütersloh: Bertelsmann 1965. Wolf Jobst Siedler/Elisabeth Niggemeyer: Die gemordete Stadt. Abgesang auf Putte und Straße, Platz und Baum, Berlin: Herbig 1964. Das Kinder-Erwachsenenbuch zur Dramatik von Architekturstreit: Jörg Müller: Hier fällt ein Haus, dort steht ein Kran und ewig droht der Baggerzahn oder Die Veränderung der Stadt, Aarau/Frankfurt a.M.: Sauerländer 1976. 54 Aus der so umakzentuierten Stadtsoziologie folgt, die »Expressivität« jedes Baukörpers rekonstruieren zu können – auch wider die architekturtheoretische (Selbst-)Behauptung von z.B. rein »funktionalen« Bauten. Vgl. Gert Kaehler; Architektur als Symbolverfall. Das Dampfermotiv in der Architektur, Braunschweig: Vieweg & Sohn 1981, der die Aufbruchsund Ausfahrtsymbolik der Bauhausmoderne beschreibt. Zum spezifischen Kommunikationscharakter eines spektakulären sozialistischen Ensembles der »funktionalistischen« Moderne vgl. Fischer: Prager Straße. 404
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dern« und neu, gibt es ein Früher und ein Später, die stilisierte Kommunikationsofferte einer vergangenen Generation, die übernommen, verweigert, gebrochen oder aufwendig negiert wird. Erst eine so architektursoziologisch umakzentuierte Stadtsoziologie wäre möglicherweise bereit, die Einsichten der Raumsoziologie insgesamt herankommen zu lassen – und könnte vor diesem soziologischen Ernstnehmen des Baukörperraums Stadt ihre bisherigen Forschungen zum Sozialraum Stadt einbringen.55
2.4 Architektur im Zentrum der Soziologie der Moderne: Unausräumbarkeit des Raumes und Unaufräumbarkeit der Moderne Nun ist die Stadt nicht mit der Gesellschaft identisch, und gerade die moderne Gesellschaft fällt nicht mit der Stadt zusammen. Die soziologische Theorie hat die Strukturprinzipien der modernen Gesellschaft geradezu in der Raumabgelöstheit dieser Prinzipien erkannt: am deutlichsten in der Theorie funktional differenzierter sozialer Teilsysteme, die über hochspezialisierte symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien56 unwahrscheinliche Koordinationen zwischen unbekannten Menschen möglich machen, die sich nun noch nicht einmal als Unbekannte in einer Stadt begegnen müssen. Dahinter steckt die Erfahrung, dass »die Aufnahme wirtschaftlichen Handelns und Geldgebrauchs gegenüber Unbekannten« zwar in der Stadt, aber ebenso jenseits einer spezifischen Stadt möglich geworden ist, ebenso wenig wie die »Bereitschaft zur politischen Unterwerfung« unter die Weisungen von Unbekannten an den städtischen oder irgendeinen spezifischen Raum gebunden ist. »Das Einreichen einer gerichtlichen Klage bei Unbekannten« wie die »Erwartung, von unbekannten Lehrern etwas lernen zu können« sind vom Prinzip her ebenso wenig an den städtischen Raum gebunden wie die »Fähigkeit, auf Heiratsmärkten auch Unbekannte zuzulassen«.57 Die Sys55 Beim deutschen Klassiker der Stadtsoziologie Hans-Paul Bahrdt (Die moderne Großstadt) waren Architektur-, Raum- und Allgemeine Soziologie noch miteinander verknüpft (der Untertitel: »Soziologische Überlegungen zum Städtebau«). Zum Stand der gegenwärtigen Stadtsoziologie: Hartmut Häußermann/Walter Siebel: Stadtsoziologie. Frankfurt a.M.: Campus 2004. Zur Kritik: Silke Steets: »Raum & Stadt«, in: Nina Baur/Hermann Korte/Martina Löw/Markus Schroer (Hg.), Handbuch Soziologie, Wiesbaden: VS 2008, S. 391-463. 56 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Erster Teilband, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 190-412. 57 Dirk Baecker versucht in der Systemtheorie nach Luhmann, die Stadt als symbiotischen Mechanismus zu begreifen, der die raumabgelösten Kom405
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temtheorie entdeckt als Kristallisationskerne der ausdifferenzierten raumabgelösten Teilsysteme (Wirtschaft, Politik, Recht, Erziehung oder Intimität) symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien, die (wie Geld, Macht, Liebe) Sinnofferten codieren und ihre Annahme wahrscheinlich machen, sie durch Selektion motivieren. Diese Raumabgelöstheit sozialer Koordinationsmechanismen, die abstrakte Vergesellschaftung auch der konkreten Lebenswelt vor Ort ist die gesellschaftstheoretische Grundentdeckung der Soziologie der Moderne, sei es im Medium des »Rechts« (M. Weber), des »Geldes« (Simmel58) oder der »Sprache« (Mead, Habermas). Das Paradigma für die Raumabgelöstheit aller kommunikativen Verbreitungsmedien ist und bleibt die »Schrift«, die als Inbegriff eines ›geflügelten‹ Kommunikationsmediums die Raum- und Kontextablösung mit Spezialisierung der Information verknüpft. Und der Inbegriff aller ›geflügelten‹ »Erfolgsmedien« (die durch Kopplung von Selektion und Motivation die Annahme der Kommunikationsofferte wahrscheinlich machen) ist das »Geld«. Man könnte von der soziologischen Theorie her sagen, die moderne Gesellschaft sei in der Modernität ihrer Kommunikationsmedien gleichsam aus den Häusern, der Stadt ausgestiegen, weshalb Luhmann59 selbst gar keine Stadt-, geschweige denn eine Architektursoziologie gegenwartsdiagnostisch als relevant ansehen konnte.60 Das Credo jeder avancierten munikationen begleitet und absichert: »Platon, oder die Form der Stadt«, in: Ders., Wozu Soziologie?, Berlin: Kadmos 2004, S. 189-214, 199f. 58 Simmels berühmter Aufsatz »Die Großstädte und das Geistesleben« (1903), der von seiner Kultursoziologie des Geldes als Koordinations- und Denkform der Moderne geleitet ist, ist gerade kein Leittext für eine architektursoziologisch inspirierte Stadtsoziologie der Moderne. 59 Das Paradox liegt natürlich darin, dass sich Luhmanns architektur- und stadtfrei formulierte soziologische Systemtheorie einer spezifischen Stadterfahrung verdankt – Hannover, der Stadtikone der Moderne in der Nachkriegszeit. In der Inkubationszeit seiner Theorie (den 50er Jahren) arbeitete Luhmann als Verwaltungsjurist im modernen Bau des Kultusministeriums mitten in der zerstörten Innenstadt, die Rudolf Hillebrecht unmittelbar nach dem Krieg mit einem neuen, über ampelfreie Kreisel geführten Straßennetz anlegte: Die großzügig über Grünflächen zueinander platzierten »funktionalen« Baukörper ließen zwischen sich die Automobile fließen – der Anschauungsraum für die reibungslose, sich von selbst koordinierende »Anschlussselektivität« von Kommunikationen als Kern der soziologischen Systemtheorie der Moderne. 60 Der Versuch von Dirk Baecker, Architektur systemtheoretisch zu einzubeziehen, enthält interessante Hinweise auf die Innen-Außen-Differenz »Die Dekonstruktion der Schachtel. Innen und Außen in der Architektur«, in: Ders./Luhmann, Niklas/Bunsen, Frederick, Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Literatur, Bielefeld: Haux 1990, S. 67-104. Vgl. auch Andreas Ziemann/Andreas Göbel: »Die (Re-)Konstruktion des Potsdamer Platzes. Der Potsdamer Platz aus der Perspektive der Systemtheorie«, in: Joachim 406
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soziologischen Theorie der aktuellen Moderne ist, dass es gesellschaftlich zu einer tiefenstrukturellen Umstellung der Vergesellschaftung von »architekturgestützter Disziplinierung« zur »medienvermittelten Vergesellschaftung« kommt.61 Die Architektursoziologie kann hier als gesellschaftstheoretisches Korrektiv der Theoriebildung der Moderne fungieren – wenn man Architektur sozialtheoretisch im Binnenfeld des Sozialen als eigenes Kommunikationsmedium, als das »schwere, träge Kommunikationsmedium« jeder Vergesellschaftung verstanden hat. In der Ausdifferenzierung der ›geflügelten‹ symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien haben sich Aspekte des Welt-, Selbst- und Sozialverhältnisses herausgedreht, um eine überlokale und hochspezialisierte Feinkoordination der Erwartungserwartungen zu etablieren. Damit ist Architektur nicht außer Kraft gesetzt – genauso wenig wie die Moderne die kommunikative Potenz des »Gesichts« durch die Mechanismen der Sprache, des Rechts, des Geldes preisgeben würde: im Gegenteil, über die visuellen Massenmedien gelangt die Strahl- und Differenzierungskraft der »Gesichter« zur Prominenz in der Fernkommunikation. Architektursoziologie macht vielmehr die Evolution der Moderne systematisch beobachtbar als KoEvolution von »leichten« und dem »schweren« Kommunikationsmedium. Wegen ihrer Omnipräsenz für alle Erwartungserwartungen kann man die Architektur als das grundierende Kommunikationsmedium der Gesellschaft behaupten, als Basso continuo. Menschen in ihren Interaktionen gleiten Tag für Tag, Tag und Nacht zwischen expressiven, schweren Gebäuden, die den Interakteuren Sinnofferten zuwinken, die sie als Sinnprämissen ihres eigenen Erlebens und Handelns annehmen sollen. In ihrer Omnipräsenz wird Architektur von keinem der anderen Medien erreicht. Darin ist sie nur vergleichbar mit dem Wetter – aber das Naturphänomen will nicht von sich aus informieren und akzeptiert werden. »Schwer« ist die Architektur, weil es eine im baukörperlichen Material haftende Sinnkommunikation ist, gleich ob Holz und Stein, Stahl und Glas: schwerer als der Körper, größer, aber auf sein sinnliches ErleFischer/Michael Makropoulos (Hg.), Potsdamer Platz. Soziologische Theorien zu einem Ort der Moderne, München: Fink 2004, S. 53-80. 61 Michael Makropoulos: »Vergesellschaftung durch Architektur. Gesellschaftstheoretische Aspekte der funktionellen Stadt«, in: Joachim Fischer/ Hans Joas (Hg.), Kunst, Macht und Institution. Studien zur Philosophischen Anthropologie, soziologischen Theorie und Kultursoziologie der Moderne. Festschrift für Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt a.M./New York: Campus 2003, S. 577-586, S. 586. Dirk Baecker: »Die Dekonstruktion der Schachtel. Innen und Außen in der Architektur«, in: Ders./Niklas Luhmann/Frederick Bunsen, Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Literatur, Bielefeld: Haux 1990, S. 67-104, 94f. 407
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ben bezogen. Schrift und Geld lösen sich in ihren Sinnoperationen tendenziell ab von der sinnlichen Präsenz, von lokaler Kommunikation, aber sie können Baukörper nicht auflösen. Selbst wenn die gebaute Stadt praktisch nicht mehr nötig wäre (was unmöglich sein wird), wäre sie immer noch aus Gründen der sinnlichen Expressivität der Menschen erwartbar. Die leichten Kommunikationsmedien bleiben an das schwere gebunden. Was verändert die Architektursoziologie im Zentrum der soziologischen Beobachtung der Moderne? Zunächst öffnet sie die Augen für die Unausräumbarkeit des Raumes in der Moderne – eine Erkenntnis, die sie mit der Raumsoziologie insgesamt teilt. Allerdings ist dabei die »Omnipräsenz des Gebauten« (Schäfers) der Evidenzbeweis für die soziologisch behauptete Relevanz des Raumes auch in der Moderne.62 Moderne als Deterritorialisierung der Kommunikation mit einer nachträglichen Wiederentdeckung ihrer Reterritorialisierung (des »Raumes«) ereignet sich eigentlich nur in der soziologischen Theorie – nicht in der von ihr beobachteten Wirklichkeit: die kommunikative Differenzierung des Territoriums läuft über den bebauten Raum permanent mit. Die gesellschaftstheoretische Kraft der Architektursoziologie zeigt sich nicht nur in der Beobachtung der Unausräumbarkeit des Raumes in den modernen Verhältnissen. Sie lenkt den Blick zweitens auf den Widerfahrnischarakter der Vergesellschaftung – auch in der Moderne. Als Korrektiv zu handlungstheoretischen (voluntaristischen) und sozialkonstruktivistischen Ansätzen, in denen die Machbarkeits- und Kontingenzerfahrung der Moderne zum Begriff gerinnt, wird in der Architektur der passivische Grundzug der Vergesellschaftung deutlich. Gewiss, gerade Architektur ist konstruiert; aber die meisten »Akteure« hausen in Häusern, die sie nicht selbst gebaut haben. Die Grunderfahrung ist die »Gesetztheit« in Baukörpergrenzen, durch deren Affektion und Ausstrahlung sie zu- und gegeneinander vermittelt sind, bevor sie selbst Handlungssubjekte werden. Und wegen der materiellen Schwere der Architektur, der relativen Trägheit gegenüber allen anderen Kommunikationsmedien, ist die Moderne ungeachtet aller Beschleunigung charakterisiert durch eine immer nur partielle Umkonstruierbarkeit: Jedes Bauwerk, das vor meiner eigenen biographischen Spanne errichtet ist, gleich ob es umge62 Gerade die sogenannte »virtuelle Welt« ist dabei die indirekte Bestätigung für die gesteigerte Präsenz der Architektur in der sozialen Vorstellungswelt: In den Computerspielen treffen die Nutzer notorisch auf architektonisch anschaulich gestaltete Räume, durch die hindurch sie die jeweiligen Aufgaben zu lösen haben. Virtuelle Welt bedeutet eine Simulierung architektonisch gestalteter Räume, wie sie zu Hochzeiten der Schrift- und Buchkultur nur besonders begabten Lesern möglich war. 408
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nutzt oder umgebaut ist, strahlt die Sinnofferte der Ahnen ab. Die Architektursoziologie als soziologische Beobachtung der Gegenwartsgesellschaft erschließt diese als eine unausweichliche Ahnenkommunikation, als eine unhintergehbare Kommunikation zwischen den Ahnen (mehrerer Generationen) und den Heutigen.63 Nicht an Spezialorten wie dem Friedhof oder dem Archiv sind die Vorfahren präsent, sondern im Gebauten auch noch der futuristisch gemeinten Stadt – »futuristisch« gemeint von einer bereits vergangenen Generation. Man kann drittens schließlich verstehen, warum es mitten in der »virtuellen« Moderne Architekturstreite gibt, einen Kampf um die »Baukörpergrenze« – warum die Frage des Baustils gesellschaftlich so gravierend ist. Immer geht es darum, wie die umbauten Räume zueinander in Beziehung treten, wie Innenräume von Außenhüllen abgeschirmt und perforiert werden und in ihrer „Stilisierung“ zu den anderen Bauwerken Beziehungen aufnehmen. Durch jede Destruktion, jeden Abriss, jede Um-, Neu- und Rekonstruktion verschiebt sich etwas im Kommunikationssystem der Baukörper – und damit auch im Verhältnis der Bewohner zueinander. Die Bauhaus-Moderne mit den Baukörper-Gebärden des Aufbruchs, der Ausfahrt, das zeitgleiche traditionale Bauen mit der sich einfügenden Schutzgebärde und die expressionistische Architektur voll mythischer Baukörpermasken, der Neoklassizismus mit seiner Erhabenheitskommunikation, die »Postmoderne« mit den der Gesellschaft architektonisch mitgeteilten Lockerungsübungen, der »Dekonstruktivismus« mit den bautechnisch gekonnten Störgesten, die »Rekonstruktion« als bewusste Kommunikation mit den Vorfahren bürgerlicher Vergesellschaftung – alle und noch andere Baustile sind dann für eine architektursoziologisch geschulte Diagnostik als jeweilige gesellschaftlich umkämpfte Sozialregulationen der sozialkonstitutiven Baukörpergrenzziehung im schweren Kommunikationsmedium mitten in der Moderne identifizierbar. Eine architektursoziologisch inspirierte Gesellschaftsdiagnostik gelangt schließlich zur Unaufräumbarkeit der Moderne. Wie nirgend sonst macht die moderne Gesellschaft in den städtischen Baukörper-Räumen die Erfahrung der systemischen Unvollendbarkeit der Moderne. Dassel63 Zur Durchführung einer architektursoziologisch inspirierten Stadtanalyse vgl. Joachim Fischer/Heike Delitz: »Stadtvisionen. Idee zu einer neuen Stadtanalyse«, in: Dies. (Hg.), Stadtvisionen für Dresden - vom Barock bis zur Gegenwart. Dresdner Hefte 25, H. 92 (4/2007), S. 3f. Eine Stadtgegenwart wird als komplexes Resultat verschiedener »Stadtvisionen« (je gebauter und bloß geplanter architektonischer Lebensentwürfe) rekonstruiert: die barocke und die bürgerlichen Stadtvisionen, die Stadtvision der Lebensreform, des Nationalsozialismus, des Sozialismus, die Vision der »europäischen Stadt« nach 1989. 409
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be Phänomen zeigt sich als Differenzerfahrung der Moderne in der Verschiedenheit der Städte, der gesellschaftskonstitutiven »Differenz der Städte«.64 Diese Differenz ist basal eine je architektonische Differenz, so wie sich meistens der migrierende oder touristische Erstkontakt mit einer Stadt entlang der Sinnofferten der Architektur vollzieht. Die Architektur informiert die Fremden über die spezifische Gesellschaft, weil diese sich in der »Architektur der Gesellschaft« bereits permanent über sich selbst unterrichtet. Deshalb hat die architektursoziologische Diagnostik gesellschaftstheoretische Kraft. Man versteht, warum mit »Moderne« und »Postmoderne« prägnante Baustile bereits in der soziologischen Gesellschaftsgeschichte Epochen pars pro toto ihren Titel gegeben haben und warum umgekehrt mit »Kontruktivismus« und »Dekonstruktivismus« als Leitparadigmen sozial-kulturwissenschaftlicher Theoriebildung Architekturmetaphern ins Innere der Theoriebildung aufsteigen. Wegen der Ko-Evolution von leichten und schweren Kommunikationsmedien in der Moderne können Architekturdebatten keine Nebendebatten der Moderne sein – so wie Architektursoziologie keine nur spezielle Disziplin sein kann, nicht bezogen auf die Sozialtheorie, nicht in der Stadtsoziologie und auch nicht in der Gesellschaftstheorie der Moderne.
Literatur Baecker, Dirk: »Die Dekonstruktion der Schachtel. Innen und Außen in der Architektur«, in: Ders./Niklas Luhmann/Frederick Bunsen, Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Literatur, Bielefeld: Haux 1990, S. 67-104. Baecker, Dirk: »Platon, oder die Form der Stadt«, in: Ders., Wozu Soziologie?, Berlin: Kadmos 2004, S. 189-214. Bahrdt, Hans Paul: Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau (1961), hg. v. Ulfert Herlyn, Opladen: Westdeutscher Verlag 1998. Bollnow, Otto F.: Mensch und Raum (1963), Stuttgart: Kohlhammer 1980. Bourdieu, Pierre: »Das Haus oder die verkehrte Welt«, in: Ders., Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 468-489. Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen (1923-1929), Darmstadt: WBG 1953.
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AU T O R I N N E N
UND
AU T O R E N
Baecker, Dirk ist Soziologe. Er lehrt und forscht als Professor für Kulturtheorie und -analyse an der Zeppelin University in Friedrichshafen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind soziologische Systemtheorie, Wirtschafts- und Organisationssoziologie sowie Managementtheorie. Ausgewählte Veröffentlichungen: Wozu Kultur? Berlin: Kadmos 2004; Wozu Gesellschaft? Berlin: Kadmos 2007; Studien zur nächsten Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007; Die Dekonstruktion der Schachtel: Innen und Außen in der Architektur, in: Ders./Niklas Luhmann/Frederick D. Bunsen, Unbeobachtbare Welt: Über Kunst und Architektur, Bielefeld: Haux 1990, S. 67-104. Dangschat, Jens S. ist Soziologe. Er lehrt und forscht als Professor für Stadtsoziologie und Demographie am von ihm geleiteten Department für Raumentwicklung, Infrastruktur- und Umweltplanung der Technischen Universität Wien. Seine Arbeitsschwerpunkte sind soziale Ungleichheit, Segregation und Milieuforschung. Ausgewählte Veröffentlichungen: Wohnquartiere als Ausgangspunkt sozialer Integrationsprozesse, in: Fabian Kessel/Hans-Uwe Otto (Hg.): Territorialisierung des Sozialen. Regieren über soziale Nahräume, Opladen/Farmington Hills: Barbara Budrich Verlag 2007, S. 255-272; Exclusion – The New American Way of Life? In: Heinz Bude/Andreas Willisch (Hg.) Ex-klusion. Die Debatte über die »Überflüssigen«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 138-145; Räumliche Aspekte der Armut, in: Nikolaus Dimmel/Karin Heitzmann/ Martin Schenk (Hg.): Handbuch Armut in Österreich, Innsbruck: Innsbrucker Studienverlag (im Druck).
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AUTORINNEN UND AUTOREN
Dauss, Markus ist Kunsthistoriker. Er lehrt und forscht als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kunstgeschichtlichen Institut der GoetheUniversität Frankfurt am Main. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Architekturtheorie des 18. und 19. Jahrhunderts, Fragen der Intermedialität, der politischen Ikonologie des Denkmals und der Architektur sowie der Bildwissenschaft. Ausgewählte Veröffentlichungen: ›Buchstabenarchitektur‹: Zur französischen Architekturtheorie um 1800, in: Ders./Ralf Haekel (Hg.), Leib/Seele – Geist/Buchstabe. Dualismen in der Ästhetik und den Künsten um 1800 und 1900, Würzburg: Königshausen & Neumann (im Druck); Bibliotheken als gebaute Ordnungen des Wissens, in: Astrid Bauereisen/Stephan Pabst/Achim Vesper (Hg.), Kunst und Wissen. Beziehungen zwischen Ästhetik und Erkenntnistheorie im 18. und 19. Jahrhundert, Würzburg: Königshausen & Neumann 2009, S. 257282; Identitätsarchitekturen: Öffentliche Bauten des Historismus in Paris und Berlin (1871-1918), Dresden: Thelem 2007; (mit Jean-Michel Leniaud, Laurence de l’Estoile u. Nicolas Padiou als Hg.): Institutions, services publics et architecture: XVIIIe-XXe siècle, Paris: Droz 2003. Delitz, Heike ist Soziologin, Philosophin und Architektin. Sie lehrt und forscht als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Soziologie II der Universität Bamberg. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Architektursoziologie, Soziologische Theorie sowie französische Lebensphilosophie und Soziologie. Ausgewählte Veröffentlichungen: Architektur als Medium des Sozialen, phil. Diss. TU Dresden 2009; Die Architektur der Gesellschaft. Architektur und Architekturtheorie im Blick der Soziologie, in: Wolkenkuckucksheim – Cloud-Cuckoo-Land – Vozdushnyi zamok. Internationale Zeitschrift für Theorie und Wissenschaft der Architektur, 10 (2006) H. 1; Architektur als Medium des Sozialen. Ein Vorschlag zur Neubegründung der Architektursoziologie, in: Sociologia Internationalis 43 (2005), H. 1-2, S. 1-23. Fischer, Joachim ist Soziologe. Er lehrt und forscht als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Philosophie I der Universität Bamberg sowie am Lehrstuhl für Soziologische Theorie und Kultursoziologie der Technischen Universität Dresden. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Soziologische Theorie, Kultursoziologie, Architektur- und Stadtsoziologie, Philosophische Anthropologie. Ausgewählte Veröffentlichungen: Philosophische Anthropologie – Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts, Freiburg/München: Alber 2008; Tertiarität. Die Sozialtheorie des »Dritten« als Grundlegung der Kultur- und Sozialwissenschaften, in: Jürgen Raab u.a. (Hg.), Phänomenologie und Soziologie. Wiesbaden: VS 2008, S. 121-130; Bourdieu und Luhmann als Theoretiker der »bürgerlichen 416
AUTORINNEN UND AUTOREN
Gesellschaft«, in: Vorgänge 170 (2005), S. 53-60; (mit Michael Makropoulos als Hg.) Potsdamer Platz. Soziologische Theorien zu einem Ort der Moderne, München: Fink 2004. Frank, Susanne ist Soziologin. Sie lehrt und forscht als Professorin für Stadt- und Regionalsoziologie an der Fakultät Raumplanung der Technischen Universität Dortmund. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Stadtentwicklung im 19., 20. und 21. Jahrhundert, »Stadt und Geschlecht« sowie »Europa« und die europäischen Städte. Ausgewählte Veröffentlichungen: Stadtplanung im Geschlechterkampf. Stadt und Geschlecht in der Großstadtentwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts, Opladen: Leske + Budrich 2003; (mit Matthew Gandy als Hg.) Hydropolis. Wasser und die Stadt der Moderne, Frankfurt a.M./New York: Campus 2006; Staatsräson, Moral und Interesse. Die Diskussion über die Multikulturelle Gesellschaft 1980-1993, Freiburg: Lambertus 1995. Göttlich, Udo ist Soziologe. Er lehrt als Privatdozent am Institut für Soziologie der Universität Dusiburg-Essen und forscht am dortigen Rhein Ruhr Institut für Sozialforschung als Leiter der Forschungsgruppe »Politik und Kommunikation«. Seit WS 2008/2009 lehrt er zudem an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Im SoSe 2009 ist er Gastprofessor an der Universität Klagenfurt. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Soziologische Theorie, Kultursoziologie und Cultural Studies Approach sowie Medien- und Kommunikationssoziologie. Ausgewählte Veröffentlichungen: Zur Kreativität des Handelns in der Medienaneignung. Zur handlungstheoretischen Kritik der Wirkungs- und Rezeptionsforschung, Konstanz: UVK 2006; (mit Winfried Gebhardt u. Clemens Albrecht als Hg.) Populäre Kultur als repräsentative Kultur. Die Herausforderung der Cultural Studies, Köln: von Halem 2002; (mit Lothar Mikos u. Rainer Winter als Hg.) Die Wergzeugkiste der Cultural Studies, Bielefeld: transcript 2001; (mit Roger Bromley u. Carsten Winter als Hg.) Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung, Lüneburg: zu Klampen 1999. Hahn, Achim ist Architekturtheoretiker und Soziologe. Er lehrt und forscht als Professor für Architekturtheorie und Architekturkritik an der Technischen Universität Dresden. Seine Arbeitsschwerpunkte sind phänomenologisch-hermeneutische Architekturtheorie, Wohnforschung sowie Architektur und Metaphysik. Ausgewählte Veröffentlichungen: Architekturtheorie. Wohnen, Entwerfen, Bauen, Wien: Huter & Roth 2008; Wohnen, Entwerfen und Bauen in der urbanen Landschaft, Aachen: Shaker 2006; Erfahrung und Begriff. Zur Konzeption einer soziologi417
AUTORINNEN UND AUTOREN
schen Erfahrungswissenschaft als Beispielhermeneutik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994. Seit 2002 ist er Herausgeber von »Ausdruck und Gebrauch. Dresdner wissenschaftliche Halbjahreshefte für Architektur Wohnen Umwelt«. Löw, Martina ist Soziologin. Sie lehrt und forscht als Professorin für Soziologie an der Technischen Universität Darmstadt. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Raumbezogene Gesellschaftsanalyse, Stadt- und Regionalsoziologie sowie Frauen- und Geschlechterforschung. Ausgewählte Veröffentlichungen: Raumsoziologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001; (mit Silke Steets und Sergej Stoetzer) Einführung in die Stadtund Raumsoziologie, Opladen: UTB 2007; Soziologie der Städte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008; (mit Helmuth Berking als Hg.) Eigenlogik der Städte, Frankfurt a.M./New York: Campus 2008. Meißner, Stefan ist Soziologe. Derzeit arbeitet er als Consultant bei der seto GmbH in Dresden. Seine Interessenschwerpunkte sind Wissenssoziologie, Soziologische Theorie, Architektur-, Kultur- und Mediensoziologie. Ausgewählte Veröffentlichungen: Die Stadt als Bühne, in: sinnhaft 20 (2006): City Contest. Neuformulierungen des urbanen Raums, S. 66-75; (mit Gunther Gebhard u. Steffen Schröter) Kritik der Gesellschaft? Anschlüsse bei Luhmann und Foucault, in: Zeitschrift für Soziologie 4/2006, S. 269-285; Architektur-Diskurs-Interpretation, in: Wolkenkuckucksheim. Internationale Zeitschrift für Theorie und Wissenschaft der Architektur H. 2/2007. Rehberg, Karl-Siegbert ist Soziologe. Er lehrt und forscht als Professor für Soziologische Theorie, Theoriegeschichte und Kultursoziologie an der Technischen Universität Dresden. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Institutionenanalyse, Soziologische Theorie und Kunstsoziologie. Ausgewählte Veröffentlichungen: Institutionen als symbolische Ordnungen. Leitfragen und Grundkategorien zur Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen, in: Gerhard Göhler (Hg.), Die Eigenart der Institutionen, Baden-Baden 1994, S. 47-84; Art e architecture comme symbols de présence. Perspectives de recherches comparatistes pour une théorie des institutions, in: Jean-Michel Leniaud u.a. (Hg.), Institutions, services publics et architecture: XVIIIe-XXe siècle, Paris: Droz 2003, S. 149-160; Edition der Arnold-Gehlen-Gesamtausgabe, Frankfurt a.M.: Klostermann.
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AUTORINNEN UND AUTOREN
Schäfers, Bernhard ist Soziologe und Professor emeritus für Soziologie an der Universität Karlsruhe. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Architektur- und Stadtsoziologie, Sozialstruktur Deutschlands und Jugendsoziologie. Ausgewählte Veröffentlichungen: Stadtgespräch mit Bernhard Schäfers, in: Lothar Bertels (Hg.), Stadtgespräche – mit Hans Paul Bahrdt, Ulfert Herlyn, Hartmut Häußermann und Bernhard Schäfers, Wiesbaden: VS 2008, S. 85-119; (mit Alexa M. Kunz) Architektur und Stadt im Film, in: Markus Schroer (Hg.), Gesellschaft im Film, Konstanz: UVK 2008, S. 14-48; Architektursoziologie. Grundlagen – Epochen – Themen (2003), 2. Aufl. Wiesbaden: VS 2006; Stadtsoziologie. Stadtentwicklung und Theorien – Grundlagen und Praxisfelder (unter Mitarbeit von Alexa M. Kunz), Wiesbaden: VS 2006. Schöttker, Detlev ist Literaturwissenschaftler. Derzeit lehrt und forscht er als Gastprofessor für Neuere deutsche Literatur am Institut für Germanistik der Universität Wien. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Literaturgeschichte, Medientheorie und Ästhetik, darunter das Werk Walter Benjamins und das Verhältnis von Literatur und Architektur. Ausgewählte Veröffentlichungen: Konstruktiver Fragmentarismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999; (als Hg.) Mediengebrauch und Erfahrungswandel, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003; (als Hg.) Schrift Bilder Denken. Walter Benjamin und die Künste, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004; Kommentar zu Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007; (als Hg.) Adressat: Nachwelt. Briefkultur und Ruhmbildung, München: Fink 2008. Schroer, Markus ist Soziologe. Er lehrt und forscht als Professor für Soziologische Theorie am Fachbereich für Gesellschaftswissenschaften der Universität Kassel. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Soziologische Theorie, Wissens- und Kultursoziologie, Politische Soziologie sowie Stadt- und Raumsoziologie. Ausgewählte Veröffentlichungen: Bringing space back in. Zur Relevanz des Raums als soziologischer Kategorie, in: Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hg.) Das Raumparadigma. Zur Standortbestimmung des Spatial turn, Bielefeld: transcript 2008, S. 125-148; Raum, Macht und soziale Ungleichheit. Pierre Bourdieus Beitrag zu einer Soziologie des Raums, in: Leviathan (2006) H. 1, S. 105-123; Raumqualitäten und Raumgebilde. Georg Simmels Beitrag zu einer Soziologie des Raums, in: Sociologia Internationalis 43 (2005), H. 1-2, S. 169-190; Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006.
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AUTORINNEN UND AUTOREN
Schubert, Herbert ist Sozial- und Raumwissenschaftler. Er lehrt als Professor für Sozialmanagement und Soziologie in der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften der Fachhochschule Köln und leitet dort den Forschungsschwerpunkt SOZIAL RAUM MANAGEMENT. Als apl. Professor ist er Mitglied der Fakultät für Architektur und Landschaft der Leibniz Universität Hannover. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Sozialraumanalyse, Netzwerkorganisation und Sicherheitsarrangements im städtischen Raum. Ausgewählte Veröffentlichungen: Netzwerkmanagement. Wiesbaden: VS 2008; Sicherheit durch Stadtgestaltung. Köln: SRM-Verlag 2005; (mit Marlo Riege) Sozialraumanalyse – Grundlagen, Methoden, Praxis. 2. verb. Aufl., Wiesbaden: VS 2005; Empirische Architektursoziologie, in: Die alte Stadt. Vierteljahresschrift für Stadtgeschichte, Stadtsoziologie, Denkmalpflege und Stadtentwicklung, H. 1/2005, S. 1-27; Städtischer Raum und Verhalten. Zu einer integrierten Theorie des öffentlichen Raumes, Opladen: Leske + Budrich 2000.
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Sozialtheorie Dirk Baecker, Matthias Kettner, Dirk Rustemeyer (Hg.) Über Kultur Theorie und Praxis der Kulturreflexion 2008, 278 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-965-7
Gregor Bongaerts Verdrängungen des Ökonomischen Bourdieus Theorie der Moderne 2008, 386 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-934-3
Andrea D. Bührmann, Werner Schneider Vom Diskurs zum Dispositiv Eine Einführung in die Dispositivanalyse 2008, 180 Seiten, kart., 15,80 €, ISBN 978-3-89942-818-6
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Sozialtheorie Kay Junge, Daniel Suber, Gerold Gerber (Hg.) Erleben, Erleiden, Erfahren Die Konstitution sozialen Sinns jenseits instrumenteller Vernunft 2008, 514 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-89942-829-2
Max Miller Sozialtheorie Eine Kritik aktueller Theorieparadigmen. Gesammelte Aufsätze Oktober 2009, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-89942-703-5
Andreas Reckwitz Unscharfe Grenzen Perspektiven der Kultursoziologie 2008, 358 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-917-6
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Sozialtheorie Claudio Altenhain, Anja Danilina, Erik Hildebrandt, Stefan Kausch, Annekathrin Müller, Tobias Roscher (Hg.) Von »Neuer Unterschicht« und Prekariat Gesellschaftliche Verhältnisse und Kategorien im Umbruch. Kritische Perspektiven auf aktuelle Debatten
Daniel Hechler, Axel Philipps (Hg.) Widerstand denken Michel Foucault und die Grenzen der Macht 2008, 282 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-830-8
René John Die Modernität der Gemeinschaft Soziologische Beobachtungen zur Oderflut 1997
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2008, 308 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-886-5
Janine Böckelmann, Claas Morgenroth (Hg.) Politik der Gemeinschaft Zur Konstitution des Politischen in der Gegenwart
Arlena Jung Identität und Differenz Sinnprobleme der differenzlogischen Systemtheorie
2008, 222 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-787-5
Jörg Döring, Tristan Thielmann (Hg.) Spatial Turn Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften 2008, 460 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-683-0
Manfred Füllsack (Hg.) Verwerfungen moderner Arbeit Zum Formwandel des Produktiven 2008, 192 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN 978-3-89942-874-2
Britta Grell Workfare in den USA Das Elend der US-amerikanischen Sozialhilfepolitik 2008, 474 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1038-3
Januar 2009, 228 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1002-4
Torsten Junge Gouvernementalität der Wissensgesellschaft Politik und Subjektivität unter dem Regime des Wissens 2008, 406 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-89942-957-2
Patricia Purtschert, Katrin Meyer, Yves Winter (Hg.) Gouvernementalität und Sicherheit Zeitdiagnostische Beiträge im Anschluss an Foucault 2008, 260 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-631-1
Philipp Sandermann Die neue Diskussion um Gemeinschaft Ein Erklärungsansatz mit Blick auf die Reform des Wohlfahrtssystems März 2009, 238 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1123-6
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