Die Allgemeine Kunstwissenschaft (1906-1943). Band 2: Max Dessoir – Emil Utitz – August Schmarsow – Richard Hamann – Edgar Wind. Grundlagentexte 9783787340200, 9783787340194

Unter dem Namen ›Allgemeine Kunstwissenschaft‹ formiert sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Initiative zur interdis

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German Pages 404 [473] Year 2021

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Die Allgemeine Kunstwissenschaft (1906-1943). Band 2: Max Dessoir – Emil Utitz – August Schmarsow – Richard Hamann – Edgar Wind. Grundlagentexte
 9783787340200, 9783787340194

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Z e i t s c h r i f t f ü r Ä s t h e t i k u n d Sonderheft Allgemeine Kunstwissenschaft 21 

Bernadette Collenberg-Plotnikov (Hg.)

Die Allgemeine Kunstwissenschaft (1906 –1943)

Max Dessoir · Emil Utitz ·  August Schmarsow Richard Hamann · Edgar Wind GRU N DL AGE N T E X T E

Die Allgemeine Kunstwissenschaft ( – ) Max Dessoir · Emil Utitz · August Schmarsow · Richard Hamann · Edgar Wind GRUNDLAGENTEXTE

Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft Sonderheft 21

Herausgegeben von

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FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über 〈http://portal.dnb.de〉 abrufbar. ISBN 978-3-7873-4019-4 ISBN eBook 978-3-7873-4020-0 ISSN 1439-5886 (Sonderhefte)

Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 233344353 © Felix Meiner Verlag, Hamburg 2021. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: satz&sonders GmbH, Dülmen. Druck und Bindung: Stückle, Ettenheim. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de

INHALT

Einleitung: Grundzüge und Perspektiven der Allgemeinen Kunstwissenschaft. Von Bernadette Collenberg-Plotnikov . . . . . . . . . . . . . . . .

V

Zur vorliegenden Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . LVII Nachweis der Erstveröffentlichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . LIX Zu den Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .LXIII MAX DESSOIR

Vorwort zu Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft () . . . . . . . . . . . . .

3

Einleitung zu Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft () . . . . . . . . . . . .

5

Die Funktion der Kunst () . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Begrüßungsansprache zum ersten Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft Berlin, .–. Oktober  () . . . . . . . . .

26

Eröffnungsrede zum ersten Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft Berlin, .–. Oktober  () . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28

Begrüßungsansprache zum zweiten Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft Berlin, .–. Oktober  () . . . . . . .

41

Kunstgeschichte und Kunstsystematik (Begrüßungsansprache zum dritten Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft Halle .–. Juni  () . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

Sinn und Aufgabe der allgemeinen Kunstwissenschaft (/) . . . . . . . . .

57

Skeptizismus in der Ästhetik () . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

Objektivismus in der Ästhetik () . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

Zum Abschied () . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

EMIL UTITZ

Das Problem und die Aufgabe einer allgemeinen Kunstwissenschaft () .

95

Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft (/) . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Allgemeine Kunstwissenschaft () . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Das Problem einer allgemeinen Kunstwissenschaft () . . . . . . . . . . . . . . 135 Über Grundbegriffe der Kunstwissenschaft () . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

IV

Inhalt

Die Gegenständlichkeit des Kunstwerks () . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 AUGUST SCHMARSOW

Kunstwissenschaft und Kulturphilosophie in gemeinsamen Grundbegriffen () . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Raumgestaltung als Wesen der architektonischen Schöpfung () . . . . . . 241 RICHARD HAMANN

Ästhetik () . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Erich Everth: Richard Hamann: Ästhetik () . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Allgemeine Kunstwissenschaft und Ästhetik (/) . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Zum Kongreß für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft () . . . . . 326 Die Methode der Kunstgeschichte und die allgemeine Kunstwissenschaft () . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 EDGAR WIND

Theory of Art versus Aesthetics () . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Zur Systematik der künstlerischen Probleme () . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356

E Grundzüge und Perspektiven der Allgemeinen Kunstwissenschaft Warum heute ›Allgemeine Kunstwissenschaft‹? Die Ursprünge des Projekts ›Allgemeine Kunstwissenschaft‹ im frühen 20. Jahrhundert fallen in eine Phase des Aufbruchs in den Geisteswissenschaften, der auch die Kunstforschung erfasst. Dabei werden nicht nur in der Philosophie und den einschlägigen Einzelwissenschaften die Grundlagen der Kunstreflexion auf den Prüfstand gestellt. Vielmehr werden auch neue Disziplinen auf den Weg gebracht, die nun dezidiert Künste jenseits der etablierten Sphäre der Hochkunst thematisieren und sich im Kosmos der universitären Wissenschaften etablieren wollen. Mit diesem Aufbruch verbindet sich zugleich ein nachdrückliches Interesse an den wissenschaftstheoretischen Fragen der Kunstforschung: Man arbeitet in dem Bewusstsein, auch methodisch auf der Höhe der Zeit argumentieren zu müssen – d. h. insbesondere jenseits der Argumentationsebene bloßer Kunstschriftstellerei ebenso wie jenseits der idealistischen ›Vorurteile‹ eines metaphysischen Kunstbegriffs. Daher stößt die Initiative des Berliner Philosophieprofessors Max Dessoir (1867– 1947), unter dem Namen ›Allgemeine Kunstwissenschaft‹ eine unvoreingenommene, umfassende und gegenstandsnahe Erforschung der Kunst ins Leben zu rufen, unverzüglich auf großes Interesse: Jenseits der Beschränkungen eines traditionellen Kunstverständnisses und jenseits der zunehmend sich abzeichnenden Grenzen zwischen den kunstrelevanten Disziplinen soll die Kunst hier fachübergreifend auf einer methodologischen Basis, die aktuellen wissenschaftlichen Standards genügt, als Phänomen sui generis thematisiert werden. Das Jahr 1906 markiert den Anfang der gerade in den ersten Jahren rasanten Entwicklung dieser Forschungsinitiative. Denn in diesem Jahr publiziert Dessoir nicht nur sein programmatisches Hauptwerk Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft in der ersten Auflage, sondern im selben Jahr gründet er auch die gleichnamige, von ihm selbst dreißig Jahre lang herausgegebene Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. Neben Dessoir profiliert sich insbesondere Emil Utitz (1883– 1956), ebenfalls Philosoph, als Systematiker des Projekts, als dessen Vorläufer und zentrale Bezugsfigur er den Kunsttheoretiker Konrad Fiedler (1841–1895) apostrophiert. Bald formiert sich ein Verein und später eine Gesellschaft, die vor allem wissenschaftsorganisatorischen Zwecken dienen. Fünf große Kongresse zu Fragen der Ästhetik und der Allgemeinen Kunstwissenschaft werden ausgerichtet (1913 und 1924 in Berlin, 1927 in Halle, 1930 in Hamburg und 1937 in Paris). Flankiert werden diese Aktivitäten durch zahlreiche Publikationen, in denen die Protagonisten der Initiative ihre methodologischen Konzepte präsentieren. Neben Dessoir und Utitz dies vor allem die in dem Projekt engagierten Kunsthistoriker –

Bernadette Collenberg-Plotnikov

VI

insbesondere August Schmarsow (1853–1936), Richard Hamann (1879–1961) und Edgar Wind (1900–1971) sowie auch Schmarsows Schüler Oskar Wulff (1864– 1946) und Winds Lehrer Erwin Panofsky (1892–1968). Die Allgemeine Kunstwissenschaft ist ebenso verflochten mit dem Deutschen Werkbund wie mit der kulturwissenschaftlichen Kunst- und Bildforschung an der Bibliothek Aby Warburgs. Ihre unmittelbare Wirkungsgeschichte umfasst etwa das sowjetische Parallelunternehmen zum deutschen Bauhaus, die Staatliche Akademie der Kunstwissenschaften (GAChN) in Moskau, mit Gustav Špet, Vasilij Kandinskij u. a. In Frankreich greifen die Kunsttheoretiker Victor Basch, Charles Lalo, Étienne Souriau und Raymond Bayer den Impuls auf. Und der amerikanische Kunstphilosoph und Kunsthistoriker Thomas Munro schreibt 1951 rückblickend zur Vorgeschichte der Etablierung der Ästhetik in den USA: The past leadership of Germany in aesthetics was outstanding, from the first recognition of the subject as a branch of philosophy [. . .] down almost to 1939. It was ably carried on [. . .] in the rich pages of the Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, and in an output of books and articles on the subject which overshadowed that of all countries put together. 1

Damit bildet die Allgemeine Kunstwissenschaft ein erstrangiges Beispiel für das innovative Potenzial der Kunstforschung in Deutschland bis zum Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft. Dieses seinerzeit international beachtete Projekt der Entwicklung einer Allgemeinen Kunstwissenschaft wird in der wissenschaftlichen Literatur zwar verschiedentlich erwähnt. Seine Funktion, die der Kunsthistoriker Wolfgang Kemp einmal als einen Vorstoß zur Einrichtung einer »Clearing-Stelle von Grundsatzfragen« 2 der Kunstforschung charakterisiert hat, ist jedoch kaum mehr bekannt und seine Geschichte bislang wenig untersucht. Verantwortlich hierfür ist namentlich die nationalsozialistische Kulturpolitik, die die Allgemeine Kunstwissenschaft aufgrund ihrer antitraditionalistischen und ›intellektualistischen‹ Zielsetzungen, aber auch aufgrund der jüdischen Herkunft zahlreicher ihrer Vertreter nach 1933 aus der akademischen Welt verdrängt: 1934 muss Utitz emigrieren. Dessoir wird 1937 gezwungen, die Redaktion der Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft an den regimekonformen Kollegen Richard Müller-Freienfels abzugeben. 1943 wird die Zeitschrift – die langfristig wichtigste institutionelle Plattform der Allgemeinen Kunstwissenschaft – schließlich verboten. Auch die weiteren Aktivitäten der Forschungsinitiative kommen unter diesen Bedingungen zum Erliegen. Einen weiteren Faktor für den Niedergang der Allgemeinen Kunstwissenschaft bildet, prinzipiell unabhängig von diesen erzwungenen Beschränkungen, spätestens seit den 1930er Jahren ein zunehmendes Desinteresse der sich erneut positivistisch orientierenden Kunstwissenschaften an 1 2

T. Munro: »Aesthetic as Science«, S. 161. W. Kemp: »Reif für die Matrix«, S. 41.

Einleitung

VII

theoretischen Fragen. Aber auch in der Folge werden die methodologischen Anliegen, die die Entwicklung der Allgemeinen Kunstwissenschaft motiviert hatten, zurückgestellt. So wird die Zeitschrift zwar nach dem Krieg als interdisziplinäres Forum kunstwissenschaftlicher Studien fortgeführt; auch die Initiative zur Gründung einer Gesellschaft für Ästhetik wird u. a. 1993 durch die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik wieder aufgegriffen. Eine Anknüpfung bei den mit der Allgemeinen Kunstwissenschaft ursprünglich verbundenen Bestrebungen findet dagegen nicht statt. Im Zentrum des Projekts der Allgemeinen Kunstwissenschaft steht jedoch ein Problem, das bis heute präsent ist: die Frage, ob es angesichts der Vielfalt der künstlerischen Praktiken einerseits und der Wissensformen über die Kunst andererseits überhaupt eine Bestimmung der Kunst geben kann. Dieses Problem stellt sich aber eben keineswegs nur in einer singulären Situation, sondern es begleitet die Kunstdiskurse bereits seit der Auflösung eines normativen Kunstbegriffs im 19. Jahrhundert. 3 Dies bedeutet zugleich, dass es sich hier nicht um ein Problem handelt, das ein für alle Mal gelöst und zu den Akten gelegt werden könnte. Vielmehr handelt es sich dabei um die bleibende Aufgabe, die Profile des Kunstbegriffs immer wieder neu zu justieren. In der Gegenwart gewinnt diese bleibende Aufgabe aber insofern besondere Brisanz, als die ›Entgrenzung‹ als der wohl charakteristischste Zug des heutigen Kunstlebens gilt. Eine solche Entgrenzung ist dabei in zweifacher Hinsicht festzustellen. Zum einen handelt es sich um eine Entgrenzung der Kunst: Wo an die Stelle der Kunst als mehr oder weniger klar umgrenztem Bereich innerhalb der Kultur eine allgemeine Ästhetisierung der Existenz gesetzt wird, wo kein äußerliches Kriterium mehr angeführt zu werden vermag, das einen Gegenstand sicher als Kunst auszuzeichnen vermöchte, da wird die Grenze zwischen Kunst und Nichtkunst fragwürdig. Zum anderen handelt es sich um eine Entgrenzung der Künste, bei der die verschiedenen künstlerischen Gattungen und Medien miteinander vermischt werden. 4 Für die Kunstreflexion bedeutet dies, dass die traditionellen Verfahren und Kategorien der Thematisierung der Kunst nicht mehr greifen. Und dies gilt nicht nur für die Philosophie der Kunst, sondern auch für die einzelwissenschaftliche Kunstforschung, der schlicht ihr Gegenstand abhandenkommt. So hat etwa der Kunsthistoriker Willibald Sauerländer bereits 1980 die Rede von dem ›entlaufenen Kunstbegriff‹ 5 ins Spiel gebracht. 3 Vgl. z. B. B. Collenberg-Plotnikov: »Philosophische Grundlagen der Kunstgeschichte im Hegelianismus«. 4 Vgl. hierzu bes. den Sonderforschungsbereich 626 der Deutschen Forschungsgemeinschaft Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste, der von 2003 bis 2014 unter Beteiligung von acht Disziplinen und in Kooperation mit Wissenschaftlern der Universität Potsdam sowie des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte Berlin an der Freien Universität Berlin eingerichtet wurde. (S. a. http://gepris.dfg.de/gepris/projekt/5485744 [letzter Abruf: 13. 1. 2021].) 5 Vgl. W. Sauerländer: »Der Kunsthistoriker angesichts des entlaufenen Kunstbegriffs«.

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In diesem Zusammenhang stellt sich allerdings die Frage, wie die Kunst angesichts ihrer nun in der Tat unübersehbaren Verflechtungen mit dem Alltäglichen noch als Kunst bestimmt werden kann. Dabei schließen aber schon die wechselseitigen Entgrenzungen von Kunst und Alltäglichem die Option aus, einfach zu einem traditionellen, an dem Phänomen der Hochkunst orientierten ›geschlossenen‹ Kunstbegriff zurückzukehren. Vielmehr muss es darum gehen, einen Kunstbegriff zu entwickeln, der die Kunst im Kontinuum der menschlichen Erfahrungs- und Gestaltungsräume verortet, sie aber zugleich in ihren spezifischen Merkmalen bestimmt. Ein solcher Kunstbegriff kann nicht auf rein einzelwissenschaftlicher Basis gewonnen werden, weil die Vertreter der verschiedenen besonderen Kunstwissenschaften zwar auf einen Kunstbegriff zurückgreifen und mit ihm arbeiten, diesen Begriff aber zumeist nicht als solchen thematisieren. Die Bestimmung des Kunstbegriffs in einem allgemeinen Sinn bleibt vielmehr eine genuin philosophische Aufgabe. Er kann aber ebenso wenig mit rein philosophischen Mitteln entwickelt werden, wenn er die vielfältigen Transformationen in der jeweils konkreten künstlerischen Praxis zureichend erfassen soll. Es müsste daher darum gehen, eine Kooperation zwischen Philosophie, Einzelwissenschaften und allen weiteren Instanzen, die Wissen über die Sache generieren, dezidiert für die Kunst und die Künste herzustellen. Hierbei handelt es sich nun allerdings um eine Herausforderung für alle beteiligten Seiten. Deren Verhältnis ist nämlich keineswegs das einer selbstverständlichen Kooperation und Ergänzung. Vielmehr begegnen sich die Vertreter der verschiedenen Kunstdiskurse über weite Strecken entweder mit Skepsis oder schlicht mit Desinteresse. In den letzten Jahren werden nun aber in der einzelwissenschaftlichen Kunstforschung ungewöhnlich viele Stimmen laut, die dazu aufrufen, das ansonsten wenig beliebte Gespräch mit der Philosophie wieder aufzunehmen. Als paradigmatisch kann in dieser Hinsicht die Charakteristik gelten, die der US-amerikanische Kunsthistoriker Keith Moxey bereits 2001 von den Grundlagen seines Fachs gegeben hat: »I argue the discipline [d. h. die Kunstgeschichte] can open its borders to a variety of forms of visual culture while acknowledging that this gesture can be accomplished productively only if art history fields persuasive claims to sustain the idea of art as a distinct form of cultural discourse.« 6 Zugleich wird auch vonseiten der Philosophie ausdrücklich geltend gemacht, es gehe darum, endlich »Impulse aus unterschiedlichen Disziplinen aufzunehmen, auch und gerade aus solchen, die der Ästhetik auf den ersten Blick fern zu stehen scheinen, wie den Sozialwissenschaften«. So liest man im Call for Papers zum zehnten Kongress der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik für das Jahr 2018. »Angesichts von Tendenzen zur Verwissenschaftlichung der Philosophie einerseits wie zur positivistischen oder historistischen Abschottung der Einzelwissenschaften andererseits«, heißt es hier weiter, gelte es heute, »die Bewegung eines Denkens zu verteidigen, die beide Seiten zur Selbstüberschreitung 6

K. Moxey: The Practice of Persuasion, S. 5.

Einleitung

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provoziert«. Die »Arbeit am Allgemeinen des Begriffs« müsse endlich entschlossen »mit der Nähe zum je besonderen Gegenstand« verbunden werden. 7 Vor diesem Hintergrund verdienen solche Phasen der Wissenschaftsgeschichte besonderes Interesse, in denen in einer ähnlichen Situation der künstlerischen Entgrenzung bereits ein Austausch zwischen den verschiedenen einzelwissenschaftlichen Kunstdiskursen und der Kunstphilosophie zum Zweck einer zeitgemäßen Bestimmung der Kunst explizit erprobt wurde. Und ein solcher – besonders groß angelegter und lange fortgesetzter – Dialogversuch ist die Allgemeine Kunstwissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Das Programm der Allgemeinen Kunstwissenschaft 1906 publiziert Max Dessoir nicht allein sein Hauptwerk Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft (eine zweite, stark veränderte Auflage folgt 1923), sondern in diesem Jahr gründet er auch die gleichnamige Zeitschrift – die erste größere Fachzeitschrift zu diesen Themenfeldern –, die sich schnell als interdisziplinäres Organ etabliert. Diesen Vorstoß kann man als Antwort auf eine fortschreitende Spezialisierung der Geisteswissenschaften verstehen, die sich nicht länger nur mit der Vergangenheit beschäftigen, sondern sich zunehmend auch den aktuellen Entwicklungen in Kunst und Kultur widmen wollen. Hand in Hand damit geht eine wachsende Verunsicherung dieser Wissenschaften über die grundlegenden Gegenstandsbestimmungen und Prinzipien ihrer eigenen Forschungen, die vielfältige Theoretisierungsversuche innerhalb der einzelnen Disziplinen hervorbringt. In diesem Kontext werden Dessoirs Initiativen nicht nur als ein individueller Forschungsbeitrag begriffen, sondern vielmehr als programmatischer Aufruf zur Gründung einer neuartigen Wissenschaft von der Kunst, die den Ballast von metaphysischer Spekulation und subjektivistischer Kunstemphase hinter sich lässt, um endlich ›strenge‹ Wissenschaft zu werden: In der Allgemeinen Kunstwissenschaft sollen die am Beginn des 20. Jahrhunderts an zahlreichen Orten und in verschiedenen Zusammenhängen aufkommenden Bestrebungen, die Kunstforschung auf methodologisch reflektierter ›wissenschaftlicher‹ Basis zu betreiben, zusammengeführt und gefördert werden. Dabei versteht sich die Zeitschrift keineswegs als Altordinarienorgan, sondern als Plattform, auf der auch der akademische Nachwuchs seine Beiträge zur Diskussion stellen kann: Viele ihrer Autoren stehen seinerzeit noch am Beginn ihrer Karrieren. Auch Frauen ergreifen erstmals in größerer Zahl die Möglichkeit, sich hier vor einem breiteren Publikum als Kunstwissenschaftlerinnen zu präsentieren.

7 J. Rebentisch: »Das ist Ästhetik!«. (Dieser Artikel greift den Leittext des Call for Papers für den zehnten Kongress der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik auf.)

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In diesem Geist ruft Dessoir auch 1908 die Vereinigung für ästhetische Forschung ins Leben, einen Verein, dessen vordringliche Aufgabe in der Organisation des ersten Kongresses für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft besteht, der 1913 unter Dessoirs Vorsitz in Berlin in stattfindet. Mit 526 Teilnehmern, darunter 74 ausländischen Gästen 8, wird diese Veranstaltung ein überwältigender Erfolg. So kann Dessoir schließlich auf seiner Abschiedsansprache erklären, dass hier »aus sonst getrennten und anderweitig verbundenen Gebieten eine Wirkungseinheit geschaffen wurde. 9 Hier habe sich, so resümiert Dessoir weiter, von »deutschen Gelehrten« ausgehend, eine internationale »neue Bewegung« formiert.10 Angesichts des außerordentlichen Echos, das der erste Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft erfährt, kann man die Rede von einer wissenschaftlichen ›Bewegung‹ wohl verstehen – so wie sich in dieser Zeit etwa auch eine ›phänomenologische Bewegung‹ bildet. Allerdings suggeriert diese Bezeichnung, dass alle, die sich der diversen Plattformen der Allgemeinen Kunstwissenschaft bedienen, zugleich deren systematische Anliegen teilen. Dies ist aber durchaus nicht der Fall. Vielmehr nutzt die Mehrzahl der Akteure diese Plattformen vordringlich als in dieser Zeit singuläre Möglichkeiten, die jeweils eigenen theoretischen Interessen und Anliegen in Sachen ›Kunst‹ vor einem sachkundigen Publikum zu präsentieren. Als gemeinsames Band kann man dabei lediglich eine interdisziplinäre Orientierung und eine theoriebezogene Auseinandersetzung mit der Kunst identifizieren. Dementsprechend hat auch die Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft weniger den Charakter eines Parteiorgans als eines offenen Diskussionsforums. In der Fülle der im Rahmen dieser Bewegung entstandenen Beiträge ist eine kleinere Gruppe von Forschungen zu identifizieren, die dezidiert das Programm der Allgemeinen Kunstwissenschaft ausbuchstabieren. Die Autoren dieser Beiträge können als die Protagonisten der Allgemeinen Kunstwissenschaft im engeren Sinne gelten. Deren Anliegen ist vordringlich die Etablierung einer neuen Disziplin, die eine wissenschaftstheoretische Begründung der Kunstforschung leistet. Dieses Anliegen wird im vorliegenden Band aufgegriffen, indem hier erstmals die zentralen wissenschaftstheoretischen Beiträge zur Allgemeinen Kunstwissenschaft zusammengestellt werden. Allerdings suggeriert die Rede von einer ›Bewegung‹ auch hinsichtlich dieser kleineren Gruppe von Beiträgen eine Homogenität von gemeinsam verfolgten Zielen und Ideen, die selbst hier de facto nur sehr bedingt zu finden ist. So ist nicht einmal das Personal, das in diesem Rahmen für die Idee der Allgemeinen Kunstwissenschaft im engeren Sinne einsteht, klar zu identifizieren – sieht man einmal von Dessoir und seinem Schüler und Mitarbeiter Emil Utitz ab, die als PhiVgl. »Verzeichnis der Teilnehmer« [des ersten Kongresses für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft], S. 20; ebenfalls in: »Kongreß für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 9 (1914). 9 M. Dessoir: [Ansprache auf der Abschiedsfeier zum ersten Ästhetikkongress am 13. Oktober 1913], S. 530. 10 Ebd., S. 531; s. a. Vossische Zeitung (10. 10. 1913). 8

Einleitung

XI

losophen am dauerhaftesten und regelmäßigsten Beiträge zum Thema beigesteuert haben. In wissenschaftstheoretischer Hinsicht sind aber neben den Philosophen Dessoir und Utitz insbesondere die Kunsthistoriker August Schmarsow, Richard Hamann und Edgar Wind zu nennen, die mehrfach programmatische Beiträge zu einer Konzeption der Allgemeinen Kunstwissenschaft liefern. Hierbei handelt es sich allerdings nicht um die schulmäßige Entfaltung des ursprünglichen Theorieprogramms eines Lehrers. Die Protagonisten der Allgemeinen Kunstwissenschaft vertreten vielmehr selbst bezüglich der zentralen Frage, wie das Verhältnis der Allgemeinen Kunstwissenschaft zur Philosophie einerseits und den Einzelwissenschaften von den Künsten andererseits zu bestimmen ist, welchen systematischen Status also diese Wissenschaft eigentlich hat, verschiedene Auffassungen. 11 Daher betrachten bereits die Initiatoren der Allgemeinen Kunstwissenschaft ihr Vorhaben weniger als homogenes Konzept denn als Set von Diskussionsplattformen und als kollektives work in progress. Dementsprechend erklärt Utitz: So ist also das System der allgemeinen Kunstwissenschaft – wie wir es ersehnen – niemals ein abgeschlossenes Ganze[s], sondern in einer nie erlöschenden Vervollkommnung und Ausfüllung begriffen. Immer strömt ihm neues Material zu und wird von seiner Formung ergriffen. 12

Es ist daher, mit Dessoirs Worten, durchaus »kein Widerspruch«, zu wünschen, die selbst geleistete »geistige Arbeit [. . .] möge von der weiteren Entwickelung überholt werden«. 13 So kann man mit Henckmann festhalten, dass sich hier ein neues Wissenschaftsverständnis in Sachen ›Kunst‹ Bahn bricht: Zum erstenmal kommt damit im Bereich der Ästhetik die Ablösung des Begriffs von Wissenschaft als eines Systems von allgemeingültigen, übergeschichtlich bedeutsamen Erkenntnissen durch diejenige Auffassung zum Ausdruck, die Wissenschaft als historisch fortschreitenden, nie abschließbaren Erklärungsversuch versteht, der nicht mehr von einem einzelnen getragen werden kann, sondern in dem arbeitsteilig Forscher aus verschiedenen Disziplinen an der Lösung der sich stellenden Aufgaben arbeiten. 14

Von einer ›Bewegung‹ kann bei der Allgemeinen Kunstwissenschaft insofern nur im Sinne einer Minimalbestimmung die Rede sein. Man kann hier auch von einem ›Kreis‹, einer ›Initiative‹ oder von einer »Forschergemeinschaft« 15 sprechen, deren Ziel die systematische Grundlegung einer interdisziplinären Erschließung der S.u. S. XXXVI –XXXIX. E. Utitz: Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft, Bd. 2, S. 309, s. a. ebd., S. 320 und S. 421 f. 13 M. Dessoir: »Zum Abschied«, S. 416. (In dieser Ausgabe S. 91.) 14 W. Henckmann: »Vorwort«, S. XV. 15 W. Henckmann: »Probleme der allgemeinen Kunstwissenschaft«, S. 329, vgl. ebd., S. 298 f. S. a. U. Franke: »Nach Hegel«, S. 74. 11

12

XII

Bernadette Collenberg-Plotnikov

Kunst ist und der sich viele Wissenschaftler mehr oder weniger eng und mehr oder weniger langfristig assoziieren. Dennoch handelt bei dem Kreis um Dessoir nicht bloß um eine zufällige oder beliebige Konstellation von Wissenschaftlern und kunstwissenschaftlichen Konzepten. So bleibt die Allgemeine Kunstwissenschaft bis in die 1930er Jahre hinein eine Adresse von internationaler Bedeutung, die gerade nicht für einen diffusen Impuls, sondern vielmehr für ein bestimmtes kunstwissenschaftliches Anliegen einsteht: Es geht den Initiatoren dieses Projekts erstens um die Entwicklung einer ›Allgemeinen‹ Kunstwissenschaft und zweitens um deren Unterscheidung von der ›Ästhetik‹.

Das ›Allgemeine‹ der Allgemeinen Kunstwissenschaft Zur Rede von einer ›Allgemeinen‹ Kunstwissenschaft erklärt Dessoir selbst, das Beiwort ›allgemein‹ drücke zum einen aus, »daß es sich nicht bloß um bildende Kunst, um Kunst im Sinne des engeren Wortgebrauchs«, handelt. Zum anderen verweist er auf »das Vorbild der ›allgemeinen Nationalökonomie‹, die – nach Schmollers Begriffsbestimmung – ›auf breitester philosophischer Grundlage‹ ›vom Wesen der Gesellschaft und den allgemeinen Ursachen des wirtschaftlichen Lebens‹ ausgeht (während der andere Teil historisch und praktisch ist)«. 16 Ziel der Allgemeinen Kunstwissenschaft sei es aufzuzeigen, »welch innerer Zusammenhang zwischen den Künsten besteht und inwiefern sie aufeinander einzuwirken vermögen«. Man könne grundsätzlich »aber mit gleichem Recht von systematischer oder theoretischer Kunstwissenschaft sprechen«. 17 Dieser Aspekt betrifft also vordringlich das Verhältnis dieser Wissenschaft zu den einzelnen Kunstwissenschaften: Als explizit ›allgemein‹ konzipierte Kunstwissenschaft will sie in methodologischer Hinsicht Aussagen treffen, die grundsätzlich für alle Künste in ihrer Unterschiedlichkeit relevant sind und insofern die sachliche Verbindung der Kunstwissenschaften untereinander explizieren. Für deren Arbeit soll hier ein gemeinsamer konzeptioneller Rahmen bereitgestellt werden, der sowohl die Basis für die einzelwissenschaftliche Kunstforschung als auch für einen methodisch kontrollierten interdisziplinären Austausch schafft. Ihren »eigentümlichen Kerninhalt« hat diese Wissenschaft so, wie Dessoir erklärt, in der »Systematik der Künste«. 18 Die Kunst soll dabei nicht nur in medialer Hinsicht in ihrer Allgemeinheit, d. h. als Totalität aller Künste, erforscht werden. Die beanspruchte Allgemeinheit bezieht sich vielmehr auch auf konventionelle Beschränkungen der Kunst und des Kunstbegriffs – also insbesondere die christlich-europäische ›Hochkunst‹. Das heißt, die Kunst darf nicht von vorne herein auf einen bestimmten tradierten Kanon von Gegenständen und Fragestellungen festgelegt werden. M. Dessoir: »Allgemeine Kunstwissenschaft«, Sp. 2407. M. Dessoir: »Sinn und Aufgabe der allgemeinen Kunstwissenschaft«, S. 152. (In dieser Ausgabe S. 60.) 18 M. Dessoir: »Allgemeine Kunstwissenschaft«, Sp. 2407. 16 17

Einleitung

XIII

Die Allgemeine Kunstwissenschaft, wie sie von Dessoir und in seinem Umkreis entwickelt wird, bildet damit eine kritische Antwort auf das zunehmende Spezialistentum in der Kunstforschung: Sie fügt sich in die breite, vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die Zeit um 1930 anhaltende Tendenz ein, sich in Absetzung von dem »biographischen Amorphismus« der »positivistischen Ära« und den als solchen wert- und sinnfreien Material- und Datenbergen, die in den Einzelwissenschaften – wie man es nun sieht – angehäuft worden waren, um die Herausarbeitung der »überindividuellen Gemeinsamkeiten« der kunstrelevanten Disziplinen zu bemühen: »Wofür man sich jetzt interessiert, ist der innere Zusammenhang aller Künste und Wissenschaften, und zwar in bewußtem Affront gegen die bisherige ›Fächerbetriebsamkeit‹.« 19 In diesem geistigen Klima wird nach »undogmatischen Antworten« auf die – durch die »Überfülle konkreten wissenschaftlichen Ausgangsmaterials« und einzelwissenschaftlicher Detailfragen verschüttete – basale »Frage nach dem Grund für die ästhetische Schöpfung und für die ästhetische Erfahrung« gesucht. 20 So charakterisiert auch der norwegische Literaturhistoriker Gerhard Gran in seiner Grußbotschaft auf dem Kongress von 1913 diese Initiative als einen »Protest gegen solche Verdummung, einen Protest gegen die einseitige Spezialisierung«. 21 Bei aller Aufbruchstimmung steht die Allgemeine Kunstwissenschaft aber zugleich in einer bis weit in das 19. Jahrhundert zurückreichenden Tradition der Kunstforschung, die sich – in bewusster Absetzung von der idealistisch-spekulativen Ästhetik einerseits und einer stark literarisch geprägten Form der Kunstschriftstellerei andererseits – ausdrücklich als Kunst›wissenschaft‹ versteht. 22 Das Paradigma bildet hier die Transformation des Selbstverständnisses der Kunstgeschichtsforschung zur Kunstwissenschaft als einer Disziplin, die sich in Anlehnung an die Geschichtswissenschaft eine eigene Methodik und systematische Fundierung erarbeitet: Während heute die Bezeichnungen ›Kunstgeschichte‹ und ›Kunstwissenschaft‹ in aller Regel als Synonyme behandelt werden, war die Unterscheidung seinerzeit noch Programm. Wichtig sind in dieser innerdisziplinären Neuausrichtung der Kunstgeschichte als Kunstwissenschaft, neben Jacob Burckhardts kulturhistorischem und Carl Justis persönlichkeitsorientiertem Ansatz, vor allem die dezidiert antimetaphysisch orientierten Beiträge der früheren Wiener Schule der Kunstgeschichte mit Rudolf Eitelberger und Moritz Thausing geworden, die die Emanzipation dieser Wissenschaft von ihren philosophischen Wurzeln, namentlich bei Hegel, durchsetzen wollen. An die Stelle allgemeiner, spekulativ gewonnener Wesensaussagen über die Kunst sollen jetzt historische Daten und Fakten treten. Ab den 1880er Jahren werden dann von Kunsthistorikern wie J. Hermand: Literaturwissenschaft und Kunstwissenschaft, S. VI. H. Dilly: »Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft«, S. 54. 21 Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Berlin, 7.–9. Oktober 1913. Bericht. Hrsg. vom Ortsausschuss. Stuttgart 1914, S. 41. 22 Vgl. bes. R. Heinz: »Zum Begriff der philosophischen Kunstwissenschaft im 19. Jahrhundert«; G. Scholtz: Art. »Kunstphilosophie, Kunstgeschichte, Kunstwissenschaft«. 19

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Alois Riegl, Heinrich Wölfflin und Hans Tietze Beiträge zu einer eigenständigen Methoden- und Theoriebildung der Kunstgeschichte entwickelt. Ihre Wissenschaftlichkeit beweist diese Kunstgeschichtsforschung nicht mehr durch die Übernahme von Kriterien der Geschichtsforschung, sondern durch die Entwicklung spezifischer Kriterien für die synthetisierende Strukturierung des kunsthistorischen Materials, die es ermöglichen sollen, den ihm eigenen Sinn zu erschließen. Mit diesen Beiträgen zu einer eigenständigen Methoden- und Theoriebildung reiht sich die Kunstgeschichtsforschung in die gerade im deutschsprachigen Raum in den verschiedenen Einzelwissenschaften von den Künsten ganz allgemein vermehrt zu verzeichnenden Bestrebungen ein, selbst Grundlagenforschung zu betreiben, um die konzeptionelle Basis der eigenen Disziplin zu klären. Diese Beiträge knüpfen damit zwar bei den früheren emanzipatorischen Bestrebungen innerhalb des Fachs an. Es geht nun aber nicht mehr darum, dessen Selbstständigkeit gegenüber der spekulativen Philosophie durch die Positivität des eigenen Wissens zu behaupten. Vielmehr strebt man nun explizit danach, die Berechtigung des Anspruchs auf disziplinäre Autonomie durch ein eigenes methodologisches Fundament zu erhärten: Es gilt, auf methodisch gesicherter Basis die (bildende) Kunst als Gegenstand eigener Art und eigenen Rechts zu thematisieren. Die Bezeichnung ›Kunstwissenschaft‹ soll dabei nicht zuletzt den Anspruch untermauern, dass man die Beiträge anderer anerkannter Wissenschaften wie der Psychologie, Soziologie, Anthropologie und insbesondere auch der Geschichte für die eigene Disziplin nutzbar machen will und sich als diesen gleichrangig betrachtet. Zwar begreift sich auch die Allgemeine Kunstwissenschaft im engeren Sinne als Disziplin bzw. Meta-Disziplin mit dezidiert wissenschaftlichem – d. h. hier ebenfalls vor allem: antispekulativem – Anspruch. Und auch sie setzt sich dabei nicht nur von der Phänomenferne der philosophischen Spekulation, sondern auch von der Detailfixiertheit des Positivismus ab. Bei der Allgemeinen Kunstwissenschaft handelt es sich aber, anders als bei den kunsthistorischen Begriffsbildungen, um eine allgemeine Wissenschaftstheorie der Kunstwissenschaften, die nicht einzelne Künste, sondern die Kunst in ihrer Allgemeinheit thematisieren will. In diesem Zusammenhang spielen zwar auch die einzelnen Künste eine Rolle, aber weniger in ihrer jeweiligen Besonderheit als in ihrer gemeinsamen Eigenschaft als Kunst. Wenn in der Allgemeinen Kunstwissenschaft so etwa der Begriff der Poesie als Grundlage der Literaturwissenschaft, der Musik als Grundlage der Musikwissenschaft bzw. der Malerei, Skulptur und Architektur als Grundlage der Kunstgeschichte im engeren Sinne thematisiert wird, dann steht dabei immer zugleich die Frage im Hintergrund, »welch innerer Zusammenhang zwischen den Künsten besteht und inwiefern sie aufeinander einzuwirken vermögen«, wie Dessoir es formuliert. 23 Der Allgemeinen Kunstwissenschaft wird darüber hinaus die Aufgabe übertragen, nicht nur den Zusammenhang zwischen den einzelnen Künsten und den für sie zuständigen Wissenschaften zu erläutern, sondern auch zwischen den unter23

M. Dessoir: »Sinn und Aufgabe der allgemeinen Kunstwissenschaft«, S. 152. – S.o. S. XII.

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schiedlichen Zugangsweisen zum Phänomen Kunst, wie es etwa in der Psychologie, der Anthropologie oder auch der Soziologie der Kunst thematisiert wird. Damit ist intendiert, die Kunst in der ganzen Vielfalt ihrer Aspekte in den Blick zu bringen. Anders als in der metaphysischen Tradition soll die Allgemeinheit dieser Kunstwissenschaft dabei aber eben nicht spekulativ, sondern auf der Basis eines interdisziplinären Austausches aller systematischen und empirischen kunstrelevanten Wissenschaften, d. h. auch unter Einbeziehung der Theoretisierungen innerhalb der Einzeldisziplinen, erörtert werden. Auf diesem Weg soll eine Bestimmung des – alle diese Künste und Disziplinen verbindenden – Begriffs der Kunst gesucht werden, der in den Einzelwissenschaften ebenso wie im alltäglichen Sprechen über die Kunst zwar immer schon vorausgesetzt, aber nicht als solcher reflektiert wird. Die Allgemeine Kunstwissenschaft ist somit auch maßgeblich ein wissenschaftskritisches Unternehmen: Sie macht die einzelnen Kunstwissenschaften auf die Grenzen ihrer Unternehmen bzw. auf ihre Voraussetzungshaftigkeit aufmerksam.

Die Unterscheidung der Allgemeinen Kunstwissenschaft von der Ästhetik Das zweite Charakteristikum der Allgemeinen Kunstwissenschaft neben ihrer ›Allgemeinheit‹ ist nun die Unterscheidung der Kunstwissenschaft von der ›Ästhetik‹. Die Rede vom ›Ästhetischen‹ hat dabei im Rahmen der Allgemeinen Kunstwissenschaft eine doppelte Bedeutung: Zum einen versteht man unter dem Ästhetischen – im engeren Sinne – den Ansatz traditioneller Ästhetiken, die im Begriff der Schönheit und den damit verbundenen Anmutungskategorien den Leitfaden für das Verstehen und Beschreiben von Kunstwerken gesehen hatten. Dieses Verständnis wird in der Allgemeinen Kunstwissenschaft abgelehnt. Denn im Zeichen der ›Ästhetik‹ werde die Kunst willkürlich auf einen bestimmten Kreis von ›schönen‹ Kunstwerken festgelegt, der mit dem Gegenstandsbereich der Kunst als solchem allerdings keineswegs identisch sei. Zum anderen wird das Ästhetische – im weiteren Sinne – auf die Funktion des ästhetischen Genusses und der sinnlichen Erfahrung bezogen. Dabei wird diese Funktion von Dessoir und seinem Kreis allerdings grundsätzlich vom Objekt her gesehen: Die Erfahrung wird zu einer ästhetischen, wenn sie an einem ästhetischen Objekt vollzogen wird. Die objektive Qualität des Gegenstandes ist also primär gegenüber seinem Vollzug. Diesen Aspekten des Ästhetischen wird durchaus eine Berechtigung auch in Bezug auf die Kunst zuerkannt: Ohne emotional-sinnliche Erfahrung gibt es auch für die Vertreter der Allgemeinen Kunstwissenschaft keine Kunst. Es wäre aber verfehlt, die Kunst allein auf die Funktion des ästhetischen Genusses zu reduzieren, weil so das Spektrum der vielfältigen künstlerischen Funktionen außer Acht gelassen würde. Dementsprechend fordern Dessoir und seine Mitstreiter eine Differenzierung zwischen der Erforschung des Ästhetischen in der Ästhetik einerseits und der Kunst bzw. der Künste, für die die Allgemeine Kunstwissenschaft zuständig ist, andererseits.

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Im Rahmen der Allgemeinen Kunstwissenschaft betrifft die Infragestellung der Ästhetik als Leitinstanz der Kunstreflexion dabei nicht nur das Verhältnis zur philosophischen und kunstwissenschaftlichen Tradition. Diese Tradition, die die Kunst unter dem Aspekt der Schönheit thematisiert hatte, wird nun, im Zeichen eines strikt antispekulativen Wissenschaftsideals der Sachlichkeit, als überholt angesehen. Die Zurückweisung der Kompetenz der Ästhetik in Fragen der Kunst betrifft vielmehr ebenfalls jüngere Ansätze, vor allem die psychologische und die neukantianische Ästhetik, die zwar mit den metaphysischen Voraussetzungen der idealistischen Tradition gebrochen, an der Fixierung der Kunst auf die ›Schönheit‹ und ihre systematische Betreuung durch die Ästhetik indes festgehalten hatten. Der auch in diesen Forschungsansätzen zugrundegelegte Glaube, die Kunst in ihrer Gesamtheit unter dem Gesichtspunkt der Schönheit fassen zu können, gilt dagegen jetzt als unbegründeter, erstarrter Dogmatismus. Die von der Allgemeinen Kunstwissenschaft geforderte Entkoppelung von Kunst und Schönheit richtet sich zugleich gegen die »vorherrschenden Begriffe[] der Gründerzeit« 24 überhaupt. Schmarsow bringt diese Distanzierung so auf den Punkt: Wie unglaublich verworren und einseitig sind die Begriffe von Heimatlichem und Volkstümlichem, von germanischem und deutschem Wesen, die uns eingeimpft werden von Jugend auf – eben heute, nach 1870, mehr denn je zuvor, selbst in den Freiheitskriegen. Wie kurzsichtig verfahren selbst unsere Wanderprediger für Kunst und Erziehung, wenn sie immer wieder zur Nachahmung einer verflossenen Formensprache raten, d. h. zur Lehre Winckelmanns zurückkehren. 25

Ein entscheidendes Motiv für die systematische Lösung der Kunst bzw. der Kunstwissenschaft von ihrer Festlegung auf das Ästhetische bildet die Konfrontation mit den unklassischen Kunstpraktiken, wie sie die damaligen Avantgardebewegungen mit dem Impressionismus, Naturalismus und Expressionismus hervorbringen. Die Unzulänglichkeit einer traditionellen, auf Schönheit festgelegten Kunstforschung ergibt sich aber auch noch aus weiteren Faktoren einer Entgrenzung des Kunstbegriffs, die am Beginn des 20. Jahrhunderts auf den Plan treten. Henckmann hat hier insbesondere auf neue künstlerische Ausdrucksformen und Medien wie Photographie, Film oder Hörspiel, auf eine wachsende öffentliche Anerkennung von Kunstgattungen, die in der klassischen Kunstreflexion nicht akzeptiert wurden, wie Tanz, Oper, Plakat, Ornament oder Kunstgewerbe, sowie auf eine Entmonopolisierung der traditionellen akademischen Orte der Kunstreflexion (Philosophie und Kunstwissenschaften) durch eine zunehmende Beschäftigung mit Fragen der Kunst in empirischen Wissenschaften jenseits der Kunstwissenschaften (vor allem in der Soziologie, Psychologie, Ethnologie, Pädagogik und den Naturwissenschaften) hingewiesen. Denn durch diese empirischen Wissenschaften jenseits 24 25

U. Kultermann: Geschichte der Kunstgeschichte, S. 308. A. Schmarsow: Unser Verhältnis zu den bildenden Künsten, S. 150.

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der Kunstforschung im engeren Sinne wird beispielsweise der Status der Werke von außereuropäischen und vorzeitlichen Kulturen, von Kindern oder aber das Verhältnis von Kunst und Krankheit zur Diskussion gestellt. 26 Diese vielfältigen Entgrenzungsphänomene in der zeitgenössischen Kunstwelt gehen an die Substanz der Kunstwissenschaft, indem sie eine grundlegende Frage aufwerfen: Verbindet alle diese Phänomene tatsächlich etwas, das mit dem Wort ›Kunst‹ angemessen bezeichnet werden kann, und wenn ja: was? Auf diesen »krisenhafte[n] Zustand« 27 reagieren die Vertreter der Allgemeinen Kunstwissenschaft mit einem neuen Wissenschaftskonzept: Die Kunst muss in unvoreingenommener, umfassender und strikt an der Sache orientierter Weise als »objektive Tatsache« 28, mehr noch – wie Utitz es als Schüler Franz Brentanos in phänomenologischer Diktion formuliert – als »ungeheure Objektivität eigener Art« 29 begriffen werden. Die für die neue Wissenschaft – namentlich von Utitz – reklamierte »einheitliche Forschungseinstellung« 30 soll also nicht subjektiv, durch die Anwendung einer Methode, sondern objektiv, durch den Nachweis, dass die zu untersuchenden Gegenstände gleich beschaffen sind, begründet werden. Utitz folgt damit der Maxime Brentanos, dass die wissenschaftlichen Methoden ganz von den Erfordernissen der zu untersuchenden Sachverhalte her bestimmt werden sollen: Bevor Methoden entwickelt werden, gilt es, möglichst unvoreingenommen das Wesen der Sachverhalte – hier also: der Kunst – zu erforschen. 31 Unter dem Vorzeichen der Objektivität will man also auf philosophische Kompetenz rekurrieren und den Gegenstand ›Kunst‹ bestimmen, ohne die Kunst auf ihren ästhetischen Aspekt zu reduzieren oder auf metaphysische Voraussetzungen zurückzugreifen. Alle Protagonisten der Allgemeinen Kunstwissenschaft teilen diese Orientierung auf die ›objektive Tatsache‹ der Kunst: Studien zu speziellen Künsten, Kunstwerken oder Kunstfragen sind immer als Beiträge zum Ganzen einer Wissenschaft von der Kunst überhaupt, d. h. zu einem Sachzusammenhang, zu verstehen, der aufgrund seiner Breite und Wandelbarkeit aber nur noch in einem kollektiven und unabschließbaren Forschungsprozess aller kunstrelevanten Disziplinen erfassbar ist. Dabei ist es für sie klar, dass die Frage nach der Kunst nur angemessen beantwortet werden kann, wenn auch die unkanonischen ästhetischen Manifestationen, die schließlich die neue Beantwortung dieser Frage erst erforderlich gemacht hatten, nachdrücklich in die Überlegungen miteinbezogen werden. Vgl. W. Henckmann: »Probleme der allgemeinen Kunstwissenschaft«, S. 275. E. Utitz: Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft, Bd. 1, S. 30. (In dieser Ausgabe S. 111.) 28 M. Dessoir: »Sinn und Aufgabe der allgemeinen Kunstwissenschaft«, S. 149. (In dieser Ausgabe S. 57.) 29 E. Utitz: »Das Problem einer allgemeinen Kunstwissenschaft«, S. 438. (In dieser Ausgabe S. 139.) 30 E. Utitz: Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft, Bd. 1, S. 11. (In dieser Ausgabe S. 102.) 31 Vgl. W. Henckmann: »Probleme der allgemeinen Kunstwissenschaft«, S. 292 f.; ders.: »Vorwort«, S. XVII. 26

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Und in der Tat bilden die im Rahmen der Allgemeinen Kunstwissenschaft entstandenen Forschungen in der Tat einen ganzen – bisher weitgehend unerschlossenen – historischen Fundus an Studien gerade auch zu den verschiedensten künstlerischen Randerscheinungen, Spezialfragen und Grenzfällen wie etwa ›Ingenieurkunst‹ 32, ›Ornamentik‹ 33 und ›dekorativer Malerei‹ 34 bzw. ›dekorativer Plastik‹ 35, ›Karikatur‹ 36, ›Plakatkunst‹ und ›künstlerischen Schriftformen‹ 37, ›Kinderkunst‹ 38, ›japanischer Lackkunst‹ 39, dem ›Symbol in prähistorischer Beleuchtung‹ 40, dem ›Abbau der Raumdarstellung bei Geisteskranken‹ 41 sowie ›Verlust und Wiederkehr der künstlerischen Farbenausdrucksfähigkeit während einer akuten Geistesstörung‹ 42, ›Bewegungs-‹ 43 bzw. ›Durchschnittsphotographie‹ 44 oder ›Regie als Kunst‹ 45. Und auch die großen modernen Kunsttendenzen wie Impressionismus 46, Realismus, Naturalismus und Expressionismus 47 werden hier diskutiert. Diese zeitgenössischen Entgrenzungsphänomene begreift man in der Allgemeinen Kunstwissenschaft aber eben gerade weder als Anlass, den Kunstbegriff zu den Akten zu legen, noch, ihn kurzerhand jeder Kontur zu berauben, um ihn auch auf Unkanonisches anwenden zu können. Vielmehr versteht man diese Entgrenzungserscheinungen als Herausforderung, den Kunstbegriff grundsätzlich neu zu bestimmen: Es geht, wie es bei Utitz heißt, um die Bestimmung der Kunst als ein »Kulturgebiet, das gleichberechtigt neben die Wissenschaft tritt«. Dahin, so fährt Utitz fort, gelangen wir aber nur, »wenn wir neben die Erkenntnis der Wissenschaft eine ganz andere künstlerische stellen, die durch jene niemals ersetzt werden kann, die eine selbständige Form der Welterfassung oder Weltbildung ist«. Kunst darf daher »ohne falsche Überspannung des Autonomiebegriffs« nicht einfach in Vgl. H. Pudor: »Ingenieurkunst«. Vgl. u. a. A. Schmarsow: »Anfangsgründe jeder Ornamentik«; ders.: »Zur Lehre vom Ornament«; ders. / F. Ehlotzky: »Die reine Form in der Ornamentik aller Künste«; A. Schmarsow: »Die reine Form in der Ornamentik aller Künste«; F. Adama van Scheltema: »Beiträge zur Lehre vom Ornament«; ders.: »Ornament und Träger«; W. Worringer: »Entstehung und Gestaltungsprinzipien in der Ornamentik«; E. Strauß: »Über einige Grundfragen der Ornamentbetrachtung«. 34 Vgl. K. Doehlemann: »Über dekorative Malerei«. 35 Vgl. R. Hamann: »Dekorative Plastik«. 36 Vgl. A. Mayer: »Karikatur«. 37 Vgl. P. Westheim: »Plakatkunst«; ders.: »Künstlerische Schriftformen«. 38 Vgl. O. Wulff: »Kernfragen der Kinderkunst und des allgemeinen Kunstunterrichts der Schule«. 39 Vgl. E. Große: »Der Stil der japanischen Lackkunst«. 40 Vgl. H. Kühn: »Symbol in prähistorischer Beleuchtung«. 41 Vgl. W. Morgenthaler: »Der Abbau der Raumdarstellung bei Geisteskranken«. 42 Vgl. G. Herrmann: »Verlust und Wiederkehr der künstlerischen Farbenausdrucksfähigkeit während einer akuten Geistesstörung«. 43 Vgl. K. Lange: »Bewegungsphotographie und Kunst«. 44 Vgl. G. Treu: »Durchschnittsphotographie und Schönheit«. 45 Vgl. C. Hagemann: »Regie als Kunst«. 46 Vgl. z. B. G. Marzynski: »Die impressionistische Methode«. 47 Vgl. z. B. E. Utitz: »Der neue Realismus«. 32 33

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»Kultur« aufgelöst werden, sondern es gilt vielmehr, Kunst als eine »Sonderform der Kultur« in der ihr eigenen Objektivität zu entfalten. 48 Für die Zeitgenossen beruht die Attraktivität der Allgemeinen Kunstwissenschaft maßgeblich auf eben diesem Konzept der Kunst als ›Objektivität‹ bzw. ›Tatsache‹: Es verspricht, den aktuellen Entgrenzungserfahrungen gerecht werden zu können, ohne einen traditionellen Kunstbegriff durch Überdehnung bloß scheinbar den neuen Herausforderungen anzupassen oder den Kunstbegriff gleich ganz zu den Akten zu legen. Auf dieser Basis wird die Allgemeine Kunstwissenschaft als Forum für eine interdisziplinäre, vorurteilslose und phänomennahe Erforschung der Kunst konzipiert, die die bisher eher neben-, wenn nicht gegeneinander agierenden Bestrebungen und Perspektiven endlich zusammenführen will, damit aus dem »geschäftigen Durcheinander ein Zusammenwirken entstehen« kann. 49 Zwar muss man sagen, dass das eigentliche wissenschaftstheoretische Anliegen der Allgemeinen Kunstwissenschaft, näherhin insbesondere die systematische Bestimmung ihres Verhältnisses zur Ästhetik, bereits unter den Zeitgenossen weithin »eher unverstanden« geblieben ist. 50 – Diesen Zweifeln trägt die im vorliegenden Band getroffene Textauswahl Rechnung, indem sie die Rezension des Kunsthistorikers Erich Everth auf die Ästhetik seines Berufskollegen Richard Hamann 51 wiedergibt, in der der Verfasser versucht, die Gründe, die Hamann für die Trennung des »Wesen[s] des Ästhetischen vom Wesen der Kunst« 52 vorgebracht hat, zu widerlegen. – Nichtsdestoweniger ist gerade die Unterscheidung zwischen Ästhetik und Kunstforschung für das Konzept der Allgemeinen Kunstwissenschaft fundamental und prägt sogar ihr äußeres Erscheinungsbild. So sind selbst die jährlich anschwellenden Schriftenverzeichnisse, mit denen in der Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft die aktuellen Publikationen präsentiert werden, säuberlich in die beiden – jeweils weiter aufgeschlüsselten – Hauptkategorien ›Ästhetik‹ und ›Allgemeine Kunstwissenschaft‹ unterteilt. Desgleichen berücksichtigt man bei der Anordnung der Beiträge auf den Kongressen und in der Zeitschrift ihre ästhetische bzw. kunstwissenschaftliche Akzentuierung, wobei sich hier allerdings von Anfang an ein deutliches Übergewicht der kunstwissenschaftlichen Studien abzeichnet. Dieser Unterscheidungswille hat etwa auch in einem der bekanntesten und einflussreichsten Texte, die in der Zeitschrift erschienen sind, Georg Lukács »Theorie des Romans«, seine Spuren hinterlassen: Als Max Weber 1915 Dessoir kontaktiert, um ihm die Veröffentlichung des ersten Kapitels aus Lukács’ geplanter Habilitationsschrift über Dostoevskij vorzuschlagen, zögert der Herausgeber: 48 E. Utitz: »Über Grundbegriffe der Kunstwissenschaft«, S. 12 und S. 9. (In dieser Ausgabe S. 157 und 154.) 49 M. Dessoir: Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 2. Aufl., S. 3. 50 U. Franke: »Nach Hegel«, S. 76. 51 Vgl. E. Everth: »Richard Hamann: Ästhetik«. 52 Ebd., S. 100. (In dieser Ausgabe S. 297.) Vgl. R. Hamann: Ästhetik, 1. Aufl., S. 1. (In dieser Ausgabe S. 272.) S. a. E. Utitz: Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft, Bd. 1, S. 19 (in dieser Ausgabe S. 107); ders.: »Allgemeine Kunstwissenschaft«, S. 442 (in dieser Ausgabe S. 132).

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Hinsichtlich der zahlreichen Kritikpunkte Dessoirs (der u. a. zur Streichung des gesamten ersten Teils des Essays rät), lenkt Lukács’ bei dem Titel ein: Er erscheint schließlich 1916 nicht, wie zunächst vom Autor vorgesehen, als ›Ästhetik des Romans‹, sondern unter dem heute bekannten Titel. 53 Überhaupt ist es neben der programmatischen Interdisziplinarität und Unvoreingenommenheit gerade die Differenzierung zwischen Ästhetik und Kunstwissenschaft, mit der die Initiative der Sache nach einen Nerv der Zeit trifft. Und so resümiert Hamann in seinem Bericht zum ersten Kongress, der in Thematik und Struktur ganz im Zeichen dieser Unterscheidung steht: »Dieser Kongreß war mehr als eine Veranstaltung mit bestimmt umrissenem Programm und sachlichen Zielen, deren Resultate sich als wissenschaftliches Ergebnis zusammenfassen ließen, er war eine Programmerklärung, ein Symptom und ein Manifest.« 54 Vor allem Dessoir und Utitz haben sich in immer neuen Anläufen darum bemüht, die Unterscheidung zwischen Ästhetik und Kunstwissenschaft methodologisch zu begründen bzw. das Verhältnis von Ästhetischem und Kunst sachlich zu präzisieren. Dabei geht es nicht etwa – wie regelmäßig unterstellt wird – um eine Unterscheidung zwischen einer philosophischen Bestimmung der Kunst (in der Ästhetik) und einer einzelwissenschaftlichen Erforschung der Kunst (in den Kunstwissenschaften). 55 Diese Auffassung geht auf die bis heute verbreitete Identifikation von ›Ästhetik‹ und ›Philosophie der Kunst‹ zurück, deren Angemessenheit im Rahmen der Allgemeinen Kunstwissenschaft aber gerade bestritten wird. So wird zwar die Aufgabe und Stellung der Philosophie in der Allgemeinen Kunstwissenschaft von ihren Protagonisten methodologisch sehr unterschiedlich charakterisiert, aber nirgends grundsätzlich infrage gestellt. Utitz beispielsweise geht hier so weit, die Allgemeine Kunstwissenschaft ausdrücklich als Philosophie der Kunst zu bestimmen. 56 Es geht bei der Unterscheidung zwischen Ästhetik und Kunstwissenschaft ebenfalls nicht um die in der Literatur immer wieder anzutreffende Behauptung, das Ästhetische spiele für die Vertreter der Allgemeinen Kunstwissenschaft in der Kunst keine Rolle, sei hier also irrelevant. Und es entspricht auch nicht den Grundlinien der Allgemeinen Kunstwissenschaft, wie vor Vgl. P. Hohlweck: »Georg Lukács und der Verfasser der ›Theorie des Romans‹«, bes. S. 87. R. Hamann: »Zum Kongreß für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft«, Sp. 715–717. (In dieser Ausgabe S. 326.) 55 Vgl. in diesem Sinne z. B. O. Bätschmann: »Jacob Burckhardt«, bes. S. 128–132. 56 »Wenn die Ästhetik nicht der Gesamttatsache der Kunst beikommen kann, und wenn die einzelnen Kunstdisziplinen allgemeine Kunstprinzipien verlangen, die nicht der Ästhetik zu entnehmen sind, so scheint eine neue Wissenschaft sich einschieben zu müssen, die mit der Ästhetik die Allgemeinheit teilt und mit den Kunstdisziplinen das Material: die Kunstwerke in der ganzen Fülle ihrer Beziehungen und Bedingtheiten. Die Geschichte bedarf auch einer philosophischen Grundlegung, und diese bietet die Geschichtsphilosophie; und allgemeine Kunstwissenschaft ist ja nichts anderes als Philosophie der Kunst, wobei wir nur den Sinn der Philosophie nicht so verengen dürfen, daß er alle phänomenologischen und psychologischen Untersuchungen ausschließt.« (E. Utitz: Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft, Bd. 1, S. 32. [In dieser Ausgabe S. 112 f.]) 53 54

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allem Worringer es zu dieser Zeit in seinem epochenmachenden Werk Abstraktion und Einfühlung vertritt, »die Ästhetik als Teil der Lehre vom Schönen auf das im griechischen oder klassischen Sinne Schöne und damit auf einen Teilbezirk ihrer früheren Domäne« einzuschränken, die Ästhetik bzw. das Ästhetische also radikal zu historisieren. 57 Mit der Differenzierung zwischen Ästhetik und Kunstwissenschaft wendet man sich vielmehr gegen das überkommene, vor allem mit dem Namen Hegels verbundene Dogma einer »Wesenseinheit« 58 von Ästhetischem und Kunst, das davon ausgeht, die Kunst sei maßgeblich ein ästhetisches Phänomen. Und dies gilt umso mehr, wenn die Ästhetik, wie ebenfalls bei Hegel, aber auch in der philosophischen Tradition allgemein üblich, als »Wissenschaft vom Schönen« 59 verstanden wird. In dieser Engführung von Ästhetik, Schönheit und Kunst treffen nämlich gleich zwei Fehldiagnosen aufeinander: Zum einen ist die Bestimmung der Ästhetik im engeren Sinne als ›Wissenschaft vom Schönen‹ unangemessen. So bleibt zwar auch für die Vertreter der Allgemeinen Kunstwissenschaft das Schöne der Mittelpunkt und Inbegriff des Ästhetischen: »Mit dem Schönen stossen wir in das Herz des Aesthetischen vo[r]. [. . .] Das Schöne ist lauterste Kristallisation des Aesthetischen.« 60 Entgegen der traditionellen Ästhetik, die »den Begriff der Schönheit als den umfassendsten oder gar einzigen betrachtet« und diesen in ihren »Mittelpunkt« stellt, wird aber darauf hingewiesen, dass das Erhabene, Komische, Tragische, Hässliche usw. von jeweils eigener, nicht nur als Derivat des Schönen zu betrachtender, ästhetischer Relevanz ist. 61 Zum anderen und vor allem ist auch die Bestimmung der Ästhetik als Wissenschaft von der Kunst verfehlt. Dies gilt zunächst für einen engen Begriff des Ästhetischen, der dieses ganz auf die Schönheit festlegen will. Denn das Schöne ist weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung der Kunst: »Es gibt – ohne Zweifel – Schönes offenbarende, aufschliessende Kunst. Sie ist jedoch nicht nur auf das Schöne verpflichtet. Wir erfassen die Kunst nicht, mustern wir sie allein unter der Kategorie des Schönen.« 62 Die Schönheit ist also »nur eine Möglichkeit der Kunst neben andern; durchaus nicht die Einzige und auch nicht die an sich wertvollste«. 63 Doch auch das in einem erweiterten, über das Schöne hinausgehenden Sinn verstandene Ästhetische ist nicht dazu angetan, »der Gesamttatsache der Kunst gerecht

H. Kuhn: Erscheinung und Schönheit, S. 2. M. Dessoir: Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 2. Aufl., S. 1. 59 E. Utitz: »Allgemeine Kunstwissenschaft«, S. 436. (In dieser Ausgabe S. 127.) 60 E. Utitz: »Das Schöne und die Kunst«, S. 113. – S. a. M. Dessoir: Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 1. Aufl., S. 195–204/2. Aufl., S. 138–147. 61 Vgl. bes. ebd., 1. Aufl., S. 3 und S. 195–226 (Kap. »Die ästhetischen Kategorien«) / 2. Aufl., S. 1 und S. 138–170 (Kap. »Die ästhetischen Grundgestalten«) (Zit. 2. Aufl., S. 139). 62 E. Utitz: »Das Schöne und die Kunst«, S. 113. 63 Ebd., S. 114. 57

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zu werden«. 64 Denn es ist zwar richtig, dass Kunst ohne Ästhetisches nicht gedacht werden kann, wenn man darunter allgemein die sinnliche und emotionale Gegebenheitsweise der Kunst versteht. Insofern eine konstitutive »Beziehung zwischen der Wesensart der Kunst und der Wesensart ästhetischer Gegenstände« waltet, »lassen sich Ästhetik und systematische Kunstwissenschaft nicht völlig trennen«. 65 Aber das Kunstwerk ist doch stets noch etwas anderes als ein rein sinnlicher Gegenstand, ja das sinnliche Moment kann hier durchaus von bloß nebengeordneter Bedeutung sein. So ist es für den Kreis um Dessoir »klar«, dass letztlich »alle Kunstwerke mehr sein wollen als bloße Behälter für ästhetische Reize« 66, wie sich dies etwa »bei der gesamten Tendenzkunst, beim Porträt, beim Denkmal, bei religiösen Bildern und Statuen usw.« 67 – d. h. Gegenständen, die offenkundig alle in bestimmten außerästhetischen Funktionszusammenhängen stehen – leicht erkennen lässt. Und diese »außerästhetischen Sachverhalte der Kunst« sind nicht etwa nur »Beigaben, die sachlich besser unterblieben, sondern verankert in Gegenständlichkeit, Wesen und Wert der Kunst« 68: »Außerästhetisches fließt in sie ein, bedingt ihre Gestaltung, und zwar nicht zufällig, sondern wesensgemäß.« 69 Die Kunst erschöpft sich also nicht in ihrer ästhetischen Funktion und bildet aus diesem Grund auch keinen Teilbestand des Ästhetischen. Es ist daher methodisch »unzulässig, vom Ästhetischen ausgehend zur Kunst herabzusteigen«, wie dies in der traditionellen metaphysischen Ästhetik, aber auch in der psychologischen und neukantianischen Ästhetik der Fall ist. 70 Zudem reicht der »Kreis des Ästhetischen weiter [. . .] als der des Künstlerischen«. Schließlich können auch Naturerscheinungen und Produkte »ästhetischer Formung«, die »keine Kunstwerke sind«, »ästhetisch genossen« werden. 71 So spielt das Ästhetische etwa bei der »Gestaltung des persönlichen und gesellschaftlichen Lebens« 72 eine maßgebliche Rolle, aber ebenfalls die ›Schönheit‹ von Maschinen oder der »Lösung einer mathematischen Aufgabe« ist durchaus »mehr als eine Redensart«. 73 Das Ästhetische gelangt also durchaus nicht nur in der Kunst zur »vollgültigen E. Utitz: Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft, Bd. 1, S. 35 (in dieser Ausgabe S. 114); s. a. ders.: »Allgemeine Kunstwissenschaft«, S. 436 (in dieser Ausgabe S. 127). 65 M. Dessoir: Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 2. Aufl., S. 171. 66 M. Dessoir: »Sinn und Aufgabe der allgemeinen Kunstwissenschaft«, S. 151. (In dieser Ausgabe S. 59.) 67 E. Utitz: »Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft«, S. 104. (In dieser Ausgabe S. 123.) – S. a. bes. ders.: Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft, Bd. 1, S. 63 und S. 65. 68 E. Utitz: »Johannes Volkelt: Das ästhetische Bewußtsein«, S. 475. 69 E. Utitz: »Das Problem einer allgemeinen Kunstwissenschaft«, S. 433. (In dieser Ausgabe S. 135.) 70 E. Utitz: »Johannes Volkelt: Das ästhetische Bewußtsein«, S. 475 f. 71 M. Dessoir: Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 1. Aufl., S. 4 (in dieser Ausgabe S. 6) / 2. Aufl., S. 2. 72 M. Dessoir: »Sinn und Aufgabe der allgemeinen Kunstwissenschaft«, S. 149. (In dieser Ausgabe S. 57.) 73 M. Dessoir: Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 1. Aufl., S. 113/2. Aufl., S. 58. – Vgl. z. B. E. Utitz: »Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft«, S. 103. (In dieser Ausgabe S. 122.) 64

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Erscheinung« 74, wie vor allem Hegel dies behauptet hatte. Hinzu kommt, dass »die im Leben genossene Schönheit und die in der Kunst genossene nicht dasselbe sind« 75, weil die Schönheit etwa eines Naturdings oder einer Maschine »überhaupt nichts mit Darstellung zu tun« hat. Stattdessen ist es außerhalb der Kunst die »einfache Wirklichkeit, die ästhetisch genossen werden kann, aber nicht aus der Gestaltung heraus«. 76 Man trifft sich demnach in der Überzeugung, dass sich weder das Wesen des Ästhetischen aus dem Wesen der Kunst gewinnen lässt, noch die Ästhetik in der Lage ist, die Kunst angemessen zu bestimmen. Der »naive Dogmatismus, der das Ästhetische in die zwei Reiche der Natur und Kunst zerlegt«, ist damit »erschüttert«. 77 Vielmehr werden das Ästhetische und die Kunst jetzt jeweils als Fragestellungen eigener Art betrachtet, für die unterschiedliche Disziplinen – die Ästhetik und die Allgemeine Kunstwissenschaft – zuständig sind.

Konrad Fiedler und die Allgemeine Kunstwissenschaft Konzeptionell verbindet sich in der Allgemeinen Kunstwissenschaft die Zurückweisung der Ästhetik als Hauptexpertin in Sachen Kunst mit der grundlegenden Forderung nach ›Wissenschaftlichkeit‹. Dabei geht es um eine Kunstforschung, die sich von »deduktiver Begriffsspekulation« und von »unsachlicher Schöngeisterei« 78, wie sie die idealistische Tradition charakterisiere, fernhält und stattdessen strikt von den künstlerischen Gegebenheiten – den »objektiven Forderungen« 79 der Kunst und der Kunstwerke – ausgeht. Es kann daher auch nicht Ziel sein, direkt auf das künstlerische Schaffen einzuwirken. Selbst die unmittelbare Nützlichkeit der

W. Henckmann: »Probleme der allgemeinen Kunstwissenschaft«, S. 276. M. Dessoir: Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 1. Aufl., S. 3 (in dieser Ausgabe S. 5) / 2. Aufl., S. 1. 76 E. Utitz: »Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft«, S. 103 f. (In dieser Ausgabe S. 122.) 77 E. Utitz: »Allgemeine Kunstwissenschaft«, S. 438. (In dieser Ausgabe S. 129.) 78 So resümiert der Kunsthistoriker O. Wulff: »Der Grundgedanke [. . .] war der Zusammenschluß derjenigen Wissenschaften, welche es mit irgend einer Art des Kunstschaffens zu tun haben, mit einer objektivistisch gerichteten Ästhetik, – einer Ästhetik, die sich von deduktiver Begriffsspekulation ebenso fernhält wie von unsachlicher Schöngeisterei, vielmehr von den künstlerischen Gegebenheiten ausgeht. Ihr Endziel kann nur darin bestehen, daß sie im Bunde mit der Psychologie, sowohl der rein deskriptiven wie der experimentellen, die ästhetischen Werturteile einerseits aus der psychischen Organisation des Menschen [. . .], andererseits aus den objektiven Verhältnissen der Gegenstände dieser Urteilsweise zu erklären und auf Kategorien zurückzuführen sucht. Sie bemüht sich, eine Systematik der ästhetischen Tatbestände, Begriffe und empirischen Gesetze (nicht aber dogmatischen Normen) von den verschiedenen Kunstgebieten her zu gewinnen.« (O. Wulff: »Grundsätzliches über Ästhetik, allgemeine und systematische Kunstwissenschaft«, S. 556.) 79 M. Dessoir: »Eröffnungsrede« [zum ersten Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft], S. 43. (In dieser Ausgabe S. 29.) 74

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hier gewonnenen Einsichten für die »persönliche Bildung« 80 wird zurückgewiesen. Vielmehr versteht sich die Allgemeine Kunstwissenschaft dezidiert als »dem weiten Gebiet des Wissens« 81 zugehörige Grundlagenforschung: »Die wissenschaftliche Untersuchung [. . .] darf nicht Mittel zu einem dieser beiden an sich berechtigten Ziele bleiben, sondern ist sich selber Zweck«. 82 Charakteristisch für alle Vertreter der Allgemeinen Kunstwissenschaft ist dementsprechend die Intention, die Kunstforschung als Wissenschaft zu betreiben, die diesen Namen dank strenger methodischer Vorgaben auch verdient. Die zentrale Referenz für dieses Anliegen der Allgemeinen Kunstwissenschaft bildet dabei, wie insbesondere Utitz hervorhebt, Konrad Fiedler, der seit den 1870er Jahren mit seinen Thesen zum künstlerischen Bild neue Maßstäbe für eine strenge, an der Objektivität ihres Gegenstandes orientierte Kunstwissenschaft implementiert hatte. 83 Zugleich setzt man sich aber von allen diesen Positionen ab und verleiht damit der Allgemeinen Kunstwissenschaft ihr spezifisches Profil.

Zur Trennung von Ästhetik und Kunstwissenschaft bei Fiedler Es ist Konrad Fiedler, dem nach Utitz das »unvergängliche Verdienst« zukommt, »das Problem einer allgemeinen Kunstwissenschaft klar erkannt zu haben und damit die Notwendigkeit einer allgemeinen Kunstwissenschaft als Sonderdisziplin« gefordert zu haben. 84 In der Tat ist es bereits Fiedlers erklärte Auffassung, dass sich die Kunst keineswegs auf die Bedeutung und die Ziele festlegen lässt, die die Ästhetik ihr zuschreibt. Die »Annahme, daß Ästhetik und Kunst ihrem vollen Wesen nach in einem innerlich notwendigen Verhältnis zueinander stehen«, sei »einer kritischen Untersuchung zu unterwerfen«. 85 In einem Aphorismus notiert Fiedler noch strenger und präziser: »Kunstwerke dürfen nicht nach Grundsätzen der Ästhetik beurteilt werden.« 86 Denn die Ästhetik kann, wie Fiedler erklärt, immer »nur eines Teiles von dem vollen Gehalte der Kunstwerke habhaft werden«, indem »die Anwendung ästhetischer Prinzipien zu positiven Urteilen über Kunstwerke führt, die den Werken selbst gegenüber der Überzeugungskraft entbehren« 87 bzw.

M. Dessoir: Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 1. Aufl., S. 7 (in dieser Ausgabe S. 8) / 2. Aufl., S. 5. 81 Ebd., 2. Aufl., S. 6. 82 Ebd., 1. Aufl., S. 7 (in dieser Ausgabe S. 8) / 2. Aufl., S. 5. 83 Vgl. G. Boehm: »Einleitung«, S. XLVI. 84 E. Utitz: Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft, Bd. 1, S. 3 (in dieser Ausgabe S. 96), vgl. S. 3–13; s. a. ders.: »Allgemeine Kunstwissenschaft«, bes. S. 440 f.; ders.: »Über Grundbegriffe der Kunstwissenschaft«, bes. S. 14–17. 85 K. Fiedler: »Über die Beurteilung von Werken der bildenden Kunst«, S. 7. 86 K. Fiedler: »Aphorismen«, S. 13. 87 K. Fiedler: »Über die Beurteilung von Werken der bildenden Kunst«, S. 7. 80

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ihr Verständnis in die Irre leiten. So kann ein Kunstwerk durchaus »mißfallen und doch gut sein«. 88 Schon für Fiedler ist es also eigentlich keine wirkliche Frage mehr, »ob es nicht der Ästhetik sowohl als auch der Kunstbetrachtung zum Vorteil gereichen würde, wenn beide in ihren Ausgangspunkten und in ihren Zielen sich die gegenseitige Selbständigkeit bewahren und nur, wo sie dies zu ihrem beiderseitigen Nutzen tun könnten, eine Verbindung suchten«. 89 Denn das »Grundproblem der Ästhetik« ist einfach »ein anderes, als das Grundproblem der Kunstphilosophie«, und das »innerste Prinzip der Kunst« kann von der Ästhetik nicht erkannt werden. 90 Und so erklärt Utitz Fiedler maßgeblich aufgrund seiner programmatischen Unterscheidung der Anliegen der Kunstwissenschaft von denen der Ästhetik – neben Dessoir selbst und auch dem Philosophen und Soziologen Hugo Spitzer – zum »Vater« der Allgemeinen Kunstwissenschaft. 91 Die in der jüngeren FiedlerForschung verbreitete Auffassung, Fiedlers Kunsttheorie sei zwar von Anfang an bei Künstlern intensiv rezipiert, in der Kunstwissenschaft aber – »[a]bgesehen von motivischen und sachlichen Nachklängen in Heinrich Wölfflins Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen (1915), Georg Simmels Lebensanschauungen (1918) sowie in den nachgelassenen Manuskripten und Texten Ernst Cassirers« 92 – erst seit den 1970er Jahren, namentlich unter dem Eindruck der von Gottfried Boehm 1971 edierten Neuausgabe seiner Schriften, entdeckt worden, muss daher korrigiert werden: Bereits in der Allgemeinen Kunstwissenschaft, vor allem in der Fassung, die ihr Utitz im ersten Band seiner Grundlegung 1913 verleiht, wird die Bedeutung Fiedlers für ein dezidiert modernes Verständnis der Kunst nachdrücklich gewürdigt. 93 Dabei profiliert er Fiedlers Gründungsfunktion ausdrücklich in Absetzung K. Fiedler: »Aphorismen«, S. 13. K. Fiedler: »Über die Beurteilung von Werken der bildenden Kunst«, S. 7. 90 K. Fiedler: »Aphorismen«, S. 10 f. 91 E. Utitz: Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft, Bd. 1, S. 18. (In dieser Ausgabe S. 106.) – Zur Rolle Spitzers, der zwischen 1906 und 1914 selbst noch Beiträge für Dessoirs Zeitschrift geliefert hat, als Vorläufer der Allgemeinen Kunstwissenschaft s. ebd. 14 f. (In dieser Ausgabe S. 103.) So hatte Spitzer im Anschluss an die Polemik des Literatur- und Kunsthistorikers Hermann Hettner von 1845 Gegen die spekulative Ästhetik das »Zusammenwerfen von Ästhetik und Kunsttheorie« kritisiert und sich Hettners gegen Hegel gerichtete Generalthese zu eigen gemacht, dass Schönheit und Kunst sich nicht decken. (H. Spitzer: Hermann Hettners kunstphilosophische Anfänge und Literarästhetik; ders.: Untersuchungen zur Theorie und Geschichte der Ästhetik, S. 452; vgl. auch bes. ebd., S. 17–65 und S. 453–459. S. a. ders.: »Psychologie, Ästhetik und Kunstwissenschaft«.) Aber auch Carl Friedrich von Rumohr (vgl. C.F. von Rumohr: Italienische Forschungen) und Gottfried Semper (vgl. G. Semper: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten, oder Praktische Aesthetik) wären als Autoren zu nennen, die sich bereits in den späten 1820er bzw. 1860er Jahren gegen den Versuch richten, die Kunst pauschal auf das in einem klassizistischen Schönheitsbegriff zentrierte Ästhetische festzulegen. 92 S. Majetschak: »Konrad Fiedler«, S. 319. 93 Vgl. aber als Beiträge in der Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft zu Fiedler auch bes. E. Landmann-Kalischer: »Über künstlerische Wahrheit«; L. Kühn: »Das Problem der ästhetischen Autonomie«; W. Waetzoldt: »Aus der Werkstatt eines Künstlers«; R.M. Meyer: »H. 88 89

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von der in dieser Zeit dominierenden empirischen Ästhetik: »Ich glaube, daß man [. . .] sagen kann: mit Fiedler beginnt überhaupt eine neue Epoche der Kunstphilosophie, nicht etwa mit dem gleichzeitigen G.Th. Fechner, wie das häufig behauptet wird.« 94 Fiedlers Plädoyer für eine methodische Trennung von Kunstwissenschaft und Ästhetik liegt die Überzeugung zugrunde, dass die »Unterordnung« der Kunst unter »ästhetische Gesichtspunkte« die entscheidende Eigenschaft der Kunst verfehlt 95, indem sie die Kunst auf die Aufgabe reduziert, »eine ästhetische Lustempfindung zu erwecken« und »eine Welt ästhetischen Wohlgefallens« zu erschaffen, »die uns die natürliche Welt nicht biete« 96. Das heißt, Fiedler versteht die Ästhetik unter Bezugnahme auf Kants Kritik der Urteilskraft als Instanz der Analyse von Gefühlen und Geschmacksurteilen. »Alle die Lehren, die die Ästhetik der Kunst geben zu können glaubt, und die sich auf Harmonie, Rhythmus, Symmetrie usw. beziehen«, betreffen aber »lediglich die dekorative Seite der Kunst« und verfehlen »das eigentliche Wesen derselben«. 97 Dabei beantwortet Fiedler die Frage, worin näherhin das ›Grundproblem‹ bzw. das ›Wesen‹ der Kunst besteht, das in der Konzentration auf ihre ästhetischen Aspekte verfehlt werde, ausgesprochen klar und umreißt damit zugleich sein eigenes Forschungsfeld: Nach Fiedler wird in der Kunst – genauer: in der künstlerischen Form –, anders als im Ästhetischen, eine genuine Weise der Erkenntnis realisiert: »Der essentiell künstlerische Wert der Form besteht in der durch die Form vermittelten und zum Ausdruck gebrachten Erkenntnis.« 98 Erkenntnis ist nach Fiedlers Auffassung demnach nicht allein die Sache von Begriffen, wie dies in den Wissenschaften der Fall ist. Vielmehr findet Erkenntnis ebenso in der Kunst im Medium der menschlichen Sinnlichkeit – bei Fiedler: in der

Konnerth: Die Kunsttheorie Konrad Fiedlers«; E. Everth: »Plastik und Rahmung«; ders.: »Richard Hamann: Ästhetik«; E. Utitz: »Außerästhetische Faktoren im Kunstgenuß«; ders.: »Konrad Fiedler: Schriften über Kunst«; ders.: »Vom Schaffen des Künstlers«; ders.: »Georg Simmel und die Philosophie der Kunst«; ders.: »Hans von Marées: Briefe«; ders.: »Das Problem einer allgemeinen Kunstwissenschaft«; M. Dessoir: »Konrad Fiedlers Schriften über Kunst«; A. Baeumler: »Ernst Troß: Das Raumproblem in der bildenden Kunst«; E. von Ritoók: »Das Häßliche in der Kunst«; J. Volkelt: »Objektive Ästhetik«; O. Wulff: »Kritische Erörterungen zur Prinzipienlehre der Kunstwissenschaft« (in leicht abweichender Form ebenfalls erschienen u.d.T.: Grundlinien und kritische Erörterungen zur Prinzipienlehre der Bildenden Kunst); O. Loewi: »Über Wertung und Wirkung von Werken der bildenden Kunst«; O. Hoever: »Kunstcharaktere südabendländischer Völker«; H. Paret: »Konrad Fiedler«; K. Gassen: »Adolf von Hildebrands Briefwechsel mit Conrad Fiedler«; G.F. Hartlaub: »Hans von Marées und die Überlieferung«. 94 E. Utitz: »Über Grundbegriffe der Kunstwissenschaft«, S. 14. (In dieser Ausgabe S. 158.) 95 E. Utitz: Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft, Bd. 1, S. 3. (In dieser Ausgabe S. 96.) S. a. ders.: »Allgemeine Kunstwissenschaft«, S. 439. (In dieser Ausgabe S. 129.) 96 K. Fiedler: »Aphorismen«, S. 14. 97 Ebd., S. 17. 98 Ebd., S. 23.

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›Anschauung‹ – statt, nämlich als ›sinnliche Erkenntnis‹.99 Es geht Fiedler also um die Entwicklung einer nicht nur subjekt- und affektrelational, sondern vielmehr erkenntnistheoretisch relevanten Kunstanalyse. Die Grundlage für Fiedlers These vom spezifischen Erkenntnischarakter der Kunst bildet seine Radikalabrechnung mit der Auffassung des sogenannten Naiven Realismus, Wahrnehmungen seien, wie es bei Fiedler heißt, »gleichsam nur das geistige Spiegelbild eines sinnlich Vorhandenen«.100 Dem stellt er seine erkenntnistheoretische Hauptthese entgegen, dass »in jeder sinnlichen Anschauung schon eine geistige Tätigkeit enthalten« ist. 101 Die Wahrnehmung liefert nämlich nicht, wie auch in den psychologischen Experimenten der Fechnerschen Tradition unterstellt, einzelne Daten, die lediglich das Material für die im Begriff zu leistende Synthese stellen. Vielmehr vertritt Fiedler die Auffassung, dass die Kontinuität der Erfahrung nicht erst in Begriffen, sondern bereits in der Anschauung als solcher besteht. Die menschliche Sinnlichkeit ist demnach ein spontanes Vermögen, das die wahrgenommenen Daten immer schon aktiv gestaltet. 102 Diese Bestimmung der Anschauung als Leistung des Hervorbringens sichtbarer Formen ist nun von entscheidender Bedeutung für Fiedlers Bestimmung der Kunst. In unserer alltäglichen Erfahrung bleibt nämlich der produktive Charakter der Sinnlichkeit implizit – was nicht zuletzt die Unausrottbarkeit des Naiven Realismus erklärt 103: Wir hören in der Regel nicht, wie wir hören, sondern wir hören etwas; wir sehen nicht, wie wir sehen, sondern wir sehen etwas. Aus alltagspragmatischen Gründen kann das auch gar nicht anders sein. So sehen wir auch alltägliche Bilder immer mit dem begrifflich gesteuerten Interesse an, mit ihrer Hilfe etwas zu sehen – der Arzt den Knochenbruch auf der Röntgenaufnahme, der Maurer den Maueraufriss auf der Bauzeichnung, der Zeitungsleser ein Ereignis auf dem Pressephoto usw. Nur wenn die sinnliche Seite der Wirklichkeit sozusagen isoliert erscheint, indem sie eigens als »Sichtbarkeitsgebilde« 104 in den Blick genommen wird, nämlich im autonomen künstlerischen Bild, wird die sichtbare Form der Wirklichkeit als solche thematisch. Die Kunst hat für Fiedler also die Funktion, Erkenntnis über die Formen und sinnlichen Strukturen zu vermitteln, in denen wir die Welt erfassen, indem sie – wie auch Dessoir Fiedler referiert – nicht mehr und nicht weniger tut, als »den unbestimmten Formen- und Farbeindrücken der Wirklichkeit zu einer geschlossenen und festen Existenz zu verhelfen«. 105 Dabei geht es aber nicht etwa um die psychologische Frage, wie eine Sache von einem konkreten Individuum gesehen 99 Vgl. hierzu bes. G. Boehm: »Einleitung«. – Lambert Wiesing deutet dagegen Fiedler stärker als Wahrnehmungstheoretiker; vgl. z. B. ders.: »Konrad Fiedler (1841–1895)«, bes. S. 183. 100 K. Fiedler: »Über den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit«, S. 130. 101 K. Fiedler: »Moderner Naturalismus und künstlerische Wahrheit«, S. 107. 102 Vgl. bes. L. Wiesing: »Konrad Fiedler«, S. 183 f. 103 Vgl. K. Fiedler: »Über den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit«, S. 117. 104 Ebd., S. 192 u.ö. 105 M. Dessoir: Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 1. Aufl., S. 73/2. Aufl., S. 31.

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worden ist, sondern um die erkenntnistheoretische Frage, wie die Welt gesehen werden kann. 106 Anders gesagt: Die Kunst hat für Fiedler die Aufgabe, die im Alltag implizit bleibende Erkenntnisrelevanz der Anschauung, ihren produktiven Charakter, durch die Isolation von reinen, autonomen Sichtbarkeitsgebilden explizit zu machen. Die Kunst übernimmt dabei eine »transzendentale Funktion«. 107 So lässt sich für Fiedler das »Wesen der Kunst« im Grunde »auf eine sehr einfache Formel bringen: Erhebung aus dem unentwickelten, verdunkelten Zustand des anschaulichen Bewußtseins zu Bestimmtheit und Klarheit«. 108 Erkenntnistheorie tritt an die Stelle der Psychologie. Und indem Fiedler das Sehen nicht als passiven Reflex, sondern als Aktivität begreift, die verbessert und kultiviert werden kann, wächst der Kunst zugleich eine konkrete praktische Aufgabe zu: Alltägliche Bilder bleiben verbalsprachlich gelenkt, also fremdbestimmt. Daher genügt es ihnen, nur die gängigen kulturell vorgeprägten Sehschemata, mit denen die physiologischen Eindrücke beim Sehen immer schon strukturiert werden, zu variieren. Dagegen macht der Künstler die Anschauung als solche zum Mittelpunkt seiner Arbeit und eröffnet dabei alternative, unkonventionelle Sehweisen, die die Wirklichkeit neu sehen lassen. Er übernimmt damit die Aufgabe, »den Vorgang der Wahrnehmung durch das Auge nach Seite des sichtbaren Ausdrucks einer selbständigen Entwickelung zuzuführen«. 109 Auf diese Weise verharrt man im Verhältnis »zur Natur« nicht länger in einer bloßen »Anschauungsbeziehung«, sondern tritt in eine »Ausdrucksbeziehung« ein, indem man, wie der Künstler, »aktiv das, was sich seinen Augen darbietet, in seinen Besitz zu bringen sucht«. 110 Im Gegensatz zu der traditionellen Bestimmung der Kunst als Nachahmung einer unabhängig von ihr vorliegenden Wirklichkeit ist sie daher bereits für Fiedler, mit Nelson Goodman gesprochen, eine ›Weise der Welterzeugung‹. 111 Indem der Künstler so mit der reinen Sichtbarkeit seiner Bilder »eine Seite der Welt faßt, die nur durch seine Mittel zu fassen ist und zu einem Bewußtsein der Wirklichkeit gelangt, das durch kein Denken jemals erreicht werden kann«, tritt die Kunst in ein komplementäres Verhältnis zur Wissenschaft 112: Auch die Kunst ist eine eigene, »der Erkenntnis dienende Sprache« 113, die auf eine der Wortsprache vergleichbare Weise strukturiert ist, ohne dass sie aber mit den Mitteln der Wortsprache zureichend gedeutet und verstanden werden könnte 114. Und der »wahre Inhalt der künstlerischen Sprache« ist kein anderer, »als der der wissenschaftlichen 106 107 108 109 110 111 112 113 114

Vgl. L. Wiesing: Die Sichtbarkeit des Bildes, S. 151 f. Ebd., S. 153; ders.: »Konrad Fiedler«, S. 191. K. Fiedler: »Aphorismen«, S. 48. K. Fiedler: »Über den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit«, S. 173. Ebd., S. 172 f. Vgl. L. Wiesing: Die Sichtbarkeit des Bildes, S. 153; ders.: »Konrad Fiedler«, S. 191. K. Fiedler: »Über den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit«, S. 180. K. Fiedler: »Aphorismen«, S. 28. Vgl. bes. K. Fiedler: »Wirklichkeit und Kunst«, S. 179 f.

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Sprache, d. h. das Wesen der Dinge«. 115 Als eine solche Erkenntnisinstanz sui generis steht die Kunst – so Fiedlers radikaler Anspruch – (mindestens) auf Augenhöhe mit den diskursiv argumentierenden Wissenschaften. Insofern nämlich »ein geistiges Resultat und sein sinnlich wahrnehmbarer Ausdruck nicht zweierlei sein können«, gilt für Fiedler, dass »geistige Resultate überhaupt nur in sinnlichen Gebilden sich zu bestimmter Form zu entwickeln vermögen«. 116 Das Erkenntnismedium ›Kunst‹ ist daher kein untergeordnetes und entbehrliches, sondern ein höchstes und dem menschlichen Geiste, wenn er sich nicht selbst verstümmeln will, vollkommen unersetzliches. Was die Kunst schafft, ist nicht eine zweite Welt neben einer anderen, die ohne sie existiert, sie bringt vielmehr überhaupt erst die Welt durch und für das künstlerische Bewußtsein hervor. 117

In dieser Auffassung hat auch Fiedlers strikte Trennung von Kunstwissenschaft und Ästhetik ihren genaueren sachlichen Grund: Indem nämlich die »Aufgabe« der Kunst die sinnliche »Erkenntnis der Dinge« ist, kann die Kunst »als solche mit dem Geschmacksurteil nichts zu tun« haben, denn erkenntnistheoretische Anliegen spielen im Ästhetischen keinerlei Rolle. Schließlich hatte bereits Kant in seiner Kritik der Urteilskraft richtig gezeigt, dass das ästhetische Urteil »kein Erkenntnisurteil« ist, und deutlich gemacht, »wie sich das Subjekt von einer Vorstellung affiziert fühlt«. 118 Kunstwissenschaft und Ästhetik verdanken daher »ihr Dasein einem ganz anderen geistigen Bedürfnis«. 119 Und so fällt der Kunstwissenschaft die Aufgabe zu, diese genuine Erkenntnisqualität der Kunst, die unter ästhetischen Gesichtspunkten nicht in den Blick gerät, herauszuarbeiten. So resümiert Utitz Fiedlers Position folgendermaßen: Erkenntnis soll die Kunst geben, aber nicht wissenschaftlich-begriffliche, sondern Formung und Gestaltung dienen allein dem Zweck, klare Anschauungen zu erzeugen. Diese sind nicht etwa vor der Kunst da und werden bloß von ihr übernommen, nein, durch sie erst geschaffen. Was die Wirklichkeit darbietet, ist lediglich ein Chaos sinnlicher Eindrücke; sie zum Kosmos klarer Anschauungen zu lichten wird ewige Aufgabe der Kunst. Keine andere kommt ihr zu. Wir haben von allem abzusehen, was die Kunst an Schönheit, geistigem Gehalt, Beglückung usw. offenbart. Mit rigoroser Strenge zieht Fiedler den Trennungsstrich. Über den künstlerischen Charakter entscheidet allein die rein anschauliche Erkenntnis. [. . .] So ist die Kunst genau so gut Forschung wie die Wissenschaft, und die Wissenschaft ist so gut Gestaltung wie K. Fiedler: »Aphorismen«, S. 50. K. Fiedler: »Über den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit«, S. 118. 117 E. Utitz: »Über Grundbegriffe der Kunstwissenschaft«, S. 15 (in dieser Ausgabe S. 159 f.); vgl. ders.: Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft, Bd. 1, S. 4 f. (in dieser Ausgabe S. 97); ders.: »Allgemeine Kunstwissenschaft«, S. 440 (in dieser Ausgabe S. 130). 118 K. Fiedler: »Zur neueren Kunsttheorie. Kant«, S. 262. 119 K. Fiedler: »Über die Beurteilung von Werken der bildenden Kunst«, S. 7. – Vgl. bes. E. Utitz: »Über Grundbegriffe der Kunstwissenschaft«, S. 16. (In dieser Ausgabe S. 160.) 115 116

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die Kunst; nur die Gestaltungsreiche beider sind verschieden. Beide stellen Mittel dar, durch die der Mensch allererst die Wirklichkeit gewinnt: die des Begriffes in der Wissenschaft und die der Anschauung in der Kunst. In ihr verwirklicht sich die Sichtbarkeit der Dinge in Gestalt reiner Formgebilde. 120

Kunstwissenschaft als Kulturwissenschaft und die Kritik an Fiedler Die Anhänger der Allgemeinen Kunstwissenschaft teilen Fiedlers Auffassung von der Kunst als einer spezifischen Form der Erkenntnis, seinen Bruch mit der Abbildtheorie und seine Kritik an der Reduktion der Kunst auf das Ästhetische, mit aller Entschiedenheit. Dementsprechend hält Utitz im Sinne des Grundanliegens der Allgemeinen Kunstwissenschaft fest, Fiedler habe mit seiner Unterscheidung zwischen den ›Anschauungen‹ der Kunstwerke und dem Natur-Anschaulichen »die Umrisse einer Kunsttheorie entworfen, die sich grundsätzlich mit dem Ästhetischen nicht deckt«. Auch Fiedlers radikale Hinwendung zum Kunstphänomen, d. h. vor allem seine programmatische Abwendung von der Frage nach der subjektiven ›Wirkung‹ zur ›Objektivität‹ der Kunst, wird hier begrüßt. Denn auf dieser Grundlage wird, wie Utitz notiert, »eine Kunstwissenschaft als strenge, exakte Formwissenschaft«, die ihre Begriffe weder der Psychologie noch der »allgemeinen Geschichte« entlehnen muss, erst möglich. Bei Fiedler findet man auch eine Antwort auf die Frage, was das Kunstphänomen als Phänomen sui generis charakterisiert. So greift man Fiedlers Ergebnis auf, dass das gesuchte ›Wesen‹ der Kunst die Klärung der Sichtbarkeit des Seins in der ›Anschauung‹ ist. Entsprechend resümiert Utitz Fiedlers Leistung: »Die Richtung zum Objekt hat gesiegt; Kunstwissenschaft wird Wissenschaft von Objekten und mit objektiven Methoden.« 121 Damit ist Fiedler nicht weniger als der Begründer der Allgemeinen Kunstwissenschaft – aber auch nicht mehr. Denn diese kunstwissenschaftliche Initiative nimmt in gewissem Sinn geradezu eine Gegenposition zu Fiedler ein. Zum einen beschränken sich Fiedlers Forschungen auf die bildende Kunst. Genereller Aussagen über die Kunst oder alle Künste enthält er sich ausdrücklich, weil er davon überzeugt ist, dass es einen allgemeinen Begriff der Kunst nicht geben kann. Eine solche Generalisierung verbietet sich für Fiedler, insofern jede Kunst eine spezifische Seite der menschlichen Sinnlichkeit thematisiert und so etwa »das, was man sieht, jedenfalls durch die Tätigkeit keines anderen Sinnes wahrnehmen kann, als durch die des Gesichtssinnes«. 122 Es gibt daher »nicht eine Kunst im allgemeinen, sondern nur Künste«. 123 Demgegenüber verfolgen die Protagonisten Ebd., S. 14 f. (In dieser Ausgabe S. 159 f.). S. a. ders.: Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft, Bd. 1, S. 5 (in dieser Ausgabe S. 97 f.); ders.: »Allgemeine Kunstwissenschaft«, S. 440 (in dieser Ausgabe S. 130 f.). – Vgl. hierzu ebenfalls L. Wiesing: Die Sichtbarkeit des Bildes, bes. S. 151–160. 121 E. Utitz: »Über Grundbegriffe der Kunstwissenschaft«, S. 17. (In dieser Ausgabe S. 161f.) 122 K. Fiedler: »Über den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit«, S. 147. 123 Ebd., S. 112. – Vgl. W. Henckmann: »Probleme der allgemeinen Kunstwissenschaft«, S. 285. 120

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der Allgemeinen Kunstwissenschaft ausdrücklich das Ziel, nicht nur die bildende Kunst, sondern die Kunst überhaupt als Phänomen sui generis zu thematisieren. 124 Entsprechend setzt man sich hier auch mit der Frage auseinander, inwiefern die von Fiedler ins Spiel gebrachte Kategorie der ›Anschauung‹ die »Gesamtheit der Kunst« zu erfassen vermag und als Leitbegriff für die »ganze allgemeine Kunstwissenschaft« taugt. 125 Zum anderen und vor allem ist es für Fiedler in der Kunst völlig nebensächlich, was dargestellt sein mag und welche Funktionen die Kunst außer der der Vermittlung von sinnlicher Erkenntnis durch ihre Gestaltung als solche noch übernehmen mag. 126 Denn in Fiedlers radikal-formalistischer Überzeugung kann die künstlerische Tätigkeit als »nichts anderes verstanden werden, als die in dem menschlichen Bewußtsein und für dasselbe sich vollziehende Hervorbringung der Welt ausschließlich in Rücksicht auf die sichtbare Erscheinung« 127, und »der Inhalt des Kunstwerks ist nichts anderes, als die Gestaltung selbst« 128. So zeichnen sich Kunstbilder ausschließlich dadurch aus, dass sie – recht verstanden – die Aufmerksamkeit auf sich selbst als ›Sichtbarkeitsgebilde‹ lenken. Kunst ist damit Interesselosigkeit par excellence, bzw. genauer: Hier findet eine radikale Ausblendung aller übrigen Interessen zugunsten des einen Interesses an der Erkenntnis der Konstitution von Sichtbarkeit statt. Kunsttheorie ist bei Fiedler ausschließlich Theorie der – anschauenden – Erkenntnis. Utitz gibt Fiedlers Position daher so wieder: Handelt es sich um Kunst im höchsten Sinne, so kann an ihrem Dasein keiner von den Bestandteilen des geistigen, sittlichen, ästhetischen Lebens, an die man den Fortschritt, die Veredelung, die Vervollkommnung der menschlichen Natur gebunden erachtet, irgendein Interesse haben. Erst wenn wir zu dieser Unbefangenheit der Kunst gegenüber gelangt sind, können wir ihr etwas verdanken, was freilich etwas ganz anderes ist, als die Förderung unserer wissenden, wollenden, ästhetisch empfindenden Natur: nämlich die Klarheit des Wirklichkeitsbewußtseins, in der nichts anderes mehr lebt als die an keine Zeit gebundene, keinem Zusammenhange des Geschehens unterworfene Gewißheit des anschaulichen, sichtbaren Seins. Jede echte Kunstübung wird, welchem Inhalt sie auch zugute kommen mag, immer nur dieses ihr eigene Ziel verfolgen. 129

Die Kunst ist zwar, wie Utitz mit Fiedler erklärt, in der Tat ein ›autonomes‹ 130 Phänomen und eine genuine Weise der Erkenntnis; sie ist immer »Darstellung« bzw. Vgl. ebd., S. 293. E. Utitz: Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft, Bd. 1, S. 9 (in dieser Ausgabe S. 100); vgl. z. B. auch M. Dessoir: Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 1. Aufl., S. 73/2. Aufl., S. 31. 126 E. Utitz: Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft, Bd. 2, S. 318. 127 K. Fiedler: »Über die Beurteilung von Werken der bildenden Kunst«, S. 34. 128 Ebd., S. 37. 129 E. Utitz: Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft, Bd. 1, S. 6 (in dieser Ausgabe S. 98); vgl. u. a. ders.: »Allgemeine Kunstwissenschaft«, S. 440 (in dieser Ausgabe S. 131); ders.: »Über Grundbegriffe der Kunstwissenschaft«, S. 15 f. (in dieser Ausgabe S. 160). 130 Vgl. z. B. ebd., S. 7. (In dieser Ausgabe S. 152.) 124 125

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»Gestaltung« oder »Formung« 131. Das heißt, um sie als Kunst wahrzunehmen, bedarf es »ihrer Wahrnehmung als eines gestalteten Objekts: als einer Komposition«. 132 Aus der Perspektive der Allgemeinen Kunstwissenschaft deckt Utitz allerdings an Fiedlers radikalem Formalismus zugleich »einige Mängel« auf, mit denen dieser sich die »Reinheit seines Standpunktes«, d. h. seine strikt erkenntnistheoretische Deutung der Kunst, erkaufen musste. »Fragt man nämlich, was von dem Kunstwerk bei Fiedler letzthin übrig bleibt, ist es allein das Problem der Gestaltung zur klaren Sichtbarkeit. Alles andere scheidet aus dem eigentlich Künstlerischen aus; darunter alles ›Geistige‹.« 133 Fiedler hatte mit seiner Lösung der Kunst aus ihrer Fixierung auf das Ästhetische dem Umstand Rechnung getragen, dass die von Kant dem ästhetischen Urteil richtig zugesprochene Einstellung der ›Interesselosigkeit‹ in Bezug auf die Kunst nur in sehr eingeschränkter Weise zutrifft. Der Mensch hat nämlich, so Fiedler, an der Kunst durchaus ein Interesse: das Interesse, sich der Funktionsweise seiner Sinnlichkeit bzw. deren Bedeutung für die Konstitution der Wirklichkeit zu vergewissern. Auch nach Ansicht der Vertreter der Allgemeinen Kunstwissenschaft überwiegt bezüglich der Kunst in aller Regel die »intensive Interessiertheit«, die sich »bewußt oder unbewußt« einstellen kann. 134 Ihre Zurückweisung der Interesselosigkeit in Sachen Kunst ist aber, anders als bei Fiedler, nicht nur erkenntnistheoretisch motiviert, sondern sie übt ausdrücklich Kritik an seinem Formalismus. Diese Kritik hat dabei einen doppelten Fokus. Einerseits betrifft sie Fiedlers Ausblendung aller emotionalen Inhalte der Kunst: Nach Auffassung der Protagonisten der Allgemeinen Kunstwissenschaft ist die Kunst durchaus nicht, wie Fiedler es im Sinne der »Sauberkeit und Geschlossenheit der wissenschaftlichen Methode« 135 annimmt, wesentlich ein reines, ausschließlich auf anschauende Erkenntnis zielendes Formereignis. Damit bleibt bei Fiedler ein entscheidender Aspekt der Kunst außer Acht, nämlich »die Tendenz auf das Gefühl hin« 136: Was »an sinnlichem Reiz, an Stimmung, Gefühlsgehalt, Spannung und Beruhigung usw. in einem Kunstwerke liegt«, darf aber nicht von ihm abgetrennt werden, wenn der »Sinn« der Gestaltung nicht »verdunkelt« werden soll. 137 So ist Ebd., S. 16 f. (In dieser Ausgabe S. 161.) R. Schmücker: »Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft«, S. 56. 133 E. Utitz: »Über Grundbegriffe der Kunstwissenschaft«, S. 17. (In dieser Ausgabe S. 162.) 134 E. Utitz: Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft, Bd. 2, S. 104. 135 E. Utitz: »Über Grundbegriffe der Kunstwissenschaft«, S. 18. (In dieser Ausgabe S. 162.) 136 E. Utitz: Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft, Bd. 1, S. 13. (In dieser Ausgabe S. 103.) 137 »Will man mit Fiedler alles, was an sinnlichem Reichtum, an Stimmung, Gefühlsgehalt, Spannung und Beruhigung usw. in einem Kunstwerke liegt, radikal abtrennen, als unwesentlich, als nicht eigentlich zur Sache gehörig, so wird oft die Gestaltung völlig unbegreiflich, ihr Sinn verdunkelt; unergründlich, warum das Kunstwerk sich mit so unnötigen und störenden Beigaben belädt. Wird denn nicht häufig gerade der kunsterzeugte Zusammenhang des Sichtbaren in dieser bestimmten Gegebenheitsweise lediglich im Hinblick auf jene Gefühlsbedeutung usw. verständlich? Ein kaltes, frostiges Gerüst, nicht das Kunstwerk in seiner Reinheit bliebe, falls wir 131 132

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das Ästhetische im Kunstwerk zwar in der Tat nicht notwendig das zentrale oder gar das einzige relevante Moment, und es ist das Verdienst Fiedlers, dementsprechend die Lösung der Kunst aus einer monopolisierten ästhetischen Reflexion gefordert und vollzogen zu haben. Nichtsdestoweniger spielt das Ästhetische im Kunstwerk eine bedeutende Rolle, und ohne Ästhetisches ist Kunst überhaupt nicht zu denken. In diesem Sinne notiert auch Dessoir, dass Fiedlers strikte Zurückweisung der Ästhetik und des Ästhetischen in Sachen ›Kunst‹ zwar aus dem richtigen Impuls gegen einen Subjektivismus resultiert. Er verkenne aber zugleich die Objektivität der Kunst und des Kunstwerks, zu der eben auch das Ästhetische gehört: Konrad Fiedlers berühmte Absage an die Ästhetik gründete sich auf die Voraussetzung, daß das Ästhetische ganz in Lust- und Unlustgefühlen bestehe, also in subjektiven Zuständen, die eine gegenständliche Kunstgesetzlichkeit nicht zu erklären vermöchten und minderwertig seien im Vergleich zu dem Streben nach Wahrheit. [. . .] Weil es ein rein persönliches Gefallenfinden an wertbehafteten wie an wertfreien Dingen gibt, deshalb darf man nicht das Gefühl überhaupt verbannen, die Sinnes-, Form- und Inhaltsgefühle beiseite lassen und eine (allerdings eigentümlich geartete) theoretische Erkenntnis als die künstlerisch vollgültige behaupten. Was wir ästhetisch genießen, ist ein wirklicher Wert der Gegenstände. Mag auch das Wohlgefallen das erste sein – der Grund, der diese Tätigkeit anregt, liegt doch in dem Gegenstand selbst. 138

Andererseits richtet sich die Kritik gegen Fiedlers einseitige Fixierung auf die Erkenntnisfunktion der Kunst. Die Kunst übernimmt nämlich in der Perspektive der Allgemeinen Kunstwissenschaft in einer Kultur zugleich zahlreiche weitere Funktionen. Utitz nennt hier vor allem die erotische bzw. sexuelle, intellektuelle, ethische und religiöse Funktion von Kunst 139, wobei er selbst in diesem Zusammenhang nicht ausdrücklich von ›Funktionen‹, sondern vielmehr von ›Faktoren‹ spricht 140. Dessoir führt dagegen explizit die geistige, gesellschaftliche und die sittliche ›Funktion‹ der Kunst an. 141 Die Kunst ist daher maßgeblich Kulturphäjenes Abzugsverfahren anwenden.« (E. Utitz: »Allgemeine Kunstwissenschaft«, S. 441 [in dieser Ausgabe S. 132]; vgl. ders.: Die Gegenständlichkeit des Kunstwerks, S. 49 [in dieser Ausgabe S. 185].) – S. a. B. Scheer: »Conrad Fiedlers Kunsttheorie«, S. 143. 138 M. Dessoir: Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 2. Aufl., S. 136 f. – Vgl. hierzu auch bes. U. Franke: »Nach Hegel«, S. 84 f.; R. Schmücker: »Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft«, S. 57. 139 Vgl. bes. E. Utitz: Die Funktionsfreuden im ästhetischen Verhalten; ders.: »Außerästhetische Faktoren im Kunstgenuß«; ders.: Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft, Bd. 1, S. 10; s. a. z. B. ders.: »Ästhetik und Philosophie der Kunst«, S. 308. 140 Der Grund hierfür dürfte sein, dass der Begriff der ›Funktion‹ bereits durch seinen im ästhetischen Kontext entwickelten Begriff der ›Funktionsfreuden‹ bzw. der ›Funktionsgefühle‹, mit denen er die Modalitäten des ästhetischen Erlebnisses bezeichnet, belegt ist. (Vgl. bes. E. Utitz: »Funktionsfreuden im ästhetischen Verhalten«; ders.: Die Funktionsfreuden im ästhetischen Verhalten.) 141 Vgl. bes. M. Dessoir: Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 1. Aufl., S. 423–465/2. Aufl., S. 390–431 (Kap. »Die Funktion der Kunst«). (Auszugsweise in dieser Ausgabe S. 11 –25.)

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nomen oder, wie es bei Utitz immer wieder heißt, ein »überaus kompliziertes Kulturprodukt«: Nur wenn wir das Kunstwerk als ein überaus kompliziertes Kulturprodukt auffassen, bedingt durch das Zusammentreffen verschiedenster Umstände, die in ihrem Wertertrag abgewogen werden müssen, und deren Notwendigkeit, Konstanz oder Variabilität genau zu bestimmen ist, nähern wir uns der Fülle und dem Reichtum der wahrhaft vorliegenden Verhältnisse. Erst dann können wir das Material nach allen Seiten hin durchleuchten und bewältigen, und erst dann erstrahlt uns seine echte Gesetzlichkeit. 142

Und auch das »Inhaltliche« darf nicht einfach, wie bei Fiedler, in »die anschauliche Gesetzlichkeit seiner Sichtbarkeit« aufgelöst werden. Denn wenn die Kunst »von jeher um große geistige Inhalte gerungen hat, so zweifellos, um sie ›darzustellen‹, aber nicht um sie in der Darstellung zu vernichten; sondern um sich durch die Gegebenheitsweise dieser Darstellung erst ihres Ausdruckes zu versichern«. 143 So erklärt auch Dessoir: Jedes wahrhafte Kunstwerk ist nach Motiven und Wirkungen außerordentlich zusammengesetzt, es entspringt nicht bloß aus ästhetischer Spielseligkeit und dringt nicht nur auf ästhetische Lust, geschweige denn auf reinen Schönheitsertrag. Die Bedürfnisse und Kräfte, in denen die Kunst ihr Dasein hat, sind keineswegs mit dem ruhigen Wohlgefallen erschöpft, das nach der Überlieferung den ästhetischen Eindruck sowie den ästhetischen Gegenstand kennzeichnet. In Wahrheit haben die Künste im geistigen und gesellschaftlichen Leben eine Funktion, durch die sie mit unserem gesamten Wissen und Wollen verbunden sind. 144

Die Kunst kann daher nicht nur im reinen Rekurs auf ihre ästhetischen Aspekte, sondern auch ohne Berücksichtigung ihrer Inhalte und ihrer kulturellen Einbindung, d. h. ihres funktionalen Kontextes, nur unzulänglich erfasst werden. Genauer gesagt: Selbst die ästhetischen Aspekte eines Kunstwerks sind jeweils durch und durch gefärbt durch seine außerästhetischen Funktionen: Man raube dem ästhetischen Genuß [eines Kunstwerks] jene Tönungen und Färbungen, welche die außerästhetischen Faktoren bedingen, und man entblättert ihn; sein zartester Duft verschwindet. Und die Werke verlieren irgendwie ihre Sonderart. Die Fragen der allgemeinen Kunstwissenschaft scheiden also hier keineswegs aus, und die Ästhetik allein genügt auch da nicht, außer man will sie mit fremden Momenten durchsetzen. Das Wesen der Kunst fällt eben nicht mit dem Wesen des Ästhetischen zusammen, und die Gesetzlichkeit der Kunst nicht mit der Gesetzlichkeit des Ästhetischen. 145 E. Utitz: Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft, Bd. 1, S. 10. (In dieser Ausgabe S. 101.) E. Utitz: »Über Grundbegriffe der Kunstwissenschaft«, S. 18. (In dieser Ausgabe S. 162.) 144 M. Dessoir: Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 1. Aufl., S. 4 f. (in dieser Ausgabe S. 6) / 2. Aufl., S. 2. 145 E. Utitz: Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft, Bd. 1, S. 283. 142

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Dabei machen diese vielfältigen kulturellen Funktionen zugleich die historische Relevanz der Kunst aus, die sich nicht nur in Bezug auf die außerkünstlerische geschichtliche Wirklichkeit, sondern auch auf die immanente geschichtliche Entwicklung der Kunst zeigt. Mit seinem dezidiert antiästhetischen und antisemantischen Kunstverständnis, das auch historische Fragen konsequent ausblendet, wird Fiedler somit nach Auffassung der Allgemeinen Kunstwissenschaft – wie es bei Utitz immer wieder heißt – der »Gesamttatsache der Kunst« 146 nicht gerecht: All die ästhetischen Werte, welche die Kunst offenbart, scheiden hier [bei Fiedler und in seinem Umkreis] völlig aus der Betrachtung aus, nicht minder aber all die ethischen, religiösen, intellektuellen, funktionellen usw. Faktoren, welche durch die Kunst vermittelt werden und für ihr Werden, Sein und für ihre Entwicklung von wesentlicher Bedeutung sind. 147

Kunstwissenschaft kann daher sinnvollerweise nicht als rein psychologische Ästhetik, aber ebenfalls nicht als »reine Formwissenschaft« im Sinne Fiedlers betrieben werden. Sie muss vielmehr die Verbindung mit dem »Geisteswissenschaftlichen« und Historischen suchen 148: Es geht um die Verbindung von »Kunst und Geschichte«, des »Systematischen mit dem Historischen«. 149 Charakteristisch für die Bestrebungen der Allgemeinen Kunstwissenschaft ist daher die Auffassung, dass die Kunst nur dann angemessen thematisiert wird, wenn man sowohl ihre ästhetischen Aspekte als auch ihre »Stellung in der Gesamtheit des Kulturganzen« 150 mitberücksichtigt. An die Stelle von Fiedlers strikt immanent konzipiertem Formalismus tritt so die Bestimmung der Kunst als jeweils in einer historischen Situation positionierter und mit ästhetischen Mitteln wahrgenommener Komplex von Funktionen, seien diese religiöser, politischer, sozialer oder sonstiger Art. 151 Diese funktionale Einbindung der Kunst untergräbt dabei nicht etwa ihren spezifischen Charakter, wie ihn Fiedler so nachdrücklich thematisiert hatte. Vielmehr gilt es, die Spezifität der Kunst gerade in Bezug auf die vielfältigen Weisen, wie sie im Leben der Menschen relevant wird, zu erfassen. 146 Ebd., Bd. 1, S. 32 (in dieser Ausgabe S. 112), s. a. S. 35 (in dieser Ausgabe S. 114); ders.: »Allgemeine Kunstwissenschaft«, S. 436 (in dieser Ausgabe S. 127). 147 E. Utitz: Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft, Bd. 1, S. 10. (In dieser Ausgabe S. 101.) 148 E. Utitz: »Über Grundbegriffe der Kunstwissenschaft«, S. 31. 149 Ebd., S. 69 und S. 9 (in dieser Ausgabe S. 154). 150 E. Utitz: Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft, Bd. 1, S. 303 f. 151 Insofern trifft auch Andreas Haus’ Charakteristik Dessoirs als Formalist und ›geistigen Antipoden Aby Warburgs‹ Dessoir und die Allgemeine Kunstwissenschaft gerade nicht, sondern vielmehr Fiedler. (Vgl. »D[essoirs] formale Verabsolutierung des Kunstcharakters erwies sich – kurz bevor die ersten abstrakten Bilder Kandinskys u. die Poésie pure entstanden – als wichtiger Baustein in der Bildung eines autonomen Kunstbegriffs. D[essoir] öffnete, wie die Form-Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin, Alois Riegl u[nd] August Schmarsow, die ästhetischen Muster des Kunstwerks, in die dann etwa zur gleichen Zeit sein geistiger Antipode Aby Warburg mit seiner ikonologisch vertieften Inhaltsdeutung der Kunst einspringen sollte.« [A. Haus: »Max Dessoir«, S. 32.])

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Konzeptionen der Allgemeinen Kunstwissenschaft: Dessoir, Utitz, Schmarsow, Hamann, Wind Ein entscheidendes Merkmal der Verfahren, die in der Kunst vor allem seit der Moderne praktiziert werden, ist die Demontage der klassischen Vorstellung des autonomen Kunstwerks. In dieser Situation der ›Entgrenzung‹ der Kunst bieten sich der philosophischen Reflexion grundsätzlich zwei Optionen: Entweder man begreift sie als Impuls, nicht länger Philosophie der Kunst, sondern vielmehr Ästhetik im weiten Sinn dieses Begriffs zu treiben. Oder aber man versteht sie als Herausforderung, die Bestimmung der Kunst auf eine neue Grundlage zu stellen. Eben dies ist die Aufgabe, die etwa Juliane Rebentisch mit ihren Studien zur Ästhetik der Installation verfolgt, wo sie dafür plädiert, einen Kunstbegriff zu entwickeln, der es erlaubt, »die Entgrenzungstendenzen in der Kunst mit ihrer Autonomie zusammenzudenken«. Dieser Zusammenschluss kann gelingen, da die Kunst, so Rebentisch, nicht etwa autonom ist, »weil sie auf diese oder jene Weise verfaßt ist, sondern weil sie einer Erfahrung stattgibt, die sich aufgrund der spezifischen Struktur der Beziehung zwischen ihrem Subjekt und ihrem Objekt von den Sphären der praktischen und der theoretischen Vernunft unterscheidet«. Es geht hier um eine »Neufassung ästhetischer Erfahrung als eines Prozesses, der Subjekt wie Objekt dieser Erfahrung gleichermaßen und gleichursprünglich umgreift und also nicht auf eine dieser beiden Entitäten allein verrechnet werden kann«. 152 Bei diesem aktuellen Impuls, die Struktur des Kunstwerks jenseits der Fokusbildungen von Werk-, Produktions- oder Rezeptionsästhetik zu denken, handelt es sich nun allerdings um einen Ansatz, der – wie bereits Ursula Franke notiert hat 153 – eine historische Parallele in der Allgemeinen Kunstwissenschaft findet. Bereits die Vertreter dieser Forschergemeinschaft machen es sich nämlich zu einem zentralen Anliegen, die Erfahrung des Subjekts und die Eigenschaften des künstlerischen Objekts als einen Strukturzusammenhang zu verstehen, in dem der spezifische Sinn der Kunst realisiert wird. Insofern handelt es sich hier der Sache nach um Beiträge zur Analyse der Struktur der Kunst bzw. von Kunstwerken – wenngleich der Strukturbegriff als solcher unter diesen Autoren allein bei Dessoir einen erkennbaren Stellenwert einnimmt. 154 Indem näherhin im Ausgang von Wilhelm Diltheys Frage nach der »Funktion der Kunst im geistigen Haushalt des Menschenlebens« 155 nun auch die diversen ästhetischen und nichtästhetischen Funktionen der Kunst in Gesellschaft und Geschichte in den Blick genommen werden, wird der Strukturzusammenhang der Kunst bzw. des Kunstwerks hier nicht nur als Realisierung einer in sich ruhenden, dauerhaften formalen Relation – der ›reinen J. Rebentisch: Ästhetik der Installation, S. 14 und S. 12. S. a. dies.: »Autonomie? Autonomie!«. Vgl. U. Franke: »Nach Hegel«, bes. S. 88–90. 154 Vgl. ebd. – S. a. M. Moog-Grünewald: »Ästhetik versus Metaphysik?«. 155 W. Dilthey: »Die drei Epochen der modernen Ästhetik und ihre heutige Aufgabe«, S. 265. Vgl. bes. W. Hofmann: »Fragen der Strukturanalyse«, bes. S. 77. 152

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Sichtbarkeit‹ im Sinne Fiedlers – verstanden. Er wird vielmehr auch und vor allem als ein solcher begriffen, der immer schon kulturell und historisch eingebunden ist und hier bestimmte Funktionen übernimmt, die seine Gestalt mitprägen und verändern. 156 Damit steht diese Konzeption dem dynamischen und funktionalen Strukturbegriff des Tschechischen sowie auch des Russischen Strukturalismus sachlich näher als dem statischen des Französischen Strukturalismus 157: Es geht hier darum, methodologische Konzepte einer neuen strukturanalytisch und kulturgeschichtlich orientierten Kunstwissenschaft zu entwickeln, die – in Dessoirs Terminologie gesprochen – geeignet sind, die Kluft zwischen ›Subjektivismus‹ und ›Objektivismus‹ zu überwinden. 158 Vor diesem gemeinsamen Hintergrund werden mehrere wissenschaftstheoretische Ansätze zur Methodologie der Allgemeinen Kunstwissenschaft erarbeitet, die in diesem Band mit zentralen Beiträgen vertreten sind. Neben den Positionen der Philosophen Max Dessoir und Emil Utitz sind dies die Ansätze von drei philosophisch engagierten Kunsthistorikern, die ihre eigenen kunstwissenschaftlichen Arbeitsfelder dezidiert als Teilgebiete der Allgemeinen Kunstwissenschaft als übergreifender wissenschaftstheoretischer Disziplin verstehen: August Schmarsow, Richard Hamann und Edgar Wind. Zu den bedeutenden methodologischen Reflexionen der Allgemeinen Kunstwissenschaft gehören überdies Beiträge zweier weiterer philosophisch motivierter Kunsthistoriker: Oskar Wulff und Erwin Panofsky vor seiner Hinwendung zur Ikonologie. Allerdings fußen Wulffs wissenschaftstheoretische Beiträge 159 stark auf den Vorgaben seines Lehrers Schmarsow. Und bei Panofskys Beiträgen zum Problemkreis der Allgemeinen Kunstwissenschaft 160 handelt es sich – bei allem wissenschaftsgeschichtlichen Gewicht – eher um Spezialstudien, deren systematischer Kern von seinem Schüler Wind aufgegriffen und in selbstständiger Weise im Sinne eines Beitrags zur Methodologie der Allgemeinen Kunstwissenschaft ausgearbeitet wird. Dabei werden methodologische Positionen entwickelt, die nicht nur im Grad ihrer Ausarbeitung, sondern ebenso ihrem konzeptionellen Ansatz stark variieren, indem sie Diltheys Vorgaben in sehr unterschiedlicher Weise weiterentwickeln:

Zum Zusammenhang zwischen Struktur- und Funktionsbegriff in Bezug auf Dessoirs Theorie vgl. auch die – allerdings stark der Idee einer ästhetischen Autonomie der Kunst verpflichtete – Darstellung von F.M. Gatz: »The Object of Aesthetics«, bes. S. 43–46. S. a. ders.: »Die Theorie des L’art pour l’art und Theophile Gautier«. 157 Vgl. bes. N. Plotnikov: »Ein Kapitel aus der Geschichte des Strukturbegriffs«. 158 Vgl. M. Dessoir: Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 1. Aufl., S. 60–89/2. Aufl., S. 19– 47. 159 Vgl. bes. O. Wulff: »Grundsätzliches über Ästhetik, allgemeine und systematische Kunstwissenschaft«; ders.: »Kritische Erörterungen zur Prinzipienlehre der Kunstwissenschaft«; ders.: »Die psychophysischen Grundlagen der plastischen und malerischen Gestaltung«. 160 Vgl. bes. E. Panofsky: »Das Problem des Stils in der bildenden Kunst«; ders.: »Der Begriff des Kunstwollens«; ders.: »Über das Verhältnis der Kunstgeschichte zur Kunsttheorie«; ders.: »Probleme der Kunstgeschichte«. 156

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(1) Dessoir selbst propagiert die Entwicklung einer hybriden – zwischen Philosophie, Psychologie und historischer Kunstforschung changierenden – ›Strukturlehre des Kunstgebildes‹, die die Einheit der Kunst in der grundlegenden Struktur des Wechselverhältnisses von künstlerischer Produktion, Werk und Rezeption erkennt. Dabei werden die Spezifizierungen der Kunst in den Künsten bzw. den Kunstwerken ihrerseits als Realisierungen dieser primären Struktur begriffen. Im Rahmen dieser Strukurlehre wird die traditionelle Frage nach dem Wesen der Kunst ersetzt durch die Bestimmung der kulturellen Funktionen der Kunst, die Dessoir insbesondere im Verhältnis der Kunst zu Wissenschaft, Gesellschaft und Sittlichkeit erkennt. (2) Utitz weist seine Theorie der Kunst dagegen klar als philosophische Theorie aus. In ihrem Mittelpunkt steht eine Lehre von der ›Gegenständlichkeit des Kunstwerks‹, die auf der phänomenologischen Maxime basiert, dass die wissenschaftlichen Methoden ganz von den Erfordernissen der zu untersuchenden Sachverhalte her bestimmt werden sollen. Er entwickelt diese als Lehre von der ontologischen Struktur des Kunstwerks, in der Sinn und Form zu einer ›sinnvollen Form‹ zusammengeschlossen sind. Die spezifische Gegenständlichkeit des Kunstwerks realisiert sich auch für Utitz in einer Interaktion von Künstler, Kunstwerk und ›Kunstgenuß‹, die sich als ein Kommunikationsgeschehen beschreiben lässt. Nach Utitz’ Ansicht vollzieht sich diese Kommunikation im Medium der Sinnlichkeit und des Gefühls. Daher bildet für ihn die ›Gestaltung auf ein Gefühlserleben‹ die kulturelle Funktion der Kunst. Sie kann ihre Funktion (im Singular) aber nur erfüllen, indem sie diese in Bezug auf vielfältige kulturelle Funktionen (im Plural) wie das Erotische bzw. Sexuelle, das Intellektuelle, das Ethische, das Religiöse usw. wahrnimmt. (3) Schmarsow strebt konsequent eine anthropologische Fundierung der Kunst und der Künste an, indem er die künstlerische Praxis ebenso wie das Verstehen von Kunstwerken auf die körperliche Organisation des Menschen zurückführt. Die Kunst ist nicht nur Ausdruck der leiblichen Organisation des Menschen, sondern sie muss auch leiblich – d. h. prinzipiell mit dem gesamten Körper und allen Sinnen – in der Bewegung im Raum erfahren werden. Charakteristisch ist dabei, dass Schmarsow diese anthropologische Fundierung der Kunst zugleich historisch und kulturell rückbindet: Die Leiblichkeit artikuliert sich in der Kunst nicht immer gleich, sondern in ihren Modifikationen kommen historische und kulturelle Unterschiede zum Ausdruck. Diese Position legt er insbesondere anhand der Bedeutung des Rhythmus als lebendiger Erfahrung des im Raum sich bewegenden menschlichen Körpers dar, die die eigentümliche rhythmische Struktur von Kunstwerken ebenso begründet wie sie von dieser stimuliert wird. Schmarsows Überzeugung, dass die Kunst nur als Teil einer Kultur zu verstehen ist, in der sie bestimmte Funktionen übernimmt, manifestiert sich namentlich in seiner Hinwendung zur Architektur. Er richtet sich damit gegen die zeitgenössische These, dass die Baukunst aufgrund ihrer offensichtlichen Zweckhaftigkeit überhaupt nicht zu den freien Künsten gehört. (4) Hamann geht davon aus, dass ein und derselbe Gegenstand in unterschiedlicher Weise vollzogen werden kann, je nachdem, in welcher Funktion er in den

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Blick genommen wird. Dies gilt auch für das Kunstwerk, das nicht nur ›Träger eines künstlerischen Tatbestandes‹, sondern zugleich ›ein Ding wie andere‹ ist. Für Hamann gilt daher, mit Cassirer gesprochen, das ›Prinzip des Primates der Funktion vor dem Gegenstand‹. Für Hamann ist die Objektivität des Werks also nicht absolut, sondern variiert in der Erfahrung des Subjekts. Allerdings verfährt die Subjektivität dabei nicht völlig frei, sondern folgt bestimmten Strukturprinzipien: Sie wird immer überformt zum einen durch ›Interessen und Stimmungen‹ des Subjekts, zum anderen durch die jeweiligen äußeren Rezeptionsbedingungen. Zudem gibt es für den Historiker Hamann aber eine ursprüngliche funktionale Einbindung des Kunstwerks – Hamann hebt hier insbesondere die abbildende, die religiöse bzw. kultische, die ästhetische und die geschäftliche Funktion hervor –, die dem Relativismus dieses Kontextualismus weitere Grenzen setzt. (5) Wind vertritt die Auffassung, dass in der angemessenen Erfassung der künstlerischen Leistung Anschauung und Denken miteinander vereint sind, weil der künstlerischen Leistung selbst rationale Strukturen zugrunde liegen: In den Gestaltungsverfahren der Kunst ist im Denken ein ›Problem‹ gesetzt, ›dessen Lösung nur im Anschaulichen zu finden ist‹. Kunst gilt hier als Sprache, deren im Kunstwerk ›verkörperter‹ Sinn sich aber nicht in der reinen Anschauung selbst ganz ausspricht. Er erschließt sich vielmehr erst, wenn die jeweilige kulturelle Funktion des Werks mit den Mitteln historischer Forschung rekonstruiert wird. Das heißt, die Kunst wird im Rahmen der von Wind betriebenen Version der Ikonologie, wie bei Warburg und Panofsky, als eine Sprache angesehen, die nur im Kontext der Sprache der Kultur verstanden werden kann. So stellt Wind Wölfflins Begriff des ›reinen künstlerischen Sehens‹ den Begriff der ›Gesamtkultur‹ entgegen, in die das künstlerische Sehen eingebunden ist.

Perspektiven der Allgemeinen Kunstwissenschaft Zwar kann lässt sich zeigen, dass die Allgemeine Kunstwissenschaft der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis heute – in wie auch immer modifizierter Gestalt – »incognito« 161 in vielen Kunstinstitutionen und in der Idee einer interdisziplinären Kooperation der kunstrelevanten Wissenschaften nachwirkt. Nichtsdestoweniger haben die wissenschaftstheoretischen Beiträge zur Grundlegung der Allgemeinen Kunstwissenschaft, die in diesem Band zusammengestellt sind, klar historischen Charakter: Sie sind Teil eines Diskussionszusammenhangs, dem seinerzeit erhebliche Bedeutung für die Restrukturierung existierender sowie die Entwicklung neuer kunstwissenschaftlicher Forschungen zukam, der heute aber vergessen ist. Die methodologischen Konzepte sind idiosynkratisch an diesen speziellen historischen Diskussionszusammenhang gebunden, sie sind zudem in sich mehr oder weniger unausgereift und untereinander heterogen. So mag wohl eine grundsätzliche 161

W. Henckmann: »Probleme der allgemeinen Kunstwissenschaft«, S. 334.

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Parallele zwischen der heutigen Situation und der historischen Problemlage, auf die die Allgemeine Kunstwissenschaft reagiert, identifizierbar sein: die Erfahrung einer ›Entgrenzung‹ der Kunst und der Künste. Die ›Anschlussfähigkeit‹ ihrer methodologischen Konzepte für die Bewältigung aktueller kunstwissenschaftlicher Herausforderungen – allen voran der Herausforderung, den ›entlaufenen Kunstbegriff‹ einzuholen – liegt dagegen durchaus nicht auf der Hand. Nichtsdestoweniger können insbesondere zwei Charakteristika aller hier vorgestellten Konzeptionen nach wie vor sachlich weiterführen: zum einen die heute wieder geltend gemachte Absicht, ›Subjektivismus‹ und ›Objektivismus‹ in einer Explikation der Struktur des Kunstwerks zusammenzuführen, zum anderen eine Betrachtung der Kunst als kulturelles Phänomen in der Vielfalt seiner ästhetischen und nichtästhetischen Funktionen.

Kunst als Realisierung kultureller Funktionen Die für die Protagonisten der Allgemeinen Kunstwissenschaft so bedeutsame Unterscheidung dieser Wissenschaft von der Ästhetik hat bereits unter den Zeitgenossen wenig Anklang gefunden. Sie ist daher schließlich wieder aufgelöst worden: Meist ist man zum geläufigen Konzept der ›Ästhetik‹ als Bezeichnung für die systematische Beschäftigung mit dem Ästhetischen, das die – in der Regel als Paradigma des Ästhetischen verstandene – Kunst mit umfasst, zurückgekehrt. 162 So wird auch die von Dessoir gegründete Zeitschrift zwar bis heute fortgeführt: Nach ihrer erzwungenen Auflösung erscheint sie von 1951 bis 1965, herausgegeben von dem Kunsthistoriker Heinrich Lützeler, zunächst als Jahrbuch für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, ab 1966 dann wieder unter dem ursprünglichen Titel Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. Allerdings verzichtet Lützeler im ersten Band des Jahrbuchs auf ein »programmatisches Vorwort« und kümmert sich auch in seiner sonstigen Arbeit »nicht um die Abgrenzung einer ›allgemeinen Kunstwissenschaft‹ von den historischen Disziplinen«, ja er zieht »jene nicht einmal als ein eigenständiges Forschungsgebiet in Betracht«. 163 Dementsprechend resümiert Lorenz Dittmann 1987 das Schicksal der methodologischen Bestrebungen der Allgemeinen Kunstwissenschaft der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in deren wiedergeründetem Organ: »Stillschweigend wurde dieser schmale, unhistorische und auf tiefere Begründungen verzichtende Problemkomplex verabschiedet.« 164 Hierbei spielen wohl auch eher pragmatische Gründe eine Rolle, wie die unterschiedliche Bedeutung der ›Kunstwissenschaft‹ in den verschiedenen Wissenschaftskulturen. Vor allem werden aber immer wieder inhaltliche Einwände gegen S. a. z. B. L. Dittmann: »Kunstwissenschaft«, S. 99. L. Dittmann: »Heinrich Lützeler und die ›Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft‹«, S. 20 und S. 22. 164 Ebd., S. 22. 162 163

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diese Differenzierung selbst erhoben. So wird gegen das Projekt einer Allgemeinen Kunstwissenschaft insbesondere eingewandt, dass »die Theorie des Schönen von der Theorie der Kunst« nicht zu trennen ist, weil man sonst die Kunst »von anderen Kultursachverhalten nicht mehr wirklich unterscheiden« könne. 165 Gegen diese Auffassung, die Philosophie der Kunst falle mit der Ästhetik zusammen, weil die Erfahrung der Schönheit nach wie vor in der Kunst eine zentrale Rolle spiele, sind allerdings zu Recht auch in neuerer Zeit grundlegende Einwände erhoben worden. In diesem Zusammenhang werden Argumente geltend gemacht, die auf Fiedler und die Allgemeine Kunstwissenschaft zurückgehen: so etwa die Zurückweisung eines ›ästhetischen‹ Zugangs zur Kunst sowie die Differenzierung zwischen Kunstphilosophie und Ästhetik. 166 Bisweilen nimmt diese Bezugnahme auf die Thesen der Allgemeinen Kunstwissenschaft auch einen expliziten Charakter an, wie beispielsweise in Reinold Schmückers Kritik an der Gleichsetzung von Ästhetik und Kunstphilosophie, in der dieser auf Utitz’ Argumente Bezug nimmt. 167 Dabei hält Schmücker fest, dass das im Rahmen der Allgemeinen Kunstwissenschaft gegen diese Identifikation vorgebrachte Argument der mangelnden Spezifität selbst dann greift, wenn man den Begriff des Ästhetischen weiter fasst, als die Anhänger der Allgemeinen Kunstwissenschaft es tun, und u. a. auch evaluative Einstellungen einschließt. 168 In der Tat bildet die Abgrenzung von der Ästhetik das entscheidende systematische Instrument, mit dem in der Allgemeinen Kunstwissenschaft die Kunst vor dem Hintergrund ihrer vielfältigen ›Entgrenzungen‹ als autonome Instanz menschlicher Selbstverständigung rekonstruiert werden soll. 169 Dabei geht es zwar auch darum, die Kunst im Sinne einer dezidiert modernen Perspektive, die etwa die verschiedensten ›Randkünste‹, die Erzeugnisse neuer Medien und die Artefakte außereuropäischer Völker mit in den Blick nehmen kann, von ihrer traditionellen Festlegung auf die ›Schönheit‹ freizuhalten. Vor allem geht es aber darum, die Kunst als »überaus kompliziertes Kulturprodukt« 170 zu begreifen. Denn im Unterschied zu Fiedler, der die Unterscheidung der Kunstwissenschaft von der Ästhetik im Sinne des Formalismus mit dem Erkenntnischarakter der Kunst begründet hatte, S. Nachtsheim: Kunstphilosophie und empirische Kunstforschung 1870–1920, S. 45. Unter Bezugnahme auf Fiedler, der mit seiner Differenzierung zwischen Kunstphilosophie und Ästhetik zu einem unmittelbaren Vorläufer der Allgemeinen Kunstwissenschaft geworden ist, schreibt etwa Stefan Majetschak: »Ästhetik fragt nach der Kunst unter der Voraussetzung, daß Schönheit ihr Zweck sei, erörtert die Weisen und Formen, auf die ein Betrachter (oder Hörer, oder Leser) diese in spezifischen Kunstwerken erfährt, Kunstphilosophie dagegen fragt überhaupt erst nach dem Wesen und Ursprung der Kunst, ohne über ihren Zweck oder Begriff schon im Sinne der Ästhetik vorentschieden zu sein. (S. Majetschak: »Einleitung«, S. 9.) 167 Vgl. R. Schmücker: »Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft«, S. 62. 168 Vgl. ebd., S. 60. 169 Vgl. z. B. E. Utitz: »Über Grundbegriffe der Kunstwissenschaft«, S. 7. (In dieser Ausgabe S. 152.) 170 E. Utitz: Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft, Bd. 1, S. 10. (In dieser Ausgabe S. 101.) – S.o. S. XXXIV. 165

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verweisen die Anhänger der Allgemeinen Kunstwissenschaft darüber hinaus auf die Einbindung der Kunst in die Kultur. 171 Gleichzeitig wird in diesem Zusammenhang die ›Autonomie‹ der Kunst propagiert. Mit dieser Rede von der Autonomie der Kunst ist hier aber nicht etwa deren Abstinenz gegenüber allen ihr fremden Zwecken zugunsten einer überwiegenden oder gar exklusiven ästhetischen Valenz gemeint. Mit dieser Rede ist auch nicht allein, wie bei Fiedler, die (bildende) Kunst als Bezugspunkt einer genuinen Leistung, der ›anschauenden Erkenntnis‹, gemeint. Im Gegenteil wird die Kunst als ein »Kulturgebiet« innerhalb des »System[s] der Kultur« verstanden, das neben seiner ästhetischen Funktion vielfältige und jenseits der reinen Erkenntnisfunktion jeweils historisch variierende kulturelle Funktionen übernimmt. An diesem Punkt öffnet sich die Allgemeine Kunstwissenschaft in Richtung der Kulturphilosophie. 172 Die Ausprägungen einer solchen kulturellen bzw. kulturhistorischen Darstellung der Kunst sind im Rahmen der Allgemeinen Kunstwissenschaft in sehr unterschiedlicher Weise ausgeführt worden. Entscheidend ist hier aber die grundsätzliche Leistungsfähigkeit eines solchen Ansatzes, der die ästhetischen und die nichtästhetischen Kunstfunktionen gleichermaßen in den Blick zu nehmen beansprucht. So kann man bereits grundsätzlich bezweifeln, ob es überhaupt Objekte gibt, »die allein ästhetische Wirkungen hervorzurufen vermögen«. 173 Für die Anhänger der Allgemeinen Kunstwissenschaft ist bei deren Abgrenzung von der Ästhetik aber noch wichtiger, dass nur durch den Rekurs auf ihre vielfältigen nichtästhetischen kulturellen Funktionen überhaupt ersichtlich werden kann, »warum Denkmale, patriotische Lyrik, soziale Romane, Architektur usw. zur Kunst gehören«. 174 Der Ansatz der Allgemeinen Kunstwissenschaft trifft sich in dieser Hinsicht nicht allein mit einer Philosophie der Kunst, die die Kunstfunktionen in den Blick nimmt, wie sie nach Mukaˇrovský 175 heute insbesondere Schmücker vorschlägt 176. Er trifft sich ebenso mit einer als Funktionsgeschichte verstandenen Kunstgeschichtsforschung, wie sie der Kunsthistoriker Werner Busch zusammen mit Kolleginnen und Kollegen in den 1980er Jahren begründet hat. 177 Eine neue Allgemeine Kunstwissenschaft könnte das Verhältnis der ästhetischen und der nichtästhetischen Kunstfunktionen aber nur dann wirklich umfassend beschreiben, wenn sie bei dieser Charakteristik auf die Erträge der Kunstgeschichtsforschung zurückzugreifen vermöchte. Genauer: Sie müsste sich als Allgemeine S.o. S. XXX –XXXV. Vgl. etwa E. Utitz: »Über Grundbegriffe der Kunstwissenschaft«, S. 9. (In dieser Ausgabe S. 154.) 173 R. Schmücker: »Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft«, S. 58. 174 E. Utitz: Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft, Bd. 1, S. 65. 175 Vgl. bes. J. Mukaˇ rovský: »Ästhetische Funktion, Norm und ästhetischer Wert als soziale Fakten«. 176 Vgl. bes. R. Schmücker: »Funktionen der Kunst«. 177 Vgl. bes. W. Busch (Hrsg.): Funkkolleg Kunst; ders. / Peter Schmook (Hrsg.): Kunst. S. a. H. Belting: »Das Werk im Kontext«. 171 172

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Kunstwissenschaft auf die funktionsanalytischen Erträge möglichst aller kunstrelevanten Einzelwissenschaften beziehen können, um sie auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin zu prüfen. Die Einzelwissenschaften könnten im Gegenzug aus diesen Charakteristiken in der Tat die konzeptionelle Grundlage für ›subtilere‹ und ›präzisere‹ Bestimmungen der Werke gewinnen, als eine rein ästhetisch-immanente, aber etwa auch eine rein historisch-deskriptive Perspektive es erlaubt. Denn so würde es möglich, die Kulturfunktionen der Kunst möglichst umfassend – synchron im Verhältnis der Werke und Künste zueinander sowie diachron im historischen Verlauf ihrer jeweiligen Akzentuierungen und Interpretationen – zu berücksichtigen und für das Verständnis der einzelnen Werke geltend zu machen.

Kunst als Struktur- und Kommunikationszusammenhang Allerdings ist die »Abgrenzung der Kunst von anderen Kultursachverhalten« 178 mit dem Bezug auf ihre nichtästhetischen Funktionen als solchem natürlich ebenso wenig möglich wie mit dem reinen Bezug auf ihre ästhetischen Funktionen: Weder die einen noch die anderen sind spezifisch für die Kunst. Wenn es darum gehen soll, die Eigentümlichkeit der Kunst zu bestimmen, muss daher präzisiert werden, wie sich der Kultursachverhalt der Kunst von anderen Kultursachverhalten unterscheidet. Gegen die Allgemeine Kunstwissenschaft ist immer wieder eingewandt worden, sie sei systemfeindlich und empirisch auf die einzelnen Kunstwerke und die einzelnen Kunstwissenschaften fixiert. »Prinzipienbegriffe und damit Einsichten in die Grundstruktur der Kunst« seien auf diesem Wege aber nicht zu gewinnen. 179 Auch dies kann man jedoch gerade in wissenschaftspragmatischer Hinsicht bezweifeln. So hat eine deduktiv entwickelte Theorie in den empirischen Kunstwissenschaften selten zu mehr getaugt als einem Steinbruch für Schlagworte – wo sie nicht gleich als irrelevant, da sachfern, abgelehnt wird. Als Weg, den ›entlaufenen Kunstbegriff‹ wieder einzufangen, dürfte sie jedenfalls nicht geeignet sein. 180 Zwar fallen die Antworten auf die Frage, worin das Spezifikum der Kunst bestehen mag, bei den Protagonisten der Allgemeinen Kunstwissenschaft durchaus unterschiedlich aus. Ihre Konzeptionen treffen sich allerdings in dem Anliegen, die Erfahrung des Subjekts und die Eigenschaften des künstlerischen Objekts als komplementären Zusammenhang bzw. als Realisierung einer spezifischen Sinnstruktur zu verstehen. Das heißt, hier wird ein doppelter Gesichtspunkt ins Spiel gebracht, »nämlich das Wechselverhältnis von Produktion und Rezeption als Impuls für das Erfassen und die Beschreibung der künstlerischen Struktur«. 181 Die »differentia spe178 179 180 181

R. Schmücker: »Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft«, S. 62. S. Nachtsheim: Kunstphilosophie und empirische Kunstforschung 1870–1920, S. 45. Vgl. etwa R. Schmücker: »Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft«, S. 62. U. Franke: »Nach Hegel«, S. 87.

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cifica des Kunstwerks« ist demnach im Rahmen der Allgemeinen Kunstwissenschaft »eine Struktur, die als eine absichtsvoll strukturierte erkennbar wird«. 182 Die Ausführungen zu dieser Strukturtheorie finden sich sowohl in Utitz’ Bestimmung des Kunstwerks als ›sinnerfüllte Form‹, die im ›Gefühlserleben‹ erschlossen wird, als auch in Schmarsows Vorstellung des Kunstwerks als Manifestation eines leiblichen ›Rhythmus‹, der in Zeit und Raum als Körperbewegung zu vollziehen ist, sowie in Winds Charakteristik des Kunstwerks als ›Verkörperung‹ von Sinn, der als anschauliche Sprache entziffert werden muss. Hier fungiert die Struktur eher als ontologisches Prinzip. In Dessoirs Ersetzung der Frage nach dem Wesen der Kunst durch die Bestimmung der kulturellen Funktionen der Kunst, die sich in einem über die Gestalt des Werks vermittelten Wechselverhältnis von künstlerischer Produktion und Rezeption realisieren und in Hamanns Darstellung der Bedingungen, die erfüllt werden müssen, damit ein Gegenstand als ›künstlerischer Tatbestand‹ vollzogen werden kann, fungiert die Struktur dagegen eher als methodologisches Konstrukt, das es ermöglichen soll, das Kunstwerk als gesetzmäßigen Zusammenhang zu betrachten. Vor allem Ursula Franke hat die Leistungsfähigkeit und Fruchtbarkeit der in der Allgemeinen Kunstwissenschaft erstmals in größerem Rahmen entworfenen Strukturtheorien der Kunst hervorgehoben: Sie bilden eine Parallele bzw. Schnittstelle mit neueren Debatten, die jenseits der früheren Debatten um Werk-, Produktionsoder Rezeptionsästhetik eine Komplementarität von künstlerischem Gegenstand und Kunsterfahrung annehmen. 183 So ist der Strukturgedanke in der Literaturwissenschaft ebenso wie in der Musikwissenschaft und der Kunstgeschichtsforschung der Nachkriegszeit aufgegriffen worden. 184 Die von den Protagonisten der Allgemeinen Kunstwissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelten methodologischen Positionen bilden die weitestgehend vergessene Vorgeschichte dieser Ansätze. Überhaupt kann man sagen, dass die Vertreter der Allgemeinen Kunstwissenschaft mit ihrer Insistenz auf der Struktur des ›Kunstgebildes‹ die Theorien des Strukturalismus und des Formalismus vorwegnehmen. Dabei wird im Rahmen der Allgemeinen Kunstwissenschaft der Strukturzusammenhang der Kunst – in dem auch vom Tschechischen und Russischen Strukturalismus vertretenen Sinn – jeweils als ein solcher begriffen, der immer schon kulturell und historisch eingeM. Moog-Grünewald: »Ästhetik versus Metaphysik?«, S. 30. U. Franke: »Nach Hegel«, S. 88 f.; s. o. S. XXXVI. – S. a. M. Moog-Grünewald: »Ästhetik versus Metaphysik?«. 184 In der Literaturwissenschaft besonders bei Hugo Friedrich (vgl. H. Friedrich: »Strukturalismus und Struktur in literaturwissenschaftlicher Hinsicht. Eine Skizze«, bes. S. 224), in der Musikwissenschaft besonders bei Werner Ferdinand Korte (vgl. W.F. Korte: »Struktur und Modell als Information in der Musikwissenschaft«), in der Kunstgeschichtsforschung in unterschiedlicher Weise bei Hans Sedlmayr (vgl. W. Sedlmayr: »Kunstgeschichte als Kunstgeschichte. Zu einer strengen Kunstwissenschaft«; zur Deutung vgl. bes. L. Dittmann: Stil, Symbol, Struktur, S. 142–216) und Werner Hofmann (vgl. W. Hofmann: »Fragen der Strukturanalyse«). – Vgl. U. Franke: »Nach Hegel«, S. 87. 182 183

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bunden ist und hier bestimmte Funktionen übernimmt, die seine Gestalt mitprägen und verändern. 185 Zugleich ist aber das Konzept der ›Struktur‹ in der Allgemeinen Kunstwissenschaft, wie Franke zu Recht anmerkt, »vom modernen Strukturbegriff ebenso wie vom Begriff des Strukturalismus zu unterscheiden«, insofern hier nach wie vor ein organischer Kunst- bzw. Werkbegriff den Ausgangspunkt bildet, wie bereits das Vokabular, das dieses Konzept hier kontextualisiert – Gefüge, Ordnung, Einheit, Gestalt – signalisiert. 186 Allerdings ist die Allgemeine Kunstwissenschaft zugleich – zumindest dem immer wieder bekräftigten Anspruch nach – frei von der »metaphysischen Voreingenommenheit wahrheitsästhetischer Kunsttheorien« 187, wie sie etwa die in der Kunstgeschichtsforschung bis heute als Inbegriff einer auf die Struktur des Kunstwerks bezogenen Methode gehandelte ›Strukturanalyse‹ Hans Sedlmayrs kennzeichnet. 188 Im Sinne der gegenwärtigen Herausforderung, die Kunst angesichts ihrer Entgrenzungen als Kunst zu bestimmen, verfügen die im Rahmen der Allgemeinen Kunstwissenschaft entwickelten strukturtheoretischen Konzeptionen mit ihrer programmatischen Unterscheidung von der Ästhetik aber noch über ein weiteres bedeutendes Charakteristikum, das sie gegenüber den meisten der späteren Strukturtheorien auszeichnet: ihren Rekurs auf die kulturelle Kommunikation und die Deutung der Kunst als Form einer solchen Kommunikation in ihrer ganzen funktionellen Breite. Denn ein ästhetisches Verhalten ist – mit Kant gesprochen – interesselos bzw. – mit Utitz gesprochen – »autotelisch« 189, also rein kontemplativ an die Erscheinung hingegeben 190. Daher lässt sich das kommunikative Geschehen, das sich zwischen dem Künstler, dem Kunstwerk, dem Rezipienten und der Kunstwelt ereignet, kaum als ›ästhetisch‹ charakterisieren. Um die Struktur dieser Kommunikation angemessen zu erfassen, müssen vielmehr die ästhetischen und nichtästhetischen Funktionen, auch jenseits der reinen Erkenntnisfunktion der künstlerischen Form, in die Analyse der Struktur des Kunstwerks einbezogen werden, wie eben die Allgemeine Kunstwissenschaft dies intendiert. Die nichtästhetischen Funktionen sind nämlich für die Entstehung und das Verständnis eines Kunstwerks ebenso konstitutiv wie seine ästhetische Funktion, weil sie seine Gestaltung immer schon mitprägen, wie etwa die religiöse Funktion des Andachtsbildes und die Vergegenwärtigungs- bzw. Abbildungsfunktion des Portraits deutlich machen. Sie dürfen daher nicht als bloß sekundär abgetan S.o. S. XXXVII. U. Franke: »Nach Hegel«, S. 87. 187 R. Schmücker: »Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft«, S. 59. 188 Vgl. Anm. 184. 189 E. Utitz: Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft, Bd. 1, S. 92. 190 Vgl. z. B.: »Aber es steht fest, daß das ästhetische Erleben ein reines Sichhingeben an die Erscheinung ist, ein völliges Sichanschmiegen an den Eindruck. Das Verhalten wird hierbei durch keinerlei Motive geleitet, die außerhalb des Gebildes und seiner Wirkung liegen; oder anders ausgedrückt: ich verhalte mich ästhetisch um seiner selbst willen, der ihm eignenden Werte wegen.« (Ebd., S. 91.) 185 186

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werden. So kann ich, wie Utitz erläutert, wenn ich etwa »das Gerhart-HauptmannPorträt von Liebermann ansehe«, durchaus »vollkommen ästhetisch und künstlerisch gefesselt sein, ohne zu wissen, daß hier Gerhart Hauptmann dargestellt ist; und doch erschließt sich erst von hier aus die ›adäquate Anschauung‹, das eigentliche Gestaltungsproblem.« 191 Letztlich können daher auch die ästhetischen Qualitäten eines Kunstwerks allein im Wissen um diese nichtästhetischen Funktionen angemessen vergegenwärtigt werden. So erlaubt nur ein Ansatz, der die ästhetischen und nichtästhetischen Funktionen der Kunst gleichermaßen in den Blick nimmt, an der Kunst ein Strukturmerkmal herauszustellen, das unter rein ästhetischem Aspekt, aber auch unter formalistischem Aspekt im Sinne Fiedlers ausgeblendet bleiben muss bzw. gar nicht erst in den Blick gerät: die Verkörperung von Sinn. Jenseits dieser Dialektik der ästhetischen und nichtästhetischen Qualitäten der Kunst, die den modernen Verlust an künstlerischer »Eigenart und Selbständigkeit« 192 reflektiert, bleiben – logisch gesehen – drei Optionen für die theoretische Verortung des Kunstbegriffs übrig: erstens die Kultivierung eines elitären Kunstbegriffs, der die Kunst in der Sphäre rein kontemplativer Interesselosigkeit verortet, die durch Kunstexperten dogmatisch abgesteckt wird; zweitens, im Gegensatz dazu, eine radikale Entgrenzung des Kunstbegriffs, die alles und jedes dem Bereich der Kunst eingemeindet; und schließlich der Verzicht auf den Kunstbegriff. Allerdings verfehlen alle diese drei Optionen gleichermaßen die differenziertere kulturelle Realität, in der erstes auch Unklassisches und lebensweltlich Interessantes als Kunst angesprochen werden kann, in der zweitens, aller ›Entgrenzung‹ zum Trotz, eben nicht alles Kunst ist und in der drittens der Kunstbegriff nach wie vor geläufig ist – und also offenbar auch nach wie vor einen Inhalt hat, der nicht ohne Verlust preisgegeben werden kann. Für die Verfechter der Allgemeinen Kunstwissenschaft geht es daher einerseits darum, einen undogmatischen, nicht auf die ›hohe‹ Kunst fixierten Kunstbegriff zu vertreten, der die Verflechtungen der Kunst mit außerkünstlerischen Interessen in den Blick nimmt. Zugleich gilt es für sie aber andererseits, ein Kriterium zu entwickeln, das nicht gleich jede Löwenbändigung zu Kunst erklärt 193, insofern auch verschobene oder durchlässige Grenzen nach wie vor Grenzen sind: Ihrer Auffassung nach ist dann und nur dann ein Kunstgeschehen gegeben, wenn ein Gegenstand als ›Gestaltung‹ bzw. ›Darstellung‹, d. h. als Komposition eines Künstlers, wahrgenommen wird und ihm als solcher ein »Sinn« 194 innewohnt, der in der Rezeption als ihr »Richtungsziel« 195 in den Blick genommen werden soll. Dem so charakterisierten Kunstbegriff gelingt es sicher nicht, die Kunst »trennscharf« 196 vom Alltäglichen zu scheiden. Dies erkennt natürlich auch Utitz an 191 192 193 194 195 196

Ebd., S. 269. Ebd., S. 79. Ebd., S. 80. Ebd., S. 64 u.ö. Ebd. R. Schmücker: »Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft«, S. 55.

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und fragt: »Aber sind denn diese Folgerungen wirklich so erschreckend? [. . .] Die Wirklichkeit trennt hier nicht scharf, und so dürfen auch wir nicht ängstlich und pedantisch scheiden, denn sonst verstellen wir uns alle Wege des Verständnisses.« 197 Die Aktualität der Allgemeinen Kunstwissenschaft besteht somit nicht darin, dass hier – entgegen der erklärten Forderung, die Kunst zum Gegenstand einer ›strengen Wissenschaft‹ zu machen – immer wieder ein ›wildes‹, von jedem Methodenzwang befreites Denken zum Ausdruck kommt. 198 Ihre Aktualität liegt vielmehr darin, dass in ihren methodologischen Beiträgen (etwa bei Utitz) ein philosophischer oder (etwa bei Dessoir) zumindest quasi-philosophischer Kunstbegriff angelegt ist, der geeignet ist, die Basis für eine begründete Diskussion über den Kunstcharakter einer Sache und die Verfahren der Kunstwissenschaften zu bilden: Hier werden Argumente für die Etablierung eines Kunstbegriffs angeführt, der einerseits spezifisch genug ist, um die Kunst von nichtkünstlerischen Gegenständen der ästhetischen Wahrnehmung abzugrenzen, der aber andererseits zugleich offen genug ist, um der Weiterentwicklung bekannter, der Entstehung neuer und der Anerkennung bis dahin nicht als Kunst akzeptierter Kunstformen Rechnung tragen zu können. Und auf eben die hier gefundene Balance »zwischen der notwendigen Geschlossenheit eines allgemeinen Kunstbegriffs und dessen wünschenswerter Offenheit« kommt es »nach wie vor bei jeder kunstphilosophischen Theorie an«. 199 Dieser Kunstbegriff zeigt, dass nach der ›Entgrenzung‹ der traditionellen Gegenstandsfelder der einzelnen Kunstwissenschaften zwar beherzte Reformen und interdisziplinäre Kooperationen gefragt sind, dass dabei aber nicht gleich der Kunstbegriff über Bord geworfen werden muss: Die Kunst bleibt eine spezifische Weise, im Zuge der Wahrnehmung unterschiedlichster Kulturfunktionen Sinn im Medium der Sinnlichkeit präsent zu machen. Dies in der Auseinandersetzung mit dem konkreten Objekt zu zeigen, ist aber die bleibende Herausforderung der Kunstwissenschaften. »Eine Erweiterung des Forschungsfeldes um Protagonisten, die sich wie Emil Utitz um eine Neukonsolidierung des Faches bemüht haben«, ist daher überfällig 200: Angesichts der Irritationen durch einen ›entlaufenen Kunstbegriff‹ ist es an der Zeit, die Ideen der Allgemeinen Kunstwissenschaft endlich umfassend historisch zu erforschen, philosophisch zu prüfen und kunstwissenschaftlich fruchtbar zu machen.

E. Utitz: Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft, Bd. 1, S. 79 f. Vgl. bes. J. Früchtl: »Ästhetik und Metaphysik in metaphysikkritischen Zeiten«. 199 R. Schmücker: »Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft«, S. 59. 200 F. Uhlig: »Emil Utitz’ Schriften zur Kunstkritik des Expressionismus«, S. 57 f. (Uhlig bezieht sich hier kritisch auf H. Locher: Kunstgeschichte als historische Theorie der Kunst 1750–1950, S. 464.) 197 198

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Einzeldarstellungen. Zweite, aktualisierte und ergänzte Auflage. Stuttgart 2012 (11998), S. 316–320. Marzynski, Georg: »Die impressionistische Methode«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 14 (1920), S. 90–94. Mayer, Adolf: »Karikatur«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 22 (1928), S. 445 f. Meyer, Richard M.: »H. Konnerth: Die Kunsttheorie Konrad Fiedlers« [Rez.]. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 5 (1910), S. 601 f. Moog-Grünewald, Maria: »Ästhetik versus Metaphysik? Anmerkungen (nicht nur) zur Kunst der Moderne«. In: Josef Früchtl / dies. (Hrsg.): Ästhetik in metaphysikkritischen Zeiten. 100 Jahre »Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft«. Hamburg 2007 (Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Sonderheft 8), S. 17–31. Morgenthaler, Walter: »Der Abbau der Raumdarstellung bei Geisteskranken«. In: Vierter Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Hamburg, 7.–9. Oktober 1930. Bericht. Hrsg. im Auftrage des Ortsausschusses von Hermann Noack. Stuttgart 1931 (Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. Beilageheft zu Bd. 25), S. 86– 95. Moxey, Keith: The Practice of Persuasion. Paradox and Power in Art History. Ithaca / London 2001. Mukaˇrovský, Jan: »Ästhetische Funktion, Norm und ästhetischer Wert als soziale Fakten« (»Estetická funkce, norma e hodnota jako sociální fakty« [1936]). Übers. von Walter Schamschula. In: Ders.: Kapitel aus der Ästhetik. Frankfurt a. M. 1989, S. 7–112. Munro, Thomas: »Aesthetic as Science: Its Development in America«. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism. 9/3 (1951), S. 161–207. Nachtsheim, Stephan: Kunstphilosophie und empirische Kunstforschung 1870–1920. Berlin 1984 (Kunst, Kultur und Politik im Deutschen Kaiserreich. 7). Panofsky, Erwin: »Das Problem des Stils in der bildenden Kunst«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 10 (1915), S. 460–467. – »Der Begriff des Kunstwollens«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 14 (1920), S. 321–339. – »Probleme der Kunstgeschichte«. In: Deutsche Allgemeine Zeitung (17. 7. 1927, Sonntagsbeilage: Welt und Werk), o.P. – »Über das Verhältnis der Kunstgeschichte zur Kunsttheorie. Ein Beitrag zu der Erörterung über die Möglichkeit ›kunstwissenschaftlicher Grundbegriffe‹«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 18 (1925), S. 129–161. Paret, Hans: »Konrad Fiedler«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 16 (1922), S. 320–367. Plotnikov, Nikolaj: »Ein Kapitel aus der Geschichte des Strukturbegriffs. Gustav Špet als Vermittler zwischen Phänomenologie, Hermeneutik und Strukturalismus«. In: Archiv für Begriffsgeschichte. 48 (2006), 191–201. Pudor, Heinrich: »Ingenieurkunst«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 12 (1917), S. 468–474.

Einleitung

LIII

Rebentisch, Juliane: Ästhetik der Installation. Frankfurt a. M. 2003. – »Autonomie? Autonomie! Ästhetische Erfahrung heute« (2006). In: Sonderforschungsbereich 626 (Hrsg.): Ästhetische Erfahrung: Gegenstände, Konzepte, Geschichtlichkeit. Berlin 2006. https://refubium.fu-berlin.de/bitstream/handle/fub188/19483/ rebentisch.pdf?sequence=1&isAllowed=y [letzter Abruf: 13. 1. 2021]. – »Das ist Ästhetik!«. In: Dies. (Hrsg.): Das ist Ästhetik! [X. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik. 14. bis 17. 2. 2018. Hochschule für Gestaltung, Offenbach am Main.] (Kongress-Akten. 4). http://www.dgae.de/wp-content/uploads/2017/ 06/DGAeX_2018_Katalog_Abstracts.pdf [letzter Abruf 13. 1. 2021], S. 8 f. Ritoók, Emma von: »Das Häßliche in der Kunst«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 11 (1916), S. 4–24. Rumohr, Carl Friedrich von: Italienische Forschungen. 3 Bde. Berlin / Stettin 1827–1831. Sauerländer, Willibald: »Der Kunsthistoriker angesichts des entlaufenen Kunstbegriffs. Zerfällt das Paradigma einer Disziplin?« (1985). In: Ders.: Geschichte der Kunst – Gegenwart der Kritik. Hrsg. von Werner Busch / Wolfgang Kemp / Monika Steinhauser / Martin Warnke. Köln 1999, S. 293–323. Scheer, Brigitte: »Conrad Fiedlers Kunsttheorie«. In: Ekkehard Mai / Stephan Waetzoldt / Gerd Wolandt (Hrsg.): Ideengeschichte und Kunstwissenschaft. Philosophie und bildende Kunst im Kaiserreich. Berlin 1983 (Kunst, Kultur und Politik im Deutschen Kaiserreich. 3), S. 133–144. Schmarsow, August: »Anfangsgründe jeder Ornamentik. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 5 (1910), S. 191–215 und S. 321–355. – / Ehlotzky, Fritz: »Die reine Form in der Ornamentik aller Künste«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 16 (1922), S. 491–500 und 17 (1924), S. 1– 17. Schmarsow, August: »Die reine Form in der Ornamentik aller Künste« In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 17 (1924), S. 129–145, S. 305–320 und 18 (1925), S. 83–107. – Unser Verhältnis zu den bildenden Künsten. Sechs Vorträge über Kunst und Erziehung. Leipzig 1903. – »Zur Lehre vom Ornament«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 16 (1922), S. 511–526. Schmücker, Reinold: »Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. Zur Aktualität eines historischen Projekts«. In: Alice Bolterauer / Elfriede Wiltschnigg (Hrsg.): Kunstgrenzen. Funktionsräume der Ästhetik in Moderne und Postmoderne. Wien 2001, S. 53– 67. – »Funktionen der Kunst«. In: Bernd Kleimann / R. Schmücker (Hrsg.): Wozu Kunst? Die Frage nach ihrer Funktion. Darmstadt 2001, S. 13–33. Scholtz, Gunter: Art. »Kunstphilosophie, Kunstgeschichte, Kunstwissenschaft«. In: Joachim Ritter / Karlfried Gründer / Gottfried Gabriel (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. 13 Bde. Basel 1971–2007, Bd. 4, S. 1449–1458.

LIV

Bernadette Collenberg-Plotnikov

Sedlmayr, Hans: »Kunstgeschichte als Kunstgeschichte. Zu einer strengen Kunstwissenschaft« (1931). In: Ders.: Kunst und Wahrheit. Zur Theorie und Methode der Kunstgeschichte. Vermehrte Neuausgabe Mittenwald 1978, S. 49–80. Semper, Gottfried: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten, oder Praktische Aesthetik. 2 Bde. Bd. 1: Frankfurt a. M. 1860, Bd. 2: München 1863. Spitzer, Hugo: Hermann Hettners kunstphilosophische Anfänge und Literarästhetik. Untersuchungen zur Theorie und Geschichte der Ästhetik. Bd. 1. Graz 1903. – »Psychologie, Ästhetik und Kunstwissenschaft«. In: Deutsche Literaturzeitung. 29/25 (1908), Sp. 1541–1551, Sp. 1605–1615 und Sp. 1669–1680. – Untersuchungen zur Theorie und Geschichte der Ästhetik. Hermann Hettners kunstphilosophische Anfänge und Literarästhetik. Bd. 1. Graz 1913. Strauß, Ernst: »Über einige Grundfragen der Ornamentbetrachtung«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 27 (1933), S. 33–48. Treu, Georg: »Durchschnittsphotographie und Schönheit«. In: Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Berlin, 7.–9. Oktober 1913. Bericht. Hrsg. vom Ortsausschuss. Stuttgart 1914, S. 186–190. Uhlig, Franziska: »Emil Utitz’ Schriften zur Kunstkritik des Expressionismus«. In: Ruth Heftrig / Olaf Peters / Ulrich Rehm (Hrsg.): Alois J. Schardt: Ein Kunsthistoriker zwischen Weimarer Republik, »Drittem Reich« und Exil in Amerika. Kurze Übersicht über die künstlerische Lage und Entwicklung zwischen 1900 und 1940. Berlin 2013 (Schriften zur modernen Kunsthistoriographie. 4), S. 45–58. Utitz, Emil: »Allgemeine Kunstwissenschaft«. In: Kunst und Künstler. Illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe. 18 (1920), S. 435–445. (In dieser Ausgabe S. 126 –134.) – »Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft«. In: Jahrbücher der Philosophie. Eine kritische Übersicht über die Philosophie der Gegenwart. 1 (1913), S. 322–364. – »Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft«. In: Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Berlin, 7.–9. Oktober 1913. Bericht. Hrsg. vom Ortsausschuss. Stuttgart 1914, S. 102–106. (In dieser Ausgabe S. 121 –125.) – »Ästhetik und Philosophie der Kunst«. In: Jahrbücher der Philosophie. Eine kritische Übersicht über die Philosophie der Gegenwart. 3 (1927), S. 306–332. – »Außerästhetische Faktoren im Kunstgenuß«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 7 (1912), S. 619–651. – »Das Problem einer allgemeinen Kunstwissenschaft«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 16 (1922), S. 433–451. (In dieser Ausgabe S. 135 –150.) – »Das Schöne und die Kunst«. In: Deuxième Congrès International d’Esthétique et de Science de l’Art. Paris 1937. 2 Bde. Paris 1937, Bd. 2, S. 111–115. – »Der neue Realismus«. In: Dritter Kongress für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft Halle, 7.–9. Juni 1927. Bericht. Im Auftrage des Ortsausschusses hrsg. von Wolfgang Liepe. Stuttgart 1927 (Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 21, S. 97– 395), S. 170–183. – Die Funktionsfreuden im ästhetischen Verhalten. Halle 1911.

Einleitung

LV

– Die Gegenständlichkeit des Kunstwerks. Berlin 1917. (Auszugsweise in dieser Ausgabe S. 165 –186.) – »Funktionsfreuden im ästhetischen Verhalten«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 5 (1910), S. 481–511. – »Georg Simmel und die Philosophie der Kunst«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 14 (1920), S. 1–41. – Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft. 2 Bde. in 1 Bd. Mit einem Vorwort, den Lebensdaten und einem Schriftenverz. des Verfassers hrsg. von Wolfhart Henckmann. Nachdruck der Ausgabe Stuttgart 1914/1920. München 1972. (Auszugsweise in dieser Ausgabe S. 95 –120.) – »Hans von Marées: Briefe« [Rez.]. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 16 (1922), S. 258 f. – »Johannes Volkelt: Das ästhetische Bewußtsein. Prinzipienfragen der Ästhetik« [Rez.]. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 15 (1921), S. 475 f. – »Konrad Fiedler: Schriften über Kunst« [Rez.]. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 8 (1913), S. 501–505. – »Über Grundbegriffe der Kunstwissenschaft«. In: Kant-Studien. 34 (1929), S. 6–69. (Auszugsweise in dieser Ausgabe S. 151 –164.) – »Vom Schaffen des Künstlers«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 10 (1915), S. 369–434. »Verzeichnis der Teilnehmer« [des ersten Kongresses für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft]. In: Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Berlin, 7.–9. Oktober 1913. Bericht. Hrsg. vom Ortsausschuss. Stuttgart 1914, S. 8–20. Volkelt, Johannes: »Objektive Ästhetik«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 12 (1917), S. 385–424. Waetzoldt, Wilhelm: »Aus der Werkstatt eines Künstlers. Erinnerungen an den Maler Hans v. Marees aus den Jahren 1880/81 und 1884/85. 1890 als Manuskript gedruckt« [Rez.]. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 4 (1909), S. 298–307. Westheim, Paul: »Künstlerische Schriftformen«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 3 (1908), S. 562–591. – »Plakatkunst«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 3 (1908), S. 119–132. Wiesing, Lambert: Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik. Reinbek bei Hamburg 1997. – »Konrad Fiedler (1841–1895)«. In: Stefan Majetschak (Hrsg.): Klassiker der Kunstphilosophie. Von Platon bis Lyotard. München 2005, S. 179–198. Worringer, Wilhelm: Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie. München 1908. – »Entstehung und Gestaltungsprinzipien in der Ornamentik«. In: Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Berlin, 7.–9. Oktober 1913. Bericht. Hrsg. vom Ortsausschuss. Stuttgart 1914, S. 222–231. Wulff, Oskar: »Die psychophysischen Grundlagen der plastischen und malerischen Gestaltung«. In: Zweiter Kongress für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. Berlin, 16.–

LVI

Bernadette Collenberg-Plotnikov

18. Oktober 1924. Bericht. Hrsg. vom Arbeitsausschuss. Stuttgart 1925 (Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 19), S. 120–128. – »Grundsätzliches über Ästhetik, allgemeine und systematische Kunstwissenschaft«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 9 (1914), S. 556–562. – »Kernfragen der Kinderkunst und des allgemeinen Kunstunterrichts der Schule«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 26 (1932), S. 46–85. – »Kritische Erörterungen zur Prinzipienlehre der Kunstwissenschaft«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 12 (1917), S. 1–34, S. 179–224 und S. 273– 315. (In leicht abweichender Form ebenfalls erschienen u.d.T.: Grundlinien und kritische Erörterungen zur Prinzipienlehre der Bildenden Kunst. Stuttgart 1917.)

Z  E

Diese Edition gibt die Texte nach ihren jeweiligen Erstdrucken wieder. Eigenheiten der Schreibweise wurden belassen. Anmerkungen innerhalb der Texte werden einheitlich als Fußnoten – arabisch und durchgehend nummeriert – wiedergegeben. Ergänzungen der Herausgeberin innerhalb der Texte und deren Anmerkungen sind in eckige Klammern gesetzt. Sonstige Korrekturen und Kommentare der Herausgeberin werden ebenfalls als Fußnoten – mit lateinischen Großbuchstaben in alphabetischer Reihenfolge als Fußnotenzeichen – nachgewiesen; die Korrekturen sind dabei jeweils durch »]« von den Korrigenda abgetrennt. Fehlerhafte bzw. ungenaue Zitate in den Quellentexten werden nicht korrigiert. Die Seitenumbrüche in den Originaltexten werden mit »|« angezeigt; die Originalpaginierung wird jeweils am Seitenrand angeführt. Anführungszeichen innerhalb der Originaltexte sind einheitlich als umgekehrte französische Zeichen, Auslassungszeichen innerhalb der Originaltexte sind einheitlich als ». . .« wiedergegeben. Auch die Gestaltung von Zwischenüberschriften innerhalb der Beiträge wurde vereinheitlicht. Ebenso sind geläufige Abkürzungen moderat vereinheitlicht.

N  E Max Dessoir »Vorwort«. In: Ders.: Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. Stuttgart: Verlag Ferdinand Enke 1906, S. VII–IX. »Einleitung«. In: Ebd., S. 3–8 und S. 58 f. »Die Funktion der Kunst«. In: Ebd., S. 423–465. [Begrüßungsansprache zum ersten Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft]. In: Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Berlin, 7.–9. Oktober 1913. Bericht. Hrsg. vom Ortsausschuss. Stuttgart: Verlag Ferdinand Enke 1914, S. 21 f. »Eröffnungsrede« [zum ersten Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft]. In: Ebd., S. 42–54. (Ebenfalls erschienen u.d.T.: »Systematik und Geschichte der Künste«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 9 (1914). Stuttgart: Verlag Ferdinand Enke, S. 1–15.) [Begrüßungsansprache zum zweiten Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft]. In: Zweiter Kongress für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. Berlin, 16.– 18. Oktober 1924. Bericht. Hrsg. vom Arbeitsausschuss. Stuttgart: Verlag Ferdinand Enke 1925 (Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 19), S. 5–11. »Kunstgeschichte und Kunstsystematik« [= Begrüßungsansprache zum dritten Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft]. In: Dritter Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Halle 7.–9. Juni 1927. Bericht. Im Auftrage des Ortsausschusses hrsg. von Wolfgang Liepe. Stuttgart: Verlag Ferdinand Enke 1927 (Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 21, S. 97–395), S. 131–142. (Ebenfalls erschienen in: Dritter Kongress für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft Halle, 7.–9. Juni 1927. Bericht im Auftrage des Ortsausschusses hrsg. von Wolfgang Liepe. Stuttgart: Verlag Ferdinand Enke 1927, S. 27–38.) »Sinn und Aufgabe der allgemeinen Kunstwissenschaft«. In: Philosophische Monatshefte der Kant-Studien. Im Auftrage der Kant-Gesellschaft unter Mitwirkung von Paul Menzer und Arthur Liebert hrsg. von Viktor Englein und Johannes Lochner. 1/4 (1925). Berlin: Pan-Verlag Rolf Heise, S. 149–152. »Skeptizismus in der Ästhetik«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 2 (1907). Stuttgart: Verlag Ferdinand Enke, S. 449–468. »Objektivismus in der Ästhetik«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 5 (1910). Stuttgart: Verlag Ferdinand Enke, S. 1–15. »Zum Abschied«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 31 (1937). Stuttgart: Verlag Ferdinand Enke, S. 415 f.

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Nachweis der Erstveröffentlichungen

Emil Utitz »Das Problem und die Aufgabe der allgemeinen Kunstwissenschaft«. In: Ders.: Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft. Bd. 1. Stuttgart: Verlag Ferdinand Enke 1914, S. 1–43. »Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft«. In: Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Berlin, 7.–9. Oktober 1913. Bericht. Hrsg. vom Ortsausschuss. Stuttgart: Verlag Ferdinand Enke 1914, S. 102–106. »Allgemeine Kunstwissenschaft«. In: Kunst und Künstler. Illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe. 18 (1920). Berlin: Verlag Bruno Cassirer, S. 435–445. »Das Problem einer allgemeinen Kunstwissenschaft«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 16 (1922). Stuttgart: Verlag Ferdinand Enke, S. 433–451. »Über Grundbegriffe der Kunstwissenschaft«. In: Kant-Studien. 34 (1929). Berlin: PanVerlag Kurt Metzner, S. 6–69, hier S. 6–20. Die Gegenständlichkeit des Kunstwerks. Berlin: Verlag Reuther & Reichard 1917 (Philosophische Vorträge veröffentlicht von der Kantgesellschaft. Unter Mitwirkung von Hans Vaihinger und Max Frischeisen-Köhler hrsg. von Arthur Liebert. 17), S. 15–50.

August Schmarsow »Kunstwissenschaft und Kulturphilosophie in gemeinsamen Grundbegriffen«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 13 (1919). Verlag Ferdinand Enke, S. 165–190 und S. 225–258. »Raumgestaltung als Wesen der architektonischen Schöpfung«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 9 (1914). Verlag Ferdinand Enke, S. 66–95.

Richard Hamann Ästhetik. Leipzig: Verlag B[enedictus] G[otthelf] Teubner 1911, S. III–VI, S. 1–14 und S. 44–62. Erich Everth: »Richard Hamann: Ästhetik« [Rez.]. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 8 (1913). Verlag Ferdinand Enke, S. 100–117. »Allgemeine Kunstwissenschaft und Ästhetik«. In: Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Berlin, 7.–9. Oktober 1913. Bericht. Hrsg. vom Ortsausschuss. Stuttgart: Verlag Ferdinand Enke 1914, S. 107–113. »Zum Kongreß für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft«. In: Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik. 8/6 (1914). Berlin: Verlag August Scherl, Sp. 715–732. »Die Methode der Kunstgeschichte und die allgemeine Kunstwissenschaft«. In: Monatshefte für Kunstwissenschaft. 9 (1916). Leipzig: Verlag Klinkhardt & Biermann, S. 64–78, S. 103–114 und S. 141–154, hier S. 64–70 und S. 150–154.

Nachweis der Erstveröffentlichungen

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Edgar Wind »Theory of Art versus Aesthetics«. In: The Philosophical Review. 34 (1925). Durham, North Carolina (USA): Duke University Press, S. 350–359. »Zur Systematik der künstlerischen Probleme«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 18 (1925). Stuttgart: Verlag Ferdinand Enke, S. 438–486.

Z  A Max Dessoir Max Dessoir (1867–1947) 1 war 1889 von Wilhelm Dilthey mit einem ästhetischen Thema im Fach Philosophie promoviert worden 2, 1890 folgte in Würzburg eine Promotion im Fach Medizin 3; 1892 habilitierte er sich, wiederum an der Universität Berlin, im Fach Philosophie, wo er ab 1897 eine außerordentliche und von 1920 bis zu seiner Emeritierung 1934 eine ordentliche Professur für Philosophie innehatte. Dessoirs Beschäftigung mit Fragen von Ästhetik und Allgemeiner Kunstwissenschaft erstreckt sich über mehr als vierzig Jahre: Sie beginnt bereits vor der Publikation seiner Monographie 4 und der Gründung der Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft im Jahr 1906 5, und sie endet nicht mit der von den Nationalsozialisten erzwungenen Niederlegung seiner Redaktion der Zeitschrift im Jahr 1937 6. Als wichtiges Motiv für diese Initiative verweist Dessoir selbst maßgeblich auf seine persönliche Verbindung zu Künstlerkreisen: Er stammt aus einer Schauspielerfamilie und ist mit einer Sängerin verheiratet. Nicht nur als langjähriger Redakteur der Zeitschrift, sondern vor allem als geschickter Organisator und brillianter Redner bildet er den Mittelpunkt der Aktivitäten der Allgemeinen Kunstwissenschaft, insbesondere der in Deutschland zwischen 1913 und 1930 abgehaltenen Kongresse: Es ist maßgeblich sein Name, mit dem diese Initiative im Bewusstsein der Zeitgenossen, auch international, verknüpft ist. Zur Biographie Dessoirs vgl. bes. Christian Herrmann: Max Dessoir. Mensch und Werk. Stuttgart 1929; Max Dessoir: Buch der Erinnerung. Stuttgart 1947; Kaarle Sanfrid Laurila: »In Memory of Max Dessoir«. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism. 6/2 (1947), S. 105–107; Gertrud Jung: Art. »Dessoir«. In: Otto zu Stolberg-Wernigerode (Hrsg.): Neue deutsche Bibliographie. Bd. 3. Berlin 1957, S. 617 f.; Andreas Haus: »Max Dessoir«. In: Walter Killy (Hrsg.): Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. 15 Bde. Gütersloh / München 1988–1993, Bd. 3, S. 31–33; Barbara Zwikirsch: »Der Nachlaß ›Max Dessoir‹ im Preußischen Geheimen Staatsarchiv in BerlinDahlem. Ein Beitrag zur Geschichte der Psychologie in Berlin«. In: Psychologie und Geschichte. 6/4 (1994), S. 293–309. 2 Vgl. M. Dessoir: Karl Philipp Moritz als Aesthetiker. Naumburg 1889. 3 Vgl. ders.: Ueber den Hautsinn. O.O. 1892. 4 Vgl. ders.: Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. Stuttgart 1906 (auszugsweise in dieser Ausgabe S. 3 –25); zweite, stark veränderte Auflage Stuttgart 1923. 5 Vgl. bes. ders.: »The fundamental questions of contemporary aesthetics«. Übers. von Ethel D. Puffer. In: Howard J. Rogers (Hrsg.): Congress of Arts and Science. Universal Exposition, St. Louis 1904. 8 Bde. Boston / New York 1905–1907, Bd. 1 (1905), S. 434–446.; s. a. ders.: »Vom Gegensatz zwischen Wissenschaft und Kunst«. In: Archiv für systematische Philosophie. 5/1 (1898), S. 78–96; ders.: »Anschauung und Beschreibung«. In: Archiv für systematische Philosophie. Neue Folge der Philosophischen Monatshefte. 10 (1904), S. 20–65. 6 Vgl. bes. ders.: »Über das Betrachten von Bildwerken«. In: Berliner Hefte für geistiges Leben. 2/4 (1947), S. 255–267. 1

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Zu den Autoren

Dessoirs wissenschaftliche Anfänge liegen aber auf dem – zu dieser Zeit organisatorisch noch nicht klar von der Philosophie abgegrenzten – Gebiet der Psychologie, zu dem er bis in die 1920er Jahre hinein größere Arbeiten vorgelegt hat: Nach Studien zur experimentellen Psychologie, der Geschichte der Psychologie und zum Hypnotismus wendet er sich dabei insbesondere der kritischen Erforschung okkulter Phänomene zu, für die er den Begriff ›Parapsychologie‹ einführt. 7 Seine Autobiographie zeigt zudem, dass Dessoir seine Forschungen auf den Feldern der Ästhetik und der Kunstwissenschaft keineswegs als besondere Leistungen betrachtet und beschrieben hat. Viel wichtiger waren ihm demnach, neben seiner Herkunft aus Künstlerkreisen, seine medizinisch-psychologische bzw. parapsychologische Kompetenz, sein Einfluss als akademischer Lehrer, seine Pflege von internationalen wissenschaftlichen Beziehungen als Vortragsreisender 8, sein enormes öffentliches Engagement in Kultur- und Bildungsangelegenheiten, und schließlich die Betonung der Unrechtmäßigkeit, mit der die Nationalsozialisten ihn zuletzt aus allen öffentlichen Aktivitäten in das Privatleben verdrängt hatten 9.

Emil Utitz Emil Utitz (1883–1956) 10, wie Dessoir Philosoph und Psychologe gleichermaßen, entstammt dem Prager deutsch-jüdischen Milieu, wo er u. a. mit Literaten wie Franz Kafka, seinem Klassenkameraden, Egon Erwin Kisch, Franz Werfel und Max Brod sowie dem Philosophen Hugo Bergmann verkehrt. Ein Studium der Rechte bricht Utitz schnell ab und studiert stattdessen Archäologie, Kunstgeschichte, Philosophie und Psychologie in Prag, München und Leipzig. Vgl. bes. ders.: Vom Jenseits der Seele. Die Geheimwissenschaften in kritischer Betrachtung. Stuttgart 1917 (sechste, neu bearbeitete Auflage 1931). 8 Vgl. ders.: Buch der Erinnerung (Anm. 1), bes. S. 40 f. und S. 61–63. 9 Vgl. Christian Tilitzki: Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. 2 Teile in 2 Bdn. Berlin 2002, Bd. 1, S. 610 f. 10 Zur Biographie Utitz’ vgl. bes. Wolfhart Henckmann: »Lebensdaten« [von E. Utitz] sowie ders.: »Schriftenverzeichnis« [von E. Utitz]. In: Emil Utitz: Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft. 2 Bde. in 1 Bd. Mit einem Vorwort, den Lebensdaten und einem Schriftenverzeichnis des Verfassers hrsg. von W. Henckmann. Nachdruck der Ausgabe Stuttgart 1914/20. München 1972, S. XXXVI–XXXVIII bzw. S. XXXIX–XLVII; Liane Burkhardt: »Emil Utitz (1883–1956) – Von Wert für die Wissenschaftsgeschichte? Planung einer Studie«. In: brücken. Germanistisches Jahrbuch Tschechien – Slowakei. N.F. 5 (1997), S. 139–148; dies.: »Versuch gegen das Vergessen. – Erste Schritte. Zu einigen Positionen des Geisteswissenschaftlers Emil Utitz (1883–1956)«. In: brücken. Germanistisches Jahrbuch Tschechien – Slowakei. N.F. 6 (1998), S. 33–60; dies.: »Emil Utitz (1883–1956) als ›auslandsdeutscher‹ Hochschullehrer an den ›reichsdeutschen‹ Universitäten in Rostock und Halle«. In: brücken. Germanistisches Jahrbuch Tschechien – Slowakei. N.F. 7 (1999), S. 187–212; Josef Zumr: »Emil Utitz (1883–1956) Ästhetiker. Für den humanistischen Sinn der Kultur«. In: Monika Glettler / Alena Míšková (Hrsg.): Prager Professoren 1938–1948. Zwischen Wissenschaft und Politik. Essen 2001, S. 237–248; Günter Schenk / Regina Meyer (Hrsg.): Ästhetische und kulturphilosophische Denkweisen. Paul Frankl, Emil Utitz, Gustav Johann von Allesch und 7

Zu den Autoren

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Beeinflusst wird er in dieser Zeit vor allem durch den Sprachphilosophen Anton Martý, einen Schüler Franz Brentanos, der Prag zu einem Zentrum des Brentanismus macht. Utitz schließt sich hier dem sogenannten Louvrezirkel, dem Brentantokreis um Martý, an. Letzterer vermittelt Utitz auch die erste persönliche Begegnung mit Brentano. Dessen philosophische Hinwendung zu den ›Sachen selbst‹, die ihn gleichzeitig zu einem Wegbereiter der Phänomenologie macht, wird für Utitz prägend. 1906 wird er von dem Gestalttheoretiker Christian von Ehrenfels, ebenfalls einem Schüler Brentanos, in Prag promoviert, und er habilitiert sich 1910 in Rostock – in beiden Fällen auf der Basis ästhetischer Studien. 11 Nach einer Privatdozentur mit anschließender Titularprofessur erhält Utitz 1921 zunächst eine außerordentliche Professur für Philosophie an der Universität Rostock, 1925 dann eine ordentliche Professur an der Universität Halle. Während dieser Zeit beschäftigt er sich neben kulturphilosophischen, psychologischen, charakterologischen und ästhetischen Themen insbesondere mit Fragen der Allgemeinen Kunstwissenschaft. Neben Dessoir profiliert er sich als engagiertester Vertreter dieses Ansatzes, zu dem er zahlreiche Publikationen vorlegt. Das Hauptwerk bildet hier Utitz’ 1914 und 1920 in zwei Bänden erschienene Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft. Seine frühe intensive kunstphilosophisch ausgerichtete Tätigkeit kommt schließlich – alles in allem – 1933 an ihr Ende, wo Utitz als Jude von den Nationalsozialisten aus seinem Lehramt in Halle verdrängt und verfolgt wird: Utitz kann zunächst, zwischen 1934 und 1939, noch eine Professur an der Deutschen Universität in Prag wahrnehmen. 1934 gründet er hier zusammen mit anderen Wissenschaftlern wie Jan Blahoslav Kozák, Oskar Kraus, Ludwig Landgrebe, Jan Mukaˇrovský und Jan Patoˇcka nach dem Vorbild des bereits seit 1926 bestehenden Cercle linguistique de Prague um Roman Jakobson den Cercle philosophique de Prague pour les recherches sur l’entendement humain. Auf Einladung des Cercle, der maßgeblich auf die Bekanntmachung des Lebenswerks von Edmund Husserl ausgerichtet ist, hält dieser im November 1935 in Prag seine späten Vorträge über Die Psychologie in der Krise der europäischen Wissenschaft. 1942 wird Utitz zusammen mit seiner Frau in das Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt, wo er – u. a. als Leiter der dortigen Bibliothek, Organisator von

Wilhelm Worringer (= dies. [Hrsg.]: Philosophisches Denken in Halle. Personen und Texte. Abt. 3: Philosophen des 20. Jahrhunderts. Bd. 4.2). Halle 2004. S. 53–69; Mathias Iven (Hrsg.): Emil Utitz. Materialien zur Biographie inkl. einer Übersicht zu den Rostocker Lehrveranstaltungen (1911– 1925) und einer Bibliographie (2008). http://cpr.uni-rostock.de/file/cpr_derivate_00003747/ utitz_emil_materialien.pdf [letzter Abruf: 13. 1. 2021]; Reinhard Mehring: »Das Konzentrationslager als ethische Erfahrung. Zur Charakterologie von Emil Utitz«. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. 51 (2003), S. 761–775; ders. (Hrsg.): Ethik nach Theresienstadt: Späte Texte des Prager Philosophen Emil Utitz (1883–1956). Wiederveröffentlichung einer Broschüre von 1948 mit ergänzenden Texten. Würzburg 2015, S. 9–22. 11 Vgl. E. Utitz: J.J. Wilhelm Heinse und die Ästhetik zur Zeit der deutschen Aufklärung. Eine problemgeschichtliche Studie. Halle 1906; ders.: Die Funktionsfreuden im ästhetischen Verhalten. Halle 1911.

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Vorträgen und »›unermüdlicher‹ Vortragsredner« 12 im Rahmen der sogenannten ›Freizeitgestaltung‹ – drei Jahre verbringt. Nach 1945 ist er erneut als Professor in Prag tätig; sein Arbeitsschwerpunkt liegt nun aber auf der philosophischen und psychologischen Reflexion des Lebens in Grenzsituationen, der Schuld und Perspektive Deutschlands nach dem Holocaust und den Idealen des Kommunismus.

August Schmarsow In der von Dessoir 1906 angestoßenen Initiative ›Allgemeine Kunstwissenschaft‹ kann Schmarsow (1853–1936) 13, der vierzehn Jahre älter als Dessoir und dreißig Jahre älter als Utitz ist, einen Diskussionszusammenhang erkennen, der seinen eigenen, bis in die 1880er Jahre zurückreichenden kunstwissenschaftlichen Bestrebungen entgegenkommt: Seine Kunstforschungen sind zum einen konsequent auf eine wechselseitige Befruchtung von Empirie und philosophischer Theorie angelegt, zum anderen sieht er sein eigenes Arbeitsfeld als Kunsthistoriker, die bildende Kunst, stets als Teilbereich eines größeren Arbeitsfeldes: der Kunst und aller Künste. So ist Schmarsow – neben Dessoir und Utitz – auch einer der aktivsten Autoren in der Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft: Zwischen 1907 und 1935 hat er hier siebzehn, darunter fünf mehrteilige, Beiträge publiziert, die alle methodologisch engagiert sind. Schmarsow hatte zwischen 1873 und 1877 Kunstgeschichte, Archäologie, Germanistik und Philosophie in Zürich, Straßburg und Bonn studiert und war 1877 zu einem literaturgeschichtlichen Thema in Straßburg promoviert worden. Seine berufliche Karriere als Kunsthistoriker beginnt im selben Jahr mit einer Anstellung am Berliner Kupferstichkabinett, wo er am Aufbau einer Sammlung von Kunstphotographien mitwirkt und erste grundlegende Einblicke in die Museumsarbeit erhält. 1881 habilitiert Schmarsow sich in Göttingen mit einer Arbeit über Raffael und Pinturicchio und gehört damit zu den ersten Wissenschaftlern, die sich im Fach Kunstgeschichte habilitieren können. Hier lehrt er italienische und deutsche Kunstgeschichte, zunehmend aber auch Architekturtheorie und – wie er selbst erklärt: auf Anregung Hermann Lotzes – Ästhetik, die er von Anfang an als Einheit aus philosophischen und psychologischen Gesichtspunkten begreift. Dabei ist es ein R. Mehring in ders. (Hrsg.): Ethik nach Theresienstadt (Anm. 10), S. 27. – Als Vortragsredner in Theresienstadt ist Utitz auch kurz in dem 1944 gedrehten NS-Propagandafilm Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet zu sehen. (Die Personalakte zu Utitz aus Theresienstadt ist elektronisch einzusehen über http://www.ghetto-theresienstadt.de/pages/u/ utitze.htm [letzter Abruf: 13. 1. 2021].) 13 Zur Biographie Schmarsows vgl. bes. August Schmarsow: »August Schmarsow«. In: Johannes Jahn (Hrsg.): Die Kunstwissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen: Cornelius Gurlitt, Carl Neumann, A. Kingsley Porter, Julius von Schlosser, August Schmarsow, Josef Strzygowski, Hans Tietze, Karl Woermann. Leipzig 1924, S. 135–156; Christiane Fork: Art. »Schmarsow, August«. In: Peter Betthausen / Peter H. Feist / C. Fork: Metzler Kunsthistoriker Lexikon. Zweihundert Porträts deutschsprachiger Autoren aus vier Jahrhunderten. Stuttgart / Weimar 1999, S. 355–358. 12

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Charakteristikum seines Verständnisses der Psychologie, dass er diese konsequent an die physische Anlage des Menschen zurückbindet. 1885 wird Schmarsow dann als Nachfolger Robert Vischers nach Breslau berufen, legt die Professur aber bereits 1888 nieder und geht mit einigen seiner Studenten, darunter Max Friedländer und Aby Warburg, nach Florenz, um hier »Vorlesungen und Uebungen im unmittelbaren Verkehr mit den Denkmälern« abzuhalten. 14 In Florenz regt er auch die Gründung des deutschen Kunsthistorischen Instituts an. Die Grundzüge seiner Architekturtheorie präsentiert Schmarsow 1893 in seiner Leipziger Antrittsvorlesung über Das Wesen der architektonischen Schöpfung. 15 Seiner kunsttheoretischen und -methodologischen Konzeption verleiht er 1905 in seiner Schrift über die Grundbegriffe der Kunstwissenschaft 16 den umfassendsten Ausdruck.

Richard Hamann Die professionelle Lebensleistung von Richard Hamann (1879–1961) 17 greift ungewöhnlich weit aus: In Berlin studiert er vor allem Philosophie und Literaturgeschichte, aber auch Kunstgeschichte, und wird dort 1902 von Wilhelm Dilthey mit einer phänomenologischen Studie über Das Symbol promoviert. 18 Anschließend publiziert Hamann in kurzem Abstand Studien zu Themenkreisen, auf die er auch später immer wieder zurückkommt – von der mittelalterlichen Architektur, der Kunst der Frührenaissance und Rembrandt bis hin zur Kunst des 19. Jahrhunderts und der frühen Moderne. 1911 wird er, ebenfalls in Berlin, von dem »bereits zum Starkunsthistoriker aufgestiegenen« 19 Wölfflin im Fach Kunstgeschichte habilitiert, nachdem, wie der »protestantische Gesinnungssozialist« 20 Hamann 1946 in einem Lebenslauf schreibt, »eine Habilitation für Philosophie von dem entscheidenden Professor ([Carl] Stumpf) wegen meiner oppositionellen Haltung abgelehnt war« 21. In diese Zeit fallen auch seine Beiträge zur Theorie der Allgemeinen KunstwisA. Schmarsow: »August Schmarsow« (Anm. 13), S. 144. Vgl. ders.: Das Wesen der architektonischen Schöpfung. Leipzig 1894. 16 Vgl. ders.: Grundbegriffe der Kunstwissenschaft. Am Übergang vom Altertum zum Mittelalter. Mit einem Nachwort zur Neuausgabe von Eleftherios Ikonomoú. Berlin 1998 (1Leipzig / Berlin 1905). 17 Zur Biographie Hamanns vgl. bes. Martin Warnke: »Richard Hamann«. In: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft. 20 (1981), S. 11–20; ders.: »›Gebaute Kunstgeschichte‹. Richard Hamann«. In: Ders.: Schütteln Sie den Vasari . . . . Kunsthistorische Profile. Hrsg. von Martin Bormuth mit einem Essay von Horst Bredekamp. Göttingen 2017, S. 105–116; Peter H. Feist: Art. »Hamann, Richard«. In: Peter Betthausen / P.H. Feist / Christiane Fork: Metzler Kunsthistoriker Lexikon (Anm. 13), S. 146–149; Jost Hermand: Der Kunsthistoriker Richard Hamann. Eine politische Biographie (1879–1961). Köln 2009; Ruth Heftrig: Fanatiker der Sachlichkeit. Richard Hamann und die Rezeption der Moderne in der universitären deutschen Kunstgeschichte 1930–1960. Berlin 2014. 18 Vgl. Richard Hamann: Das Symbol. Gräfenhainichen 1902. 19 J. Hermand: Der Kunsthistoriker Richard Hamann (Anm. 17), S, 49. 20 P.H. Feist: Art. »Hamann, Richard« (Anm. 17), S. 147. 21 Zit. nach R. Heftrig: Fanatiker der Sachlichkeit (Anm. 17), S. 19. 14

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senschaft: Sie beginnen 1911 mit seiner vielgelesenen Ästhetik 22, die von dem Kunsthistoriker Erich Everth in der Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft kritisch rezensiert wird 23, und Hamann führt sie zum einen im Kontext des ersten Kongresses für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 1913, zum anderen in einer umfangreichen methodologischen Studie von 1916 weiter. 24 Nach einer kurzen Professur in Posen ist Hamann von 1913 bis 1949 als erster Lehrstuhlinhaber für Kunstgeschichte in Marburg tätig. Hier gründet er nicht nur das Marburger Jahrbuch der Kunstwissenschaft, sondern u. a. auch das Bildarchiv Photo Marburg – ein bis in die Gegenwart unerlässliches und lange einzigartiges Hilfsmittel der kunstwissenschaftlichen Forschung und Publizistik –, das er zusammen mit seinen Studenten ständig weiter bestückt. 1933 legt Hamann eine zunächst einbändige Geschichte der Kunst von der altchristlichen Zeit bis zur Gegenwart vor, die in verschiedenen Bearbeitungen enorme, über die Grenzen der Fachwelt hinausreichende, Breitenwirkung entfaltet und vom Autor 1952 durch den Band Von der Vorgeschichte bis zur Spätantike ergänzt wird. 25 Ein weiteres Großprojekt, das Hamann zusammen mit dem Germanisten Jost Hermand in interdisziplinärer Kooperation in Angriff nimmt, ist die Deutsche Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Expressionismus, die von 1959 bis 1975 in fünf Bänden erscheint, von denen die letzten nach Hamanns Tod, auf dessen Konzeption fußend, von Hermand fertiggestellt werden. 26 Zwischen 1947 und 1957 nimmt Hamann zusätzlich zu seiner Tätigkeit in Marburg u. a. eine Gastprofessur für Kunstgeschichte an der Berliner Humboldt-Universität wahr und beeinflusst maßgeblich die Entwicklung des Fachs in der DDR, bis er – wiederum aus politischen Gründen – entlassen wird.

22 Vgl. R. Hamann: Ästhetik. Leipzig 1911 (auszugsweise in dieser Ausgabe S. 269 –296). (2Leipzig und Berlin 1919.) 23 Vgl. Erich Everth: »Richard Hamann: Ästhetik« [Rez.]. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 8 (1913), S. 100–117. (In dieser Ausgabe S. 297 –318.) 24 Vgl. R. Hamann: »Allgemeine Kunstwissenschaft und Ästhetik«. In: Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Berlin, 7.–9. Oktober 1913. Bericht. Hrsg. vom Ortsausschuss. Stuttgart 1914, S. 107–115 (in dieser Ausgabe S. 319 –325); ders: »Zum Kongreß für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft«. In: Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik. 8/6 (1914), Sp. 715–732 (in dieser Ausgabe S. 326 –333); ders.: »Die Methode der Kunstgeschichte und die allgemeine Kunstwissenschaft«. In: Monatshefte für Kunstwissenschaft. 9 (1916), S. 64–78, S. 103–114 und S. 141–154 (auszugsweise in dieser Ausgabe S. 334 –346). 25 Vgl. ders.: Geschichte der Kunst von der altchristlichen Zeit bis zur Gegenwart. Berlin 1932; ders.: Geschichte der Kunst. Von der Vorgeschichte bis zur Spätantike. München und Zürich 1952. 26 Vgl. R. Hamann / J. Hermand: Deutsche Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Expressionismus. 5 Bde. Berlin 1959–1975.

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Edgar Wind Betreuer der Promotion von Wind (1900–1971) 27 über das Thema Ästhetischer und kunstwissenschaftlicher Gegenstand von 1922 28 sind der Kunsthistoriker Erwin Panofsky und der Philosoph Ernst Cassirer. In dieser Studie und ihrem Umfeld liegt auch der Schwerpunkt von Winds Arbeit an der Theorie der Allgemeinen Kunstwissenschaft. Nach der Promotion arbeitet Wind, der polyglott erzogen ist und mehrere Sprachen, darunter Englisch, beherrscht, ab 1924 in den USA, wo er vor allem den Pragmatismus von Charles Sanders Peirce kennenlernt. 1927 kehrt Wind nach Deutschland zurück und ist in der Folge an der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek, die Aby Warburg in Hamburg eingerichtet hatte, als Assistent tätig. Hier tritt er mit Warburg in engen persönlichen Kontakt und wird stark von dessen kulturwissenschaftlicher Methode beeinflusst. Ende 1930 habilitiert sich Wind wiederum in Hamburg mit einer naturphilosophischen Studie über Das Experiment und die Metaphysik 29 im Fach Philosophie. In der Kommission sitzen auch diesmal u. a. Panofsky und Cassirer. Wind ist also Kunsthistoriker und Philosoph gleichermaßen und macht – auch ganz im Sinne Warburgs – die akademische Disziplinen übergreifende Auseinandersetzung mit der Sache zum charakteristischen Prinzip seiner Arbeit. 1933 aufgrund seiner jüdischen Herkunft zur Emigration gezwungen, wandert Wind nach England aus und trägt wesentlich zum erfolgreichen Transfer der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg nach London bei. Als stellvertretender Direktor des dort neu gegründeten Warburg Institute leistet Wind einen wichtigen Beitrag zur wissenschaftlichen Anerkennung des bis dahin noch stark vom Prinzip der Kennerschaft geprägten Fachs Kunstgeschichte in England. Dabei präsentiert er das Fach dezidiert auf Warburgscher – d. h. kulturwissenschaftlicher – Basis. Zwischen 1942 und 1955 lehrt Wind an verschiedenen Hochschulen in den USA. Bis zu seiner Emeritierung 1967 ist Wind dann wieder in England, nun an Zu Winds Biographie vgl. bes. Hugh Lloyd-Jones: »A Biographical Memoir«. In: Edgar Wind: The Eloquence of Symbols. Studies in Humanist Art. Hrsg. von Jaynie Anderson. Zweite, überarbeitete Auflage Oxford 1993 (11983), S. XIII–XXXVI. S. a. Bernhard Buschendorf: »Das Prinzip der inneren Grenzsetzung und seine methodologische Bedeutung für die Kulturwissenschaften« [Nachwort]. In: Edgar Wind: Das Experiment und die Metaphysik. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von B. Buschendorf. Eingel. von Brigitte Falkenburg. Frankfurt a. M. 2001, S. 270–326, hier S. 272–276; Norbert Schneider: »Kunst zwischen Magie und Logos. Zum kulturwissenschaftlichen Ansatz von Edgar Wind« (1995). In: Klaus Garber (Hrsg.): Kulturwissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Ihr Werk im Blick auf das Europa der frühen Neuzeit. München 2002, S. 2–37; John Michael Krois: »Einleitung«. In: E. Wind: Heilige Furcht und andere Schriften zum Verhältnis von Kunst und Philosophie. Hrsg. von J.M. Krois / Roberto Ohrt. Hamburg 2009 (Fundus-Bücher. 174), S. 9–40, hier S. 11 f. 28 Vgl. E. Wind: Ästhetischer und kunstwissenschaftlicher Gegenstand. Ein Beitrag zur Methodologie der Kunstgeschichte [phil. Diss. Hamburg 1922]. Hrsg. von Pablo Schneider. Hamburg 2011 (Fundus-Bücher. 192) 29 Vgl. ders.: Das Experiment und die Metaphysik (1930). Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von B. Buschendorf. Eingeleitet von Brigitte Falkenburg. Frankfurt a. M. 2001 (Neuausgabe der Edition von 1934). 27

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der University of Oxford, tätig. Wie Warburg, den Wind neben Panofsky, Peirce und Cassirer als seinen wichtigsten Lehrer betrachtet, widmet er sich in seinen kunsthistorischen Studien vor allem der Kunst der italienischen Renaissance und ihrem neuplatonisch inspirierten Bilddenken. Hiervon handelt sein kunst- und kulturgeschichtliches Hauptwerk Heidnische Mysterien in der Renaissance 30, das Wind neben Panofsky als einen der bedeutendsten Vertreter der von Warburg begründeten Tradition der Ikonologie ausweist. Eine Summe seiner kunsttheoretischen Position bilden sechs 1960 von der BBC gesendete Vorlesungen, die später unter dem Titel Kunst und Anarchie 31 publiziert werden.

Vgl. ders.: Heidnische Mysterien in der Renaissance (Pagan Mysteries in the Renaissance. London 1958). Übers. von Christa Münstermann unter Mitarbeit von B. Buschendorf und Gisela Heinrichs. Mit einem Nachwort von B. Buschendorf. 4Frankfurt a. M. 1987 (11981). 31 Vgl. ders.: Kunst und Anarchie. Die Reith Lectures 1960. Durchgesehene Ausgabe mit den Zusätzen von 1968 und späteren Ergänzungen (Art and Anarchy. London 1963). Frankfurt a. M. 1994. 30

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Vorwort zu Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft () Dies Buch ist eigentlich schon seit zwei Jahren fertig. Hemmungen und Ablenkungen haben die Veröffentlichung bis heute hintangehalten. Inzwischen sind einige Systeme der Ästhetik und sehr viele Einzeluntersuchungen hervorgetreten. Sie wurden mit dem lebhaftesten Gefühl der Erkenntlichkeit benutzt, soweit der schon gespannte Rahmen es erlaubte; aber gemäß dem Charakter dieser Darstellung, die nur Grundzüge bietet, habe ich es vermieden, mich des näheren mit den zufällig jüngsten und gerade jetzt bekanntesten Theorien auseinanderzusetzen. Für die bis ins Einzelste dringende Erörterung scheint mir eine Zeitschrift geeigneter: die soeben begründete »Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft« wird solchen Forderungen des Tages besser dienen können. Ferner habe ich mir im Hinblick auf jene Bücher ernstlich die Frage vorgelegt, ob mein Versuch überflüssig geworden sei. Aus mehreren Gründen glaubte ich doch, verneinend antworten zu dürfen. Zunächst tritt die Bemühung um das Ganze des Gegenstandes hier offenkundiger hervor als in den übrigen Werken der neueren Literatur. Im vollen Bewußtsein der Tatsache, daß eine umfassende Ästhetik aus der Feder eines Mannes ebenso lückenhaft ausfallen muß wie etwa die von einem und demselben Autor geschriebene »Kunstgeschichte«, wagte ich das Unternehmen, weil der Vorteil einheitlicher Auffassung mir größer schien als die unvermeidlichen Schäden. Jetzt, wo ich denselben Gegenstand in anderer Gliederung vortrage, sehe ich, an wie vielen Stellen mir nicht alles nach Wunsch geglückt ist. Man vollbringt eben selten die Bücher, die man will. Man denkt sie sich bergan, und nachher bleiben sie unbeweglich auf der Ebene. Die Hauptschuld trägt der Geist unseres Zeitalters der Mittelbarkeit, in dem die Beziehung zum Leben zusammenschrumpft und fast nur noch über Gelesenes gelesen, über Geschriebenes geschrieben, über Gesprochenes gesprochen wird. Wenngleich ich mich stark von dieser Last bedrückt fühle, hoffe ich dennoch, daß eine persönliche Anschauung der Probleme spürbar geblieben ist und als förderlich empfunden werden wird. Was die sachliche Einheit des Versuches anlangt, so liegt sie nicht darin, daß er als Stück eines philosophischen Systems auftritt. Zwar sind einige der Hilfsbegriffe, die sich mir in anderen Untersuchungsgebieten dargeboten hatten, von neuem verwertet worden. Der Leser wird die Begriffe des Unterbewußtseins, der Psychognosis, des Leistungsmenschen und andere mehr wiederfinden, obwohl sie vielfach bei den Fachgenossen auf ebenso vornehme wie vollständige Abwesenheit des Verständnisses gestoßen sind; und die beiden ersten Abschnitte über Geschichte und Prinzipien der Ästhetik bleiben von der in meinem geschichtlichen Werk durchgeführten Ansicht beherrscht, daß eigentlich historische und doxographische Behandlung miteinander verbunden werden sollen. Aber dies Buch besteht nicht

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in schonungsloser Verfolgung eines einzigen Erklärungsgrundsatzes. Ich finde ein solches Verfahren für die Ästhetik in ihrer gegenwärtigen Verfassung nicht minder ungeeignet als für die Psychologie oder Ethik. Die allumfassenden Theorien erinnern mich immer an das Tote Meer: jedes Lebewesen, das in die klar aussehende Salzflut sich wagt, schwimmt an der Oberfläche und muß sterben; im Toten Meer des begrifflichen Absolutismus gelangen die lebendigen Einzelerkenntnisse niemals zur Tiefe, sondern werden vergiftet. Forschung und Lehre haben sich nach den Gesichtspunkten zu richten, die jeweilig vom Stoff verlangt werden, sie sollen feststellen, ordnen und möglichst unbefangen aus der Sache heraus erklären. [. . .] IX

Berlin, im November 1905. Max Dessoir.

Einleitung zu Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft () In der Entwicklung, die unsere Wissenschaft von ihrer Geburt an bis auf den heutigen Tag erlebt hat, ist ein Gedanke ihr treu geblieben, nämlich der, daß ästhetisches Genießen und Schaffen, Schönheit und Kunst unabtrennbar zusammengehören. Der Gegenstand dieser Wissenschaft sei vielgestaltig zwar, doch einheitlich. Kunst gilt als die Darstellung des Schönen, die aus einem ästhetischen Zustand heraus zu stande kommt und in einem ähnlichen Verhalten aufgenommen wird; die Wissenschaft von diesen beiden Verfassungen der Seele sowie vom Schönen nebst seinen Modifikationen und von der Kunst nebst ihren Arten wird, da sie eine Einheit bildet, mit dem einen Namen Ästhetik belegt. Die Skepsis der Gegenwart beginnt daran zu zweifeln, ob wirklich das Schöne, das Ästhetische und die Kunst in einem Verhältnis zueinander stehen, das fast eine Identität genannt werden kann. Schon früher ist die Alleinherrschaft des Schönen angegriffen worden: da die Kunst doch auch das Tragische und das Komische, das Zierliche und das Erhabene, ja selbst das Häßliche in ihren Kreis einbezieht, und da an alle diese Kategorien das ästhetische Gefallen anzuknüpfen vermag, so ist deutlich, daß mit dem Schönen etwas Engeres gemeint sein muß als mit dem künstlerisch und ästhetisch Wertvollen. Immerhin könnte Schönheit den Endzweck und Mittelpunkt der Kunst bilden, und es könnten die übrigen Kategorien den Weg zur Schönheit bezeichnen, gleichsam werdende Schönheit sein. Selbst diese Anschauung, die in der Schönheit den eigentlichen Inhalt der Kunst und den zentralen Gegenstand der ästhetischen Vorgänge erblickt, ist gewichtigen Bedenken ausgesetzt. Vor allen Dingen steht ihr die Tatsache entgegen, daß die im Leben genossene Schönheit und die in der Kunst genossene nicht dasselbe sind. Die künstlerische Nachbildung des Naturschönen gewinnt einen ganz neuen Charakter: Raumobjekte werden in der Malerei zu Flächengebilden, Seiendes verwandelt sich in der Dichtkunst zu Sprachlichem, und so wird allerorten umgeformt Trotz der objektiven Verschiedenheit vermöchte ja der subjektive Eindruck derselbe zu bleiben. Allein auch das trifft nicht zu. Lebendige Körperschönheit – ein anerkannter Freibrief für den Besitzer – spricht zu allen unseren Sinnen; sie ver setzt häufig das Geschlechtsgefühl in Schwingungen, wenn auch nur in die zartesten und kaum bemerkten; sie beeinflußt unwillkürlich unsere Handlungen. Hingegen liegt auf der Marmorstatue eines nackten Menschen jene gewisse Kühle, die uns nicht daran denken läßt, ob wir Mann oder Weib vor uns sehen: selbst der schönste Leib wird hier als geschlechtloses Bild genossen, vergleichbar der Schönheit einer Landschaft oder einer Melodie. Zum ästhetischen Eindruck des Waldes gehört sein würziger Duft, zum Eindruck einer tropischen Vegetation die glühende Hitze, während aus dem künstlerischen Genuß die Empfindungen der

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niederen Sinne verbannt sind. Gleichsam zum Ersatz für das Fehlende enthält der Kunstgenuß die Freude an der Persönlichkeit des Künstlers und an seiner Kraft, Schwierigkeiten zu überwinden, und so manche andere Lustmomente, die niemals von der natürlichen Schönheit ausgelöst werden. Es unterscheidet sich demnach, was wir in der Kunst schön nennen, von dem, was im Leben so heißt, sowohl dem Gegenstand als auch dem Eindruck nach. Aus unseren Beispielen ergibt sich aber noch etwas anderes. Vorausgesetzt, daß wir die reine, lustvolle Betrachtung wirklicher Dinge und Vorgänge ästhetisch nennen dürfen – und welcher Gegengrund könnte aus dem gewohnten Wortgebrauche abgeleitet werden? –, so erhellt, daß der Kreis des Ästhetischen weiter reicht als der des Künstlerischen. Unsere bewundernde und liebende Hingabe an Naturerscheinungen trägt alle Merkmale des ästhetischen Verhaltens und braucht dennoch von der Kunst nicht berührt zu sein. Noch mehr. Auf allen geistigen und sozialen Gebieten lebt sich ein Teil der schaffenden Kraft in ästhetischer Formung aus; diese Erzeugnisse, die keine Kunstwerke sind, werden ästhetisch genossen. Da ungezählte Tatsachen täglicher Erfahrung uns vor Augen stellen, daß der Geschmack unabhängig von der Kunst sich entwickeln und auswirken kann, so müssen wir der Sphäre des ästhetischen Seins einen weiteren Umfang zuerkennen als der Sphäre der Kunst. Damit ist nicht behauptet, daß der Kreis der Kunst ein enger Ausschnitt sei. Im Gegenteil: das ästhetische Moment erschöpft nicht den Inhalt und Zweck jenes Gebietes menschlicher Produktion, das wir zusammenfassend »die Kunst« nennen. Jedes wahrhafte Kunstwerk ist nach Motiven und Wirkungen außerordentlich zusammengesetzt, es entspringt nicht bloß aus ästhetischer Spielseligkeit und dringt nicht nur auf ästhetische Lust, geschweige denn auf reinen Schönheitsertrag. Die Bedürfnisse und Kräfte, in denen die Kunst ihr Dasein hat, sind keineswegs mit dem ruhigen Wohlgefallen erschöpft, das nach der Überlieferung den ästhetischen Eindruck sowie den ästhe tischen Gegenstand kennzeichnet. In Wahrheit haben die Künste im geistigen und gesellschaftlichen Leben eine Funktion, durch die sie mit unserem gesamten Wissen und Wollen verbunden sind. Es ist daher die Pflicht einer allgemeinen Kunstwissenschaft, der großen Tatsache der Kunst in allen ihren Bezügen gerecht zu werden. Die Ästhetik vermag diese Aufgabe nicht zu lösen, wenn anders sie einen bestimmten, in sich geschlossenen und deutlich abgrenzbaren Inhalt besitzen soll. Wir dürfen nicht mehr die Unterschiede der beiden Disziplinen wegtäuschen, sondern müssen sie durch immer feinere Differenzierung so scharf herausheben, daß die wirklich vorhandenen Zusammenhänge sichtbar werden 1. Das Verhältnis der früher geübten zu der jetzt eintretenden Betrachtungsweise ist demjenigen zwischen Materialismus und Positivismus zu vergleichen. Während der Materialismus eine reichlich grobe Aufhebung des Geistigen in das Körperliche wagte, stellte der Positivismus 1 Den ersten Schritt dazu hat Hugo Spitzer getan in dem verdienstvollen Buche: Hermann Hettners kunstphilosophische Anfänge, [Graz] 1903.

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eine Ordnung von Naturkräften auf, in der die Beziehung der Abhängigkeit die Folge bestimmt. Der Mechanismus, die physikalisch-chemischen Tatsachen, die biologische und die geschichtlich-gesellschaftliche Gruppe werden nicht inhaltlich aufeinander zurückgeführt, sondern derart verknüpft, daß die höheren Ordnungen als abhängig von den niederen erscheinen. So soll nunmehr auch die Kunst mit dem Ästhetischen methodologisch verkettet werden. Und vielleicht noch enger, denn vielfach arbeiten schon jetzt Ästhetik und Kunstwissenschaft einander in die Hände wie die Tunnelarbeiter, die von entgegengesetzten Punkten aus in einen Berg eindringen, um in seiner Mitte sich zu treffen. Vielfach geschieht es, nicht durchweg. An manchen Stellen vollzieht sich die Forschung gänzlich unbekümmert um das, was an anderen Orten vor sich geht. Das Gebiet ist eben zu groß und die Interessen sind zu verschieden, Künstler berichten von ihren Erfahrungen beim Schaffen, Kenner belehren uns über die Technik der einzelnen Künste; Soziologen untersuchen die gesellschaftliche Funktion, Ethnologen den Ursprung der Kunst; Psychologen ergründen teils durch Versuche teils durch begriffliche Analyse den ästhetischen Eindruck, Philosophen erörtern die Methoden und Prinzipien; die Geschichtschreiber der Literatur, Musik und bildenden Kunst haben eine ungeheure Stoffmenge aufgehäuft – und die Gesamtheit dieser wissenschaftlichen Forschungen bildet den festesten, jedoch nicht größten Bestandteil der öffentlichen Diskussionen, die von allerhand Gesichtspunkten aus in Zeitschriften und Zeitungen von statten gehen. »Da bleibt nun für den ernst Betrachtenden nichts übrig als daß er sich entschließt, irgendwo den Mittelpunkt hinzusetzen und alsdann zu sehen und zu suchen, wie er das übrige peripherisch behandle.« (Goethe.A) Nur durch Grenzsetzung kann aus dem geschäftigen Durcheinander ein Zusammenwirken entstehen. Der Widersprüche und Fremdheiten sind augenblicklich noch recht viele. Wer eine glatte begriffliche Einheit herzustellen unternimmt, der tötet das Leben, das in Begegnungen, Kreuzungen und Kämpfen sich bekundet, und verstümmelt die volle Erfahrung, die in den mannigfaltigen Einzeluntersuchungen sich ausbreitet System und Methode bedeuten für uns: frei sein von einem System und einer Methode. Es fragt sich jedoch, ob ein einzelner so weit Herr der verschiedentlichen Verfahrungsweisen werden kann, um sie mit Nutzen anzuwenden. Zwar scheint nach allgemeiner Ansicht der Philosoph berechtigt, Ästhetik im engeren Sinn zu treiben, aber seine Befugnis, über allgemeine Kunstwissenschaft sich auszusprechen, dürfte angefochten werden. Der Philosoph, der über alles und jedes mitreden will, mag wie ein berufsmäßiger Dilettant ausschauen, wie ein Schwätzer und Besserwisser, ohne rechte Vorstellung und gründliche Kenntnis von den Dingen, über die er phantasiert. Sollten nicht die Kunstgelehrten einerseits, die schaffenden Künstler anderseits den Gegenstand ausschließlich für sich beanspruchen dürfen? Johann Wolfgang von Goethe: »Versuch einer Witterungslehre« (1825). In: Goethes Werke. Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Abt. II, Bd. 12. Weimar 1896, S. 74–124, hier S. 76. A

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Die Theorie der einzelnen Künste wird durchschnittlich in Verbindung mit der Erforschung ihrer Geschichte gepflegt. An den Universitäten vertritt der Kunsthistoriker zugleich die systematische Wissenschaft von den bildenden Künsten; der Literarhistoriker in sozusagen offizieller Form soll auch Sprachforscher sein; Musikgeschichte und Musikwissenschaft werden ebenfalls in Personalunion betrieben. Daß beide Arbeitsrichtungen einander stützen können, daß namentlich der Historiker ohne systematische Kenntnisse bis zur Bewegungslosigkeit gefesselt wäre, ist ohne weiteres zuzugeben. Aber die rein theoretische Beschäftigung mit Formen und Gesetzen jeder Kunst kann, wie die Erfahrung zeigt, in gründlicher und förderlicher Weise vollzogen werden, obgleich die geschichtliche Entwickelung nicht näher untersucht wird. So entstehen die besonderen systematischen Wissenschaften, die man Poetik, Musiktheorie und Kunstwissenschaft zu nennen pflegt. Ihre Voraussetzungen, Methoden und Ziele erkenntnistheoretisch zu prüfen sowie ihre bedeutsamsten Ergebnisse zusammenzufassen und zu vergleichen, scheint mir die Aufgabe einer allgemeinen Kunstwissenschaft zu sein; daneben besitzt diese in den Problemen, die das künstlerische Schaffen und der Ursprung der Kunst, die Einteilung und die Funktion der Künste dem Nachdenken stellen, Gebiete, die sonst keine Stätte finden könnten. Und vorläufig wenigstens ist der Philosoph berufen, sie zu verwalten. Doch ein anderer Zweifel muß noch behoben werden. Sind nicht vielleicht die schaffenden Künstler diejenigen, die uns andere über das Wesen der Kunst belehren sollten? Mit welchem Recht darf der Philosoph, der nicht selber Künstler ist, über Kunst urteilen? Ist er nicht den gleichen Vorwürfen ausgesetzt wie ein Nationalökonom, der über den Börsenhandel schreibt, ohne jemals im Getriebe der Börse gestanden zu haben? Gewiß verdankt unsere Wissenschaft den Künstlern, sofern sie Theoretiker und Schriftsteller sind, manches Gute. Zunächst sind die Selbstzeugnisse über ihr Schaffen ganz unentbehrlich. Alsdann haben sie über die Technik ihrer Kunst viel Schönes gesagt. Aber ihre Teilnahme für die Theorie hat doch der Regel nach ein anderes Aussehen als unsere Bemühung. Künstler wollen durch Nachsinnen das eigene Schaffen fördern oder wenigstens dem natürlichen Bedürfnis nach Einsicht in die Bedingungen ihrer Kunst genügen. Ihr Absehen ist also entweder auf die künstlerische Leistung gerichtet oder auf die persönliche Bildung. Die wissenschaftliche Untersuchung jedoch darf nicht Mittel zu einem dieser beiden an sich berechtigten Ziele bleiben, sondern ist sich selber Zweck; und für sie pflegt bei der schöngeistigen Beschäftigung mit der Kunst wenig herauszukommen. Ich will nicht von der Unzulänglichkeit der Künstler sprechen, die sich zum Reden aufgelegt fühlen, ohne an abstraktes und systematisches Denken gewöhnt zu sein, ja ohne überhaupt das Problematische des Selbstverständlichen zu ahnen; sondern ich möchte auch Kunstbetrachtung 2 und Kunstkritik von der reinen Wissenschaft 2 Lehrreiche und durch viele Beispiele belegte Untersuchungen enthält Richard M. Meyers Aufsatz »Über das Verständnis von Kunstwerken«. (Neue Jahrbücher 1901, Bd. VII, S. 362 ff.

Einleitung zu Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft ()

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ausgeschlossen wissen. Indem jene das eigentümliche Leben einzelner Kunstwerke nachfühlen, diese Idee und Form an der einzelnen Schöpfung trennen lehrt, leisten sie etwas für die Bildung und Genußfähigkeit der Individuen. Aber alle philosophischen Ewigkeitswerte dienen hier dem Augenblicklichen. Mit Sainte-Beuve sehen Kenner und Kritiker ihre Aufgabe darin, »de se borner à connaître de près les belles choses et à s’en nourrir en exquis amateurs, en humanistes accomplis.« A Dazu können allerdings Beschreibung und Erklärung einen Beitrag liefern, und es gehört zu unseren Obliegenheiten, Recht und Umfang dieses Anteils erkenntnistheoretisch festzulegen; indessen mit Verständnis und Genuß des einzelnen Gebildes haben wir es nicht zu tun. Unsere Wissenschaft entspringt wie jede andere dem Bedürfnis nach klarer Einsicht und der Notwendigkeit, eine Gruppe von Tatsachen zu erklären. Da das [= S. 362–380]) Meyer unterscheidet sechs Methoden zur Deutung und Würdigung der Kunstwerke. Drei davon, nämlich die allegorische, die philosophische und die ästhetische Methode gehen vom Allgemeinen aus, drei andere betonen die Individualität des einzelnen Werks und erklären genetisch, nämlich die historische, die technische und die psychologische Methode. Das allegorische Verfahren sucht nach der höheren Bedeutung des Kunstwerks und glaubt mit der Erkenntnis dieses höheren Sinns das Kunstwerk erledigt zu haben. Die philosophische Methode faßt das Kunstwerk symbolisch auf und hat daher mehr Verständnis für den selbständigen Wert der Kunstform. Die ästhetische Interpretation endlich fragt nach der künstlerischen Art des Gegenstandes. Auf ihr ruht das Kunstrichtertum, das, spekulativ oder empirisch verfahrend, an allgemeine Gesetze und ebenso gut an geschichtlich wechselnde Regeln sich halten kann. »Für die wissenschaftliche Stellung der Ästhetik sind das alles hochwichtige Hauptfragen, für die Praxis der Kunsterklärung sind es nur Nebenfragen.« Gegenüber diesen drei systematischen Methoden gehen die anderen von der Voraussetzung aus, daß das fertige Kunstwerk noch nicht das ganze Kunstwerk sei. Sie betrachten unter dem Gesichtspunkt des Werdens und untersuchen teils historisch die Vorgeschichte des Objekts, teils psychologisch seine Entstehung aus dem Geist des Künstlers, teils technisch, »wie der Bildhauer seinem Stein, der Maler seinen Farben, der Dichter seiner Sprache abgewann, was wir nun bewundern«. Die Einheit des Kunstwerkes erschließt sich nicht der Zusammenfassung dieser sechs Methoden, sondern lediglich der Anschauung, dieser ältesten, einfachsten und natürlichsten Art der Kunstbetrachtung. Ich zitiere ferner noch ein recht charakteristisches Bekenntnis aus der Vorrede zu Walter Paters Buch The Renaissance (6. Aufl., London 1902 [S. XIII]): »Many attempts have been made by writers on art and poetry to define beauty in the abstract, to express it in the most general terms, to find a universal formula of it. The value of these attempts has most often been in the suggestive and penetrating things said by the way. Such discussions help us very little to enjoy what has been well done in art or poetry, to discriminate, what is more and what is less excellent in them or to use words like beauty, excellence, art, poetry with a more precise meaning than they would otherwise have. Beauty, like all other qualities presented to human experience, is relative; and the definition of it becomes unmeaning and useless in proportion to its abstractness. To define beauty, not in the most abstract, but in the most concrete terms possible, to find, not a universal formula for it, but the formula which expresses most adequately this or that special manifestation of it, is the 59 aim of the true student of aesthetics.« Charles-Augustin Sainte-Beuve: »Œuvres Françoises de Ioachim du Bellay, gentilhomme angevin, avec une Notice biographique et des notes, par M. Ch. Marty Lavaud. T. 1er, Paris, Alphonse Lemerre, 1866« [Rez.]. In: Journal des Savants (Juni 1867), S. 345–359, hier S. 345 f. – S. a. Walter Pater: Studies in the History of the Renaissance. London 1873, S. IX. A

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Erfahrungsgebiet, das sie erkennbar zu machen hat, das der Kunst ist, so entsteht die besondere und ärgerliche Schwierigkeit, die freiste, subjektivste, am meisten synthetische Betätigung des Menschen in der Richtung der Notwendigkeit, Objektivität, Analysis umzuformen. Diese gewaltsame Veränderung muß erfolgen, oder es gibt keine Wissenschaft von der Kunst. Alles Launenhafte, Unzweckmäßige, Irrationale ist unweigerlich zu tilgen. Denn mit der oft geschehenen bloßen Anerkennung seines Daseins ist es ja noch nicht begriffen. Auf diesem Wege entfernt man sich freilich oft von der erlebten Wirklichkeit und vom Bewußtsein der Künstler. Hört irgend ein Musiker alles das, was die Musikwissenschaft feststellt? Weiß der Leser, ja selbst der Dichter, daß die besondere Stimmung, die eine Strophe hervorruft, durch die ausnahmslos dunklen Vokale bedingt ist? Indem die Wissenschaft von solchen Dingen spricht, stößt sie auf einen Widerstand von Seiten der Künstler: da sie, die Schaffenden, fast nichts von allem dem klar zu sehen brauchen, so empfinden sie es als eine wunderliche Entstellung und ziehen sich schließlich ganz auf ihr Gefühl zurück. Der Schaffende wird daher immer nur im Schaffenden einen Ebenbürtigen anerkennen, wenn er ihn auch meist als einen Nebenbuhler haßt; selbst der große Dichter wird dem ungebildeten Erfinder eines Couplets sich ähnlicher fühlen als dem gelehrtesten Denker. Eben darin liegt aber unser Recht. Wir wollen die Vorgänge erkennen und haben nicht den Ehrgeiz, sie herstellen zu können. Folglich ist unsere Absicht auch nicht darauf gerichtet, den Künstler zu beeinflussen. Wie man es anfängt, ein Kunstwerk zu schaffen, das vermögen wir im einzelnen und mit Erfolg nicht zu sagen. Wissen und Können ist zweierlei. Und die allgemeine Kunstwissenschaft gehört zu der weiten Sphäre des Wissens. Dürfte ich ins Land der Wünsche ausschwärmen, so möchte ich wohl ein Bild dessen entwerfen, dem einst die Krone jenes Reiches zufallen soll. Zum König wäre geboren, wer künstlerisch zu empfinden und wissenschaftlich zu denken in gleichem Masse veranlagt ist: die Kunst in allen ihren Erscheinungen müßte seine Leidenschaft, die Wissenschaft mit allen ihren Methoden müßte seine Fähigkeit bilden. Wir harren seiner.

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1. Die geistige Funktion.

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Kunst, als Schöpfung des menschlichen Geistes, ist mit dem gesamten Wissen und Wollen der Menschen verbunden. Im Zusammenhang der Leistungen, die zu dauernden Formen sich verfestigt haben, gebührt ihr ein bestimmter Platz. Diese besondere Verrichtung läßt sich am ehesten feststellen, wenn ihr Verhältnis zu Wissenschaft, Gesellschaft und Sittlichkeit als zu den nächst verwandten Bildungen untersucht wird. Was das Verhältnis der Kunst zur Wissenschaft anlangt, so wird die Erörterung, wie mir scheint, am besten nicht mit Allgemeinheiten, sondern zweckmäßiger mit der Prüfung eines besonderen Falles begonnen. Als einen lehrreichen Fall betrachte ich die Versuche der Kunsthistoriker, in wissen[s]chaftlicher Art Werke der Raumund Bildkunst zu beschreiben, aus dem Augenschein des künstlerischen Lebens in die Sprache der wissenschaftlichen Begriffe zu übertragen 1. Erklärung und Bewertung pflegen auf solche Schilderungen gestützt zu werden; wir können also hier an der Wurzel prüfen, wie weit Kunstwerke dem einfachsten Verfahren der Wissenschaft sich zugänglich erweisen. Am reizvollsten und schwierigsten ist die Aufgabe, die gelegentlich dem Kunsthistoriker erwächst, die Aufgabe, durch seine Beschreibung ein der Beobachtung nicht zugängliches Werk möglichst vollkommen zu ersetzen. Meist hat er freilich nur die sichtbare Erscheinung durch das Wort zu erläutern und zu beleben, manchmal aber muß er doch auch sie herzustellen Die wissenschaftliche Beschreibung musikalischer und poetischer Werke nebst den sie 463 beherrschenden Voraussetzungen ist meiner Kenntnis nach gleichfalls nicht genügend aufgeklärt Ein bemerkenswerter Versuch, mit naturwissenschaftlicher Genauigkeit den Inhalt einer Dichtung und das Verfahren eines Dichters zu zergliedern, liegt vor in Richard Heinzels »Beschreibung einer Isländischen Saga« (Sitzungsberichte der Wiener Akademie, [Bd. 97/1. Wien] 1880 [S. 107–308]). Doch scheint mir das verwendete Schema untauglich und die durchgängige Gleichsetzung dichterischer mit wirklicher Betrachtung unzulässig, etwa in diesem Beispiel: »Wenn zwei Vorgänge bei zwei räumlich getrennten Personen zur Darstellung kommen, kann der Autor wie ein Zuschauer des wirklichen Lebens nur die eine Person beobachten; was mit der anderen inzwischen vorgeht, bleibt undeutlich, wenn auch im allgemeinen aus den Folgen erkennbar« (S. 195, vgl. S. 143). – An die Erläuterung des einzelnen Werks pflegt man eine Vergleichung mit anderen Werken, ferner die Einordnung in einen Typus anzuschließen. Dann setzt die Kritik ein. Über literary criticism in Amerika vgl. Ch[arles] M[ills] Gayley und F[red]. N[ewton] Scott, An Introduction to the Method and Materials of Literary Criticism, Boston, 1899; alsdann auch den auf meine Veranlassung hin entstandenen Aufsatz von Florence M. Sylvester [»›Rhetorik‹ und ›Literarische Kritik‹ auf amerikanischen Universitäten«] in der Zeitschrift für [den] deutschen Unterricht, 1903, XVII, [S.] 745–766. 1

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versuchen. Herman A Grimms Anweisung: »alle Werke nur in Beschreibungen sichtbar« B zeigt gerade in ihrer Übertreibung aufs deutlichste, daß unser Problem auch ein solches der Kunstwissenschaft, und zwar ein ihre Praxis bestimmendes ist. Sind nicht ferner in den täglich erscheinenden Berichten über Kunstausstellungen jedesmal Schilderungen von Bildern oder Büsten enthalten, die der Leser noch nicht erblickt hat oder überhaupt nicht zu sehen bekommen kann? Daher ist es erstaunlich genug, daß weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart erschöpfende Untersuchungen über die Grenzen solcher Beschreibungen angestellt worden sind. Immerhin gibt es schätzenswerte Beiträge, namentlich aus älterer Zeit. Blicken wir auf die deutsche Kunstwissenschaft der letzten hundertundfünfzig Jahre zurück, so begegnet uns zuerst Goethes erlauchter Name. Der Aufsatz über den Triumphzug des Mantegna enthält eine belebte, das Wesentliche gut vermerkende Beschreibung; sie schließt mit dem Geständnis, daß »man mit noch so viel gehäuften Worten den Wert der flüchtig beschriebenen Blätter doch nicht ausdrücken könnte«.C Vasaris Schilderung wird als unzulänglich abgelehnt. »Wir wollen ihn aber deshalb nicht schelten, weil er von Bildern spricht, die ihm vor Augen stehen, von denen er glaubt, daß jedermann sie sehen wird. Auf seinem Standpunkte konnte die Absicht nicht sein, sie den Abwesenden oder gar Künftigen, wenn die Bilder verloren gegangen, zu vergegenwärtigen. Ist dieses doch auch die Art der Alten, die uns oft in Verzweiflung bringt Wie anders hätte Pausanias verfahren müssen, wenn er sich des Zweckes hätte bewußt sein können, uns durch Worte über den Verlust herrlicher Kunstwerke zu trösten! Die Alten sprachen als gegenwärtig zu Gegenwärtigen, und da bedarf es nicht vieler Worte. Den absichtlichen Redekünsten Philostrats sind wir schuldig, daß wir uns einen deutlicheren Begriff von verlorenen köstlichen Bildern aufzubauen wagen.« D – Während an dieser Stelle der Abstand des Wortes vom Augenschein hervorgehoben und zwischen ergänzender und ersetzender Beschreibung bedeutsam unterschieden wird, kommen in den Anmerkungen zu Diderots Versuch über die Malerei andere Gedanken zur Geltung. Bei Diderot war zu lesen: »Ich vollende mit einer Zeile, was der Künstler in einer Woche kaum entwirft, und zu seinem Unglück weiß er, sieht er, fühlt er wie ich und kann sich durch seine Darstellung nicht genug tun.« E Hie[r]zu meint nun Goethe: »Freilich ist die Malerei sehr weit von der Redekunst entfernt, und wenn man auch annehmen könnte, der bildende Künstler sehe die Gegenstände wie der Redner, so wird doch bei jenem ein ganz anderer Herman] Hermann Herman Grimm: Das Universitätsstudium der Neueren Kunstgeschichte. In: Deutsche Rundschau. 66 (1891), S. 390–413. C J.W. von Goethe: »Julius Cäsars Triumphzug, gemahlt von Mantegna« (1823). In: Goethes Werke. Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Abt. I, Bd. 49,1. Weimar 1898, S. 255–270, hier S. 270. D Ebd., S. 286. E Ders.: »Diderot’s Versuch über die Mahlerei. Übersetzt und mit Anmerkungen begleitet« (1799). In Goethes Werke. Abt. I, Bd. 45. Weimar 1900, S 245–322, hier S. 321. A B

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Trieb erweckt als bei diesem. Der Redner eilt von Gegenstand zu Gegenstand, von Kunstwerk zu Kunstwerk, um darüber zu denken, sie zu fassen, sie zu übersehen, sie zu ordnen und ihre Eigenschaften auszusprechen. Der Künstler hingegen ruht auf dem Gegenstande, er vereinigt sich mit ihm in Liebe, er teilt ihm das Beste seines Geistes, seines Herzens mit, er bringt ihn wieder hervor.« A Man beachte, wie die Wahrnehmung des Künstlers und des Redners doch nicht unbedingt als die gleiche und der Forscher als im Gegensatz zum Künstler hingestellt wird. [. . .] Naive Gemüter meinen wohl, es sei nichts einfacher als die Beschreibung eines unveränderlichen sichtbaren Dinges. Sie vergessen, daß ohne Auswahl und Urteil die Schilderung nie ein Ende finden und außerdem niemand nützen würde. Wenn ich ein mikroskopisches Präparat so beschreiben wollte wie ich es sehe: mit allen Schmutzflecken, Luftbläschen und den undeutlichen Wahrnehmungsbildern der außerhalb der Brennweite liegenden Teile, dann wäre meine Nachbildung naturgetreu, jedoch völlig unwissenschaftlich. Wissenschaft ist mit der Kunst darin einig, daß sie die erlebte Wirklichkeit verändert und hierdurch bewältigt. Nachdem ein Einzelfall uns gezeigt hatte, wie eng der beschreibenden Wissenschaft die Grenzen gezogen sind gegenüber dem besonderen Kunstwerk, müssen wir jetzt zu der allgemeineren Frage aufsteigen, wie sich die Kunst zur Wissenschaft verhält, demgemäß uns klarzumachen suchen, in welcher besonderen Weise Wissenschaft das unmittelbar Erfahrene umformt. Der Grundzug ist deutlich. Gegen die widerspruchsvolle und unklare Beschaffenheit der Erlebnisse kämpft das Denken an, indem es ihren Inhalt mit einer gewissen Willkür bearbeitet, alles Irrationale ausscheidet und überall denknotwendige Zusammenhänge, verstandesmäßige Konstruktionen herstellt. Anstatt die Mannigfaltigkeit des Seienden echoartig zu wiederholen, vergewaltigt und verfälscht die rationalisierende Wissenschaft die Natur; aber ihr Sinn ist ja gerade der, in das Erlebte Kausalverbindungen und andere Beziehungen hineinzutragen, d. h. es zu erklären. Unsere Einteilungen, Hypothesen, Betrachtungsweisen, Gesetze können nun und nimmermehr der Welt, wie wir sie erleben, also dem Wirklichsten und Ursprünglichsten als etwas noch Ursprünglicheres untergeschoben werden. Lotze hat treffend den Hang des Menschen geschildert, »die zufälligen Ansichten, die Zergliederungen, Hilfsbegriffe und Beziehungen, durch die es uns gelingt den Zusammenhang des Wirklichen zu denken, nachdem es da ist, als reale Maschinerie zu betrachten, durch die es ihm gelinge zu sein«, er hat die »Verwechselung der Verdeutlichung unserer Begriffe mit der sachlichen Zergliederung ihres Inhaltes« beleuchtet und darauf hingewiesen, »daß an der Sache die Eigenschaften ganz anders haften und zusammenhängen, als die Merkmale oder Teilvorstellungen an dem Beg r iff der Sache«. ([Hermann Lotze:] Mikrokosmus 4. Aufl. [Leipzig] 1888 [Bd.] III, 542, 206, 213.) Aber freilich hat er von verborgenen Zusammenhängen und Werten gesprochen, die innerhalb unseres Gedankenganges nicht erörtert werden können; ob es überhaupt in der Wirklichkeit innere Beziehungen gibt, A

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die nun unseren Vorstellungen, Begriffen, Urteilen, Schlüssen ent[s]prechen mögen oder diesen logisch-wissenschaftlichen Formen völlig inadäquat sind, das soll und braucht hier nicht erwogen zu werden. Sicher ist mir, daß weder die objektive theoretische Erkenntnis, noch die subjektive künstlerische Formung solche Fragen zu beantworten haben. Denn die Grundüberzeugung, daß hinter den Erscheinungen eine Geisteswelt walte, ist weder eine beweisbare Lehre noch eine spezifisch künstlerische Auffassung. Erst an zweiter Stelle stehen Wissensdrang und Bildstreben. Der Wissensdrang führt nicht in die höhere Heimat des Menschen: wer das innerste Wesen des Seienden zu enthüllen wünscht, muß wie Faust – den Schelling als Verkünder der Identitätsmetaphysik willkommen hieß A – die Wissenschaft zur Seite werfen. Sieht er nicht die Hand, die religiöse und philosophische Weltanschauung ihm bieten, so wird er sich der Zauberei verschreiben oder dem geistigen Nihilismus verfallen. Die Ver standeswissenschaft steht Rätseln kühl gegenüber: sie arbeitet gelassen an ihnen fort oder weist ihre Unlösbarkeit nach und erklärt sie eben damit für erledigt. Diese Haltung ist nur denkbar, indem die Forschung an der ihr notwendigen Einseitigkeit festhält. Daher, wenn wir so oft von wissenschaftlicher Objektivität hören, dürfen wir nicht an eine Beteuerung des profanen Erlebens denken. Diese »Objektivität« besteht keineswegs in parteiloser Hinnahme der Tatsachen, sondern in einem Verhalten, das neben anderem auch die natürlichsten Gefühlsbeziehungen zum Objekt abtötet und demnach nicht selten, z. B. beim medizinischen Menschenexperiment, zu grausamer Rücksichtslosigkeit führt. Immer wieder sagt man uns: die exakte Wissenschaft liefere Wirkliches. Wir wollen hiergegen nicht einmal geltend machen, daß ja die Beziehungen jedes Gegenstandes zur Allseitigkeit des Naturgegebenen und zum einzelnen Erlebenden fortfallen müssen. Sondern, um beim Einfachsten zu bleiben, fragen wir: Sind etwa die Empfindungskomplexe der Psychologie das, was wir in uns beobachten und was ohne Frage das Wirkliche ist? Haben die Atome der Physik Farbe und Geruch? Nein, sondern alle diese Erklärungsbegriffe sind Umbildungen des unmittelbar Erfahrenen. Die gesamte wissenschaftliche Tätigkeit ist eine Summe von distinctiones rationis. Wie jeder Punkt auf der Oberfläche eines Körpers in eine Umrißlinie eintreten kann und somit für den Zeichner unendlich viele Möglichkeiten entstehen, so entspringen auch aus jeder Erfahrung zahllose Möglichkeiten rein begrifflicher Unterscheidungen und Einordnungen. Der logische Charakter der wissenschaftlichen Unter scheidungen bekundet sich bereits bei der sogenannten elementaren Analyse, denn auch bei ihr werden die Teilerscheinungen durch denkende Bearbeitung festgelegt – sonst wäre sie ja ein rohes Zerstückeln. In einem derartigen Zerlegen und Begrenzen offenbart sich die Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: »Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums« (1803). In: Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings sämmtliche Werke. Hrsg. von Karl Friedrich August Schelling. Abt. I, Bd. 5. Stuttgart und Augsburg 1859, S. 207–352, hier S. 326 (11. Vorlesung). A

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eigentümliche Fähigkeit des echten Forschers; wie könnte er jemals wagen, so die Einheit des Lebens auszudrücken wie große Künstler es mit wenigen Rhythmen getan haben! Ist doch seiner Zergliederung nicht nur die Schönheit, sondern auch die künstlerische Wahrheit der Dinge zum Opfer gefallen. Er mag von jenem Endziel träumen, erreicht indessen immer nur auf kleinen Strecken und in ganz anderen Dimensionen eine rationale Verbindung des analytisch Gefundenen. Dies nämlich ist das Zweite. Wenn begrifflich zerlegt worden ist, dann können und sollen die Elemente in eine gleichfalls begriffliche Ordnung gebracht werden: »nisi in ordines redigantur et velut castro rum actes distribuantur in suas classes, omnia fluctuari necesse est«, sagt Caesalpinus mit einem treffenden Bilde A (von dem freilich, um genau zu bleiben, alles Anschauliche abgezogen werden müßte, denn die Schlachtreihen der Wissenschaft stehen außerhalb der Erscheinungswelt). Die rationale Anordnung und Verknüpfung einfacher Bestandteile bildet den Abschluß jeder ausgereiften Wissenschaft Dabei kommt es wesentlich an auf den logischen, künstlichen Charakter der Beziehungen. Schellings Naturphilosophie ist an manchen Stellen so tief unwissenschaftlich, weil die vorhergehende Analyse fehlt und namentlich weil die Verwandtschaft anschaulicher Merkmale zur Reihenbildung benutzt wird. Die reine Wissenschaft verwendet nicht sichtbare Ähnlichkeit, sondern logische (bisher meist kausale) Zusammengehörigkeit zur Herstellung der dem Denken notwendigen Kontinuität; die vier Sätze: in mundo non datur hiatus, non datur saltus, non datur casus, non datur fatum vereinigen sich alle »lediglich dahin, um in der empirischen Synthesis nichts zuzulassen, was dem Ver stande und dem kontinuierlichen Zusammenhange aller Erscheinungen d. i. der Einheit seiner Beg r iffe Abbruch oder Eintrag tun könnte«. ([Immanuel] Kant, Kritik der reinen Vernunft, [Karl] Kehrbachs Ausg. [Leipzig 1878] S. 213.) [. . .] Über die Eigentümlichkeit, die alle Kunst bei ihrer Umformung des Gegebenen zeigt, kann ich mich kürzer fassen, da im Laufe des Buches genugsam davon gesprochen worden ist. Daß die Kunst im Gegensatz zur Wissenschaft die Erfahrungswelt bejaht oder vielmehr sie mit dem einen oder anderen Teil ihrer Eigenschaften in neuartige Gebilde aufnimmt, daß sie Gebärden, Klänge, Worte, Raumformen gelten läßt, eben dies ist ja ein Hauptgegenstand der Darstellung gewesen. Dabei wird jedoch der sinnliche Stoff zu anderen Möglichkeiten frei verbunden, und diese Möglichkeiten sind nicht ein bloßes Hilfsmittel, sondern ein Endergebnis. Sie unterscheiden sich von dem launischen Spiel der individuellen Einbildungskraft durch eine in ihnen mächtige Notwendigkeit [. . .]. Man kann sie als anschauliche Notwendigkeit [. . .] und als das Apriori der Kunst bezeichnen. Kant hat gezeigt, daß die vorbewußten Anschauungsformen Verbindungen erlauben, die nicht logisch und trotzdem zwingend sind: dasjenige, worauf ich mich stütze, wenn ich ohne Hilfe der Erfahrung zu einem Subjektbegriff etwas Neues allgemeingültig A Andrea Cesalpino: De plantis libri XVI. Bd. 1. Florenz 1583, Vorwort (o.P.). – S. a. Carl von Linné: Genera Plantarum. Zweite, überarbeitete Auflage Leiden 1742 (11737), S. I.

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hinzufüge, z. B. von zwei geraden Linien aussage, sie haben nur einen Schnittpunkt, das ist die Gesetzmäßigkeit der menschlichen Raumauffassung. Die Notwendigkeit eines solchen Urteils ist nicht begrifflich, sondern anschaulich. Ihr scheint die Sicherheit des künstlerischen verwandt. Die unbedingte Überzeugungskraft, mit der der Maler zu einer bestimmten Stirn eine bestimmte Nase hinzufügt, beruht auf keinerlei Denkgesetz; der Zwang, einen Akkord so und nicht anders aufzulösen, bleibt innerhalb der Sinnenfälligkeit. Allerdings aber läßt sich hier auch das Gegenteil herstellen, während wir die zwei Geraden nimmermehr zu zwei Schnittpunkten bringen. Demnach wäre zu sagen: Die verpflichtende Kraft jener Linienführung oder Akkordauflösung erhält ihre Würde durch sich selbst und nicht dadurch, daß sie als überall befolgt nachzuweisen wäre. Sofern wir von Unbedingtheit reden, meinen wir den berechtigten Anspr uch auf allgemeine Geltung. Das Beiwort »anschaulich« hat seine Bedenken, weil es auf die Wortkunst nicht eigentlich angewendet wenden kann. Es bezeichnet aber dien gemeinten Gegensatz zur logisch-begrifflichen Ordnung so schlagend, daß es durchschlüpfen mag. Das nun zu erörternde Merkmal des künstlerischen Verhaltens, nämlich seine synthetische Kraft, dürfte auch strenger Beurteilung standhalten. Natürliches wie geschichtliches Leben sind grenzenlos und ungegliedert, sie zwingen des Fadens ewige Länge gleichgültig drehend auf die Spindel: erst die Kunst faßt die Erfahrungstatsachen zu konkreten Gruppen zusammen und verleiht ihnen dadurch den Einklang, der uns entzückt. Wer teilt die fließend immer gleiche Reihe Belebend ab, daß sie sich rhythmisch regt? Des Menschen Kraft, im Dichter offenbart (Faust, Vorsp[iel] auf d[em] Theater.)

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Dieser Sachverhalt schließt in sich ein, daß der künstlerisch wirksame Gegenstand durch sich allein wirkt. Das erlebte und das wissen schaftlich umgeformte Objekt bedürfen der Beziehung zu anderen Dingen, das Kunstwerk hingegen steht auf sich selbst allein. Wenn zum Genuß eines Tonstückes oder Dramas oder Gemäldes etwas nötig ist, was außerhalb ihrer liegt, so handelt es sich um eine Komplikation. Dagegen bedeutet die Vereinigung zum Ganzen keineswegs die Ablehnung jeder Zergliederung. Sie geht vielmehr oft genug durch diese hindurch. Denn gerade aus der Zerlegung kann die sichtbarste Verbindung erwachsen. Die Irrlehre ist weit verbreitet, daß Wissenschaft und Kunst, schwesterlich Hand in Hand, nach demselben Ziele wandern: dorthin, wo die ewigen Gesetze und letzten Gründe ruhen. Das tatsächliche Verhältnis ließe sich in einer ähnlichen Vergleichung etwa so andeuten: Bisweilen kehren sie sich den Rücken und streben verschiedenen Zielen zu, bisweilen jedoch umarmen sie sich so fest und innig, daß es aufmerksamen Hinblickens bedarf, um zu erkennen, welcher der beiden Schwestern diese Hand oder jener Fuß zukommen. Zu dem Gegensatz zwischen Wissenschaft und Kunst – den der Leser an dem Unterschied zwischen anato-

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mischer Beschreibung und künstlerischer Darstellung des Nackten sich schnell in Erinnerung rufen kann – gehört als Ergänzung der unwillkürliche und schier unlösbare Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Kunst. Ein solcher Zusammenhang besteht in der Geschichtschreibung. Die historische Überlieferung ist nicht auf die unanfechtbaren, die wissenschaftlich stichhaltigen und die der bloßen Kunde dienenden Zeugnisse beschränkt, sondern schließt Heldensage und epische Dichtung ein, da beide an große Ereignisse anknüpfen und einen geschichtlichen Kern haben. Am schönsten zeigen die Wandersagen den Einfluß des poetischen Ersinnens auf die volkstümliche Geschichtsauffassung, und die germanischen Epen das unbewußte Eingreifen der Phantasie in der Verschmelzung mythischer mit geschichtlichen Personen. Daß manche moderne Historiker alle geschichtlichen Bewegungen an große Männer gebunden sehen, ist nicht nur ein künstlerischer Zug, sondern auch ein Überbleibsel aus den Tagen der Heldensage; gerade bei ihnen findet sich öfters die idealisierende Auffassung dessen, der »seiner Väter gern gedenkt«. Doch wohlgemerkt: das Verhältnis des Geschichtschreibers zu seinen Helden gleicht in einem Hauptpunkt dem des Dichters zu seinen Modellen. Die Menschen von Athen und Florenz strecken uns keine warme Hand entgegen – Schatten sind sie, durch unser eigenes Blut belebt; die Lebendigkeit, die sie haben, ist dramatische und nicht natürliche Lebendigkeit. – Recht eigentlich in der Mitte zwischen geschichtlichem Bericht und dichterischer Offenbarung stehen dem Inhalte nach Autobiographien, wie die Confessio nes, Vita nuova, Wahrheit und Dichtung. Ein chronikartiger Bericht aller möglichen Erlebnisse würde weder wissenschaftlichen noch künstlerischen Wert besitzen; jener liegt in der Wahrhaftigkeit, die auch vor Angabe unpoetischer Lebensstörungen nicht zurückschreckt, sowie im Nachweis wesentlicher Beziehungen zwischen dem Ich und den physisch-geistigen Umständen, dieser beruht auf Auswahl und Anordnung der Schicksale und auf ihrer Umformung zu Bildern, die schließlich aus der subjektivsten Einseitigkeit zur Totalität sich erweitern können. Auf eine andere Verbindung zwischen Wissenschaft und Kunst sei bloß hingedeutet. Ich meine die vollbewußte Umwandlung wissenschaftlicher Erkenntnisse in künstlerische Darbietungen; die Illustrationen zu gelehrten Werken, die Schaustücke der sogenannten wissenschaftlichen Theater, die Memorialverse der lateinischen Grammatik können ebensogut hierher gerechnet werden wie die wissenschaftlichen Romane eines Jules Verne oder die Fabeln Aesops. Trotzdem bleibt die Kunst als eine selbständige und selbstwertige geistige Funktion neben der Wissenschaft bestehen. In Robert Schumanns Kinderszenen findet sich ein Stückchen mit der Überschrift: Der Dichter spricht. Wahrlich, so spricht er: Anfang und Ende schließen sich zusammen; Selbstversenkung tönt aus der fallenden Melodie; Aufschwung folgt trotz disharmonischen Widerständen; beruhigt in der reinen Anschauung kehren wir in uns selber zurück.

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2. Die gesellschaftliche Funktion.

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Die Selbständigkeit der Kunst scheint freilich in Frage gestellt, sobald man die Aufmerksamkeit auf ihre Verrichtung innerhalb der Gesellschaft sammelt. Wir bezeichneten früher die Kunstausübung der Kinder als eine besondere Lebensund Lustform des jugendlichen Geistes, wir sahen, daß die primitive Kunst schier untrennbar mit Besitz und Nutzen, Anlockung und Abschreckung, Schutzbedürfnis und Anschlußbedürfnis, Mitteilung und Belehrung, Aberglauben und Krieg verschmolzen ist. Wo also liegt bei diesen Frühformen der Kunst die Grenzlinie zu den übrigen sozialen Vorgängen? Die Antwort scheint gegeben: In den ästhetischen Bestandteilen. Umso sicherer kann diese Antwort erfolgen, als festgestellt wurde, daß ästhetische Freude an sinnlichen Reizen sowie an den Formen der Symmetrie und des Rhythmus zu den ursprünglichen Hausgesetzen der Kunst gehört. Dennoch darf zweierlei nicht außer Acht gelassen werden. Einmal der oft erörterte Unterschied des Kunstwerkes und eines bloß ästhe tischen Gebildes. Alsdann der Umstand, daß nicht jede Beimengung ästhetischer Momente zu anderen Erzeugnissen diese Erzeugnisse in Kunstwerke umwandelt. Allerdings sind die trennenden Merkmale verschiebbar nach der Gunst der Zeiten und der Individuen [. . .]. So wird man zweifeln können, ob die Tracht, in deren Gestaltung und Veränderung immerfort ästhetische Motive eindringen, gelegentlich als Kunstwerk zu bezeichnen oder ausnahmslos als ein ästhetisch beeinflußtes Gebilde anderer Art zu bewerten sei; natürlich spreche ich nicht von der tyrannischen Einförmigkeit der Mode, sondern von Gewändern, die der erlesene Geschmack eines ganz persönlichen Empfindens hergestellt hat. Denn hierbei wie bei aller Ausschmückung strebt der einzelne nach Wirkung auf die übrigen und kehrt zu einer der ältesten Kunstabsichten zurück. Trotzdem geht William Morris 2 zu weit, wenn er jede Leistung und jedes Erzeugnis, denen eine ästhetische Wendung verliehen wird, zur Kunst schlägt. Kunst meint nicht eine beliebige Verkoppelung des Brauchbaren oder Lehrhaften mit dem Ästhetischen, sondern jene feste und eigentümliche Verschmelzung deren Formen im geschichtlichen Werden herausgebildet worden sind. Wie gegen die übermäßige Ausdehnung des Begriffes Kunst, so walten gegen die Umsetzung dieser Begriffserweiterung in die Praxis erhebliche Bedenken. Mit dem jetzt so stürmisch sich äußernden Verlangen, die Kunst aus einem Vorrecht weniger zu einem Besitz aller zu machen, verbindet sich der Wunsch, daß die Kunst auch aus einer anderen Abgeschiedenheit heraustrete, daß sie nicht in Museen und Büchersammlungen, in Luxustheatern und Konzertsälen sich absperre, sondern überall mit unserem alltäglichen und häuslichen Leben verknüpft werde. Der Grundsatz, Kunst in alles hineinzutragen, hat in England den Umschwung des dekorativen Stils hervorgerufen: »Unsere Werkleute müssen Künstler, unse2 W[illiam] Morris, Kunsthoffnungen und Kunstsorgen. Bd. I: Die niederen Künste; II: Die Kunst des Volkes. Deutsch, [Leipzig] 1891 [recte: 1901].

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re Künstler Werkleute werden«, sagte der Sozialist Morris. Da Maschinenarbeit durch den Mangel persönlichen Anteils und die Gleichförmigkeit vieler Exemplare minderwertig wird, so soll auch der einfachste Handwerker Kunst produzieren; ja, selbst wir künstlerisch Untätigen werden zu eigenen Versuchen aufgefordert. Ein deutscher Ästhetiker behauptet sogar, »daß Kunst erst wirklich Kunst ist, wenn sie als künstlerische Bildung jeden Handgriff jedes Gelehrten, jedes Baumeisters, jedes Schusters, Bauern und Arbeiters leitet und bestimmt«.A Der Versuch, alles, was menschlicher Beeinflussung unterliegt, künstlerisch zu gestalten, hat die angewandten Künste gefördert und für kleinere Talente ein Betätigungsfeld geschaffen. Die Theorie hat daraus gelernt, daß die äußere Größe und konventionelle Bewertung der Werke nicht ausschließlich entscheidet, daß eine Zierleiste nicht minder bedeutsam sein kann als ein Kolossalgemälde. Aber diesen Vorteilen stehen schlimme Nachteile gegenüber. Im wirtschaftlichen Leben hat die Kunstausdehnung einen verhängnisvollen Dilettantismus großgezogen. Ein weise beschränkter Dilettantismus mag sich nützlich zeigen; Goethe meinte, daß er »eine notwendige Folge schon verbreiteter Kunst sein und auch eine Ursache derselben abgeben, das Kunsttalent entwickeln, das Handwerk heben kann«.B Dilettare heißt liebhaben und bedeutet, dem Gemüt durch eigene Betätigung Freude an der Kunst zuführen. Sobald jedoch dem Dilettanten das Bewußtsein entschwindet, daß seine gut gemeinte Leistung nur bis an die Grenze echter Kunst reicht, wird ein leidiger Hochmut gezüchtet. Auch neigen die Amateure dazu, die Kunst als ein Hausmittelchen des Wohlbehagens zu betrachten und den Berufskünstlern eine wirtschaftliche Konkurrenz schlimmster Art zu bereiten. Dazu kommt eine Verfälschung der Auffassung. Wenn unter Wert Eigenwert d. h. Unterschiedensein vom übrigen oder verhältnismäßige Seltenheit zu verstehen ist, so muß die Durchdringung des ganzen Lebens mit Kunst dieser selben Kunst ihren Sonderwert rauben. Wir sprachen bereits davon, als wir die Begriffe der Kallikratie und des Panästhetizismus kennen lernten. Die Gefahr liegt nahe, daß die Unterscheidung zwischen wichtig und unwichtig verloren geht und die Kunst als eine selbständige Funktion im gesellschaftlichen Leben überflüssig wird. Derjenige, der in einer Krawatte oder in einem Tapetenmuster genügend Kunst findet, braucht nicht mehr ins Museum zu pilgern. In Wahrheit gilt von Kunst wie von Wissenschaft und Religion, daß sie eine Kraft ist, die im Gemeinschaftsverbande nicht unbeschränkt herrschen, sondern ein Gleichgewicht mit den anderen Kräften erreichen soll. Die gesellschaftlichen Verrichtungen sind heutzutage so selbständig, daß ein Aufgehen ineinander dem Verzicht auf alle Kultur gleichkäme. Es wäre ferner ein Mißverständnis, wollte man dem Künstler eine der Allgegenwart der Kunst Lothar von Kunowski: Schöpferische Kunst. Leipzig 1902 (= ders.: Durch Kunst zum Leben. Bd. 2). S. 24. B J.W. von Goethe: »Über den sogenannten Dilettantismus oder die praktische Liebhaberei in den Künsten « (1799). In: Goethes Werke. Abt. I, Bd. 47. Weimar 1896, S. 299–326, hier S. 302. – S. a. Alfred Lichtwark: Aus der Praxis. Berlin 1902, S. 108. A

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entsprechende göttliche Vollständigkeit beilegen. Der Künstler gehört seinem Berufe mit der gleichen Einseitigkeit an, mit der wir alle an unseren Beruf gebunden sind. Nun versucht in der Gegenwart die Kunst nicht nur, sich aller Objekte, sondern auch aller Subjekte zu bemächtigen. Das heißt, man strebt danach, alle Volksklassen und Lebensalter mit denselben Segnungen der Kunst zu beglücken. Hierzu muß Stellung genommen werden. Und zwar wäre, um dem Problem auf den Grund zu gehen, etwa folgendes zu fragen: Verbindet oder trennt Kunst die Menschen? Gleicht sie Gegensätze aus oder verschärft sie diese? Ist sie demokratisch oder aristokratisch? Bedeutet sie eine Notwendigkeit oder einen Luxus? Soll sie die gleiche sein für alle oder darf es für die Masse wie für die aufwachsende Jugend eine besondere Art von Kunst geben? Ich will nicht mit pedantischer Genauigkeit diese Fragen eine nach der anderen abhandeln, aber doch die wichtigsten Punkte herauszuheben mich bemühen. Darwinistisch gesonnene Theoretiker haben behauptet, daß künstlerisches Genießen und Schaffen, aus überschüssiger Lebenskraft entsprungen, die Gattung erhalten helfe. Kunstgenuß versetze in einen harmonischen Gemütszustand, der für die Dauerhaftigkeit des einzelnen und der Gemeinschaft äußerst nützlich sei. Kunstschaffen stehe nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Wirkung auf die Menschen, sondern sei geradezu eine Form der Mitteilung und hierdurch eine Form menschlicher Gemeinsamkeit. Die Austauschfähigkeit seelischer Vorgänge erhöhe sich im Kunstwerk zum köstlichsten Einverständnis, das einer Berührung zwischen den Individuen nicht bedarf. In dieser Auffassung erscheint als Herzpunkt sowohl der Kunst wie des sozialen Lebens die Mitteilung. Die Kunst, so sagte uns Heinrich von Stein gern in seinen Vorlesungen über Richard Wagner [. . .], gibt einen Begriff davon, was Menschen sich sein können. Indem der Genießende mit dem sich offenbarenden Künstler fühlt, schließt er sich mit ihm und vielen anderen, die ihm sonst fremd bleiben, zu einer höheren Einheit zusammen. Die so erzeugte einheitliche Stimmung kann praktischen Wert erhalten. So meinte es Gneisenau, als er seinem Könige zurief: auf Poesie ist die Sicherheit der Throne gegründet; ähnlich dachte Treitschke, als er aussprach, daß Goethe keinen geringeren Anteil an der Gründung des neuen deutschen Reiches habe als Bismarck. Bei allen freudigen und traurigen Anlässen, die eine Mehrheit bewegen, schlingt sich Musik wie ein Band um die Versammelten – namentlich auch religiöse und vaterländische Begeisterung entzündet sich an der Musik. Bildende Kunst dient oft dazu, durch Erinnerung an nationale Ehrentage die Volksgesinnung zu stärken oder durch Erinnerung an Unglück und Demütigung die Angehörigen desselben Stammes zu sozialisieren. Menzels beste Bilder gleichen einem Fahnensaal; wer eins dieser Blätter zerstört, zerreißt eine preußische Fahne. Dieser Anschauung entspricht gewöhnlich eine sehr hohe Vorstellung vom Werte des Massenurteils. Während die Gegner in den Vielzuvielen eine Herde sehen, die mit der Peitsche in der Hand regiert werden muß, bewundern die Anhänger des demokratischen Grundsatzes die Aufhöhung mittelmäßiger Intelligenzen zu

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einer erstaunlichen Feinfühligkeit 3. Sie erachten die Kunst, die nur wenigen zu gute kommt, für einen bloßen Ausfluß der Spielseligkeit und neigen dazu, echte Kunst mit Volkskunst gleichzusetzen. In England und Amerika, wo alle höheren geistigen Tätigkeiten dem öffentlichen Leben entschiedener untergeordnet werden als bei uns, sind zuerst die Kunstkritiker zu Gesellschaftskritikern geworden und haben den Kapitalismus als die Quelle alles Übels bekämpft. Doch ist es der Russe Leo Tolstoj, der mit den schärfsten Worten die Unterordnung der Kunst unter die Ansprüche der Masse vertritt. Ich kann es mir nicht versagen, einige Stellen aus seiner Schrift »Über die Bedeutung der Wissenschaft und Kunst« A herzusetzen, die ihre Widerlegung in sich selbst tragen und eine ausführliche Zurückweisung unnötig machen. Tolstoj lehrt: »Die Wissenschaften und Künste werden erst dann dem Volke dienstbar sein, wenn ihre Jünger mitten unter dem Volke und so wie das Volk leben und ihm, ohne irgend welche besonderen Rechte geltend zu machen, ihre wissenschaftlichen und künstlerischen Dienstleistungen darbieten werden, die anzunehmen oder nicht anzunehmen vom Willen des Volkes abhängen wird. Das Produzieren von gelehrten Werken und Romanen kann so lange nicht als Wissenschaft und Kunst betrachtet werden, als nicht diejenigen Menschen, in deren Interesse wir vorgeblich alle diese Dinge betreiben, sie mit Freuden entgegennehmen. . . . Man sage einem unserer Musikkünstler, daß er auf der Harmonika spielen und die Bauernweiber Lieder lehren solle; man sage einem Dichter, daß er seine Poeme und Romane beiseite werfen und statt dessen Lieder, Geschichten und Sagen dichten solle, die dem ungebildeten Volke verständlich sind – sie werden einfach denjenigen, der ihnen solche Dinge zumutet, für verrückt erklären.« Mindestens müßte alles, was wir jetzt im eigentlichen Sinne Kunst nennen, als eine Vergeudung von Menschenarbeit erscheinen, und jeder kann sich ausmalen, was bei der Anwendung dieser Grundsätze von der Kunst noch übrigbleiben würde. Man hat so oft behauptet, die Kunst entarte, sobald sie sich vom Volke abschließt; aber mir scheint: wenn sie sich dem Volke opfert, so geht sie völlig zu Grunde. [. . .]

Dieser Gegensatz der Auffassungen durchzieht die Psychognosis der Masse überhaupt. Sehr lehrreich ist Bismarcks Schilderung des Parlamentes: »Die Leute sind, einzeln betrachtet, zum Teil recht gescheit, meist unterrichtet, regelrechte deutsche Universitätsbildung, aber von der Politik, über die Kirchturminteressen hinaus, wissen sie so wenig wie wir als Studenten wußten, ja noch weniger, in auswärtiger Politik sind sie auch einzeln genommen Kinder; in allen übrigen Fragen aber, sobald sie in corpore zusammentreten, massenweis dumm, einzeln verständig.« Bismarckbriefe, herausg. von H[orst] Kohl, 6. Aufl., [Bielefeld und Leipzig] 1897, S. 269. 3

A Leo Tolstoi: Die Bedeutung der Wissenschaft und der Kunst. Übers. von August Scholz. Dresden und Leipzig 1891.

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3. Die sittliche Funktion. Kunst als Verschmelzungsprodukt ästhetischer Gestaltungskräfte mit Inhalten und Forderungen, die auf anderen Gebieten erwachsen sind, hat auch zu sittlichen Ansprüchen und Grundsätzen die innigsten Beziehungen. Unsere Ästhetik verfällt leicht in denselben Fehler, den einige Nationalökonomen der Ricardo-Schule begangen haben: Wie diese einen Menschen sich ersannen, der ausschließlich von wirt schaftlichen Erwägungen bewegt wird, der nur möglichst billig einkaufen und möglichst teuer verkaufen will, und wie sie dies künstliche Gebilde ganz ernsthaft als den Menschen der Wirklichkeit auffaßten, so konstruiert unsere Wissenschaft einen homo aestheticus, der selbst unter den Anhängern des Schlagwortes L’art pour l’art nicht zu finden ist. Kunstwerke entstehen aus der Vollkraft eines Menschen und wenden sich an alle Seelentätigkeiten des Genießenden; sie werden mit dem Übermut des Narren entworfen und mit der Ruhe des Weisen ausgeführt; sie erschüttern das Gefühl und lassen die Klarheit des Geistes ungetrübt; sie erregen und besänftigen; sie stehen außerhalb und innerhalb des Lebens. Aus dieser Gegensätzlichkeit, die durch keine Formel ausgeglichen werden kann, ergeben sich Schwierigkeiten für Staatsverwaltung und Erziehung, insofern sie die sittlichen Verhältnisse zu beaufsichtigen haben. Künstler und Ästhetiker wehren sich zumeist gegen das Zensorrecht des Beamtentums, weil es einen der Kunst fremden Maßstab anlegt. Die teils lächerlichen teils traurigen Mißgriffe der Zensoren im einzelnen wären noch zu verwinden, aber die Grundsätze, die jeden Personenwechsel überdauern, sind in der Tat bedenklich: die Behörde pflegt Machwerke, die mit allem Sittlichen ein freches Spiel treiben, wohlwollend zu schonen und ihre Schärfe gegen wirkliche Kunstleistungen zu kehren, sie ist mißtrauischer gegen die Unerbittlichkeit eines ehrlichen Naturalismus als gegen die Gemeinheit der Geschäftsspekulanten. Dennoch kann nicht bestritten werden, daß der Staat, als im Dienste der sittlichen Idee befindlich, eine Regelung aller in seiner Organisation vorhandenen Tätigkeiten bis zu einer gewissen Grenze beanspruchen darf. Ebenso hat der Erzieher, der Vater wie der Lehrer, ein Recht, innerhalb eines gewissen Umfanges das moralisch Zweifelhafte vom Kinde fernzuhalten. Der Einwand, dem Reinen sei alles rein, ist töricht genug. Was man gewöhnlich als Gedankenreinheit preist, ist nur Gedankenlosigkeit; aufgeweckte Kinder werden naturgemäß über Dinge Aufklärung verlangen, die ihnen in Bild oder Wort zum ersten Male näher treten. Immerhin dürfen wir nicht alles, was Fragen und Bedenken hervorrufen kann, ängstlich aus dem Gesichtskreis der Aufwachsenden entfernen; junge Menschen gehen selten aus der Unberührtheit ohne weiteres in einen Zustand massiver Tugend über. Vielmehr müssen wir zur rechten Zeit solche künstlerischen Eindrücke herbeiführen, durch die die bedrängenden Zweifel auf eine höhere Ebene versetzt, die Schwierigkeiten sogleich in der edelsten Form aufgezeigt werden. Das allgemeinere Problem, das den Beziehungen zum Staatsleben und zur Erziehung übergeordnet ist, wird manchmal mit einer lässigen Handbewegung zur

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Seite geschoben. Man sagt etwa: die Kunst sei sich selbst Zweck, ihr Reich sei das der reinen Anschauung und gänzlich vom Reich des Willens getrennt, aus dem die Handlungen und ihre sittlichen Werte stammen. Aber damit verschwinden diese Werte oder Unwerte nicht aus dem Inhalt des künstlerischen Erzeugnisses. Vorgänge, über deren Unsittlichkeit alle Welt einig ist, werden doch ohne jede Entschuldigung dargestellt, und diese Darstellung wird als berechtigt anerkannt, sobald sie vom Zusammenhang des Ganzen gefordert und in ihn eingeschmolzen ist. Ferner bleiben die Menschen beim Schaffen und Genießen im wesentlichen dieselben, die sie sonst sind. Die Bilder wirken weiter, drängen sich als bewußte Vorstellungen oder unbewußte Nachklänge in Stimmungen und Gedanken ein. Oder sollte es anders liegen? Sollte es wahr sein, wie ein pessimistischer Dichter behauptet hat, daß selbst die schönsten Träume, die edelsten Wünsche nicht einen einzigen Zoll hoch zum Wachstum des Menschengeistes beitragen? Höchst verfeinerte Künstler mögen mit Ibsens Rubek A (»Wenn wir Toten erwachen«) den Gegensatz zwischen der Kunst und dem blühenden Leben so stark empfinden, daß sie an keine Rückwirkung von jener auf dieses glauben können. Ähnlich geartete Naturen mögen ein Kunstwerk in seiner vollen Stärke genießen, ohne im geringsten ihre Lebensauffassung oder gar ihre Lebensführung dadurch beeinflussen zu lassen. Im allgemeinen jedoch dürfte es sich nicht so verhalten. Wie das Kunstwerk wohl etwas anderes ist als die Wirklichkeit und trotzdem aus ihren Elementen seine Kraft zieht, so ist die Wirkung des Kunstwerks wohl etwas anderes als eine tendenziöse und sichtbarlich nachzuweisende Beeinflussung der Willenshandlungen und trotzdem eine Bereicherung und Erhöhung des ganzen seelischen Seins (oder das Gegenteil). Der immer vorhandene Rahmen schließt doch nicht völlig ab, die Insel der Kunst steht im Verkehr mit dem Festland unseres täglichen Daseins. Allerdings wird durch Beethovens Pastoral-Sinfonie ein Großstädter schwerlich zum Schwärmer für das Landleben gemacht werden. Aber zumal auf den unteren Stufen künstlerischer Empfänglichkeit kann der Einfluß der Kunst Stimmungen und Anschauungen ändern. Beim Kinde haben oft die Gebilde der Phantasie dieselben Folgen wie die Erlebnisse der Wirklichkeit [. . .], und man versteht manche seiner Gedanken oder Handlungen erst von diesem Ursprung her. Wenn unsere jungen Damen sich so leicht in Tenöre und Darsteller des Karl Moor vernarren, so unterliegen sie den Nachwirkungen künstlerischer Eindrücke. Und um Höheres zu streifen: es vermag der Anblick der von Menschen geschaffenen Schönheit uns in einer lange nachhallenden Ergriffenheit zu entlassen, die milde und ruhig macht; der Humor vermag dauernd zu trösten und zu versöhnen; das Tragische vermag aufzurütteln und ins Größere zu steigern. Wo immer die überredende Kraft der Kunst sich mit der heischenden Kraft des Guten verbündet, da kann ein bleibender Erfolg eintreten. Es besteht eine Wechselwirkung: sittliche Forderungen gebrauchen mit Recht die Hilfe der Kunst, und die Kunst verwendet jene Forderungen als einen ihrer Inhalte. Oft schreitet sie, mit ihrer Fülle, Freiheit A

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und Biegsamkeit, der Entwicklung voraus und kündet die Moral der Zukunft an. Nicht der übermäßigen Darstellung von Edelmut und Frommheit soll das Wort geredet werden, denn das von Künstlerhand geleitete Eindringen in die Tiefen des Lebens dient ebenfalls der Versittlichung, weckt Verachtung der Gemeinheit, Unabhängigkeitssinn, Gefühl der Relativität aller Dinge. Wohl aber soll die Wohltat anerkannt werden, die mit dem Hinweis auf kommende Morgenröte und auf leuchtende Sphären der Gegenwart gewährt wird. [. . .] Und was vermag die Kunst dieser sittlichen Bestimmung des Menschen zu leisten? Sie zeigt, daß Äußeres und Inneres, Irdisches und Göttliches im tiefsten Grunde zusammenhangen. Nicht nur in Bezug auf unsere Auffassung, sondern an sich ist Einheit und Zweckmäßigkeit des Kunstwerkes ein Zeugnis für die durchdringende Kraft der Geistigkeit 4. Da jedes Werk, um den Geist zu erreichen, durch die Tore sinnlichen Vergnügens ziehen muß, da das Bild Freude fürs Auge, die Musik Wollust fürs Ohr enthalten muß, so fehlt nirgends der Erdgeruch unseres natürlichen Seins. Indessen das Sinnenleben gelangt hier in eine höhere Schicht hinauf, es wird so verklärt, daß es den der Läuterung widerstrebenden Charakter einbüßt. Wer von den Leistungsmenschen der Sinnlichkeit nicht ledig wird, der verwandelt sie in die hilfreiche Form der Kunst. Eben hierdurch vollbringt die Kunst dasjenige, worin Schiller die Aufgabe der ästhetischen Erziehung erblickte: sie führt die Sinnlichkeit und die Sittlichkeit zusammen. Indem das LeiblichSeelische von allen niederen Beisätzen befreit wird, gewinnt es die Möglichkeit, sich mit dem unbedingt Wertvollen zu vermählen. Das Doppelwesen des Menschen ist es, das die Aufgabe der Selbsterziehung erschwert. Schiller spricht von dem Gegensatz zwischen Trieb und Vernunft. Paulus sagt: Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Von Zeit zu Zeit fühlt auch der Erlesenste, wie er gleich Nebukadnezar auf allen Vieren kriechen und das Gras des Feldes abweiden möchte. Zwischen diesen beiden Seiten unseres Wesens, der tierischen und der göttlichen, scheint keine Verständigung denkbar. Dies aber ist die ungeheure ethische Kraft der Kunst, daß sie das Unmögliche hier möglich macht. Sie kann Sinnliches so vergeistigen und Geistiges so versinnlichen, daß beide Sphären aneinanderrücken. Selbst wenn der ersehnte Friede nicht eintritt, sondern ein blutiger Kampf entbrennt, so ist dieser doch herbeigeführt worden, weil die Gegner auf gleicher Ebene »Wir machen mit unseren rein ästhetischen Urteilen Ansprüche an eine eigene Gesetzgebung im Wesen der Dinge, und wenn wir diese im einzelnen nicht nach bestimmten Begriffen mit objektiver Gültigkeit auszusprechen vermögen, so setzen wir den Grund dieser nur subjektiven Bedeutung des Schönen und Erhabenen nicht dahinein, daß die Gesetze der Schönheit und Erhabenheit selbst keine objektive Realität hätten, sondern nur in unser subjektives Unvermögen, ihre objektive Bedeutung anders als ästhetisch anzuerkennen. Wir finden in der Tat auch die Welt dieser Gesetzgebung unterworfen. Denn Leben und Schönheit erscheinen uns an den Formen des Organisierten . . . Wir glauben an die ewige Wahrheit der Schönheit, wir glauben, daß die Ideen der ewigen Schönheit die urschöpferischen Bildner des Weltalls seien.« Ernst Friedrich Apelt, Metaphysik, [Leipzig] 1857, S. 684/5. – Ich brauche dem Leser, der mir bis hierher gefolgt ist, kaum zu sagen, daß ich nicht mit jedem Wort der angezogenen Stelle einverstanden bin. 4

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sich getroffen haben. Was vorher zwei verschiedenen Ausmessungen angehörte, das wird solcherart auf denselben Raumteil und so in eine wirkliche Verbindung gebracht. Die Kunst ist freilich nicht im stande, sogleich die Gegensätze zwischen dem Niederen und dem Höheren des menschlichen Wesens fortzuwischen. Es wäre schlimm genug, wenn sie es täte, denn sittlich wird man nur durch Kampf. Sie versüßt nicht die Bitterkeiten des Lebens, wie das Schöne und ästhetisch Reizvolle. Sondern sie ermutigt zur Ausübung aller Kräfte. Dank ihr, daß sie so Großes leistet. Die Bedürfnisse der gattungsmäßigen Natur halten auch den Vornehmen an der Erde fest. Und seine Sendung ist die, in die Höhenwelt hinaufzusteigen. Da kündet ihm die Kunst ihr letztes Wort, das auch unser letztes sei: Dein Leben werde Läuterung, transzendentale Umwandlung, Wachstum einer höheren Art von Wirklichkeit.

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Begrüßungsansprache zum ersten Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft

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[. . .] 6. Oktober [1913], nachmittags 6 Uhr, in der alten Aula der K[öni]gl[ichen] Universität. [. . .] Meine Damen und Herren! Im Namen des Ausschusses, der sich zur Veranstaltung des ersten Kongresses für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft gebildet hatte, begrüße ich Sie auf das herzlichste. Mit warmer und stolzer Freude stellen wir fest, daß unser Ruf lebhaften Widerhall gefunden hat, denn nun erst sind wir sicher, daß er zur rechten Zeit erfolgt ist. Am 21. März 1883 sprach Philipp Spitta in der Berliner Akademie der Künste von den Fragen, die uns am Herzen liegen. Da sagte er: »Es ist bis jetzt wohl kaum irgendwo versucht worden, die Vereinigung der verschiedenen Richtungen der Kunstwissenschaft zu einem selbständigen Ganzen in der wissenschaftlichen Welt und in der Gesellschaft zur öffentlichen Anerkennung zu bringen. Trotzdem wird dies in längerer oder kürzerer Zeit geschehen müssen.« A Erst heute, nach 30 Jahren, verwirklicht sich die Voraussage. Im Beginn unseres Jahrhunderts waren ästhetische und kunstwissenschaftliche Arbeiten so angewachsen, daß der Gedanke entstand, ihnen eine besondere Heimstätte zu gründen. Eine Zeitschrift wurde ins Leben gerufen, um Untersuchungen, die bis dahin verstreut gewesen waren, zu einer natürlichen Wirkungseinheit zu sammeln; in acht stattlichen Jahresbänden ist bisher der Ertrag niedergelegt. Als später in Berlin das Bedürfnis nach persönlichem Meinungsaustausch sich geltend machte, wurde eine »Vereinigung für ästhetische Forschung« gegründet, und in diesem kleinen Kreise erwogen wir während des Sommers 1912, ob nicht eine allgemeine Zusammenkunft der Ästhetiker und Kunstforscher ins Werk zu setzen sei. Ein Kongreß schien uns gewissermaßen in der Entwickelungslinie zu liegen. Wir übersahen nicht, daß ein solches Organisationsmittel nur von außen her in die Wissenschaft eingreifen kann, aber wir sagten uns auch, daß keine Wissenschaft sich durchweg von innen entfaltet und im gleichmäßigen Anschwellen. Als eine Umfrage die Zustimmung vieler führenden Gelehrten zu unserem Plan ergeben hatte, wurde ein großer Ausschuß gebildet und die Vorbereitung einigen in Berlin ansässigen Mitgliedern des Ausschusses übertragen. So ist die Tagung zustande gekommen. Sie alle, meine Damen und Herren, wissen, daß bisher auf unserem Gebiet weder Einigkeit noch Klarheit herrscht, und Sie werden erfahren müssen, daß A Vgl. Philipp Spitta: »Kunstwissenschaft und Kunst«. In: Ders.: Zur Musik. Sechzehn Aufsätze. Berlin 1892, S. 1–14, hier S. 3.

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wir manchmal aneinander vorbeireden. Hätten wir darum den Kongreß bis in die graue Zukunft verschieben sollen? Gewiß nicht! Gerade für die Zeit des Tastens und Suchens ist es nötig, alle Mitarbeiter zu sammeln, ihnen das Gesamtgebiet vor Augen zu stellen und sie durch das Bewußtsein einer Gemeinschaft in ihrer Tätigkeit zu fördern. Deshalb haben wir diesmal die Tore weit geöffnet und eine größere Zahl von Rednern zum Einzug aufgefordert, als unter andern Gesichtspunkten erwünscht erscheinen möchte. Ja, wir hoffen darauf, daß die Teilnehmer sich besonders gern die Vorträge aus den fremden Lagern anhören werden, um dem Zweck des Kongresses die rechte Verwirklichung zu schaffen. Personen wie Gruppen sollen aus der Vereinzelung befreit und dennoch ihrer Eigenart nicht entfremdet werden. Denn so sehr dieser Kongreß auf Einheitlichkeit angelegt ist, so sicher bleiben wir uns doch dessen bewußt, daß geistige Einförmigkeit den Tod für jede Wissenschaft bedeutet. Aus dem gleichen Bewußtsein heraus begrüßen wir den belebenden Zuwachs, der dieser von deutschen Gelehrten vorbereiteten Tagung dadurch zuteil geworden ist, daß andere Länder Europas bewährte Kämpfer zu unserm geistigen Turnier entsendet haben. Es berührt uns froh, ein buntes Fähnlein auswärtiger Gäste bei uns zu sehen. Mit dem Sänger des Hohenliedes sprechen wir zu den willkommenen Trägern fremdländischer Gelehrsamkeit: »Stehe auf, Nordwind, und komm, Südwind, und wehe durch meinen Garten, daß seine Würzen triefen!« A Herzlich und ehrerbietig ist der Dank, den wir der Staatsbehörde für ihr Wohlwollen sagen, der Leitung unserer Stadt Berlin für die Freigebigkeit, mit der sie uns unterstützt hat, den deutschen Hochschulen für die Abordnung bevollmächtigter Vertreter, dem Rektor unserer Universität für die Gewährung dieser Räume, in denen Sie, meine Damen und Herren, sich bald heimisch fühlen werden. Ihnen allen gilt unsere Erkenntlichkeit, weil Sie durch Ihr Kommen das Unternehmen ermöglicht haben, und zumal – kaum brauche ich es zu sagen – den Rednern des Kongresses. Von der weiteren Öffentlichkeit schließlich erbitten wir, daß sie unserer Arbeit freundliche Beachtung schenke. Die Achse des ganzen Unternehmens ist darin befestigt, daß die hier auszubreitende Forschung nutzbar werde für höhere Zwecke. Denn dieser Kongreß dient nicht etwa einem einseitigen Anliegen der Wissenschaft, sondern letzten Endes dem menschlichen Geistesleben überhaupt. Wir erhoffen eine weithin ausstrahlende Wirkung. Möge sie unserer Arbeit beschieden sein! [. . .]

A

Hohelied 4,16.

Eröffnungsrede zum ersten Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft

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[. . .] 7. Oktober [1913], vormittags 9½ Uhr [. . .] Meine Damen und Herren! Nachdem ich Ihnen gestern von der äußeren Vorgeschichte unseres Kongresses gesprochen habe, will ich heute versuchen, die inneren Kräfte nachzuweisen, die zu einer solchen Entfaltung geführt haben. Was sich als Gesamtarbeit des Kongresses vor unseren Augen vollziehen wird, ist zwar nicht die Begründung einer ganz neuen Wissenschaft, wohl aber eine neue Vereinigung von Bestrebungen gleichen Geistes. Und da das Werden einer Forschungsgemeinschaft von Selbstbesinnung begleitet sein muß, um mit der so erzeugten Klarheit die Dauerhaftigkeit zu erringen, so gebietet die Pflicht, die zugleich ein Vorrecht des Philosophen ist, ins Bewußtsein zu heben, welche Gemeinschaft in vielfältigen und anscheinend verschieden gerichteten Arbeiten lebt. Es wird sich überdies zeigen, daß aus dem Innersten aller Kunstwissenschaften philosophische Fragen hervordrängen und daß viele der gegenwärtigen Forscher sich einer Nötigung zum Philosophieren unterworfen finden. Die Ästhetik selber ist in den Mutterarmen der Philosophie aufgewachsen. Aber auch jetzt noch hat Philosophie das Recht, sich nach der Seite der Ästhetik zu betätigen, ohne deshalb von ihrem Wesen einzubüßen: der überall nach Bedeutung und Begründung des Gegebenen ausblickende Philosoph braucht von den ästhetischen Tatsachen das Auge nicht abzuwenden. Will er streng begrifflich dasjenige Sein erfassen, das als schön, häßlich, erhaben usw. auftritt, so muß er empirische Feststellungen (z. B. die Wohlgefälligkeit gewisser Farbenpaare) auf einen allgemeineren Begriff (etwa den der Harmonie) und diesen wieder auf ein umfassendes geistiges Verhalten (sagen wir: das der willensfreien, reinen Betrachtung) zurückführen. Durch diese allmähliche Reduktion auf allgemeinste Grundsätze kann der Zusammenhang der Einzelerkenntnisse hervortreten, und es mag ihnen häufig ein neuer Sinn gegeben werden. Insbesondere darf man hoffen, bei solchem Vorgehen die Verschiedenheit der großen Kulturformen Religion, Wissenschaft und Kunst ihrem letzten Grunde nach zu begreifen. Sind in jedem der drei Kreise besondere Kräfte am Werk, bilden unterschiedene Geisteshaltungen die Voraussetzung jener Kulturformen, so ist es wohl auch möglich, die Vernunftfunktion anzugeben, durch die der menschliche Geist das ästhetische Wertgebiet aufbaut. Gesetzt, es werde beim künstlerischen Genießen und Schaffen das Gegebene von der geistigen Funktion reiner Betrachtung umgrenzt und umgeformt, so ist damit nicht nur das ästhetische Verhalten vom religiösen und wissenschaftlichen abgehoben, sondern es ist auch der Grundzug bezeichnet, der das gesamte ästhetische Leben durchdringt. Indessen, aus diesem höchsten Vernunftprinzip läßt sich nicht mehr heraus-

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holen als eben die nähere Bestimmung seiner selbst. Die ästhetischen Tatsachen können von hier aus wohl neu beleuchtet, aber nicht restlos abgeleitet werden. Dieser Verlegenheit pflegen die Philosophen sich zu entziehen, indem sie von der allgemeingültigen Beweisführung übergehen zur Aussprache eines persönlichen Geschmacks und Erfahrungsreichtums. In jedem großen System findet sich eine Stelle, wo bei fortschreitender Annäherung an das Einzelne die objektive Lehre ersetzt wird durch ein subjektives Bekenntnis. Je stärker die Persönlichkeit, je feiner ihr künstlerischer Takt, desto unmerklicher der Übergang vom Beweisbaren zum Erlebten. Aber niemals fehlt der Bruch. Hiergegen gibt es, so scheint mir, nur das eine Mittel, daß man zugesteht: dem Seienden erwächst ästhetische Bedeutung nicht lediglich aus der Art der darauf angewendeten Betrachtung. Vielmehr muß es so liegen, daß gewisse Formen des Wirklichen dieser Tätigkeit und Zweckbestimmung des geistigen Lebens entgegenkommen. Dinge oder Vorgänge in Natur, Kultur und Kunst haben sachliche Merkmale, durch die sie sich von den außerästhetischen Gegenständen scheiden: sie sind, beispielsweise, »aus dem realen Zusammenhang herausgelöst«, »bildhaft«, »in Spannungssynthesen eines erregenden und eines erfüllenden Momentes aufgebaut«. Im Gefüge der ästhetischen Objekte selbst herrscht eine Notwendigkeit, durch die ihre ästhetische Auffassung gefordert wird. Das gilt vornehmlich für die sonst unverständliche Trennung der verschiedenen Künste. Die Eigenart der Musik ist offenbar mitbegründet in dem Zwang, der von den Klängen ausgeht und erheischt, daß sie zur Gleichzeitigkeit des Zusammenklangs verbunden werden, wohingegen die Malerei in der abweichenden Beschaffenheit der Farben wurzelt, daß sie nur zum räumlichen Nebeneinander verknüpft werden können. Hier macht ohne Zweifel der Stoff des zu Vereinigenden seine Besonderheit geltend. Die philosophische Ästhetik wird daher zur Anerkennung einer Gesetzlichkeit getrieben, die zwar vernunftgemäß, jedoch keineswegs bloß menschlich-vernünftig ist. Indem sie zu einem solchen Objektivismus übergeht – und das scheint sie gegenwärtig zu tun, gewinnt sie, wie leicht ersichtlich, gesteigerte Fruchtbarkeit für die konkreteren Wissenschaften von den einzelnen Künsten. Die Hauptmasse nämlich des mit objektiven Forderungen ausgestatteten Stoffes ist in den Kunstwerken enthalten, da die Kunst eine bevorzugte Gelegenheit für das Eintreten des ästhetischen Verhaltens bildet. Nun verlangt jedes Kunstwerk einerseits, daß es nach seiner Artzugehörigkeit gewürdigt werde, z. B. als poetisches und genauer als dramatisches Werk anderseits, daß die in ihm waltende Individualität eines Menschen, eine; Volkes, einer Zeit kräftig aufgefaßt werde. Das Besondere, das sich uns entgegenstellt, ist also in der Kunst teils von sachlicher, teils von geschichtlicher Beschaffenheit, und dies heißt, daß von einem vorliegenden Einzelfall sowohl zu systematischen wie zu historischen Allgemeinbegriffen aufgestiegen werden kann. Erkenntnis des Besonderen ist nur möglich durch Einbeziehen in einen sinnvollen Zusammenhang – aber soll dieser Zusammenhang zuerst in den Gesetzen der künstlerischen Komposition, oder soll er im gesamten Lebenswerk des Künstlers, im Zeit- und Volkscharakter gesucht werden?

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Es ist nicht endgültig auszumachen, welchem Verfahren in der Praxis der Vorrang zukomme. Wir können jedoch feststellen, daß die Gegenwart sich von der bislang herrschenden Überernährung mit bloß historischer Betrachtungsweise frei zu machen beginnt. Die gleiche Triebkraft, die den Philosophen zur Annahme einer unabhängigen Ordnung des ästhetisch Wertvollen führt, drängt den Geschichtsforscher zum Objekt als solchem, zur Sache selbst. Wer von dieser Wendung die Gefahr eines seichten Rationalismus oder einer überheblichen Regelgeberei befürchtet, der unterschätzt die Wirksamkeit der uns allen zu teil gewordenen historischen Schulung. Wir werden nie vergessen, daß zum Wesen jeder Geisteswissenschaft Geschichte gehört, aber wir wollen fernerhin nicht mehr einem einseitigen Historismus dienen. Zwischen Geschichte der Kunst und systematischer Kunstwissenschaft besteht eine gegenseitige Bezogenheit, die nicht erlaubt, den einen Teil als das sachliche Prius des andern zu bezeichnen, sondern beide Richtungen in Abhängigkeit voneinander zu sehen zwingt. Wenn z. B. die allgemeine Denkmälerkunde bestimmte von Menschenhand geformte Gegenstände als Kunstdenkmäler heraushebt, so muß sie einen Begriff der (bildenden) Kunst zu Grunde legen; diesen aber will sie nicht a priori, sondern aus den nämlichen Tatsachen gewinnen, die sie doch schon damit abgrenzen mußte. Wer eine Geschichte der Novelle schreibt, soll von vornherein wissen, was eine Novelle ist; woher anders aber als aus der Gesamtheit der »Novellen« kann er den umfassenden und richtigen Gattungsbegriff abstrahieren? Oder um es nun im ganzen zu sagen: der geschichtliche Tatsachenstoff setzt zu seiner Auffassung systematische Begriffe voraus, die der exakte Forscher erst aus der Vergleichung vieler Tatsachen ableiten möchte. Diese unvermeidliche Kreisbewegung erläutert, was soeben von der gegenseitigen Abhängigkeit des geschichtlichen und des systematischen Denkens behauptet wurde. Auch verstehen wir jetzt, weshalb einerseits alle kunstwissenschaftlichen Gattungsbegriffe als leere Schemata befehdet, anderseits gerade als wichtigste Bundesgenossen herangezogen werden, z. B. von unserer klassischen Philologie und von jener alttestamentlichen Exegese, die das Gefüge des Hymnus, der Sage, der Spruchkomposition erforschen will, um die einzelnen Gebilde innerhalb eines sogenannten biblischen »Buchs« würdigen zu können. Hieraus ergibt sich für eine allgemeine Kunstwissenschaft die Aufgabe, Sinn und Wert solcher Leitbegriffe zu bestimmen. Denken wir, um den Gedankengang mit Anschauung zu erfüllen, an zwei recht verschiedene Gruppeneinheiten: an die musikalische Form der Sinfonie und an den allgemeinen Begriff des Motivs, der ja in sämtlichen Kunstgebieten verwendet wird. Will man ihre Bedeutung ermitteln, indem man aus der Vielfältigkeit der Erscheinungen gemeinsame Merkmale heraushebt, so gelangt man zu farblosen Definitionen oder zu der abweisenden Erkenntnis, daß überhaupt nichts Bleibendes im geschichtlichen Wechsel verborgen sei. In der Tat ist kein dinglicher Bestand aufzufinden, der als überall wiederkehrend für die Erklärung des Besonderen etwas zu leisten vermöchte. Wohl aber bedeutet Sinfonie eine Gesetzmäßigkeit, eine Regel für die Verknüpfung musikalischer

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Gedanken, einen Grundsatz des Fortschreitens. Desgleichen ist »Motiv« nichts sachlich Angebbares, durch Häufung beobachteter Fälle zu Ermittelndes; selbst inhaltliche Motive wie das bildhafte der Kreuzabnahme oder das dichterische des Inzestes sind Verbindungsprinzipien, ordnende und gestaltende Kräfte, Hinweise auf eine bestimmte Raumgestaltung, Wegweiser für den Aufbau des Dramas. Während man bisher die Motive entweder gemüthaft-geistig als Idee oder dinghaft als den Kern teil des Ganzen mißverstand, sollten sie nunmehr als eine ästhetische Funktion anerkannt werden. Denn durch diese Wendung – die einer in der Logik bereits vollzogenen folgt – wird der Eigentümlichkeit jeder geschichtlichen Erscheinung ihr voller Wert belassen. Das Einzelne wird nicht mehr zur Gewinnung eines leeren Allgemeinbegriffs ausgepreßt, sondern als eine unentbehrliche Hilfe für die Wirksamkeit einer umfassenden Regel in seiner ganzen Fülle aufbewahrt. Gehört ein Kunstwerk zu einer bestimmten Kategorie, so heißt das: es bildet eine Stufe in dem Vorgang einer Gesetzlichkeit; seine Bedeutung erschöpft sich demnach nicht in der Zugehörigkeit zu einer Regel, wie sie von der systematischen Kunstwissenschaft darzustellen ist, sondern liegt ebenso sehr in der geschichtlichen Besonderheit, als welche dem Gebilde seine Stellung innerhalb der vielfachen Verwirklichungsmöglichkeiten des Prinzipes anweist. So wenig wie die Gleichheit des Rechtsgedankens die Eigentümlichkeiten der geschichtlichen Gesetzgebung überflüssig macht, so wenig lassen kunstwissenschaftliche Regeln die Besonderheiten der Stile als nebensächlich erscheinen. Das Tiefste und Beste, was eine Zeit, ein Volk, ein Mensch verkündet haben, vergeht niemals, gleichwie die Verschiedenheit der uns umspielenden bunten Lichter niemals schwindet, obwohl sie dem einen Gesetz der Brechung gehorchen. Hieraus folgt, daß eine richtig angelegte Lehre von den kunstwissenschaftlichen Begriffen nur in unablässiger Beziehung auf die Einsicht, diese aber nur mit Hilfe der Systematik fruchtbar zu machen ist. Zur Systematik gehört heutzutage die ertragreiche Arbeit einer selbständig gewordenen Psychologie. Die moderne Psychologie hat das ästhetische Aufnehmen und das künstlerische Schaffen untersucht, indem sie entweder den Vorgang als einen einheitlichen beschrieb oder ihn zerlegte, sei es in Bestandteile, sei es in Zeitphasen. Meist aber blieb unklar, in welcher Beziehung der subjektive Vorgang zur kunstvollen und strengen Verfassung des Objektes steht. Darüber erhielt man erst einen gewissen Aufschluß aus Versuchen mit willkürlich veränderter Auffassung, indem z. B. eine Figur zunächst rein auf ihre Proportionen hin, dann mit Rücksicht auf die in den Formen lebenden Kräfte betrachtet und dabei festgestellt wurde, daß sich recht verschiedene ästhetische Urteile ergeben. Wichtiger noch wurden andere psychologische Arbeiten: sie gingen von meßbaren Linien-, Takt-, Farbenverhältnissen aus, indem sie mißfällige, gleichgültige und wohlgefällige sonderten, oder sie erstrebten die Vereinfachung der künstlerischen Gegenstände zum Zweck einer Gestaltung, die das Experiment einzuführen verstattet. Immer deutlicher wurde dabei, daß die Objekte nicht gleichgültige Reize zur Auslösung eines seelischen Zustandes sind, sondern Träger ästhetischer Werte. Wenn der

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experimentierende Psycholog einen Versuchsgegenstand herstellt, so muß es mit ästhetischem Urteil geschehen, denn der Gegenstand ist mehr als ein nichtssagendes Anregungsmittel. Geht die Kunstwissenschaft auf diesem Wege weiter, so wird sie als ihre Pflicht erkennen, das Gefüge von räumlichen Formen, rhythmischen Gestalten u. dgl. zu erforschen, insoweit es aus einem Kunstwollen entsteht und zu einem ästhetischen Verhalten führt. Eine solche Untersuchung behandelt das Raumgebilde natürlich nicht im Sinne der Geometrie, aber immerhin wie ein Objektives, d. h. wie eine unabhängige Gesetzlichkeit oder wie ein Ganzes mit nachweisbaren Strukturregeln, an die die ästhetische Wirkung geknüpft ist. Unsere allgemeine Kunstwissenschaft strebt dahin, mit Hilfe von Funktionsbegriffen eine Strukturlehre der ästhetischen Gegenstände aufzubauen, und sie begegnet sich in diesem Streben mit philosophischer und psychologischer Ästhetik. Dies ist der vorläufige Gewinn aus unserer Überlegung. Doch jetzt läßt sich die Frage nicht mehr abweisen, wie sich die Forschung auf dem Gebiet der bildenden Kunst, der Literatur und der Musik zu unsern Bemühungen verhalten hat, verhält und verhalten soll. Es muß daran erinnert werden, daß die Historiker der Künste lange von tiefstem Mißtrauen gegen alles Ästhetisieren erfüllt waren. Sie wollten ihre exakten Feststellungen nicht dem persönlichen Geschmack oder einer wechselnden Moderichtung preisgeben; sie fürchteten, daß die Tatsachen von den Philosophen zerschwatzt würden. In der historischen Forschungsweise glaubten sie ein festes Bollwerk gegen die Flut der Schönrednerei errichtet zu haben. So vergaßen sie völlig, daß eine einfache Übernahme der Methoden, die an politischen Vorgängen und Staatsverfassungen erprobt waren, durch die Eigenart des Kunstgegenstandes unmöglich gemacht wird. Sie begingen einen ähnlichen Fehler wie ihre philosophierenden Vorgänger: hatten diese, von der sprechenden Geistigkeit der künstlerischen Erscheinungen verführt, ausschließlich den Gehalt der Werke gewürdigt, so schenkten die Nur-Historiker, von der Wichtigkeit der schriftlichen Überlieferung erfüllt, ihre Aufmerksamkeit dem stofflichen Inhalt. Es kümmerte sie wenig, daß z. B. jedes Gemälde ein Stück Malerei, jede Bildsäule ein Stück Plastik ist, daß Bilder, Statuen, Bauten zu einem Inbegriff besonderer Ausdrucksformen, überlieferter Werktätigkeiten, ja technischer Aufgaben gehören. In Wahrheit darf nicht durch die sichtbare Oberfläche hindurch zu Gehalt und Stoff gegriffen werden, sondern muß das Innere durch Versenkung in die kunstvolle Form erfaßt werden. Auch die in der Literaturgeschichte üblichen quellenkritischen Untersuchungen begehen einen ähnlichen Fehler, denn es kommt in erster Linie nicht auf den Stoff an, selbst nicht auf die am überlieferten vorgenommenen inhaltlichen Änderungen, sondern auf die Gestaltung. Kurzum, es sollte keine Kunsthistoriker geben, die für Bildeindrücke blind sind, keine Literarhistoriker, denen Empfänglichkeit für Sprachformen fehlt, keine Musikhistoriker, denen die Wunderwelt der Klänge gleichgültig bleibt. Aber selbst wenn die Durchdringung des geschichtlichen Stoffes von einer allgemeinen Einsicht in die Lebensbedingungen der Kunst getragen wird, so ist damit noch keine genügende Voraussetzung für die Lösung der Aufgabe geschaffen.

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Vielmehr wird doch erst entscheidend, was man – sei es überhaupt, sei es für einen bestimmten Zeitabschnitt – als das Wesentliche der besonderen Kunstart ansieht. Glaubt man z. B., daß in der Malerei die Farbe den Hauptwert ausmache, daß mithin alle malerischen Probleme Farbenprobleme seien, so hat man für Anordnung und Beurteilung der geschichtlichen Tatsachen einen anderen Maßstab, als wenn man mit Alois Riegl die Farbe zu einem dienenden Mittel herabdrückt, durch das begrenzte Raumstücke (Dinge) und unbegrenzte Räume dargestellt werden sollen. Mit jeder genaueren Vorstellung von dem Spezifischen einer Kunstform verbindet sich außerdem der Gedanke an ein Ideal, dem die Entwicklung dieser Kunstform zustrebt. Indem eine solche Idealvorstellung als Zielpunkt eines stetigen Fortschritts erscheint, entsteht eine zwar systematisch bedingte, aber trotzdem noch nicht völlig reife Geschichtsschreibung. Die Mängel, an die ich denke, liegen offen zu Tage, wo ein Stil der Vergangenheit als die allgemein-gültige, unübertreffliche Norm gepriesen wird. Schwerer schon wird der Einblick, wenn das natürliche Ende in der Gegenwart unbefangen mit dem sachlich erwünschten Abschluß wird. So hat die selbstbewußte Aufklärungsästhetik nur das aus der älteren Kunst begriffen, was als Vorstufe ihrer eigenen Anschauung gelten konnte; ein letztes Beispiel für solche geradlinige Behandlung des Kunstwerdens ist [Johann Nikolaus] Forkels »Allgemeine Geschichte der Musik« ([2 Bde. Leipzig] 1788–1801). Jedoch selbst in unseren Tagen wird hier und da Geschichte geschrieben, um eine bestimmte Richtung des heutigen Schaffens als die Vollendung zu verherrlichen. Demgegenüber haben andere Historiker den Eigenwert zeitlich und national verschiedener Kunstweisen ans Licht gezogen. Von vorurteilsloser Gerechtigkeit erfüllt, erklären sie alles an seiner geschichtlichen Stelle für wertvoll und ersetzen den Begriff der Verfallszeit durch den der Übergangszeit. An sie schließen sich Forscher an, die eine typische Folge von Richtungen lehren. Beispielsweise in der Entwicklung der bildenden Kunst Perioden, in denen die konstruktive Form erstrebt wird, andere, in denen die ausdrucksvolle Form als Ideal gilt, wiederum andere, in denen die Naturähnlichkeit der Form als herrschender Gedanke die Arbeiten bestimmt. Wenn diese Möglichkeiten erschöpft sind, so beginnt das Spiel von neuem, meist in schnellerem Zeitmaße. Derartige Zwangskonstruktionen haben am ehesten ein Recht in der Darstellung eines einzelnen Problems. Prüft man nur eine einzige Seite irgendwelcher Kunstwerke, so reihen sich die Werke leichter zu einer sachlich notwendigen Folge von Lösungsversuchen einer bestimmten künstlerischen Aufgabe. Aber die Vieldeutigkeit echter Kunstgebilde in den Rahmen eines feststehenden Gattungsbegriffes zu spannen, kann schwerlich gelingen. Auch wird durch die Vergewaltigung des Stoffes, die Gegebenes teils übertreibt, teils umbiegt, teils vernachlässigt, die schöne Lebendigkeit und Beweglichkeit des Geschichtlichen ausgetilgt. Bei dem geschilderten Verfahren scheint der Glaube an eine starre, substanziale Begrifflichkeit mitzuspielen. Neuere Literarhistoriker legen ihrer Darstellung gelegentlich feste Allgemeinbegriffe zu Grunde. Eine kürzlich veröffentlichte Ent-

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wicklungsgeschichte des musikalischen Ornaments beginnt mit einem formalanalytischen Teil, der an die Hegelsche Logik erinnert, und findet dann die hier entdeckte Gruppenbildung unverändert wieder im geschichtlichen Werden der Musik. So schätzenswert der Versuch ist, die Zufälligkeit des historischen Seins durch einen begrifflichen Zusammenhang philosophisch zu bewältigen, so ist es bisher wohl noch nicht gelungen, die logischen Kategorien wahrhaft zu verschmelzen mit dem unermeßlichen Reichtum geschichtlicher Wirklichkeit, die ständig und in Einzelheiten launisch wechselt. Es wird nötig sein, die bereits einmal empfohlene Betrachtungsweise anzuwenden. Sie ruht auf der Annahme einer notwendigen geistigen Einheit, die in den verschiedenen Formen sich auswirkt. Diese Einheit besteht jedoch nicht für sich selbst; sie bekundet sich ausschließlich darin, daß die eine Periode ohne die andere vernünftigerweise nicht möglich ist, daß jeder Stil den Hinblick auf einen früheren und einen kommenden enthält. In den Verweisungen aufeinander ist der Zusammenhang zu finden; die Vergleichbarkeit der geschichtlichen Sonderwerte wird dadurch erzielt, daß die in ihnen tätigen Kräfte als verschiedene Ausdrucksmöglichkeiten desselben Gesetzes erkannt werden. Prüfen wir von diesem Standort aus die Gruppen heutiger Historie auf den drei Hauptgebieten, so bemerken wir überall Ansätze zu einem naturgemäßen Bündnis mit systematischer Kunstwissenschaft, aber allerdings kaum mehr als Hinweise auf die von der Zukunft zu erhoffende Gestaltung. Das einfachste und daher verbreitetste Verfahren ist das des Biographismus. Nun hat es gewiß eine Bedeutung, zu erfahren, welche Schicksale ein Künstler gehabt, welche Vorgänger er verehrt, welchen Unterricht er empfangen, welche Ziele er mit Bewußtsein verfolgt hat. In der gebräuchlichen Verwendung dieser Tatsachen stecken jedoch groteske Mißverständnisse. Schon die Gleichsetzung des Schaffens mit der etwa vom Künstler ausgesprochenen begrifflichen Einsicht erweckt Bedenken: man wird Dürers Kunst nicht gerecht, solange man sie aus seinen wissenschaftlichen Grundsätzen erklären will. Namentlich der Literaturgeschichte ist es zum Verhängnis geworden, daß so viele Selbstzeugnisse und Theorien der Dichter zur Hand sind, denn es wird meist übersehen, daß im Erzeugen und Gestalten sich Kräfte bekunden können, von denen der Dichter selbst nichts weiß oder die er verkennt. Noch gefährlicher wirkt der Wahn, der in dem Rohstoff des Lebens ein untrügliches Erklärungsmittel erblickt. Eine gewisse Goethe-Philologie erledigt die Seelenhaftigkeit des Orest und des Pylades durch den Hinweis auf zwei Phasen in des Dichters Entwickelung, findet in Iphigenie nichts als ein Bild der Frau v. Stein, verklärt durch Goethes Frauenideal, und glaubt sich anscheinend weiterer Pflichten gegenüber dem Kunstwerk überhoben. Es ist vorgekommen, daß jemand aus den Liedern eines gleichzeitigen Dichters allerhand Lebensdata herauszulösen unternahm; als ihm die Unrichtigkeit nachgewiesen wurde, erwiderte er, die falschen Ergebnisse seien nur ein Beweis dafür, daß der Lyriker nicht »klar genug« gewesen sei! Die Gerechtigkeit erfordert, alsbald hinzuzufügen, daß Scherer, auf den die in der Irre Fahrenden sich gern berufen, weitsichtiger gehandelt hat. Zwar bevorzugte

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auch er Lebensverhältnisse und Quellen des Dichters, aber er betonte stets mit schönem Nachdruck die Andersartigkeit des Gebildes; sein Fehler lag darin, daß er durch simples Abziehen des Erlebten und Erlernten die Kunstseele des Werkes freizulegen gedachte. In Scherers Schule jedoch ist die immerhin erhebliche ästhetische Einsicht des. Meisters mehrfach durch ein sinnloses Mechanisieren überdeckt worden; der Glaube an die Modellwahrheit und die treue Liebe zum zwecklosen Datum kennzeichnen diese Enthusiasten des überflüssigen Wissens. Erst das Eindringen der Psychologie, auf die man damals die größten Hoffnungen setzte, schuf Wandel. Es traten glänzende Charakteristiker auf, denen alle Werkzergliederungen und Stiluntersuchungen ich dazu dienten, den Künstlermenschen zu entdecken. Andere begannen ihre Arbeit mit einem Bild der ganzen dichterischen Persönlichkeit im Herzen, versenkten sich in das Lebensgefühl, das den Dichter zur Zeit der künstlerischen Empfängnis durchdrungen haben muß, und erforschten, wie die Persönlichkeit und ihr zeitlich gebundenes Lebensgefühl den Stoff des Werkes bis zum feinsten Ausdruck durchformten. Immer noch blieb die geheime Meinung: im Werden ohne weiteres das Wesen mitzuerfassen. Wir aber verlangen, daß dieser Psychologismus überwunden werde, daß man objektivistisch vom Gebilde und seiner Sprachgestalt ausgehe und die entwickelungsmäßige Betrachtung nur ergänzend verwende; freudig erkennen wir an, daß in Büchern über Shakespeare und den deutschen Geist, über »Dichtung und Wahrheit«, über die Romantik der künstlerische Bau der Werke zart und aufmerksam beachtet wird. Mit dem Nachweis persönlicher Abhängigkeiten, entlehnter Motive und technischer Hilfsmittel hat es die folgende Bewandtnis. Gleiche Stoff wahl und gleiche Formung können aus sehr verschiedener künstlerischer Gesinnung hervorgehen. Es bedarf eines sicher geschulten Empfindens und philosophischer Eindringlichkeit, um ungeblendet von der Ähnlichkeit der Symptome den entscheidenden Vorgang aufzufassen. Die Wahlverwandtschaft zweier Künstler enthüllt sich erst durch die von der Oberfläche äußerer Beziehungen in die Tiefe dringende Erkenntnis, daß ein Mensch oder seine Kunst von einem anderen gefühlt, innerlich aufgenommen und hierbei in einer gesetzmäßigen Weise verändert worden ist. Ein jetzt lebender Bildhauer kann der griechischen Plastik näher stehen als ein römischer Kopist. Nicht nach Schülern fragen wir, sondern nach Blutzeugen. Selbst die Wiederkehr eines ganzen Stils bedeutet kein bloßes Nocheinmal, sondern das Wiedererscheinen einer Stellung des Bewußtseins zur Wirklichkeit, die aus neuen Gründen und zu neuen Zwecken eingenommen wird. Diese Einwände gelten der Geschichtsschreibung auf allen Kunstgebieten. Für die Musikgeschichte z. B. beziehen sie sich auf die sogenannten Reminiszenzen. Wenn Beethoven ein heiteres Mozartsches Thema zum Grundgedanken seiner Heldensinfonie erhebt, so wird diese erstaunliche Tatsache wahrhaft erklärbar erst durch das soeben angedeutete Verfahren. Die heute gern geübte Auslegekunst findet zwischen Musikstücken und Lebensnachrichten Beziehungen, die schon deshalb fragwürdig sind, weil das bürgerliche und das künstlerische Ich nicht zusammenfallen. Sie versieht es ferner darin, daß sie das

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seelisch Wertvolle als Kern der einzelnen Klangformen mit den unzulänglichen Begriffen schildert, die unsere Vulgärpsychologie für die Affekte gebraucht. Man bewundert manchmal die schriftstellerische Virtuosität der Beschreibung, vermißt jedoch vielfach das Eindringen in die zeitlichen, dynamischen und qualitativen Verhältnisse der Gefühle – ganz zu schweigen von der Vernachlässigung des festen Gebildes. Blicken wir zurück, so stellt sich uns der Biographismus in zwei Formen dar: in einer äußerlichen und in einer psychologischen. Er kann sich aber auch erweitern, insofern die Individualität des Künstlers als Ausfluß der ganzen Zeit verstanden wird. Von dieser kulturgeschichtlichen Betrachtungsweise brauchte hier kaum gesprochen zu werden, trüge sie nicht in sich eine ganz bestimmte systematische Voraussetzung. Sobald nämlich der Einzelne mit seinem Volk und seiner Zeit verschmolzen wird, sammelt sich die Aufmerksamkeit des Historikers auf den im Werk eingeschlossenen Inhalt. Man muß einmal lesen, wie Springer Raffaels Porträt des Papstes Julius des Zweiten behandelt A, oder wie Janitschek nachweist, daß Dürer alle fremden, d. h. stofflich fremden Anregungen ins Deutsche umsetzt, weil »die Lebensformen sowie auch die Ideale von Boden und Luft abhängig sind . . .« B. Am feinsten handhabte Carl Justi das Verfahren. Er suchte das Oeuvre im Zusammenhang mit den politischen, wirtschaftlichen und geistigen Bedingungen der Kulturlage zu erklären, zwar nicht unmittelbar so, daß es gleichsam aus ihnen zu errechnen wäre, wohl aber so, daß es sich von einem Untergrund des Gesamtschaffens abhebt. Dieser geschichtlichen An schauung gemäß hat er dem Dogma von dem ausschließlichen Wert des »Wie« in der Kunst die Lehre von der Bedeutung des »Was« entgegengesetzt. Mir nun scheint, daß alle diese Behandlungsweisen im Grunde die Umgebung des Kunstwerkes treffen: sie verfolgen das Gebilde irgendwie nach rückwärts, durchspähen sein Milieu, tasten an der kulturgeschichtlichen Kreislinie herum, bleiben jedoch außerhalb des Mittelpunktes, außerhalb der Sache selbst. Die Wahrheit zu sagen, kam das Verhältnis wenigen zum Bewußtsein. Wenn trotzdem neben der Umgebungslehre sich eine Sachwissenschaft entfaltet hat, so lag das zum Teil in äußeren Gründen. Als z. B. die Archäologie durch Funde bereichert wurde, denen keine schriftlichen Zeugnisse zur Seite standen, da mußte die stilistische Zergliederung für alle andern Methoden eintreten, da geschah es häufig genug, daß man vom stilistisch beobachteten Gegenstand auf den Urheber zurückschloß. Gar die Erkenntnis der vorgeschichtlichen Kunst war und ist völlig auf Sacherklärung und Formenforschung angewiesen. Allein auch abseits von solchem Zwang der Tatsachen entwickelte sich die unmittelbar aufs Objekt eindringende Untersuchung. Ihrem Streben kann freudig zugestimmt werden, ihr durchschnittliches Verfahren fordert schärfste Abwehr heraus.

A B

Vgl. bes. Anton Springer: Raffael und Michelangelo. Bd. 1. Leipzig 1883, S. 140 und S. 257 f. Vgl. Hubert Janitschek: Geschichte der deutschen Malerei. Berlin 1890, S. 368.

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Das merkwürdigste Beispiel für die verkehrte Ausführung eines richtigen Gedankens liegt in Lermolieffs Schriften A vor. Lermolieff wollte schwer bestimmbare Bilder dem Künstler dadurch zuteilen, daß er die Gesetze des für unveränderlich gehaltenen persönlichen Stils ermittelte. Diesen Stil fand er in der Form der Hand, der Nase, des Ohrs, des Schädels, der Falten. Der Gesamteindruck eines Werkes (selbst in Verbindung mit Schriftzeugnissen) genüge nicht, um auf den ersten Blick den Maler erkennen zu lassen; man müsse vielmehr die Kenntnis jener dem großen Meister eigentümlichen Formen haben, um Original und Kopie oder Schulwerk scheiden zu können. Unter der Hand wurde dem Kritiker so jedes Bild zu einer Sammlung von individuell geprägten Einzelheiten. Hier triumphierte derselbe Geist einer älteren Naturwissenschaft, der Semper dazu getrieben hatte, in dem Kunstwerk ein mechanisches Erzeugnis aus Gebrauchszweck, Rohstoff und Technik zu erblicken. Allmählich glitt die Auffassung, die das Gebilde als Zusammensetzung deutet, zu anderen Faktoren über, und es entstand ein weitschichtiger Schulbetrieb. In dieser Kunstgelehrsamkeit betätigen sich viele Forscher, weil hier nur verlangt wird, mit einem gewissen Geschmack, der erlernbar ist, ein mechanisch zu bewältigendes Problem zu lösen. Durch die Anhäufung solcher Arbeiten wird der Eindruck einer gesicherten Disziplin erweckt. Für die höheren Forderungen jedoch bedarf es einer andern Qualität der Begabung – und der bescheidenen Einsicht, daß ein echtes Kunstwerk eine Schöpfung ist und keine Quersumme. Es waren, begreiflich genug, Anregungen aus Künstlerkreisen, die einige noch lebende Historiker zu entschiedener Stellungnahme gegen den Kunstmaterialismus und die stilkritische Einseitigkeit veranlaßten. Obwohl ihnen das junge Geschlecht jetzt zu folgen beginnt, bleibt die Masse der im mittleren Alter Stehenden an die gerügten Denkvoraussetzungen gebunden. Eine Übersicht über die gegenständlich gerichteten Arbeiten der Philologie führt gleichfalls zu einem unerfreulichen Ergebnis. In den meisten Schriften, die sich mit Form- und Stilfragen beschäftigen, herrscht ein rationalistischer Atomismus. Da will jemand die formale Schönheit der Bibel an den Bildern und Vergleichen darstellen. Wie geht er vor? Er zählt die verwendeten Tiere auf, fängt mit dem Rindvieh an und endet bei Floh und Schnecke. Ein Goethe-Philolog prüft die Hyperbeln im »Götz«, und zwar »a) Himmel und Hölle, b) Große Zahlen, c) Sonstige Hyperbeln« – eine Methode von unüberbietbarer Äußerlichkeit und Unfruchtbarkeit. Denn so gewiß die Dichtkunst aus ihrem Wirkungsmittel, der Sprache, verstanden werden muß, so gewiß muß zuallererst der Gesamtton des Ganzen, die dichterisch-sprachliche Kraft als solche erfaßt werden. Es ist ärgerlichste Schubfach-Ästhetik, wenn man Untersuchungen darüber anstellt, ob der Dichter »Vergangenes oder Zeitloses oder Zukünftiges vorführt«, wenn die Poetik Sätze Der Italiener Giovanni Morelli publizierte seine Studien zur Kunst überwiegend auf Deutsch unter dem russischen Preudonym ›Ivan Lermolieff‹. Vgl. Ivan Lermolieff: Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Leipzig 1880; ders.: Kunstkritische Studien über italienische Malerei. 3 Bde. 1890–1893. A

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wagt wie: »Das Verbum ist poetischer als das Nomen, das Nomen poetischer als das Pronomen.« Ich bekenne freimütig, daß mir eine solche Auffassung kunstwidrig und demnach kunstwissenschaftlich wertlos erscheint. Doch darf die irrige Meinung nicht aufkommen, als wende sich die hier vertretene Richtung gegen gute und getreue Philologie. Wir schätzen ihre Fähigkeit, die Fremdheit des Alten zu beseitigen, die Kunstformen und den geistigen Ertrag einer Literatur aus den Hüllen zu lösen; wir würdigen das Kunstgefühl, das in der schweigsamen Arbeit der Textreinigung verborgen sein kann. Niemand unter uns wird Männern wie Lachmann und Müllenhoff seine Bewunderung weigern; um so weniger, als ihr Versuch, durch höhere Kritik das allmähliche Werden literarischer Gebilde zu ermitteln, von der Sache selbst ausging. Indem Lachmann an der Ilias Unstimmigkeiten der Erzählung, Stil- und Wertverschiedenheiten und besonders einen wunderlichen Wechsel in Ton und Farbe der Darstellung nachwies, unterzog er das Werk einer wahrhaft ästhetischen Betrachtung und Reinigung.A Leider jedoch waren Lachmanns wie Müllenhoffs ästhetische Oberbegriffe unzulänglich.B Ihre Sammeltheorie, ihre Meinung von »zusammengezogenen«, »geordneten«, »dichterisch überarbeiteten« Einzelliedern, mußte als mechanistisch aufgegeben werden. Die neuere Forschung ruht auf einer besseren Erkenntnis vom Wesen des Liedes, nicht des konstruierten, sondern des in der geschichtlichen Wirkung beobachtbaren Heldenliedes; sie zeigt, daß durch Aneinanderreihen solcher in sich vollkommen gerundeter Gebilde der in ganz andern Strukturverhältnissen angelegte epische Leib überhaupt nicht entstehen kann. Als Gegenschlag gegen mechanistische Auffassungsweise einerseits, rationalistische Denkungsart anderseits erscheint mir der heute so lebhafte Widerstand gegen die überlieferte Formel, die Heldensage sei ein Gemenge aus Rhythmus und Geschichte. Freie Dichtung, so erkennt man jetzt, bildet auch das Wesen der germanischen Heldensage; vom ganzen lebendigen Organismus aus beurteilt man nun das Verhältnis zu Geschichte und Mythus, das der gestalteten Sage innerlich allein möglich ist. Folgen wir den Schütterlinien der neuen Bewegung noch etwas weiter, so stoßen wir zunächst auf eine Untersuchung der Gedichte Walthers von der Vogelweide, die an die mittelalterliche Lyrik Fragen stellt, wie sie gleich eindringlich und scharf vordem nicht erhoben worden sind. Anstatt nach dem stofflichen Inhalt zu datieren und die sogenannten Lieder der niederen Minne der Jugend, die der hohen Minne dem reiferen Alter des Dichters zuzuweisen, wird der Stil Walthers im Vergleich zu dem seines Lehrers Reinmar geprüft; der kunstgesunde Leitgedanke dabei ist, daß jeder junge Dichter sich einem Meister anpaßt: die Gedichte, die sich an Reinmars blasse, höfische Manier anschließen, werden nach feinen stilistischen und metrischen Erwägungen der Frühzeit zugeschrieben, diejenigen, die dem mehr A

Vgl. Karl Lachmann: Betrachtungen über Homers Ilias. Mit Zusätzen von Moriz Haupt. Berlin

1847. B Vgl. ders.: Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts der Nibelungen Noth. Berlin 1816; Karl Müllenhoff: Zur Geschichte der Nibelunge Not. Braunschweig 1855.

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volkstümlichen ritterlichen Minnelied und der Vagantendichtung nahestehen, der nicht mehr höfisch gebundenen Wanderzeit Walthers. So gelangt der dem Geist eines Kunstwerkes nachspürende Forscher dazu, selbst Dunkelheiten der Datierung aufzuhellen. Aus dem Kreis der klassischen Philologie stammt ein anderes Beispiel. Der Nachlaß der Sappho ist kürzlich durch ein Mondscheingedicht vermehrt worden, das zum Vergleich mit dem Goetheschen herausforderte; durch Einfühlung in die Seele des Weibes, durch empfindungsvolles Betrachten des südlichen Sternenhimmels ist nicht nur dieses Kleinod uns gewonnen, sondern auch ein objektives Gesetz künstlerischer Anschauungs- und Gestaltungskraft erkannt worden. Endlich wäre der Lehre von den klanglichen Konstanten in Dichtung und Musik zu gedenken. Ihre letzte Voraussetzung nämlich liegt in der Erkenntnis, daß das Eigenleben des Kunstwerks bestimmte Forderungen an den Aufnehmenden stellt, die von diesem, wenn er empfindlich genug und nicht durch Konvention gehemmt ist, unwillkürlich erfüllt werden. Hier wird mit der Annahme gebrochen: man könne den Vers ganz nach Belieben lesen, eine melodische Phrase Wagners genau so singen wie eine Kantilene Bellinis, hier wird mit tieferem Sinn behauptet, daß ein Gebilde erst im Genuß fertig werde, denn dieser ist nun nichts beliebig Wechselndes mehr, sondern die gesetzmäßige Erfüllung des im Gegenstand verkörperten Kunstwollens. Ein paar anstreifende Bemerkungen müssen genügen, um für das Gebiet der Kunst den Unterschied des neuen und des alten Glaubens zu verdeutlichen. Während früher die Stile nach Einzelformen oder gar Ornamenten gesondert wurden, findet man jetzt in der künstlerischen Gesamtanschauung das Wesen des Stils. Nicht die Rundbogen machen ein Gebäude zu einem romanischen, sondern die inneren Richtlinien der Raumabmessung, die in der Gliederung tätigen Bewegungskräfte, die zu bestimmten Verhältnissen führenden Absichten des Aufbaus als eines Ganzen. Eine Bildsäule soll nicht aus Merkmalen der Erscheinung zusammengesetzt, vielmehr von der sie bedingenden Formgesetzlichkeit her als funktionaler Ausdruck einer gegenständlichen Regelhaftigkeit begriffen werden. Dieselbe Wendung vom Teil zum Ganzen, vom Außen zum Innen scheint sich auch in der Musikwissenschaft zu vollziehen. Aber wir müssen (und können) auf den Nachweis im einzelnen verzichten. Da, wo wir nunmehr stehen, eröffnet sich eine hinreißende Aussicht. Wir erblicken ein weithin sich dehnendes fruchtbares Neuland der Forschung. Ob man von der Seite der Philosophie und der Psychologie kommt oder von der Seite der geschichtlichen Forschung, immer sieht man sich zum gleichen Mittelpunkt gewiesen. Wer von jener Richtung her unser Gebiet betritt, muß erkennen, daß die ästhetischen Gegenstände und zumal die Kunstobjekte nicht erst aus der ihnen etwa gegönnten Betrachtung ihre Eigenart entleihen, sondern sie der Spielregel verdanken, die in ihnen selber wirkt. Der Historiker aber darf weder die biographischen noch die kulturgeschichtlichen Randphänomene überschätzen, sondern er soll mit dem Wesen der Sache ihr Werden, mit dem objektiven Gebilde seine Umgebung erfassen. So kann historische Darstellung zu angewandter Ästhetik werden: sie

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bleibe Geschichte, aber sie lasse sich sättigen mit dem Eigenwert der Kunst. Kein Sachkundiger wünscht ein Absterben des geschichtlichen Sinns; nur ein wenig mehr Spielraum fordern wir für die dem Werke selber zugewendete Wissenschaft: denn die halb unbewußten Leitbegriffe eines unsystematischen Kopfes pflegen höchstens für den Hausgebrauch ihres Erfinders nutzbar zu sein. Die allgemeine Kunstwissenschaft erforscht das Gefüge der Objekte unter dem doppelten Gesichtspunkt, daß es aus einem Kunstwollen entstanden und für künstlerischen Genuß bestimmt ist; diese Strukturlehre geht vom Ganzen aus, dessen Gliederung sie verfolgt und dessen Einheit sie in einer funktionalen Ordnung der Knüpfungswerte findet. Sie rechtfertigt die Eigentümlichkeit einer Einzelerscheinung als Stufe in dem Vorgang jener Gesetzlichkeit, die sich im Gesamtrhythmus der Kunstbewegung nicht minder als im idealen Gegenstande ausbreitet. Auch die geistige Einheit des geschichtlichen Verlaufs besteht in einer funktionalen Ordnung der Knüpfungswerte, nämlich in der gesetzmäßigen Verweisung des einen Stils auf einen andern. Das ist nicht zu verwechseln mit der üblichen Voraussetzung der Problemgeschichte, ein bestimmtes sachliches Ziel könne erreicht werden. Denn was die geschichtlichen Tatbestände zu vergleichbaren Größen macht, ist die Regel, dergemäß sie aufeinander verweisen. Wir sind, meine Damen und Herren, am Ende unserer gemeinsamen Wanderung. Auf diesem schnell durchmessenen Wege mußte der Fuß leichter vom Boden abgehoben werden, aber er senkte sich immer wieder auf den festen Grund sicherer Tatsachen. Ob die Straße richtig gewählt und das Ziel klar geschaut war – wer vermöchte das jetzt zu entscheiden? Aus den Arbeiten unsres Kongresses und aus der persönlichen Fühlung zwischen den hier versammelten Forschern wird sich, so hoffen wir, eine hell leuchtende Erkenntnis entwickeln, denn, wie Plato sagt, λαµπάδια ἔχοντες διαδώσουσιν ἀλλήλοις: diejenigen, die Fackeln tragen, werden sie einander zureichen.A

A

Platon: Der Staat. 328a.

Begrüßungsansprache zum zweiten Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft

Berlin, .–. Oktober  () [. . .] 15. Oktober 1924, abends 8 Uhr [. . .]

Meine Damen, meine Herren! Als wir vor Jahresfrist in Halle unsere Tagung abzuhalten gedachten, waren zehn Jahre seit dem ersten Kongreß verflossen. Die wirtschaftliche Not stieg aber gerade damals zu einer solchen Höhe an, daß wir im letzten Augenblick auf die Durchführung des Planes verzichten mußten. Wenn wir ihn morgen und an den beiden folgenden Tagen verwirklichen können, so verdanken wir dies im allgemeinen der Besserung der Lage, im besonderen der Unterstützung durch die Behörden und durch den Herrn Rektor der Berliner Universität. Eine aufrichtige Freude bereitet es mir daher, als Vertreter der Behörden die Herren Staatssekretär Schulz, Ministerialdirektor Krüß und Herrn Professor Holl als Rektor unserer Universität begrüßen zu können. Ihnen schließen sich als willkommene Gäste an die Abgesandten vieler deutscher Universitäten, Technischen Hochschulen und Akademien. Von fremdländischen Mitarbeitern nenne ich wenigstens zwei bei Namen, weil sie schon vor elf Jahren ihr Land und ihre Universität bei uns vertreten haben: unseren stets hilfreichen Freund J.J. de Urries y Azara aus Madrid und unseren lieben Kollegen Ewert Wrangel aus Lund. Manche von denen, die dem ersten Kongreß besondere Bedeutung liehen, sind inzwischen verstorben. In tiefer Trauer gedenken wir dieser unserer heimgegangenen Freunde, vor allem derer, die ihr Leben für das deutsche Volk geopfert haben. Doch nicht zur Klage ruft die Stunde auf, sondern zur Arbeit. Ich setze als bekannt voraus, welches Gebiet die Ästhetik beherrscht. Ebenso nehme ich die Spielarten und Verfahrungsweisen der Ästhetik als näherer Erklärung unbedürftig an. Desgleichen verzichte ich auf den erneuten Nachweis der Gründe, aus denen heraus man neben die Ästhetik eine selbständige Theorie der Kunst, die sogenannte allgemeine Kunstwissenschaft gestellt hat. Die erste Aufgabe dieser Kunstwissenschaft besteht darin, sich zu rechtfertigen. Denn es ist fraglich, ob das Kunstwerk, mit dem sie sich beschäftigt, die wissenschaftliche Behandlung verträgt; möglicherweise sind Kunstwerke (eben als Träger von Kunst) nur dem Genuß und nicht der Forschung zugänglich. Ein zweites Problem, dem ersten verwandt, liegt darin, gegenüber der anerkannten geschichtlichen Behandlung der Kunst ihre systematische Untersuchung zu rechtfertigen. Ist auch dies geschehen, so darf die Frage aufgeworfen werden, welcher endgültig letzte Sinn im Kunstwerk liegt. Dies sind die drei Grundthemen der allgemeinen Kunstwissenschaft.

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Wenn man den umfangreichen Rechenschaftsbericht des ersten Kongresses durchblättert und sich dann die Frage vorlegt, welche Fortschritte unsere Wissenschaft seitdem gemacht habe, so bemerkt man, daß die Vorgänge, die sich in der deutschen Philosophie und Psychologie abspielen, auch unsere Ästhetik entscheidend beeinflussen, und daß daneben in der systematischen Kunstwissenschaft sich die neue Gestaltung der Künste geltend macht. Fassen wir den ersten Vorgang näher ins Auge, so sehen wir deutlich die Abkehr von der positivistischen Philosophie und von einer atomisierenden experimentellen Psychologie. Die eigentlich experimentelle Ästhetik ist kaum weiter gekommen; Versuche, die Lehre von den Unterschieden der plastischen und der malerischen Anschauungsweise durch die experimentelle Psychologie zu bestätigen (Wulff) A und die Typen dichterischen Erlebens mit ähnlichen Werkzeugen zu packen (Müller-Freienfels) B, zeigen ebensoviele Rücksprünge wie Fortschritte. Durchschnittlich empfinden jetzt unsere Fachleute die Auflösung des Bewußtseins in dinghafte, ichlose, einander fremde Elemente als im Widerspruch mit dem Wesen des Seelischen und als wertlos für die Lösung der ästhetischen Probleme. Dagegen hat sich die von Dilthey angebaute Struktur- und Typenpsychologie als frucht bar erwiesen, auch für die soeben erwähnten Bemühungen. Dies ist wohl zu begreifen. In dem bekannten Satze »Kunst ist, was die großen Künstler schaffen« steckt trotz offenkundiger logischer Kreishaftigkeit eine Wahrheit, denn die Kunst gehört zu den Gebieten geistigen Lebens, deren Inhalt und Grenze am leichtesten durch den Typus eines auf diesem Gebiet heimischen Menschen erkannt wird. Wir gehen nicht fehl, wenn wir die Kunst als den Bereich des künstlerischen Menschen auffassen. Aber wir müssen folgendes dabei beachten: obgleich eine bestimmte Geisteshaltung den Zugang zum Land der Kunst bildet, behält diese doch ihr eigenes Sein. Es entsteht demnach die Aufgabe, von der Seele zur Sache zu gelangen. Man hat diese Aufgabe während des letzten Jahrzehnts verschiedentlich zu lösen getrachtet. In einer Gruppe von Gelehrten (Gundolf, Bertram, Wolters), die künstlerisch fühlen und eben deshalb zur Umdichtung des Gegebenen neigen, wurde der Begriff der »Gestalt« zum Mittelpunkt.C Die Gestalt, die im »großen Gesamtmenschen« auftritt, ist zugleich ein lebendig Sinnliches und ein objektiv Geistiges. Sie schauen heißt weder Psychologie noch Ästhetik treiben, es handelt sich überhaupt nicht um ein Setzen von einer bestimmten Seite her, sondern um ein Erfassen, das alle A Vgl. Oskar Wulff: »Die psychophysischen Grundlagen der plastischen und malerischen Gestaltung«. In: Zweiter Kongress für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. Berlin, 16.–18. Oktober 1924. Bericht. Hrsg. vom Arbeitsausschuss. Stuttgart 1925 (Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 19), S. 120–128. B Vgl. Richard Müller-Freienfels: Psychologie der Kunst. Zweite, vollständig umgearbeitete und vermehrte Auflage in 3 Bden. Leipzig 1922–24 (12 Bde. Berlin 1912), hier Bd. 1. C Vgl. bes. Friedrich Gundolf: Goethe. Berlin 1916; Ernst Bertram: Nietzsche. Versuch einer Mythologie. Berlin 1920; Friedrich Wolters: »Gestalt«. In: Jahrbuch für die geistige Bewegung. 2 (1911), S. 137–158.

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Blickweisen in sich vereinigt, weil in der Gestalt alle geistigen Möglichkeiten des Seins verflochten sind. Gestalt schmilzt zusammen sowohl mit Leben als auch mit Kunst: Leben und Werk eines Künstlers erscheinen, um Gundolfs Ausdruck zu wiederholen, als die beiden Attribute einer und derselben Substanz. Ein zweiter Lösungsversuch kreist um den Gedanken, daß die Sinndeutung der Kunst nicht in einem Wiedergeben des Kunst wirklichen bestehen könne. Den Rechtsgrund der Kunst zeige vielmehr Kants transzendentale Methode auf, sofern sie die Gesetzmäßigkeit der Vernunft als eines überindividuellen Bewußtseins enthüllt. Denn die Form eines Kunstwerks gewinne nur dadurch Objektivität, daß die von ihr bewirkte Verknüpfung der Inhalte über Zufall und Willkür hinausreicht, und das verdankt sie weder der einfachen Gegebenheit der Dinge noch der Individualität des einzelnen Künstlers, sondern dem reinen Bewußtsein. Zum Bindeglied zwischen dem Menschen und der ästhetischen Welt wird hier nicht die »Gestalt«, sondern die Architektonik der Vernunft. Der dritte Weg beginnt zwar auch beim reinen Bewußtsein, kreuzt sich aber an einem bestimmten Punkt mit dem Wege derer, die zur Schauung der Gestalt streben. freilich führt er zu einem anderen Ziel, nämlich zu jenem abgegrenzten Gebiet, das »die Welt des Eidos« heißt. Unter Ausschaltung der Tatsachen-Wirklichkeit (einschließlich des eigenen Ich) und durch Beharren bei dem, was als Rückstand übrig bleibt, beim »Phänomen«, also etwa beim Wesen des Klanghaften oder farbigen, entsteht ein Verfahren, das für die Beschreibung und Zergliederung der einfach hingenommenen ästhetischen und künstlerischen Gegenstände gute Dienste leistet. Gerade aber auf unserem Gebiet stellen sich der phänomenologischen Methode Schwierigkeiten entgegen, denn Musik beispielsweise ist an den zeitlichen Verlauf gebunden, der nicht in die Sphäre der »Wesen« gehört, und bildende Kunst ist ohne den Raum undenkbar, der gleichfalls mit jener Sphäre nichts zu schaffen hat. Die drei Richtungen, auf die verwiesen wurde, weil sie in den letzten zehn Jahren am sichtbarsten hervorgetreten sind, bewegen sich zum unbedingt Gültigen hin. Der Gegenstand indessen, den sie berühren und wir umfassen wollen, ist verflochten in die Bedingtheit des natürlichen und geschichtlichen Geschehens. Demgemäß muß die Kunstlehre, soweit sie dem Widerspruch nicht ausweicht, einen Zusammenhang suchen zwischen der wechselvollen Welt der geschichtlichen Erscheinungen und dem Reich der »Gestalt«, der. Vernunftwerte, des Eidos. Hierin erblicke ich den letzten Sinn zweier geistigen Bewegungen, in die wir alle hineingezogen worden sind. Der bekannteste Vertreter der einen ist Wölfflin mit seinen »Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen«. Diese Grundbegriffe, in Paaren geordnet, sollten eine Systematik der Stilunterschiede in der bildenden Kunst ermöglichen; sie wurden später aber auch auf die Formanalyse der Dichtung übertragen, indem man beispielsweise die Stileigentümlichkeiten des Barock in der Dramatik Shakespeares und in der deutschen Lyrik des 17. Jahrhunderts wiederfand (Walzel und Fritz Strich). Bei allen Anwendungen geht die Absicht dahin, die Darstellungsart, an deren Formen Inhalt und Ausdruck eines Kunstwerks gebunden sind, durch Gegenüberstellung einer anderen Darstellungsart deutlich zu machen,

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Typus mit Typus zu vergleichen und so über die verwirrende Mannigfaltigkeit der geschichtlichen Ereignisse hinwegzukommen. Neben dieser Lehre hat sich eine andere entwickelt, deren Ausgangspunkt in Elementen liegt, die jedem Werk einer der großen Kunstgattungen zu eigen sein müssen und wurzelhafter sind als die in den Stilbesonderungen auftretenden (Frankl, Brin[c]kmann A). Wir dürfen gewiß nicht jene stilistischen Kategorien (z. B. geschlossene Form – offene Form) mit diesen Elementen (z. B. Bildform und Zweckform) auf die gleiche Stufe stellen, aber wir können ruhig sagen, daß wir es in beiden Fällen mit Ausläufern der formalistischen Ästhetik zu tun haben. Dagegen stammt aus der Gehaltsästhetik eine in der Literaturwissenschaft beliebt gewordene Betrachtungsweise, die an Stelle der formalen Unterschiede, etwa von Klassik und Romantik, das gemeinsame »ldeengeschichtliche« im Geist der Gesamtepoche (z. B. des Sturmes und Dranges) betont. Während die idealtypische Beschreibung gegensätzlicher Anschauungsformen sich wenig um die Einheit und Stetigkeit des geschichtlichen Lebens kümmert, wird gerade hierauf von den neusten Vertretern geistesgeschichtlicher Richtung der Nachdruck gelegt. Ihre Probleme senken sich aus dem Geist des Artistischen in den breiten Grund des Menschentums überhaupt. Aber von dort erheben sie sich nun wieder zu anderen Besonderungen. Am klarsten zeigt das die Kunstgeschichte der letzten Jahre, soweit sie die Rassenbestimmtheit als Erklärungsmittel verwendet. Wenn die Gotik – nach Worringer – als Objektivierung des germanischen Geistes anzusehen sein soll, dann bedeutet das, daß ein Kunststil, seinem Wesen nach intuitiv erkennbar, sich decke mit dem gleichfalls intuitiv erkannten Wesen eines Volkstums. Oder wenn – nach Dvoˇrak – in der Gotik der christliche Gedanke vom unbedingten Wert der menschlichen Seele sichtbar werden soll, dann wird eine geschichtliche Einzelerscheinung auf eine Religiosität zurückgeführt, die übergeschichtlichen Wert beansprucht. Aber diese Bestrebungen sind nicht auf Literatur- und Kunstwissenschaft beschränkt geblieben, sondern selbst die Musik, die doch eine gewisse Sonderstellung einnimmt, ist sowohl zu den kategorialen Stilgegensätzen als auch zu den Kulturkreisen in Beziehung gebracht worden. Überall unterwirft man jetzt die wechselreiche Menge geschaffener Werke einer zeitlos geltenden Problematik. Gelingt es dabei, einen Zusammenhang wirklich nachzuweisen, dann ist für die Wissenschaft etwas gewonnen; im anderen Falle kann durch glänzende Darstellung lediglich das Gefühlserlebnis des Verstehens suggestiv erweckt werden. Im Großen betrachtet scheint mir das Ergebnis der Umschau, daß in der Ästhetik sowie in den Kunstwissenschaften während des letzten Jahrzehnts die Spekulation Vgl. bes. Paul Frankl: »Stilgattungen und Stilarten«. In: Zweiter Kongress für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. Berlin, 16.–18. Oktober 1924. Bericht. Hrsg. vom Arbeitsausschuss. Stuttgart 1925 (Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 19), S. 101–109; Albert Erich Brinckmann: Platz und Monument. Untersuchungen zur Geschichte und Ästhetik der Stadtbaukunst in neuerer Zeit. Berlin 1912; ders.: Plastik und Raum als Grundformen künstlerischer Gestaltung. München 1922. A

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zum Durchbruch gelangt ist. Weniger einheitlich stellt sich die Einwirkung dar, die von den Künsten und den Künstlern unserer Tage auf die theoretische Arbeit ausgeübt worden ist. Immerhin unterliegt es keinem Zweifel, daß wir ihnen zunächst einige Erweiterungen unseres Gebietes verdanken. Neben den seit alters anerkannten Großmächten der Kunst erheben sich neuerdings mit dem Anspruch selbständiger Eigenart: Regie, Film und Tanz, und wir dürfen uns der Aufgabe nicht versagen, sie unter kunstwissenschaftlichen Gesichtspunkten zu prüfen. In diesen neuen, aber nicht minder in den uns vertrauteren Gebieten, drängt das Schaffen vielfach nach starken und großen Formen. Der Trieb zum Wesenhaften, dem wir schon in der Philosophie begegneten, lebt auch in der neusten Kunst und spiegelt sich in den Begriffsbildungen: das Schlagwort beispielsweise von der »Einheit der Musik« (Busoni A) weist auf eine platonische Idee der Musik, die übliche Unterscheidungen wie instrumental und vokal, geistlich und weltlich ins Außermusikalische entschweben läßt. Aller Platonismus aber, alle Spekulation neigt zur Mißachtung des tatsächlich Gegebenen. Die jüngste Kunst hat daraus die Folgerung gezogen, daß sie die Wirklichkeit nicht nur umformen, sondern grundsätzlich zertrümmern dürfe, um zum Geist zu gelangen: sie dürfe mit Formen und Farben, mit Sprache und Denken, mit Klängen und Rhythmen so verfahren, daß eine bewußte Beziehungslosigkeit oder mindestens eine zur Unerkennbarkeit führende Verwicklung der Beziehungen entsteht. Diesem Vorgehen schmiegen sich neue Theorien an, die freilich häufiger in der Kunstschriftstellerei des Tages als in der strengen Wissenschaft zu finden sind. Nun aber greift der Gedanke des Zerfalls noch weiter, indem er selbst das Sein der Dinge aufspaltet und das scheinbar Ganze als ein Trugbild behandelt: für gewisse Maler und ihre Erläuterer hält das Sichtbare nicht mehr zusammen und jeder einzelne Splitter wird sozusagen nach eigenem Aufbaugesetz geformt. In die gleiche Richtung gehört es wohl, daß viele junge Musiker von der Orchestermasse zur individualisierten Kammermusik und zum Einzelinstrument übergegangen sind. Auch jener bemerkenswerten Tatsache darf hier gedacht werden, daß die europäische Kunst, die früher mit Selbstverständlichkeit als die Grundlage der ästhetischen Theorien angesehen wurde, uns jetzt auf die Bedeutung eines Einzelfalles zusammenschrumpft. Mit einem Worte, es besteht die Gefahr, daß Kunst und Kunstwissenschaft, sehnsüchtig nach der zeitlosen Gültigkeit des Geistes spähend, aber angewiesen auf die sinnliche Erscheinung und auf die deutende Gestaltung des Lebens, die Sicherheit des Standorts verlieren. Dies Schwanken läßt sich nur beruhigen, wenn Schaffende wie Begreifende – auch bei den kühnsten Versuchen – sich auf Erfahrungskönnen und Erfahrungswissen stützen. Tun sie das, so werden sie am ehesten jener schweren Aufgabe zu genügen vermögen, die gemeinhin mit dem Worte »Kunsterziehung« bezeichnet wird. Gewiß soll die große Erscheinung der Kunst dem Volk und der Jugend nicht bloß in geschichtlich erforschten Einzeltatsachen nahe gebracht werden, sondern A

Vgl. Ferruccio Busoni: Von der Einheit der Musik. Verstreute Aufzeichnungen. Berlin 1922.

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auch in philosophisch erfaßten Zusammenhängen und in der Wendung zum Heute und Morgen. Gewiß erwarten wir von der Kunstpädagogik Lebensgestaltung und Wesenserhöhung weit über das Wissen hinaus. Doch wir verlangen, daß der Weg durch das Wissen hindurch gehe. Denn das Schöne und die Kunst wird nicht nur genossen, sondern auch verstanden. Neben dem Menschenrecht auf schöpferische Betätigung steht die Geistespflicht der Erkenntnis. Meine Damen und Herren! Unser Kongreß will gleich seinem Vorgänger eine Gemeinsamkeit wissenschaftlicher Interessen zum sichtbaren Ausdruck bringen und das Ergebnis aus Forschungsarbeit dem geistigen Leben der Gegenwart dienstbar machen. Wenn diese Tagung es auch an äußerem Glanze nicht mit der ersten Tagung aufnehmen kann, an innerem Werte wird sie – so hoffe ich – nicht zurückbleiben. Morgen beginnen wir unseren Dreitageflug über einen Ozean von Problemen: möge er ebenso glänzend verlaufen wie der Flug unseres ZR 3, an den zu denken wir in dieser Stunde und auch bei dieser Gelegenheit durch innere Nötigung getrieben werden. Im Namen des Arbeitsausschusses begrüße ich Sie, meine Damen und Herren, und heiße Sie herzlich willkommen. Möge unseren Versammlungen Gedeihen und Erfolg beschieden sein! [. . .]

Kunstgeschichte und Kunstsystematik (Begrüßungsansprache zum dritten Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft Halle .–. Juni  () Schon bei den ersten beiden Ästhetikerkongressen ist es mir vergönnt gewesen, im Anschluß an die jeweils neuesten Forschungen über den Gegenstand zu sprechen, der im Titel des heutigen Vortrags ohne Umschweif angegeben wird. Auch diesmal werde ich grundsätzlich nichts anderes sagen als früher. Trotzdem brauche ich nicht zu fürchten, daß die Wiederholung als unnütz erscheinen wird, denn der Wahrheit ist Eile verhaßt. An den Anfang stelle ich einen die Überschrift erläuternden Satz. Die Kunst, als ein Teil der vom Menschen frei und bewußt erschaffenen Welt, wird gleich den übrigen Gebieten der geistigen Kultur in zweifacher Weise von der Wissenschaft ergriffen: als eine historische Tatsache und als ein systematisch bestimmbares Gebilde. Obwohl noch immer die geschichtliche Auffassung den Vorrang hat, so besteht doch grundsätzlich kein Streit über die doppelte Möglichkeit, Kunst zu erkennen. Ebensowenig unterliegt es einem Zweifel, daß beide Sehweisen die Eigentümlichkeit der Kunst erfassen müssen. Indessen nicht selten ist die eine wie die andere Behandlung in Gefahr geraten, die Sonderart der Kunst zu zerstören oder mindestens zu verdecken. Hierüber muß zunächst gesprochen werden, denn aller Nachdruck gebührt der Einsicht, daß die Kunst ein ursprüngliches Wesen hat und von ihrem Erforscher, sei er Historiker oder Systematiker, Anerkennung dieses Wesens verlangt. Geschichte der Kunst läßt sich so treiben, daß man die bildnerischen, dichterischen, musikalischen Leistungen eines Volkes ganz und gar in die Schilderung seines geistigen Lebens hineinnimmt. So kann beispielsweise die Musik der Primitiven als beiläufiger Ausdruck primitiver Geistesart überhaupt dargestellt, und es kann – mit sprachlich verunglückter Wendung – von »musikalischer Völkerkunde« geredet werden. Die bildende Kunst der Griechen wird im Zusammenhang der Altertumswissenschaft erforscht; der zünftige Archäolog fühlt sich dem Altphilologen und Althistoriker näher verwandt als den windigen Gesellen, die über Expressionismus und neue Sachlichkeit schreiben. Selbst ein Jakob Burckhardt verschmilzt die Kunst so völlig mit dem Gesamtzustand einer Zeit, daß er Merkmale einer bestimmten Kunstweise, nämlich Reichtum an Formen, Verarmung im Gehalt, dazu benutzt, um das Versiegen nationaler Lebensquellen zu schildern. Dehios »Geschichte der deutschen Kunst« nennt als ihren eigentlichen Helden das deutsche Volk 1. Nahezu 1 Dehio gibt zu, daß sich sein Unternehmen »aus dem Wesen der Kunst nicht begründen läßt«. Aber er sagt dann weiter: »Deutsche Kunst in uns aufzunehmen heißt: in Kontakt mit dem

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jede Literaturgeschichte senkt sich in Zeit und Volk, sogar in Geschlechterfolgen und Stammesverschiedenheiten, da das Wortkunstwerk dem Wesen der Sprache verhaftet bleibt und hiermit dem Wesen einer Nation; es sei Joseph Nadler genannt, dem zufolge die oberste Pflicht der Literaturgeschichte darin besteht, den Aufbau eines Volkes klarzulegen, die Gliederung des Volksgefüges zu erkennen. In diesen und vielen andern Fällen erscheint die Kunst als Binnenstück eines großen Organismus: sie ist ein Volkstum, unter einem bestimmten Gesichtspunkt betrachtet, oder sie gehört als Bestandteil in das Gesamtbewußtsein einer Zeit. Das hat zur Voraussetzung, daß nationale und zeitliche Kultur jeweils eine Einheit darstellen – woran zu zweifeln erlaubt ist. Und das hat zur Folge, daß Inhalt und Zweckverwendung der Kunstwerke betont werden, weil sie mit den Gütern und Bedürfnissen von Zeit und Volk sichtlich verbunden sind, hingegen Gestalt und Formgebung der Werke in den Schatten treten. Wird schon hierdurch ein entscheidender Zug des Kunstseins verdunkelt, so wird vor allem durch das Verfahren im ganzen die Selbständigkeit der Kunst zerrüttet. Denn eine jede Geschichte einer jeden Kunst sollte von der Überzeugung getragen sein, daß es ein geschichtliches Subjekt gibt namens Kunst. Um den Lebenslauf dieses Subjektes handelt es sich, um die Entwicklung eines bestimmten Umkreises geistiger Interessen und Arbeiten. Die Abgrenzung dieses Umkreises und seine gesonderte Betrachtung läßt sich deshalb nicht vermeiden, weil das im Begriff der Kunst Zusammengefaßte nach Beschaffenheit und Wirkung sich von allem dem unterscheidet, was sonst zum Volks- oder Zeitgeist gehört. Wenn Wölfflin sagt: »Das Sehen an sich hat seine Geschichte, und die Aufdeckung dieser ›optischen Schichten‹ muß als die elementarste Aufgabe der Kunstgeschichte betrachtet werden« 2, so ist das zwar einseitig, wie sich nachher herausstellen wird, aber doch grundrichtig. Die künstlerischen Formen führen ihr eigenes Leben und schaffen sich ihre besonderen Aufgaben. Gerade dadurch erhalten sie ja eine gewisse innere Logik und heben sich aus dem geschichtlichen Gesamtvorgang heraus, der bis zu einem höheren Grade irrational bleibt. Bereits die Aufbewahrung bestimmter Werke (während andere zerstört oder doch vergessen werden) hängt hier von Gesichtspunkten ab, die für die Unterlage etwa der Rechtsgeschichte kaum in Betracht kommen 3; denn der dem Kunsthistoriker vorliegende Stoff ist ausgewählt durch die Anerkennung Sachverständiger und durch die Wirkung auf die Masse, sofern er nicht lediglich durch den Zufall bestimmt ist. Gar nun Seelenleben unserer Vorfahren treten. Deutsche Kunst verstehen heißt: uns selbst verstehen . . .« Er bezeichnet die Kunst als »etwas mit der Ganzheit des geschichtlichen Lebensprozesses unseres Volkes unlöslich Verbundenes«. (Georg Dehio, Geschichte der deutschen Kunst, Text Band 1, [Berlin und Leipzig] 1919, Vorwort S. V; vgl. S. 5 ff.). 2 [Heinrich Wölfflin:] Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst. 4. Aufl. München 1920, S. 11/12. 3 Es ist zu beachten, daß die Kunst ohne Rest in den Kunstwerken beschlossen ist, während es eine »Differenz zwischen dem tatsächlichen und dem formulierten Recht« gibt. Vgl. Rudolf von Ihering, Geist des römischen Rechts [Teil] I, 6. Aufl., Leipzig 1907, S. 31.

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der Zusammenhang der aus eigenen Gründen erhalten oder bekannt gebliebenen Tatbestände der Kunst unterscheidet sich völlig von der Verbindung der politischen oder der wirtschaftlichen Erscheinungen untereinander. Es kann demnach keinem Zweifel unterliegen, daß die Einschmelzung der Kunst in die geistige Kultur dem Eigenwert der Kunst erheblich Abbruch tut. Wenden wir uns jetzt zur Systematik der Kunst, so treffen wir auch hier auf ein Vorgehen, das die Grenzen verschleift. Zwar brauchen wir heute nicht mehr gegen eine allmächtige dialektische Methode anzukämpfen, die sich alle Gebiete unterwerfen wollte, aber wir müssen jene Denkweise prüfen, nach der die theoretischen Vorstellungen, die auf einem bestimmten Gebiet sich durchgesetzt haben, als überhaupt maßgebend angesehen werden. Der Siegeslauf der Naturwissenschaften war eine Zeitlang verhängnisvoll geworden für die Selbständigkeit der Wissenschaften vom Menschen, seinem Gemeinschaftsleben und seinen Kulturschöpfungen: es schien so, als ob die naturwissenschaftlichen Verfahrungsweisen auch für die Geisteswissenschaften gelten müßten. Erst allmählich erkannte man, daß die theoretische Bearbeitung der in unserer Kultur aufgehäuften Sachverhalte nach eigenen Grundsätzen zu erfolgen hat. Eine solche Bearbeitung war den Theologen, Juristen und Grammatikern seit alters geläufig gewesen und »dogmatisch« genannt worden 4: die Theologen bemühten sich stets um die Systematisierung des in einer bestimmten Religion lebendigen Gehaltes 5, die Juristen erläuterten und ordneten die Rechtssätze 6, die Grammatiker suchten das Gesetz des Sprachbaus 7. Diese drei dogmatischen Wissenschaften waren nach Inhalt und Verfahren jedesmal von den Forderungen ihres Gegenstandes bestimmt und daher unter sich durchaus verschieden. Als aber ihre Systematik bewußt auf die Kunst angewendet wurde, konnte sich der Selbstwert des neuen Gegenstandes nicht hinlänglich durchsetzen oder doch nur in Untersuchungen, die auf der Höhenlage einer rein technischen Behandlung verharren. Es muß außerdem beachtet werden, daß die Gesichtspunkte etwa der allgemeinen Metrik oder der musikalischen Formenlehre für einzelne

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Vgl. Erich Rothacker im Handbuch der Philosophie, herausgegeben von A[lfred] Baeumler und M[anfred] Schröter, Abt. II, S. 22, München und Berlin 1927. 5 Adolf von Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte [Tübingen] 1909, [Bd.] I, [S.] 3: »Die kirchlichen Dogmen sind die begrifflich formulierten und für eine wissenschaftlich-apologetische Behandlung ausgeprägten christlichen Glaubenslehren, welche . . . den objektiven Inhalt der Religion darstellen.« 6 Arthur Baumgarten, Die Wissenschaften vom Recht und ihre Methode. Band I, Tübingen 134 1920, S. 8 f. – Von den Arten der »überhistorischen Interpretationsweise« spricht Gustav Radbruch in den »Grundzügen der Rechtsphilosophie«, Leipzig 1914, S. 190 ff. 7 H[eymann] Steinthal, Grammatik, Logik und Psychologie, Berlin 1855, S. 143: (Das Prinzip der Grammatik ist) »nichts anderes als das innerste und eigenste Wesen der Sprache«. – Georg von der Gabelentz, Die Sprachwissenschaft . . ., 2. Aufl., herausgegeben von A[lbrecht] Graf von der Schulenburg, Leipzig 1901, S. 81: »Die Darstellung des Sprachbaues ist Aufgabe der Grammatik.« – Hermann Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte, 4. Aufl., Halle a. S., 1909, S. 1: (Der Sprachgeschichte muß) »eine Wissenschaft zur Seite stehen, welche sich mit den allgemeinen Lebensbedingungen des geschichtlich sich entwickelnden Objektes beschäftigt, welche die in allem Wechsel gleichmäßig vorhandenen Faktoren nach ihrer Natur und Wirksamkeit untersucht.« 4

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Kunstgebiete gelten, jedoch nicht für die Kunst überhaupt. Die Kunst in ihrem bleibenden Gehalt zu erfassen und im Rahmen geisteswissenschaftlicher Systematik zu ergründen, ist die noch ungelöste Aufgabe. Zwar braucht heutzutage nicht weiter ausgeführt zu werden, daß ein Erklären der künstlerischen Gegebenheiten im Sinne der Naturwissenschaft den Mittelpunkt der Sache umgeht, wohl aber bedarf es eines nachdrücklichen Hinweises auf die Unzulänglichkeit jeder von anderwärts her übernommenen geisteswissenschaftlichen Begriffsbildung. Denn mindestens eine Anpassung dieser Denkmittel an die Problemlage der Kunst muß erfolgen. Das Nämliche verlangen wir von jeder philosophischen Betrachtungsweise. Indessen selbst die gegenwärtig im Vordergrund stehende phänomenologische Ästhetik läßt den Blick vom Tatsächlichen abschweifen und sich teils auf ein »Wesen«, teils auf »etwas im Objekt«, teils auf einen »Wert« richten, über deren nähere Beschaffenheit entweder nichts oder sehr Widersprechendes ausgesagt wird. Es verhält sich demnach so, daß sowohl die Unterordnung der Kunstgeschichte unter Volks- oder Zeitgeschichte als auch die Auslieferung der Kunstsystematik an ein sonst bewährtes Verfahren Bedenken erweckt, weil nicht genügend Rücksicht auf die Einzigartigkeit des Künstlerischen genommen wird. Was solche Rücksichtnahme bedeutet, wollen wir uns jetzt an Beispielen klar machen. Wir legen uns zunächst die Frage vor: welche Rolle spielt die Per sönlichkeit in der Geschichte der Kunst? Unzweifelhaft eine weit beträchtlichere als etwa in der Rechtsgeschichte. Im allgemeinen Bewußtsein werden sozusagen Werk und Schöpfer gleichgesetzt; auch im Kunstschutzgesetz gilt die in dem Werk verkörperte und ihm aufgeprägte Individualität des Schöpfers als das Wesentliche, und deshalb schützt das Gesetz »das Werk in seiner individuellen Form, niemals den dargestellten Gegenstand oder das Motiv als solches, nicht die von dem Urheber etwa neu eingeführte Kunstgattung, nicht den Stil oder die Manier, die Technik oder Methode des Urhebers« 8. Der Künstler durchdringt mit seiner Person dermaßen sein Erzeugnis, daß dieses sich jeder allgemeinen Betrachtung zu entziehen scheint. Aber wäre das die ganze Wahrheit, so gäbe es letzten Endes keine Kunstgeschichte 9. Erst der zweite Teil der Wahrheit ermöglicht sie, nämlich die Feststellung, daß selbst die individuellste künstlerische Leistung sich von ihrem Philipp Allfeld, Kommentar zu dem Gesetze betreffend das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste und der Photographie vom 9. Januar 1907. München 1908, C.H. Beck, S. 29. 9 Wenn es erlaubt ist, ein Gegenstück aus der Medizin anzuführen, so sei ein Satz Hahnemanns wiedergegeben, der von jeder epidemischen Krankheit behauptet, daß sie »sich jedesmal als eine andre, neue, nie ganz so jemals dagewesene Krankheit auszeichnet, sehr abweichend in ihrem Verlaufe sowohl, als in mehreren der auffallendsten Symptome und in ihrem ganzen jedesmaligen Verhalten. Jede ist allen vorhergegangenen, so oder so benannten Epidemien dergestalt unähnlich, daß man alle logische Genauigkeit in Begriffen verleugnen müßte, wenn man diesen von sich selbst so sehr abweichenden Seuchen einen jener in der Pathologie eingeführten Namen geben und sie dem mißbräuchlichen Namen nach arzneilich überein behandeln wollte« ([Samuel Hahnemann:] Organon der Heilkunst. 4. Aufl., Leipzig 1829, S. 174, in der Anmerkung). Die strenge Durchführung der an sich richtigen Erkenntnis würde die ganze Therapie als Wissenschaft zu Fall bringen. 8

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Urheber ablösen und als etwas für sich Seiendes verstehen läßt. Daher gibt es nicht nur zwischen den Künstlern Beziehungen – z. B. zeitlicher Art und schulmäßigen Zusammenhanges –, sondern auch die gleichsam frei schwebenden Werke sind so fest und innerlich verbunden, daß man sie als Gestalten desselben Wesens – sagen wir des Dichterischen – ansehen und den Gestaltwechsel dieses Dichterischen zum Gegenstand der sogenannten Literaturgeschichte machen darf. Eine fragenswerte Frage bleibt freilich, wie eine Wahrheit in zwei so verschiedene Teile zerfallen kann; wie sich der Höchstwert der Person mit der unabhängigen Sachbedeutung des Werkes verträgt. Hierauf wäre zu antworten, daß der Sinn des künstlerischen Sachwertes eben ein andrer ist als der des Sachwertes sonstiger Kulturgebilde, z. B. der wissenschaftlichen Theorien. Während eine solche Theorie rein objektive Geltungseinheit und ohne jeden Gedanken an einen Menschen nachzubilden ist, verstehen wir ein Kunstwerk immer nur als von menschlicher Lebendigkeit durchzogen; die Objektivität einer Beethovenschen Sonate erlaubt zwar, sie für sich zu nehmen und zu zergliedern, aber sie ist zugleich so beschaffen, daß sie den wärmenden Hauch des Beethovenschen Geistes nicht verliert. Das Erlebnis läßt sich also aus dem Sinngehalt des echten Kunstwerks niemals völlig tilgen. Was hiervon abweicht, ist entweder erlebnisfreie Kunstfertigkeit oder kunstfreies Erlebnis 10. Und zwar liegt der letzte Grund jener Verflechtung in der Tatsache, daß so, wie die Leistung eines jeden großen Mannes ein auf ein Allgemeines bezogenes Tun darstellt, das Schaffen des Künstlers aus dem Allerpersönlichsten heraus unwillkürlich und notwendig sich zu sachlicher Bedeutsamkeit erhebt. Als die Philosophie der Romantik den künstlerischen Genius einen »Individualisierungspunkt der Idee« nannte, zielte sie auf die Stellung der Persönlichkeit in der Geschichte jeglicher Kunst. Wir sprachen bisher von wirklich existierenden Personen. Unsere Fragestellung gilt aber auch den ersonnenen Personen: dem griechischen und dem gotischen Menschen, dem naiven und dem sentimentalen, dem apollinischen und dem dionysischen Menschen. Diese Typen beweisen gleichfalls, daß das gegenständliche Sein eines Kunstwerks ohne den Gedanken an ein schaffendes Subjekt unzulänglich aufgefaßt würde, und daß es sich bei den wirklichen Personen keineswegs um die Abhängigkeit des Werkes von Lebensschicksalen handelt, sondern daß eben nur der Hinblick auf den Ursprung aus einem Subjekt gemeint ist. Ob die Aufstellung geistiger Menschentypen nötig ist, bleibe unerörtert; der von Burckhardt und seinen Nachfolgern beschrittene Weg hat jedenfalls die Richtung auf das erstrebenswerte Ziel, nämlich auf das Verständnis für die allgemein-subjektive Bedingtheit des künstlerischen Gegenstandes. Je entschiedener ich selber früher das Insichsein des Kunstwerks gelehrt habe, desto unbefangener darf ich jetzt den Persönlichkeitskern jener geschlossenen Gestalt hervorheben.

10 Aus dieser Überlegung wird die erzieherische Wirkung der Kunst verständlich, soweit sie die Entfaltung schöpferisch-gestaltender Kräfte betrifft.

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Das zweite Beispiel, das herangezogen werden soll, ist der Gedanke eines For tschr ittes im historischen Geschehen. Diesem Gedanken liegt zugrunde der Begriff der Zeit als einer eindimensional sich erstreckenden geraden Linie. Mit Recht hat hiergegen Volkelt die umfangende zweite Dimension der Zeit ausgespielt, und hat Pinder die Bilder einer Zeitfläche, eines Zeitraums, eines Zeitwürfels entworfen 11. Der einfache Begriff des Fortschritts versagt schon deshalb, weil die im gleichen Jahr oder Jahrzehnt lebenden Künstler auf verschiedenen Stufen ihres Alters und ihrer Entwicklung stehen, also in sehr verschiedenem Sinne an der etwa erreichten Gleichmäßigkeit der Kunstübung teilhaben. Doch auch der Begriff der Vervollkommnung im allgemeinen erweist sich in der Kunstgeschichte als hinfällig: es braucht nur an Riegls Lehre vom Kunstwollen erinnert zu werden. Neuerdings hat der Musikhistoriker Willibald Gurlitt von den einzelnen Instrumententypen gezeigt, daß sie sich keineswegs überholen, daß es beispielsweise nicht eingleisig vom Clavichord zum Flügel emporgeht; vielmehr liegt es so, daß die Klangtypen der Musikinstrumente einen Bezug zu dem Klangideal ihrer Zeit besitzen. Bei der Geige freilich scheint durch Antonio Stradivari (um 1700) das bleibende Ideal erreicht zu sein; aber dort, wo neue Formen an die Stelle der alten getreten sind, ist nicht notwendigerweise eine Rangordnung entstanden. Das Kunstwollen einer Zeit birgt in sich den Hinblick auf einen bestimmten Klanghorizont sowie die Neigung zu bestimmten Formen und Farben, und der Fortschritt bezieht sich auf die Anpassung der Kunstmittel und Kunstwerke an jenes »spezifische Wollen«, wie Riegl sagte. Die Lehre vom Fortschritt im Werden der Kunst haftet aber nicht ausschließlich an der Vorstellung der zeitlichen Vorwärtsbewegung. Vielmehr wirken auch religiöse und metaphysische Überzeugungen hinein. Um dies verständlich zu machen, muß etwas weiter ausgeholt werden. Wenn wir uns dessen erinnern, daß Gegebenes nicht nur der Kategorie des Besonderen, sondern auch der des Allgemeinen untersteht, und wenn wir in Betracht ziehen, daß die wissenschaftliche Bewertung stets das Allgemeine bevorzugt hat, so begreifen wir die Versuche, den Einzeltatsachen der Kunstgeschichte eine allgemeine Bedeutung zu schaffen. Dies kann so geschehen, daß die Verwirklichung eines göttlichen Plans angenommen wird, oder so – und das ist weitaus häufiger der Fall –, daß der Entwicklung ein letztes Ziel gesetzt wird. Unter beiden Voraussetzungen erhält der Gang der Kunstgeschichte die Würde des Fortschreitens. Daneben stehen zwei andere Möglichkeiten, die zwar keinen Fortschritt, aber wenigstens eine Gesetzmäßigkeit im Werden der Künste verbürgen. Mit der ersten Möglichkeit haben wir uns schon beschäftigt: die Abhängigkeit von Volkstum und Zeitlage, von der Rasse und der Art des Gemeinschaftslebens, vom Klima und von der Umgebung überhaupt bindet die Johannes Volkelt, Phänomenologie und Metaphysik der Zeit, München 1925, C.H. Beck, S. 75 ff.: »Trotz ihres linienartigen Verlaufes ist die Zeit doch in jedem Punkte in sich ausgeweitet . . . Erst Erstreckung und Umspannungsweite zusammen erschöpfen die Struktur der Zeit« (S. 77). – Wilhelm Pinder, Das Problem der Generation in der Kunstgeschichte Europas, Berlin 1926. 11

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Künste an Größen, die allgemeinen Bestimmungen zugänglich sind. Die zweite, die letzte Möglichkeit, soll alsbald näher besprochen werden. Sie ist zugleich die erwünschteste; mit ihr wird eine Gesetzlichkeit aufgedeckt, die sich in den kunstgeschichtlichen Tatsachen selber verbirgt. Um zusammenzufassen: das Allgemeine der Kunstgeschichte liegt entweder außerhalb ihrer (als religiöser Hintergrund) oder oberhalb ihrer (als metaphysisches Ziel) oder unterhalb ihrer (als natürlicher und seelischer Vorgang) oder innerhalb ihrer (als Regel, die die Einzeltatsachen verknüpft). Wollten wir auf das Allgemeine in der Kunstgeschichte verzichten, so wäre der Weg zur Kunstsystematik versperrt. Es bleibt nur fraglich, welche Art des Allgemeinen der Kunsthistoriker wählen soll, oder besser – da das ja nicht fraglich sein kann – in welchem Sinne die den Tatsachen innewohnende Gesetzlichkeit zu verstehen sei. Keinesfalls im Sinne eines geradlinigen Fortschrittes. Aber auch nicht im Sinne eines sich entwickelnden dingartigen Wesens. Ich habe anfangs von der Kunst als von einem geschichtlichen Subjekt gesprochen, dessen Lebensschicksale erzählt werden müssen, und ich habe dieses Bild verwendet, um die Selbständigkeit der Kunst hervorzuheben. Doch war es weder die Absicht, damit die Bedeutung der Künstlerpersönlichkeiten zu mindern und sie zu Vollzugsorganen einer überpersönlichen Macht zu stempeln, noch sollte die Kunst zu einem dinghaften Wesen gemacht werden. Von diesem zweiten Punkt ist hier die Rede. Gesetzt, zwei Kunstwerke oder zwei Kunstzeiten seien in Verbindung zu bringen, so scheint die angemessene Vorstellung nicht die einer sich in der Erscheinungsform verändernden Kunstsubstanz, sondern die einer an den Werken oder Stilen sichtbar werdenden Regel der Veränderung. Eine solche Regel wäre beispielsweise der Fortschritt von der haptischen Raumauffassung zur optischen Raumanschauung. Hierbei wäre nicht nur die spätere Schaffensweise in der früheren begründet, sondern insofern auch für jene begründend, als sie das Ziel darstellt für die sich entwickelnde ältere Kunstübung. Eine solche beziehentliche Geschichtsschreibung hat eine Systematisierung der Lebensäußerungen zur Folge; die Zeitordnung tritt zurück hinter einem sinnvollen Zusammenhang. Darstellungen, die bestrebt sind, das Zeitliche in eine Sinneinheit umzusetzen, pflegen ihren Stoff mehr oder minder bewußt, mehr oder minder ausschließlich nach sachlichen Gesichtspunkten zu gliedern. Eine weitere Folge ist die, daß die zeitliche Entwicklung sich in eine Reihe von Ruhezuständen auflöst, gleichsam stillgelegt wird. Da indessen die Bewegung nicht fortzudenken ist, so werden teils die großen Persönlichkeiten, teils die allgemein-geschichtlichen Krisen als bewegende Kräfte in die fast zeitlos gewordene Schilderung eingefügt, und es entsteht die Vorstellung einer ruckweise erfolgenden Entwicklung. Diese Quantentheorie der Geschichte läßt sich aus Jakob Burckhardts Werk ablesen und findet in Troeltschs »Historismus« eine Stütze. Sie ist ohne Zweifel sachlich berechtigt, denn die Geschichte wohl einer jeden Kunst zeigt an einigen Stellen scharfe Grenzen, ja Brüche. Eine besondere Form, die dem Gedanken des Fortschritts als einer sinnerfüllten Flegelhaftigkeit gegeben worden ist, bleibt noch zu prüfen. Sie wurzelt im

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deutschen Idealismus. Hegel nämlich verbindet die aus Systemgründen geforderte Dreiteilung der Kunst derart mit dem geschichtlichen Werden, daß er die symbolische, klassische und romantische Kunst in dieser Ordnung sich folgen läßt. Da nun die symbolische Kunst vornehmlich Baukunst ist, die klassische Kunst ihren höchsten Ausdruck in der Plastik findet und die romantische Kunst Musik, Malerei und Poesie umfaßt, so geht der zeitliche Fortschritt von der Baukunst zur Poesie. Natürlich wußte Hegel, daß die zeitlich genommen erste, die symbolische Kunst der Architektur stets andere Künste neben sich gesehen hat, und daß die höchste Kunst, die des Dramas, uralten Ursprungs ist, aber er hielt an der geschichtlichen Bedeutung der Reihe fest, da sie den Wandel in der Vorherrschaft der Künste bezeichnet. Indem die Plastik bei den Griechen ihren Gipfelpunkt erreicht, über den keine Zukunft hinausgelangen kann, wird sie eben zum Wahrzeichen der klassischen Zeit. Mit einer ähnlichen Anschauung ist neuerdings Wilhelm Pinder hervorgetreten. Er erkennt den Fortschritt darin, daß die Künste nacheinander reifen und nacheinander die Zeitalter bestimmen; die nicht nur zuletzt gereifte, sondern sogar zuletzt entstandene Kunst, die absolute Musik, beherrscht unser gegenwärtiges Leben, während die Architektur als naive Sprache uns verloren gegangen ist (a. a. O. S. 110 ff.) 12. Lassen wir einmal die Wortkunst beiseite, weil sie die Grundwerte der Kunst anders verwirklicht als es durch das nicht-sprachliche Schaffen geschieht, und halten wir uns an die Ordnung Architektur, Plastik, Malerei, Musik, so bedeutet diese Ordnung sowohl die Zeitfolge in der Führerschaft, als auch einen systematischen Aufbau, der vom Räumlichen zum Zeitlichen, vom Unlebendigen zum Lebendigen, von der Gegebenheit zur Geistigkeit emporsteigt. In einer solchen hegelisierenden Gesamtanschauung decken sich demnach die kunstgeschichtlichen und die kunstsystematischen Grundbegriffe, und deshalb ist sie uns grundsätzlich von Wert. Die Theoretiker unter den heutigen Kunstforschern zeigen indessen auch eine unverkennbare Neigung zu Gedankenbildungen in der Art des jungen Schelling. Sein Gesetz der Polarität scheint ihnen vorzuschweben, wenn sie Kunstweisen sich ablösen lassen nach Form und Ausdruck, Freiheit und Notwendigkeit, Naturferne und Naturnähe, Abstraktion und Einfühlung. Nur daß diese Betrachtung der künstlerischen Tatsachen nicht so weit spannt wie die aus Hegels Geist geborene. Denn die Folge der großen Kunstgattungen wird aus solcher rhythmischen Bewegung nicht restlos verständlich. Die eigentliche Stätte der dualistischen Lehren ist auf der einen Seite in Plastik und Malerei, auf der anderen Seite in Schauspielkunst und Tanz zu finden. Für die bildnerische Gestaltung gibt es, wie jedermann weiß, die Es liegt nicht in der Absicht des Vortrags, diese Behauptung im einzelnen zu prüfen; immerhin darf ich nicht verschweigen, daß ich in der Baukunst der Gegenwart starke schöpferische Kräfte am Werke sehe und das Volksbewußtsein in denselben Grenzen beteiligt finde, innerhalb deren es sich gegenüber Malerei und Plastik hält. Von solchen Bedenken kann abgesehen werden. Denn als wesentlich empfinde ich den Gedanken, daß die Kunstgeschichte (im weiteren Sinne des Wortes) aus der vollen Breite der Erscheinungen einen Strang löst, der Form und Richtung (der Hauptsache nach) aus sich selbst gewinnt. 12

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doppelte Möglichkeit, entweder sich dem Vorgefundenen zu nähern, oder sich nach Kräften von ihm zu entfernen, und mit Rücksicht auf die bildende Kunst kann man alle Kunstalter in stoffnahe und formstarke scheiden 13. Jedoch auch die Schauspieler und namentlich die Tänzer können wählen, ob sie sich der Wirklichkeit, dem Erlebnis hingeben, oder ein Reich selbständiger Gestalten errichten sollen. Wohl verstanden: die Einzelnen haben nicht die Wahl, da sie durch körperlich-seelische Veranlagung dazu getrieben werden, entweder sich einzuschmelzen oder gesetzgeberisch aufzutreten. Nur im ganzen bewegen sich diese Künstler und Künste zwischen polaren Gegensätzen, und zwar auch in der geschichtlichen Entwicklung. Mit einiger Übertreibung darf gesagt werden, daß Nahkunst und Fernkunst sich ablösen, und es darf daraus gefolgert werden, daß der Rhythmus in der Geschichte der genannten vier Künste durch ein Sachgesetz bestimmt wird. Dies Gesetz, aus der Natur bestimmter Kunst ar ten hervorgegangen, ergänzt die Reihenordnung der Kunst gattungen. Wenn demnach gewisse systematische Voraussetzungen zum Wahrheitsminimum der Kunst geschichte gehören, so bleibt anderseits die Kunst systematik abhängig von Inhalt und Wesen der Geschichte. Immer nämlich – wer kann das leugnen? – mischt sich geschichtliche Begrenztheit in unsere theoretische Begriffsbildung. Indem wir den Aufbau des Kunstwerks zu zeichnen versuchen, schwebt uns die führende Kunstgattung und innerhalb dieser ein bestimmtes Zeitideal vor. Unwillkürlich beziehen wir die verschiedenen ästhetischen Grund gestalten auf verschiedene Stile, beispielsweise das Ideal-Schöne auf die klassische Kunst. Mit einem Wort: in der gesamten Kunstsystematik findet sich kein geschichtsfreier Satz. Das scheint den Dogmatikern ein Ärgernis, und daher haben sie das vergleichende Verfahren zu Hilfe gerufen. Dies Verfahren, von manchen für die entscheidende Methode sämtlicher Geisteswissenschaften erklärt, soll nämlich die allgemeine Erkenntnis vom Einbruch der geschichtlichen Einzeltatsachen befreien und durch Nebeneinanderstellen der vielen Erscheinungsformen der Kunst zum bleibenden Wesen der Kunst leiten können. Schon Gervinus und Semper 14 haben den Wert der Vergleichung in bestimmten Grenzen anerkannt, doch erst später ist ihr die Kraft zugeschrieben worden, Wesen und Norm der Kunst zu enthüllen. Wir müssen uns hüten, hierin zu weit zu gehen. Will man nach alter Vorschrift die Ähnlichkeiten zwischen den Kunstschöpfungen aller Arten, aller Zeiten, aller Völker in einer Begriffsbestimmung zusammenfassen, so kommt etwas unsagbar Gleichgültiges heraus. Jeder wirklich wesentliche Satz über Kunst, jedes mit Blut gefüllte Wort entspringt einer Person, einer Zeit, einem Volk. Aber gemeint wird von allen Wissenden stets dasselbe, so verschieden sie reden mögen; selbst das, was Aristoteles über die Tragödie geschrieben hat, ist so beschaffen, daß wir noch heute beim Lesen plötzlich den eigenen Herzschlag verspüren. Wenn man das Leben der zeitlichen, nationalen, persönlichen Bedingtheit vernichtet und durch Vergleichung 13 14

Vgl. Kurt Breysig, Eindruckskunst und Ausdruckskunst, [Berlin] 1927, S. 176 ff. Nachweise bei Rothacker a. a. O. [siehe Fn. 4] S. 104 f.

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zahllos vorliegender Gestalten eine tote und nichtssagende Formel herstellt, so ist damit ein unnützes Opfer gebracht, da ja im Verschiedenartigen – und zwar bei voller Erhaltung dieses Verschiedenartigen – eine geistige Gemeinsamkeit enthalten sein kann. Man muß freilich das »Enthaltensein« recht verstehen. Die Kunst, die den Gegenstand der Theorie bildet, ist nicht ein Gemenge aus Teilen, die durch die Geschichte hindurch verstreut sind, sondern sie ist ein ideales Gebilde, das den einzelnen Tatsachen werthaften Sinn gibt, ein Gebilde von solcher schöpferischen Kraft und zugleich von solcher Beweglichkeit, daß eine bunte Fülle darin aufgenommen werden kann. Es kommt darauf an, die in der Sache selbst liegende Einheit zu entdecken, durch die alles Einzelne von innen her miteinander verknüpft wird, genauer: das Immanenzverhältnis des Begrifflichen mit dem Geschichtlichen. Gleichwie Wirklichkeit und Möglichkeit – bei Aristoteles – einander fordern, wie Form und Stoff – bei Kant – aufeinander angewiesen sind, wie demnach, allgemein gesprochen, Sinngehalt und Erscheinung stets zusammen gehören, so bilden auch der Gegenstand der Kunsttheorie und der Tatbestand der Kunstgeschichte eine Einheit. Das Bezugssystem der allgemeinen Kunstwissenschaft verleiht dem historisch Gegebenen einen logischen – etwa einen typologischen – Zusammenhang; das historisch Gegebene aber bewährt seine Ursprünglichkeit darin, daß es den Reichtum des persönlichen Lebens in die andere Ebene überleitet und sie so sehr oder so wenig ausfüllt, wie der empirische Umfang eines Begriffs sich mit seinem logischen Umfang zu decken braucht. Unvertilglich ist der Gegensatz zwischen Ruhe und Lakonismus des Systems einerseits, Wandelbarkeit und Beredsamkeit der Geschichte anderseits. Dennoch streben sie zueinander im Liebeshaß. Dies Verhältnis immer klarer herauszustellen, wird eine der Aufgaben in der weiteren Entwicklung unserer Wissenschaft sein. Es ist vorauszusehen, daß hierbei und schon auf dem heute beginnenden Kongreß die Meinungen nach verschiedenen Richtungen gehen werden. Nehmen wir uns, wie die Philosophen es stets getan haben, den gestirnten Himmel zum Vorbild: jeder Stern zieht seine eigene Bahn, und doch stört er keinen anderen, weil alle dem gleichen Gesetz unterworfen sind. Das uns bindende Gesetz aber lautet: Erkenntnis der Kunst durch Kunst der Erkenntnis.

Sinn und Aufgabe der allgemeinen Kunstwissenschaft (/) Vortrag, gehalten im Mai 1924 auf dem internationalen Philosophenkongreß zu Neapel.

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Wenn ich die Aufmerksamkeit der philosophischen Fachgenossen für die allgemeine Kunstwissenschaft in Anspruch zu nehmen wage, so geschieht das mit dem Gefühl, sie auf ein Nebengebiet zu locken, das den meisten als abseitig gelegen erscheint. Ich brauche mich daher wohl nicht zu scheuen, manches, was schon früher gesagt worden ist, noch einmal auszusprechen, und anderes, was zu wenig philosophisch im eigentlichen Sinne ist, trotz seiner fachmäßigen Bedeutsamkeit, zu übergehen. Ich beginne mit einer einfachen, aber notwendigen Feststellung. Die philosophische Ästhetik hat zu ihrem Gegenstand Erscheinungen, die an drei Stellen auftreten: erstens in der Gestaltung des persönlichen und gesellschaftlichen Lebens, zweitens in der Naturwirklichkeit, drittens in der Kunst. Das erste Erscheinungsgebiet pflegt man mit dem Wort: ästhetische Kultur zu bezeichnen, für das zweite bevorzugt man den Ausdruck: das Naturschöne. Dort handelt es sich um jene gefällige Ordnung und schmückenden Reize, mit denen wir unser Benehmen und unseren Verkehr zu beleben pflegen; beim Naturschönen kommen alle die Werte in Betracht, die in der Gestalt der Pflanzen und Tiere, sowie im Landschaftlichen, als Anreger unseres interesselosen Wohlgefallens auftreten. Es hat sich nun herausgestellt, daß mit den Begriffen, die auf diesen beiden Gebieten der Ästhetik seit alters verwendet werden, das Wesen der Kunst nicht hinlänglich erklärt werden kann, obwohl jene Begriffe ohne Zweifel auch für die Kunst eine große Bedeutung haben. Es hat sich ferner ergeben, daß die beiden herrschenden Methoden, nämlich die psychologisch- erklärende und die Regel-gebende, für das Verständnis der Kunst nicht ausreichen. Kunst als eine objektive Tatsache wird weder begriffen, indem man die subjektive Resonanz ihrer Werke untersucht, noch dadurch, daß man ihr Gesetze diktiert. Neben der Ist-Ästhetik und der Soll-Ästhetik muß es noch ein Verfahren geben, das dem eingeborenen Anspruch der Kunst wirklich gerecht wird. Aus inhaltlichen und methodologischen Erwägungen ist man also dazu übergegangen, neben die Ästhetik eine eigene Theorie der Kunst, die sogenannte allgemeine Kunstwissenschaft zu stellen. Vorbereitet wurde sie in den einzelnen Kunstwissenschaften: der Poetik, der Dramaturgie, der Musiktheorie usw. Aber bei ihnen durfte man nicht stehen bleiben, denn das wäre nicht besser gewesen, als wenn

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nur gesonderte Wissenschaften von Nadelhölzern, Blumen, Moosen anerkannt würden, ohne daß es eine Botanik gäbe. Es bildete sich demnach aus guten Gründen eine selbständige und umfassende systematische Lehre von der Kunst überhaupt. Ihre erste Aufgabe besteht darin, sich zu rechtfertigen, denn es ist fraglich, ob das Kunstwerk, mit dem sie sich beschäftigt, die wissenschaftliche Behandlung verträgt: möglicherweise sind Kunstwerke (eben als Träger von Kunst) nur dem Genuß und nicht der Forschung zugänglich. Die Frage, ob theoretische Untersuchung das Wesen der Kunst zu ergreifen imstande sei, bildet das erkenntniskritische Problem der allgemeinen Kunstwissenschaft. Je nach dem auch sonst eingenommenen Standpunkt wird die Antwort verschieden ausfallen. Nach meiner Ansicht ist die wissenschaftliche Erkennbarkeit der Kunst sowohl praktisch erwiesen als auch theoretisch verständlich. Es gibt wohl Begriffe, die wissenschaftlich nicht gefaßt werden können: das Absolute, beispielsweise, wird sich deshalb nie erklären lassen, weil Erklärung stets ein Abhängigmachen oder Zurückführen bedeutet, das Absolute jedoch sein Gepräge verliert, sobald es in ein Bedingtes sich verwandelt. Auch das Subjekt büßt seinen Charakter ein, wenn es Gegenstand der Erkenntnis werden soll, da es hiermit ja notwendigerweise in die Gruppe der Objekte übergeführt wird. Ebenso vernichtet unser Wissenwollen das Wesen der Freiheit, denn es legt der Freiheit Ketten an. Soweit also in der Kunst das Absolute, das reine Subjekt und die Freiheit erscheinen, steht Kunst außerhalb der theoretischen Wissenschaft. Aber dies ist ja nicht das Eigentümliche der Kunst. Das beachtenswerteste Bedenken richtet sich vielmehr dagegen, daß ein zum Genuß bestimmtes Erzeugnis menschlichen Geistes seines Zaubers entkleidet werde, wenn man es dem Seziermesser ausliefert. Damit würde die Kunst von demselben Einwand getroffen, dem alles Lebendige ausgesetzt ist, von der Geschlechtsliebe angefangen bis hinauf zur religiösen Inspiration. In der Tat läßt sich die Lebendigkeit solcher Erfahrungen nicht bewahren, wenn ein System aufgestellt wird, denn die Wissenschaft tötet alles ursprüngliche Leben, um überlebendige Geistigkeit an seine Stelle zu setzen. Jedenfalls gibt es keinen Vorwurf, der, aus der geschilderten Richtung kommend, ausschließlich die Kunstwissenschaft träfe, und es gibt keinen Grund, der uns veranlassen könnte, von vorneherein unser Unternehmen preiszugeben. Ein zweites Problem, dem ersten verwandt, liegt darin, gegenüber der anerkannten geschichtlichen Behandlung der Kunst, ihre systematische Untersuchung zu rechtfertigen. Im Grunde sollte das nicht nötig sein, denn jede geschichtliche Darstellung ruht auf Voraussetzungen über Art und Grenzen der Einzelkünste, Voraussetzungen, die geprüft (und oft berichtigt) werden müssen. Es handelt sich hier nicht um die allgemeine Methodologie der Geschichtswissenschaft, denn die Besonderheit der Kunst verlangt auch besondere Verfahrungsweisen für die geschichtliche Darstellung. So könnte hier mit Fug die Frage aufgeworfen werden, die innerhalb der politischen Geschichte ganz sinnlos wäre, ob die Einzigartigkeit jedes Kunstwerkes nicht überhaupt den geschichtlichen Zusammenhang als gleichgültig erscheinen lassen muß. Ich sage das nicht, um es etwa zu behaupten, sondern nur, um ein Beispiel dafür zu geben, daß die Möglichkeit, ein Kunstwerk

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lediglich aus sich selber zu begreifen (eine Möglichkeit, die bei einem politischen Vorgang niemals besteht), sich doch irgendwie in der geschichtlichen Behandlung spiegeln muß. Aber sehr ernsthaft sind nunmehr die Fragen ins Auge zu fassen, die gerade gegenwärtig von Kunst-, Literatur- und Musikhistorikern erörtert werden, als da sind: Abwendung vom Biographismus, Übergang zur Gattungs- und Problemgeschichte, Periodenbetrachtung an Stelle einer allgemeinen Fortschrittsidee, Einbeziehung der Kunst in bestimmte Kulturkreise oder Landschaften und dergleichen mehr. Es läßt sich nicht leugnen, daß wir von der streng geschichtlichen Betrachtungsweise jetzt immer mehr zu einer philosophischen Auffassung im Sinne Hegels fortgetrieben werden. Manche aus dem jüngeren Geschlecht gebrauchen das Wort Entwicklung schon durchaus im Sinne einer inneren Notwendigkeit. Wird somit auf der einen Seite die Bedeutung einer systematischen Kunstlehre für die Geschichte der Künste von Tag zu Tag deutlicher, so drängen auf der anderen Seite neue Momente dahin, kunstgeschichtliche Tatsachenforschung und kunsttheoretische Begriffswissenschaft voneinander zu trennen, allerdings im Sinne einer discors concordia. Bei jeder Formanalyse sollte darauf geachtet werden, das Zeitlos-systematische von dem Zeitlich-geschichtlichen zu sondern; gar nun, wenn Stile in polaren Gegensätzen geordnet oder Elementarbegriffe jeder Kunstgattung ermittelt werden, muß von der zufälligen geschichtlichen Erscheinung zu dem wesenhaft Notwendigen fortgeschritten werden. So mündet schließlich die Untersuchung auf diesem Gebiet in das allgemeine Problem von der Wirksamkeit des Unbedingt-gültigen im Bedingt-gegebenen. Hiermit kommen wir nun zum letzten Punkt. Wenn sich die allgemeine Kunstwissenschaft als eine zu Recht bestehende und selbständige Disziplin erwiesen hat, darf sie die Frage aufwerfen, welcher endgültig letzte Sinn im Kunstwerk liegt. Sie hat die in der Kunst enthaltenen (ästhetischen, religiösen, sittlichen, intellektuellen) Werte zu sondern, ihre Verbindung nachzuweisen und eine Strukturlehre des Kunstgebildes zu entwerfen, denn es ist ja klar, daß fast alle Kunstwerke mehr sein wollen als bloße Behälter für ästhetische Reize. In unserer Zeit mehren sich allerdings die Bemühungen, in Malerei, Dichtkunst und Musik Gebilde zu formen, die nichts weiter bieten, als ein unterhaltendes Spiel ästhetischer Gefühlsqualitäten, aber wenn wir uns auf die große Kunst beziehen, so müssen wir sie dahin charakterisieren, daß sie Lebenswerte deutet und gestaltet. Wie sie das tut und wie sie das alles zur Einheit bringt, das muß von unserer Wissenschaft gezeigt werden. Von ihr ist ferner die Einteilung und Vergleichung der Künste zu behandeln. Gleichwie die Klassifikation der Wissenschaften immer als Aufgabe für den Philosophen gegolten hat, so wird der unseren Fragen sich zuwendende Philosoph untersuchen müssen, welch innerer Zusammenhang zwischen den Künsten besteht und inwiefern sie aufeinander einzuwirken vermögen. Endlich wäre auch an dieser Stelle das oben erwähnte Problem der Stilanalyse, allgemeiner: das der Beschreibung und der Erklärung der Kunstwerke zu nennen. Mir scheint demnach, daß neben den vielen Fragen, die in der eigentlich so zu nennenden Ästhetik stets erörtert worden sind und weiterhin erörtert werden sol-

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len, die nichtgeschichtlichen Probleme der Kunst einem besonderen Forschungszweige zugewiesen werden müssen. Die Bezeichnung: allgemeine Kunstwissenschaft ist gewählt worden, um den leicht entstehenden Irrtum abzuwehren, als ob es sich nur um die Wissenschaft von der bildenden Kunst handele; man kann aber mit gleichem Recht von systematischer oder theoretischer Kunstwissenschaft sprechen. Dagegen empfiehlt es sich nicht, unsere Disziplin ohne weiteres mit der Philosophie der Kunst gleichzustellen, denn wir haben es mit einer positiven Einzelwissenschaft zu tun, die zwar engste Beziehungen zur Philosophie sich angelegen sein läßt, aber doch nicht völlig in Philosophie aufgeht. Daß sie von Philosophen getrieben wird, ist ebensowenig zu beanstanden, wie die Tatsache, daß Psychologie oder Soziologie gleichfalls meist in den Händen von Philosophen liegen; und daß mit immer zahlreicher werdenden Arbeiten die Kunst-, Literatur- und Musikhistoriker willig ins Land der Philosophen ziehen, wird von uns allen mit freudiger Genugtuung begrüßt. Aus solchen Erwägungen heraus schöpfe ich die Rechtfertigung dafür, daß ich vor Philosophen von diesen Dingen gesprochen habe.

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Unter Skeptizismus verstehe ich nicht ein leichtfertiges Spiel mit wissenschaftlichen Einsichten und Verfahrungsweisen, sondern den ernsthaften Zweifel an der Möglichkeit eindeutiger Wahrheiten, allgemein gültiger Theorien, umfassender Systeme. Und zwar in diesem Fall innerhalb der Ästhetik und allgemeinen Kunstwissenschaft. Der geschichtliche Ort einer solchen Skepsis ist eine bestimmte Lage des wissenschaftlichen Geistes überhaupt oder wenigstens eines Teils der Wissenschaften. Sie ist gerechtfertigt in Zeiten, wo die vorhandenen Denkmittel, zumal die Leitsätze und Verfahrungsweisen, für die irgendwie veränderten Bedürfnisse des Erkennens nicht ausreichen oder – was Grund wie Folge dieses Umstandes sein kann – gegenüber den zahlreicher und tiefer gewordenen Problemen sich als ungenügend erweisen. Allerdings werden unter Verhältnissen dieser Art auch andere Auskunftsmittel ergriffen. Oft entsteht ein Eklektizismus, der die vorhandenen Schwierigkeiten und Widersprüche durch eine Auswahl aus verschieden gefärbten Einsichten der Vergangenheit übertüncht; gelegentlich läßt man die Wissenschaft auf eine Methodologie zusammenschrumpfen, indem man glaubt, die Arbeit könne nicht eher mit Erfolg fortgesetzt werden, als bis der Aufgabenkreis der Disziplin sicher umgrenzt und das richtige Verfahren festgesetzt ist. Aber der Skeptizismus ist doch wohl die natürlichste und fruchtbarste Folge der bezeichneten geschichtlichen Lage. Somit fehlt er auch in der Gegenwart nicht. Denn die ganze Kultur unserer Zeit entbehrt der großen Linien und der letzten Sicherheiten. Das gilt von Religion und Philosophie, Kunst und Wissenschaft. In allen diesen Betätigungskreisen fühlt der moderne Mensch sich unfähig zu einer einfachen Formel. Mir scheint, daß die Philosophen, die aus dem Geist der Gegenwart heraus denken und schaffen, mit zu viel neuen und immer wechselnden Erfahrungen kämpfen müssen, zu viele Möglichkeiten erblicken und zu wenig naiven Glauben besitzen, um die überlieferte Sicherheit der Theorie- und Systembildung aller Orten festhalten zu können. In Wahles Buch über das Ganze der Philosophie A, in Simmels Einleitung in die Moralwissenschaft B, in Diltheys Abhandlung über pädagogische Wissenschaft C, in der Richard Wahle: Das Ganze der Philosophie und ihr Ende. Ihre Vermächtnisse an die Theologie, Physiologie, Ästhetik und Staatspädagogik. Mit 60 Figuren in Holzschnitten. Wien / Leipzig 1894. B Georg Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft. Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe. 2. Bde. Stuttgart / Berlin 1892–1893. C Wilhelm Dilthey: »Ueber die Möglichkeit einer allgemeingültigen pädagogischen Wissenschaft«. In: Sitzungsberichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin 1888, S. 807–832. A

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Schrift von P.J. Möbius über die Hoffnungslosigkeit der Psychologie A – in diesen so verschiedenartigen und nur beispielsweise herausgegriffenen Darlegungen finden wir die gleiche Stimmung. Freilich stehen daneben genug selbstsichere Werke, deren Urheber sich der Bedrängtheit des jetzt und so Denkenden überlegen wähnen. Meist jedoch sind sie im schlechten Sinne zeitlos, d. h. ohne Zusammenhang mit der Eigenart unserer Kultur. Und gerade für Ästhetik und Kunstwissenschaft bedeutet das einen empfindlichen Nachteil, da eine ihrer Voraussetzungen der Sinn für ästhetisches Leben und für Kunst ist und dieser Sinn ohne nahe Berührung mit der Umgebung nicht gedeiht. Man wird bemerken, daß Ästhetiker, die ihre Beispiele vornehmlich aus der Gegenwart schöpfen, am weitesten von jedem Dogmatismus abrücken. Die Bewußtseinslage der Zeit veranlaßt den, der wahrhaft an ihr teil hat, schließlich zur ὲποχή oder Urteilsenthaltung. Hinzu treten Gründe aus der unserer besonderen Wissenschaft augenblicklich zukommenden Beschaffenheit, aber auch aus ihrer bleibenden Verfassung. Ihnen ist der Hauptteil meiner Abhandlung gewidmet. Das Dasein solcher Gründe macht nämlich im Einzelfall die Zweifelslehre zu einer besonders beachtenswerten Richtung. Schon Protagoras hat seinen Satz, daß es über die Götter keine Vernunfterkenntnis gebe, mit objektiven Verhältnissen – mit der Dunkelheit der Sache und der Kürze des menschlichen Lebens – zu rechtfertigen für nötig erachtet.B Zahllose Erfahrungen führten die Skeptiker zu ihrem zweifach geformten Endergebnis, das die »Pyrrhonischen Grundzüge« folgendermaßen aussprechen: »Gleichkräftigkeit nennen wir die Gleichheit in Glaubwürdigkeit und Unglaubwürdigkeit, so daß keine von den streitenden Behauptungen der anderen als glaubwürdiger voransteht; Zurückhaltung ist ein Stillestehen der Einsicht, infolge wovon wir weder etwas verneinen noch bejahen.« C Auf einer genauen Kenntnis der kirchlichen Lehren ruht Abälards berühmtes Sic et non D, ein Einspruch gegen allzu schnelles Fertigsein in theologischen Angelegenheiten; nicht leichtsinnig, sondern im Besitz einer weiten Übersicht spricht Bayle von der letztlich unlösbaren Verwicklung philosophischer Probleme.E Ein ähnlicher Standpunkt läßt sich innerhalb der Ästhetik aus Beobachtungen und Erwägungen gewinnen, die Paul Julius Möbius: Die Hoffnungslosigkeit aller Psychologie. Halle 1907. Vgl. Protagoras z. B. in: Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen (3. Jahrhundert). In der Übersetzung von Otto Apelt unter Mitarbeit von Hans Günter Zekl neu hrsg. sowie mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Klaus Reich. Hamburg 2015 (Philosophische Bibliothek. 674), IX,51. C Sextus Empiricus: Grundriß der pyrrhonischen Skepsis (2. Jahrhundert). Übers. von Malte Hossenfelder. Frankfurt a. M. 52002 (11968), S. 10. D Petrus Abaelardus: Sic et non (1121/1122). Frankfurt a. M. 1981. E Vgl. bes. Pierre Bayle: Dictionnaire historique et critique. 2 Bde. Rotterdam 1697; dt. u. a. als: Herrn Peter Baylens, weyland Professors der Philosophie und Historie zu Rotterdam, Historisches und Critisches Wörterbuch, nach der neuesten Auflage von 1740 ins Deutsche übersetzt; auch mit einer Vorrede und verschiedenen Anmerkungen sonderlich bey anstößigen Stellen versehen, von Johann Christoph Gottscheden, Professorn der Philosophie zu Leipzig [. . .]. 4 Teile in 4 Bden. Leipzig 1741–1744. A B

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wir nachher gemeinsam anstellen wollen; übrigens sei auf das Prinzipienkapitel meines Buches verwiesen, das gewissermaßen einen Friedhof für voreilige Verallgemeinerungen bedeutet und den Leser zum Ephektiker machen kann. Die Hauptsache bleibt, daß – abgesehen von dem allgemeinen Rhythmus des uns umfließenden geistigen Lebens – im Wesen der Ästhetik oder mindestens in ihrer gegenwärtigen Situation sachliche Gründe zur skeptischen Haltung vorhanden sind. Liegt es nun so, dann wird man diejenigen, die zu dieser Richtung mehr oder weniger entschieden sich bekennen, nicht mit Skeptikern anderer Art verwechseln dürfen. Aus einem, der geschilderten Denkweise gerade entgegengesetzten, Hochmut entspringt der grundsätzliche Zweifel am Neuen. Wer hat sie nicht kennen gelernt, diese aus Unwissenheit und Überhebung stammende Skepsis? Ich persönlich bin ihr damals begegnet, als über die Tatsächlichkeit der hypnotischen Erscheinungen gestritten wurde. Ihr tritt zur Seite der verstandesmäßige Ausdruck wissenschaftlicher Müdigkeit und Übersättigung. Indem auf objektive Begründung verzichtet und die Erfolglosigkeit subjektiver Bemühungen der Unerreichbarkeit des Erkenntnisideals zugeschrieben wird, bildet sich eine stumpfe Gleichgültigkeit, die jede Arbeit für unnütz erklärt. Aber der hier gemeinte Skeptizismus mahnt vielmehr am lautesten zu eifriger Einzeluntersuchung. Auch darin bekundet sich sein Wert. Die mit dem Namen des Arkesilaos bezeichnete Lehre verdankte ihre große Wirksamkeit nicht nur der Widerlegung der metaphysischen Schulen, sondern auch dem Umstand, daß durch den Wahrscheinlichkeitsbegriff positive Forschung möglich und gerechtfertigt blieb. Die Dogmatiker verwischen alle solche Unterschiede und erklären rundweg jeden, der ὲποχή übt, für einen Schwachkopf oder Schädling, ja sie verwechseln nicht selten den praktischen Wert der Entschiedenheit mit dem geringeren Wert, den die nämliche Eigenschaft für die Feststellung wissenschaftlicher Wahrheit besitzt. Im Leben ist entschlossener Mut eine der schätzbarsten Fähigkeiten, weil hier Wille gegen Willen steht und Handeln – selbst objektiv falsch begründetes und gerichtetes Handeln – immer noch vorteilhafter bleibt als wiederholtes Zögern. Die Wissenschaft dagegen darf nicht einen gordischen Knoten durch Schwertstreich »lösen«, nicht ein Ei mit Gewalt zum Stehen bringen; also nötigt sie weit öfter zum Verzicht. Ihrem Fortschritt dient auch der dem Leben nicht gewachsene geistige Typus, dessen Kennzeichen sind: vielseitige Empfänglichkeit, feines Gehör und die schöne Scheu vor letzten Worten. Die Wahrheit zu sagen, ist sogar die Verzweiflung, die überall nur Fetzen um sich sieht, manches Mal wohltuender als die Unbekümmertheit der Spezialisten. So ist wenigstens mir der Sachverhalt bei hochkomplizierten Gegenständen stets erschienen. Als ich vor beinahe zwanzig Jahren in meinem ersten Büchlein die Annahme zweier Zusammenhänge im Bewußtsein verteidigt hatte, fügte ich hinzu: »Sicherlich müssen wir gegenwärtig der genauen Beschreibung des Einzelnen den Vorzug geben vor einer meist mit erstaunlicher Kühnheit durchgeführten Erörterung oberster Gattungsbegriffe. Aber gerade an der sorgsamen Aufzeichnung des Besonderen mangelt es noch. Auch die

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Hypothese des Doppel-Ich ist eine verallgemeinernde Abstraktion aus zahlreichen Beobachtungen, von denen vielleicht jede ihre besondere Erklärung verlangt.« A Mit ähnlichen Gedanken stehe ich heute den Hauptfragen der Ästhetik gegenüber; wo andere die endgültige Entscheidung treffen wollen, erblicke ich bloß abbrechende Möglichkeiten. Schilt man nun: es enthalte »dies Buch zu wenig Strenge des Denkens«, macht man dem Verfasser »den Vorwurf der Unentschiedenheit und Halbheit«, so getröste ich mich dessen, daß diese dem Sinne nach mir zugedachten Worte tatsächlich auf Herrn Paulsens »Einleitung in die Philosophie« B angewendet worden sind, also auf ein Buch, das ganz gewiß seiner Bestimmung – die derjenigen meines Versuchs einigermaßen verwandt ist – in überaus glücklicher Weise entspricht. Nichts leichter als jedes Non-liquet zu einer verächtlichen Schwäche seines Urhebers zu stempeln, nichts bequemer als die »unumstößlichen« Anforderungen der Wissenschaft und ihre »anerkannten« Methoden triumphierend auszuspielen, nichts wirksamer als abweichende Auffassungen mit den Brandmarken »Oberflächlichkeit« und »Unwissenschaftlichkeit« zu versehen. Herr Volkelt hat in unserer Zeitschrift ([Johannes Volkelt: »Persönliches und Sachliches aus meinen ästhetischen Arbeitserfahrungen«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft] I [(1906), S.] 161 ff. [= S. 161–180]) einige Proben dieses Verfahrens andeutungsweise mitgeteilt. Auch ich könnte mit Beispielen aufwarten, etwa mit jener Kritik, die meinen Geschmack für »spezifisch modern« erklärt und dies unnachsichtlich als einen »Mangel an wissenschaftlicher Strenge« rügt. Doch ist die allgemeine Erwägung wichtiger, daß die Verhältnisse in unserem Gebiet offenbar noch recht zerfahren sind und daß wir Geduld mit der Sache und Nachsicht miteinander werden haben müssen. Gerade wir, die wir den Sinn für Kunstwerke und Künstlerpersönlichkeiten pflegen, wir sollen lernen, uns in eine zunächst fremdartige Betrachtungs- und Darstellungsform einzuleben, und wir sollen uns vor der unsauberen Manier hüten, anders Denkende als Minderwertige abzutun. 2.

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Es sind im Tatbestande der Ästhetik Gründe enthalten, die gegen jeglichen Dogmatismus sprechen. Als solche Gegengründe erscheinen mir: einerseits die unzulängliche Entwickelung der Hilfswissenschaften, anderseits die intensive und die extensive Mannigfaltigkeit der ästhe tischen Erscheinungen selbst. Wieviel davon geschichtlich bedingt ist, demnach eine Änderung erhoffen läßt, braucht hier nicht eingehend untersucht zu werden. Zwei Gruppen von Wissenschaften bieten uns ihre Hilfe dar. In die erste Gruppe gehören die Wissenschaften von Literatur, bildender Kunst und Musik, mit A B

Max Dessoir: Das Doppel-Ich. Zweite, vermehrte Auflage 1896, S. 82. Friedrich Paulsen: Einleitung in die Philosophie. Berlin 1892.

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Einschluß des von der Völkerkunde aufgespeicherten Stoffes; zur zweiten Gruppe rechne ich Philosophie und Psychologie. Jene Wissenschaften sorgen dafür, daß die Werke aller Künste aufbewahrt oder in möglichster Reinheit wiederhergestellt werden; sie bringen die Werke in Zusammenhänge; sie unterrichten über Leben und Schaffen der Künstler; sie durchleuchten den Bau des künstlerischen Erzeugnisses nach vielen Seiten hin und erhellen dabei die objektiven Grundlagen des Eindrucks. Leider jedoch ist von diesen Arbeitskreisen der zuletzt genannte am unbefriedigendsten ausgefüllt. Philologen und Kunstgelehrte treten mit historischen, insbesondere biographischen Gesichtspunkten an ihn heran, anstatt durch sachliche Zergliederung das Gefüge und die darin enthaltenen wirkungskräftigen Bestandteile erkennbar zu machen. Eine Ausnahme bildet die ziemlich hoch entwickelte Metrik. Auch beg innt man jetzt auf beiden Seiten mit analytischen Untersuchungen, die unserer Tätigkeit sehr zu gute kommen werden – nur liegt dies alles eben in den Anfängen und erlaubt dem gewissenhaften Ästhetiker keine weit reichenden Schlüsse. Am ehesten entspricht noch die Musikwissenschaft unseren Bedürfnissen; jedenfalls bemüht man sich um »die scharfe und feste Zusammenfassung des konkreten technischen Körpers dieser Kunst mit ihrem innersten Guß und Empfindungsgehalt«, wie Fr.Th. Vischer einmal gesagt hat.A Immerhin – ehe diese ganze Einzelarbeit nicht noch viel weiter gediehen ist, schweben die auf den gleichen Gegenstand bezogenen Vermutungen der allgemeinen Kunstwissenschaft in der Luft; daß sie künftig auf festem Boden stehen werden, das darf wohl gehofft, doch nicht mit unbedingter Gewißheit erwartet werden. Vorläufig stützt sich der Einzelne auf seine künstlerische Einsicht und auf jenen wissenschaftlichen Takt, der aus geringfügigen Vorarbeiten das Wesentliche herauszuspüren unternimmt. Aber mit allem dem erreichen wir nur einen mittleren Grad von Wahrscheinlichkeit und verzichten auf die Sicherheit, die um so stärker beansprucht zu werden pflegt, je geringer die Kenntnis des in den genannten Disziplinen Geleisteten tatsächlich ist. Die Völkerkunde nebst der vorgeschichtlichen Forschung hat viel Material zusammengetragen. Indessen auf unsere Hauptfragen kann sie bisher und vielleicht auch in alle Zukunft hinein keine eindeutige Antwort geben. Wir wollen beispielsweise wissen, ob die Kunst aus einer besonderen, eigentümlich beschaffenen Anlage des menschlichen Geisteslebens quillt oder die unentwickelte Form einer anderen geistigen Verrichtung bedeutet; wir verlangen Auskunft über die Beziehung der primitiven Kunst zu den übrigen Inhalten dieses Kulturkreises, um mit Hilfe der abweichenden Verhältnisse die bei uns vorliegende Verwicklung durchschauen zu können; wir wünschen die Buntheit der uns umgebenden künstlerischen Erscheinungen durch Rückgang auf urmenschliche Bedingungen vereinfacht zu sehen; wir hoffen, daß die wissenschaftliche Darstellung der primitiven Kunstleistungen über die Gefühle belehre, aus denen sie entspringen und von denen sie begleitet werden; A Vgl. Friedrich Theodor Vischer: Brief vom 12. Januar 1855 an Joachim Raff. In: Süddeutsche Monatshefte. 2/2 (1905), S. 45 f., hier S. 46.

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wir suchen dort nach dem instinktiven Ausdruck ästhetischer Bedürfnisse. Und alles dies, ja noch viel mehr bleibt vorläufig im Dunkeln, weil die Völkerkunde aus guten Gründen solchen Problemen nicht gewachsen ist. Dafür aber scheint mir ein Ergebnis festzustehen, das zur Vorsicht mahnt. Mehrere Eigenschaften des ästhetischen Lebens und der Kunst, die wir als dauernde, sachlich notwendige zu erklären bemüht sind, bedeuten in Wahrheit Überbleibsel aus ältesten Zeiten oder auch Anklänge an die geistige Welt der Naturvölker. Gleichwie Amulette und Talismane nicht von uns aus, sondern als Reste einer niederen Kultur verständlich werden, so auch z. B. einige »Gesetze« der Ornamentik. Selbst auf die Theorie der Einfühlung läßt sich dieser skeptische Gedanke ausdehnen. Was die Philosophie betrifft, so wäre vorerst an die ihr einverleibte Geschichte der Ästhetik zu erinnern. Sie lehrt uns gleichfalls Bescheidenheit. Sätze, die unter ganz anderen Verhältnissen gewonnen wurden, sind maßgebend geblieben und lediglich in ihrer äußeren Gestalt verändert worden: der Kern so mancher Theorie steckt in arglos aufgegriffenen philosophischen Überlieferungen. Das ist mißlich. Denn wir sollen doch den nach Beschaffenheit und Ausdehnung inzwischen erneuten Tatbestand (mit Einschluß des hilfswissenschaftlichen) schildern und erklären. Wenn jemand die alte Lehre von der Einheit im Vielfältigen dazu benutzt, um vom Bildhauerwerk qualitative Einheitlichkeit des Materials zu fordern, so gerät er teils mit unserer heutigen Kunst in Konflikt, teils mit den Funden und Nachweisen der Archäologie. Und darüber hilft keine Umschreibung oder Namensänderung ehrwürdiger Formeln hinweg. – Wenden wir uns zur systematischen Philosophie. Sie kann als Lehre von den allgemeingültigen Werten freilich auch ästhetische Normen entwickeln; indessen über Berechtigung und Tragweite einer solchen Wertlehre gehen die Meinungen augenblicklich auseinander. Sieht der Ästhetiker das Hauptstück der Philosophie in der Wissenschaftslehre, so hat er mit dem Kampf der erkenntnistheoretischen Richtungen zu rechnen. Versucht er, sich zu den letzten Fragen der Weltansicht und Lebensauffassung zu erheben, so bleibt ihm das relative Recht jedes der verschiedenen Weltanschauungstypen im Bewußtsein. Mit einem Wort: da es weder einen unumstößlichen Begriff der Philosophie noch ein festes Verhältnis zwischen ihr und den übrigen Wissenschaften gibt, so vermag auch der stärkste Beistand, der der Ästhetik von dort her zu teil wird, den Skeptiker nicht zu entwaffnen. Ebensowenig kann ihn eine wirrenreiche und zerrissene Psychologie zum Aufgeben seines Standpunktes veranlassen. Soll er sich auf Assoziations- oder Apperzeptionslehre stützen, soll er das Unbewußte anerkennen oder verwerfen, soll er zur physiologischen Begründung greifen oder in begrifflicher Abwägung das Heil suchen? Anhänger des Experimentes spotten über jene, die die Natur der Seele zu kennen glauben, und werden doch selbst von anderen mißachtet, weil sie keine Philosophen und dar um auch keine Psychologen sind. An einem einfachen Beispiel möchte ich zeigen, wie wenig der Ästhetiker durch die Schulpsychologie unserer Tage gefördert wird, und zwar bei psychologisch-ästhetischen Fragen. Zugleich gehe ich damit zu jener Summe von Bedenken über, die als die intensive Mannigfaltigkeit der Erscheinungen selber bezeichnet wurde.

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Der Betrachter eines Gemäldes nennt eine Farbe »unnatürlich«. Um die ästhetische Bedeutung dieses Urteils zu ermessen, ist es nötig, daß man den ihm zu Grunde liegenden seelischen Vorgang versteht. Anscheinend werden zwei gleichwertige seelische Gebilde miteinander verglichen, nämlich die vor Augen befindliche Farbe und das Erinnerungsbild der entsprechenden Naturdinge; der Mangel an Übereinstimmung drücke sich in dem Urteil »unnatürlich« aus. In Wahrheit verhält es sich anders. Kaum jemals ist die anschauliche Gedächtnisvorstellung so lebhaft und so im einzelnen ausgeprägt, daß sie das eine Glied in der Vergleichung heißen dürfte. Ich maße mir an, die Naturgemäßheit oder Naturwidrigkeit einer Farbengebung beurteilen zu können; ich vermag auch Gesichtsbilder von Färbungen ziemlich leicht in mir hervorzurufen. Dennoch habe ich bei solchen Urteilen höchst selten einmal eine optische Vorstellung als Gegenstück zur Wahrnehmung beobachtet. Weit häufiger geht der Eindruck der Naturähnlichkeit darauf zurück, daß durch die künstlerische Darstellung dieselbe Wortassoziation hervorgerufen wird wie durch den Naturgegenstand. Kürzlich sah ich ein Schiff gemalt, das die See durchschneidet und an den Seiten weiß-grünliches Wasser aufwirft. Indem ich zu mir sprach: »wie naturgetreu«, bemerkte ich, daß das Wort »Gletscherwasser« in meinem Bewußtsein aufgetaucht war und gewissermaßen das bejahende ästhetische Urteil rechtfertigte. Dies selbe Wort war oft gebraucht worden, wenn wir vom Deck des Ozeandampfers herab in die Fluten blickten. Die Tatsache, daß es sich jetzt wieder einstellte, war die Unterlage des Urteils. Manchmal läßt sich dergleichen nicht nachweisen. Dann enthält das Bewußtsein bloß den absoluten Eindruck der Naturähnlichkeit oder Unähnlichkeit; etwa wie der mit absolutem Gehör begabte Musiker ohne alles beziehende Wissen an dem erklingenden Ton ein Kennzeichen findet, wodurch er sich sogleich als ein c oder d darstellt. Ebensowenig wie in diesem Fall der gehörte Ton mit einem vorgestellten verglichen und danach bestimmt wird, ebensowenig wird in unserem Beispiel die wirkliche Farbe mit einer vorgestellten verglichen und danach mit einem Wertprädikat versehen. Vollends die Vergleichung im Sinne eines Hin- und Herwanderns des apperzipierenden und entscheidenden Ichs muß als dem inneren Befunde widerstreitend abgelehnt werden. Aber zu einer positiven und die Gesamtheit der Fälle umfassenden Erklärung ist die Psychologie noch nicht hinlänglich gerüstet. Der Ästhetiker wird von ihr im Stich gelassen, sobald er an die Frage herantritt, was in der Kunst Natürlichkeit bedeutet und in welchem Sinn sie ein Merkmal des guten Werkes ist. Haben wir uns darüber verständigt, daß der Ästhetiker sich auf die Vulgärpsychologie nicht stützen darf und auf die wissenschaftliche Psychologie leider oft nicht stützen kann, so ist damit schon klar geworden, daß die Seelenvorgänge beim Genießen und Urteilen äußerst verwickelt sein müssen. Ihre intensive Mannigfaltigkeit bedeutet ein ernstes Hindernis für jeden Dogmatismus. In diesem Heft ist ein Aufsatz von Vernon Lee veröffentlicht, der über die zahllosen Arten, wie man Musik genießen kann, einigen Aufschluß gibt. Dabei zeigt sich, um wie viel reicher und zerlegter der psychologische Vorgang ist, als von jeder bisher gewagten Theorie angenommen wurde. Selbst die beste unter ihnen ist im Grunde ein Laufstuhl für

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kleine Kinder: sie wird auf wenigen, persönlich gefärbten, oft rein zufälligen Erfahrungen aufgebaut und dementsprechend von guten Beobachtern anderer Erlebnisrichtung verworfen oder gar nicht begriffen. Ähnlich so hat sich aus L. Martins und R. Bärwalds Untersuchungen über das Komische A ergeben, daß die uns vertrauten Theorien lediglich bestimmte Tatsachen berücksichtigen und die übrigen, ebenso häufigen und berechtigten, beiseite lassen. Als Beispiel nenne ich ferner die Anschaulichkeit der dichterischen Darstellung. Für Mitteilungen im Verkehr und für wissenschaftliche Erörterungen (sofern sie von jedem künstlerischen Moment frei gehalten werden) kommt es bloß darauf an, den Sinn oder Inhalt dessen, was gesagt werden soll, möglichst klar auszudrücken. Andere Ausdrucksformen, z. B. im Leben Zeichen von allerhand Art oder in der Wissenschaft Kurven, Formeln, Tabellen, können gleichwertig für Worte und Sätze eintreten. In der Poesie ist das nicht möglich. Denn was sie geben will, das ist eben ein Sprachkunstwerk; der Dichter, und er allein, weiß alles restlos ins Wort aufzulösen. Die Eigenart der Dichtung geht denen auf, die mit Bewußtsein Dinge, Vorgänge und Menschen innerhalb des Sprachlichen zu genießen vermögen. Darüber kann kaum ein Zweifel bestehen. Wohl jedoch über die nähere Beschaffenheit eines innerhalb der Sprachformen sich vollziehenden Erlebens. Daß der Dichter überhaupt zum einheitlichen Miterleben nötigt, bildet schlechthin die Voraussetzung; mit welchen technischen Hilfen er den Eindruck zu stände bringt, ist eine unserem Problem nur lose angeknüpfte Frage. Die Hauptsache liegt im folgenden: Was bedeutet unmittelbar erleben durch das Mittel der Sprache, voll genießen durch die Teilwirklichkeit der Worte? Noch können wir es nicht sagen, wenigstens nicht in einer gut durchgebildeten Theorie, die den stichhaltigen Beobachtungen gerecht wird, das Entscheidende aus der Fülle des Zufälligen heraushebt und mehr als nützliche Anregung ist. In den meisten Fällen scheinen mir unsere Theorien der inneren Mannigfaltigkeit und Zartheit ästhetischer Erfahrungen nicht gewachsen. 3. Für mich selbst habe ich daraus das Ergebnis gezogen, daß eine weiteren Kreisen dienliche Darstellung auf die Entscheidung zwischen Theorien, die höchstens Gegenwartswert haben, verzichten soll und nur dort die eigene Deutung ausbreiten darf, wo entweder die Tatsachen fein genug durchforscht sind oder andere beachtenswerte Lehren überhaupt nicht vorliegen. Dagegen gibt mein Buch, seiner Bestimmung gemäß, über die extensive Mannigfaltigkeit der ästhetischen und künstlerischen Probleme eine ziemlich umfassende Auskunft; insofern ist es – Vgl. Lillien Jane Martin: »Psychology of aesthetics, I. Experimental prospecting in the field of the comic«. In: American Journal of Psychology. 16/1 (1905), S. 35–118; Richard Baerwald: »Zur Psychologie des Komischen«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 2 (1907), S. 224–275. A

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wenn ich so sprechen darf – Ausdruck einer enzyklopädischen Veranlagung. Die Einteilung des weitschichtigen Stoffes, der ich einen gewissen Wert beimesse, wird aus zwei Grundsätzen verständlich; beide entstammen dem Geist des Skeptizismus. Einerseits sind die überlieferten Einheiten aufzuheben und durch eine Mehrheit von Tatbeständen und Begriffen zu ersetzen. Die entscheidende Zerlegung, die ich übrigens schon seit zwanzig Jahren vertrete 1, betrifft das Ganze des Gebietes; sie hat ja auch unserer Zeitschrift ihren Doppelnamen verschafft. Nach dieser Auffassung ist Ästhetik nicht Philosophie des Schönen und ist namentlich die allgemeine Wissenschaft von der Kunst nicht Ästhetik, weil über Dasein und Beschaffenheit aller Künste nicht der Geschmack entscheidet, sondern ein durch die Eigenart von Wirkungsmitteln bestimmtes Darstellungsvermögen 2. Geschmack oder ästhetisches Leben kann unabhängig von der Kunst bestehen; hinwiederum ist der Künstler mehr als ein geschmackvoller Mensch und die Welt der Künste mehr als eine Ansammlung ästhetischer Reize. Es fragt sich, ob der Einschnitt im einzelnen überall an den passendsten Stellen vollzogen wurde. Nötig war er, denn die nivellierende Betrachtung hat so viel Schaden angerichtet, daß wir jetzt ganz entschieden auf das Trennende aufmerksam machen müssen. – Die Ästhetik im engeren Sinne hat besonders zwischen Gegenstand und Eindruck zu scheiden. Es war eine unerlaubte Vereinfachung, daß in den meisten Untersuchungen die Beschaffenheit des Gegenstandes unberücksichtigt blieb oder rundweg als Auslösungsmittel behandelt wurde. Sind die objektiven Vorgänge solche, die in der Zeit spielen, so darf nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden, daß der Verlauf unseres Genießens sich vollständig mit dem objektiven Ablauf decke. Das Verhältnis zwischen den beiden Seiten ist viel feiner gegliedert und reicher entwickelt, als wir gewöhnlich denken. – Solchen Differenzierungen stehen ähnliche in der allgemeinen Kunstwissenschaft zur Seite. Die Ontogenese und Phylogenese in der Kunstentwickelung müssen als verschieden erkannt werden; es ist einzusehen, daß plastische Behandlung sich nicht mit Statuenverfertigung, malerische Arbeit nicht mit Bilderherstellung, literarisches Interesse nicht mit dichterischer Tätigkeit ohne Rest deckt; die bildenden Künste sind aufzulösen in eine Raumkunst und in eine Bildkunst, die dramatische Kunst ist auf einen doppelten Ursprung zurückzuführen u. s. f. Noch mehr Trennungen dürften notwendig werden, sobald wir das Reich der Künste in allen Verzweigungen durchforscht haben. Das Genie trifft vielleicht ohne Einzelkenntnis die Wahrheit. Wir anderen aber dürfen über künstlerische Aufgaben und Arbeitsweisen nicht reden, ohne bei Dichtern und Musikern, im Atelier und auf dem Schnürboden einigermaßen zu Hause zu sein. Und ist jemand in dies Meer von Tatsachen untergetaucht, so wird er jenen Lehrmeinungen sich versagen, die Vgl. [Max Dessoir: »Richard Wagner als Ästhetiker«. In:] Bayreuther Blätter XIV, 4 [(1891), S. 97–110]. 2 Man vergleiche hiergegen die Ansicht, daß die gleiche Bezeichnung Künstler nicht gerechtfertigt sei durch »eine gemeinsame Art der Arbeit«, sondern aus einer »Ähnlichkeit der Beurteilung, welcher die Produkte jener Berufsarten unterliegen«. (J[onas] Cohn, Allg[emeine] Ästh[etik. Leipzig 1901, S. 7].) 1

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nur durch eine Verarmung des Stoffes, durch ein bequemes Simplifizieren möglich geworden sind. Anderseits jedoch sind Grenzen aufzuheben, die üblich und trotz dem in der Sachlage nicht hinreichend begründet sind. So habe ich selber mich veranlaßt gesehen, durchgängig den Gegensatz des Quäle und Quantum zu verflüssigen. Ich sagte mir etwa: Die Kunst als Inbegriff gewisser Werke habe wohl eine besondere Qualität, die sie von der übrigen Wirklichkeit abhebe, allein sie könne in dieser Beziehung auch als ein anderer Aggregatzustand der Wirklichkeit oder als Intensitätsform einer bestimmten Stufe verstanden werden. Ich versuchte zu zeigen, wie das sogenannte absolute Quantum in seiner Veränderung Eindrücke hervorruft, die qualitativ verschieden zu nennen sind; ich gebrauchte den Begriff einer ästhetischen Schwelle und übertrug ihn auf innerlich so anders geartete Hauptbegriffe wie humoristisch und tragisch; und im gleichen Zusammenhang ergab sich der Gedanke, daß einige seltene künstlerische Leistungen über die geschichtliche Bedingtheit der meisten hinausragen mögen, da offenbar eine Stufenfolge von den Erzeugnissen des Tages emporführt bis zu wahrhaft unsterblichen Werken. Schließlich verleiht eine solche Betrachtungsweise naturgemäß allen Mittelgliedern erhöhten Wert, z. B. der Programmmusik oder der Graphik als der mit poetischem Einschlag versehenen Bildkunst. Das fortgesetzte Zerlegen einerseits, das Verschleifen der Grenzen anderseits hat in Ursprung und Ziel eine Verwandtschaft mit dem Skeptizismus. Dem Ursprung nach, weil lebhafter Sinn für Vielfältigkeit und Unbestimmtheit hochkomplizierter Gebilde zur Skepsis neigt, dem Ziele nach, weil hier wie dort die Wahrheit in den Nuancen gesucht wird. Diese Zielbestimmung widerspricht nicht der logischen Forderung: das Seiende und das Erleben müßten durchweg eindeutig, in allen Gestaltungen völlig bestimmt sein; vielmehr bleibt sie nur etwas früher stehen und zwar im Bereich dessen, was den Geisteswissenschaften möglich ist. Gilt doch auch der Satz der Identität dem Skeptiker als eine ideale Anforderung an das Denken, die von der – den Theorien zu Grunde zu legenden – Wirklichkeit niemals mit Strenge erfüllt wird. Wir wollen diesen Sachverhalt näher ins Auge fassen und in seiner Anwendbarkeit auf das ästhetische Gebiet prüfen. Der Satz der Identität bewährt sich erfahrungsgemäß in dem Umfange, daß zwar bei jedem Denkinhalt mehrere Vollziehungsmöglichkeiten zugelassen, aber unvergleichlich viel mehr Vorstellungen ausgeschlossen sind: ich kann Konkreta und Abstrakta in verschiedenen Formen erleben, doch nicht in beliebigen und zahllosen. Die Einerleiheit einer seelischen Erscheinung mit sich selber – ihre Unabhängigkeit von der Zeit und der Umgebung, in der sie erlebt wird, sowie von der erlebenden Person – ist eher negativ als positiv zu bestimmen. Immerhin bleibt es fraglich, ob selbst diese eingeschränkte Bestimm barkeit unseren ästhetischen Erfahrungen zukommt. Mir scheint, man könne unter einer einzigen Auffassung bejahend antworten. Ich setze voraus, daß die ästhetischen Gegenstände unmittelbar durch gewisse objektive Eigenschaften gefallen, außerdem mittelbar durch ihre Stellung zum Ganzen der wirklichen Welt und im Zusammenhang der gleichartigen ästhetischen Gegenstän-

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de (oder Kunstwerke), endlich durch die sich ihnen anschließenden persönlichen Erfahrungen und Stimmungen des genießenden Subjekts. Nun gibt es schon bei der Einordnung in einen übergreifenden Zusammenhang, noch deutlicher bei den Urteilen und Gefühlen, die aus individuell bedingten Vorstellungsreproduktionen stammen, keine Gleichheit der seelischen Inhalte zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Menschen. Aber die objektive Beschaffenheit des Gegenstandes verbietet die Beziehung auf sehr viel mehr Zusammenhänge, Zwecke u. dgl., ja sie macht regelmäßig die Angliederung entgegengesetzter Stimmungen unmöglich. Was im sachlichen Zusammenhang mit dem Objekt ästhetisch erlebt wird, liegt also zwischen gewissen Grenzen und nähert sich der Identität in dem besprochenen Sinne. Demnach läßt sich der Eindruck, der von einem Gegenstand mit angebbaren Eigenschaften ausgeht, als eine hinlänglich feste Größe behandeln. Kunstbetrachtung und -kritik mögen bei diesem Ergebnis stehen bleiben; ihren Absichten genügt es, daß sie in jedem einzelnen Fall eine leidlich gleichförmige Wirkung des voll aufgefaßten Objekts annehmen dürfen. Die Ästhetik indessen will die Wirkung im allgemeinen, daher – nach unserer Ableitung – das Kennzeichen des ästhetischen Gegenstandes überhaupt untersuchen. Und hier versagt die Theorie. Denn von keinem Merkmal eines Dinges kann behauptet werden: dies Merkmal und dies allein sei die Quelle der ästhetischen Freude. Selbst wer mit dem skeptischen Urteil über unsere jetzigen Kenntnisse einverstanden ist, mag es mildern wollen durch den Hinweis auf die gleiche Sachlage in Wissenschaften größter Genauigkeit und Fruchtbarkeit. Besitzen etwa die chemischen Stoffe ein zu ihrer Kennzeichnung durchweg geeignetes Merkmal? Das Verbindungsgewicht, an das vornehmlich zu denken wäre, ist für die große Mehrzahl der Stoffe, nämlich für die Verbindungen, keineswegs charakteristisch, und auch für die Elemente im Grunde nicht, da sehr wohl einmal zwei Elemente mit genau demselben Verbindungsgewicht gefunden werden können (Kobalt und Nickel haben fast das gleiche). Trotzdem bestehen die eingreifendsten Unterschiede, auch in dieser Beziehung, zwischen chemischen und ästhetischen Erscheinungen. Der Chemiker kennt wenigstens eine Eigenschaft seiner Stoffe, die zufällig und nebensächlich ist: die Masse, das Mehr oder Weniger. Wir jedoch dürfen bei jedem Merkmal vermuten, daß es eine Bedeutung habe. Dort gibt es Reaktionen, durch die die Natur der Gegenstände geklärt wird – hier gibt es die einzige Reaktion des Subjektes, und mit ihr beginnen erst recht die Schwierigkeiten. Dort werden nach Ausschaltung störender Nebenerscheinungen die genauesten Bestimmungen und die vollkommensten Gesetzmäßigkeiten einst erreicht werden können – bei uns ist dergleichen nicht zu erwarten. Vielmehr liegt es so: Der Anschein einer befriedigenden wissenschaftlichen Gesetzmäßigkeit entsteht namentlich durch künstliche Verengerung des Gebietes, das der Ästhetiker zu bearbeiten hat. Daran zu erinnern war die Absicht unserer letzten Betrachtungen. Nun sind die Folgen zu erwägen.

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Die intensive und extensive Mannigfaltigkeit der Erscheinungen verbietet die Anwendung eines einzigen Verfahrens und erschwert die Bildung eines Systems. Wenn Philosophen an der Arbeit anderer Wissenschaften mit methodologischen Erörterungen teilnehmen, so pflegen das die Fachmänner nicht gern zu sehen: sie tadeln das unberufene Hineinreden von Leuten, die nicht hinlänglich Bescheid wissen, und nennen uns die unverbesserlichen, ja berufsmäßigen Dilettanten. Dies Urteil ist von arger Einseitigkeit; doch mag das auf sich beruhen. Leider aber entspringt aus der Vorliebe eine verhängnisvolle Überschätzung der methodologischen Probleme. Die Meinung setzt sich bei Philosophen fest, daß von der reinlichen Lösung dieser Probleme das Schicksal jeder Wissenschaft abhänge; erst müsse der Forscher Klarheit über die Verfahrungsweisen erlangen, ehe er mit Erfolg untersuchen könne. Ich sollte denken, daß, wer in der Geschichte der Wissenschaften einigermaßen zu Hause ist, in ihr zahllose Gegenbeweise findet. Wartet man mit der Arbeit, bis alle Streitfragen über das beste Verfahren erledigt sind, so kommt man überhaupt nicht vorwärts. Der angedeutete Rat scheint so einleuchtend wie die Vorschrift an das Schulkind: erst fertig zu denken, bevor es mit dem Sprechen beginne, oder wie die Forderung an den Künstler: nicht eher mit der Ausführung anzufangen, als bis der Plan im einzelnen fertiggestellt sei. Aber er ist deshalb verkehrt, weil die Fortschritte der Methode, soweit sie eben über allgemeines Reden hinausgehen, in der lebendigen Wechselwirkung mit der Einzelarbeit gewonnen werden; auch das Denken gestaltet und vollendet sich beim Sprechen, auch die künstlerische Absicht entwickelt sich zugleich mit der Ausführung. In der Ästhetik müssen wir ebenfalls die meist recht unfruchtbaren Auslassungen über Methodenfragen und das billige Aufstellen von Programmen auf seinen bescheidenen Wirkungskreis eindämmen. Untersuchungen über die allgemeinsten Bedingungen wissenschaftlicher Tätigkeit und über so tiefgreifende Unterschiede wie zwischen Natur- und Geisteswissenschaften tragen ihren Wert in sich selber. Nützlich sind Erörterungen über das zweckmäßige Vorgehen zur Lösung ganz bestimmter Aufgaben, z. B. bei experimentellen Untersuchungen über die ästhetische Wirkung einfacher Raumformen. Betrachtungen indessen, die sozusagen in der Mitte stehen, die einer besonderen Wissenschaft, aber ihr in ihrer Ganzheit gelten, haben vielleicht in sich einen abstrakten Wert, können jedoch die positive Arbeit äußerst selten ihren Zielbestimmungen unterwerfen. Was z. B. ein Vertreter der Wertästhetik in dieser Zeitschrift über die Anschaulichkeit der dichterischen Sprache ausgeführt hat A, das hätte fast wörtlich auch von einem Anhänger der psychologischen Ästhetik gesagt werden können. Der Verfasser behauptet zwar in einer verschämten Anmerkung einen Zusammenhang seiner Wertbegriffe mit A Vgl. Jonas Cohn: »Die Anschaulichkeit der dichterischen Sprache«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 2 (1907), S. 182–201.

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diesen besonderen Darlegungen, aber er führt ihn nicht durch, macht ihn nicht deutlich; und das eben wäre die Aufgabe (an deren Lösbarkeit ich übrigens so lange zweifle, bis sie wirklich einmal gelöst sein sollte): die maßgebende Definition des ganzen Unternehmens bis ins Einzelste hinabzuleiten. Hat der Ästhetiker sich von der Überschätzung methodologischer Streitigkeiten frei gemacht, so wird er auch nicht mehr glauben, daß mit einem einzigen Verfahren alles zu erledigen sei. Die Methoden wechseln vielmehr je nach der Natur der wissenschaftlichen Aufgabe. Das Gefallen an Formverhältnissen ist experimentellpsychologisch zu untersuchen, das Schaffen des Künstlers verlangt gleichfalls psychologische Behandlung, aber eine ganz andere. Den Ursprung der Kunst erforscht eine vergleichende Methode, die in besonderer Art auch zur Feststellung der Hauptmerkmale von Einzelkünsten gebraucht wird u. s. f. Kurz, aus den verschiedenen Gegenständen, die in unserer Wissenschaft vereinigt sind, entspringen mit Notwendigkeit verschiedene Methoden. Nun läßt es sich der Philosoph freilich nicht nehmen, das Vorhandensein des ästhetischen Lebens und der Kunst mit letzten Prinzipien in Verbindung zu setzen; doch wird er sich nicht einbilden dürfen, daß das dabei befolgte Verfahren entscheidend sei für die wissenschaftliche Aufhellung etwa der metrischen Formen und ihres Wertes. Nebenbei bemerkt: Der Skeptiker braucht Fragen der Weltanschauung nicht auszuweichen, denn er kann ein Mindestmaß metaphysischer Betrachtungen für fruchtbar halten, im Sinne eines persönlich gefärbten Versuchs. So wenig wie es in neuester Zeit geglückt ist, den gesamten Stoff der Ästhetik und allgemeinen Kunstwissenschaft durch ein einziges Verfahren zu bewältigen, ebensowenig ist bisher ein System vollendet worden, das diesen Namen im strengen Sinne des Wortes verdient. Das letzte war entworfen durch Hegel und die ihm folgten; lebendig geblieben sind davon übrigens nur Einzelheiten. Hier wurden alle Bestimmungen des Schönen und alle Erscheinungen der Kunst in eine zusammenhängende Ordnung gebracht, die unter den Voraussetzungen des dialektischen Denkens als notwendig erscheint. Den anderen Unternehmungen fehlt entweder der Rahmen einer alles Seiende umspannenden Philosophie oder das Gliederungsprinzip einer stets verwendbaren Methode; und für sich ist überhaupt kein wahrhaftes System der Ästhetik möglich: was sich dafür ausgibt, das schwebt an unbewiesenen Voraussetzungen oder gebraucht den Namen »System« in einer freieren, aber statthaften Verwendung des Wortes. Ein System, wie wir es wünschen, wird sich erst aus der Verbindung aller Einzelforschungen entwickeln und wird gerade in seinen allgemeinen Erörterungen von zwei Bedingungen abhängig sein: einmal davon, daß viele Tatbestände vorliegen und die sie erklärenden Theorien eine gewisse Höhe erreicht haben, alsdann davon, daß diese Dinge dem Systematiker – bekannt sind. Der Anschein eines ausreichenden und geschlossenen Systems bildet sich freilich auch auf andere Art. Heutzutage namentlich in folgender Weise: teils imponiert eine bestimmte Technik der Darstellung als Systematik, teils gilt die Durchführung eines einzigen Erklärungsgrundsatzes dafür. Meines Erachtens zu Unrecht.

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Eine Darstellungstechnik, die systematischen Zusammenhang vortäuscht, gefällt sich in Unterordnungen und Übergängen. Jene sind aber nur dann Zeichen wirklicher Systematik, wenn das Begriffsverhältnis genau festgelegt ist, diese nur dann, wenn eine stetige Ableitung erfolgt. Deshalb darf die bloße Form nicht für die Sache selbst genommen werden; das Äußere des wissenschaftlichen Handwerks, das sich so leicht erlernen läßt, verbürgt noch keineswegs die innere Verbindung der Gedanken nach den beiden wesentlichen Gesichtspunkten, nämlich denen des Aufbaus und der Entwickelung. Indem das Schema, das alle Gelehrte für gewisse Aufgaben und unter gewissen Umständen benutzen, mit dem Geist der Sache verwechselt wird, schwindet der Sinn für Feinheit und Reichtum freierer Gestaltungen. Können nicht auch wissenschaftliche Werke eine »heimliche Form« besitzen? Da mag eine Darlegung in der Mitte abgebrochen, es mag ohne sichtbaren Übergang von einem Gegenstand zum anderen gesprungen, es mag eine Episode eingeschaltet werden – trotzdem kann ein fester Zusammenhang walten und die Linie des Gedankens fortrücken. Die Form- und Gelenklosigkeit mancher wissenschaftlichen Bücher ist nicht ohne weiteres ein Fehler. Nur darf die Launenhaftigkeit der einen, die Kreisbewegung der anderen nicht in breite, graue Redseligkeit ausarten. Wenn es heute üblich wird, sich gegen jede theoretische Möglichkeit in muskelstarke Kämpferstellung zu werfen, dem Leser nichts zu überlassen, sondern ihn zugleich mit der Sache zu erschöpfen, so macht das eher den Eindruck der Schwatzhaftigkeit als den der Gründlichkeit. Und dieser Eindruck bekommt leicht einen Stich ins Lächerliche, weil die Autoren sich und ihre Meinungen für so grenzenlos wichtig halten; daher drängen sie ihre Ansicht als bedeutungsvolle Erkenntnis dem Leser auf, unterstreichen und betonen nach Kräften und verlernen die köstliche Kunst des Andeutens. Wir haben in unserem Schrifttum vor allen Dingen Zurückhaltung, Genauigkeit und Kürze nötig. Diese Eigenschaften führen zu der ebenfalls recht notwendigen Pflege des Stils. In unseren Kreisen scheint das Wort: Ästhetik bedeute nicht schön schreiben, sondern über das Schöne schreiben, abschreckend gewirkt zu haben, obwohl es lediglich ein frostiger Schulwitz ist. Kümmerliche Behandlung des Wortes indessen bedingt schließlich eine Vernachlässigung gedanklicher Feinheiten; die rohe und durchschnittliche Ausdrucksweise wirkt schädigend zurück auf Fülle und Biegsamkeit der Gedankenbildung. Ferner also bietet das Durchführen eines einzigen Erklärungsgrundsatzes an sich noch keine Gewähr für restlose Lösung der Aufgabe. Die unendliche Anzahl und Verschiedenartigkeit der Erscheinungen, für die dasselbe Prinzip gelten soll, wird allzuoft zu Gunsten des Prinzips verstümmelt. Natürlich: man kann die Gestalt des Menschen ins Einheitliche abrunden, indem man ihm Arme und Beine ausreißt. Aber das bekommt ihm schlecht. Im Grunde genommen sind doch die Tatsachen nicht dazu da, daß wir sie zum Spielball unserer Konsequenzenmacherei herabwürdigen. Nachdem ich einst in längeren Ausführungen gezeigt habe, wie nahe Wissenschaft mit Herrschaft verwandt ist, muß ich mich jetzt auf die Seite der beherrschten Dinge stellen und ihr Recht vertreten. Niemand leugnet den propädeutischen Nutzen, noch weniger den Reiz des Unternehmens, in Sachen

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der Ästhetik und Kunsttheorie eine Ansicht oder Beleuchtung ausschließlich zur Geltung zu bringen. Jeder indessen sollte gleichzeitig Ehrfurcht verspüren vor dem was ist, sollte sich darauf besinnen, daß der Zweck seiner Arbeit nicht in der Schaustellung von Rücksichtslosigkeit, selbst nicht von Scharfsinn besteht. System meint eine natürliche Entfaltung von innen heraus. Dem widerstreitet das Verfahren, eine von anderwärts her gegebene Theorie, etwa die sensualistische Gefühlstheorie, den Erscheinungen unseres Gebietes aufzupressen. Der Eindruck, daß die beim ästhetischen Genießen vorkommenden Muskeltätigkeiten und Organempfindungen die Entscheidung haben sollen, wird auch nur erweckt, indem der wichtige Vorgang der Vereinheitlichung allzu rasch und einseitig auf sie zurückgeführt wird. In Wahrheit wissen wir über das Zusammenfassen weniges mit Bestimmtheit, noch weniger über seine Gesetze. Wir können wohl sehen, daß der ästhetische Genuß verloren geht, sobald man die Bestandteile des Gegenstandes einzeln auffaßt, ungefähr so wie der Sinn der Zahl 12000 zerstört ist, wenn man die Ziffern einzeln auffaßt. Auch vermögen wir die Vereinheitlichung in ihrer Wirksamkeit noch weiter zu beobachten. Wenn in einem Bild ein die Aufmerksamkeit sofort fesselnder Bestandteil nicht in der Mitte steht, und dennoch die durch ihn hergestellten Teile des Bildes als gleich erscheinen, so liegt es daran, daß wir jenen Bestandteil ebenso leicht und sicher mit dem einen wie mit dem anderen Bildteil synthetisch aufzufassen im stande und geneigt sind. Doch worauf das beruht, ist bisher meines Erachtens nicht ermittelt worden. Die Lehre, solche schon bei einfachsten Empfindungsverhältnissen vorkommenden Einheitsbildungen seien das Werk des Muskelsinns, bleibt bedenklich; jedenfalls bedeutet sie nicht ein System der Ästhetik. Endlich ist zu erwägen, daß vielfach dieselben Beziehungen, die als Werkzeug der Einheit gelten können, sich im Sinne einer Teilung, Gliederung, Belebung des Ganzen verstehen lassen. Hierin klingt eine Grundschwierigkeit des Denkens nach, die am lautesten aus der Kantischen Wissenschaftslehre hervortönt. Kants Apriori ist ein Inbegriff von Synthesen, Reihungsprinzipien, Verknüpfungsmöglichkeiten; Seele bedeutet ihm nicht Substanz, sondern eine tatsächlich geteilte Kraft, Ordnung herzustellen. Aber diese Vereinheitlichung ist doch zugleich eine scharfe Grenzsetzung und Zerlegung, ein Abscheiden der Bestandteile voneinander, damit einige in einen Verband zusammengefaßt werden. Ja, vielleicht ist Kants innerste Neigung dieser Seite zugewandt gewesen, denn er, der Verkünder der synthetischen Kraft des Geistes, war doch im Grunde ein analytisches Genie. Mithin zeigt sich schon an der Wurzel, daß Zusammenfassung und Trennung, Einheit und Mannigfaltigkeit ineinander verschweben, oder daß die nämliche Maßnahme des Geistes als ein Verbinden und als ein Auflösen angesehen werden kann. Die Erinnerung daran, wie Tatsachen des Bewußtseins möglicherweise in apriorischen Bedingungen verankert sind, legt eine Betrachtung nahe über die rein philosophische Ästhetik. Gehen wir wiederum von der Psychologie aus. Nach einer sehr verbreiteten Anschauung gibt es in der Seele nur Inhalte, sind also alle Erlebnisse, auch die verwickeltsten, schließlich auf einfache Inhalte (Empfindun-

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gen) zurückzuführen; nach einer anderen Theorie gibt es nur Tätigkeiten, die meist für Bekundungen des Ich erklärt und im Ich zusammengefaßt werden. Mir scheint es rätlicher, ein einheitliches seelisches Sein und zwei Klassen von Eigenschaften anzusetzen; diese bezeichne ich als Zustandseigenschaften und Vorgangseigenschaften und verstehe unter dem ersten Ausdruck zunächst dasjenige, was man ohne Rückgang auf ein einheitliches Wesen die seelischen Inhalte zu nennen pflegt, unter dem zweiten Ausdruck die seelischen Akte. Nun aber frage ich: ist mit dem Wahrnehmen und Vorstellen, Fühlen und Wollen und allem dem Ähnlichen die Summe der Vorgangseigenschaften erschöpft? Der Kantianer antwortet: nein. Er nimmt, kurz gesagt, als Prius der Erfahrung gewisse formgebende Vorgänge an, Funktionen, die die gemeinsame Ordnung der Sinneswelt und andere Tatsachen der Erfahrung erklären. Ferner frage ich: Ist mit den Farben und Tönen und allem dem Ähnlichen die Summe der Zustandseigenschaften erschöpft? Der Platoniker antwortet: nein. Denn er erkennt in Begriffen etwa und Werten mehr als bloße Sachvorstellungen, aber auch anderes als zusammenfassende Funktionen. Was heutzutage Objektiv oder Gebilde oder Sachverhalt heißt (und worunter auch die Werte nebst Mittel und Zweck gehören), was ich in meinem Buch als objektiven Geist beschrieben habe, das Feste und Überindividuelle im Geistigen also, dies wäre die höchste und feinste Potenz der in der Seele möglichen Zustände. Demnach hätte die philosophische Behandlung der Ästhetik, wenn sie im Sinne des Idealismus erfolgt, mehrere Aufgaben zu lösen. Als kritischer Idealismus müßte sie die apriorischen Geltungsgesetze des ästhetischen Denkens ermitteln. Liegt der Kunst – wie der Religion, Wissenschaft und Moral – eine Vernunftnotwendigkeit zu Grunde, so läßt diese sich sowohl in ihrer Besonderheit erfassen als auch im Zusammenhang mit den übrigen Richtungen des Apriori verstehen; der Erfolg einer solchen erkenntnistheoretischen Untersuchung wäre einmal der, daß mit den kritischen Lehren über religiöse (wissenschaftliche, moralische) Ideenbildung Übereinstimmung erzielt und ihnen eine Ergänzung geschaffen wird, und zum anderen der, daß die gewonnene Norm als Maßstab für die Erscheinungen des ästhetischen und künstlerischen Lebens benutzt werden kann. Vom Standpunkt des platonisierenden Idealismus aus wäre der Gegenstand des ästhetischen Urteils zu den Gebilden des objektiven Geistes zu zählen. Diese Auffassung schließt mancherlei in sich. Sie bedeutet erstens, daß der Gegenstand des ästhetischen Fühlens nicht nur ein eigenartiger Erscheinungszusammenhang, sondern etwas ist, das unter allgemeine Begriffe fällt; zweitens, daß seine Gegenständlichkeit sich niemals in der persönlichen und augenblicklichen Bewußtseinslage des Genießenden erschöpft; drittens, daß eben deshalb das ästhetische Objekt für alle Menschen der Absicht oder dem Ideal nach dasselbe ist; viertens, daß sein Wert durch keine psychologische Zergliederung eines Sondererlebens, durch keine geschichtliche Tatsache, durch keine entwickelungsmäßige Ableitung bewiesen werden kann, vielmehr lediglich in einer unmittelbaren Gewißheit höherer Ordnung begründet ist. Wenn die idealistische Philosophie des ästhetischen Seins und der Kunst hiermit richtig umschrieben sein sollte, so leuchtet ein, welche Schwierigkeiten es bietet,

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einen natürlichen Übergang zur Fülle und Buntheit des Gegebenen zu finden. Die übliche Verwendung empirischer und psychologischer Gesichtspunkte scheint mir fehl am Ort. Beispielsweise hat man bei der Abgrenzung des Ästhetischen vom Angenehmen die als Forderung auftretende Allgemeingültigkeit des Ästhetischen mit der Erfahrungstatsache belegen wollen, daß der einzelne sich zum Genuß vorher verschmähter Werke erziehen, sich in die anfangs so wunderlich erscheinenden Erzeugnisse fremder Völker und ferner Zeiten einleben kann. Aber das eine hat mit dem anderen schlechterdings nichts zu tun; und außerdem wird – was ich beiläufig hinzufüge – etwas Falsches behauptet, da jene Möglichkeit der Erweiterung auch beim bloß Angenehmen besteht: beim Essen und Trinken, ja, bei allen groben Genüssen. Der entscheidende Punkt bleibt immer der, ob es gelingt, von abstrakten Philosophemen aus den Reichtum der Erscheinungen aufzuschließen und die bedeutsamen Widersprüche ohne Verlust an Tatsachen zu beseitigen. Ist das nicht der Fall, so muß mindestens der Glaube an philosophische Systeme der Ästhetik aufgegeben und die teils vor, teils hinter der Erfahrungsästhetik liegende begriffliche Spekulation als ganz für sich stehend betrachtet werden. Die platonisierenden Philosophen der Gegenwart, deren es fast schon mehr gibt als strenggläubige Kantianer, sollten dessen eingedenk sein, daß Plato selbst in späteren Jahren von seiner Zuversicht eingebüßt und sich mit wahrscheinlichen Ergebnissen der Beobachtung und Einteilung begnügt hat. Wer vom Leben oder von der Kunst zur ästhetischen Wissenschaft kommt, der hofft auf eine reinliche und runde Wahrheit. Er muß enttäuscht werden, denn er findet mehr Aufgaben als Aufschlüsse. An den wichtigsten Stellen trifft er auf logisch Unvereinbares. Dürfen wir ihn mit Dogmen betrügen? »Weil nichts, was uns in der Erfahrung erscheint, absolut an gesprochen und ausgesprochen werden kann, sondern immer noch eine limitierende Bedingung mit sich führt, so daß wir Schwarz nicht Schwarz, Weiß nicht Weiß nennen dürften, insofern es in der Erfahrung vor uns steht: so hat auch jeder Versuch, er sei wie er wolle und zeige was er wolle, gleichsam einen heimlichen Feind bei sich, der dasjenige, was der Versuch a potiori ausspricht, begrenzt und unsicher macht. Dies ist die Ursache, warum man im Lehren, ja sogar im Unterrichten nicht weit kommt; bloß der Handelnde, der Künstler entscheidet, der das Rechte ergreift und fruchtbar zu machen weiß.« (Goethe.) A

Johann Wolfgang von Goethe: Zur Farbenlehre. Historischer Theil (1810). In: Goethes Werke. Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Abt. II, Bd. 4. Weimar 1895, S. 253 f. A

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1. Die Gegenstände ästhetischer Betrachtung treten uns in drei Umkreisen entgegen. Einmal sind es Gebilde und Ereignisse der Natur, an die ästhetisches Erleben sich anschließt. Da es sich dabei nicht nur um Schönheit handelt, sondern auch um Häßlichkeit, ferner um erhabene oder niedliche Dinge und vieles ähnlicher Art, so trifft die früher gebräuchliche Bezeichnung »Naturschönes« nicht völlig zu. Ich möchte die Gesamtheit dieser Objekte lieber die ästhetische Natur nennen. Für den zweiten Kreis ist der entsprechende Name ästhetische Kultur ganz geläufig. In meinem Buch »Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft« [Stuttgart 1906] – auf das ich, um Wiederholungen zu sparen, noch mehrfach verweisen werde – habe ich zu zeigen versucht, wie unsere Lebens- und Verkehrsformen von ästhetischen Gesichtspunkten bestimmt werden, ja, wie auf allen geistigen Gebieten und bei sozialen Einrichtungen ein Teil der schaffenden Kräfte sich in ästhetischer Formung auslebt. Drittens kommt nun hinzu und ist am wichtigsten: die große Tatsache der Kunst. Von der Kunst gilt nach meiner Meinung dasselbe, was jedermann der Natur und Kultur zugesteht, nämlich daß ihre Erscheinungen auch anders als ästhetisch beurteilt werden können; doch brauche ich darauf jetzt nicht von neuem einzugehen. Wollten wir genau reden, so müßten wir von ästhetischer Kunst sprechen. Jedenfalls ist klar, worauf sich die vorzunehmende Untersuchung bezieht: gemeinsam auf Gegenstände der Natur, Kultur und Kunst, insofern sie ästhetischen Wert besitzen. Wir fragen: Haben diese Objekte ihre ästhetische Wertigkeit in sich selbst, d. h. unterscheiden sie sich durch irgendwelche sachlichen Merkmale von den außerästhetischen Dingen, oder gewinnen sie ihre Bedeutung lediglich aus der Art der auf sie angewendeten Betrachtung? Das Problem ist im wesentlichen bereits von Schiller erfaßt, leider jedoch mit der Unterscheidung von schön und häßlich vermengt worden. Am 13. März 1791 hatte Körner an Schiller geschrieben: »Kant spricht bloß von der Wirkung der Schönheit auf das Subjekt. Die Verschiedenheit schöner und häßlicher Objekte, die in den Objekten selbst liegt, und auf welcher diese Klassifikation beruht, untersucht er nicht. Daß diese Untersuchung fruchtlos sein würde, behauptet er ohne Beweis, und es fragt sich, ob dieser Stein der Weisen nicht noch zu finden wäre« 1. Schiller hat sich dann auch redlich um die 1 Schillers Briefwechsel mit Körner 2. [vermehrte] Aufl. [hrsg. von Karl Goedeke], [Bd.] I [Leipzig 1874], [S.] 404.

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gegenständlichen Eigenschaften des Schönen bemüht, was zunächst in den »Fragmenten aus den ästhetischen Vorlesungen« und insbesondere in den Kallias-Briefen hervortritt. Die gefundenen Formeln: »Schönheit ist Freiheit in der Erscheinung« 2 oder »Existenz aus bloßer Form«, so sehr sie dazu bestimmt waren, die Objektivität des Schönen zu betonen, blieben doch im allgemeinen schweben und mußten erst reicher ausgefüllt werden, um ihre ganze Wirksamkeit zu entfalten. Worauf es hier ankommt, ist indessen nur, die Neigung der Schillerschen Ästhetik zum Objektivismus festzustellen. Schiller verkennt nicht, daß die »Freiheit in der Erscheinung« auf Einfühlung einer menschlichen Erfahrung (der Freiheit) in den Gegenstand zurückgeht, aber er meint, daß dadurch die Selbstgesetzmäßigkeit des Objekts als das Wesen seiner Schönheit bezeichnet werde, die »innere Notwendigkeit der Form«, »eine Regel, die von dem Dinge selbst zugleich befolgt und gegeben ist«.A Auch die erhabenen Erscheinungen haben ihre Qualität bloß für den Menschen, doch muß »in den Objekten selbst der Grund enthalten sein, warum gerade nur diese und keine anderen Objekte uns zu diesem Gebrauch Anlaß geben«.B In der Tat kann darüber doch gar kein Zweifel herrschen, daß die in den ästhetischen Kategorien zum Ausdruck gebrachten Verschiedenheiten auf unterschiedenen Merkmalen der ästhetischen Gegenstände beruhen. Welche Vorgänge komisch, tragisch, niedlich, erhaben sind, wird nicht bloß von der Gemütsrichtung des Aufnehmenden bestimmt – gewisse Dinge können eben schlechterdings nicht niedlich, andere niemals tragisch genannt werden. Damit stimmen die Ergebnisse experimenteller Untersuchung überein. Sie zeigen, daß einige Formen (Rhythmen, Farbenzusammenstellungen) wohlgefälliger sind als andere und zwar kraft ihrer objektiven Beschaffenheit, die hier, innerhalb der elementaren Verhältnisse, ziemlich gut nachgewiesen werden kann. Allein über die ästhetische Qualität im allgemeinen geben sie keinerlei Aufschluß, denn auch die häßlichen Verhältnisse, die miß fälligen Farbenverbindungen, die Dissonanzen, die ich unter dem gleichen Gesichtspunkt wie die entsprechenden wohlgefälligen Vorgänge beurteile, gehören ins Ästhetische. Man wird also auf diesem Wege bestenfalls zur Bestimmung des elementar Schönen, doch nicht zur Erklärung des Ästhetischen überhaupt gelangen. Vielmehr ist stets Voraussetzung, daß die Versuchsperson wisse, was ein ästhetisches Verhalten ist, und daß sie nur in einer solchen seelischen Verfassung ihre Beobachtungen mache und ihre Urteile fälle, denn sonst blieben ja die einzelnen Ergebnisse unvergleichbar. Wenn etwa die eine Versuchsperson nach der Bequemlichkeit der [Schillers Sämtliche Werke in 16 Bänden] Säkularausgabe [Hrsg. von Eduard von der Hellen in Verbindung mit Richard Fester u. a. Stuttgart und Berlin 1904/05, Bd.] XII [= Philosophische Schriften. Teil 2], [S.] 351. 2

Friedrich Schiller: »Kallias oder über die Schönheit« (1793). In: Ders.: Sämtliche Werke. Auf Grund der Originaldrucke hrsg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert. Bd. 4. Neunte, durchgesehene Auflage. München 1993 (11959), S. 394–433, hier S. 416. B Ders.: »Zerstreute Betrachtungen über verschiedene Gegenstände« (1793). In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 4, S. 543–569, hier S. 564. A

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Augenbewegungen und die andere nach rein persönlichen Vorstellungsassoziationen wertet, so sind diese Maßstäbe völlig voneinander und vom eigentlich ästhetischen Maßstabe verschieden. Das Schlimmste ist, daß gelegentlich die Wirkung die gleiche sein kann und damit eine objektive Gesetzmäßigkeit vorgetäuscht wird; ein vielleicht seltener, aber mir doch mehrfach begegneter Zufall, gegen den man sich durch vorhergehende genaue Unterweisung der Versuchsperson und durch nachfolgende Befragung schützen muß. Unter ästhetischem Objektivismus wollen wir also nicht die Tatsache verstehen, daß die ästhetischen Besonderungen (mit Einschluß des Schönen) in den Eigenschaften der Gegenstände begründet sind, sondern die Lehre, daß das Gebiet der ästhetischen Natur, Kultur und Kunst insgesamt objektive Merkmale einer gegenständlichen Eigenart besitze. Hierin ist die Behauptung eingeschlossen, daß Erscheinungen von bestimmter Beschaffenheit eine besonders starke Fähigkeit besitzen, ästhetisches Lob oder ästhetischen Tadel hervorzurufen, im Unterschied zu anderen Erscheinungen, die weniger geeignet sind, ästhetische Gefühle und Urteile zu veranlassen. Dieser Anschauung steht als Subjektivismus die Summe derjenigen Theorien gegenüber, die sich um die objektiven Merkmale des ästhetischen Seins nicht kümmern, sondern ihre Aufgabe mit einer Kennzeichnung und Erforschung des ästhetischen Verhaltens erschöpft glauben. (Vgl. [Dessoir:] Ästh[etik und allgemeine Kunstwissenschaft] S. 60 und 75.) Als Ausgangspunkt einer Untersuchung besitzt der Subjektivismus entschiedene Vorzüge. Denn einerseits erkennen wir Ja die ästhetische Wirklichkeit zunächst immer nur an unserem Verhalten, und anderseits ist dies Verhalten d. h. die ästhetische Einstellung überhaupt in so weitem Umfange möglich, daß die »Panästhetizismus« genannte Ansicht entstehen konnte. Auch wer zugibt, daß die unterscheidende Beurteilung, die in den Kategorien schön, häßlich, komisch usw. auseinandergelegt ist, jedesmal objektiv gestützt sein muß, mag die allgemeine Richtung aufs Ästhetische für lediglich subjektiv erklären. Fragen wir also vorerst, wie diese Einstellung an sich zu verstehen sei. Wenige Worte genügen. Bekanntlich finden wir an ihr die Wahr nehmung in hervorragendem Maße beteiligt. Ohne genaue Auffassung der Form- und Farbenverhältnisse, der Harmonien und Rhythmen tritt diejenige Würdigung des Gegenstandes nicht ein, die nach übereinstimmendem Sprachgebrauch ästhetisch genannt wird. Bei den einfachsten Gegenständen der ästhetischen Bewertung kann es nun so aussehen, als ob die Deutung der erwähnten Faktoren in das Belieben des Einzelnen gestellt sei: eine schräge Linie mag von dem einen Betrachter als gleitend, von dem anderen als aufstrebend, von dem dritten als mißglückter Versuch zur wagerechten Lage angesehen werden. Aber diese Subjektivitäten finden schnell ihre Grenze. Denn schon bei jedem einzelnen Gebilde gibt es nur wenige Möglichkeiten, und diese verringern sich bis zur Eindeutigkeit innerhalb eines Ganzen, wie es uns in Wirklichkeit immer entgegentritt. Die besondere Raumform oder die besondere Klangverbindung erhält durch die übrigen Teile des Gegenstandes eine Sicherung, die sie vor Willkürlichkeiten schützt. Es ist daher die Wahrnehmung an sich oder

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der unmittelbare Bestandteil des ästhetischen Eindrucks von dem Objekt nicht nur ausgelöst, sondern in ihm begründet und von der Beschaffenheit des Gegenstandes in gesetzlicher Weise abhängig. Die hinzutretenden Vor stellungen bilden den »assoziativen« oder »relativen« Faktor. Ob die Beiwörter gut gewählt sind? Jener Ausdruck Fechners enthält die bedenkliche Annahme, daß der psychologische Vorgang jedesmal eine Assoziation darstelle, diese von Külpe vorgeschlagene Bezeichnung läßt – gegen die Absicht des Urhebers – den gemeinten Bestandteil als durchaus schwankend erscheinen.A Gewiß stammen sehr viele der angegliederten Vorstellungen aus rein persönlicher Erfahrung oder vorübergehender Stimmung, sind also relativ. Andere jedoch bedeuten Wirkungen, die vom Gegebenen notwendig ausgehen, und sollten daher lieber, um Mißverständnisse zu vermeiden, gesondert bezeichnet oder mit jenen Assoziationen unter einen allgemeineren Begriff zusammengefaßt werden. Viel wichtiger ist natürlich die tatsächliche Feststellung solcher gebundenen Beziehungen. In zwei Fällen zum mindesten sind sie unbestreitbar, wie ich jetzt, im Gegensatz zu den früher von mir erhobenen Bedenken, glauben möchte. Mit der Wahrnehmung fast aller Werke angewandter Kunst verbindet sich die Vorstellung des Zwecks, dem die Dinge dienen; diese Vorstellung tritt als ein wesentliches Moment in den ästhetischen Genuß ein. Zweitens gewinnt bei den Schöpfungen nachbildender Künste der Gedanke an die ihnen entsprechende Wirklichkeit eine starke Kraft. Daß es sich in beiden Fällen nicht um deut liche Vorstellungsbilder handelt, habe ich bereits in dieser Zeitschrift ([Dessoir: »Skeptizismus in der Ästhetik«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft] II [(1907), S. 449–468, hier S.] 455) ausgeführt; andere Schwierigkeiten sind in meinem Buch ([= Dessoir: Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft] S. 192) erörtert. Doch die Hauptsache bleibt die unantastbare sachliche, nicht subjektive Zugehörigkeit einiger, vornehmlich der Zweck- und Wirklichkeitsvorstellungen, zum ästhetischen Gegenstand. Fehlten solche Angliederungen von allgemeiner Gültigkeit, so fiele alles, was über Wahrnehmung und beseelende Einfühlung hinausgeht, in das Gebiet regelloser individueller Äußerungen. In Wahrheit unterscheidet jeder geschulte Beobachter zwischen dem im Objekte liegenden Wert und der eigenen Reaktion; der Wert aber wird zum großen Teil bedingt durch den Maßstab mittelbar hervorgerufener Vorstellungen, deren Hauptvertreter soeben genannt wurden. Außer Wahrnehmung und Vorstellung ist am ästhetischen Gegenstand beteiligt der Wille. Der formale Ablauf von Willenshandlungen mit seinen Strebungen und Hemmungen, seinem Anwachsen und Nachlassen findet sich auch im ästhetischen Genuß. Indessen keineswegs als rein innerer Vorgang, der vom Objekt lediglich Vgl. Gustav Theodor Fechner: Vorschule der Aesthetik. 2 Bde. Leipzig 1876; Oswald Külpe: »Ueber den associativen Factor des ästhetischen Eindrucks«. In: Vierteljahrsschrift. für wissenschaftliche Philosophie. 23/2, S. 145–183; ders.: »Der gegenwärtige Stand der experimentellen Ästhetik«. In: Bericht über den 2. Kongreß für experimentelle Psychologie in Würzburg vom 18. bis 21. April 1906. Hrsg. von Friedrich Schumann. Leipzig 1907, S. 1–57, hier bes. S. 5. A

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ins Spiel gesetzt wird und dann nach eigener Regel abläuft, sondern als ein am und im Gegenstand erlebter Prozeß. Auf diese Seite der Einfühlung kommt es hier an. Der ästhetische Gegenstand ist es, der da strebt und gehemmt wird, anschwillt und abschwillt, und zwar auf Grund seines Gefüges. Wir dürfen diese formalen Bestimmtheiten der inneren Willenshandlung als etwas Objektives behandeln, weil wir sicher sind, bei erneuter Wahrnehmung des Gegenstandes den gleichen Gemütszustand zu erleben. Somit ist das ästhetische Verhalten nach drei Seiten hin an das Objekt gebunden. Es fehlt aber in unserer Zergliederung noch ein Moment, und zwar gerade dasjenige, das seit alters als die kräftigste Stütze des Subjektivismus angesehen wird: das Gefühl. Hierüber wird eine Verständigung nur schwer zu erzielen sein. Immerhin können wir wenigstens dies als sicher voraussetzen, daß, wenn das ästhetische Gefühl einen elementaren seelischen Inhalt darstellte, damit seine Subjektivität noch nicht bewiesen wäre. Denn Lust und Unlust werden – worauf ich oft aufmerksam gemacht habe – nicht bloß an Gegenstände als an ihre Ursachen geknüpft, sondern sie werden geradezu den Objekten als Eigenschaft beigelegt, z. B. den Farben und Tönen. Nun ist aber das ästhetische Gefühl kein einfaches und scharf umgrenztes Gefühl. Erkennen wir es als das, was es wirklich ist, nämlich als eine äußerst zusammengesetzte Verhaltungsweise, so dürfen wir es erst recht nicht zu einer bloßen Zuständlichkeit der Seele machen. Auch das ästhetische Gefühl hat seine Objektivität. Es bedeutet insbesondere die vollständige Verschmelzung des Ich mit dem Dinge, hervorgerufen durch die im ästhetischen Gegenstand herrschende anschauliche Notwendigkeit oder, anders gesagt, durch die darin auftretende Zusammengehörigkeit des Unterscheidbaren ([Dessoir:] Ästh[etik und allgemeine Kunstwissenschaft] S. 82 f. und 114 f.). Angesichts einer empirischen Wirklichkeit sind wir weniger anspruchsvoll, bei einer Bilderfolge aber oder einem Drama verlangt unsere Objektivitätstendenz strengste Verknüpfung, und diese besteht darin, daß jede Szene ein Bedürfnis erregen und jede einem Bedürfnis gerecht werden muß. Es ist klar, wie eng solche Verkettung mit dem Gefühl überhaupt und mit dem Realitätsgefühl im besonderen zusammenhängt. Je stärker das Gefühl, desto lebhafter drängt es auch nach dinghafter Verwirklichung, gleichsam um sich seiner selbst zu versichern. Mit diesen Erwägungen scheint die bekannte Lehre im Widerspruch, wonach der ästhetische Genuß als ein Wohlgefallen »ohne Interesse« mit der Existenz seines Gegenstandes nichts zu schaffen habe. Wir wollen die Theorie dahin auffassen, daß für das Ich des täglichen Lebens die eigentümliche Daseinsweise des ästhetischen Objekts gleichgültig sein soll. Wenn jemand zu einem Schlage gegen mich ausholt und ich ohne Rücksicht auf die Folgen die Schönheit der Bewegung bewundere, so ist allerdings der Vorgang in einem gewissen Sinne für mich nicht vorhanden. Es mag wohl ein anderer mit Recht mich fragen, ob ich denn die Bewegung nicht gesehen hätte. Doch ich würde mit größerem Rechte antworten: gerade weil ich sie nur sah, bin ich dem Schlag nicht ausgewichen. In ähnlicher Weise beurteile ich vielleicht ein Gesicht, das mir mit liebevollstem Ausdruck zugewendet

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ist, bloß danach, daß seine Formen und Farben häßlich sind. Dann mißachte ich wesentliche Eigenschaften der Wirklichkeit. Mit einem Wort, es sieht so aus, als ob das Ästhetische mangelhaft sei im Verhältnis zur vollen Realität, nämlich weniger gegenständlich oder mehr »scheinhaft«. In Wahrheit jedoch ist der Sachverhalt der gerade entgegengesetzte. Indem vor dem Ästhetischen jede Rücksicht auf unsere bürgerliche Lebenshaltung und unser persönliches Begehren ausscheidet, wird es in strenger Objektivität aufgefaßt, freilich in einer solchen von besonderer Eigenheit. Die den drei Ausmessungen des Ästhetischen (Natur, Kultur und Kunst) entsprechende »reine Betrachtung« hat grundsätzlich denselben Sinn wie die reine Betrachtung, die Aristoteles als das Kennzeichen des wissenschaftlichen Verhaltens nennt: sie ist die Herstellung eines Zusammenhangs von Beziehungen und Bewertungen, wodurch dem Gegebenen die volle Wirklichkeit gesichert wird. Zur Entfaltung dieser Erkenntnis bedarf es jedoch einer weiter ausgreifenden Betrachtung. 2.

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Der Begriff des Wirklichen ist weder einfach noch eindeutig. Seitdem Demokrit und Plato die folgenreiche Spaltung dieses Begriffes in das wahrhaft Seiende und die Erscheinungswelt vollzogen hatten, ist die naive Auffassung endgültig zerstört. Aber die Zweiweltentheorie der alten Philosophen genügt nicht. Sie ist zu einer Mehrweltenlehre zu erweitern, die mannigfache Arten und Stufen des Seienden anerkennt 3. Soll die Berechtigung dieses Pluralismus wiederum von psychologischen Ausgangspunkten her begründet werden – und das empfiehlt sich, um die Überlegung gleichmäßig zu gestalten –, anderseits aber auf das Ästhetische hin orientiert werden, so sind die Unterschiede von Wahrnehmung, Erinnerung und Phantasievorstellung ins Auge zu fassen (vgl. [Dessoir:] Ästh[etik und allgemeine Kunstwissenschaft] S. 79 ff.). Die Wahrnehmungen ergeben im Zusammenwirken der verschiedenen Sinne jene Wirklichkeit, die früher gern die »gemeine Wirklichkeit« genannt wurde. Die Erinnerungsvorstellungen haben eine andere Realität, eine unvollständige und eingeschränkte im Vergleich zur Vielsinnigkeit und Fülle der Wahrnehmungswelt, immerhin eine objektive, denn sie werden in einen an sich seiend gedachten Zusammenhang hineingesetzt. Subjektivität kommt wohl der seelischen Vorgangseigenschaft des Sich-erinnerns zu – gleichwie dem Vorgang des Wahrnehmens –, doch keineswegs dem Inhalt. Dieser gilt jeder natürlichen Selbstbeobachtung als etwas Objektives; er kann ja auch seine Unabhängigkeit vom Ich sehr deutlich zum Ausdruck bringen, beispielsweise in dem Fall einer erinnerten, hartnäckig verharrenden Melodie. Endlich die Phantasievorstellungen. Sie besitzen Gegenständlichkeit, da ihre Inhalte dem Ich mit einer gewissen Selbstwertigkeit 3

Ein Ansatz dazu in Schillers zwanzigstem ästhetischen Brief, namentlich in der Anmerkung.

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entgegentreten und außerdem unter sich bestimmte, nicht ausschließlich von der Willkür des Subjekts hervorgerufene Beziehungen entwickeln. Indessen die Ausdehnungskraft der Objektivität erstreckt sich sogar unter Umständen bis ins Innerste des Ich und läßt dieses samt seinen Vorgangseigenschaften zu einer unabhängigen Wirklichkeit erstarren. Am auffälligsten tritt die gemeinte Erscheinung in jenen abnormen Zuständen hervor, wo das wahrnehmende und handelnde Ich als ein seltsam Fremdes von einem noch irgendwie vorhandenen subjektiven Ich abgerückt wird 4. Das Fremdheitsgefühl, den meisten Menschen aus gelegentlichen Erfahrungen bekannt, gipfelt darin, daß das eigene redende und sich bewegende Ich als in einem Gegenüber oder in einer Entfernung empfunden wird. Nicht nur die Umgebungsbestandteile erscheinen als objektiv, fremd und fern, sondern auch das Subjekt nebst allen seinen Äußerungen erhält denselben Charakter. Die festeste der von uns erlebten Bindungen wird gelockert: was sonst ineinander verschmolzen ist, das intimste Ichbewußtsein einerseits, das Empfangen und Tun der Persönlichkeit anderseits, wird getrennt, gezerrt, geweitet 5. Mit einer solchen, sozusagen perspektivischen Verschiebung verbindet sich alsdann eine Mechanisierung des Erlebten, da die Lebendigkeit des Ich in das Geschehende nicht mehr eingefühlt wird. Was sich da abspielt, mit Einschluß der eigenen Tätigkeiten, kommt dem Subjekt automatenhaft vor: es verläuft ja alles so, wie es soll, aber ohne die innere Beteiligung der Person, daher unlebendig, rein mechanisch. Von einer ähnlichen Seelenverfassung berichten übrigens auch die Schauspieler, deren Ichgefühl nicht selten beim Spielen dermaßen unbeteiligt ist, daß alles nach einer fremden Gesetzmäßigkeit abzurollen scheint. Eine andere Abweichung des Wirklichkeitsbewußtseins ist zu erwähnen, weil sie gleichfalls in unser Gebiet einschlägt und vortrefflich über die Zerlegbarkeit der Realität belehrt. Wir kennen nämlich außer den bisher genannten Wirklichkeitskreisen und -arten auch eine schwer beschreibbare abstrakte Form des objektiven Seins. Wenn Künstler schaffen, so tritt häufig zu Beginn das Bewußtsein auf, es dringe jetzt in die Seele etwas Fremdes ein, das noch keinerlei Gestalt gewonnen hat. Anzeichen sind da, daß eine Idee nach Verkörperung strebt, doch entbehrt sie vorläufig jeder Bestimmtheit. Das Gefühl gleicht dem von der Anwesenheit eines »Andern« in demselben Raume, solange man noch nicht zu sagen vermag, ob jenes »Andere« ein Tier oder ein Mensch ist oder nur eine Täuschung oder ein »Gespenst«. Ein objektiver Inhalt will in der erregten Seele sich bilden, aber

4 Näheres über die sogenannte Depersonalisation (oder das Fremdheitsgefühl) in meinem Berichte »Das Unterbewußtsein«, den ich dem Genfer Psychologenkongreß im August 1909 vorgelegt habe [= VIe Congrès international de psychologie. Tenu à Genève du 3 au 7 août 1909. Hrsg. 8 von Edouard Claparède. Genf 1910, S. 37–56]. Ein Gegenstück zur Depersonalisation bildet das bei erschütternden Erlebnissen sich einstellende Gefühl: was da vorgehe, müsse ein Traum, könne nicht wirklich sein. (Das Wort Gegenstück steht hier sowohl im Sinne von Ergänzung als auch von Widerspruch.) 5 Unter der Einwirkung des Äthers hat man eine Dehnung des Zeitbewußtseins beobachtet, die diesem Vorgang verwandt ist.

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er ist vorerst ganz keimhaft, eine bloße Möglichkeit. Kurz, wir haben hier einen Einzelfall eines Realitätsgefühls ohne irgendwelche konkrete Beschaffenheit. Alle diese psychologischen Vorgänge sind erwähnt worden, um zu zeigen, daß er stens die Grenzen des Objektiven sich häufig ver schieben und daß zweitens Qualitätsunter schiede des Objektiven bestehen. Wenn beides zugegeben wird, so müssen wir nun weiterhin fragen, ob dann noch gemeinsame Kennzeichen für gegenständliche Wirksamkeit überhaupt aufzufinden sind. Das ist gewiß der Fall. Auch mit Rücksicht auf die besprochenen Besonderungen reichen die Merkmale aus, die ziemlich allgemein in der Erkenntnistheorie aufgeführt zu werden pflegen. Im Grunde kommen die Kriterien darauf hinaus, daß alles Objektive durch Befolgung einer eigenen Gesetzmäßigkeit, die nicht die psychologische ist, als unabhängig dem erlebenden Subjekt gegenübertritt. Wenn bestimmte Inhalte während des Wechsels anderer gleichförmig verharren und eine regelmäßige, aber nicht bewußt hergestellte Verknüpfung aufweisen, so bilden sie eine Wirklichkeit. Die lückenlose und eigentümliche Gesetzmäßigkeit eines Zusammenhanges verbürgt uns die unabhängige Existenz seiner Glieder. Solcher Zusammenhänge aber gibt es viele. Wir haben es hier mit dem ästhetischen Sein zu tun. Da muß nun von vornherein festgestellt werden, daß die ihm innewohnende Gesetzlichkeit nicht schlechthin die psychologische sein kann, daß also auch nicht die künstlerische Wahrheit in einfacher Deckung mit der psychologischen zusammenfällt. Der Hauptgrund ist ja ersichtlich: wir hätten vor ästhetischen Gebilden unmöglich das Gefühl eines Selbständigen und Objektiven, wenn anders sie nur »Seele« wären. Was hebt den ästhetischen Gegenstand über das sinnlich Gefällige hinaus? Eben der Umstand, daß das Angenehme seine Wirksamkeit auf das Psychologische beschränkt (freilich nicht auf das Individuelle, da über das, was die Sinne reizt, weithin Übereinstimmung herrscht). Was trennt die künstlerische Wahrheit von der psychologischen? Zum mindesten doch die Art, wie jene Wahrheit in die Erscheinung tritt. Selbst wenn wir die schöne Biegung eines Blattes oder eines ihm entsprechenden Architekturteils auf Grund eines aufstrebenden Gemütsverhaltens genießen, so genießen wir sie doch sozusagen in einer Bildersprache. Und gerade um diese dreht sich alles. Dem ästhetischen Gegenstand wird kein Leben »geliehen«, sondern er lebt sein eigenes Leben, er hat seine volle und eigentümliche Wirksamkeit. Ausgestattet mit Rechten und Forderungen stellt sich das Objekt vor das Subjekt hin. Es will anders als lediglich vom Menschlichen aus beurteilt werden 6. Nehmen wir als Beispiel ein Landschaftsbild. In ihm sind Licht und Schatten, Perspektive und Zusammenklang der Farben nach einer Regel geordnet, die auch für andere Bäume, Wiesen, Hütten gelten würde; das bedeutet: nicht der zufällige Anblick Selbst ein Ästhetiker wie Lipps kann sich diesem Sachverhalt nicht versagen; aber er verdunkelt ihn durch die übermäßige Ausdehnung des Einfühlungsprinzips. In seiner Ästhetik sind gerade die nebenbei gebotenen Einsichten die richtigsten und fruchtbarsten; die Beiwörter der Lippsschen Lehre sollten die Hauptwörter einer vorurteilsfreien Wissenschaft werden. 6

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eines Haufens zufälliger Dinge wird in dem Gemälde abgespiegelt, sondern es wird darin eine das Einzelne überschreitende Gesetzlichkeit ausgedrückt. Zwischen den Teilen wirken Beziehungen anschaulich-notwendiger Art; der ästhetische Wert der Teile ist ein Knüpfungswert. Aber diese Gesetzmäßigkeit, die im engeren Sinne ästhetische – also etwa die der Beleuchtung –, läßt sich nie und nimmer mit der psychologischen gleich setzen; sie muß vielmehr als eine objektive Eigenschaft des ästhetischen Seins anerkannt werden. Um den Tatbestand weiter zu verdeutlichen, wollen wir einen Umweg nicht scheuen und die viel behandelte Verwandtschaft zwischen Kunst und Spiel einer Prüfung unterziehen. Sie ist oft in der Richtung mißverstanden worden 7, daß sie den Objektivismus zu widerlegen schien; ja, man wollte geradezu durch Rückgreifen auf das Spiel eine Theorie von der Ungebundenheit und Subjektivität des ästhetischen Lebens begründen. Etwas Richtiges steckt in der Meinung, nämlich dies, daß wir beim Betreten beider Sphären in ein Reich der »Heiterkeit« gelangen und uns der schweren Bürde des »ernsten« Lebens entledigen. Spiel und Kunst befreien tatsächlich den Menschen vom Druck der Wirklichkeit. Allein sie tun es, indem sie ihn in eine neue Gesetzlichkeit überführen. Betrachten wir daraufhin zunächst das Spiel. Schon die einfachsten kindlichen Spiele zeigen die Neigung, Regeln in sich auszubilden. Bei Bewegungsspielen z. B. muß dem einen Kind ein Vorsprung vor den anderen gelassen werden, oder ein bestimmter Ort gilt als Freistätte, oder es darf bloß auf einem Fuß gehüpft werden und dergleichen mehr. Die Bücher, in denen Spiele zusammengestellt sind, enthalten unzählige solcher Ordnungen. Nicht anders bei den Spielen der Erwachsenen. Für die Ringkämpfer gibt es ein höchst verwickeltes System erlaubter und verbotener Griffe, während natürlich im Ernstfall nahezu alles erlaubt ist oder doch die von sittlichen Erwägungen gezogene Grenze in einer ganz anderen Richtung läuft. Bei Karten- und Brettspielen werden den Karten und Steinen willkürlich gewisse Werte beigelegt und die Beziehungen zwischen ihnen durch strenge Gesetze geregelt; versucht jemand von diesen abzuweichen, so heißt es: mit dem läßt sich nicht »spielen«. Es ist also eine objektive Ordnung da. Daneben freilich eine Bedingung, die nicht mechanisch zu bestimmen ist: der Mitspieler. Der von seiner Geschicklichkeit ausgehende, stärkere oder schwächere Widerstand bildet den veränderlichen Bestandteil des Spiels. Über den Wettbewerb der Kräfte gibt es keine besondere Regel, höchstens die, daß er nicht ins Ungemessene zu verlaufen, sondern an einem vorher festgelegten Punkt zu schließen pflegt. Nur wird eben der Endpunkt nicht auf dem kürzesten oder Nicht von Schiller. »Weil man indessen, von einem falschen Geschmack verführt und durch ein falsches Räsonnement noch mehr in diesem Irrtum befestigt, den Begriff des Willkürlichen in den Begriff des Ästhetischen gern mit aufnimmt, so merke ich hier zum Überfluß noch an (obgleich diese Briefe über ästhetische Erziehung fast mit nichts anderem umgehen, als jenen Irrtum zu widerlegen), daß das Gemüt im ästhetischen Zustande zwar frei und im höchsten Grade frei von allem Zwang, aber keineswegs frei von Gesetzen handelt . . .«. (Anmerkung zum 20. Brief. [Siehe Säkularausgabe [. . .]. Bd. 12 (siehe Fn. 2), S. 78 f.]) 7

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auf einem beliebigen Wege erreicht; man gelangt zu ihm vielmehr nach Maßgabe der auf beiden Seiten entwickelten Leistungen und auf der von der Spielregel vorgeschriebenen Bahn. Wenden wir dieselbe Betrachtungsweise jetzt auf die bildenden und redenden Künste an, so dürfen wir das Naturvorbild der Darstellung als die Gegenpartei zum Künstler bezeichnen. Der Dichter kämpft spielend mit der Fabel, die seinem Werk zugrunde liegt, der Maler mit dem Modell. Gleich guten Spielern müssen sie wissen, ob sie dem Gegner gewachsen sind und wie er zu behandeln ist. Im Stoff liegen, und zwar als veränderliche Größen, die Förderungen und Hemmungen, durch die man schließlich zum Ende gelangt; mancher Stoff erlaubt (wie mancher Gegner im Spiel) eine kurze, ein anderer Stoff fordert eine lange Behandlung. – Was zweitens die Spielregel betrifft, so wird sie dem Künstler in den Formungsprinzipien der gewählten Kunstart übermittelt. Ja, die Spielregel des Malens, z. B. mit Wasserfarben auf Papiergrund, ist erheblich objektiver als diejenige des Schachs oder des LawnTennis, weil sie durchaus in der Natur dieser Malmittel begründet ist. Wir dürfen demnach als erweislich wahr ansehen, daß Spiel und Kunst keine Gebiete zügelloser Subjektivität bilden, sondern Sphären besonderer Gesetzmäßigkeit, und sich als solche von der Gesetzmäßigkeit des wirklichen Daseins abheben. 3. Wenn das ästhetische Sein eine besondere Gesetzmäßigkeit in sich trägt, so besitzt es damit objektive Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit ist von so starker Objektivität, daß die soeben erwähnten Spielregeln oder Formprinzipien schlechterdings nicht durchbrochen werden können; das künstlerische Genie zeigt sich immer nur in der Bereicherung und Vertiefung der Regeln, niemals in feiger Umgehung. Dazu kommen aber noch zwei andere Momente. Über das erste genügen wenige Worte, weil es bereits anderwärts ([Dessoir:] Ästh[etik und allgemeine Kunstwissenschaft] S. 236) erörtert wurde. Es handelt sich darum, daß jedes Kunstwerk inhaltlich sein eigenes Leben führt – manchmal im heftigsten Kampf gegen die Absicht des Künstlers –, denn von gegebenen Voraussetzungen aus darf oder kann der Stoff nur in gewissen Richtungen entwickelt werden. Zum andern gewinnt eine künstlerische Schöpfung insofern Realität, als sie kraft einer allgemeinen Bedeutsamkeit inhaltlich über sich selbst hinausweist. Wie der Platonismus unabhängig von Plato ein Dasein hat, so läßt sich von jedem größeren, namentlich dichterischen Kunstwerk eine Lebensbeurteilung und Weltanschauung ablösen. Diese ist dann ein bleibender und objektiver Wert. Goethes Gedichte, oft als augenblickliche Aufzeichnungen entstanden, erheben sich über alle Gelegenheitsdichtung, weil sie das Menschliche in seinen unveränderlichsten Zügen ergreifen. Und der Wert des Kunstwerks wächst mit dem höheren Betrag einer solchen Objektivität. So wird das einzelne Werk zu einem Bestandteil der geistigen Kultur, während alles bloß Subjektive außerhalb dieses großen Zusammenhangs liegt.

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Ganz selbstverständlich ist schließlich die Zugehörigkeit des einzelnen ästhetischen Gegenstandes zum Ganzen des ästhetischen Seins. Ich würde diesen Punkt überhaupt nicht erwähnen, wenn nicht manchmal die Lehre von der Isolierung so vorgetragen würde, daß sie der rein ästhetischen Verbindung der Objekte zu widersprechen scheint. Die Theorie besagt aber nur, daß das besondere ästhetische Gebilde von der übrigen Welt abgeschlossen und in diesem Sinne in sich fertig ist. Der Rahmen des Bildes, der Sockel der Säule, der Vorhang der Bühne, die Ruhe, aus der wie aus einem Nichts die Welt der Musik emporsteigt, – alle diese Hilfsmittel der Trennung schützen den Kunstgegenstand vor Berührungen mit der Umgebung, und sie werden jenseits der Kunst vom Genießenden innerlich nachgebildet, um den ästhetischen Wert von Naturobjekten und Kulturformen zu steigern. Aber sie bedeuten eben lediglich Maßnahmen gegen eine Vermengung mit der empirischen Wirklichkeit: die Landschaft auf der Leinwand soll nicht in die Umgebung des Bildes weitergeführt, die Statue nicht mit dem Erdgrund in Berührung gebracht, das Reich der Bühne nicht mit demjenigen unseres Lebens verwechselt, die Musik nicht dem Geräusch des Tages angenähert werden. Nur soweit das Benachbarte an der ästhetischen Seinsform teilnimmt, verknüpft es sich mit dem ästhetischen Gegenstande. Dessen Grenze ist also gelegentlich eine breite Zone, und daraus entstehen Probleme, die in dieser Zeitschrift mehrfach (von Olga Stieglitz, Waldemar Conrad und anderen) in Angriff genommen worden sind. Immerhin, wie man auch den ästhetischen Gegenstand in den besonderen Fällen umgrenzen mag, innerhalb seiner herrscht jedenfalls eine Objektivität, die von derjenigen der Umwelt abweicht. Dieser Satz gilt in weiterem Umfange, als häufig angenommen wird: selbst die allgemeinsten Bestimmungen des räumlichen und zeitlichen Seins sind hier andere als dort 8. Die räumlichen Verhältnisse, auf die es im Bilde ankommt, haben ihre Eigenart. Bekanntlich stört es uns nicht, wenn der Maler ein dargestelltes Ding in der Mitte vom Rahmen durchschnitten werden läßt. Der Grund kann nur der sein, daß das Gefühl der Vollständigkeit in der ästhetischen Sphäre an besonderen Bedingungen haftet. Dies Gefühl und die von ihr geforderte räumliche Einheit bedürfen nicht unter allen Umständen des Fertigseins im Sinne natürlicher Dinglichkeit. Mit einem Wort: bereits in den grundlegenden Eigenschaften unterscheidet sich die ästhetische Wirklichkeit von der schlechthin gegebenen. Jeder ästhetische Gegenstand ist gegen diese Welt von Objekten abgeschlossen. Indessen die Isolierung besteht nicht in bezug auf die übrigen ästhetischen Gegenstände. Namentlich diejenigen der gleichen Ordnung, z. B. die Werke derselben Kunstgattung und Kunstart, werden vielmehr aufs engste einander genähert durch die ihnen gemeinsame Gesetzmäßigkeit. Zuhöchst gehören sie allesamt einer übergreifenden Wirklichkeit an, eben der ästhetischen; und dies nicht etwa im bildlichen, nein, im recht eigentlichen Sinne. Der Inbegriff ästhetischer Objekte ist Über Raum und Zeit im Ästhetischen vgl. die Ausführungen von Lenore Kühn in dieser Zeitschrift [= »Das Problem der ästhetischen Autonomie«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft] IV [(1909), S. 15–77], [hier] 66 ff. 8

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eine der Gruppen oder Stufen von Realität, eine Klasse mit sachlichen Merkmalen und kennzeichnenden Regeln, also weder eine Scheinwelt noch eine Schöpfung subjektiver Willkür. Das Gefüge und die Gesetze dieser Seinsart von neuem aufzudecken, liegt mir fern. Ich will aber einige weniger beachtete Seiten des Problems näher ins Auge fassen. Zunächst die eigentümliche Schwierigkeit, die in der anschaulichen Beschaffenheit des Ästhetischen beschlossen ist. Während die Umkreise der metaphysischen und naturwissenschaftlichen Begriffsbildung durch ihre Unanschaulichkeit deutlich von der Erfahrungswirklichkeit abgehoben sind, gerät die Welt des ästhetischen Bewußtseins wegen ihrer Anschaulichkeit in Gefahr, mit dem konkreten Sein verwechselt zu werden. Deshalb ist der zuletzt von Conrad (in dieser Zeitschrift) geführte Nachweis von Bedeutung, daß für gewöhnlich der ästhetische Gegenstand in dem tatsächlich vorliegenden Ding oder Geschehen nicht lückenlos verwirklicht wird, daß sein Dasein sich nicht erschöpft in der äußeren Erscheinung des Gegebenen. Was gemeint ist, erkennen wir sofort an einfachen Beispielen, etwa an den vielen möglichen Tonartänderungen eines Musikstückes und an den Formatänderungen eines Bildes, oder an den Auf führungsunterschieden von Tonstücken und an dem wechselnden Erhaltungszustand eines Bildwerkes. In der Tat, man könnte die alte Vergleichung der Ästhetik mit der Logik wieder aufnehmen und entsprechend Kants Beispiel von den hundert Talern sagen: zum idealen ästhetischen Gebilde muß etwas, was nicht ästhetisch ist, hinzukommen, um daraus die ästhetische Gegebenheit zu machen, gleichwie zum logischen Begriff etwas hinzutreten muß, damit aus dem Gedachten ein Tatsächliches werde. Oder man mag nach dem Vorbild Spinozas und seines Satzes »Omnis determinatio est negatio« das konkret vorhandene Objekt unseres ästhetischen Genießens durch Minderung aus dem idealen ästhetischen Gebilde entstehen lassen (wozu wohl mehr Grund vorliegt als zu der anderen Auffassung). In jedem Fall bleibt es dabei, daß die ästhetische Objektivität – obwohl anschaulicher Art – sich mit der konkreten Wirklichkeit der ästhetischen Erscheinungen nur unvollkommen deckt. Auch unter dem jetzt entwickelten Gesichtspunkt gilt demnach der vorhin aufgestellte Satz, daß der einzelne Gegenstand in seiner jeweiligen Gestalt über sich selbst hinausweist. Betrachtet man nun das ästhetische Reich in seiner abstrakten Vollendung, so erscheint es als ein Intensitätsphänomen (vgl. [Dessoir:] Ästh[etik und allgemeine Kunstwissenschaft] S. 75). Voraussetzung des ästhetischen Schaffens und Genießens ist Hingabe an die Kraft und Fülle der sichtbaren Welt, lebhaftes Gefühl für die unwiederholbare Tatsächlichkeit des Lebens, Empfänglichkeit für den uns unaufhörlich umbrausenden Jubelruf: Ich bin! Aber auf dieser Voraussetzung erheben sich die wunderbarsten Steigerungen des natürlichen Seins. Das bloß Wirkliche verhärtet sich zu der unbedingten Notwendigkeit, die in jedem ästhetischen Gebilde die Teile aneinander kettet, und es erweitert sich zu allen den Möglichkeiten, für die in der Erfahrungswelt kein Raum ist, wo die Elemente ja immer nur nach einer einzigen Regel verbunden werden. Beides gehört derart zusammen, daß die objektive Notwendigkeit über der Fülle des Möglichen die Herrschaft hat. Was dies

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bedeutet, erkennt man, indem man die ästhetische Welt mit der an Möglichkeiten ebenso reichen Traumwelt vergleicht: hier subjektive Grenzenlosigkeit, dort objektive Gebundenheit. Die im Traum auftretenden Bilder werden oft anders beurteilt als im wachen Zustande, z. B. ohne jede Verwunderung aufgenommen, obgleich stärkstes Erstaunen am Platze wäre; aber es gibt keine Gesetze für diese Veränderung der Apperzeption, wenigstens nicht in dem Sinne, wie für die sozusagen einheitlich verschobene ästhetische Apperzeption. Wir wissen, daß wir im Traum anders bewerten als sonst, nur vermögen wir keinen bestimmten Gesichtspunkt der Bewertung herauszufinden. Schon dieser eine, tiefgreifende Unterschied sollte verhindern, daß die Phantasie des Künstlers eine Traumphantasie genannt wird, was immer wieder vorkommt. Feinere Verschiedenheiten bestehen zwischen den magischen Vertauschungen, die der Traum kennt, und den symbolischen Beziehungen, die in der Kunst sich finden. Wenn im Traum eine Person diejenige bleibt, die sie tatsächlich ist, und trotzdem zugleich eine andere sein kann, so verblaßt diese wunderliche Aufhebung des Identitätsaxiomes zu einem »Symbol« innerhalb der ästhetischen Wirklichkeit. Oder wenn im Kunstwerk, wie wir sahen, eigentümliche Zeit- und Raumverhältnisse herrschen, so sind sie doch geregelter Natur gegenüber der sprunghaften Willkür, mit der der Traum jene Beziehungen behandelt. Die einzige wichtige Gemeinsamkeit beider Welten betrifft nicht ihr Gefüge oder die Grundsätze der Verknüpfung, sondern den Inhalt. Der Stoff der künstlerischen Schaffenstätigkeit stammt zu einem erheblichen Teil aus der frühesten Jugend des Künstlers; was den Künstler vor den übrigen Menschen auszeichnet, ist vornehmlich auch dies, daß er um sich weiß, bis zu den Wurzeln seiner Existenz hinab (vgl. [Dessoir:] Ästh[etik und allgemeine Kunstwissenschaft] S. 250 ff.). Beim Träumen gelangen wir alle in dieselbe Tiefe. Denn so viel hat Freuds (im übrigen anfechtbare) Lehre doch sichergestellt, daß die Traumerlebnisse nicht nur auf körperliche Reize oder zuletzt gemachte Erfahrungen zurückgehen, sondern sehr häufig sich auflösen lassen in später vergessene Eindrücke der Kindesseele. Das Stückchen Kindheit, das – sonst in den untersten Schichten der Persönlichkeit verborgen – im Traum aufgedeckt wird, es lebt in der Einbildungskraft des Künstlers. Sonach gibt es eine materiale Verwandtschaft zwischen der Traumphantasie und der künstlerischen Phantasie. Sie kommt indessen für die Fragestellung des ästhetischen Objektivismus nur nebenher in Betracht. Dagegen ist von äußerster Bedeutung die Frage, mit welchen Voraussetzungen der Geist die Wirklichkeit des Ästhetischen aufbaut. Freilich, zunächst wäre zu untersuchen, ob es überhaupt ein ästhetisches Apriori gibt. Aber dann wären sogleich folgende Probleme aufzuwerfen: Ist die ästhetische Bewußtseinsstellung im letzten Grunde eins mit dem künstlerischen Verhalten? Sind ihre Bestandteile nur für den Umkreis des Ästhetischen maßgebend oder haben sie etwa auch dem metaphysischen Sein (in Begriffen wie Form und Materie, Akt und Potenz, Idee und Ideenreich) wesentliche Stützen geliefert? Führen Beziehungen zum Apriori des Naturforschers und des Historikers? Über alles dieses wird später einmal zu reden sein.

Zum Abschied ()

Mit dem nächsten Heft, dem ersten des zweiunddreißigsten Jahrgangs, beginnt die »Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft« einen neuen Abschnitt ihres Lebens. Ihr Leiter wird fortan Prof. Richard Müller-Freienfels sein. Indem ich mein Amt in seine Hände lege, füge ich viele gute Wünsche hinzu. Gleichzeitig danke ich meinen Mitarbeitern, den toten in treuem Gedenken, den lebenden in aufrichtiger Verbundenheit. Dank schulde ich auch dem Verlag für seine Zuverlässigkeit und Sorgfalt; es war gut arbeiten mit den Enkes. Weshalb ich diese Zeitschrift gegründet und sie durch eine Gesellschaft sowie durch Kongresse zu stützen versucht habe, möchte ich nochmals sagen. Mir schien die Erkenntnis der Kunst von zwei Seiten her bedroht: von den Philosophen und Psychologen, die aus den Kunstwerken rein ästhetische Gebilde machen wollen, und von den Historikern, die nur einzelne Kunstbezirke und in jedem nur die geschichtlichen Zusammenhänge kennen. Um dem ersten Irrtum zu entgehen, schied ich von der Ästhetik die Kunstwissenschaft, und um die andere Einseitigkeit zu vermeiden, strebte ich danach, die Theorie der Kunst als eine allgemeine Kunstwissenschaft auszubilden. Unsere Zeitschrift sollte dazu beitragen, die Kunst, diese gewaltige Tatsache des geistig-gesellschaftlichen Lebens, vor Ästhetisierung und Historisierung zu bewahren. Indessen, es ist mir nicht beigefallen, alle Mitarbeiter auf meine Überzeugung zu verpflichten. Die Abhandlungen, mit denen die Zeitschrift im Januar 1906 eröffnet wurde, stammten von Theodor Lipps und Konrad Lange, also von zwei Forschern, die ihre eigenen Wege gingen. Auch später hat jeder das Wort erhalten, der mit Sachkenntnis seine Meinung vertrat, damit in immer neuer Berührung der Geister die Forschung lebendig und fruchtbar bleiben konnte. So wenig ich danach gefragt habe, ob jemand meinen Ansichten zustimmte, ebensowenig danach, ob er zu den Anerkannten gehörte oder zu den Kommenden: mancher Neuling ist hier zu seinem ersten Waffengang angetreten. Letztlich waren wir doch alle einig, denn uns verband der Wille, Klarheit auf einem Gebiet zu schaffen, das so leicht durch Phrasen eingenebelt wird. Daher darf ich hoffen, daß die in den einunddreißig Bänden enthaltene geistige Arbeit nicht umsonst getan war. Es ist kein Widerspruch, wenn ich zum Schluß den Wunsch äußere, sie möge von der weiteren Entwickelung überholt werden. Wir Alten wissen, daß dem Wahrheitsuchen dies Schicksal nie erspart bleibt; die Jungen werden es zu ihrer Zeit erfahren. Berlin, im August 1937. Max Dessoir.

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Das Problem und die Aufgabe einer allgemeinen Kunstwissenschaft () § 1.

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Der Beweis für die Möglichkeit der Wissenschaft ist die Tatsache der Wissenschaft. Wenn wir aber in diesem Buche von der Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft sprechen wollen, so sind wir leider nicht in der Lage, im Hinblick auf den tatsächlichen Wissenschaftsbetrieb durch prüfende Besinnung eine Klärung der Grundlagen, Methoden und Fragestellungen zu gewinnen. Es mangelt das wissenschaftlich verarbeitete Material, auf das wir uns zu stützen vermögen. Hier und da treffen wir tastende Anfange oder auch kühne Versuche, neue Wege laden zur Weiterführung ein, neue Probleme erheischen Antwort. Alles scheint im Flusse, und eine Verständigung steht noch darüber aus, in welche Bahnen die Wasser dieses Flusses abzuleiten sind; ja es ist noch nicht einmal sicher, ob es sich hier um einen eigenen Fluß handelt, oder bloß um den Seitenarm eines größeren Gewässers. Wenn jemand heute nach den Grundlagen der Mathematik forscht, so steht er vor dem weit ausgebauten und fest gesicherten Reich der Mathematik. Aber ob es überhaupt eine allgemeine Kunstwissenschaft als Sonderdisziplin gibt oder geben kann, das ist eine durchaus strittige Frage. Hier erschließt sich uns kein bereits erobertes Gebiet, sondern es muß erst die Rechtfertigung erbracht werden, warum ein derartiges Gebiet geschaffen werden soll, und es bedarf eines Feldzugsplanes, der die Möglichkeit des Eindringens in dieses Gebiet gewährleistet. Wir sprechen hier also weniger von einer vorhandenen, als von einer werdenden Wissenschaft, weniger von Grundlagen, deren Tragkraft im Dienste der Wissenschaft sich erprobt hat, als von Prinzipien, deren Fruchtbarkeit in der Werkstatt lebendiger Forschung sich erweisen soll. Dabei verhehlen wir es uns keineswegs, daß die mannigfachsten Fragen der allgemeinen Kunstwissenschaft schon von verschiedener Seite her in Angriff genommen wurden, aber eben nur in den seltensten Fällen mit klarer Bewußtheit, daß es sich hier um Fragen der allgemeinen Kunstwissenschaft handelt. Dies mag ja gleichgültig erscheinen, wenn nur die Ergebnisse richtig sind; aber die Ergebnisse können bestenfalls nur zufällig richtig sein oder geradezu im Gegensatz zur eigentlichen Fragestellung, wenn nicht das Problem einer allgemeinen Kunstwissenschaft erkannt wird. Und all die Ergebnisse zerfallen in ein wirres, undurchsichtiges Chaos, wenn nicht der ordnende und vereinheitlichende Rahmen einer Wissenschaft sie umspannt. Und welche Tatsache ist es nun, die den Zugang zu dieser Wissenschaft versperrt? Es ist der im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts geradezu dogmatisch erstarrte Glaube, die Kunst könne in ihrer Gesamtheit unter ästhetischem Gesichtspunkt verstanden und gewürdigt werden, oder wenigstens: was an der Kunst

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wahrhaft Kunst sei, erschließe sich der ästhetischen Forschung. Dadurch wurden alle Kunstprobleme rein ästhetische Probleme. Dabei ist es nun eigentlich gleichgültig, ob man vom allgemein Ästhetischen ausgehend – und dies ist der ungleich häufigere Fall – die Kunst als einen Sonderfall des Ästhetischen betrachtet und sich damit den Weg zum wesenhaften Verständnis der Kunst verschließt, oder ob man die Kunst an die Spitze stellt und auf diese Weise das Ästhetische zersetzt und auflöst 1. Sicherlich liegt in den wenigen Worten kein Beweis, der es gestatten würde, diese Auffassungen als verfehlt abzulehnen; aber die Richtigkeit unserer Behauptungen soll durch dieses Buch erhellen; jedoch sicherlich ist die ungeprüfte Annahme ebenso unbewiesen – und wie ich glaube, unbeweisbar – daß das Künstlerische im Ästhetischen aufgeht, daß die Probleme der Ästhetik alle Probleme der allgemeinen Kunstwissenschaft umspannen, oder daß alle Probleme der allgemeinen Kunstwissenschaft ästhetische Probleme seien. § 2.

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Konrad Fiedler 2 gebührt das unvergängliche Verdienst, das Problem einer allgemeinen Kunstwissenschaft klar erkannt zu haben und damit die Notwendigkeit einer allgemeinen Kunstwissenschaft als Sonderdisziplin. Er stellt die bedeutsame Frage, ob es eine berechtigte Voraussetzung sei, daß die Kunst ihrem ganzen Umfange nach dem Forschungsgebiete der Ästhetik angehöre, ob sie keine andere wesentliche Bedeutung habe, als ihr diese beilegen, kein anderes Ziel, als ihr diese vorschreiben könne. »In der Tat sehen wir diese Voraussetzung häufig als eines Beweises nicht bedürftig von vornherein angenommen. Wenn wir aber hier und da uns davon überzeugen müssen, daß man von dem Standpunkte der Ästhetik aus nur eines Teiles von dem vollen Gehalte der Kunstwerke habhaft werden kann, daß die künstlerische Tätigkeit Erscheinungen bietet, die der Unterordnung unter ästhetische Gesichtspunkte widerstreben, daß die Anwendung ästhetischer Prinzipien zu positiven Urteilen über Kunstwerke führt, die den Werken selbst gegenüber der Überzeugungskraft entbehren; wenn wir sehen, daß infolge von alledem die Ästhetik, um der Kunst ihrem ganzen Umfange nach gerecht werden zu können, sich selbst nicht selten Zwang antut oder daß der Kunst von ihr willkürlich beengende Schranken aufgezwungen werden: so könnten wir uns wohl veranlaßt fühlen, vor allem die Annahme, daß Ästhetik und Kunst ihrem vollen Wesen nach 1 Vgl. meinen Vortrag über »Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft« auf dem Kongreß für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Berlin 1913 ([in: Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Berlin, 7.–9. Oktober 1913. Bericht. Hrsg. vom Ortsausschuss] Stuttgart 1914 [S. 102–106]). [In dieser Ausgabe der folgende Beitrag.] 2 Konrad Fiedler, Schriften über Kunst [hrsg. von Hermann Konnerth. Bd.] I; München 1913; vgl. auch Her mann Konner th, Die Kunsttheorie Konrad Fiedlers; München 1909 und meine Besprechung der Fiedlerschen Schriften in der Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft VIII [(1913)], S. 501 ff. [= S. 501–505.]

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in einem innerlich notwendigen Verhältnis zueinander stehen, einer kritischen Untersuchung zu unterwerfen.« A Es geschieht häufig genug, daß der Mensch, ehe er es versucht, sich auf den künstlerischen Standpunkt zu stellen, der Kunst gegenüber einen anderen Standpunkt, mag dies ein religiöser, moralischer, politischer oder irgendein anderer sein, einnimmt und von diesem aus zusieht, welche Wirkungen die menschliche Natur nach diesen Richtungen hin von den Kunstwerken empfängt. Hier werden die Kunstwerke nicht als künstlerisch, sondern als anderweitig wirkend aufgefaßt, und so lehrreich diese Art der Untersuchung sein mag, so liegt sie doch gänzlich außerhalb des Gebietes eigentlicher Kunstbetrachtung. Die Kunst ist auf keinem anderen Wege zu finden als auf ihrem eigenen. Das Verlangen, der Anschauung bei der geistigen Erziehung des Menschen eine größere Berücksichtigung zuteil werden zu lassen, ist dann gerechtfertigt, wenn demselben die Einsicht zugrunde liegt, daß die Anschauung für den Menschen eine selbständige, von aller Abstraktion unabhängige Bedeutung habe, daß das Vermögen der Anschauung, so gut wie das abstrakte Denkvermögen ein Recht habe, zu einem geregelten und bewußten Gebrauch ausgebildet zu werden, daß der Mensch zu einer geistigen Herrschaft über die Welt nicht nur im Begriff, sondern auch in der Anschauung zu gelangen imstande sei. So beruht Ursprung und Dasein der Kunst auf einem unmittelbaren Ergreifen der Welt durch eine eigentümliche Kraft des menschlichen Geistes: die Anschauung. Ihre Bedeutung ist keine andere, als eine bestimmte Form, in der der Mensch die Welt sich zum Bewußtsein zu bringen nicht nur bestrebt, sondern recht eigentlich durch seine Natur gezwungen ist. So ist die Stellung des Künstlers zur Welt keine beliebig gewählte, sondern eine natürlich gegebene; und das Resultat, zu dem er gelangt, kein untergeordnetes und entbehrliches, sondern ein höchstes und dem menschlichen Geiste, wenn er sich nicht selbst verstümmeln will, vollkommen unersetzliches. Was die Kunst schafft, ist nicht eine zweite Welt neben einer anderen, die ohne sie existiert, sie bringt vielmehr überhaupt erst die Welt durch und für das künstlerische Bewußtsein hervor; sie steigt vom Form- und Gestaltlosen zur Form und Gestalt empor, und auf diesem Wege liegt ihre ganze geistige Bedeutung. Wäre die menschliche Natur nicht mit der künstlerischen Begabung ausgestattet worden, die Welt würde nach einer großen unendlichen Seite hin dem Menschen verloren sein und bleiben. So ist die Kunst genau so gut Forschung wie die Wissenschaft, und die Wissenschaft ist so gut Gestaltung wie die Kunst; nur die Gestaltungsreiche beider sind verschieden. Beide stellen Mittel dar, durch die der Mensch allererst die Wirklichkeit gewinnt: die des Begriffes in der Wissenschaft und die der Anschauung in der Kunst. In ihr verwirklicht sich die Sichtbarkeit der Dinge in der Gestalt reiner Formgebilde. Nur dadurch kann der Künstler von der Unverfälschtheit und Stärke seiner Begabung Konrad Fiedler: »Über die Beurteilung von Werken der bildenden Kunst« (1876). In: Konrad Fiedlers Schriften über Kunst. Hrsg. von Hermann Konnerth. Bd. 1. München 1913, S. 1–79, hier S. 11 f. A

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Zeugnis ablegen, daß er die Rücksichten auf allerlei Gehalt und Inhalt, die seine bildende Tätigkeit beeinflussen könnten, zurückdrängt und sich ganz allein von dem Streben nach Entwicklung des Gesichtsbildes bestimmen läßt. Und wenn man sonst im Kunstwerk dem, was sich ausschließlich dem Gesichtssinne darbietet, eine untergeordnete Rolle zuzuteilen pflegt im Verhältnis zu dem Empfindungsund Gedankengehalt, als dessen Träger das sichtbare Gebilde betrachtet wird, so müssen wir dieses Verhältnis umkehren und alle Wichtigkeit, die einem Kunstwerk als solchem zugeschrieben werden kann, in seine Sichtbarkeit verlegen. Daß dem Kunstwerk ein Wert für unser Empfinden innewohnt, daß in ihm eine Bedeutung zum Ausdruck gelangt, die wir nur auf dem Wege des Denkens uns aneignen können, daß diese Bedeutung wiederum weiter wirkt auf die Gesamtheit unseres denkenden Lebens, dies alles ist nicht viel wichtiger als der Umstand, daß der Künstler, indem er durch und für den Gesichtssinn arbeitet, an einen sinnlich gegebenen Stoff gebunden ist, der nicht nur für den Gesichtssinn, sondern auch noch für andere Sinnesgebiete vorhanden ist. Es ist klar, daß der vielfache Einfluß, der von der Kunst auf das Gesamtleben der Menschen tatsächlich ausgeht, und in welchem Bestimmung, Wert und Bedeutung der Kunst zu erkennen, ganz selbstverständlich erscheint, vernichtet werden müßte, wenn es gelänge, die Menschen ausschließlich für jene reinste und höchste Wirkung der Kunst empfänglich zu machen. Kann man sich auf der einen Seite dieser Konsequenz nicht entziehen, und will man doch auf der anderen Seite das Vorhandensein einer allgemeinen Bedeutung der Kunst nicht dadurch ganz in Frage stellen, daß man in denjenigen Bedeutungen, die ihr in dem Gesamtleben des Menschen beigelegt zu werden pflegen, doch nur Folgen eines mangelhaften oder falschen Verständnisses anerkennen muß, so scheint es unumgänglich, daß man nunmehr nach demjenigen allgemeinen Wert suche, welchen die Kunst auf Grund des ungetrübten Verständnisses ihres innersten Wesens zu erlangen bestimmt sei. Handelt es sich um Kunst im höchsten Sinne, so kann an ihrem Dasein keiner von den Bestandteilen des geistigen, sittlichen, ästhetischen Lebens, an die man den Fortschritt, die Veredelung, die Vervollkommnung der menschlichen Natur gebunden erachtet, irgendein Interesse haben. Erst wenn wir zu dieser Unbefangenheit der Kunst gegenüber gelangt sind, können wir ihr etwas verdanken, was freilich etwas ganz anderes ist, als die Förderung unserer wissenden, wollenden, ästhetisch empfindenden Natur: nämlich die Klarheit des Wirklichkeitsbewußtseins, in der nichts anderes mehr lebt als die an keine Zeit gebundene, keinem Zusammenhange des Geschehens unterworfene Gewißheit des anschaulichen, sichtbaren Seins. Jede echte Kunstübung wird, welchem Inhalt sie auch zugute kommen mag, immer nur dieses ihr eigene Ziel verfolgen. In den Vordergrund ist hier das Problem der reinen Gestaltung der Anschauung gerückt, und die Kunst wird dadurch zu einem Mittel, durch das sich uns eine bestimmte Wirklichkeitsschicht offenbart. Der Begriff erobert eine Seite der Welt, und diese Welt findet ihren Ausdruck im System der Wissenschaft. Manche werden wohl geneigt sein zu sagen: durch den Begriff entsteht erst diese Welt, eben die Welt der Wissenschaft, die nicht vor der Wissenschaft ist, sondern nur in ihr und

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durch sie. Ebenso entschleiert die Anschauung eine andere Seite der Welt, und diese Weltschicht prägt sich in den Gestaltungen der Kunst aus, oder – die oben angedeutete Ansicht weiterführend – die Kunst setzt erst dieses Sein, es lebt nur in ihr und durch sie. So kühn, neuartig und vielleicht befremdend diese Prinzipalauffassung Fiedlers berühren mag, so tritt sie doch keineswegs unvermittelt auf. Der Gedanke, daß die Kunst der »sinnlichen Erkenntnis« diene, begleitet die Kunst von ihren ersten Anfängen her 3; nur daß hier die Aufgabe des Schönen und die der Kunst nicht geschieden sind. Aber auch in dieser Richtung hat Fiedler Genossen. So lehrt Her mann Hettner 4, die Kunst sei überhaupt nicht dazu da, um Schönes hervorzubringen, oder gar die Natur in der Schönheit ihrer Erzeugnisse zu überbieten; sie hat überhaupt keinen hedonischen, sondern einen theoretischen Zweck; sie vermittelt nicht Genüsse, sondern Einsichten, indem sie ein Organ der Gedankendarstellung bildet, eine Art Sprache, und zwar im Gegensatz zur gewöhnlichen Sprache, die nur abstrakte Begriffe ausdrückt, die Sprache der sinnlichen Erkenntnis ist. Auf diese Weise gewinnen wir durch die Kunst »eine wesentliche und notwendige Ergänzung des wissenschaftlichen Denkens«.A Die Folgerichtigkeit der Systementwicklung verdankt aber Fiedler zweifellos der intensiven Beschäftigung mit Kants Schriften; ihrer Geisteshaltung sind seine Probleme entwachsen: was ermöglicht die Kunst, und worauf gründet sich ihr Eigenrecht? Wie sehr sich darum auch immer die Arbeiten Fiedlers von der »Ästhetik des reinen Gefühls« unterscheiden mögen, die Her mann Cohen 1912 veröffentlicht hat B, in ihren Wurzeln, in ihrem Quellgebiet sind sie durch die an Kant geschulte Forschungseinstellung verwandt. Warum aber gerade Fiedler dazu kam, die Synthese der älteren Lehre von der »sinnlichen Erkenntnis« mit Kantschen Prinzipalgedanken zu vollziehen und das Problem der Gestaltung für die Sichtbarkeit so schroff und so energisch in den Brennpunkt seiner Betrachtungen einzustellen, kann wohl nur aus seiner persönlichen Stellungnahme zur Kunst erklärt werden, die am besten durch die innige Freundschaft zu Hans von Marées erhellt, dessen Formung sich durchaus in den Bahnen bewegt, die Fiedler als die eigentlich künstlerischen ansieht Und noch deutlicher wird diese Tatsache, wenn wir uns daran erinnern, daß A. von Hildebrands berühmt gewordene Schrift vom »Problem der Form in der bildenden Kunst« C völlig diesem Gedankenkreise angehört. Und ebenso ist es kein Vgl. meine Schrift über »J.J. Wilhelm Heinse und die Ästhetik zur Zeit der deutschen Aufklärung«; Halle a.d. S. 1906. 4 Vgl. das aufschlußreiche Werk von Hugo Spitzer »Untersuchungen zur Theorie und Geschichte der Ästhetik«; I. Band: Hermann Hettners kunstphilosophische Anfänge und Literarästhetik; Graz 1913, S. 29, 125 f. usw. 3

Hermann Hettner: »Gegen die speculative Aesthetik« (1845). In: Kleine Schriften Kleine Schriften von Hermann Hettner. Nach dessen Tode herausgegeben. Braunschweig 1884, S. 164–208, hier S. 184. B Vgl. Hermann Cohen: Ästhetik des reinen Gefühls. 2 Bde. Berlin 1912 (= ders.: System der Philosophie.3,1 und 2). C Adolf von Hildebrand: Das Problem der Form in der bildenden Kunst. Straßburg 1893. A

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Zufall, daß Italien der Boden war, dem jene Lehre und diese Kunst entsprossen. Wenn wir uns in die Renaissance vertiefen und die Schriften jener Zeit lesen, so entsteht der Eindruck, daß A sich jene Männer nicht nur durch das Interesse für die eine oder andere neue Kunst oder Wissenschaft, sondern durch eine ganz elementare und formale psychische Einstellungsweise von der voraufgegangenen Epoche unterscheiden. Es ist ganz allgemein das wissenschaftliche Recht der »Anschauung«, welches von Lionardo gegenüber den ausschließlich begrifflichen und deduktiven Verfahrungsweisen betont wird. Die Malerei ist für Lionardo nur ein Zweig der auf das Anschauliche, insbesondere auf den Raum, gerichteten »Wissenschaft«, und ein kaum geringeres Interesse wie dieser »Wissenschaft« der Malerei bringt er anderen anschaulichen Disziplinen, der Anatomie, Physik, Ingenieurwissenschaft und dergleichen entgegen. Lionardos Buch über die Malerei ist ein Programm des anschaulichen Denkens und keineswegs allein durch den Reichtum an sinnespsychologischer Beobachtung erinnert es an ein modernes Werk von ähnlicher Grundtendenz, »die Analyse der Empfindungen« von E. Mach 5. Und ähnliches gilt nun von A. Dürer, dessen Versuch einer Versöhnung und Vermählung nordischer und südlicher Kunst überhaupt sehr an Hans von Marées gemahnt. Auf die recht interessante Frage, ob nun die hier angeführte Kunst wahrhaft »sinnlich« ist, oder ob die geforderte Gestaltung für die Sichtbarkeit nicht gerade den abstrakten Elementen gegenüber dem unmittelbar Erlebnismäßigen den Vorrang einräumt 6, können wir an dieser Stelle nicht eingehen, doch werden unsere Untersuchungen noch öfter auf diese Probleme zurückgreifen, und dies war auch jetzt bereits für uns bestimmend, sie ihrer Bedeutung gemäß ausführlicher darzulegen. Uns scheint, eine Kunst – die sich als einziges Ziel die Erfüllung der eben besprochenen Forderung stellt – in einen langweiligen und kalten Akademismus, ja in eine glatte Manier hineinzutreiben, und wenn dies bei den Meistern der Renaissance und bei Hans von Marées nicht der Fall ist, so liegen hier eben noch andere Gegebenheiten vor, während Hildebrand in manchen Arbeiten bedenklich sich dieser Grenze nähert. So wichtig uns auch immer die Probleme der »Gestaltung« und der »Anschauung« dünken, und so hoch wir ihre Erkenntnis einschätzen, drängt sich doch wohl der Zweifel auf, daß es sehr bedenklich ist, die ganze allgemeine Kunstwissenschaft allein auf diese eine Frage festzulegen. Vielleicht ist dabei nur ein einziger Kunsttypus ins Auge gefaßt, von dem aus dann die Gesamtheit der Kunst durchmessen wird. Denn mag auch alle Kunst mit der Gestaltung noch so eng zusammenhängen, und mögen auch künstlerische Kraft und künstlerisches Können aus der Gestaltung heraus begriffen werden, so ist doch zweifellos nicht E[rich] R[udolf] Jaensch, Über die Wahrnehmung des Raumes; Leipzig 1911. [=] VI. Ergänzungsband der Zeitschr[ift] f[ür] Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane S. 171; vgl. auch S. 159 ff. 6 Für die rein gräko-italischen Kunstäußerungen behauptet dies G[ustav] v[on] Allesch und stützt seine Ansicht mit guten Gründen; »Die Renaissance in Italien«; Weimar 1912, S. 10, 22 usw. 5

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Kunstgenuß – allgemein gesprochen – lediglich Einsicht in den Gestaltungsprozeß der Sichtbarkeit, und ebenso können das Schaffen des Künstlers, die Frage nach dem Ursprung der Kunst oder nach ihrer Stellung im Haushalt des Lebens, sowie der Stilwandel unter diesem Gesichtspunkt allein nicht in ihrer Gesamtheit verstanden werden 7. All die ästhetischen Werte, welche die Kunst offenbart, scheiden hier völlig aus der Betrachtung aus, nicht minder aber all die ethischen, religiösen, intellektuellen, funktionellen usw. Faktoren, welche durch die Kunst vermittelt werden und für ihr Werden, Sein und für ihre Entwicklung von wesentlicher Bedeutung sind. Nur wenn wir das Kunstwerk als ein überaus kompliziertes Kulturprodukt auffassen, bedingt durch das Zusammentreffen verschiedenster Umstände, die in ihrem Wertertrag abgewogen werden müssen, und deren Notwendigkeit, Konstanz oder Variabilität genau zu bestimmen ist, nähern wir uns der Fülle und dem Reichtum der wahrhaft vorliegenden Verhältnisse. Erst dann können wir das Material nach allen Seiten hin durchleuchten und bewältigen, und erst dann erstrahlt uns seine echte Gesetzlichkeit. Beschränken wir uns auf das Problem der Gestaltung, dessen zentrale Stellung ich sicher nicht verkennen will, so fassen wir wieder nur eine Seite der Gesamttatsache der Kunst, so nehmen wir wieder nur einen Ausschnitt aus dem Ganzen. Aber vielleicht kann hier nun eingewendet werden: gerade dieser Ausschnitt lege die wahrhaft künstlerische Ader der Kunst bloß; die anderen mit der Kunst zusammenhängenden Fragen seien keine eigentlichen Kunstfragen, und in ihre Erforschung mögen sich Kulturphilosophie, Psychologie und andere Disziplinen mehr teilen. Auch der Physiker beschäftigt sich nur mit den physikalischen Problemen der Farben. Das ist keine Unterschätzung der anderen Probleme; aber sie gehören ins Gebiet der Physiologie, Sinnespsychologie oder Ästhetik; und die Grenzen der Physik so weit spannen zu wollen, hieße, sie zersetzen und auflösen. Aber daß bei Behandlung dieser Fragen die verschiedenen Nachbarwissenschaften in engster Fühlung miteinander stehen, das wird wohl niemand leugnen wollen; nur die Forschungseinstellung ist in diesen Fällen eine verschiedene. Und damit kommen wir zu dem Kern des Streitpunktes. Der Einwand wäre stichhaltig, wenn in der Tat es sich in der allgemeinen Kunstwissenschaft – wie wir sie fordern – um wesentlich verschiedene Forschungsdimensionen handeln würde, etwa hier um werttheoretische, dort um psychologische, dann wieder um kulturphilosophische oder historische. Wenn so die Ziele auseinandergingen, müßte allerdings die Wissenschaft innerlich zerfallen, die gänzlich Heterogenes vereinen wollte: es stünden nebeneinander ein Stück Werttheorie, Psychologie, Geschichte usw. Es wäre überhaupt nicht eine Wissenschaft, sondern nur ein Name für ein Stoffgebiet, das von völlig verschiedenen Disziplinen aus bearbeitet werden muß. Ähnlich sprechen wir von einer Sexualwissenschaft, wobei wir aber nicht an einen einheitlichen Wissenszweig denken, sondern nur an die Teile der Anatomie, Physiologie, Psychologie, Ethik, Kulturgeschichte usw., die das Sexuelle zum Gegenstande haben. Nun 7 Ähnliche Bedenken äußern Richard Müller-Freienfels, Johannes Volkelt und Hans Tietze.

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betrachten wir aber keineswegs die allgemeine Kunstwissenschaft lediglich als ein Sammelbecken, als eine Summe von Ergebnissen, die von verschiedenster Seite her erarbeitet sind, sondern wir sind vielmehr der Ansicht, daß hier eine einheitliche Forschungseinstellung vorliegt, daß ihre Probleme nur als kunstwissenschaftliche Probleme zu lösen sind und sich dem durchgehenden Zuge ihres Systems einreihen. Sicherlich bedarf die Kunstwissenschaft zu ihrem Ausbau der weitgehendsten Hilfe seitens der Werttheorie, Kulturphilosophie, Psychologie, Phänomenologie und Geschichte und vor allem auch der Ästhetik, aber sie löst sich nicht in diese Disziplinen auf, sondern rückt alles unter ihren Gesichtspunkt: eben den der Kunst. Ihre Ziele sind niemals etwa psychologische oder historische, sondern immer nur kunstwissenschaftliche. Einen ganz ähnlichen Fall zeigt ja die Pädagogik. Wie Er nst Meumann 8 sehr richtig sagt, ist die Pädagogik »weder angewandte Psychologie, noch angewandte Ethik, Logik oder dergleichen; sie ist unzweifelhaft eine selbständige Wissenschaft; die Wissenschaft von den Erziehungstatsachen. Mag sie noch so viel von den Resultaten der allgemeinen Psychologie, Pathologie . . . für ihre Zwecke gebrauchen, sie rückt doch alle diese Resultate unter einen neuen, nur von ihr angewandten Gesichtspunkt: den der Erziehung«. Wenn ich das Vorgehen Fiedlers und seiner Gesinnungsgenossen durch ein Beispiel verdeutlichen darf, so verweise ich auf jene, die als wesentlichstes Merkmal des Seelenlebens den Willen oder das Urteil erkannt zu haben glauben und nun die ganze Psychologie auf diese eine Frage abstecken. Vor uns steht aber die Gesamterscheinung der Kunst; und zur allgemeinen Kunstwissenschaft gehört der gesamte Problemenkreis, der aus der allgemeinen Tatsache der Kunst sich ergibt. Daraus erwachsen ihr Forschungsrichtung und Forschungsziel. So fern, ja so leidenschaftlich feindlich Fiedler allem Naturalismus gegenübersteht, den er mit vortrefflichen Beweisgründen bekämpft hat, in einer wichtigen Frage berührt er sich mit ihm. Das mag seltsam und unwahrscheinlich klingen, aber es scheint, daß auch die am schroffsten einander befehdenden Richtungen einer Zeit irgendwo sich kreuzen? wenn sie auch dann in ganz verschiedene Bahnen drängen. Zola will in seiner Schrift »Le roman expérimental« die Dichtung zu einer Form der Wissenschaft umprägen. »Le romancier expérimentateur n’est plus qu’un savant spécial qui emploie l’outil des autres savants, l’observation et l’analyse.« A Nun kann man ja sicher untersuchen, wieviel Sinn für das Wirkliche, wieviel an Beobachtung und Analyse in früheren Kunstwerken niedergelegt ist; aber sicherlich würde man damit ihr Wesen so wenig erschöpfen, wie man Zola gerecht würde, wenn man ihn lediglich an den Maßstäben seiner Theorie mäße. Aber von diesem wissenschaftlich-intellektuellen Zug, der die ganzen Kunstanschauungen Zolas durchsetzt und recht einseitig auf das Inhaltliche gewandt ist, 8 Er nst Meumann, Vorlesungen zur Einführung in die experimentelle Pädagogik und ihre psychologischen Grundlagen; [Bd.] I. Zweite Aufl. [Leipzig] 1911, S. VI und 58 [recte: S. VIIIf.].

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Émile Zola: Le Roman expérimental (1880). Paris 1902, S. 48.

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von dem ist auch – wie A wir bereits wissen – Fiedler erfüllt, nur daß er bei ihm die Richtung auf das Formale angenommen hat. Aber beide rücken irgendwie die Kunst in die Wissenschaft herein. Zweifellos hat dabei Fiedler weit tiefer gesehen, wie derjenige immer weiter in die Rätsel der Kunst eindringt, der sie von der Seite der Darstellung her faßt, als jener, der im Stofflichen stecken bleibt. Aber indem beiden die Kunst als eine Sonderart der Wissenschaft erscheint, durch die der Mensch ein ganz bestimmtes Maß von Einsichten erobert, muß sie auch in der Weise geprüft werden, mit der wir uns von dem Wahrheitsgehalt von Einsichten überzeugen. Damit bleibt aber alles außerhalb der Kunst, was letzten Sinnes ihr Eigenrecht begründet: die Tendenz auf das Gefühl hin. Wir wollen hier nun nicht einerseits erst folgenden Untersuchungen vorgreifen, anderseits glauben wir – ohne an dieser Stelle uns weiter mit Fiedler auseinandersetzen zu können – doch so viel erreicht zu haben, daß nunmehr die Gründe klarliegen, warum wir eine allgemeine Kunstwissenschaft nicht auf dem Boden aufzubauen vermögen, den Fiedler vorbereitet hat. Schwankend erscheint uns der Grund und viel zu eng; aber der in ihm lagernden Schätze soll nicht vergessen werden. In anderem Zusammenhang werden wir ihrer mit gebührendem Danke gedenken. § 3. Von einer ganz anderen Seite als Fiedler ist Max Dessoir 9 zur Aufstellung einer allgemeinen Kunstwissen schaft gekommen. Dabei unterläßt er nicht den Hinweis, daß Hugo Spitzer 10 bereits 1903 wichtige Gründe für eine Kunstwissenschaft erbracht hat, die nicht mit der Ästhetik zusammenfällt. So meint er, daß man bei der bloßen Unterwerfung des Künstlerischen unter das Ästhetische »denjenigen Poeten, welchen heute allgemein der erste Rang, und zwar gerade deshalb eingeräumt wird, weil sie uns nicht bloß einen müßigen Genuß verschaffen, sondern zugleich geistige und sittliche Erzieher des Volkes sind, das Prädikat des wahren Künstlers verweigern müßte, und das Schicksal dieser Dichter teilten unausbleiblich alle die Kompositionen, deren Melodien und Rhythmen den Mut des Kriegers im Felde befeuern oder die Seele des Andächtigen zu . . . religiösem Enthusiasmus empor-

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9 Max Dessoir, Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft; Stuttgart 1906. [Auszugsweise in dieser Ausgabe S. 3 –25.] Vgl. auch seinen auf dem Kongreß für Ästhetik und allgemeine Kunst wissenschaft gehaltenen Eröffnungsvortrag. Berlin 1913; abgedruckt in »Akademische 14 Rundschau«; II, 1 [(1913/14), S. 15–32] und [u.d.T. »Systematik und Geschichte der Künste«] Zeitschr[ift] f[ür] Äst[h]etik und allgem[eine] Kunstwissensch[aft] IX [(1914)], 1 ff. [= S. 1–15], sowie im Kongreßbericht [= »Eröffnungsrede« [zum ersten Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft]. In: Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Berlin, 7.–9. Oktober 1913. Bericht. Hrsg. vom Ortsausschuss. Stuttgart 1914, S. 42–54; in dieser Ausgabe S. 28 –40]. 10 Hugo Spitzer a. a. O. [siehe Fn. 4.]

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heben. Die Kunst der Alten, die herrliche antike Plastik, deren Werke man bisher stets als unerreichtes Muster gepriesen hat, müßte wegen der innigen Verbindung mit religiösen oder politischen Motiven vielleicht in ihrer Gesamtheit aus dem Buche des rein und vollkommen Künstlerischen: gestrichen werden«.A Sicherlich erweist Spitzer durch diese und ähnliche Ausführungen, daß zum Wesen der Kunst wichtige Wirkungen gehören, die außerhalb des Ästhetischen stehen und daher von der Ästhetik aus nicht erfaßt werden können. Nicht einverstanden bin ich aber, wenn die Bezeichnung »müßiger Genuß« etwa den ästhetischen Genuß treffen soll; denn nicht darum kann es sich handeln, das Ästhetische irgendwie herabzusetzen, sondern zu zeigen, daß ästhetische Werte weit über das Reich der Kunst hinausgehen, und daß der Wert der Kunst sich nicht im Ästhetischen erschöpft. Noch einen Einwand läßt Spitzer eigentlich unberücksichtigt: vielleicht können alle jene Werke ästhetisch aufgenommen werden, und sind darum Kunstwerke? und ihr anderer Wertertrag mag eine willkommene Zugabe sein, ohne den Kunstcharakter zu begründen. Allerdings scheint hier die Antwort nicht schwer: wenn es sich um so einschneidend bedeutungsvolle »Zugaben« handelt, so dürfen sie zweifellos nicht vernachlässigt werden; und außerdem sind doch diese »Zugaben« von den Werken beabsichtigte, geforderte Gaben. Und darauf ruht der Nachdruck: jene Wirkungen gehören zum Wesen dieser Werke, und ihre Gestaltungsprobleme sind mit auf sie eingestellt. Dieser Gedanke an die Darstellung schwebt wohl auch Spitzer vor, wenn er das »Prinzip der Schwierigkeitsüberwindung« B für eines der wichtigsten und fundamentalsten Prinzipien der Kunstwissenschaft erklärt. Ich will dieses Prinzip – dem auch Dessoir als Unterscheidungsmerkmal gegen das bloß Ästhetische Wert zuschreibt – sicherlich nicht unterschätzen, aber es hat die üble Folge, daß es die Kunst ins Virtuosistische hineinhetzt; und deshalb empfiehlt es sich wohl lieber von Problemen der Gestaltung zu sprechen 11. Aber völlig stimme ich Spitzer bei, wenn er zusammenfassend ausführt, »daß sich die Bezirke der Kunst und der Schönheit in keiner Weise decken. Die Kunst ist weder die einzige Erzeugerin ästhetischer Werte, noch ist sie bloß dies und gar nichts anderes«.C Waren demnach die Gedanken so vorbereitet, das Problem dermaßen aufgerollt, erwarb sich Dessoir den Ruhm, die ganzen Konsequenzen aus diesen Tatsachen gezogen zu haben. Er geht davon aus, daß unsere bewundernde und liebende Hingabe an Naturerscheinungen alle Merkmale des ästhetischen Verhaltens an sich trägt und dennoch von der Kunst nicht berührt zu sein braucht. Ja noch mehr! Auf allen geistigen und sozialen Gebieten lebt sich ein Teil der schaffenden Kraft in ästhetischer Formung aus; diese Erzeugnisse, die keine Kunstwerke sind, werden Wir werden im Laufe dieser Arbeit noch sehr ausführlich uns mit diesen Fragen auseinanderzusetzen haben. 11

Hugo Spitzer: Hermann Hettners kunstphilosophische Anfänge und Literarästhetik. Untersuchungen zur Theorie und Geschichte der Ästhetik. Bd. 1. Graz 1903, S. 179 f. B Ebd., S. 236 und S. 434. C Ebd., S. 450. A

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ästhetisch genossen. »Da ungezählte Tatsachen täglicher Erfahrung uns vor Augen stellen, daß der Geschmack unabhängig von der Kunst sich entwickeln und auswirken kann, so müssen wir der Sphäre des ästhetischen Seins einen weiteren Umfang zuerkennen als der Sphäre der Kunst. Damit ist nicht behauptet, daß der Kreis der Kunst ein enger Ausschnitt sei. Im Gegenteil: das ästhetische Moment erschöpft nicht den Inhalt und Zweck jenes Gebietes menschlicher Produktion, das wir zusammenfassend »die Kunst« nennen. Jedes wahrhafte Kunstwerk ist nach Motiven und Wirkungen außerordentlich zusammengesetzt, es entspringt nicht bloß aus ästhetischer Spielseligkeit und drängt nicht nur auf ästhetische Lust, geschweige denn auf reinen Schönheitsertrag. Die Bedürfnisse und Kräfte, in denen die Kunst ihr Dasein hat, sind keineswegs mit dem ruhigen Wohlgefallen erschöpft, das nach der Überlieferung den ästhetischen Eindruck sowie den ästhetischen Gegenstand kennzeichnet. In Wahrheit haben die Künste im geistigen und gesellschaftlichen Leben eine Funktion, durch die sie mit unserem gesamten Wissen und Wollen verbunden sind. Es ist daher die Pflicht einer allgemeinen Kunstwissenschaft, der großen Tatsache der Kunst in allen ihren Bezügen gerecht zu werden. Die Ästhetik vermag diese Aufgabe nicht zu lösen, wenn anders sie einen bestimmten, in sich geschlossenen und deutlich abgrenzbaren Inhalt besitzen soll. Wir dürfen nicht mehr die Unterschiede der beiden Disziplinen wegtäuschen, sondern müssen sie durch immer feinere Differenzierung so scharf herausheben, daß die wirklich vorhandenen Zusammenhänge sichtbar werden. Die rein theoretische Beschäftigung mit Formen und Gesetzen jeder Kunst kann, wie die Erfahrung zeigt, in gründlicher und förderlicher Weise vollzogen werden, obgleich die geschichtliche Entwicklung nicht näher untersucht wird. So entstehen die besonderen systematischen Wissenschaften, die man Poetik, Musiktheorie und Kunstwissenschaft zu nennen pflegt. Ihre Voraussetzungen, Methoden und Ziele erkenntnistheoretisch zu prüfen sowie ihre bedeutsamsten Ergebnisse zusammenzufassen und zu vergleichen, scheint mir die Aufgabe einer allgemeinen Kunstwissenschaft zu sein: daneben besitzt diese in den Problemen, die das künstlerische Schaffen und der Ursprung der Kunst, die Einteilung und die Funktion der Künste dem Nachdenken stellen, Gebiete, die sonst keine Stätte finden könnten.« A In meisterhafter Weise sind hier Wesen und Aufgabe der allgemeinen Kunstwissenschaft entwickelt; und in der Grundanschauung pflichte ich Dessoir völlig bei. Aber welcher Weg führt nun zu all den von Dessoir aufgeworfenen Fragen? Woher empfängt dieses Gebiet seine Einheit und die ihm angemessene Durchforschung? Mir scheint der gebotene Ausgangspunkt eine Wesensuntersuchung der Kunst 12. Wir können nicht die Gesamttatsache der Kunst in allen ihren Bezügen durchleuchten, wenn Vgl. meinen schon erwähnten Kongreßvortrag [siehe Fn. 1]. Auch Dessoir nähert sich – wenn ich ihn richtig verstanden habe – in der Eröffnungsrede des gleichen Kongresses [siehe Fn. 9] diesem Standpunkt. 12

A Max Dessoir: Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. Stuttgart 1906, S. 4–6. (In dieser Ausgabe S. 6 –8.)

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nicht zuerst feststeht, was Kunst ist. Erst aus der Erkenntnis ihrer Eigenart führen die Wege weiter; hier sind letzten Endes alle ihre Probleme verankert: sie muß den unverrückbaren Mittelpunkt bilden und zugleich den Hintergrund, vor dem alle Untersuchungen sich abspielen. Denn sonst tappen wir vielleicht in falscher Richtung, trennen Zusammengehöriges, verbinden Fremdes. Und ist das Wesen der Kunst erkannt, tritt »das Kunstwerk« in die vorderste Reihe. Besteht die Ansicht zu Recht, daß das Kunstwerk ein zusammengesetztes Produkt ist, dann erhebt sich die Frage: Wie ist seine Gegebenheit und welche Verhaltungsweise entspricht ihr? Wie muß es erlebt werden, daß es als Kunstwerk erlebt wird, und zwar so, daß in diesem Erleben alle Wirkungsmotive auch ihre Erfüllung finden? Diese Frage nach dem echten Kunstgenuß und nach seinem Objekt scheint mir eine Grundfrage der allgemeinen Kunstwissenschaft; und auch ihr entquillt eine reiche Fülle bedeutungsvoller Probleme. Sicherlich können einerseits Poetik, Musikwissenschaft usw., und anderseits die Fragen nach dem Schaffen des Künstlers oder nach dem Ursprung der Kunst bis zu gewissen Graden gefördert werden, ohne daß jene Prinzipalprobleme geklärt sind. Aber wo diese Fragen in die Tiefen tauchen, wo sie Verbindungen zu einander suchen, wo sie über das Tatsächliche hinaus zu Erklärungen und Hypothesen vordringen, bekommen sie etwas Schillerndes und Fließendes. Es fehlen Halt und Rückgrat 13. Und ich weiß mich hier keineswegs im Gegensatz zu Dessoir, sondern in voller Übereinstimmung mit ihm. Aber wie nun auch immer die endgültige Grundlegung einer allgemeinen Kunstwissenschaft sich gestalten mag, ihre Väter – in der Wissenschaft ist es keine Schande, mehr als einen Vater zu haben – sind Konrad Fiedler, Hugo Spitzer und Max Dessoir 14.

Daß in der Psychologie, wo es sich um ihre Grundfragen handelt, die gleichen Zustände herrschen und damit die gleichen Störungen, hat Jonas Cohn sehr eindringlich gezeigt [in »Grundfragen der Psychologie«] im ersten Bande der Jahrbücher der Philosophie; Berlin 1913, S. 200–235. 14 Joh[annes] Volkelt (System der Ästhetik [Bd.] III, [München] 1914, S. 7) wendet sich gegen Dessoir, indem er ausführt, die Ästhetik werde nicht davon absehen, die Kunst zu behandeln, »weil sie vorzugsweise nur das rein Künstlerische an der Kunst ins Auge faßt«. Es bleibt der Ästhetik völlig unverwehrt, »auch die sittliche, religiöse, soziale Bedeutung der Kunst in reichlichem Maße mit zu erörtern«. »So kann in der Ästhetik die Kunst allseitig betrachtet werden, wenn freilich auch dabei die rein künstlerischen Seiten an der Kunst die Hauptsache bilden werden. Eine Ergänzung erwartet die Ästhetik in dieser Hinsicht besonders von der Ethik, Religionsphilosophie, Soziologie und der Philosophie der Geschichte. Solche Ergänzungen der einen Wissenschaft durch andere kommen allenthalben vor.« Gewiß, aber das Eigentümliche ist, daß die Ästhetik jene »Ergänzungen« nicht in gerader Linie ihrer Betrachtungsrichtung vorzunehmen vermag, sondern daß sie ihr äußerlich und unorganisch angeflickt werden müssen, ja von ihr aus gesehen als Trübungen und Verletzungen erscheinen. Ferner steht es gar nicht fest, daß das »rein Künstlerische an der Kunst« eben das Ästhetische sei; die Frage nach dem rein Künstlerischen erzeugt die allgemeine Kunstwissenschaft. Und sie konnte nur übersehen werden gerade durch Verschleierung dieses Grundproblems. 13

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§ 4. Ausführlich hat sich mit dem Problem einer allgemeinen Kunstwissenschaft Richard Hamann 15 auseinandergesetzt; und gegen die Darlegungen Hamanns ist Er ich Ever th 16 in einer sehr eingehenden Besprechung aufgetreten. Da nun dieser Kampf der Meinungen wichtige Fragen von zwei Seiten her beleuchtet und eine gewisse prinzipielle Bedeutung beanspruchen darf, wollen wir hier kurz die Streitfragen aufrollen, teils um uns an ihnen zu belehren, teils um selbst kämpfend einzugreifen. Hamann geht von der sehr richtigen Anschauung aus, es sei eine Lebensfrage der Ästhetik, »das Wesen des Ästhetischen vom Wesen der Kunst zu trennen, und erst, wenn das Wesen des ästhetischen Verhaltens in seiner Selbständigkeit erkannt ist, zu begreifen, welche besonders engen Beziehungen zwischen Ästhetik und Kunst bestehen, ohne daß das Wesen der einen in dem der anderen aufginge«.A Denn daß es tatsächlich sich nicht so verhält, lehrt nicht nur die ästhetische Freude an der Natur, sondern auch die Einsicht in das Wesen der illustrativen Kunst. Illustrative Kunst ist entweder Kultus oder Demonstration, je nachdem sie dem ethischen oder dem theoretischen Bedürfnis des Menschen entgegenkommt. Gegenüber dieser Kunst versagt nun der ästhetische Gesichtspunkt in dreifacher Beziehung: »einmal indem das ästhetische Bedürfnis in vielen Fällen von solchen Kunstwerken nicht befriedigt wird und dennoch diese Kunstwerke ihren Zweck an ihrem Platze voll erfüllen, indem ferner eine Behandlung der Kunstwerke nach ästhetischen Gesichtspunkten von Seiten des Künstlers wie des Betrachters deplaciert sein kann und das Wesentliche, die illustrative Bedeutung, vernichtet, und indem schließlich in einer ästhetischen Betrachtung und Interpretation, wo sie möglich ist wie in vielen Fällen, die modifizierte Bedeutung dieser ästhetischen Momente für das Wesentliche dieser Kunst verkannt bleibt«.B Was rechtfertigt nun der illustrativen Kunst den Namen »Kunst« beizulegen? Vor allem die sinnliche Lebhaftigkeit und die Anschaulichkeit der Darstellung. Nun behauptet aber wieder Hamann, daß Anschaulichkeit nicht unbedingt not wendig weder für das Künstlerische noch für das Ästhetische sei; so wimmeln ja auch hervorragende Dichtungen von unanschaulichen Stellen. Hier ist nun aber ein schwacher Punkt in der sonst starken Stellung Hamanns: denn wenn der Kunstcharakter der illustrativen Richard Hamann, Ästhetik; Leipzig 1911. [Auszugsweise in dieser Ausgabe S. 269 –296.] Vgl. auch seinen Vortrag auf dem bereits öfter genannten Kongreß [= »Allgemeine Kunstwissenschaft und Ästhetik«. In: Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Berlin, 7.–9. Oktober 1913. Bericht. Hrsg. vom Ortsausschuss. Stuttgart 1914, S. 107–115] [in dieser Ausgabe S. 319 –325] sowie seine Abhandlung [»Zum Kongreß für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft«] im Märzheft 1914 d[er] internat[ionalen] Monatsschrift [für Wissenschaft, Kunst und Technik. 8/6 (1914), Sp. 715–732] [in dieser Ausgabe S. 326 –333]. 16 Er ich Ever th, Besprechung von Hamanns Ästhetik in der Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft VIII, 1 [(1913), S. 100–117]. [In dieser Ausgabe S. 297 –318.] 15

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Richard Hamann: Ästhetik. Leipzig 1911, S. 1. (In dieser Ausgabe S. 272.) Ebd., S. 3 f. (In dieser Ausgabe S. 274.)

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Kunst durch sinnliche Lebhaftigkeit und Anschaulichkeit begründet wird, aber einerseits diese Eigenschaften nicht notwendige Wesensmerkmale der Kunst sind, und anderseits sinnlich Lebhaftes und Anschauliches auch zweifellos außerhalb der Kunst vorkommen, so ist eben mit dieser Beweisführung wenig geholfen, und es zeigt sich uns wieder, daß erst eine Begriffsklärung vollzogen werden muß, was eigentlich Kunst sei, wenn die allgemeine Kunstwissenschaft einen festen Boden gewinnen soll. Die Angreifbarkeit dieser Position ist naturgemäß Er ich Ever th nicht entgangen; nur deutet er sie in einem ganz anderen Sinne. Für ihn ist die illustrative Kunst nur soweit Kunst, als sie ästhetisch ist. Er bestreitet keineswegs, daß dieser Kunst auch etwas Außerästhetisches anhaftet, aber dieses Außerästhetische soll zugleich das Außerkünstlerische sein. Auch er hält es für gewiß, daß der ästhetische Gesichtspunkt nicht der einzige ist, der die Kunst erschöpfend erfaßt, »es muß eben zum Unterschiede von der Natur das freie Schaffen des Künstlers dazu genommen werden, und das muß in der Kunstwirkung ununterbrochen als Hintergrund im Unterbewußtsein des Aufnehmenden da sein; der enge Zusammenhang aber zwischen dem Ästhetischen und der Kunst zeigt sich auch gerade darin, daß, wenn man für dieses freie Schaffen des Künstlers keinen Sinn hat, also wenn man überall nicht ein Bild, sondern Abbild, Nachbildung, Bildnis und Illustration sieht, was manche Betrachter ja überall fertig bekommen, daß man dann auch unästhetisch sieht. Und umgekehrt: wenn man in diesem Sinne sich unästhetisch verhält, d. h. gedanklich über das Gegebene hinausgeht, in beliebige Phantasien abschweift, so sieht man auch unkünstlerisch. Und endlich; wenn man auch alles sinnlich Wahrnehmbare in der Welt ästhetisch ansehen kann, selbst etwas Außerkünstlerisches von Menschenhand . . . und wenn man auch anderseits alles unästhetisch ansehen kann, selbst etwas Künstlerisches, so fallen darum beide Begriffe doch noch nicht auseinander! Es gibt Grade der Ausbildung des Individuums, die das ästhetische Verhalten immer leichter und häufiger eintreten lassen, und dazu wird man namentlich mit Hilfe der Kunst erzogen; und es gibt durchschnittlich der Kunst gegenüber auch beim ganz Unerzogenen mehr ästhetisches Verhalten als gegenüber dem praktischen Leben oder selbst der landschaftlichen Natur. Auch beim Höchsterzogenen aber werden die ästhetischen Erlebnisse, die er haben kann, ganz überwiegend an die Gegebenheiten gebunden sein, die die Kunst gibt«.A Dieser anscheinend so siegreich durchschlagende Gedankengang leidet bei näherer Durchsicht an einem schweren Gebrechen: denn Everth nimmt als selbstverständlich an, daß jedes über das Ästhetische hinausgehende Verhalten der Kunst gegenüber zu einem Hineinschweifen ins Gedankliche über das Gegebene heraus und zu beliebigen Phantasien führt. Tritt dieser Fall ein, so wird ihn jeder auch als einen außerkünstlerischen bezeichnen müssen; aber damit ist ja die ganze Fragestellung verschoben: nicht darum handelt es sich, wie man sich irgendwie der Kunst gegenüber tatsächlich A Erich Everth: »Richard Hamann: Ästhetik« [Rez.]. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 8 (1913), S. 100–117, hier S. 102. (In dieser Ausgabe S. 299 f.)

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verhalten kann, sondern wie man sich verhalten muß, um ein dem Kunstwerke völlig angemessenes Erleben zu erfüllen; oder anders ausgedrückt: gehören zum Wesen des Kunstwerkes auch außerästhetische Wirkungen, die ebenso gefordert sind wie seine ästhetischen? Wenn nun weiterhin Everth zu zeigen versucht, daß gerade die ergiebigsten ästhetischen Erlebnisse an die Kunst gebunden sind, so wird doch niemand in Abrede stellen wollen, daß die Kunst starke und stärkste ästhetische Werte vermittelt. Könnte aber nicht jemand auch behaupten, er verdanke seine tiefste und beste Lebensweisheit der Kunst? Gewiß darf man einwenden, er könnte sie auch dem Leben selbst entnehmen, aber gilt dann nicht mit gleichem Recht die Antwort, er könne ja auch seiner ästhetischen Verzückungen angesichts der Natur und des Lebens teilhaftig werden 17? Und ist nun alle Kunst in erster Linie oder überhaupt lediglich »ästhetisch«, oder gilt dies nur von einem bestimmten Kunsttypus, dem andere, nicht minder berechtigte zur Seite treten? Hier hängt wieder alles von einer gründlichen und exakten Wesensuntersuchung der Kunst ab; ohne diese Grundlage legt man ihr bald einen weiteren und bald einen engeren Sinn unter und kann alles und auch nichts beweisen. Im übrigen sieht sich selbst Ever th im weiteren Verlauf seiner Darlegungen zu sehr wichtigen Zugeständnissen veranlaßt: gegen Hamann – bewußt Fiedler folgend – verlegt Everth den Hauptakzent auf die Anschaulichkeit, die Sichtbarkeit. »Es gibt . . . ganz elementare, völlig unmittelbare sinnliche Erlebnisse, die doch schon alles, was für das Ästhetische wesentlich ist, enthalten; also etwa der Anblick einer einzigen schönen Farbe.« A Wir finden Erlebnisse, »da liegt, möchte man sagen, die ganze Seele im Auge, da ist man im höchsten Grade gesammelt, schier gegen alles Wissen und alle Lebensbeziehungen abgeschlossen, wenn auch natürlich um den Preis, daß große Bewußtseinsschichten schweigen und schlafen. Gewiß sind diese Momente nicht allzu häufig, und spielt das gewöhnliche Kunsterlebnis nicht derart gleichsam auf einer einzigen Seite. Dennoch erscheinen mir solche Erlebnisse als Urphänomene des ästhetischen Erlebens, Prototype ästhetischer Elementarvorgänge in ›Reinkultur‹, und in ›Reinkultur‹ ästhetisch können meiner Ansicht nach überhaupt nur einzelne Elementarvorgänge sein«.B Wenn also rein ästhetisch nur gewisse Elementarvorgänge sind, und der gewöhnliche Kunstgenuß nicht nur nach einer einzigen Seite hin sich bewegt, so scheint folgerichtig das Kunstverhalten nicht lediglich ästhetisch. Und Everth ist trotz schroffster Ablehnung dieses Problems doch endlich bei ihm gelandet. In gewisser Weise ähnlich ergeht es einem anderen prinzipiellen Gegner jeder systematischen Kunstwissenschaft, näm lich Hans Tietze, der in seinem umfassenden und sehr sorgfältig gearbeiteten Werke über die »Methode der Kunstgeschich17 Im übrigen werden wir noch Gelegenheit finden, ausführlich über den Unterschied von Naturgenuß und Kunstgenuß zu handeln.

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Ebd., S. 110. (In dieser Ausgabe S. 310.) Ebd., S. 111. (In dieser Ausgabe S. 311.)

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te« 18 mit erfreulicher Deutlichkeit auf die dringende Notwendigkeit einer ernsten methodischen Besinnung hinweist. Ihm zufolge behandelt die Kunstgeschichte ein »Material, das nicht – wie das der Geschichte sonst – nur im Spiegel der Quellen weiterlebt, sondern dessen anschauliche Fortexistenz dem Nacheinander des geschichtlichen Werdens das Nebeneinander der ästhetischen Erfassung unbedingt zugesellt. Erst dadurch, daß wir das Wesen des Künstlerischen zu isolieren und zu erfassen vermögen, werden wir unseres besonderen Stoffes wirklich habhaft, der sonst immer in die Allgemeinheit der Kulturgeschichte zurückzusinken droht. In der Erkenntnis, daß die ästhetische Differenzierungsmöglichkeit des Stoffes die Voraussetzung der Kunstgeschichte ist, scheint mir die Behebung der zehrendsten Zweifel angebahnt zu sein; nicht aus einer Kreuzung von Geschichte und Ästhetik ist eine neue »Kunstwissenschaft« zu bilden, sondern der historische Grundcharakter der Kunstgeschichte ist bei voller Anerkennung und Einbeziehung der Ästhetik zu wahren«.A Das Wesentliche ist, »daß die beiden Wissenschaften, die im Kunstgeschehen das Gesetzmäßige oder das Einmalige aufzuspüren versuchen, in Aufgabe und Arbeitsweise so durchaus verschieden sind, daß eine Kreuzung zwischen ihnen, wie sie die Kunstwissenschaft anzustreben scheint, widernatürlich und widersinnig ist«.B Ich teile völlig Tietzes Meinung, daß ein Bastard aus Ästhetik und Kunstgeschichte kein lebensfähiges Kind abgibt; aber in diesem Sinne fassen wir ja auch gar nicht das Problem einer allgemeinen Kunstwissenschaft: sie erscheint uns als Wissenschaft von der Gesetzmäßigkeit der Kunst; und ihr gebühren die Aufgaben, mit denen Tietze zu Unrecht die Ästhetik belasten will, zu Unrecht, denn diese vermag nicht das »Wesen des Künstleri schen« C in seiner Reinheit zu erfassen, sondern eben nur das Wesen des Ästhetischen; und ebenso übersteigt es ihre Grenzen, die »Differenzierungsmöglichkeiten« des Kunststoffes in ihrer Fülle zu entwickeln, weil es a priori gar nicht feststeht, daß diese alle ästhetischer und nur ästhetischer Art sein müssen. Ihr bietet sich ja überhaupt nicht die Gesamttatsache der Kunst als Gegenstand dar; und gerade Tietze hat in sehr beherzigenswerten Untersuchungen dargetan, wieviel Außerästhetisches notwendig in die Kunst eingeht und eingehen muß. Uns trennt daher – soviel ich sehe – kein sachlicher Gegensatz: die Kunstwissenschaft, die Tietze bekämpft, scheint mir nicht minder verwerflich als ihm; und die allgemeine Kunstwissenschaft, die wir meinen, müßte ihm doch willkommener sein, als eine Ästhetik, die ihrer Grundanlage nach in folgerichtigem Forschungsgang immer nur das Ästhetische trifft, nicht aber die Kunst als Kunst in der ganzen Eigenart ihrer Seinsweise und der Besonderheit der sie durchwaltenden Gesetze. Seine Besorgnis, eine Kunstwissenschaft könnte die Kunstgeschichte gleichsam nur zu niederen Dienstleistungen herabdrücken wollen Hans Tietze, Die Methode der Kunstgeschichte; Leipzig 1913. Für das Folgende kommen besonders die Ausführungen auf S. VI, 6 ff., 9 f. und 67, 108, 233 in Betracht. 18

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Hans Tietze: Die Methode der Kunstgeschichte. Ein Versuch. Leipzig 1913, S. VI. Ebd., S. 7. Ebd., S. VI.

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und alle ihre vornehmeren und würdigeren Aufgaben für sich in Beschlag nehmen, ist ebenso unbegründet wie der Argwohn, eine allgemeine Kunstwissenschaft würde sich Herrenrechte im Hause der Kunstgeschichte anmaßen. Gerade sie wird die lebendige Beweglichkeit des Historischen niemals antasten wollen, noch auch seine Bedeutung verkennen 19: denn die Kunst als Ganzes ist ihr Gegenstand, und sie würde ihn vergewaltigen, wenn sie in dieser Weise eine seiner wichtigsten Besonderheiten übersehen wollte. Die Kunstgeschichte kann nur gewinnen und in keiner Hinsicht etwas verlieren, wenn sie an Stelle der rein ästhetischen Wesensund Wertgesetze – mit denen sie eingestandenermaßen wenig anzufangen vermag, und das ist kein öffentliches Geheimnis, sondern ein allgemeines Zugeständnis – auf wahre Kunstgesetze sich zu stützen ver möchte, die aus dem Lebensnerv der Kunst gewonnen sind. Der Kunstgeschichte soll weder ein Gebiet noch irgendein Problem geraubt werden; nur der Ästhetik werden Aufgaben entzogen, die sie bisher ohne zureichenden Rechtsgrund bearbeitet hat, ohne sie mit ihren Mitteln einer befriedigenden Lösung zuführen zu können. Es ist im Gegenteil zu hoffen, daß die Kunstgeschichte aus dem Ausbau einer allgemeinen Kunstwissenschaft reichen Nutzen ziehen wird, denn viele Probleme – die bisher aus dunklem Nebel nur dämmerten – dürften dann in voller Klarheit leuchten und weite Tatsachenkreise erhellen 20. [. . .]

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§ 6.

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Dieser krisenhafte Zustand hat auch zu der bekannten und oft beklagten feindseligen Haltung zwischen Ästhetik und Kunstwissenschaft geführt: die Vertreter der konkreten Kunstwissenschaften finden nicht in der Ästhetik das, was sie brauchen; auf alle ihre Fragen erhalten sie keine Antwort. Sie können auch ästhetische Gesetze nur schwer – wenn überhaupt – auf das lebendige Getriebe der Kunst anwenden, und gerade das, was sie am meisten fesselt, scheint aller Gesetzlichkeit zu spotten 21. Man hat häufig diesen Gegensatz zwischen Ästhetik und Kunstwissenschaft auf einen Gegensatz zweier Methoden zurückführen wollen. Die meist psychologisch vorgehende Ästhetik setze das subjektive Erlebnis an den Anfang, aber an seine Stelle müsse das objektive Kunstwerk treten, denn es sei die Eigenart der Kunstgebilde zu erforschen, und nicht die Weise, wie sie sich in den einzelnen Individuen

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19 Vgl. dazu die lichtvollen Darlegungen in dem bereits erwähnten Kongreßvortrag von Max Dessoir [siehe Fn. 9]. 20 Auf die »Philosophische Kunstwissenschaft« von Er ich Ber nheimer (Heidelberg 1913) an dieser Stelle einzugehen, liegt keine Veranlassung vor; vgl. dazu meine Besprechung in der Zeitschr[ift] f[ür] Ästhetik u[nd] allgem[eine] Kunstwissenschaft IX [(1914), S. 450–453]. 21 Vgl. zu diesem und dem Folgenden meine Abhandlung über »außerästhetische Faktoren im Kunstgenuß«; Zeitschr[ift] f[ür] Ästhetik u[und] allgem[eine] Kunstwissensch[aft] VIII, 4 [(1912), S. 619–651].

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widerspiegeln, und mögen sie noch so feinsinnig und verständnisvoll sein. Und ganz ähnliche Bedenken äußert die moderne Ethnologie; auch sie geht von der geringen Verwendbarkeit der heutigen Ästhetik aus und glaubt durch eine andere Methode diese Mängel beheben zu können; nämlich durch eine genetische, die mit den primitivsten Gegebenheiten beginnend in allmählicher Stufenleiter aufsteigend die Gesamtheit der Kunst umspannen soll. Nun sind ja diese von Kunstwissenschaft und Ethnologie so warm empfohlenen Methoden durch stichhaltige und zwingende Gründe von einer ganzen Reihe von Ästhetikern 22 widerlegt worden, und auch ich – der ich durchaus keiner Psychologisierung der Ästhetik die Stange halten will – erachte es für völlig unmöglich, an die Spitze der Ästhetik »das Kunstwerk« oder gar das sogenannte Kunsterzeugnis der Primitiven zu stellen. Wenn wir überhaupt nicht wissen, was ästhetisch ist, so dürfen wir doch nicht einfach aus den Kunstwerken – mögen dies nun welche auch immer sein – ästhetische Wesensmerkmale herausklauben wollen; denn nichts bürgt uns dafür, daß diese Merkmale auch wirklich ästhetisch sind. Aber damit ist nur die Unmöglichkeit erwiesen, auf diesen Grundlagen die Ästhetik aufzubauen. In keiner Weise sind aber hiermit die Bedenken entkräftet und entwertet, denn ganz unabhängig davon bleibt die Tatsache bestehen, daß die Ästhetik die Forderungen nicht erfüllt, die Kunstwissenschaft und Ethnologie erheben; und meiner Ansicht nach kann die Ästhetik diesen Forderungen nicht genügen; ihr Forschungskreis ist das Ästhetische und keineswegs die Gesamttatsache der Kunst mit der aus ihr entspringenden Gesetzlichkeit. Wo ein Streit zwischen Grenzwissenschaften herrscht, ist es doch nur selten der Fall, daß die eine völlig im Recht, die anderen gänzlich im Unrecht sind; sondern meistens liegt die Sache so, daß die Nachbarwissenschaften auf gewisse Probleme ge führt und gedrängt werden, welche bisher nicht genügend bemerkt und berücksichtigt worden sind. Wenn nun die Nachbarwissenschaften – ohne gründliche und tiefgehende Kenntnis der besonderen Methoden und des eigentümlichen Betriebes der von ihnen bekämpften Disziplin – ihre eigenen Lösungsversuche unterbreiten, weil sie doch irgendwelche Antwort auf ihre Fragestellungen benötigen, ist es gewöhnlich nicht schwer für die Fachvertreter des betreffenden Wissenszweiges die methodischen und sachlichen Mängel dieser scheinbaren Ergebnisse bloßzulegen; und das ist naturgemäß ihr gutes Recht; aber darüber hinaus erwächst ihnen nun die Pflicht nachzudenken, ob nicht hier wirkliche und bedeutungsvolle Probleme – wenn auch nur vielleicht ungeschickt und stammelnd, tastend und suchend – aufgeworfen sind, eingedenk des schönen Satzes von Poincaré, daß das Wachstum einer Wissenschaft sich in ihren Grenzgebieten vollzieht. Nun kann aber der Fall eintreten, daß eine Verselbständigung der »Grenzgebiete« als notwendig sich ergibt, daß ein neues Gebiet sich erschließt, das nur unter eigener Forschungseinstellung erobert zu werden vermag. Wenn die Ästhetik nicht der Gesamttatsache der Kunst beikommen kann, und wenn die einzelnen Kunstdisziplinen allgemeine Kunstprin22 So besonders von Johannes Volkelt im ersten Bande seines »Systems der Ästhetik« [München 1905].

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zipien verlangen, die nicht der Ästhetik zu entnehmen sind, so scheint eine neue Wissenschaft sich einschieben zu müssen, die mit der Ästhetik die Allgemeinheit teilt und mit den Kunstdisziplinen das Material: die Kunstwerke in der ganzen Fülle ihrer Beziehungen und Bedingtheiten. Die Geschichte bedarf auch einer philosophischen Grundlegung, und diese bietet die Geschichtsphilosophie; und allgemeine Kunstwissenschaft ist ja nichts anderes als Philosophie der Kunst, wobei wir nur den Sinn der Philosophie nicht so verengen dürfen, daß er alle phänomenologischen und psychologischen Untersuchungen ausschließt. Auf dem ersten Kongreß für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft haben insbesondere Max Dessoir A und Richard Hamann B auf die unbedingte Notwendigkeit hin gewiesen, den historischen Kunstdisziplinen aus einer systematischen Kunstwissenschaft heraus frisches Blut zuzuführen und die Begriffe und Wertungen, mit denen sie arbeiten und arbeiten müssen, der Klärung zu entnehmen, die ihnen allein eine philosophische Durchforschung angedeihen zu lassen vermag. Einer der Kunsthistoriker, die am meisten unter der Unhaltbarkeit dieses Übergangszustandes leiden, Joseph Strzygowski 23, verlangt geradezu einen neuen »Typus von Gelehrten«, den des »vergleichenden Kunstforschers«: »Er wird . . . sich nicht nur um Asien und Europa zu kümmern haben, sondern Amerika und in sozialer Erweiterung auch die Naturvölker, Kinder und atavistisch dahindämmernde Kulturvolksreste hereinziehen müssen und zeitlich ebenso die Steinzeit wie die modernen Großstadtblüten in den Kreis seiner Forschungsgegenstände zu ziehen haben. Um diese ungeheure Masse von Kunsterscheinungen bewältigen zu können, bedarf es eines methodisch klar vorgezeichneten Zieles, eines nicht minder fest umschriebenen Forschungssystems und endlich der Mitarbeit und Einsicht von Hilfswissenschaften, die nicht Dinge von ihm erwarten, die sie selbst zu leisten haben, und anderseits verständnislos den Problemen gegenüberstehen, die anzuregen seine Sache ist.« Und in Befolgung dieser Grundsätze hat Strzygowski 24 mit kühnem und vorbildlichem Wagemut dem kunsthistorischen Institut der Universität Wien eine systematische Abteilung angegliedert: »Sie bildet die Seele des ganzen Institutkörpers insofern, als jeder auf historischem Boden geschulte Mitarbeiter verpflichtet ist, seine Erfahrungen rein künstlerischer Art in diese Abteilung zu tragen und ihre Ziele als die grundlegenden der kunstgeschichtlichen Forschung der Zukunft stets 23 Joseph Strzygowski, Ostasien im Rahmen vergleichender Kunstforschung; [in:] Ostasiatische Zeitschr[ift] II, 1 [(1913), S. 1–15]. 24 Joseph Strzygowski, Das kunsthistorische Institut der Wiener Universität; [in:] Die Geisteswissenschaften I, 1 [(1913)], S. 12 ff. [= S. 12–15.]

Vgl. Max Dessoir: »Eröffnungsrede« [zum ersten Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft]. In: Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Berlin, 7.–9. Oktober 1913. Bericht. Hrsg. vom Ortsausschuss. Stuttgart 1914, S. 42–54. (In dieser Ausgabe S. 28 – 40.) B Vgl. Richard Hamann: »Allgemeine Kunstwissenschaft und Ästhetik«. In: Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, S. 107–113. (In dieser Ausgabe S. 319 –325.) A

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vor Augen zu halten.« So wie hier das neue Wollen des Kunstforschers beredten Ausdruck findet und eine große Tat geboren hat, lebt es auch in vielen anderen, und der heftig geführte Kampf – der unter dem Schlagwort »Literaturgeschichte oder Literaturwissenschaft« allgemein bekannt ist – bewegt sich in der gleichen Richtung. Aber aus dem Betrieb der historischen Disziplinen, welche die einzelnen Gebiete der Kunst durchforschen, kann nur die Unabweislichkeit der Forderung sich herausstellen nach systematischer Grundlegung; ebenso vermag die Unfähigkeit der bisherigen Ästhetik zu erhellen, gerade diesen Forderungen zu entsprechen. Keineswegs wird aber auf diesem Boden der prinzipielle Streit entschieden, ob da jede Ästhetik versagen müsse und an ihre Stelle die allgemeine Kunstwissenschaft zu treten habe, oder ob eine genügend breit angelegte Ästhetik alle diese Probleme mit ihren Mitteln lösen könne. Dieser Kampf kann nur zwischen Ästhetik und allgemeiner Kunstwissenschaft ausgetragen werden, indem aus dem Wesen des Ästhetischen seine Abgrenzung sich ergibt und aus dem Wesen der Kunst der Fragenkreis, der mit dem Ästhetischen sich nicht deckt; ja bereits das Wesen des Ästhetischen und das Wesen der Kunst können schon trotz aller obwaltenden Beziehungen auseinanderfallen. Also nur diesen Wesensuntersuchungen steht es zu, hier das lösende Wort zu sprechen. Anderseits ist es gewiß, daß die Forderungen der historischen Kunstdisziplinen wichtige Kampfmittel darbieten; denn sie erheischen doch eine Besinnung darüber, ob ihnen mit der Forschungseinstellung der Ästhetik Genüge geschehen kann, oder ob es nottut, sie aus einem anderen Zusammenhange heraus zu erfassen. Daß aber gerade in unseren Tagen diese Forderungen so laut und dringlich werden, beruht wohl darauf, daß mit der wachsenden Fülle des Materials und seiner historischen Festlegung es immer schwieriger wird, eine durchgehende Anordnung und Einordnung zu treffen oder bestimmte Wertungen durchzuführen. Die ungeheure Menge des Stoffes droht in ein Chaos zu zerfallen, und die Fülle von Einzelarbeit scheint diesem Zustand geradezu entgegenzuarbeiten, wenn nicht Hand in Hand damit eine Klärung der allge meinen Gesetzlichkeit erfolgt, welche es gestattet, von festen Grundlagen aus zu werten und zu sichten und das Einzelne in die Gesamtheit einzureihen. So erscheinen uns denn besonders die Anschauungen von Wilhelm Wor r inger 25 als ein sehr deutliches Zeichen der Zeit gerade in ihrem Radikalismus und in ihrer Einseitigkeit. Und er geht insofern an die Wurzel des Problems, indem er die Unfähigkeit der Ästhetik aufzudecken sucht, der Gesamttatsache der Kunst gerecht zu werden. Ihm zufolge ist das, was wir wissenschaftliche Ästhetik nennen, im Grunde nichts anderes als eine stilpsychologische Interpretation des klassischen Kunstphänomens. Als Voraussetzung dieses klassischen Kunstphänomens wird nämlich jener Schönheitsbegriff angesehen, um dessen Fixierung und Definition sich die Ästhetik trotz der Verschiedenheit ihrer Betrachtungsweisen einzig und allein bemüht. Dadurch aber, daß die Ästhetik ihre Ergebnisse auf den ganzen Komplex der Kunst ausdehnt und auch solche Kunsttatsachen verständlich gemacht zu haben 25

Wilhelm Wor r inger, Formprobleme der Gotik; München 1911, S. 9 ff.

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glaubt, denen völlig andere Voraussetzungen innewohnen als jener Schönheitsbegriff, wird ihr Nutzen zum Schaden, wird ihre Herrschaft zur unerträglichen Usurpation. Entschiedene Trennung von Ästhetik und objektiver Kunsttheorie ist deshalb die vitalste Lebensforderung ernster kunstwissenschaftlicher Forschung. Es war Konrad Fiedler s eigentliche Lebensaufgabe, diese Forderung zu begründen und zu vertreten, aber die Gewöhnung an die seit Ar istoteles durch die Jahrhunderte fortwuchernde unberechtigte Identifikation von Kunstlehre und Ästhetik war stärker als Fiedlers klare Argumentation. Er sprach ins Leere. So gilt es also den Machtanspruch der Ästhetik auf Deutung nichtklassischer Kunstkomplexe zurückzuweisen. Durch das Übergewicht des Klassischen ist es zu der verhängnisvollen und tief eingewurzelten Anschauung gekommen, alle Kunst verfolge die gleichen ästhetischen Ziele; dadurch wird das Verständnis prinzipiell für jene Kunstströmungen unmöglich, die mit dem klassischen Kunstideal nicht zusammenfallen. Es müßte also eine neue Ästhetik der Kunstepochen geschaffen werden, die von einem Wollen getragen sind, das der Klassik fernliegt. Am stärksten verlangte nach solcher Rehabili[ta]tion, d. h. nach solcher positiven Ausdeutung ihrer Formgebung die Gotik, denn der ganze europäische Kunstverlauf der nachantiken Zeit läßt sich geradezu reduzieren auf eine konzentrierte Auseinandersetzung zwischen Gotik und Klassik. Soll nun also tatsächlich der Ästhetik der Klassik, eine solche der Gotik zur Seite treten? Aber diese Zusammensetzung erscheint unzulässig, weil sich bei dem Ausdruck »Ästhetik« gleich wieder die Vorstellung des Schönen einschleicht und die Gotik mit Schönheit nichts zu tun hat. Und es wäre nur ein Zwangsgebot unserer Wortarmut, hinter der sich in diesem Falle allerdings auch eine sehr empfindliche Erkenntnisarmut verbirgt, wenn wir von einer Schönheit der Gotik sprechen wollten. Also schütteln wir von der Gotik auch jede Verquickung mit dem Ausdruck Ästhetik ab. Erstreben wir nur eine stilpsychologische Interpretation des gotischen Kunstphänomens, die uns den gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen dem Empfinden der Gotik und der äußeren Erscheinungsform ihrer Kunst verständlich macht, so haben wir das für die Gotik erreicht, was die Ästhetik für die Klassik geleistet hat. Wir werden im Laufe unserer Arbeit noch Gelegenheit zu einer ausführlichen Auseinandersetzung mit den Lehren Wor r inger s finden; hier müssen wir uns – schon um nicht allzusehr folgenden Untersuchungen vorzugreifen – mit einigen vorläufigen Bemerkungen begnügen. Nach Worringers Ansicht sinkt die Ästhetik eigentlich zu einem Teil der allgemeinen Kunstwissenschaft herab; während diese alles künstlerische Wollen erforscht, legt sich die Ästhetik auf das klassische Kunstwollen fest. Nun ist aber eben eine richtige Ästhetik keine stilpsychologische Interpretation des klassischen Kunstphänomens, sondern ihre Grundprobleme sind das Wesen des Ästhetischen und der ästhetische Wert mit all den Folge rungen, die aus diesen Aufstellungen sich ergeben. Diese Untersuchungen haben es an sich mit gar keinem Kunstwollen zu tun; es wird nicht aus der klassischen Kunst das Ästhetische einfach abstrahiert, sondern bestenfalls könnte die Frage so gestellt werden, ob vielleicht das Ästhetische in der klassischen Kunst seine reinste und

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unvermischteste Ausprägung finde. Aber diese Frage kann nur erhoben werden, wenn bereits ein Wissen um das Ästhetische vorliegt. Die Bedenken Worringers treffen also da lediglich eine verfehlte Ästhetik, nicht aber ihr wahres Sein. Wenn ferner die klassische Kunst völlig mit dem Ästhetischen – im üblichen Sinne des Wortes – zusammenfällt, während die anderen Kunstströmungen überhaupt nichts mit diesem Ästhetischen zu schaffen haben, was gibt uns das Recht, bei dem gänzlichen Auseinanderklaffen verschiedenen Kunstwollens immer noch von »Kunst« zu sprechen? Wo sind da die gemeinsamen Wesensmerkmale? Und gerade hier muß eine allgemeine Kunstwissenschaft sich verankern, hier liegt ihr Ansatzpunkt. Indem sie nun auf das Ganze der Kunst geht, umfaßt sie Klassik ebenso wie Gotik; und gerade die Besonderheit des Wollens, das diese Kunstströmungen erfüllt, wird verständlich, ja notwendig aus der Gesetzlichkeit der Kunst. Wor r inger hat bestehende Mängel in vortrefflicher Weise aufgedeckt, auch ist er von dem richtigen Gefühl geleitet für die Notwendigkeit der Scheidung von Ästhetik und allgemeiner Kunstwissenschaft; nur die eigentlichen Wege hat er nicht gefunden, die zu diesen Disziplinen führen, weil er ihre Aufgaben verkennt. Ähnlich wie nach Worringer der Begriff einer »ästhetischen Kunst« etwa auf die Gotik nicht anwendbar ist, behauptet die Ethnologie, daß das Verhalten der Primitiven angesichts ihrer sogenannten Kunsterzeugnisse kein rein ästhetisches sei, und daß diese Kunsterzeugnisse ihr Dasein jedenfalls nicht nur ästhetischen Motiven verdanken, ja daß es überhaupt als völlig unmöglich sich erweise, hier mit ästhetischen Werten zu messen. Sie kann daher von der Ästhetik keine Hilfe und Förderung erwarten. Wenn demnach diese Kunst in ihrem Sein, Werden und Wirken weit über das Ästhetische hinausgeht, worauf stützt sie dann ihren Anspruch, noch als Kunst zu gelten? Bloß auf die Tatsache, daß in stetiger Entwicklung unsere Kunst aus diesen Gestaltungen hervorgewachsen ist? Kann denn aber nicht auch völlig Verschiedenes in ursächlichem Zusammenhange stehen? Und ist vielleicht die heutige Kunst etwas ganz anderes als jene primitive, hat sich derartig alles Außerästhetische abgeschliffen, daß nur mehr ästhetische Gebilde vor uns stehen? Und handelt es sich hier nur um graduelle Unterschiede, um durchgehende Gesetzlichkeiten, deren Erforschung durch eine Wesensuntersuchung der Kunst angebahnt werden kann? Vielleicht lichten sich alle Schwierigkeiten durch eine einsichtsvolle Erkenntnis, was eigentlich Kunst ist, derart, daß aus ihr heraus restlos das Schaffen der Primitivsten und der Reifsten, die ersten und die letzten Kunstgebilde samt dem ganzen Entwicklungsgänge begriffen werden können? Sicherlich darf diese Frage nicht im vorhinein bejaht werden; aber es wäre doch gänzlich unberechtigt, diese Frage einfach zu unterbinden. Und wenn die Kunstwissenschaft von Stiluntersuchungen, Gestaltungsproblemen und Kulturbedingtheiten handelt, ist da die prinzipielle Gesetzlichkeit eine ästhetische? Vollzieht sich der Stilwandel etwa nur aus ästhetischen Motiven, und sind alle künstlerischen Gestaltungen im Hinblick auf die Ästhetik verständlich, oder schmelzen alle Kulturbedingtheiten restlos ins Ästhetische ein? Dies sind doch lauter grundlegende Fragen, zu denen man überhaupt nicht vordringen kann, wenn man ihren ästhetischen Charakter als

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unbewiesene Voraussetzung dogmatisch annimmt. Und ist der Wert des Kunstwerkes nur ein ästhetischer? oder schieben sich hier verschiedene Wertschichtungen ineinander, die in ihrer Gesamtheit eben den Wert des Kunstwerkes ergeben? Das sind Probleme – und es ließen sich noch zahlreiche andere aufrollen – die sicherlich nicht durch ihre bloße Setzung die Rechtfertigung einer allgemeinen Kunstwissen schaft erbringen, die aber wohl den Versuch rechtfertigen, eine allgemeine Kunstwissenschaft zu wagen. Und nun scheint es wieder, als ob die Tatsache der Wissenschaft selbst ihre Möglichkeit beweisen soll: ist sie da, kann sie nicht angezweifelt werden. Und der Weg zur Widerlegung der Zweifel ist eben der Ausbau der Wissenschaft. Dann stünden wir jetzt vor der Aufgabe, Ergebnisse dieser Wissenschaft zu gewinnen, ein Stück Wissenschaft auszuführen; sicherlich ist dies auch eine Hoffnung, die uns leitet, aber unsere vornehmlichste Absicht ist doch eine andere: nämlich der als notwendig einleuchtende Beweis, daß das Wesen der Kunst allein aus dem Ästhetischen nicht begriffen werden kann; daß die Grundprobleme der Kunst nicht rein ästhetische Probleme sind, und daß die angemessene Forschungseinstellung hier nicht die ästhetische ist. Wenn uns diese Nachweise glücken und wir zugleich zeigen können, daß keine andere Wissenschaft diesen Aufgaben Genüge zu leisten vermag, als eben die allgemeine Kunstwissenschaft, dann halten wir ihr Eigenrecht für gesichert, unabhängig davon, wieweit nun ihr System bereits ausgebaut ist, und welche Lücken es etwa noch zeigt. Zugleich soll aber noch der heuristische Wert dieser Forschungseinstellung durch das Eingehen in einzelne Fragen beleuchtet werden; und in diesem Sinne treten wir selbst in den Betrieb der Wissenschaft ein.

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§ 7. Aber vielleicht wird mancher die hier vorgeschlagenen Wege der Beweisführung zu umständlich finden und dabei nicht einmal von zwingender Schlagkraft; er wird geltend machen, die Notwendigkeit einer allgemeinen Kunstwissenschaft als Kunstphilosophie müsse aus dem einheitlichen Systemgebäude der Philosophie entwickelt werden: es gebe nur eine Art Philosophie und dies sei die systematische, die aus Gliedern eines Systems bestehende, aus diesen Gliedern zu einem System sich zusammenschließende Philosophie. Aus dem Quellgebiet der systematischen Philosophie ent springt der Begriff der Kunstphilosophie, der allgemeinen Kunstwissenschaft. Dürften wir nicht zu ihr fortschreiten, »so bliebe uns das Kulturfaktum der Kunst ein unlösbares Rätsel. Damit aber zerfiele der Begriff der systematischen Philosophie, die sich auf alle Gebiete der Kultur in einheitlicher Methodik zu erstrecken hat; für den es nicht an einer Ecke und nun gar an einem weiten Schauplatze der Kultur ein Wunder geben darf, das sich seiner Lichtung entziehen könnte. Die Kultur ist einheitlich, weil ein einheitliches Gesetz auf Grund einer einheitlichen Methodik in ihr zur Entdeckung gebracht werden kann, werden muß. Das ist die Aufgabe der systematischen Philosophie: die Kultur einheitlich zu

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machen in ihrer einheitlich methodischen Gesetzlichkeit. Würde die Kunst eine Ausnahme bilden von der systematischen Gesetzlichkeit, so würde sie aus dem Begriffe der einheitlichen Kultur ausscheiden müssen; denn diese beruht auf der methodisch einheitlichen Gesetzlichkeit« 26. Ich habe diese Gedanken – Her mann Cohen folgend – entwickelt, obgleich er nur eine Philosophie der Kunst als Ästhetik kennt und nur eine Ästhetik als Philosophie der Kunst 27. Aber schon die Tatsache dieser unmittelbaren Gleichsetzung ohne kritische Prüfung, ob es denn angehe, das Künstlerische einfach im Ästhetischen aufzulösen und umgekehrt, weist auf die Bedenklichkeit eines derartigen Unternehmens hin und es wird gerade bei Cohen um so sonderbarer, weil seine ganze Ableitung für eine Kunstphilosophie als Kunstwissenschaft und nicht als Ästhetik zu sprechen scheint, und weil von Kant aus der Gedanke einer allgemeinen Kunstwissenschaft überaus leicht zu finden war: denn Kant zeigt ja sehr deutlich, wie das Ästhetische nicht Umfang und Inhalt der Kunst erschöpft. Und in dieser Richtung – Konrad Fiedler schlug sie ein – wäre das Eigenrecht einer allgemeinen Kunstwissenschaft aufzufinden gewesen auch bei Ablehnung des ästhetisch formalistischen Standpunkts Kants. Aber gerade da verläßt Cohen Kant, und weder das Künstlerische noch das Ästhetische gelangen bei ihm zu reinem Ausdruck. Ich will diese Behauptung nur durch wenige Worte bekräftigen: Cohen hält es für eine Voraussetzung der Kunst, »daß das Sittliche, seinem Grundproblem nach einen gedanklichen Inhalt der Kunst bildet, von dem sie niemals sich losmachen kann. Welche andere Inhalte könnte die Kunst erobern wollen, wenn sie vom Sittlichen sich losreißt? kann sie sich vom Menschen loslösen? Und müßte sie es nicht, wenn das Sittliche ihr fremd werden müßte?« A Wird nun aber das Sittliche – nach Cohen – ewiger Grundinhalt der Kunst, so geht doch zweifellos in sie ein außerästhetischer Faktor von höchster Bedeutung ein, der nie und nimmermehr als ästhetischer angesprochen werden darf, und ein Faktor, der jedenfalls auch für die Probleme der Gestaltung, der Entwicklung usw. von hoher Bedeutung sein muß. Nun ist jedoch das reine Gefühl – die Schlagader der gesamten Ästhetik Cohens – »die Liebe zur Einheit des Menschen in Leib und Seele« B, es ist das »reine Selbstgefühl des Menschen in seiner Einheit von Leib und Seele, und solchermaßen in der Einheit seiner Natur«. Kann dies nun aber als Wesenserfassung des Ästhetischen angesehen werden? Sicherlich klingt hier der Schillersche Gedanke nach von der Versöhnung des Geistigen und Sinnlichen durch die Kunst. Aber erstens wird hier das Ästhetische durch eine seiner Folgen charakterisiert und nicht in sich, und zweitens wird es ethisch umgebogen, was ganz Her mann Cohen, Ästhetik des reinen Gefühls; Berlin 1912, [Bd.] I, S. 16 ff. [Zit. S. 18 f.] Vgl. meine kritische Auseinandersetzung mit dieser Ästhetik in der Abhandlung »Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft«; Erster Band der Jahrbücher der Philosophie; Berlin 1913, [S. 322–364, hier] S. 329 ff. 26

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Hermann Cohen: Ästhetik des reinen Gefühls. 2 Bde. Berlin 1912 (= ders.: System der Philosophie.3,1 und 2), Bd. 1, S. 43. B Ebd., Bd. 2, S. 241. A

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deutlich aus der Interpretation der Beispiele erhellt. »In der griechischen Kunst ist es das Problem des Satyrs, in welchem das Problem des Häßlichen zu seiner typischen Gestaltung kommt.« A Der Satyr ist dieser Dämon des Häßlichen. »Aber insofern er ein Vorwurf der Kunst ist, kann er nicht widerwärtiges Objekt bleiben. Er erscheint mit dem Kinde auf dem Arm, mithin in einer sittlichen Tätigkeit; er ist der Erzieher des Dionysosknaben; er rückt immer höher hinauf in das Menschliche.« B »Das Tierische im Menschen ist nicht wegzutilgen; es gibt kein anderes Mittel, als es zu veredeln.« C »Es ist das eigene große Problem der Kunst, vor diesen Mängeln der menschlichen Natur nicht den Blick zu verschließen, sie nicht dem Ideal gegenüber zu ignorieren, sondern sie in die Aufgabe des Ideals hereinzuziehen, im Problemgebiet des Schönen ihnen Bürgerrechte zu geben.« D »Das ist die große Tat des Praxiteles, durch die er den Phidias selbst übertreffen könnte: daß er nicht nur das Göttliche im Menschen zur übermenschlichen Darstellung bringt, sondern auch das Tierische zur menschlichen.« E Wenn Cohen hier die Freude an der sittlichen Tätigkeit des Satyrs in den Vordergrund rückt, die Vermenschlichung des Tierischen als Hauptwert durch das reine Gefühl erfassen läßt, so liegen da überall starke ethische Durchsetzungen vor, ja es steigt überhaupt die Vermutung auf – bei Heranziehung der anderen von ihm gegebenen und erläuterten Beispiele –, ob er Kunst als Kunst aufzunehmen vermag und Ästhetisches als Ästhetisches, oder ob er die Gleichsetzung beider nur deshalb vollzieht, weil sie ihm in gleicher Weise Gelegenheit zu seiner Art ethischen Betrachtung gewähren, wobei er die Kunst und jenes Ästhetische ausschaltet, wo diese Einstellung zu keinem Ergebnis vordringt, aus welchem Grunde ihm auch ein großer Teil moderner Kunst sehr wenig zusagt. Darin nun, daß Cohen einen ganz bestimmten und sogar extremen Typus möglicher Kunstverhaltungsweisen darstellt, liegt wohl die tiefste Ursache für die besondere Art und Weise seiner Ästhetik, und nicht in der Gewinnung aus dem einheitlichen System der Philosophie heraus. Zugleich ist aber gerade die Cohensche Ästhetik ein überaus beredtes und schlagendes Zeugnis dafür, welche Übelstände sich ergeben, wenn das Ästhetische und Künstlerische nicht ihrem eigenen Wesen nach erfaßt werden, sondern überall ineinanderspielen, so daß sie sich so weit auflockern und auflösen, daß das Ästhetische der Kunst zuliebe außerästhetisch durchtränkt werden muß und die Kunst aus Rücksicht auf das Ästhetische in ihrer Eigenart als Kunst nicht begriffen wird. Wenn wir demnach diesen Versuch einer systematischen Ästhetik uns nicht zu eigen machen können, muß denn aber jeder Versuch irgendwie scheitern, das Eigenrecht der Ästhetik aus dem einheitlichen System der Philosophie heraus zu entwickeln und herzuleiten? Muß denn allemal die Persönlichkeit dessen, der A B C D E

Ebd., Bd. 1, S. 284. Ebd., Bd. 1, S. 285. Ebd. Ebd. Ebd.

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den Versuch unternimmt, so weit abfärben, daß sie schließlich die Grundlegung vollzieht und der schroffe Gegensatz gegen den Psychologismus endlich im heimlichen, desto gefährlicheren Psychologismus landet? Eine eingehende Beantwortung dieser Frage würde uns in das tiefste Dickicht schwierigster Prinzipalfragen der Philosophie verstricken. Und eine Bejahung der Frage und das aus ihr herfließende Unternehmen, nun auf diese Weise eine Rechtfertigung der allgemeinen Kunstwissenschaft zu erbringen, würden die Folgen haben, daß der Gang unserer Beweisführung nur für die verpflichtend wäre, welche der gleichen philosophischen Schulrichtung huldigen. Alle anderen aber, welche die Voraussetzungen bestreiten, würden von Anfang an einen derartigen Versuch ablehnen; oder anders ausgedrückt: das Problem der allgemeinen Kunstwissenschaft würde hier aus dieser Wissenschaft herausverlegt in den zentralen Brennpunkt der Philosophie. Nun halte ich es zwar für sicher, daß alle philosophischen Disziplinen in das einheitliche Gebäude eines philosophischen Systems einmünden müssen, und daß ihr Zusammenhang ein notwendig planvoller sei; nur meine ich, daß diese letzte Rückführung und Verankerung lediglich gelingen können, wenn das Wesen der einzelnen Disziplinen schon erkannt und geklärt ist. Wieweit und in welcher Richtung die allgemeine Kunstwissenschaft der Mitwirkung der Werttheorie, Kulturphilosophie, Ethik usw. bedarf, das zeigt und erweist sich aus dem Problem der Gesamttatsache der Kunst. Darum muß uns dieses Problem die Wege weisen, und darum stellen wir es an den Anfang!

Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft (/) 1

Das Problem »Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft« besteht eigentlich nicht für alle jene, welche die allgemeine Kunstwissenschaft als einen Teil der Ästhetik betrachten, oder umgekehrt die Ästhetik als einen Teil der allgemeinen Kunstwissenschaft. Aber das übersehen dieses Problems rächt sich auch bitter genug, denn im ersteren – ungleich häufigeren – Fall kann folgerichtig gar nicht die Frage aufgeworfen werden, ob die Kunst in ihrem Sein und Werden, in der Gesetzmäßigkeit ihrer Entwicklung, in ihren Wirkungen und Zielen auch von außerästhetischen Motiven bestimmt wird. Erforscht wird lediglich die ästhetische Komponente der Kunst in der ungeprüften Annahme, in ihr erschöpfe sich die Gesamtheit der Kunst oder jedenfalls doch ihr eigentümliches Wesen. Hier wird die Kunst um ihr Sonderrecht verkürzt; man sucht sie ins Netz ästhetischer Gesetze und Forderungen einzufangen, damit bleiben aber ihre wichtigsten Fragen offen und ungelöst. Strebt man jedoch von der entgegengesetzten Seite her, das Ästhetische aus den verschiedenen Formen des Kunstgenusses zu gewinnen, in der Meinung, auf diese Weise den sicheren Boden der Erfahrungen nicht zu verlassen, so krankt die ganze Anschauung an dem methodischen Mangel, daß sie ohne weiteres den Kunstgenuß als rein ästhetische Ausprägung annimmt oder mindestens das Ästhetische als den in jedem Kunstgenuß gleichbleibenden Faktor. Dabei vergessen die Vertreter dieser Lehre, daß solche Fragen – wie weit der Kunstgenuß ästhetisch sei und ob das Ästhetische das einigende Band in den verschiedensten Formen des Kunstgenießens bilde – doch nur dann ernsthaft geprüft werden können, wenn durch eine vorhergehende Wesensunter suchung eine Verständigung über den Charakter des Ästhetischen erzielt ist. Ohne diese Voraussetzung ist der Erfolg meist eine Auffassung des Ästhetischen, die entweder überhaupt keine Anwendung über die Kunst hinaus zuläßt oder selbst innerhalb dieser lediglich bestimmten Richtungen und Strömungen angepaßt scheint, und die eigentlich ästhetische Merkmale mit spezifischen Kunstkriterien verwechselt. Die Unhaltbarkeit und Unverträglichkeit dieser Zustände mußten immer fühlbarer und peinigender werden, je mehr die Forscher im weiteren Verfolg ihrer Arbeiten 1 Der Auffassung, die dieser Vortrag verficht, nähern sich bereits meine Abhandlung über »Außerästhetische Faktoren im Kunstgenuß« (Zeitschrift für Ästhetik u[nd] allgem[eine] Kunstwiss[enschaft] VII 4 [(1912), S. 619–651.]) und mein Sammelbericht im ersten Bande der Jahrbücher der Philosophie [= Emil Utitz: »Ästhetik und Philosophie der Kunst«. In: Jahrbücher der Philosophie. Eine kritische Übersicht über die Philosophie der Gegenwart. 3 (1927), S. 306–332]. Die eingehende Rechtfertigung und Durchführung erfolgt im ersten Teil meiner »Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft«, die demnächst im Verlage von Ferdinand Enke zu Stuttgart erscheinen wird [= Stuttgart 1914].

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von den Prinzipalaufstellungen zu den wirklichen Kunstfragen vordrangen und hier nun aber nicht weiter vordringen konnten. Der praktische Kunstbetrieb schien von ganz anderen Mächten beherrscht, als nach der Ästhetik zu erwarten war, ja im schroffsten Widerspruch zu ihr. Ein bekannter Ästhetiker lehrt z. B., es sei besser, zur Wahrung des rein ästhetischen Musikgenießens mit der Technik der Instrumente nicht vertraut zu sein, weil sonst das gründliche Verständnis der Leistung die Aufmerksamkeit leicht so in Anspruch nehme, daß die einfache Hingabe an die dargebotenen Eindrücke darunter leide. Schroffer kann gar nicht der Gegensatz des Schlichtästhetischen zum Künstlerischen zum Ausdruck gelangen. Es gehört – scheinbar – mit zu den wichtigsten Kunsteinsichten, daß alle Kunst Gestaltung ist und aus den Gestaltungsmitteln heraus nicht nur gewürdigt, sondern auch betrachtet werden müsse, und daß kein anderer Weg zu ihr führe. Wenn also die Ästhetik in voller, eiserner Konsequenz – und nicht etwa durch einen voreiligen Irrtum – an einer so entscheidenden Frage scheitert, versuchte man es häufig mit einer Art – wenn ich so sagen darf – hausgemachter Ästhetik, die nicht ihren Ausgangspunkt von philosophischen oder psychologischen Erwägungen hernahm, sondern von gewissen Kunstbedürfnissen ausging und eine Theorie zusammenzimmerte, die den gerade vorliegenden Fragen gerecht zu werden trachtete. Aber auf diese mehr vom Zufall als von einem einheitlichen Plan regierte Weise konnte keine groß angelegte, in ihren Grundlagen gesicherte, in ihren Methoden und Fragen durchgearbeitete Wissenschaft entstehen. Dazu bedurfte es erst einer kritischen Besinnung über das wahre Verhältnis der Ästhetik zur allgemeinen Kunstwissenschaft, und diese Besinnung hat nun verschiedene Lehren gezeitigt, die sicherlich einen Fortschritt bedeuten, ohne aber die eigentlichen Schwierigkeiten prinzipiell zu beheben. Jedenfalls muß den Ausgangspunkt eine Wesensuntersuchung der Kunst bilden; denn erst wenn sich ihr Wesen mir offenbart hat, kann in exakt wissenschaftlicher Weise über ihr Verhältnis zum Ästhetischen gehandelt werden. Am naheliegendsten dünkt es wohl, die Kunst auf die Darstellung ästhetischer Werte festlegen zu wollen. Aber auch bei einer Maschine liegt Gestaltung vor, und ästhetischer Wert vermag ihr ebenfalls zu eignen. Aber die Maschine verlangt doch nicht in erster Linie als ästhetisches Gebilde gewertet zu werden, sondern als praktisches Werkzeug im Hinblick auf ganz bestimmte Zwecke. Ist sie also vielleicht nur im Nebenamt ein »Kunstwerk«? Nein. Das Blanke, Glänzende, das Spiel des Lichtes auf dem Metall, das uns gefällt, hat überhaupt nichts mit Darstellung zu tun und ist einfache Wirklichkeit, die ästhetisch genossen werden kann, aber nicht aus der Gestaltung heraus. Etwas ganz anderes ist ja die bewußte Lichtführung in einem Kunstwerk, die bestimmte Partien hervorhebt und heraustreibt, andere in Schatten zurücktreten läßt, die Schärfen gibt und wieder weich auflockert. Hier steht das Licht ganz im Dienste der Darstellung, dort ist es zufällige, von aller Gestaltung losgelöste Wirklichkeit, die nicht auf Kunst bezogen werden darf. Nun gefällt uns doch aber auch die reine, klare Zweckmäßigkeit einer Maschine, die sich deutlich in der Anschauung ausprägt. Sicherlich, aber die Gestaltung ist im Hinblick auf die wirklich vorhandene Zweckmäßigkeit vollzogen und nicht in

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Rücksicht auf die Freude, welche an die anschauliche Entfaltung der Zweckmäßigkeit anknüpft. Beim Vorwalten dieses Gesichtspunktes könnte vielleicht die Zweckmäßigkeit noch klarer und schlagender in Erscheinung treten, während so manchmal Schutzwände gerade das zweckmäßigste Funktionieren verhüllen. Wir können also die Maschine ästhetisch genießen, aber unmöglich künstlerisch: denn wir vermögen nicht diesen Genuß unmittelbar aus dem Gestaltungsproblem heraus zu erfassen, weil das in eine ganz andere Richtung weist. Sollte sich jedoch zeigen, daß bei der Maschine auch die Gestaltung auf diese Wirkung des Genusses hin geübt ist, so wäre dies allerdings ein künstlerischer Zug an ihr. Es genügt demnach nicht, daß irgendein Gebilde gestaltet und ästhetisch wertvoll ist, um es zu einem Kunstwerk zu stempeln, sondern dieser Wert muß aus der betreffenden Art der Darstellung begriffen werden, als von ihr letzthin und wesentlich gewollt. Oder: dieser Wert muß aus der Darstellung erhellen, die Darstellung ist seinetwegen da. Und das ist bei Maschinen nicht der Fall; aber das scheint auch nicht der Fall bei der gesamten Tendenzkunst, beim Porträt, beim Denkmal, bei religiösen Bildern und Statuen usw. Auch hier wird die Gestaltung in erster Linie durch ein anderes Problem bestimmt als durch ein ästhetisches. Gibt es nun – ganz allgemein gesprochen – ein gemeinsames Kunstwollen; und zwar nicht im Sinne der unendlichen Vielfältigkeit künstlerischer Schaffensmotive, sondern im Sinne der Auffassungsforderung, ähnlich wie jedes wissenschaftliche Werk uns Erkenntnisse vermitteln will? Da glaube ich nun, die allgemeinste Bestimmung bestehe darin, daß jedes Erzeugnis, welches den Anspruch darauf erhebt, ein Kunstwerk zu sein, uns durch seine Gestaltung ein Gefühlserleben darzubieten beabsichtigt. Diese Absicht muß durchaus nicht dem bewußten Willen des Künstlers entsprechen, sondern sie ist der Sinn der Darstellung, ihr Richtungsziel. Aus ihr heraus wird die Gestaltung begriffen, und ist dies unmöglich, so geht der Kunstcharakter verloren. Ein wissenschaftliches Werk z. B. will nicht unmittelbar ein bestimmtes Gefühlserleben vermitteln, sondern ein bestimmtes Wissen. Diese Erkenntnisse können dann zu einer Quelle der Freude werden, aber die Gestaltung erfolgt nicht im Hinblick auf diesen Gefühlsertrag, sondern auf jenes Wissen, das in klarster, schlagendster und verständlichster Form dargeboten werden soll; ja, in den meisten Fällen wird es erst durch diese Form zum eigentlichen »Wissen«. Die Form der Kunst, ihre Gestaltung, drängt unmittelbar auf ein Gefühlserfassen, in dem sich das Wesen der Gestaltung erschließt. So ist denn alle Kunst Gestaltung auf ein Gefühlserleben, derart, daß aus der Gestaltung heraus das Gefühlserleben schöpft. Die betreffenden Gestaltungswerte können in sich jeder nur möglichen Wertschichtung angehören, sie gehen als auf das Gefühlserleben hin gestaltete in die Kunst ein. Die Kunst vermag demnach ebenso ethische wie religiöse, patriotische wie intellektuelle, sexuelle wie funktionelle Werte zu vermitteln, aber diese Vermittlung erfolgt eben in einer ganz bestimmten Weise: nämlich derart, daß durch die Besonderheit der Darstellung uns der Sinn der Darstellung sich in einem Gefühlserleben erschließt. So wird zum spezifischen Problem der Kunst die Eigenart der Gestaltung, die Formausprägung. Nicht also irgendeine außerästhetische Tendenz vernichtet den

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Kunstcharakter, sondern lediglich die ungestaltete, nicht in Darstellung umgesetzte Tendenz. Und Ähnliches gilt vom Ästhetischen in der Kunst. Man denke an ein an sich ästhetisch wohlgefälliges Gebilde – etwa an ein anmutig schönes Mädchen in einer glatten, uninteressanten Malerei – das ergibt noch kein Kunstwerk; nicht nur deswegen nicht, weil der ästhetische Wert durch die mangelhafte Darstellung geschädigt wird, sondern weil er nicht aus der Darstellung hervorwächst. Er war gleichsam schon vor ihr da; die Darstellung spiegelt ihn bestenfalls wider, sie schafft ihn nicht. Die hier flüchtig skizzierte Kunstauffassung läßt uns nun auch der primitiven Kunst gerecht werden, an der die einseitig ästhetisch orientierten Kunstbestimmungen immer Schiffbruch leiden müssen. Und ebenso vermögen von diesen Grundlagen aus die Probleme vom angemessenen Kunstgenuß, vom Strukturaufbau des Kunstwerkes, von der Stilgesetzlichkeit, sowie von der Kulturstellung der Kunst ihre befriedigende Lösung zu finden. Wo liegen dann aber die Grenzen der Kunst? Scheint nicht unsere Bestimmung alle Grenzen so zu verwischen, daß Nahes und Fernes, Freundliches und Feindliches ineinanderfließen und durcheinanderfluten? Was hierbei die Kunst an Breite gewinnt, verliert sie an Eigenart und Selbständigkeit. Sie mündet in die Zirkusspäße des dummen August, in die Schauerdramen des Kinematographen, in die Seiltänzereien von Akrobaten und in Raubtierdressuren waghalsiger Bestienbändiger. Aber sind denn diese Folgerungen wirklich so erschreckend? Die Wirklichkeit trennt hier nicht scharf, und so dürfen auch wir nicht ängstlich und pedantisch scheiden, denn sonst verstellen wir uns alle Wege des Verständnisses; es scheint mir gerade ein großer Vorteil unserer Kunstbestimmung, daß sie mit Hilfe der differentiellen Forschung – auf die nachdrucksvoller Wert zu legen ist – der vielseitigen Verästelung und Verzweigung der wahren Verhältnisse sich anzunähern vermag. Sollen wir nun aber tatsächlich von Kunst sprechen, wenn eine Löwenbändigerin ihr Haupt in den Rachen eines Löwen steckt, oder ein Seiltänzer auf einem ganz hoch gespannten Draht weit über den Köpfen der Zuschauer auf seiner schwankenden Bahn dahinbalanciert? Hier liegt doch auch unserer Bestimmung zufolge kein Anlaß vor, diesen Vorführungen den Ehrennamen der Kunst beizulegen. Die Gefahr im Löwenkäfig ist in keiner Weise dargestellt, sondern einfach vorhanden. Die »Kunst« beginnt erst dann, wenn durch gewandte Darstellung der Anschein dieser Gefahr erhöht und gesteigert wird; da wird der Tierbändiger zum Schauspieler. Aber die Absicht der Darstellung würde gründlich mißverstanden, wollte man die schauspielerische Leistung des Bändigers in den Vordergrund rücken. Und auch der Seiltänzer wird erst zum Künstler, wenn er durch Bewegungen und Mimik das Gefahrdrohende seiner Lage zum Ausdruck bringt, in die Erscheinung umsetzt. Ähnliches gilt – wie leicht ersichtlich – von der Architektur: es werden doch nicht ihre Ziegel und Steine dargestellt; die sind einfach da. Dargestellt wird das tektonische Leben des Materials; das ist nicht vorher da, sondern erwächst erst in und durch die Darstellung; und dargestellt wird der Wohlklang der Proportionen; ebenso wie die beabsichtigte Raumwirkung. Also, wenn wir auch ohne weiteres einräumen, daß unsere Kunstbestimmung geflissentlich nicht haarscharfe Grenzen zieht, so

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geben wir doch keineswegs zu, daß sie schlechterdings alle Grenzen verflüchtigt und aufhebt. Wir zeigten gerade, wie durch das Wesensmerkmal der Darstellung auf ein Gefühlsverhalten Schlagbäume errichtet werden. Und Gleiches ließe sich nun auch aus dem Merkmal des Wertes ableiten; denn nicht alles nur irgendwie Mögliche tritt uns in der Gestaltung entgegen, sondern eben das Wertvolle. Wie steht es nun aber um das Ästhetische? Daß das Kunstwerk nicht im Ästhetischen sich einfach auflöst, daß sein komplexer Wert – in dem verschiedene Wertschichten zusammentreffen – kein rein ästhetischer ist, steht für uns fest; aber trotzdem kann ihm doch vielleicht als eines seiner Wesensmerkmale das Ästhetische zugesprochen werden. Wie nehmen wir denn unmittelbar Kunstwerke auf? Anschauend, betrachtend, ihrer Erscheinung fühlend zugewandt. Und so scheint denn im vornhinein die Einstellung auf das Kunstwerk bereits eine ästhetische. Wir treten doch nicht heran wie an ein Erzeugnis der Wissenschaft oder an ein Geschehen des täglichen Lebens: Zuerst offenbart sich das Kunstwerk unseren fühlenden Sinnen, und das ist doch wohl ästhetisch. Es muß nun keineswegs bei diesem ästhetischen Zustande bleiben: Außerästhetisches kann durch ihn zum Durchbruch gelangen und in den Vordergrund treten, wenn wir tiefer in das Wollen des Kunstwerkes eindringen und seiner Auffassungsforderung nachgeben. Aber der Antrieb ist gleichsam ein ästhetischer. Und dies ist wohl auch der hauptsächlichste Grund, warum sich diese bekannte Bindung alles Künstlerischen auf das Ästhetische so einbürgern und festwurzeln konnte; und darin besteht nun die eigentümliche Vorzugsstellung des Ästhetischen in der Kunst, wie seine Unlösbarkeit von aller und jeder Kunst.

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Denkende Besinnung begleitet seit den Tagen der Antike die Entwicklung der Kunst. Man begnügt sich nicht mit dem Dasein der Kunstwerke, sondern forscht nach den Bedingungen ihres Werdens, nach ihrer Gesetzlichkeit und ihrem Wert. Aber all diese Untersuchungen – geboren aus Erkenntnisstreben und Ateliererfahrung, erzieherischer Absicht und kritischer Einstellung – verknüpfen sich lange nicht zu einer selbständigen und eigenen Wissenschaft. Das Jahr 1750 schenkt uns die erste Ästhetik, die ihr Verfasser Alexander Gottlieb Baumgarten mit umständlichen Entschuldigungen einleitet. Als Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis – daher der Name – wird sie begründet. Die reine, klare Erkenntnis, auf der die Wissenschaften sich aufbauen, behandelt die Logik; aber nun fehlt eine Logik der sinnlichen, anschaulichen Erkenntnis, die zwar reich und bunt, aber verworren ist. Diese Lücke soll die Ästhetik ausfüllen. Denn Schönheit ist nichts anderes als die Vollkommenheit dieser Erkenntnisform. Systembedürfnis einer intellektualistischen Philosophie überdeckt lebendiges Kunstgefühl; nur unterhalb der Wissenschaft wird der Kunst ein Plätzchen angewiesen. In unvergleichlich großartigerer Gestalt kehrt diese Auffassung noch bei Hegel wieder. Ihm zufolge erscheint in der gewöhnlichen äußeren und inneren Welt die Wesenheit wohl auch, jedoch in der Gestalt eines Chaos von Zufälligkeiten, verkümmert durch die Unmittelbarkeit des Sinnlichen und durch die Willkür in Zuständen, Begebenheiten, Charakteren usw. »Den Schein und die Täuschung dieser schlechten, vergänglichen Welt nimmt die Kunst von jenem wahrhaften Gehalt der Erscheinungen fort, und gibt ihnen eine höhere geistgeborene Wirklichkeit. Weit entfernt also bloßer Schein zu sein, in den Erscheinungen der Kunst, der gewöhnlichen Wirklichkeit gegenüber, die höhere Realität und das wahrhaftigere Dasein zuzuschreiben.« A Bildet den Inhalt der Kunst die Idee, die Form ihrer Darstellung die sinnliche, bildliche Gestaltung, ist es ihre Aufgabe, diese beiden Seiten zu freier, versöhnter Totalität zu vereinen. Die Schönheit ist nur »eine bestimmte Weise der Äußerung und Darstellung des Wahren, und steht deshalb dem begreifenden Denken durchaus nach allen Seiten hin offen.« B Die Kunst offenbart die Wahrheit sinnlicher Gestaltung. »Man kann wohl hoffen, daß die Kunst immer mehr steigen und sich vollenden werde, aber ihre Form hat auf-

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I (1842). Frankfurt a. M. 1986 (= Werke in zwanzig Bänden. Theorie Werkausgabe. Hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Bd. 13), S. 22. B Ebd., S. 127. A

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gehört, das höchste Bedürfnis des Geistes zu sein.« A Danach ist die Kunst wohl nicht unmittelbar zum Aussterben verurteilt, aber sie wird immer stärker von der Wissenschaft überschattet. Die Idee wirft die sinnliche Einkleidung ab, und in nackter Reinheit erfaßt sie die Wissenschaft. Die Wissenschaft besiegt die Kunst. Und in der Tat ist die Kunst nicht zu retten, wenn man sich entschlossen auf diesen Boden stellt und alle Folgerungen aus dieser Auffassung zieht, ohne sie durch Scheinmanöver zu verwischen. Denn die Behauptung, die Gegebenheitsweise der Kunst verbürge ihr Eigenrecht gegenüber dem Vordringen der Wissenschaft, bleibt natürlich in diesem Zusammenhang eine belanglose Ausrede, da es ja gerade an dieser Gegebenheitsweise liegt, daß wir die »Idee« nicht rein fassen. Durch sie eben unterliegt die Kunst. Nur wenn wir mit einer völlig anderen Grundanschauung an diese Frage herantreten, gelangen wir aus der Sackgasse heraus. Diese andere Richtung bahnte schon die Forschung, kurz nach Baumgartens Auftreten an. Das »Gefühl« tritt in den Vordergrund; Kant scheidet bereits streng Schönheit und Wahrheit. Und die Romantik versteift und vertieft diesen Gegensatz. Die »Einfühlung« wird entdeckt und erhält allerdings erst zu Beginn unseres Jahrhunderts durch den genialen Theodor Lipps ihre sachliche Begründung.B Die Ästhetik formt sich zu einer Wissenschaft des Schönen in Natur und Kunst; und dieses Schöne soll sich uns irgendwie im Fühlen offenbaren. Das Erlebnis des ästhetischen Genusses wird nach allen Seiten hin zergliedert, seitdem einmal Gustav Theodor Fechner der Ästhetik »von oben«, die von Begriffen ausging, die Ästhetik »von unten« gegenübergestellt hatte, die auf den Erfahrungen der Psychologie fußt.C Vermag aber eine Wissenschaft vom Schönen selbst bei strengster Beobachtung aller Bewußtseinsschattierungen der Gesamttatsache der Kunst gerecht zu werden? Die große Welle des Naturalismus und lmpressionismus schwemmte einseitige Schönheitsanbetung fort. Man konnte diese Kunst ablehnen oder den Begriff des Schönen zerdehnen. Man versuchte auch dem Schonen andere höchste ästhetische Ausprägungen an die Seite zu setzen. So verschob sich das Bild der Ästhetik. Eine Fülle neuer Gesichtspunkte strömte in sie ein; sie wurde breiter und reicher, weniger dogmatisch und viel beweglicher. Das dreibändige »System der Ästhetik« von Johannes Volkelt D bietet in seiner meisterlichen Weisheit und lebendigen Aufgeschlossenheit das hervorragendste Beispiel. Eine ähnliche Bewegung zeigen auch die historischen Kunstdisziplinen, vornehmlich die methodisch fortgeschrittenste von ihnen: die Kunstgeschichte. Es erschien als unmöglich, weiter mit einem Ideal des Schönen zu arbeiten, dem sich die Kunst in ihrer Entwicklung bald annähern soll, um in anderen Zeiten Ebd., S. 142. Vgl. Theodor Lipps: Ästhetik. Psychologie des Schönen und der Kunst. 2 Bde. Hamburg / Leipzig 1903–1906. C Vgl. Gustav Theodor Fechner: Vorschule der Aesthetik. 2 Bde. Leipzig 1876, Bd. 1, S. 1. D Vgl. Johannes Volkelt: System der Ästhetik. 3 Bde. München 1905–1914. A B

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wieder von ihm abzufallen. Epochen der Blüte – die Wellengipfel – wechselten danach mit solchen des Verfalls – den Wellentälern. Jenen Höhen wandte allgemeine Aufmerksamkeit sich zu, die anderen Perioden deckte Dunkel der Nacht. Je mächtiger neues Kunstmaterial zufloß, umso peinlicher mußte die Enge einer solchen harten und glatten Formel empfunden werden. Auch hier war es wieder lebendiger Kunstbetrieb, der die Augen für Kunst der Vergangenheit öffnete, deren Würdigung bisher Vorurteile verwehrten. Aber diese Kunst fügte sich nicht dem üblichen Schönheitskanon. Langsam kristallisierte sich die Lehre vom »Kunstwollen« – be sonders vertreten durch Alois Riegl A und Franz Wickhoff B – die den Ablauf der Kunst nicht durch eine einzige Zielsetzung zu deuten unternimmt, deren Erfüllung von dem Maße des jeweiligen Könnens abhängt, sondern durch verschiedene Absichten erklärt. Verschiedene Zeiten »wollen« Verschiedenes, und diese Kunstweisen müssen aus ihren eigenen Bedingungen begriffen werden. Es zeigte sich, daß die sogenannten Verfallsepochen im Zeichen eines anders gerichteten Wollens standen, das an sich ebenso berechtigt war wie jenes der anerkannten Blüteperioden. Diese Anschauungen sind namentlich durch Worringers Schriften geradezu populär geworden.C Er will die Geltung der Ästhetik nur auf die klassische Kunst beschränken und die nicht klassisch orientierte von diesem ihr unangemessenen Zwange befreien. Auf die mannigfachen Ausprägungen dieser Lehren brauchen wir hier nicht einzugehen; es ist an dieser Stelle gleichgültig, ob das Wollen in der geistigen Kultur verankert wird, oder ob man es durch logisch immanente Entwicklung, durch Besonderheiten des Sehprozesses, durch einen Kampf zweier polar entgegengesetzter Tendenzen zu klären versucht. Denn alle diese Fragestellungen wachsen doch nur auf einem Boden, der bereits die Alleinherrschaft der Ästhetik nicht anerkennt; und das ist der entscheidende Punkt. Wieder an einer anderen Stelle trennen sich die Wege moderner kunstgeschichtlicher Arbeit und einer psychologisch fundierten Ästhetik. Nicht das Erlebnis interessiert in erster Linie die Kunstwissenschaft, sondern das Kunstwerk. Das Erlebnis ist nur ein Weg, das Kunstwerk zu erfassen. Der Subjektivität des Bewußtseins wird die Objektivität künstlerischer Gegenständlichkeit gegenübergestellt[.] Ihre Notwendigkeit gilt es aufzuhellen. Das Formproblem tritt beherrschend in den

A Vgl. bes. Alois Riegl: Die spätrömische Kunst-Industrie nach den Funden in Österreich-Ungarn im Zusammenhange mit der Gesamtentwicklung der Bildenden Künste bei den Mittelmeervölkern. Wien 1901; ders.: »Das holländische Gruppenporträt«. In: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses. 23 (1902), S. 71–278. B Vgl. Die Wiener Genesis. Hrsg. von Wilhelm von Hartel und Franz Wickhoff. 2 Bde. Wien 1894–1895 (= Beilagen zum Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses. 15/16). C Vgl. Wilhelm Worringer: Abstraktion und Einfühlung. München 1908; ders.: Formprobleme der Gotik. München 1911.

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Vordergrund. Heinrich Wölfflin A und Arnold von Salis B sind die Meister auf dem Gebiete der Formanalyse. Und diesen Zug, der von der Psychologie wegführt oder mindestens auf Psychologie sich nicht beschränkt, macht die Ästhetik mit. Schon Volkelt sträubt sich dagegen, Ästhetik in Psychologie aufzulösen C, und erkennt deutlich, daß eine bloße Tatsachenwissenschaft dem Ästhetischen nicht genüge. Das Ästhetische ist nicht nur Sein, sondern auch Wert. Die Werttheorie meldet sich an; von Jonas Cohn in seiner Ästhetik bereits 1901 scharf verfochten.D In der Philosophie entbrennt der Kampf gegen den Psychologismus. Husserls Phänomenologie und der Neukantianismus eines Cohen und Natorp sind die Wegweiser. Man will nicht bei Tatsachen stehen bleiben, sondern ihren Rechtsgrund aufdecken. Nicht das empirisch Gegebene, sondern das wesensmäßig Notwendige wird Ziel, nicht Erfahrung, sondern a-priorische Voraussetzung der Erfahrung. Die philosophische Systematik verlangt nach ihrem Recht. Für viele mag dies rückschrittlich eine Zuwendung zur alten spekulativen Ästhetik in neuer Aufmachung bedeuten. Aus der Sterilität dieser Abkapselung öffnet sich keine Pforte in die Zukunft. Die Problematik der Lage ermöglicht aber die große Seinsfrage an die Ästhetik zu richten: ist diese berufen wirklich die Kunstphilosophie in sich aufzunehmen, oder wie stellt sich grundsätzlich das Verhältnis des Ästhetischen zum Künstlerischen dar? Über die Antwort ist mit dieser Frage nichts entschieden, aber die Berechtigung der Frage kann nicht bezweifelt werden. Der naive Dogmatismus, der das Ästhetische in die zwei Reiche der Natur und Kunst zerlegt, ist erschüttert; viele hoffen, ihn zurechtzuflicken; aber diese Notarbeit bleibt oberflächlich, solange nicht die Beziehung des Ästhetischen und Künstlerischen durch prinzipielle Untersuchung gesichert ist. Dazu bedarf es jedoch einer Besinnung auf das Wesen der Kunst. Sie erzeugt die allgemeine Kunstwissenschaft. Konrad Fiedler stellt die entscheidende Frage, ob es eine zulässige Voraussetzung sei, daß die Kunst ihrem ganzen Umfange nach dem Forschungsgebiete der Ästhetik angehöre, ob sie keine andere wesentliche Bedeutung habe, als ihr diese beilegen, kein anderes Ziel, als ihr diese vorschreiben könne. »In der Tat sehen wir diese Voraussetzung häufig als eines Beweises nicht bedürftig von vornherein angenommen. Wenn wir aber hier und da uns davon überzeugen müssen, daß man von dem Standpunkte der Ästhetik aus nur eines Teiles von dem vollen Gehalte der Kunstwerke habhaft werden kann, daß die künstlerische Tätigkeit Erscheinungen bietet, die der Unterordnung unter ästhetische Gesichtspunkte widerstreben, daß A Vgl. bes. Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst. München 1915. B Vgl. Arnold von Salis: De Doriensium ludorum in comoedia Attica vestigiis. Basel 1905; ders.: Der Altar von Pergamon. Ein Beitrag zur Erklärung des hellenistischen Barockstils in Kleinasien. Berlin 1912. C Vgl. bes. Johannes Volkelt: System der Ästhetik. 3 Bde. München 1905–1914; »Objektive Ästhetik«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 12 (1917), S. 385–424; ders.: Das ästhetische Bewusstsein. Prinzipienfragen der Ästhetik. München 1920, S. 1–43. D Vgl. Jonas Cohn: Allgemeine Ästhetik. Leipzig 1901.

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die Anwendung ästhetischer Prinzipien zu positiven Urteilen über Kunstwerke führt, die den Werken selbst gegenüber der Überzeugungskraft entbehren; wenn wir sehen, daß infolge von alledem die Ästhetik, um der Kunst ihrem ganzen Umfange nach gerecht werden zu können, sich selbst nicht selten Zwang antut oder daß der Kunst von ihr willkürlich beengende Schranken aufgezwungen werden: so konnten wir uns wohl veranlaßt fühlen, vor allem die Annahme, daß Ästhetik und Kunst ihrem vollen Wesen nach in einem innerlich notwendigen Verhältnis zueinander stehen, einer kritischen Untersuchung zu unterwerfen.« A Es geschieht häufig genug, daß der Mensch, ehe er es versucht, sich auf den künstlerischen Standpunkt zu stellen, der Kunst gegenüber einen anderen Standpunkt, mag dies ein religiöser, moralischer, politischer oder irgendein anderer sein, einnimmt und von diesem aus zusieht, welche Wirkungen die menschliche Natur nach diesen Richtungen hin von den Kunstwerken empfängt. Hier werden die Kunstwerke nicht als künstlerisch, sondern als anderweitig wirkend aufgefaßt, und so lehrreich diese Art der Untersuchung sein mag, sie liegt doch gänzlich außerhalb des Gebietes eigentlicher Kunstbetrachtung. Die Kunst ist auf keinem anderen Wege zu finden als auf ihrem eigenen. Das Verlangen, der Anschauung bei der geistigen Erziehung des Menschen eine größere Berücksichtigung zuteil werden zu lassen, ist dann gerecht fertigt, wenn demselben die Einsicht zugrunde liegt, daß die Anschauung für den Menschen eine selbständige, von aller Abstraktion unabhängige Bedeutung habe, daß das Vermögen der Anschauung, so gut wie das abstrakte Denkvermögen ein Recht habe, zu einem geregelten und bewußten Gebrauch ausgebildet zu werden, daß der Mensch zu einer geistigen Herrschaft über die Welt nicht nur im Begriff, sondern auch in der Anschauung zu gelangen imstande ist. So beruht Ursprung und Dasein der Kunst auf einem unmittelbaren Ergreifen der Welt durch eine eigentümliche Kraft des menschlichen Geistes: die Anschauung. Ihre Bedeutung ist keine andere als eine bestimmte Form, in der der Mensch die Welt sich zum Bewußtsein zu bringen nicht nur bestrebt, sondern recht eigentlich durch seine Natur gezwungen ist. So ist die Stellung des Künstlers zur Welt keine beliebig gewählte, sondern eine natürlich gegebene; und das Ergebnis, zu dem er gelangt, kein untergeordnetes und entbehrliches, sondern ein höchstes und dem menschlichen Geiste, wenn er sich nicht selbst verstümmeln will, vollkommen unersetzliches. Was die Kunst schafft, ist nicht eine zweite Welt neben einer anderen, die ohne sie existiert, sie bringt vielmehr überhaupt erst die Welt durch und für das künstlerische Bewußtsein hervor; sie steigt vom Form- und Gestaltlosen zur Form und Gestalt empor, und auf diesem Wege liegt ihre ganze geistige Bedeutung. Wäre die menschliche Natur nicht mit der künstlerischen Begabung ausgestattet worden, die Welt würde nach einer großen unendlichen Seite hin dem Menschen verloren sein und bleiben. So ist die Kunst genau so gut Konrad Fiedler: »Über die Beurteilung von Werken der bildenden Kunst« (1876). In: Konrad Fiedlers Schriften über Kunst. Hrsg. von Hermann Konnerth. Bd. 1. München 1913, S. 1–79, hier S. 11 f. A

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Forschung wie die Wissenschaft, und die Wissenschaft ist so gut Gestaltung wie die Kunst; nur die Gestaltungsreiche beider sind verschieden. Beide stellen Mittel dar, durch die der Mensch allererst die Wirklichkeit gewinnt: die des Begriffes in der Wissenschaft und die der Anschauung in der Kunst. In ihr verwirklicht sich die Sichtbarkeit der Dinge in Gestalt reiner Formgebilde. Nur dadurch kann der Künstler von der Unverfälschtheit und Stärke seiner Begabung Zeugnis ablegen, daß er die Rücksichten auf allerlei Gehalt und Inhalt, die seine bildende Tätigkeit beeinflussen könnten, zurückdrängt und sich ganz allein von dem Streben nach Entwicklung des Gesichtsbildes bestimmen läßt. Wenn man sonst im Kunstwerk dem, was sich ausschließlich dem Gesichtssinne darbietet, eine untergeordnete Rolle zuzuteilen pflegt im Verhältnis zu dem Empfindungs- und Gedankengehalt, als dessen Träger das sichtbare Gebilde betrachtet wird, so müssen wir dieses Verhältnis umkehren und alle Wichtigkeit, die einem Kunstwerk als solchem zugeschrieben werden kann, in seine Sichtbarkeit verlegen. Handelt es sich um Kunst im höchsten Sinne, so darf an ihrem Dasein keiner von den Bestandteilen des geistigen, sittlichen, ästhetischen Lebens, an die man den Fortschritt, die Veredelung, die Vervollkommnung der menschlichen Natur gebunden erachtet, irgendein Interesse haben. Erst wenn wir zu dieser Unbefangenheit der Kunst gegenüber gelangt sind, können wir ihr etwas verdanken, was freilich etwas ganz anderes ist, als die Förderung unserer wissenden, wollenden, ästhetisch empfindenden Natur: nämlich die Klarheit des Wirklichkeitsbewußtseins, in der nichts anderes mehr lebt als die an keine Zeit gebundene, keinem Zusammenhange des Geschehens unterworfene Gewißheit des anschaulichen, sichtbaren Seins. Jede echte Kunstübung wird, welchem Inhalt sie auch zugute kommen mag, immer nur dieses ihr eigene Ziel verfolgen. So kühn und neuartig diese Prinzipalauffassung Fiedlers berühren mag, sie tritt doch keineswegs unvermittelt auf. Der Gedanke, daß die Kunst der »sinnlichen Erkenntnis« diene, begleitet die Kunstwissenschaft von ihren ersten Anfängen her. Die Folgerichtigkeit seiner Systementwicklung verdankt aber Fiedler zweifellos der intensiven Beschäftigung mit Kants Schriften; ihrer Geisteshaltung sind seine Probleme entwachsen: was ermöglicht die Kunst, und worauf gründet sich ihr Eigenrecht? Warum aber gerade Fiedler dazu kam, die Synthese der älteren Lehre von der »sinnlichen Erkenntnis« mit Kantschen Hauptgedanken zu vollziehen und das Problem der Gestaltung für die Sichtbarkeit so schroff und energisch in den Brennpunkt seiner Betrachtungen einzustellen, kann wohl nur aus seiner persönlichen Auffassung der Kunst erklärt werden, die am besten durch die innige Freundschaft zu Hans von Marées erhellt, dessen Formung sich durchaus in den Bahnen bewegt, die Fiedler als die eigentlich künstlerischen ansieht. Noch deutlicher wird diese Tatsache durch A. von Hildebrands berühmt gewordene Schrift vom »Problem der Form in der bildenden Kunst« A, die völlig diesem Gedankenkreise angehört. Und ebenso ist es kein Zufall, daß Italien der Boden war, dem jene Lehre und diese Kunst entsprossen. A

Adolf von Hildebrand: Das Problem der Form in der bildenden Kunst. Straßburg 1893.

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Will man mit Fiedler alles, was an sinnlichem Reiz, an Stimmung, Gefühlsgehalt, Spannung und Beruhigung usw. in einem Kunstwerke liegt, radikal abtrennen, als unwesentlich, als nicht eigentlich zur Sache gehörig, so wird oft die Gestaltung völlig unbegreiflich, ihr Sinn verdunkelt; unergründlich, warum das Kunstwerk sich mit so unnötigen und störenden Beigaben belädt. Wird denn nicht häufig gerade der kunsterzeugte Zusammenhang des Sichtbaren in dieser bestimmten Gegebenheitsweise lediglich im Hinblick auf jene Gefühlsbedeutung usw. verständlich? Ein kaltes, frostiges Gerüst, nicht das Kunstwerk in seiner Reinheit bliebe, falls wir jenes Abzugsverfahren anwenden. Es ist ein Irrtum, immer vom Kunstwerk etwas abheben zu wollen, um die wahre Kunst herauszudestillieren. Ihre organische Einheit wird verstümmelt, wenn man irgend einen Faktor antastet. Die Einsicht in die Vielseitigkeit dieser Faktoren lenkt die nächsten Schritte systematischer Kunstwissenschaft. Hugo Spitzer macht darauf aufmerksam, daß man bei der bloßen Unterwerfung des Künstlerischen unter das Ästhetische gerade denjenigen Dichtern das »Prädikat des wahren Künstlers« verweigern müßte, denen allgemein der erste Rang eingeräumt wird, weil sie uns nicht bloß Genuß schenkten, sondern zugleich »geistige und sittliche Erzieher des Volkes« waren.A »Und das Schicksal dieser Dichter teilten unausbleiblich alle die Kompositionen, deren Melodien und Rhythmen den Mut des Kriegers im Felde befeuern oder die Seele des Andächtigen zu . . . religiösen Enthusiasmus emporheben. Die Kunst der Alten, die herrliche antike Plastik, . . . müßte wegen der innigen Verbindung mit religiösen oder politischen Motiven vielleicht in ihrer Gesamtheit aus dem Buche des rein und vollkommen Künstlerischen gestrichen werden.« B Spitzer sucht nachzuweisen, daß zum Wesen der Kunst wichtige Wirkungen gehören, die außerhalb des Ästhetischen stehen und daher von der Ästhetik aus nicht erfaßt werden können. Einen Einwand läßt Spitzer allerdings unberücksichtigt: vielleicht können alle jene Werke ästhetisch aufgenommen werden und sind darum Kunstwerke; und ihr anderer Wertertrag mag eine willkommene Zugabe sein, ohne den Kunstcharakter zu begründen. Wenn es sich aber um so einschneidend bedeutungsvolle »Zugaben« handelt, dürfen sie zweifellos nicht vernachlässigt werden; und außerdem sind doch diese »Zugaben« von den Werken beabsichtigte, geforderte Gaben. Und darauf ruht der Nachdruck: jene Wirkungen gehören zum Wesen dieser Werke, und ihre Gestaltungsprobleme sind mit auf sie eingestellt. In Fortsetzung dieser Richtung bewegen sich die Forschungen von Richard Hamann. Er hält es für eine Lebensfrage der Ästhetik, »das Wesen des Ästhetischen vom Wesen der Kunst zu trennen, und erst, wenn das Wesen des ästhetischen Verhaltens in seiner Selbständigkeit erkannt ist, zu begreifen, welche besonders engen Beziehungen zwischen Ästhetik und Kunst bestehen, ohne daß das Wesen der einen in dem der anderen aufginge.« C Hugo Spitzer: Hermann Hettners kunstphilosophische Anfänge und Literarästhetik. Untersuchungen zur Theorie und Geschichte der Ästhetik. Bd. 1. Graz 1903, S. 179. B Ebd., S. 179 f. C Richard Hamann: Ästhetik. Leipzig 1911, S. 1. (In dieser Ausgabe S. 272.) A

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Denn daß es tatsächlich sich nicht so verhält, lehrt nicht bloß die ästhetische Freude an der Natur, sondern auch die Einsicht in das Wesen der illustrativen Kunst. Sie ist entweder Kultus oder Demonstration, je nachdem sie dem ethischen oder dem theoretischen Bedürfnis des Menschen entgegenkommt; ihr gegenüber versagt der rein ästhetische Gesichtspunkt. Denen, die an einem Heiligenbilde herum rechnen, um die Schönheit der Farbe und Komposition mit allen Mitteln der Wortkunst zu preisen, darf man vorwerfen, »daß sie damit alles Ästhetische sehr gut getroffen hätten, nur nicht, daß hier eine Madonna, ein Heiliger verehrt werden will«.A Zu einem gelungenen Porträt gehören nicht nur ästhetische Qualitäten, sondern »Ähnlichkeit« B, also der Tatbestand, daß die Wesenheit eines Individuums anschauliche Notwendigkeit wird. Ästhetisch können zwei Bilder vollkommen gleichwertig sein, und doch vollstreckt vielleicht das eine die Gestaltungsaufgabe des Porträts in restlos geglückter Weise, während das andere darin gänzlich versagt. Die Folgerungen aus all diesen Sachverhalten zieht Max Dessoir. Er geht davon aus, daß unsere bewundernde und liebende Hingabe an Naturerscheinungen sämtliche Merkmale des ästhetischen Verhaltens an sich trägt und dennoch von der Kunst nicht berührt zu sein braucht. Ja noch mehr! Auf allen geistigen und sozialen Gebieten lebt sich ein Teil der schaffenden Kraft in ästhetischer Formung aus; diese Erzeugnisse, die keine Kunstwerke sind, werden ästhetisch aufgenommen. Damit ist nicht behauptet, daß der Kreis der Kunst ein enger Ausschnitt des Ästhetischen sei. Im Gegenteil: das ästhetische Moment erschöpft nicht den Inhalt und Zweck jenes Gebietes menschlicher Produktion, das wir zusammenfassend »die Kunst« nennen. »Jedes wahrhafte Kunstwerk ist nach Motiven und Wirkungen außerordentlich zusammengesetzt, es entspringt nicht bloß aus ästhetischer Spielseligkeit und drängt nicht nur auf ästhetische Lust, geschweige denn auf reinen Schönheitsertrag. Die Bedürfnisse und Kräfte, in denen die Kunst ihr Dasein hat, sind keineswegs mit dem ruhigen Wohlgefallen erschöpft, das nach der Überlieferung den ästhetischen Eindruck, sowie den ästhetischen Gegenstand kennzeichnet. In Wahrheit haben die Künste im geistigen und gesellschaftlichen Leben eine Funktion, durch die sie mit unserem gesamten Wissen und Wollen verbunden sind. Es ist daher die Pflicht einer allgemeinen Kunstwissenschaft, Tatsache der Kunst in allen ihren Bezügen gerecht zu werden. Die Ästhetik vermag diese Aufgabe nicht zu lösen, wenn anders sie einen bestimmten, in sich geschlossenen und deutlich abgrenzbaren Inhalt besitzen soll. Wir dürfen nicht mehr die Unterschiede der beiden Disziplinen wegtäuschen, sondern müssen sie durch immer feinere Differenzierung so scharf herausheben, daß die wirklich vorhandenen Zusammenhänge sichtbar werden.« C Auf dem so vorbereiteten Boden wagte ich es, eine »Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft« zu vollziehen, deren erster Band im Verlage von Ferdinand Enke Ebd., S. 3. (In dieser Ausgabe S. 273.) Vgl. bes. ebd., S. 5. (In dieser Ausgabe S. 275.) C Max Dessoir: Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. Stuttgart 1906, S. 4 f. (In dieser Ausgabe S. 6.) A B

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zu Stuttgart 1914 erschien, und deren zweiter abschließender Teil gleichzeitig mit diesem Aufsatz erscheinen dürfte.A Den Inhalt dieser Wissenschaft wollen wir hier nicht durchsprechen, denn nur die sie erzeugende Problematik beschäftigte uns in den vorliegenden Betrachtungen. Wir müssen von einer Wesensuntersuchung der Kunst und des Kunstwerks ausgehen und nicht diese im vorhinein irgendwie dem Ästhetischen eingliedern. Nur auf jenem methodischen Wege dringen wir zu den unerläßlichen Voraussetzungen allen Kunstseins und der autonomen Gesetzlichkeit der Kunst. Von diesem Punkte aus erschließen sich die Fragen nach Ursprung und Entwicklung der Kunst, nach dem Schaffen des Künstlers, nach der Stellung der Kunst im Gesamtsystem der Kultur. Diese Fragenkreise werden heillos verwirrt, spannt man sie unkritisch in die ästhetische Begriffswelt ein. Will man Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft in ihrem Verhältnis zueinander begreifen, kann man dies vielleicht am besten, wenn man sich den Unterschied der Metaphysik zur allgemeinen Religionswissenschaft klar macht. Metaphysik als Wissenschaft erschöpft gewiß nicht das Wesen der Religion, obwohl jede Religion auch metaphysisch ist. Aber die Metaphysik prüft eben nur diese metaphysische Seite der Religion, und damit kann sie dem Wesen und dem Wert der Religion sicherlich nicht voll gerecht werden. Darum führt auch die rein metaphysisch-wissenschaftliche Betrachtung der Religion häufig zu abschätzenden Urteilen und zu einer hilflosen Verständnislosigkeit gegenüber dem eigentlichen Sinn einer Religion und eines religiösen Lebens. Es hat einen guten Zweck, zu forschen, welchen metaphysischen Gehalt eine Religion birgt; welchen Stellenwert sie überhaupt dem Metaphysi schen zubilligt, welche prinzipielle Möglichkeiten sich hier erschließen usw. Aber der Zugang zu all diesen Untersuchungen wird einfach vernagelt, wenn man die Religion lediglich der Metaphysik zuordnet. Ganz das nämliche gilt von der Beziehung der allgemeinen Kunstwissenschaft zur Ästhetik. So hoffen wir trotz oder wegen der philosophisch-systematischen Fundierung der allgemeinen Kunstwissenschaft eine Lebensnähe zu gewinnen, die zu erreichen der reinen Ästhetik niemals vergönnt war. Denn jetzt treten wir nicht mit außerkünstlerischen Begriffen an die Kunst heran, sondern verfolgen diese von den konstitutiven Bedingungen ihres Seins aus bis in die feinsten Verzweigungen ihrer Schicksale und erblicken in dieser Bewegtheit der Kunst ihre Gesetzlichkeit. Kunsterziehung und Kunstpolitik werden heute meistens dilettantisch betrieben. Erfahrung und Takt sind die einzigen Berater. Ohne das Erreichte in unserer Wissenschaft überschätzen zu wollen, glaube ich doch sagen zu dürfen, daß sie berufen scheint, hier das geistige Rüstzeug zu liefern, Plan und Ziel. Denn Praxis ohne den Hintergrund der Theorie kommt über Zufallserfolge letzthin nicht heraus. Und kann die Wissenschaft nichts anderes, eines vermag sie gewiß: die Bewußtheit um die Schwierigkeit der Probleme zu schaffen und damit das Verantwortungsgefühl zu heben.

A

Vgl. Emil Utitz: Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft. Bd. 2. Stuttgart 1920.

Das Problem einer allgemeinen Kunstwissenschaft () 1 Kants ästhetische Anschauungen begegnen gemeinhin zwei Einwänden: man wirft ihnen Formalismus vor und bemängelt, daß Kants Begriff des rein Ästhetischen sich nicht auf die Gesamtheit der Kunst ausdehnen lasse. Was nun den ästhetischen Formalismus anlangt, ist er Gegenstand so zahlreicher Mißverständnisse geworden, daß schon eine Schlichte Sinnklärung durch Abstreifung aller Vieldeutigkeiten eine sehr angehende Untersuchung verlangen würde, in die wir hier nicht eintreten können. Schwerer wiegt – in diesem Zusammenhange – das zweite Bedenken. Aber Kant selbst will ja gar nicht die Kunst als solche der »reinen« Schönheit zuordnen, sondern prägt den seltsamen Begriff der »anhängenden« Schönheit. Und der »ruhigen« Kontemplation stellt er dort, wo er von dem Erhabenen spricht, die »bewegte« Kontemplation gegenüber. Das Erhabene selbst erscheint gleichsam wie ein Bürger zweier Welten: es hat Anteil an dem Ästhetischen, aber ebenso an dem Ethischen. In dieser eigenartigen Problematik tritt uns eigentlich die ganze Kunst entgegen, soweit sie die Grenzen der reinen Schönheit überschreitet. Außerästhetisches fließt in sie ein, bedingt ihre Gestaltung, und zwar nicht zufällig, sondern wesensgemäß. Es gehört zu den wunderlichsten wissenschaftlichen Schicksalen, daß diese entscheidende Frage – die ich hier schärfer formuliert habe, als sie bei Kant vorliegt, obgleich sie deutlich genug da auffindbar ist – zunächst und auf lange Zeit hinaus nicht aufgegriffen wurde. Man wollte und konnte sie nicht sehen, weil sie überdeckt war von einem anderen Problem, dem ein geradezu leidenschaftliches Interesse entgegenschlug: durch die Autonomie des Ästhetischen und seines Ideals – des Schönen – wähnte man die Autonomie der Kunst gesichert. Wie sehr etwa auch Schiller mit seiner Scheidung von naiver und sentimentalischer Kunst unsere Frage streift und kreuzt, wie sehr er auch in seinem Denken und Dichten von außerästhetischen Mächten beherrscht wird, keinen anderen Rat erteilt er dem Künstler, als einzig und allein dem Gesetze der Schönheit zu folgen. Es war ja noch nicht allzu lange her, daß A G. Baumgarten – gerade hier in Halle – die Ästhetik aus der Taufe hob, mit ängstlichen und umständlichen Entschuldigungen ob des Wagnisses, eine derartige Einzelwissenschaft zu begründen. Bescheiden weist er ihr ein Plätzchen nicht neben, nein unter der Logik an. Die begriffliche Erkenntnis thront über der sinnlichen, von der ja die Ästhetik bekanntlich ihren Namen empfing. Und wenn wir uns daran erinnern, daß noch ein Hegel das sinnliche Scheinen der Idee in der Kunst schließlich überflügeln läßt durch das nackte, angemessene Erfassen der Idee in der Wissenschaft, so daß die Kunst dann aufhört – um mit seinen 1

Vortrag, gehalten auf der Pfingsttagung der Kant-Gesellschaft zu Halle a.d. S. 1922.

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Worten zu reden – eine der höchsten Offenbarungen des Geistes zu sein, ihr also nur eine sozusagen provisorische Geltung eingeräumt wird; und wenn wir weiter daran denken, wie oft die Kunst vom Ethischen oder Metaphysischen geradezu terrorisiert wurde, begreifen wir wohl, daß die Autonomie der Kunst durch das Ästhetische zu jenem fast geheiligten Banner wurde, an dem festzuhalten und das zu verteidigen dringlichste Notwendigkeit erschien. Von jeglichem in diese Richtung geführten Angriff befürchtete man Bedrohung der künstlerischen Freiheit, Unterhöhlung ihrer Souveränität. Diese Überzeugung ist allmählich dogmatisch erstarrt; und noch heute erscheint sie den meisten so selbstverständlich, daß sie die ursprüngliche Kantsche Problematik entweder völlig übersehen oder verwischen. Die übeln, ja verheerenden Folgen eines solchen versteiften Dogmatismus konnten nicht ausbleiben, denn die Orientierung geschah nicht an der Wirklichkeit der Kunst, sondern an Begriffen, die an die Kunst herangetragen wurden. Und es kling fast paradox: die Autonomie der Kunst, um die man so besorgt war, sie gab man im tieferen Sinne des Wortes preis. Nur so wird es begreiflich, daß die Ästhetik sich immer mehr vom Kunstleben und von den historischen Kunstdisziplinen entfernte, bis in eine luftdünne Isolierung hinein. Ward das Schöne zum eigentlichen Herzen der Kunst, zu ihrer Legitimation, dann durfte der Blick mit besonderem Entzücken bei den Kunstzeitaltern verweilen, die eben jenem Ideale huldigten. Die gesamte Kunstentwicklung wird begriffen unter dem Bilde einer Wellenbewegung, die zu Höhen emporführt, um hierauf in Täler niederzugleiten. Der Versuch, diese sogenannten Verfallsepochen zu rehabilitieren, mußte in einen Kampf gegen die Ästhetik einmünden, denn sie war es ja, die mit ihren harten, strengen Formeln den Zugang zu sperren drohte. Nun aber zeigte es sich, daß nicht die ganze Kunst unter dem Zeichen der Schönheit steht, daß sie auch anderes will und anstrebt, und von diesen Zielsetzungen her das Gesetz ihrer Gestaltung empfängt, oder wenigstens mitempfängt. Die Ästhetik konnte entweder in verneinender Abwehr beharren und jene Ausdehnungen als Ausartungen brandmarken, oder sich nach dem Gegebenen richten und den Begriff des Schönen beziehungsweise den des rein Ästhetischen der neuen Lage anpassen, d. h. ihn weiter und weiter spannen. Die naturalistische Kunstströmung drängte in gleiche Richtung. Ob nun die Ästhetik sie anerkannte oder ablehnte, mit dem Schönen war ihr sicherlich nicht beizukommen. Man müßte denn schon dem Schönen durch taschenspielerische Findigkeit eine Wendung geben, die seinen ursprünglichen Sinngehalt verneinte. Und ferner: alle Untersuchungen über den Ursprung der Kunst und über primitive Kunst zeigten mit jeglichem Zweifel entrückter Deutlichkeit eine solche Verwachsenheit der fraglichen Kunstgebilde mit außerästhetischen Faktoren, daß die übliche Ästhetik sich als völlig unfähig erwies, jenen Arbeiten methodischen Halt und heuristische Hilfe zu leihen. Wenn dieses krasse Unvermögen nicht noch schärfer, noch – man wäre versucht zu sagen – grotesker zutage trat, ist es lediglich dem Umstände zu danken, daß die vorwiegend psychologisch eingestellte Ästhetik sich wenig mit diesen Fragen beschäftigte. Das Hauptfeld ihrer – in manchem Betracht gewiß sehr verdienstvollen

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und fruchtbaren – Tätigkeit war ja eine Analyse des ästhetischen und künstlerischen Genießens. Was würde man aber zu einer Wissenschaftstheorie sagen, die, statt die logische Struktur des Erkennens und seiner Voraussetzungen zu prüfen, sich bloß darum bekümmerte, was ich in mir erlebe, wenn ich mich erkennend verhalte? Wohl gelange ich auf diesem Wege zu interessanten Feststellungen über individuelle und typische seelische Differenzen, zu überraschenden Einblicken in seelische Subtilitäten, aber nicht zu der Entscheidung darüber, wie das Erleben beschaffen sein muß, falls es wahrhaft den fraglichen Sachverhalten entsprechen soll. Die Überbetonung der subjektiven und subjektivistischen Seite verdunkelte jene Objektivität. Und gerade mit ihr beschäftigen sich in erster Linie alle historischen Kunstdisziplinen. (Nicht die Kunsterlebnisse stehen für sie im Vordergrund, sondern eben die Kunstwerke und die Kunst.) Darum waren sie – von der Ästhetik im Stich gelassen – meist gezwungen, sich eine eigene Kunstlehre zurecht zu zimmern, zwar gesättigt von Erfahrung, aber doch in der Mehrzahl der Fälle einseitig und philosophisch unbefriedigend. Ich will hier nicht weiter erörtern, wie alles kam, und warum alles so kam; denn eine so flüchtige Skizzierung der historischen Sach verhalte würde niemals der stattlichen Arbeit dankbar gerecht werden, die tatsächlich geleistet ward, trotz der methodischen und prinzipiellen Unklarheit. Aber mit nachdrücklicher Entschiedenheit muß ich betonen, daß es sich nunmehr nicht etwa um ein neues Wort handeln kann, um die alte, ein wenig ausgeblaßte und verschlissene Flagge zu decken, sondern um eine neue Problematik, nämlich um jene, die Kant erschlossen hat mit der arg bekrittelten Scheidung reiner und anhängender Schönheit, ruhiger und bewegter Kontemplation. Und wir müssen uns vor Wortstreitigkeiten hüten, die gerade den Kampf um eine allgemeine Kunstwissenschaft vergiftet und zugleich trivialisiert haben. Wie sich schließlich die terminologischen Fragen befrieden werden, bleibe hier ganz außer Betracht. Es fällt mir auch gar nicht ein, irgendwie und zumal vorgängig das Schöne und die Kunst auseinanderzureißen; aber ich behaupte, es sei unkritischer Dogmatismus, hier ungeprüft eine die Kunst verpflichtende Beziehung als Voraussetzung anzunehmen. Die übliche – fast volkstümlich gewordene – Lehre kennt ein Schönes, das sich einerseits in den Gebilden der Natur, anderseits in denen der Kunst offenbaren soll. Kunst wird demnach zur geflissentlichen Erzeugung des Schönen. Mag man dabei das Schöne noch so weitherzig fassen und an dem psychologistisch schillernden »geflissentlich« sich nicht stoßen, es bleiben unüberbrückbare Schwierigkeiten. Denken wir an ein schönes Menschenantlitz mit regelmäßigen, klaren Zügen, und stellen wir uns jetzt das gleiche Menschenantlitz gemalt vor. Damit wird das Naturschöne einfach übernommen, oder vielleicht von störenden Zutaten gereinigt. Das ist ungefähr jene grob materialistische und zugleich metaphysische Anschauung, die etwa auch in der Wissenschaft bloß eine Widerspiegelung der Welt erblickt. Diese ganz primitive und unhaltbare Ansicht hat sich aber – wenn auch versteckt – in der Ästhetik noch erhalten und lugt immer wieder an die Oberfläche, Verwirrung stiftend. Aber häufig sah man sich doch zu einer Korrektur

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veranlaßt: die Kunst soll danach nicht die Darstellung schöner Sachverhalte sein, sondern die schöne Darstellung von Sachverhalten. Gewiß bedeutet dies einen erheblichen Fortschritt; jedoch wird hierdurch in den Begriff der Schönheit eine gefährliche Zweideutigkeit hineingetragen, deren Berechtigung erst einer genauen Prüfung bedürfte, die aber jedenfalls nicht ohne weiteres hingenommen werden kann. Denn das Naturschöne wäre nun nicht mehr bindend für die Kunst, und umgekehrt das Kunstschöne nicht für die Natur. Die Lehre von der doppelten Wahrheit schiene in die Ästhetik überpflanzt. Und weiter: unbestreitbar gesellen sich zum Schönen das Erhabene, das Tragische, Komische und vielleicht eine stattliche Reihe anderer Kategorien. Sind sie alle in dem nämlichen Sinne rein ästhetisch wie das Schöne, das völlig frei von jeglicher außerästhetischer Bedingtheit ist? Diese Frage muß zweifellos verneint werden. Zum Wesen des Erhabenen, Tragischen, Komischen usw. dringen wir nicht vor, wenn wir in der Sphäre des rein Ästhetischen verharren und nicht auf die außerästhetischen Mächte achten, die unerläßliche Voraussetzungen für die Bildung jener Gestalten liefern. Seit Kant sollte dies unbestritten sein; alle historische Spezialarbeit bestätigt diesen Tatbestand; jede Ästhetik, die sich um ihn bemühte, mußte Außerästhetisches in breitem Flusse in ihre Betrachtungen einströmen lassen. Ob nun dieses Außerästhetische den ästhetischen Charakter aufsaugt oder vernichtet oder bloß modifiziert, bleibe hier ganz dahingestellt. Das Problem, auf das ich hier hinweise, ist lediglich folgendes: ist der künstlerische Zentralbegriff der des rein Ästhetischen, das sich in der Form des Schönen vollendet, muß jedwede außerästhetische Beimengung als störend empfunden werden. Das Tragische, Erhabene, Komische müßten in dem Maße, als sie sich von dem wahrhaft Schönen entfernen, künstlerische Eignung einbüßen. Ja, die echte Kunst sollte schließlich allein dem Schönen zusteuern, um alle Gefahren, Klippen und Entgleisungen zu meiden. Und man kann sich an dieser strengen Forderung nicht vorbeidrücken, indem man eine empirische Kategorientafel der Ästhetik entwirft und dem Schönen als gleichwertige Schwestern die anderen Grundgestalten zur Seite setzt. Die behauptete Gleichwertigkeit ist gewiß keine im Sinne des rein Ästhetischen; ob und wie sie es in anderem Betracht sein mag, das verlangt wieder eine grundsätzliche kritische Prüfung. Ihr auszuweichen, ist unmöglich. Von allen Seiten werden wir zu ihr hingedrängt. Denken wir daran, wie etwa eine Wissenschaftstheorie ans Werk geht! Darf man da, von dem »Wissen« des gewöhnlichen Lebens ausschreitend, jenes in seiner Struktur deuten, um dann die Wissenschaft ihm zu unterwerfen. Oder muß man vielmehr – ohne auch nur irgendwie Bedeutung und Rang des vorwissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Wissens zu unterschätzen – die große Tatsache und Wirklichkeit der Wissenschaft unterlegen und ihre Voraussetzungen und konstitutiven Bedingungen zu erforschen trachten, um ihr Wesen ersichtlich zu machen. Offenbar ist nur der zweite Weg gangbar; und seine Befolgung hat die reichsten Ergebnisse gezeitigt. Dann kann man auch – von diesen festen Grundlagen her – vergleichen, wie sich der wissenschaftliche Erkenntnisbegriff und der vorwissenschaftliche oder außerwissenschaftliche zueinander verhalten. Jetzt wird

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nicht mehr der eine gegen den anderen ausgespielt und ausgetrumpft der eine dem anderen ausgeliefert, wobei Vertauschungen und Ver wechslungen stets sich einschmuggeln, sondern deutlich greifbar treten die Beziehungen hervor. Ein gleiches methodisches Vorgehen muß nun endlich auch auf unserem Gebiete energisch betrieben werden. Dann erst hören jene notwendig zum Scheitern verurteilten Versuche auf, einen Begriff des Ästhetischen zu konstruieren und ihn – durch empirische Schwierigkeiten gezwungen – so zu drehen und zu wenden, daß die ganze Kunst sich ihm einfügt; oder die Kunst so zu bestimmen, daß schließlich alles Ästhetische in sie hineinfällt. Nein, auf solche und ähnliche spitzfindige Virtuosenstückchen können wir leicht verzichten, wenn wir uns erst einmal das Wesen des rein Ästhetischen klären, ohne Zugeständnisse nach irgend einer Seite, und ohne ängstlich auf die praktische Anwendung zu schielen. Wie weit die Geltung des rein Ästhetischen reicht, ist eine andere Frage. Wir verfälschen das ganze Problem, wenn wir vorweg annehmen, das rein Ästhetische müsse so gefaßt werden, daß aus ihm die Autonomie der Kunst restlos hervorgehe. Vielleicht stützt sich die Autonomie der Kunst auf einen anderen Sachverhalt. Wie dem auch sei, wir müssen uns sehr hüten, die Freiheit der Untersuchung durch unkritische Voraussetzungen zu lähmen. Darum fragen wir – vollständig unabhängig – weiter: was ist das Wesen der Kunst? Und diese Frage erzeugt eigentlich die allgemeine Kunstwissenschaft. Dieses »Wesen« der Kunst schachteln wir nicht gleich unter oder in das Ästhetische ein; wir vermögen ja das gar nicht, ohne erst einmal eben das Wesen der Kunst zum Gegenstand einer eigenen prüfenden Untersuchung gemacht zu haben. Hier setzt den Ausgangspunkt: die große Tatsache und Wirklichkeit der Kunst. Einen anderen Ausgangspunkt gibt es nicht und kann es gar nicht geben. Sind Wesensdeutung und Sinnklärung durchgeführt, dann ist es Zeit, sich dessen zu vergewissern, wie das Künstlerische und rein Ästhetische zueinander stehen, ohne das eine nach dem anderen hin umzubiegen. Treten wir nun mit jenen Grundfragen an die Kunst heran, dann nützt keine Berufung auf das Schöne, kein Hinweis auf künstlerisches Schaffen und Erleben; nein: die Welt der Kunstwerke steht vor uns, nicht einfach Schönes, nicht einfach Seelisches; vielmehr eine ungeheure Objektivität eigener Art, die in sich einmal begriffen werden muß, ehe man sie zu anderem in Beziehung bringt. Hier ist das entscheidende, erlösende Wort: Gestaltung, Formung. Alle Kunst ist Gestaltung, Formung, allerdings ganz bestimmter Gattung. Denn dadurch, daß etwas gestaltet ist, wird es noch nicht Kunst. Der Wissenschaftler gestaltet, der Techniker tut dies, und auch der Mann der Tat, wenn er einem Ziele zustrebt; sein ganzes Handeln wird dann von jenem her geprägt und gestaltet. Welches ist aber die Form der künstlerischen Formung, wenn ich so sagen darf? Bevor wir aber dieser Frage nachgehen, sei eine ergänzende und überleitende Betrachtung eingeschoben: daß Kunst Gestaltung, Formung ist, dieser Gedanke darf auf Neuheit und Originalität keinen Anspruch erheben. Es wäre auch mehr als sonderbar, wenn dieser auffällige Sachverhalt nicht von jeher der Beachtung sich aufgedrängt hätte. Schon die Ableitung des Wortes »Kunst« von Können weist darauf hin. Sie zeigt aber zugleich die beiden Richtungen an, die schließlich doch

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an dem eigentlichen Problem vorbeiliefen: die Überbetonung des Technischen und des Psychologischen. So kam es mehr oder minder zu einer Technologie und zu einer Lehre von den seelischen Schaffensvorgängen. Es wäre undankbar, an dieser Stelle nicht Konrad Fiedlers zu gedenken, der – in Kantschen Bahnen wandelnd – jenes Zentralproblem der allgemeinen Kunstwissenschaft klar ergriff und mit allem Nachdruck die Kunst in erster Linie unter dem Gesichtspunkt der Formung und Gestaltung betrachtete. Ich habe bereits vor einem Jahrzehnt die Bedeutsamkeit dieser Tat zu würdigen versucht und seitdem wiederholt auf die großen Verdienste Fiedlers hingewiesen, der ohne Zweifel zu den hervorragendsten Kunsttheoretikern des 19. Jahrhunderts zählt: Was – außer seiner individuellen Begabung – ermöglichte seine Ausnahmestellung? jene ward eben genährt von echt philosophischer Problematik – wurzelnd in dem Erlebnis Kants – und von einer stilstrengen Kunst – wurzelnd in dem Erlebnis Hans von Marées. Und doch zahlt auch er dem Naturalismus seiner Zeit empfindlichen Tribut, so leidenschaftlich er ihn bekämpft und befehdet. Solch erbitterten Feindschaften liegen oft Tropfen verwandtschaftlichen Blutes zugrunde. Wenn der Naturalismus Wahrheit von der Kunst verlangte und sie darum in nächste Nähe der Wissenschaft rückte, tat dies auch Fiedler. Erkenntnis soll die Kunst geben, aber nicht wissenschaftlich-begriffliche; sondern Formung und Gestaltung dienen allein dem Zweck, klare Anschauungen zu erzeugen. Denn diese sind nicht etwa vor der Kunst da und werden bloß von ihr übernommen, nein, durch sie erst geschaffen. Was die Wirklichkeit darbietet ist lediglich ein Chaos sinnlicher Eindrücke; sie zum Kosmos klarer Anschauungen zu lichten wird ewige Aufgabe der Kunst. Keine andere kommt ihr zu. Wir haben von allem abzusehen, was die Kunst an Schönheit, geistigem Gehalt, Beglückung usw. offenbart; mit rigoroser Strenge zieht Fiedler den Trennungsstrich: über den künstlerischen Charakter entscheidet allein die rein anschauliche Erkenntnis. Aber gerade dieses Abzugsverfahren stimmt bedenklich: wenn wir von dem und jenem abstrahieren müssen, das Kunstwerk mehr und mehr entkleiden, bleibt schließlich ein dürres Skelett übrig. Ich hoffe nicht mißverstanden zu werden, wenn ich sage, daß dieses Herausdestillieren des echten Kunstgeistes mich letzten Endes doch an die verstaubte Schulmethode gemahnt, die hinter dem Kunstwerk nach Ideen fahndet und das ganze Kunstwerk auf einen Sinn abzieht, der über oder vor ihm liegen soll. Aber – mit aller Schärfe sei es behauptet – »hinter« dem Kunstwerk, »vor« oder »über« ihm, haben wir nichts zu suchen: lediglich in ihm. Vor uns steht das Kunstwerk, und wir haben es – eben in dieser seiner Gegebenheitsweise – nach der Gesetzlichkeit seiner Formung zu begreifen, nicht aber daran herumzuoperieren. Denn eine Verstümmelung ist solch chirurgische Tätigkeit. Wählen wir als kleines, schlichtes Beispiel zwei Anfangsverse eines Gedichtes von R.M. Rilke: »Reitet der Ritter in schwarzem Stahl, Hinaus in die rauschende Welt . . .« A A

Rainer Maria Rilke: »Ritter« (1899). In: Ders.: Das Buch der Bilder. Leipzig 1920, S. 6.

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Die Hauptsache ist hierbei gewiß nicht, daß mir ein optisches Bild vorschwebt, daß ich vielleicht Dürers Stich von Ritter, Tod und Teufel assoziiere, sondern daß ich die Stimmung in ihrem Sinngehalt fühlend erfasse aus dem ehernen Rhythmus, der mehr und mehr breit melodisch ausschwingt; daß ich die erzenen R erlebe, das helle »ei«, das im i (in Ritter) – gefolgt von den beiden »tt« – etwas Klirrendes erhält, das sich dann dunkler dämpft, nicht bloß, weil die schwarze Farbe erwähnt wird, nein, weil nun die »a« anklingen; erst kurz, und noch begleitet von einem nachzitternden r (»schwarzem«), gleich aber gedehnt und weich. Noch glitzern flüchtig die i auf – wie verwehender Schimmer – schon aber wandelt das a sich in au, wieder erst kurz und dann voll erbrausend. Ich will hier aufhören: nicht durch ein Sezieren, das Gelenke und Muskeln bloßlegt, dringen wir in den Organismus der Dichtung – an Leichen und Luft des Anatomiesaals dürfen wir nicht denken – wir folgen der objektiven Notwendigkeit der Gestaltung, ohne sie anzutasten. Und geben wir uns der schluchzenden Melancholie einer gemalten Landschaft hin, baut sich diese Stimmung auf in einer Konfiguration von Farben und Linien, unablösbar von ihnen. Verlassen wir diese Gegebenheitsweisen, scheiden wir vom Kunstwerk; nehmen wir von ihnen etwas weg oder fügen wir ihnen etwas zu, verfälschen wir das Kunstwerk; und es ist dann nicht mehr dasselbe. Erfüllen wir uns einmal ganz mit dieser so einfachen – und darum so selten wahrhaft befolgten – Einsicht, sind wir gefeit, selbst vor Versuchen und Versuchungen, wie wir sie bei Fiedler antreffen. Schließlich meint eben auch er eine bestimmte Kunstrichtung, der zu Ehren die anderen vergewaltigt werden. Und die eine Kunstmöglichkeit erklärt er für die Kunst schlechthin. Doch war es ein entscheidender Fortschritt, daß die jüngere Kunstgeschichte sich ihm anschloß, und nun, statt redselige Anekdoten zu unterbreiten und im Erleben zu schwelgen, strenge Formanalysen trieb, das Auge für Gestaltprobleme aufschloß. Damit rückte sie erst methodisch ans Kunstwerk hinan. Aber zugleich war es wohl jene Einseitigkeit Fiedlers – und sicherlich auch seine Unbekanntheit, selbst in wissenschaftlichen Kreisen – die es den Vätern der allgemeinen Kunstwissenschaft – Hugo Spitzer und besonders Max Dessoir – verwehrte, in seinen Bahnen weiter zu wandeln, sei es in bewußter Weiterbildung seiner Lehren, sei es unbewußt auf gleichem Pfade. Denn sie waren gerade von dem entgegengesetzten Problem gepackt, wenn man so sagen darf: nämlich von dem schier unerschöpflichen Beziehungsreichtum des Kunstwerks. Wenn Fiedler alle diese Beziehungen durchschneidet, hier werden sie nun sorgfältig aufgenommen. Darum erscheint das Kunstwerk nicht mehr bloß als Träger des Ästhetischen; Soziologisches, Ethisches, Intellektuelles, Metaphysisches flechten sich ein. Kurz, das Kunstwerk erweist sich als sehr komplexes Kulturprodukt, das nach allen seinen Bezügen zu erkunden Sache der allgemeinen Kunstwissenschaft wird, die sich auch deshalb mit dem Ästhetischen nicht begnügen darf. So vorbereitet und hierdurch gewappnet kehren wir zu unserer Frage zurück: welcher Art ist die Gestaltung der Kunst? was hebt sie ab und wodurch unterscheidet sie sich von allen anderen Gestaltungen? Daß Kunst Formung, Gestaltung ist;

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diese Einsicht müßte seit Fiedler unverlierbar sein, und in ihr – in diesem Sinne – feiert Kants viel bemängelter ästhetischer Formalismus seine Auferstehung. Aber anderseits kann auch nicht die durch Spitzer und vor allem Dessoir erschlossene Anschauung preisgegeben werden, daß eben tatsächlich die Kunst auf Gedeih und Verderb mit allen geistigen Mächten untrennbar verknüpft ist. Die beiden Ströme verlangen nach einem gemeinsamen Flußbett, in dem ihre Fluten sich vereinen. So stellt sich mir heute rückschauend die Entwicklung dar, und ich kann daher klarer meiner eigenen zweibändigen »Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft« ([Stuttgart] 1914 und 1920) ihren Platz anweisen, als zur Zeit ihrer Abfassung. Dort gelangte ich – als Ergebnis eingehender Wesensuntersuchungen – zu der Bestimmung: Kunst ist Gestaltung auf ein Gefühlserleben, der Art, daß der Sinn der Gestaltung im Gefühlserleben sich erschließt. Daß ich nicht von einem beliebigen Gefühlsschwelgen spreche, sondern dieses Erleben in notwendige Korrelation zur Gestaltung setze, hat man wohl allgemein verstanden. Aber dieses »Erleben« selbst war psychologistischen Mißdeutungen ausgesetzt, die Anlaß zu Lob und Tadel wurden, ohne daß ich sie verdient oder verschuldet hätte. Doch liegt es gewiß an mir, daß manches nicht mit der wünschenswerten Deutlichkeit herauskam und genügend scharf umrissen ward. Jenes Gefühlserleben, das die Gestaltung als ihren Sinn erfordert, ist keineswegs ein seelisch-realer Vorgang, der sich in mir oder in irgend einem anderen abspielt oder auch nur abspielen kann. Es ist das ideale Korrelat der Gestaltung, durch ihre Eigengesetzlichkeit bedingt. Während doch jedes tatsächliche Erleben eben auch durch meine Persönlichkeit gefärbt ist. Mag die Akzentbetonung einmal mehr nach der objektiven Seite hin verteilt sein, das andere Mal mehr nach der subjektiven, jedesmal handelt es sich um eine Subjekt- Objekt-Beziehung, an der mein Ich nie unbeteiligt ist. Dadurch empfängt aller Kunstgenuß eine untilgbar individuelle Note. Es wäre Wahnwitz – greulichstes Schulmeistertum oder verblendeter Sklavendienst an einer Theorie –, diese Ichaffiziertheit ausmerzen zu wollen. Abgesehen davon, daß solch Beginnen fruchtlos und vergeblich wäre, die ganze lebensdurchblutete Wärme würde dem Kunstgenuß geraubt; er würde ernüchtert, entfärbt. Also: der reale Kunstgenuß ist nie jenes ideale Gefühlserleben, kann es nicht sein und soll es nicht sein. Aber wenn er wahrhaft Genuß am Kunstwerke ist, dann hat er teil an jenem Erleben, er stellt gleichsam eine individuelle Variation über ein Thema dar. Das Thema muß durchklingen; das gehört ebenso zum Wesen der Variation, wie der Sachverhalt, daß die Variation das Thema nicht in seiner Nacktheit erklingen läßt. Für jeden Menschen gibt es letztlich einen anderen, nur ihm allein angemessenen Kunstgenuß, der eben die beste, ergiebigste und tiefste Relation stiftet zwischen seinem Ich und der Objektivität des Kunstwerks. Diese Angemessenheit ist aber selbstverständlich etwas gänzlich Verschiedenes von jenem idealen Erlebenskorrelat der Gestaltung. Und doch meint jeder angemessene Kunstgenuß dieses »Ideal« – um es so kurz zu bezeichnen – er zielt dahin, aber immer in verschiedener Weise; stets handelt es sich um ein Teilhaben, niemals um ein Zusammenfallen. Oft und oft wurde

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es ja gesagt, daß die Antike in jeder Generation stirbt, um in jeder neuen ihr wunderherrliches Auge wieder aufzuschlagen; und jede Zeitepoche hat eine andere Stellung etwa zu Shakespeare. Und der dem Leben entgegenfiebernde Jüngling verhält sich anders als der gereifte Mann, und dieser wieder anders als der erfahrene und verzichtende Greis. Die Formgestaltung des Kunstwerks bleibt aber natürlich unberührt von der stetigen und notwendigen Wandelbarkeit jener Relationen; denn diese Gesetzlichkeit verharrt unverändert in der Flucht der empirischen Schicksale, und mit jener Gesetzlichkeit auch die ideale Erlebenskorrelation. Besonders deutlich tritt dieses Verhältnis hervor, wenn alten Theaterstücken durch Neuinszenierung die für unsere Zeit mögliche Relation zum Publikum geschaffen wird, denn da zeigt sich gleichsam der Vorgang manifest, der sonst im Innerpsychischen beschlossen bleibt. Und immer handelt es sich um das Problem: daß diese Relation nicht allzusehr auf Kosten des Kunstwerks geht, daß es darob nicht verzerrt und verfälscht wird; stets ist es nur ein Ausgleich, einmal ein guter und das andere Mal ein minder guter. Steuerten wir aber auf jene Idealkorrelation rücksichtslos zu, dann brächten wir das Leben zur Erstarrung; abgeblaßte, kühle Schatten entglitten unseren Händen, der Kunstgenuß wäre längst entwichen, vergast, erstickt in Eisesluft. Ich glaube also, daß irgendein Zweifel an dem unpsychologistischen Charakter jenes idealen Gefühlserlebens nicht berechtigt ist. Wohl knüpfen hier aber die sehr interessanten Fragen an, wie sich der tatsächliche Kunstgenuß – besonders gerade der angemessene – zu jener prinzipiellen Korrelation verhält. Da wird sich unter anderem mit größter Erfolgsaussicht die differentielle Psychologie betätigen können; hier findet sie feinste Abschattungen und anderseits wieder deutliche Typen. Das ist dann keine herumwildernde Psychologie, die dieses oder jenes aufgreift, sondern ganz bestimmte Aufgaben sind ihr zugewiesen, und ihr Rahmen ist fest abgesteckt. Zugleich wird aber die Freiheit unendlich vieler individueller Unterschiede gewahrt, die nicht etwa als Fehlerquellen sich einschleichen, die vielmehr notwendig gefordert sind. Aber natürlich dürfen sie nicht aus der Theorie abgeleitet, sondern müssen empirisch in ihrer Tatsächlichkeit festgestellt und begriffen werden. Daß wir hier auf dieses schier unübersehbare und lockende Feld nicht hinaussegeln können, wird jeder gern zugeben. Wir bleiben bei der Kunst als einer Gestaltung auf das Gefühlserleben, derart, daß ihr Sinn in diesem Erleben sich erschließt. Damit glauben wir nun die Autonomie der Kunst gesichert gegen jeglichen Angriff: durch ihre eigengesetzliche Gestaltung und Formung. Denn jenes Gefühlserleben ist selbstverständlich von der Gestaltung nicht ablösbar, wird es doch durch sie erst erzeugt und geschaffen. Und wir können ihm außerhalb der Kunst nur dort begegnen, wo wir die Natur künstlerisch auffassen, d. h. sie in der Richtung formen und gestalten, daß sie eben künstlerische Eignung empfängt. Dann aber bewegen wir uns ja wieder innerhalb der Sphäre der Kunst. Gerade sie erscheint mir durch unsere Bestimmung fest abgegrenzt und doch keineswegs in ihrer Freiheit beengt. Denn wo jene Gestaltung vorliegt, da ist Kunst. Darin dürfen wir uns durch kein Dogma beirren lassen. Die dämonischen Masken der Primi-

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tiven sind Kunstwerke, insoweit sie durch ihre Gestaltung auf ein Gefühlserleben abzielen, das eben durch die Gestaltung bedingt wird; und in gleichem Sinne haben wir die Ornamente zu betrachten in ihrer rhythmischen Reihung und oft grellen Färbung. Nun ist es auch klar, daß Nationales, Sexuelles, Ethisches, Intellektuelles, Religiöses usw. in der Kunst ihre Stätte finden, aber nicht in sich, sondern dadurch, daß sie dank der Formung und Gestaltung jene Gegebenheitsweise empfangen, die allein über das Künstlerische entscheidet. Nicht die Tendenz ist demnach abzulehnen, aber die ungestaltete, nicht künstlerische Form gewordene. Man muß nicht mehr den fast komischen Eiertanz aufführen, um zu versichern, daß Kunst nichts mit Ethik oder Weltanschauung zu schaffen hat. Gewiß hat sie das, von jeher und zu allen Zeiten. Das Ethische, Weltanschauliche usw. zählt zu den schwierigsten, erhabensten und gewaltigsten Gestaltungsproblemen der Kunst. Diese Sachverhalte durch ihre Formung dem Gefühlserleben entgegenzutragen ist ihre unverlierbare Aufgabe. Und wenn bei gleichgeglückter Gestaltung ein Drama eine seichte, oberflächliche Lebensauffassung offenbart, während das andere eine abgrundtiefe enthüllt, ist eben das zweite wertvoller. Es wäre töricht, sich an dieser Folgerung vorbeizudrücken, die für jeden Unbefangenen schlechthin selbstverständlich ist. Stärkere Werte werden da durch die Gestaltung dem Gefühlserleben zugeführt. Kann denn aber die Kunst nationale, ethische, religiöse Werte erzeugen; zerfließt sie nicht gerade dadurch und büßt ihre Autonomie ein? sinken wir nicht schließlich auf die Vor-Kantische Stufe zurück, welche die Kunst im Dienste jener außerästhetischen Mächte wirken und arbeiten läßt? Diese Bedenken können uns nicht schrecken; und auch die Beschwörung Kants versagt, denn wir wähnen auf den Bahnen zu wandeln, auf die seine »anhängende« Schönheit in genialem Tiefblick hingewiesen hat. Nein, antworten wir: ethische, intellektuelle, religiöse Werte in sich schafft nicht die Kunst, aber sie verleiht ihnen durch ihre Formung eine neue Gegebenheitsweise und damit eine neue Wertlage. So werden sie auch in anderer Art – fruchtbringend und bisweilen gefährlich – wirksam. Doch von diesen Folgen – wieder ein dankbares Untersuchungsfeld, das sich hier systematisch eröffnet – wollen wir nicht sprechen. So ist auch der Kunst die ganze Welt aufgegeben; nichts entzieht sich ihr, was eine Gestaltung, Formung auf Gefühlserleben zuläßt. Sie ist auf kein Stoffgebiet beschränkt, kein Gehalt wird ihr verwehrt; nein, sie steigt und erhöht sich in dem Maße, je erhabener und umfassender das Geistige, dessen Prägung im Gefühlserleben erfaßt wird. Hier werden wohl manche an Theorien des sogenannten Expressionismus gemahnt und eine innere Verwandtschaft annehmen, zugleich damit die Lebensdauer solcher Lehren von der des Expressionismus abhängig machen. Es liegt mir fern, mich darauf zu berufen, wie lange ich schon diese Anschauung vertrete, oder darauf, daß die deutsche idealistische Ästhetik von ganz anderen Grundlagen her zu ähnlichen Feststellungen gelangte. Gewiß, um so schroff das Problem der Gestaltung und Formung in den Vordergrund zu rücken, dazu gehört in unseren Tagen, daß man Kant erlebt hat, und anderseits die strenge Kunst des Hans von Marées- und

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George-Kreises. Und daß man die Kunst so nahe an alle großen geistigen Mächte heranbringt, dazu muß man in unserer Zeit die brausende Welle des Expressionismus verspürt haben. Ich glaube hierüber in meiner »Kultur der Gegenwart« ([Stuttgart] 1921) Rechenschaft abgelegt zu haben. Aber weil bestimmte Einsichten nur angesichts einer bestimmten kulturellen Situation begriffen und ausgebaut werden können, müssen sie keineswegs nur Blüten bedeuten, welche diese Kultur nährt, und die schnell verwelken. Die sachlich systematischen Zusammenhänge, in die ein Problem eintritt, bewegen sich in einer ganz anderen Ebene als die empirischen Begebenheiten, die zu seiner Auffindung, Formulierung und Festlegung führten. Sie entscheiden darum auch nicht über seinen wissenschaftlichen Wahrheitsgehalt. Allerdings laden sie zu einer strengen, kritischen Prüfung ein, um jeder Verwechslung von Kulturpsychologischem und logisch Notwendigem vorzubeugen, einer Verwechslung, der so manche Ästhetik zum Opfer fiel. Aber schon die klare Bewußtheit um diese mögliche Fehlerquelle läßt uns bis zu einem gewissen Grade sie vermeiden, und immer wieder gilt es, den Blick aufzuschließen für die Gesamtwirklichkeit der Kunst, ohne sie subjektiv irgendwie zu verengen. Gerade hierin unterstützt uns das ungeheuer vielseitige Material, das die historischen Kunstdisziplinen, die Völkerkunde und die Prähistorie angehäuft haben. Wie der Wissenschaftstheoretiker nicht allein bei Mathematik und Physik stehen bleiben darf und etwa an die Geschichte vergessen, so ist es auch dem Kunstphilosophen nicht gestattet, irgend einen Kunstzweig oder irgend eine Kunstzeit herauszugreifen und so eine oder einige Kunstmöglichkeiten zu betrachten, ihre systematische Vollständigkeit aber zu verlieren. Und doch kann etwa eine kritische Geschichtsphilosophie auch nur zu einer bestimmten Epoche entstehen, dann aber als unverlierbares Gut und Problem der Wissenschaft. Mir fällt es nicht ein, gerade meiner Kunstphilosophie diese Ewigkeitsrolle auch nur zuzudenken, wohl aber dem Problem der allgemeinen Kunstwissenschaft. Ist nun durch die Bestimmung der Kunst als einer spezifischen Formung und Gestaltung der Umkreis ihres Reiches festgelegt, von ihren primitivsten, schüchternen Anfängen bis zu ihren höchsten Leistungen; wie verhält es sich dann mit ihrem Wert? Diese Frage hat die schlimmste Verwirrung gezeitigt, denn immer wieder brachte man Kunstsein und Kunstwert durcheinander. Daß etwas eine Gestaltung auf das Gefühlserleben darstellt, besiegelt seinen künstlerischen Charakter, womit noch nichts weiteres über diesen Charakter ausgesagt ist. Er kann sehr dürftig oder sehr reich sein. Jedes Kunstwerk bildet z. B. – wie seit altersher bekannt ist – eine Einheit in der Mannigfaltigkeit; aber diese Qualität kommt demnach einem jeden Kunstwerk zu, und für seinen individuellen Wert wäre nur entscheidend, was in diesem bestimmten Falle mit der Einheit in der Mannigfaltigkeit erreicht wird, was wieder letzthin auf eine Analyse des eigengesetzlichen Form- und Gestaltungsproblems zurückführt. Ich pflege zur Verdeutlichung dieses Sachverhalts ein einfaches Beispiel heranzuziehen: die verschiedenen Wertausprägungen des Menschentums können sich nur innerhalb der Menschheit entfalten; das Menschsein ist

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die Grundlage, auf der sie sich aufbauen. Es wäre unsinnig einen Hund deswegen beschimpfen zu wollen, weil er kein Mensch ist. Jener allen Menschen gemeinsame Wert ist natürlich etwas ganz anderes als der Wert einer einzelnen Persönlichkeit. Der erste steckt ja nur den Rahmen ab, in dem sich nun die verschiedensten Wertmöglichkeiten erfüllen. Gewiß bedeutet die Tatsache, daß wir etwas als Kunstwerk bezeichnen, eben schon ein Auszeichnen und damit einen Wert. Wir registrieren so das Kunstsein. Aber die eigentlichen Kunstwerte offenbaren sich nur innerhalb des Kunstseins und sind bedingt von der Art, wie in dem besonderen Falle die Gestaltung vollzogen ist; und dieses Wie hängt weiter von dem geistigen Was ab. Treten wir jedoch mit einem festen Wertmaß an die Kunst heran, dann scheiden wir wieder im vorhinein das aus, was diesen Werten sich nicht beugt, und sind ihrer Angemessenheit niemals versichert. So aber fragen wir immer nur das Kunstwerk selbst; und Antwort gibt das Gesetz seiner Gestaltung. Ich muß es mir versagen, diesen Fragen hier nachzugehen – etwa der historischen Bedeutung des Kunstwerks oder den Wertwirkungen der Kunst. Da wir der Kunst als spezifischer Gestaltung alles überlassen, was ihrer Gegebenheitsweise sich einreiht, können wir ohne Biegung oder gar Bruch ihren ganzen erotischen, intellektuellen, ethischen, religiösen Ausstrahlungen bis in ihre zartesten Verästelungen hinein nachgehen, wobei die geprägte Form den methodischen Ausgangspunkt liefert und den ständigen Bezugspunkt. Ohne in den Inhalt der allgemeinen Kunstwissenschaft hier einzutreten – ich habe ihn ja anderwärts breit ausladend dargestellt –, weise ich lediglich darauf hin, wie alle ihre Aufgaben um das Problem der Gestaltung systematisch sich gruppieren, ja von diesem her sogar erzeugt werden. Damit überwinden wir die Zufälligkeit der empirischen Ästhetiken und Kunstlehren, die eigentlich nur lose Zusammenfügungen geben, die grobstofflich verbunden sind, und anderseits die heuristische Unergiebigkeit der spekulativen Forschungen, die meist in Programmatik stecken bleiben, in Ankündigungen und Verkündigungen, wobei die Knüpfung zu den Einzelfragen ganz verloren geht. Ich unterschätze hierbei nicht die hervorragende Arbeit, die etwa in den großen Werken eines Jonas Cohn, Theodor Lipps und Johannes Volkelt ruht; sie sind die vornehmsten Etappen zu dem hier geforderten Wege. Aber den Weg einer systematischen Kunstwissenschaft konnten sie nicht einschlagen. Wie einige ihrer Fragen in dem Zentralproblem der spezifischen Formung verankert sind, durften wir bereits skizzieren und wollen hier auf Wiederholungen verzichten. Ist alle Kunst eine bestimmte Art der Gestaltung, dann müssen wir notwendig die unerläßlichen, konstitutiven Bedingungen, Voraussetzungen ihrer Gegenständlichkeit prüfen. Ich gebe nur ein ganz kurzes und darum recht grobes Beispiel: Keine Gestaltung kann sich in einem Nichts vollziehen; sie fordert ein Material. Aber welche Materialien es gibt und welche Eigenschaften diese haben, darüber kann uns nur die Erfahrung belehren. Welche künstlerische Möglichkeiten bietet ein Material? Das vermag ich lediglich festzustellen, wenn ich das Wesen des betreffenden Materials in Beziehung setze zu dem Wesen der Kunst als einer Gestaltung auf Gefühlserleben. Ich glaube nun – neben dem Material – eine Bedingungsvielheit –

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und zwar eine Fünfzahl – anerkennen zu müssen. Keine dieser Bedingungen ist an sich künstlerisch – ebensowenig wie das Holz etwa –, ihre künstlerische Eignung empfangen sie im Zusammenhang und durch den Zusammenhang der einheitlichen Gestaltung. Daher muß jegliches im Hinblick auf diese Einheit begriffen und verstanden werden, denn losgelöst verliert es seinen Sinn. Gerade die Lehre von der Gegenständlichkeit des Kunstwerks – die ich zum ersten Male vor fünf Jahren in der Berliner Ortsgruppe der Kantgesellschaft vortrug A – führt auf der einen Seite zu den subtilsten Einzelfragen und auf der anderen bindet sie diese wesensgemäß an die objektive Gesetzlichkeit der Gestaltung. Ist das Kunstwerk in seiner Struktur begriffen, müssen wir weiter nach seiner Entstehung fragen. Und diese Frage zielt nicht auf irgend eine interessante Psychologie des künstlerischen Schaffens; nein: wir wollen wissen, was gehört dazu, um jene Gestaltung zu vollziehen. Diese notwendigen und unerläßlichen Bedingungen und Voraussetzungen alles Künstlertums gilt es zu erkunden. Innerhalb jener Spannweiten modelliert dann wieder die differentielle Psychologie die einzelnen individuellen und typischen Profile, als Möglichkeiten, die durch jene Grundlegung gesetzt sind. Ich brauche wohl nicht fortzufahren in der Charakteristik dieser methodisch-systematischen Arbeitsweise, welche den sachlich-notwendigen Zusammenhang der allgemeinen Kunstwissenschaft ins helle Licht rückt, die einzelnen Fragen ihrer Isolierung entreißt, ihnen einen festen Platz sichert und damit ihre Geltung bestimmt. Sämtliche Probleme der allgemeinen Kunstwissenschaft kreisen um das Formproblem; das ist die Sonne, aus der alle Strahlen hervorbrechen. Und doch ist die allgemeine Kunstwissenschaft alles eher als formalistisch: Sexuelles, Intellektuelles, Ethisches, Religiöses usw. gehen in die künstlerische Gestaltung ein und werden in ihr zu einer neuen Gegebenheitsweise geboren. Gerade die Form ist es, die den Gehalt rettet, und der Gehalt existiert nur durch und in der Formung. Ihre Rätsel und Geheimnisse, sie konstituieren die Aufgabe der allgemeinen Kunstwissenschaft. Wie steht es aber um das rein Ästhetische? diese so lang zurückgestellte Frage, von der wir ausgingen, sie bedarf noch – während wir zum Schlüsse eilen – einer Erörterung. Die Kunst als Gestaltung auf ein Gefühlsverhalten durchbricht weit den Kreis des Schönen. Das Ethische soll nicht etwa – um Beispiele zu nennen – verschönt, sondern durch die künstlerische Gegebenheitsweise einem Gefühlserleben entgegengetragen werden, und ebenso das Schreckliche oder Erhabene, das tragisch Ergreifende und das gütig Lächelnde, die schalkhafte Heiterkeit und die tränenglitzernde Wehmut, das brausende Pathos der Leidenschaft und die stumpfe Gebrochenheit der Verzweiflung, der silberne Jubel des Glücks und die dunkle Trauer des Leids, die zitternde Schwärmerei und das glühende Fluten entfesselter Liebe. All das bleibt in der autonomen Gesetzlichkeit künstlerischer Gestaltung, aber es entzieht sich dem Richterstuhl des Schönen. Und doch wäre es falsch, nun die Verknüpfung einfach aufheben zu wollen, wie Fiedler es versuchte. Kant A Vgl. Emil Utitz: Die Gegenständlichkeit des Kunstwerks. Berlin 1917 (Philosophische Vorträge veröffentlicht von der Kantgesellschaft. 17).

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sah tiefer mit seiner »anhängenden« Schönheit, die wie ein Leitmotiv unsere Betrachtungen durchklingt. Die schauende Haltung, das Verweilen im Schauen, die Hingabe an das Schauen; diese Einstellung verbindet das rein Ästhetische mit der Gesamtheit der Kunst. Alle Erregung, die aus ihr hervorbrandet, sie nimmt den Weg durch jene Schau, durch diese distanzierte Einstellung, um hier mit möglichst neutralen Worten einen allgemein bekannten und anerkannten Sachverhalt zu umschreiben, dessen begriffliche Fixierung gleich Streitfragen aufrollen könnte. Insoweit nimmt das Ästhetische teil an aller Kunst, und die Kunst an dem Ästhetischen; und insoweit zeigen sie die gleiche Gestalt, oder besser gesagt: gleiche Momente in ihrer Gestaltung. Ebenso wie Strukturmomente des alltäglichen, vorwissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Erkennens bis in die höchsten Formen der Wissenschaft eingehen. Dabei liegt es mir natürlich fern, das vorwissenschaftliche oder außerwissenschaftliche Denken als eine unfertige oder dürftige Vorstufe des echt wissenschaftlichen zu betrachten. Dies ist es nur von der Warte der Wissenschaft aus gesehen; an sich untersteht es ja seinen eigenen Aufgaben und Zielen. Und der Brennpunkt des Ästhetischen ist das Schöne: in ihm erfüllt sich das – so oft gepriesene – selige, beglückende Schauen, befreit und erlöst von jedwedem stofflichen Erdenrest, unbedingt von außerästhetischen Mächten. Da wir vorhin die Wissenschaft zum Vergleich heranzogen, wollen wir dies jetzt wieder tun: von altersher erschien die Mathematik vielen schlechthin als Ideal der Wissenschaft; in der strengen Logizität ihres Aufbaues, in der Kristallklarheit ihrer Bestimmungen, in der unbestreitbaren Sicherheit ihrer Ergebnisse. Sie erstrahlte als reinstes Erzeugnis der Wissenschaft, unbeschwert von dem drückenden Ballast der Empirie. Und immer wieder schlug das Bestreben durch, nun alle Wissenschaft nach ihrem verlockenden Vorbilde zu formen, ja alles aus der Wissenschaft auszuscheiden, was jener Formung sich nicht fügte. Lange währte es, bis dieses andere sein Daseinsrecht sich erstritt; und dieser Prozeß – der zum Teil den Wissenschaftsbegriff selbst revolutioniert – ist noch nicht abgeschlossen. Das gleiche – und zwar genau das gleiche – Schicksal können wir hinsichtlich des Schönen verfolgen; und – mit aller behutsamen Vorsicht und Zurückhaltung – sei eine noch tiefere Verwandtschaft mit der Mathematik angedeutet. Xenophon erzählt in seinen Erinnerungen an Sokrates, daß dieser einmal eine Unterredung mit dem berühmten Bildhauer Kleiton gehabt habe. Die Archäologen versichern, daß Kleiton kein anderer und geringerer als Polyklet war. Der Künstler und der Philosoph unterhielten sich über das Problem der Schönheit. Der Künstler wollte sie auf bestimmte kanonische Maß- und Zahlenverhältnisse zurückführen, während der Philosoph bemerkt, es sei Sache des Plastikers, die Taten der Seele in seinem Werke zu offenbaren. Form und Gehalt, reine und anhängende Schönheit treten hier einander gegenüber, wie Grundakkorde in einer Ouvertüre. Und die ganze italienische Renaissance, aber auch ein Maler wie Dürer mit seiner Kunst des Messens, haben nach jenem Rätsel des Schönen gefahndet, überzeugt, daß es in Zahl, Ordnung und Harmonie sich lösen müsse. Die oft behauptete mystische Harmonie der Sphären war einerseits Ausdruck mathematischer Weltbestimmtheit,

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anderseits höchster metaphysischer Schönheit. Ja selbst die bisweilen fast kindischen und spielerischen Versuche, eine Schönheitslinie oder eine andere mathematische Schönheitsform zu entdecken, entsprangen jener Anschauung, es müsse ein Urgesetz geben, das allen Ausprä gungen des Schönen zugrunde liege. Und immer jagte man danach in der Richtung von Maß, Ordnung, Harmonie; in der Richtung einer anschaulichen oder gefühlsmäßigen Mathematik, oder auch einer »unbewußten«, wie man zuweilen zu sagen pflegt. Wie nun aber die Mathematik in ihrem Reiche Selbstherrin ist, in denen der anderen Wissenschaften aber nach deren Wesen eine jeweils andere Rolle spielt und in manchen ganz ausschaltet und sich überheblich fremde Rechte anmaßt, wenn sie schlechthin alles mathematisieren will, so ergeht es auch der Schönheit. Wohl gibt es eine Kunst des Schönen, und ihr Lob wurde oft genug begeistert gesungen; aber es ist nur eine der Möglichkeiten unter den Gestaltungen auf das Gefühlserleben, derart, daß ihr Sinn in diesem Erleben sich erschließt. Und jene anderen Möglichkeiten sind kraft der von uns bereits erläuterten Bestimmung nicht minder berechtigt, als die exquisit ästhetische Kunst, wie ich sie nenne. Dem Schönen kann aber in der Kunst auch ein anderer Sinn zukommen: z. B. die schöne Darstellungsweise vermag noch das Schreckliche und Furchtbare mild und leise zu umglänzen; oder eine Sehnsucht nach Schönheit scheint wie verhaltenes Schluchzen allen Dingen zu entsteigen, wie zarter Hauch sie zu umwehen. Und schließlich gibt es Kunst, die gar keine Beziehung mehr zum Schönen unterhält, außer jener ganz allgemeinen, die wir schon besprochen haben. Und irgendeine andere an diese Kunst herantragen, hieße nur, sie mißverstehen und vergewaltigen. Es muß der Zukunft überlassen bleiben, hier terminologische Regelungen zu schaffen, wenn die Sachverhalte genügend klar liegen. Dann wird endlich jene ermüdende, geistreichelnde und doch öde Begriffsdialektik erlöschen, die mit Worten wie Kunst, Schönheit, Ästhetik herumspielt. Sie führt gewiß nicht weiter. Das Problem einer allgemeinen, kritisch-systematischen Kunstwissenschaft, einer wahren Philosophie der Kunst, welche die Gesamttatsache der Kunst in den Mittelpunkt rückt, kann nicht weiter übersehen oder verwischt werden. Nur so ist auch der lang entbehrte Anschluß an das Kunstleben und die geschichtlichen Kunstdisziplinen zu gewinnen, der als Erfolg jener Bemühungen bereits hier und da Wirklichkeit geworden ist. In der Eigengesetzlichkeit der künstlerischen Formung, da finden sich alle zusammen: der Künstler, der Kunstschriftsteller, der Kunsthistoriker, der Kunstphilosoph. Darum wird auch die Arbeit des einen die des anderen bereichern und befruchten; die traurige Isolierung der früheren Ästhetik wird zersprengt. Und noch eine andere Isolierung ist im Begriffe langsam sich aufzulösen. Die Kunstphilosophie, eine der jüngsten Töchter der Philosophie, mußte sich doch meist mit der kärglichen Rolle eines Stiefkindes begnügen. Das bekam weder ihr gut, noch auch schließlich der Philosophie. Jene ward vernachlässigt, und die Philosophie achtete in ihren systematischen Konstruktionen in letzter Linie auf die Kunst; bisweilen ward sie nur zum Lückenbüßer; jedenfalls hatte sie sich bescheiden zu fügen. Wenn die allgemeine Kunstwissenschaft ihr ganzes Sein der

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Philosophie schuldet, so dankt sie ihr wieder dadurch, daß die Problematik der Kunstphilosophie nun nutzbar gemacht werden muß für die Philosophie selbst. Die heute aufblühende Kulturphilosophie zumal wird auf die Dauer die wertvolle Hilfe der Kunstphilosophie nicht entbehren können, die sie noch viel zu wenig in Anspruch nimmt. Manche wichtige Fragen könnten hier – meiner Meinung nach – entscheidende Anregung und Förderung erfahren. Mit diesem ganz weiten Ausblick – der Zeugnis ablegt für die Einheit der Philosophie – will ich meinen Vortrag beschließen. Er gab keine Antwort, sondern ein Problem. Aber dieses Problem erzeugt und ihm entwächst die allgemeine Kunstwissenschaft.

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[1.] Man kann nicht leugnen, daß Ästhetik und allgemeine Theorie der Kunst sich auseinander entwickelt haben. Den Kunstforscher interessiert eben in erster Linie die Kunst, das Ästhetische an sich steht für ihn in zweiter Linie. Will er es doch gerade vermeiden, die Kunst einfach ästhetischen Kategorien auszuliefern, ohne kritische Prüfung, daß der Gebrauch jener Kategorien zulässig und im Idealfall auch erschöpfend ist. Wie kann er aber anders die Legitimität jener Kategorien erweisen als durch eine Befragung der Kunst auf ihr Wesen hin. Damit wird die Objektivität der Kunstwerke zum unerläßlichen Ausgangs- und zum eigentlichen Mittelpunkt. Ausschweifende Spekulationen über Kunst – so beliebt sie auch sein mögen – führen nur ab, wenn der richtige Weg zu den eigentlichen Quellen verfehlt wurde. Wer allerdings nur auf Physiognomik Wert legt, schätzt in jenen Spekulationen das Bekennerische, den schlagenden Ausdruck gewisser Lebens- und Weltstellungen. Allein echte Sachwissenschaft vermag so – wenn überhaupt – nur mittelbar gefördert zu werden. Wollen wir uns dessen vergewissern, ob die fraglichen Kundgebungen wahrhaft den Sinn des Kunstwerkes treffen, dürfen wir uns keineswegs dabei beruhigen, sie auf ihre Verständlichkeit zu prüfen, vielmehr auf ihre notwendige Fundierung in der Gegebenheitsweise des Kunstwerkes. Kunstwissenschaft ist letzthin immer Wissenschaft von den Kunstwerken, niemals etwas anderes. Auch dann nicht, wenn sie das künstlerische Verhalten oder Schaffen untersucht. Das gilt selbst auf die Gefahr hin, weite Gebiete angeblicher Kunstwissenschaft als diesem Begriff widerstreitend abtrennen zu müssen. Dabei liegt es uns schlechthin fern, sie zu Kunstwissenschaft »zweiten« Grades degradieren zu wollen oder sie als »schlechte« Kunstwissenschaft zu brandmarken. Was gar nicht Kunstwissenschaft ist, stellt weder eine Kunstwissenschaft ersten oder zweiten Grades dar, noch gute oder schlechte Kunstwissenschaft. Es kann dabei ein vorzüglicher Beitrag zur Kultur- oder Geistesgeschichte sein, oder zu allgemeiner Ästhetik usw. Die heute so wichtige Frage z. B., wieweit und mit welcher Sicherheit aus Kunstwerken allgemeine Geschichte abgelesen werden kann, ist ohne Zweifel ein vormals allzu vernachlässigtes, überraschend fruchtbares Problem der Geschichte, aber nicht der Kunstwissenschaft. Doch setzt eine befriedigende und nicht wild abenteuernde Anwendung dieses Problems Kunstwissenschaft voraus. 1 Diese Abhandlung verdankt ihr Entstehen einer freundlichen Aufforderung des Herausgebers, dem ich mich für seine große Geduld zu Danke verpflichtet weiß.

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Betonen wir so nachdrücklich die Autonomie der Kunst und Kunstwissenschaft, erwidert die ältere Ästhetik: wer mißachtet denn mehr jene bedrohte Autonomie als einer, der dieses Reich der Ästhetik zu entwinden trachtet? In ihrem Zeichen und unter ihrer Fahne hat die Kunst volle Selbständigkeit errungen. Wer der Kunst andere Aufgaben überantwortet, erweitert zwar ihren Umkreis, doch nur dadurch, daß er sie zur Magd im fremden Hause erniedrigt, während sie Herrin sein soll auf eigener Scholle. Die Grenzen, an die sie stößt, sind die Bürgen ihrer Freiheit. Will man es vermeiden, den Streit um eine allgemeine Kunstwissenschaft in terminologischen Belangen versanden zu lassen, ist es wohl am einfachsten, folgende schlichte Erwägung anzustellen: wie vermag man sich da von zu überzeugen, daß wir vom Ästhetischen aus die Ganzheit der Kunst erfassen, nicht etwa eine oder einzelne ihrer Möglichkeiten, vielmehr die gesamte umfassende Fülle ihrer Gestaltungen? Sicherlich nicht dadurch, daß wir streng beim Ästhetischen verharren und jegliches Außerästhetische als vermeintliche Fehlerquelle zu verstopfen trachten. Nur klare Einsicht in die Eigenart der Kunst macht überhaupt das kritische Problem sinnvoll, wie sich die Kunst zum Ästhetischen verhält. Die schließlichen Antworten mögen dann verschieden ausfallen; der methodische Ausgangspunkt erscheint allen Bedenken entrückt. Nur so bewegen wir uns auch in der Richtung zu einer echten kunstwissenschaftlichen Begriffsbildung, die nicht dadurch gefördert wird, daß man darnach strebt, das Ästhetische elastisch auszudehnen. Jede Begriffserweichung hemmt die allgemeine Wissenschaft von der Kunst, wiewohl wir nicht verkennen, daß häufig in einem wenig fortgeschrittenen Stadium der Forschung unscharfe Begriffe heuristisch sich bewähren. Wenn diese klare Problemlage auf dem Gebiete der Kunst immer wieder an schwersten Hemmungen sich reibt, trägt – neben psychologistischen Mißverständnissen – die Hauptschuld, wie bereits angedeutet, die Sorge um die Autonomie der Kunst. Sie dünkt gerade in Rückblick auf Irrungen und Wirrungen vergangener Zeiten als so hoher Gewinn, daß er nicht ohne äußerste Not gefährdet werden darf. Ob aber jene systembedingte Grenzabsteckung dem Wesen der Kunst entspricht oder dieses vergewaltigt, vielleicht gar verfälscht, ist ja gar nicht zu entscheiden, wenn einmal das System auf diese Bahnen hin konstruiert wird. Hier lockt ganz besonders die Verführung, daß vorwissenschaftliche Wertungen, wissenschaftliche Hoffnungen oder Befürchtungen den Ausbau der Theorie maßgebend bestimmen. Man erntet dann natürlich die Früchte, die man gesät. Und alles scheint in bester Ordnung. Nur, daß den historischen Kunstdisziplinen diese Früchte im allgemeinen nicht munden, bleibt peinlich. Man kann sich damit trösten und aus dem Tun Stolz saugen, daß es eben den Einzelwissenschaften an philosophischer Tiefenführung fehlt. Später einmal werden schon ihre vorläufigen Leitbegriffe den Anschluß an die allgemeine Ästhetik gewinnen. Ob wir nun diese Hoffnung teilen oder nicht, wir können schwerlich bestreiten, daß die Führung in den kunsttheoretischen Auseinandersetzungen der letzten Zeit eigentlich ins Lager der speziellen Kunstforscher übergegangen ist. Die auffällige Teilnahmslosigkeit an den Schicksalen

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philosophischer Ästhetik zu beklagen, erscheint menschlich zwar verständlich, doch durchaus unfruchtbar. Es sollte vielmehr zu denken geben, daß selbst Leistungen wie die von G.Th. Fechner oder Theodor Lipps im Grunde rein philosophische bzw. psychologische Angelegenheiten blieben und nur sehr geringe Spuren im kunstgeschichtlichen Betrieb – im weitesten Sinne des Wortes – hinterließen. Während etwa die Schriften zur Kunst von Konrad Fiedler immer stärker sich durchsetzen, weil sie eben – wie man auch kritisch zu ihnen stehen mag – an der Kunst orientiert sind. Blicken wir zum Vergleich auf neueste Naturphilosophie, sehen wir eine überaus lebhafte Verbindung von Physik, Chemie, Mathematik und Philosophie. Wendet man dagegen ein, das sei gar nicht erstaunlich, da die Philosophie vielfach nur im Kielwasser der anderen segle und begeistert ihre Fahrten besinge, erfaßt man nicht das hier Entscheidende: die Versenkung in die Probleme, die allein aus dem hingebenden Studium an den Sachen selbst gewonnen werden können. Nur von diesen »Sachen« sei im folgenden die Rede. Rückt man sie ins Vordertreffen, erhält auch die Geschichte der Ästhetik ein verwandeltes Aussehen. Doch diese Geschichte besitzen wir nicht, nur verheißungsvolle Anfänge und Ansätze zu ihr, wie gerade aus letzter Zeit die Arbeiten von Bäumler, Kreis und Panofsky. Wie man mit Unrecht vielfach in der Ästhetik ein Anhängsel zur Philosophie erblickte oder auch ein Stück Psychologie, vernachlässigte man die Entwicklung der autonomen Kunstfragen. Spürt man ihnen nach, geschieht dies weniger in der Weise, daß die Philosophie sich einfach ausbreitet, sondern daß neue Seiten an ihren zentralen Problemstellungen sichtbar werden, daß sie selbst umgestaltet wird. Das ist aber nicht möglich, »wendet« man Philosophie auf die Kunst »an«, vielmehr nur dadurch, daß man von der Kunst her an die Philosophie herantritt. Teilte man – um nur ein Beispiel zu nennen – die psychischen Phänomene in Denken, Fühlen und Wollen ein und ordnete man jeder dieser Klassen ein Ideal zu – das Wahre, Schöne, Gute – war damit zwar ein Standort gewonnen, aber zugleich mit ihm auch das ganze Schicksal der Ästhetik entschieden. Und die Kunst mußte sich fügen. Aber nicht einmal das Wesen der Wissenschaft kann ich vom Wahren, geschweige denn vom Denken allein aufdecken. Was wissenschaftliches Denken im Unterschied von allen anderen Denkformen darstellt, vermag ich doch erst zu begreifen, wenn ich weiß, was Wissenschaft ist. Und »Wahrheiten« kann ich täglich in beliebiger Anzahl sammeln, ohne damit der Wissenschaft zu dienen, oder doch nur in recht mittelbarer Weise. Sicherlich besteht eine notwendige, unaufhebbare Beziehung der Wissenschaft zur Wahrheit und zum Denken, aber die Art dieser Beziehung leuchtet bloß ein, wird an der Hand der Tatsache der Wissenschaft ihr Wesen begriffen. Wir wollen hier nicht darüber sprechen, wieviel zur Aufhellung dieser Sachverhalte die verschiedenen Richtungen des Neukantianismus und insbesondere auch der Phänomenologie beigetragen haben. Entscheidend ist die starke Wendung zur Kulturphilosophie. Denn jetzt gehen wir nicht mehr aus von psychologischen Gegebenheiten (etwa dem ästhetischen Genießen oder Schaffen), wobei immer

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unerfindlich bleibt, was uns dazu befugt, sie als die in dieser Richtung maßgebenden anzusehen; aber auch nicht von bestimmten abstrakten Wertfixierungen, die noch nicht die Gewähr in sich tragen, die Ganzheit der Kunst adäquat zu umfassen: an die Spitze tritt die große Wirklichkeit eines Kulturgebietes, die Kunst in der ganzen Fülle ihrer wirklichen Ausprägungen. Und nach »oben« – wenn ich mich so ausdrücken darf – leiten die grundsätzlichen Fragen: wie verhält sich dieses Kulturgebiet zu allen anderen, wie zum System der Kultur überhaupt? Es ist uns nicht gestattet, hier so weit auszuschweifen. Wir bemerken nur: diese Position schützt die Kunstwissenschaft allein vor einer dogmatischen Tyrannis seitens der Ästhetik und ist doch zugleich geeignet, die Autonomie der Kunst – ohne falsche Überspannung des Autonomiebegriffs – in wahrhaft angemessener Weise herauszustellen. Die Kunst wird nicht in »Kultur« aufgelöst; lautet doch das Problem, wie sich in der Kunst eine Sonderform der Kultur entfaltet. Damit ist – meines Erachtens – der methodische Ansatz geboten für die zwei Hauptfragen, die am lebhaftesten und tiefsten die Forschung der Gegenwart bewegen: Wahrung der vollen Autonomie der Kunstwissenschaft bei positiver Stellung zur Kultur- und Geisteswissenschaft, aus deren Mutterarmen die Kunst nicht gelöst werden soll; und notwendige Verbindung des Systematischen mit dem Historischen. Denn mag man Kultur wie auch immer bestimmen, stets ist sie ein Zeitlich-Überzeitliches oder Überzeitlich-Zeitliches. Das erscheint mir der umspannende Rahmen und erzeugende Grund, innerhalb dessen und auf dem die heutigen Kämpfe um Grundbegriffe der Kunstwissenschaft ausgetragen werden. Darüber hinaus gewinnen die Kämpfe an Gewicht, weil – meist ohne Bewußtheit der Kämpfenden – - in ihnen und durch sie zentrale Probleme der Kulturphilosophie, wenn auch vielleicht nicht der Lösung, so doch einer Klärung und zumindest einer Aufdeckung zugeführt werden. 2. Wenn ich im folgenden zu einer knappen Schilderung dieser Bewegungen übergehe, liegt mir jedes Streben fern, auch nur annähernde Vollständigkeit zu erreichen. Ich habe erst jüngst im dritten Bande der »Jahrbücher der Philosophie« (1927) Ästhetik und Philosophie der Kunst in ihren letzten Entwicklungsformen zu kennzeichnen versucht.A Und auch hiervon ganz abgesehen, ist es nicht schwierig, sich über die neuesten Erscheinungen und Strömungen auf diesem Gebiete zu unterrichten. Die Berichte über die bisherigen drei Kongresse für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft (1913, 1924, 1927) spiegeln deutlich den heutigen

A Vgl. Emil Utitz: »Ästhetik und Philosophie der Kunst«. In: Jahrbücher der Philosophie. Eine kritische Übersicht über die Philosophie der Gegenwart. 3 (1927), S. 306–332.

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Stand der Wissenschaft.A Die von Max Dessoir herausgegebene Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft bringt regelmäßig eine sehr vollständige Bibliographie. Daher halte ich es für richtiger, lediglich die treibenden Haupttendenzen hervorzuheben und durch einige Beispiele zu illustrieren. Erfaßt man die Grundthemen, werden die vielen Variationen verständlich, während sonst leicht der Eindruck des Willkürlichen und Zufälligen entsteht. An die Spitze stellen wir den großen Namen Kant. Seine ästhetischen Anschauungen begegnen gemeinhin zwei Einwänden (vgl. dazu meine »Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft« [2 Bde. Stuttgart] 1914 und 1920 und »Der Künstler« [Stuttgart] 1925): man wirft ihnen Formalismus vor und bemängelt, daß Kants Begriff des rein Ästhetischen sich nicht auf die Gesamtheit der Kunst ausdehnen lasse. Wo man meist nur »Fehler« sieht – Ausfluß einer letzthin kunstfernen Geisteshaltung – stecken in Wahrheit Probleme von gigantischem Ausmaß. Mag die Lösung des Formproblems im Kantschen Sinne verfehlt sein, seine ungeheuere Tragkraft hat es immer deutlicher erwiesen. Jedes tiefere Wort über Kunst muß irgendwie gründen auf der Beachtung ihrer Form, ihrer Gestalt. Und Kant selbst will ja gar nicht die Kunst als solche der »reinen« Schönheit zuordnen, er prägt vielmehr den seltsamen Begriff der »anhängenden« Schönheit. Und der »ruhigen« Kontemplation tritt dort, wo er von dem Erhabenen spricht, die »bewegte« Kontemplation entgegen. Das Erhabene wird zu einem Bürger zweier Welten: es hat Anteil an dem Ästhetischen und weist doch über das Ästhetische hinaus. Es transzendiert das Ästhetische, aber nicht weil es ein schlechtes Ästhetisches ist, sondern weil es etwas ganz anderes darstellt als das rein Ästhetische. In dieser spannenden Problematik begegnet uns eigentlich die ganze Kunst, soweit sie die Grenzen der reinen Schönheit überschreitet. Und sie überschreitet sie nicht in Übermut, nicht zufällig, nein: wesensgemäß. Hier liegt der eigentliche Ursprung der allgemeinen Kunstwissenschaft. Kant hat ihn deutlich gesehen. Wir können hier nicht schildern, warum diese beiden entscheidenden Probleme nicht sofort in ihrer ganzen Wucht aufgegriffen wurden. Gewiß, die deutsche Klassik kämpft im Zeichen der Form, aber das – sagen wir – Geisteswissenschaftliche siegt bald. Wenn Kunst möglichst »Geist« werden soll, wird ihr die Form ihrer Gegegebenheitsweise gerade zum Hindernis. Als A.G. Baumgar ten die Ästhetik aus der Taufe hob, mit ängstlichen und umständlichen Entschuldigungen ob des Wagnisses, eine derartige Wissenschaft in die Philosophie einzuführen, ordnete er ihr ein Plätzchen nicht neben, nein unter der Logik an. Die begriffliche Erkenntnis Vgl. Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Berlin, 7.–9. Oktober 1913. Bericht. Hrsg. vom Ortsausschuss. Stuttgart 1914; Zweiter Kongress für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. Berlin, 16.–18. Oktober 1924. Bericht. Hrsg. vom Arbeitsausschuss. Stuttgart 1925 (Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 19); Dritter Kongress für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft Halle, 7.–9. Juni 1927. Bericht im Auftrage des Ortsausschusses hrsg. von Wolfgang Liepe. Stuttgart 1927 (Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 21, S. 97–395). A

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thront über der sinnlichen, von der ja die Ästhetik bekanntlich ihren Namen empfing. Und wenn auch Alfred Bäumler (Kants Kritik der Urteilskraft, ihre Geschichte und Systematik; [Bd.] I, [Halle a.d. S.] 1923) sehr eindrucksvoll gezeigt hat, wie die Sinnlichkeit hier zu Wert gelangt, schließlich trägt sie doch die Schuld, daß durch sie die Kunst der Wissenschaft unterliegt. Und erinnern wir uns daran, daß noch ein Hegel das sinnliche Scheinen der Idee in der Kunst schließlich überflügeln läßt durch das nackte, angemessene Erfassen der Idee in der Wissenschaft, so daß die Kunst dann aufhört – um mit seinen Worten zu reden – eine der höchsten Offenbarungen des Geistes zu sein, ihr also nur eine sozusagen provisorische Geltung eingeräumt wird. Es ist bezeichnend, daß manche Psychoanalytiker der Gegenwart nicht allzuweit von diesen Anschauungen entfernt sind. So lehrt Otto Rank (Der Künstler; 4. Aufl., [Leipzig, Wien, Zürich] 1922 [recte: 1925]), daß die fortschreitende »Verdrängung« im Ablauf der Geschichte immer gebieterischer die Beherrschung, das Bewußtwerden des Unbewußten verlangt. Dieses Ziel vermag aber die Kunst nicht zu erreichen, weil sie selbst nur »unbewußt« entsteht und wirkt und deshalb die Fortschritte des Bewußtseins nur indirekt vermitteln kann. Glückt nun die vollkommene Umwertung des Psychischen, wird das verdrängte Unbewußte bewußt, »dann wird der unkünstlerische Übermensch leicht und stark wie ein ›Gott‹ mitten im Spiel des Lebens stehen und seine ›Triebe‹ mit sicherer Hand lenken und beherrschen«.A Dieser Rationalismus kann in der Kunst nur etwas Vorläufiges erblicken, nur eine zu überwindende Etappe. Für den unersetzlichen Eigenwert der Kunst fehlt letzthin das Verständnis. So muß es schließlich allen ergehen, die das zentrale Formproblem der Kunst vernachlässigen. Und doch ist auch auf dieser Linie eine entscheidende Grundfrage gewonnen worden: die Einsicht, daß es die Kunst irgendwie mit »Erkenntnis« zu tun habe. Nur daß diese »Erkenntnis« doch als untere Stufe der wissenschaftlichen angesehen wird. Nicht nur, weil erschöpfend klärende Analysen mangelten, nein: weil bestimmte Wertungen sie unmöglich machten. Alfred Bäumler (a. a. O.) erblickt in der Halle-Frankfurtschen Ästhetik Baumgar tens und seines Kreises mit Recht einen Kulturfaktor hohen Ranges. »Das war möglich, weil ihr Problem ein allgemeines war. Es lautete in Kürze: was ist die Sinnlichkeit (das untere Erkenntnisvermögen) wert? Mit dieser Frage beginnt eine neue Epoche der deutschen Philosophie.« B Aber diese Frage kann letzten Endes nicht entschieden werden, wenn Sinnlichkeit dem Geiste einfach unterstellt wird. Unter dem Bezugssystem des Geistes ist sie ein minderes. Aber was gilt sie an sich? oder in einer bestimmten Verknüpfung mit dem Geiste? Was schenkt sie dem Geiste? Und in dieser Wendung sahen Kant und Schiller das Problem. So mußte es auch später wieder ergriffen werden; und wir Otto Rank: Der Künstler und andere Beiträge zur Psychoanalyse des dichterischen Schaffens. Vierte, vermehrte Auflage Wien 1925 (11907), S. 81. B Alfred Bäumler: Kants Kritik der Urteilskraft. Ihre Geschichte und Systematik. Bd. 1: Das Irrationalitätsproblem in der Aesthetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft. Halle a.d. S. 1923, S. 169. A

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haben ja eben auch den radikalen Gegenstoß erlebt: die Umkehrung des Bezugssystems, die Geistentfremdung, sogar die Geistfeindschaft (vgl. dazu mein Buch: Die Überwindung des Expressionismus, [Stuttgart] 1927). Solange es bei jener Linie bleibt, dringt immer wieder das alte Grundthema Platons durch alle Variationen: soll es die Aufgabe der Kunst sein, im Sinne der Ideen Wahrheit zu offenbaren, d. h. »gewissermaßen mit der Vernunfterkenntnis in Konkurrenz zu treten, so muß es notwendig als ihr Ziel erscheinen, die sichtbare Welt unter Verzicht auf jene Individualität und Originalität, in der wir das vorzügliche Kennzeichen ihrer Leistungen zu erblicken gewohnt sind, auf niemals wandelbare, allgemein und ewig gültige Formen zurückzuführen« ( Erwin Panofsky, Idee [recte: Idea], [Leipzig] 1924). Dies ist trotz des Sinnlichen innerhalb gewisser Grenzen möglich. Aber keineswegs entsteht so ein Kulturgebiet, das gleichberechtigt neben die Wissenschaft tritt. Dahin gelangen wir nur, wenn wir neben die Erkenntnis der Wissenschaft eine ganz andere künstlerische stellen, die durch jene niemals ersetzt werden kann, die eine selbständige Form der Welterfassung oder Weltbildung ist. Oder wir rücken überhaupt von dem Erkenntnisgedanken ab, um allen jenen Gefahren zu entgehen. Wir opfern dann dieses Problem und retten mit diesem Opfer die Autonomie der Kunst. Wir lösen sie völlig ab von der Wissenschaft. Gerade dies versuchte neuere Ästhetik so häufig; sie konnte sich dabei auf das interesselose Wohlgefallen Kants berufen, auf seine Grundlegung im Gefühl und durch das Gefühl. Aber sie konnte dann nicht mehr seinen Ansatz zu einer allgemeinen Kunstwissenschaft verwerten. Das »Außerästhetische« in der Kunst, das war für sie fremd und feindlich, etwas, das ausgeschieden werden mußte. Oder anders ausgedrückt: die geisteswissenschaftliche Strömung läuft Gefahr, Selbständigkeit und Würde der Kunst preiszugeben; die rein ästhetische die Kunst zu verengen. Ja noch mehr: ebenfalls ihre Selbständigkeit und Würde zu verraten, indem sie in Abhängigkeit tritt von einem Ästhetischen, das unter Umständen auch ohne sie vorhanden ist. Mathematik finde ich nur inner halb der Mathematik. Aber Schönes finde ich auch in der »Natur«. Und man mußte den Beweis führen, das Schöne der Kunst sei schöner als das Naturschöne. Der Beweis kann ebensowenig geliefert werden, wie der, ob wissenschaftliche Psychologie wertvoller sei als menschenkundliche Lebensklugheit. Man kann nur zeigen, daß dies etwas ganz anderes ist. Dann aber beginnt man mit einer eigentlichen Theorie der Wissenschaft bzw. der Kunst. Das war also die Problematik – und sie ist es auch heute noch – an der die beginnende experimentelle Ästhetik eines G.Th. Fechner und seiner unmittelbaren Nachfolger einfach vorübersah. Und diese Problematik mußte sich noch verschärfen, als eine realistische Kunst praktisch immer mehr den Kategorien des »Schönen« widersprach, aber auch denen des »Geistes«. Auf zwei Wegen versuchte man diese Gefahr zu bannen: erstens durch elastische Ausdehnung des Ästhetischen, die bisweilen so weit ging, daß sie selbst noch das Häßliche liebend umfaßte. Oder zweitens durch Abrückung vom Ästhetischen: Kunst wird angewandte Wissenschaft, hört im Grunde auf, Kunst zu sein. Zola schreibt seine kleine theoretische

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Abhandlung: »Der Experimentalroman«. Als Zweck werden Wahrheitserforschung und Wahrheitserkenntnis angegeben; er ist »wissenschaftliche Psychologie«.A Von gleichem Geiste beseelt sind Zolas Urteile über bildende Kunst, so wenn er an Manet rühmt, daß man ihn zählen werde zu den »grands ouvriers de ce siècle, qui ont donne leur vie au triomphe du vrai«.B Nicht ästhetischen Genuß will er, sondern Einsichten. Wir sollen lernen, von Mitleid gepackt, zur Hilfe begeistert werden! Nicht Naturwahrheit genügt ihm – gewonnen durch unsäglichen Fleiß treuester Beobachtung – er verlangt »Naturlogik«.C Das war aus dem sinnlichen Scheinen der Idee geworden. Und auf der anderen Seite versuchte die sich immer stärker formierende Einfühlungslehre das zerstiebende Ästhetische zu retten. Geboren aus dem Geiste der Romantik, da man sich in alles einfühlen und mit dem Alleinsfühlen sollte, war schließlich diese Lehre dazu berufen, gleichsam das Ästhetische zu »ersetzen«. Aber niemals ist es gelungen, die ästhetische Einfühlung abzuheben von der außerästhetischen, wenn man nicht schon den Begriff des Ästhetischen hatte. Es liegt mir dabei durchaus fern, die großen Leistungen eines Lipps oder Johannes Volkelt zu verkleinern. Denn neben feinsten psychologischen Analysen ward ja so das ganze Problem des Physiognomischen, von Ausdruck und Verstehen aufgerollt. Die tief bohrende Art von Lipps, die bewundernswert weite Aufgeschlossenheit von Volkelt haben erst den Boden für jüngste Forschung bereitet, die dankbar dieser Meister gedenkt, auch wo sie andere Wege geht. Aber wir müssen noch einmal in die Vergangenheit zurück, in die Epoche, da Ästhetik und Kunstphilosophie eigentlich daran waren, zu kapitulieren, sich aufzulösen in Psychologie oder Soziologie. Da kam die Hilfe durch Konrad Fiedler.

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3. Lange Zeit war sein Name fast unbekannt. Heute bezeichnet sein Werk selbst ein so scharfer Gegner wie Benedetto Croce (Zur Theorie und Kritik der Geschichte der bildenden Kunst; im Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte [Bd. 4] 1926 [S. 1–51]) als das Bedeutendste, was Deutschland während der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts im Bereich der Ästhetik hervorgebracht hat. Ich glaube, daß man mehr sagen kann: mit Fiedler beginnt überhaupt eine neue Epoche der Kunstphilosophie, nicht etwa mit dem gleichzeitigen G.Th. Fechner, wie das häufig behauptet wird. Als Her mann Konner th [München] 1913 [und 1914] die vorzügliche zweibändige Ausgabe von Fiedlers »Schriften über Kunst« veranstaltete,

Émile Zola: Der Experimentalroman. Eine Studie (1880). Leipzig 1904, S. 23. Ders.: »Édouard Manet« [= Vorwort]. In: Exposition des Œuvres de Édouard Manet. [Ecole nationale des beaux-arts, janvier 1884.] Préface de Émile Zola. Paris 1884, S. 7–29, hier S. 29. C Vgl. ebd., S. 15 (»l’intensité logique du plein air«). S. a. ders.: Der Experimentalroman, S. 55 f. A

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konnte ich in einer längeren Besprechung (Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, VIII [(1913), S. 501–505]) die ganze Bedeutung dieses Werkes würdigen. Und im letzten Jahr gab Günther Jachmann den Briefwechsel Adolf von Hildebrands mit Konrad Fiedler heraus.A Es ist zu bedauern, daß Jachmann den Hauptwert auf Hildebrand legt und darum Fiedler weniger zu Wort kommen läßt. Endlich wäre es an der Zeit, alles, was von Fiedler erhalten ist, der Öffentlichkeit vorzulegen. Ist doch sogar sein Nachlaß erst zum Teil veröffentlicht. Dieser Aufgabe kann sich die deutsche Wissenschaft nicht länger entziehen. Ich folge in meiner Skizze der Auffassung, die ich seit fünfzehn Jahren vertrete (vgl. besonders meine Schriften: »Der Künstler«, [Stuttgart] 1925 und »Die Kultur der Gegenwart«, [Stuttgart] 1921). Was ermöglichte die Ausnahmestellung Fiedlers, außer seiner individuellen Begabung? Sie ward eben genährt von echt philosophischer Problematik – wurzelnd in dem für ihn entscheidenden Erlebnis Kants – und von einer stilstrengen Kunst, wurzelnd in dem Erlebnis Hans von Marees und Adolf von Hildebrand. Und doch zahlt auch er dem Naturalismus seiner Zeit empfindlichen Tribut, so leidenschaftlich er ihn bekämpft und befehdet. Solch erbitterten Feindschaften liegen oft Tropfen verwandtschaftlichen Blutes zugrunde. Wenn der Naturalismus Wahrheit von der Kunst verlangte und sie darum in nächster Nähe der Wissenschaft ansiedelte, tat dies auch Fiedler. Erkenntnis soll die Kunst geben, aber nicht wissenschaftlich-begriffliche, sondern Formung und Gestaltung dienen allein dem Zweck, klare Anschauungen zu erzeugen. Diese sind nicht etwa vor der Kunst da und werden bloß von ihr übernommen, nein, durch sie erst geschaffen. Was die Wirklichkeit darbietet, ist lediglich ein Chaos sinnlicher Eindrücke; sie zum Kosmos klarer Anschauungen zu lichten wird ewige Aufgabe der Kunst. Keine andere kommt ihr zu. Wir haben von allem abzusehen, was die Kunst an Schönheit, geistigem Gehalt, Beglückung usw. offenbart. Mit rigoroser Strenge zieht Fiedler den Trennungsstrich. Über den künstlerischen Charakter entscheidet allein die rein anschauliche Er kenntnis. Sie besitzt für den Menschen eine selbständige, von aller Abstraktion unabhängige Bedeutung. Das Vermögen der Anschauung hat so gut wie das abstrakte Denkvermögen ein Recht, zu einem geregelten und bewußten Gebrauch ausgebildet zu werden, denn der Mensch ist imstande, zu einer geistigen Herrschaft über die Welt nicht nur im Begriff, sondern auch in der Anschauung zu gelangen. So beruhen Ursprung und Dasein der Kunst auf einem unmittelbaren Ergreifen der Welt durch eine eigentümliche Kraft des menschlichen Geistes: die Anschauung. Ihre Bedeutung ist keine andere als eine bestimmte Form, in der der Mensch die Welt sich zum Bewußtsein zu bringen nicht nur bestrebt, sondern recht eigentlich durch seine Natur gezwungen ist. So ist die Stellung des Künstlers zur Welt keine beliebig gewählte, sondern eine natürlich gegebene. Und das Ergebnis, zu dem er gelangt, ist kein untergeordnetes

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1927.

Adolf von Hildebrands Briefwechsel mit Conrad Fiedler. Hrsg. von Günther Jachmann. Dresden

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und entbehrliches, sondern ein höchstes und dem menschlichen Geiste, wenn er sich nicht selbst verstümmeln will, vollkommen unersetzliches. Was die Kunst schafft, ist nicht eine zweite Welt neben einer anderen, die ohne sie existiert, sie bringt vielmehr überhaupt erst die Welt durch und für das künstlerische Bewußtsein hervor. Sie steigt vom Form- und Gestaltlosen zur Form und Gestalt empor, und auf diesem Wege liegt ihre ganze geistige Bedeutung. Wäre die menschliche Natur nicht mit der künstlerischen Begabung ausgestattet worden, die Welt würde nach einer großen unendlichen Seite hin dem Menschen verloren sein und bleiben. So ist die Kunst genau so gut Forschung wie die Wissenschaft, und die Wissenschaft ist so gut Gestaltung wie die Kunst; nur die Gestaltungsreiche beider sind verschieden. Beide stellen Mittel dar, durch die der Mensch allererst die Wirklichkeit gewinnt: die des Begriffes in der Wissenschaft und die der Anschauung in der Kunst. In ihr verwirklicht sich die Sichtbarkeit der Dinge in Gestalt reiner Formgebilde. Nur dadurch kann der Künstler von der Unverfälschtheit und Stärke seiner Begabung Zeugnis ablegen, daß er die Rücksichten auf allerlei Gehalt und Inhalt, die seine bildende Tätigkeit beeinflussen könnten, zurückdrängt und sich ganz allein von dem Streben nach Entwicklung des Gesichtsbildes bestimmen läßt. Wenn man sonst im Kunstwerk dem, was sich ausschließlich dem Gesichtssinne darbietet, eine untergeordnete Rolle zuzuteilen pflegt im Verhältnis zu dem Empfindungs- und Gedankengehalt, als dessen Träger das sichtbare Gebilde betrachtet wird, so müssen wir dieses Verhältnis umkehren und alle Wichtigkeit, die einem Kunstwerk als solchem zugeschrieben werden kann, in seine Sichtbarkeit verlegen. Handelt es sich um Kunst im höchsten Sinne, darf an ihrem Dasein keiner von den Bestandteilen des geistigen, sittlichen, ästhetischen Lebens, an die man den Fortschritt, die Veredelung, die Vervollkommnung der menschlichen Natur gebunden erachtet, irgendein Interesse haben. Erst wenn wir zu dieser Unbefangenheit der Kunst gegenüber gelangt sind, können wir ihr etwas verdanken, was freilich etwas ganz anderes ist, als die Forderung unserer wissenden, wollenden, ästhetisch empfindsamen Natur: nämlich die Klarheit des Wirklichkeitsbewußtseins, in der nichts anderes mehr lebt als die an keine Zeit gebundene, keinem Zusammenhange des Geschehens unterworfene Gewißheit des anschaulichen, sichtbaren Seins. Jede echte Kunstübung wird, welchem Inhalt sie auch zugute kommen mag, immer nur dieses ihr eigene Ziel verfolgen. So wird der Standpunkt Fiedlers klar, daß Ästhetik und Kunstbetrachtung in ihrem Ausgang und in ihren Zielen gegenseitige Selbständigkeit bewahren müssen und nur dort eine Verbindung suchen dürfen, wo sie dies zu ihrem beiderseitigen Vorteil tun können. »Und daran würde sich die fernere Frage anschließen, ob die Ästhetik, ihr Dasein einem ganz anderen geistigen Bedürfnis verdankend als die Kunst, nicht die Kunstwerke überhaupt nur ästhetisch erklären könne, künstlerisch aber unerklärt lassen müsse; ob ferner die Regeln, die die Ästhetik aufzustellen vermöge, nicht nur ästhetischer, nicht aber künstlerischer Natur sein könnten; ob endlich die Forderung, daß die künstlerische Produktion nach den Regeln der Ästhetik sich richten solle, nicht bedeute, daß die Kunst aufhören solle, Kunst zu

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sein, und sich damit zu begnügen habe, der Ästhetik illustrierende Beispiele zu liefern.« A In dem schon erwähnten Schriftwechsel mit Hildebrand, in dem Fiedler freier und ungezwungener sich gibt als in seinen Werken, deutet er auf eine wichtige Modifikation seiner Lehre von der anschaulichen Erkenntnis hin. Es kommt ihm nämlich vor, als ob der Trieb nach Erkenntnis überhaupt nicht der geistige Urtrieb sei. Vor allem regt sich im Menschen das Bedürfnis, die Isolierung, in der er sich als individualisierter Bestandteil der Natur befindet, aufzuheben. »Es ist nun nicht eigentlich ein Bedürfnis nach Erkenntnis, welches die künstlerische Tätigkeit hervorruft, weil die wissenschaftliche Erkenntnis doch nur die Welt in einem gewissen Sinne erklären könne; vielmehr ist es derselbe Trieb, die Entfernung, in der man sich von der Natur befindet, aufzuheben, sich die Natur nah und immer näher zu bringen, bis man sie faßt und besitzt, der aller eigentlichen künstlerischen Tätigkeit zugrunde liegt. Die Kunst ist dann nicht schlechtweg eine Art der Erkenntnis, sie ist vielmehr eines der Mittel, durch die sich der Mensch aus seiner vereinsamten Stellung zu erlösen und den Zusammenhang mit der Natur wieder zu gewinnen sucht.« B Der Künstler erstrebt ein weit tatsächlicheres Ergreifen der Natur als der abstrakte Denker. Sein Ziel liegt nicht im Festhalten der Erscheinungen; gerade sie läßt er fahren, um sein Ziel zu erreichen. Beim Künstler sollte man daher besser von »Darstellung« reden statt von Erkenntnis, als derjenigen Tätigkeit, durch die er der Natur sich vollständig zu bemächtigen sucht. »Man würde die Kunst nicht eine Art der Erkenntnis nennen, sondern man würde in Kunst und Erkenntnis zwei Mittel sehen, die der Mensch ergreift, um seinem höchsten und dringendsten Bedürfnis zu genügen, die Natur, der er sich im Ganzen entfremdet weiß, im Einzelnen wieder an sich zu reißen.« C Damit hat Fiedler die Umrisse einer Kunsttheorie entworfen, die sich grundsätzlich mit dem Ästhetischen nicht deckt. Die »Anschauungen« der Kunstwerke sind etwas ganz anderes als das Naturanschauliche; werden sie doch erst erzeugt in der Gestaltung, Formung der Kunst und durch sie. Gestaltung und Formung werden zu Grundbegriffen der Kunstwissenschaft. Sie haben sich zu bewähren in der Klarheit des sichtbaren Seins. Dank dieser Klarheit bemächtigen wir uns der Natur. Es kommt nicht auf die »Wirkung« der Kunst an, sondern auf das Kunstwerk selbst. Wir entscheiden ja auch nicht über ein wissenschaftliches Werk darnach, ob seine Ergebnisse uns freuen oder betrüben, sondern allein durch Prüfung ihrer Richtigkeit. Und diese Prüfung kann bloß an dem wissenschaftlichen Werk selbst erfolgen. Auf diesen Grundlagen ward eine Kunstwissenschaft als strenge, exakte Formwissenschaft erst möglich. Ihre Begriffe müssen nicht mehr der allgemeinen Konrad Fiedler: »Über die Beurteilung von Werken der bildenden Kunst« (1876). In: Konrad Fiedlers Schriften über Kunst. Hrsg. von Hermann Konnerth. Bd. 1. München 1913, S. 1–79, hier S. 12 f. B Adolf von Hildebrands Briefwechsel mit Conrad Fiedler, S. 90 f. C Ebd., S. 91. A

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Geschichte entlehnt werden, sie sind autonome Kunstbegriffe. Zugleich ist damit jeder billige Naturalismus einer Abbildtheorie überwunden, genau so wie alle fließenden und oft nur phrasenhaften Angaben über Schönheit. Die Aufgabe ist klar vorgezeichnet und fordert Exaktheit. Rechenschaftsablage, wie weit durch Formung eine Gesetzlichkeit des anschaulichen, sichtbaren Seins gewonnen ist. Die Richtung zum Objekt hat gesiegt; Kunstwissenschaft wird Wissenschaft von Objekten und mit objektiven Methoden. Allerdings darf man nicht vergessen, wie viel hier Fiedler opfern mußte, um die Reinheit seines Standpunktes zu erreichen. Daß auch er sich übrigens in der Folge als vieldeutig herausgestellt hat, kann die Bedeutung der Leistung nicht schmälern, die durch Vermittlung von Adolf von Hildebrands berühmter Schrift A und durch Wölfflin, dessen Kunstanschauungen das Erbe Fiedlers nutzbar machen, erst ihre überraschende Fruchtbarkeit erwiesen hat. Aber so scharf wie Fiedler hat keiner gesehen und auch nicht so radikal. Darum treten auch einige Mängel ganz unverschleiert bei ihm hervor. Fragt man nämlich, was von dem Kunstwerk bei Fiedler letzthin übrig bleibt, ist es allein das Problem der Gestaltung zur klaren Sichtbarkeit. Alles andere scheidet aus dem eigentlich Künstlerischen aus; darunter alles »Geistige«. Gewiß übersieht er nicht das »Inhaltliche«, aber dieses Inhaltliche ist ihm nur bedeutungsvoll, soweit es die notwendige Formung erzeugt. Es ist ganz in seinem Sinne, wenn Hildebrand sagt, Form sei der in künstlerischer Konsequenz gestaltete Inhalt. Fiedler sieht auch, daß eine vom Inhalt herrührende Neuproduktion der Form sich revolutionär verhalte und zunächst unter dem Schein der Formlosigkeit zu leiden habe. Er ist also weit davon entfernt, in der Form irgendein äußeres Schema zu erblicken, in das die Dinge gezwängt werden. Wo doch jedes eigene Ding sich seine eigene künstlerische Form schaffen muß. Das ist ja gerade das Amt des Künstlers. Aber trotzdem muß doch im Endergebnis alles Inhaltliche wieder ausgeschaltet werden; denn nicht um das Inhaltliche handelt es sich, vielmehr um die anschauliche Gesetzlichkeit seiner Sichtbarkeit. Wenn aber die Kunst von jeher um große geistige Inhalte gerungen hat, so zweifellos, um sie »darzustellen«, aber nicht um sie in der Darstellung zu vernichten; sondern um sich durch die Gegebenheitweise dieser Darstellung erst ihres Ausdruckes zu versichern. Das Vorgehen Fiedlers gleicht einem wissenschaftlichen Panmethodismus, dem es allein auf die Sauberkeit und Geschlossenheit der wissenschaftlichen Methode ankommt. Aber sie läuft letztlich leer; alle materialen Fragen werden nur zu Mitteln, an denen sich die Methode betätigen kann. Gewiß sind systematische Klarheit und Sicherheit der Begriffe Ziel der Wissenschaft, aber doch nur, weil durch sie Probleme aufgerollt und befriedet werden. Fiedler sieht immer nur das Problem der Methode. Darum gilt ihm die Form an sich, nicht letzthin die sinnerfüllte Form. Sinn der Form ist ihm lediglich ihre Sichtbarkeit, nicht die in ihr allein mögliche Sinnerfüllung. In der Abwehr des Außerkünstlerischen hat er die Kunst entleert. Oder anders ausgedrückt: Fiedler interessiert theoretisch ausschließlich A

Vgl. Adolf von Hildebrand: Das Problem der Form in der bildenden Kunst. Straßburg 1893.

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die Seinsschicht der Kunst. Aber innerhalb dieser Seinsschicht stehen erst die Kunstwerke. Und es genügt nicht, wenn ich sie bloß als Kunstwerke erkenne. Sie erfüllen alle das Gebot: anschauliche Sichtbarkeit zu bieten. Ich will nicht sagen, daß Fiedler für das Individuelle des Kunstwerkes keine Aufgeschlossenheit zeigt, wo er doch für jeden Inhalt eine individuelle Form erheischt, allein letzthin interessiert ihn dieses Individuelle gar nicht, sondern nur seine Eignung, einzugehen in jene Gesetzlichkeit des sichtbaren Seins. Er steht der Wissenschaft zu nahe, um nicht das Wesen der Kunst in Richtung auf die Wissenschaft zu verfälschen, und er hat überdies noch ein Bild der Wissenschaft, das jedenfalls nicht gemalt ist mit den Farben der historischen Disziplinen, der Geistes- und Kulturwissenschaften. Und darum kommt das spezifisch Historische ganz auffallend zu kurz. Nach zwei Richtungen hin könnte man versuchen, das Historische einzuführen. Und beide Wege werden begangen, oft ohne Einsicht, daß es verschiedene Wege sind. Ist jene Klärung zur Sichtbarkeit ein – sagen wir – Prozeß anschaulicher Logik, so wäre es vielleicht denkbar, daß die Immanenz dieser Logik den Leitfaden zur Entwicklung der Kunst abgibt. Ein seit Hegels großem Vorbild immer wieder auftauchender verführerischer Gedanke! Die Autonomie der Kunstwissenschaft wäre offenbar erst dann völlig gesichert, wenn die Entfaltung der Kunst allein Angelegenheit künstlerischer Logik wäre. Geschichte der Kunst wäre Einsicht in die systematische Aufeinanderfolge logischer Schritte. Diese Geschichte wäre – notwendiges Genie vorausgesetzt – konstruierbar. Und unter der gleichen Voraussetzung ließen sich die Kunstwerke zeitlich im Verhältnis zu anderen Kunstwerken bestimmen. Der Rang großer Persönlichkeiten wäre allerdings recht bescheiden, würden sie doch nur zu Vollstreckern jener Notwendigkeiten. Man könnte eine Kunstgeschichte ohne sie schreiben. Der zweite Weg geht durch die Psychologie hindurch: Eroberung der sichtbaren Welt ist ein psychologischer Vorgang. Psychologische Prozesse verlaufen gesetzmäßig; etwa vom Primitiven zu immer Komplizierterem, um dann möglicherweise bei einer Einfachheit höherer Ordnung zu landen. Es kommt gar nicht hier darauf an, wie wir uns im einzelnen solche Prozesse vorzustellen haben, sondern allein auf das Prinzip. Auch der Weg von den strampelnden Bewegungen des Säuglings bis zu den sicheren des Schnelläufers ist kein willkürlicher, sondern durchläuft verschiedene Stadien, die nicht beliebig variiert und jedenfalls auch nicht beliebig vertauscht werden können. So soll auch unser »Sehen« – nicht nur im physiologischen Betracht des Wortes – durch eine Reihe von Etappen hindurchführen, und diese Bahn ist eben die Bahn der Kunst. Aus logischer Notwendigkeit wird hier eine psychologische. Sucht man erstere irgendwie aus dem objektiven Wesen der Kunst abzuleiten, wird da das Psycho-physische maßgebend in seiner Relation zur künstlerischen Aufgabe. Die Empirie liegt zwar näher, aber Konstruktionen sind immerhin nicht ausgeschlossen und vor allem Gesetzmäßigkeiten, die den einzelnen binden. So daß im Endeffekt vielfach das Gleiche herauskommt: die logische und psychologische Linie stimmen dann überein. Daß das Logische keine psychologischen Unmöglichkeiten behalten darf, wenn es sich durchsetzen soll,

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ist selbstverständlich; aber an sich keineswegs im vorhinein einzusehen, warum die psychologische Entwicklung sich an der logischen orientieren soll. Mit der psychologischen Reihung wäre natürlich ebenfalls die Autonomie der Kunstwissenschaft gewahrt, wenn auch nicht in dem Umfange wie bei der logischen Möglichkeit. Brauchte man zwar keine Anleihen bei der allgemeinen Geschichte, immerhin müßte man immerfort von der Psychologie borgen. Das Ideal wäre eben der Zusammenfall der logischen mit der psychologischen Entfaltung. Ja er wäre geeignet, beide zu verifizieren. Schiller schrieb 1797 an Goethe (vgl. Wilhelm Böhm, Über die Möglichkeit systematischer Kulturphilosophie, [Halle a.d. S.] 1927 [S. 46 f.]): »Möchte es doch einmal einer wagen, den Begriff und selbst das Wort Schönheit, um welches einmal alle jene falsche Begriffe unzertrennlich geknüpft sind, aus dem Umlauf zu bringen und, wie billig, die Wahrheit in ihrem vollständigsten Sinn an seine Stelle zu setzen.« Fiedler hat es gewagt und dabei die beiden großen Ströme der Überlieferung vereint: die Richtung Baumgar ten- Hegel und die Kants. Und indem er das Problem der Form gebieterisch ins Zentrum rückte, ward er zum Vater unserer modernen formalen Kunstwissenschaft, ja ward ihm überhaupt das Problem einer Kunstwissenschaft im strengsten Sinne des Wortes erst klar. Es ist der Geist klassischer Kunst, der uns hier entgegentritt. Wo sie sich regt, leuchtet das Form-problem auf. Xenophon erzählt in seinen Erinnerungen an Sokrates, daß dieser einmal eine Unterredung mit dem berühmten Bildhauer Kleiton gehabt habe. Die Archäologen versichern, daß jener Kleiton kein anderer und geringerer war als Polyklet. Während der Künstler die Schönheit auf bestimmte Zahlen- und Maßverhältnisse zurückführen will, gibt der Philosoph zu bedenken, ob es denn nicht auch bildnerische Aufgabe sei, den Ausdruck des Seelischen zu gestalten. Der klassische Künstler ringt stets unter dem Zeichen der Form. Und der Theoretiker wird immer den gleichen Einwand erheben müssen wie Sokrates. Er wird den Ausbau einer Lehre zu verlangen haben, die der Form ihr volles Recht gibt, aber der sinnerfüllten Form, die das Geistige erzeugt, die also eine unersetzliche Gegebenheitsweise des Geistigen bildet. Denn wäre das Geistige schon ohne diese Form da, und würde bloß durch sie »eingekleidet«, so wäre die Form letzthin unnötig, dann dürften wir das Geistige fordern ohne Einkleidungen und Verkleidungen. Jenes spezifisch Geistige muß also auf Gedeih und Verderb an diese spezifische Form gebunden sein, nur in ihr und durch sie sich verwirklichen. Damit ist aber ein ganz anderer Bezug noch zum Historischen gesetzt, als die vorhin erörterten. Ehe wir uns jedoch diesen Fragen zuwenden, in deren Verfolg, meiner Anschauung nach, die richtige Lösung liegt, müssen wir der weiteren Schicksale der Lehre Fiedler s gedenken. [. . .]

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[. . .] II. [Material] Wir sagten, Kunst sei Gestaltung einer besonderen Art, deren Sinn sich in einem bestimmten Erleben erschließt, und wählten geflissentlich diese immerhin neutrale Definition. Nun ist es aber klar, daß diese Gestaltung lediglich in einem Material vollzogen werden kann. Es gehört als unerläßliche Bedingung zum Wesen der Kunst, daß dieses zu seiner Erfüllung eines Materials bedarf. Aus dem Wesen der Kunst ist es jedoch nicht ersichtlich, welche Materialien es gibt, und wie sie beschaffen sind. Wir müssen gleichsam das Wesen der betreffenden Materialien durchleuchten mit dem Wesen der Kunst, jene daraufhin prüfen, welche Eignung sie kraft ihrer Eigengesetzlichkeit besitzen, diese besondere Form der Gestaltung zu vollziehen. So gewinnen wir die verschiedenen Kunstarten nach dem Materialgesichtspunkt: z. Bsp. Wortkunst, Marmorkunst, Farbenkunst usw. Man hat häufig gemeint, diese Gliederung der Künste sei empirisch tatsächlich aber nichts, was durch das Wesen der Kunst legitimiert wäre. Diese Behauptung ist nur zum Teil richtig. Daß das Kunstwerk überhaupt eines Materials benötigt, ist eine Voraussetzung alles Kunstseins und bedarf keiner Bestätigung durch die Erfahrung. Von der Warte der Kunst aus ist aber gewiß nur empirisch tatsächlich das Vorhandensein bestimmter Materialien in ihrer bestimmten Eigenart. Ihre Kunsteignung ist jedoch – wenigstens grundsätzlich – zu erkennen, wenn wir das Wesen der Materialien befragen auf die künstlerische Verwertungsmöglichkeit ohne Rücksicht auf den Entwicklungsverlauf der Kunst. Bevor es Porzellan gibt, kann ich sicherlich nicht das Wesen der Porzellankunst enträtseln, aber ihre Gesetzlichkeit gilt zeit- und raumlos, wenn ich mich so ausdrücken darf. Porzellankunst, als Inbegriff jener Gesetzlichkeit, ist kein Stil, aber verschiedene Stile bedienen sich ihrer in verschiedener Weise. Und gleichfalls ist den Wesen der Kunst und der Materialien zu entnehmen, warum gewisse Materialien besonders günstige Bedingungen für das Kunstsein tiefem, während andere weit weniger geeignet sind. Ein Zuviel an Spekulation – und das gilt für alle unsere Betrachtungen – würde die ungeheuere, ewig sich erneuende Buntheit der Erscheinungen entfärben, eine unfruchtbare Erstarrung zeitigen; ein zu wenig sie der Willkür und der Laune des Tages überliefern. Ganz unzweckmäßig scheint mir z. Bsp. die so beliebte und fast unausrottbare Zweiteilung der Künste in solche des Nach- und des Nebeneinander. Wollen wir

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darüber Rechenschaft legen, warum es denn Künste der Zeit und des Raumes gibt, so enden wir bei der bescheidenen Einsicht, weil die Künste sich in verschiedenen Materialien realisieren, und es auf dem Wesen dieser Materialien fußt, sich in künstlerischer Hinsicht zeitlich oder räumlich zu Organisieren. Zeit und Raum sind dabei keineswegs der erzeugende Grund, weder für die betreffende Scheidung, noch für die Beschaffenheit der betreffenden Kunstarten. Es ist nur ein beredtes Zeichen für die unsystematische Art unserer Kunstforschung, wenn sie immer noch an Gliederungen sich klammert, ohne nach ihrem Sinn zu fragen. Vielen dünkt nun die Behauptung sehr wenig großartig, das Material bilde eine unerläßliche Voraussetzung für das Kunstsein. Diese Sucht nach blendender Großartigkeit ist die offene oder geheime Triebfeder so vieler kunstphilosophischer Unternehmungen, die darum in dilettantischer Unwissenschaftlichkeit stecken bleiben. Denn die kühnsten Ahnungen verdunsten, wenn sie nicht in den Dienst strengster Methodik gestellt werden, während unscheinbare Einsichten zu größter Bedeutung auswachsen, falls sie – erzeugt durch Einsicht in die wahren Sachverhalte – folgerichtig entwickelt werden, Daß etwa Farben Kunstmittel sein können, ist natürlich eine recht harmlose und wenig aufregende Einsicht. Aber wir müssen weiter fragen z. Bsp., welche verschiedene Anwendung Farben zulassen. Es scheinen sich da drei Möglichkeiten zu ergeben: Farben als formklärendes Prinzip, als reine Klänge und als Dingbezeichnungen. Um eine Fläche von der anderen zu trennen, brauche ich sie bloß verschieden zu färben. Ich orientiere mich auf diese Weise über den Formaufbau. Die Farbe bedeutet mir in dieser Verwendungsart nicht das Ding, sondern sie hebt nur seine Form hervor und hebt sie von anderen ab. Dabei treten ganz andere Anforde rungen an die Farbe heran als bei ihrer reinen Klangverwertung oder bei ihrer Benutzung als Dingfarbe. Da wird sie von den Gegenständen her bestimmt. Und wieder lassen sich verschiedene Möglichkeiten unterscheiden: entweder handelt es sich um die Lokalfarben – die eigentlichen Dingfarben – oder um die farbige Gesamterscheinung, in der sich mir ein Komplex in einer bestimmten Situation darbietet. Im ersteren Fall ist das sommerliche Baumlaub immer grün, im letzteren kann es blau, rot, gelb, weißlich sein. Die reinen Klangwirkungen aber gehen schlechthin an den Dingen vorüber; sie existieren nicht für sie. Nur die immanente Harmoniegesetzlichkeit der Farben kommt für jene in Frage. Das gliedernde Verfahren kennt lediglich die Formen der Dinge, welche die Farben heraustreiben. Die Dingfarben suchen nur den Dingen oder Dingkomplexen gerecht zu werden. Jedes dieser Prinzipien erzeugt eine eigengesetzliche Kunstart, die ein ganz bestimmtes Gebiet umfaßt. Aber vielleicht noch interessanter und aufschlußreicher sind die möglichen Verbindungen. So kann gewiß in weitem Umfang das Prinzip der Klangwirkungen sich mit dem der Dingfarben vermählen. Alle Farben der Gegenstände vermögen z. Bsp. jenem Klangprinzip angeglichen zu werden, wie es etwa der sogenannte »kultivierte« oder »jüngere« Impressionismus versucht, wie es aber auch die »klassische« Malerei tut. Sie legt dabei noch auf die gliedernde Wirkung der Farbe besonderen Nachdruck und unterscheidet sich schon dadurch von allem Impressionismus, daß sie vorwie-

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gend der Lokalfarben sich bedient: Es kann jedoch auch ein gewisser einheitlicher Ton – ein bestimmtes »Kolorit«, wie man zu sagen pflegt – gleichsam alle sonst auseinanderfallenden Dingfarben zu einer Einheit verknüpfen dadurch, daß sie auf ihn abgestimmt sind. Oder die Dingbedeutung dämmert nur leise und wie von fern her in die Klangwirkung der Farben hinein, in ihr fast aufgelöst, ohne doch völlig zu verblassen. Damit ist der Kreis grundsätzlicher Möglichkeiten noch lange nicht abgeschlossen, aber durch die wenigen Bemerkungen doch wohl das methodische Vorgehen genügend illustriert. Daran könnten all die bekannten Untersuchungen an. gereiht werden, wie und wodurch es möglich ist, in die Sprache der Farben die Verhältnisse der »Wirklichkeit« umzusetzen. Und schließlich wird es zu einem Wesensvergleich kommen müssen mit den Bedingungen der Linie, mit denen von Wort und Ton, Aber auch der Grenzen, die jedem Material kraft seiner Eigenart gesetzt sind, muß nachdrücklich gedacht werden: der Vor- und Nachteile, die sich aus dieser Begrenzung herleiten, und der Art, wie sich ein Material mit diesen Grenzen abzufinden vermag. Und weitere Fragen erheben sich: ob nämlich gerade aus der Begrenzung eines Materials seine Verbindung mit einem anderen erfolgen kann, derart daß gleichsam das eine dort ansetzt, wo das andere aufhört, sodaß sie sich zu einer erweiterten Wirkungseinheit zusammenschließen. Welche Gesetzlichkeit folgt nun aus der Eigenart der Materialkomplexität? So wie verschiedene Materialien zu besonderen Kunstarten sich verbinden und es gilt, den Rechtsgrund für dieses Bündnis aufzudecken, so müssen wir – was übrigens an unserem Farbenbeispiel bereits aufgewiesen ist – auch innerhalb eines Materials verschiedene Kunstzweige unterscheiden, die auf seinen verschiedenen Möglichkeiten sich aufbauen: wie etwa freie Plastik und Relief, und innerhalb des Reliefs das Hoch- und Tiefrelief. Doch ganz falsch wäre es hier vielleicht die Medaillenkunst einreiben zu wollen, denn damit würde ein vollständig anderer Gesichtspunkt in unsere Einteilung hineingezogen. Es ist – trotz reichlich bereits geleisteter Arbeit – ein schier unendliches und ungemein ergiebiges Feld, das sich der Forschung auftut, wenn sie in methodischer Folgerichtigkeit all die Sachverhalte ermittelt, die schließlich der so selbstverständlichen Einsicht entkeimen, daß jedes Kunstsein ein Material voraussetzt. Der Geist der Materialien erzeugt die verschiedenen Material-Kunstarten. Ich brauche nicht nochmals auszuführen, daß es sich nicht darum handeln kann, einzelne Eigenschaften willkürlich herangeholter Materialien beliebig herauszugreifen, sondern durch systematische Arbeit den Geist der Materialien zu durchleuchten mit dem Wesen der Kunst: Materialien als Kunstmittel, nur als solche stehen sie hier in Frage. Wir betrachten damit die Kunst unter dem Gesichtspunkt der einen Voraussetzung ihrer Gegenständlichkeit. Und der Erfolg ist die Aufdeckung der Rechtsgründe für bestimmte Kunstarten und hiermit für bestimmte Gestaltungsprinzipien und Gestaltungsformen der Kunst.

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III. [Seins-Schicht]

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Als weitere Voraussetzung nennen wir die »Seinsschicht«. Ist der Materialgesichtspunkt seit alters her bekannt und besonders ausgezeichnet, so gilt dies durchaus nicht von jenem, den wir nun zu erörtern haben. Die fraglichen Erscheinungen wurden natürlich schon bemerkt und behandelt, aber meist ohne das klare Bewußtsein, was sie grundsätzlich bedeuten. Allgemein spricht man von einer naturalistischen, realistischen und idealistischen Kunst, wobei man darunter das wachsende Entfernungsmaß von der »Naturwirklichkeit« versteht. Materialunterschiede sind hier gewiß nicht entscheidend. Wenn auch natürliche Zuordnungen bestehen, so ist doch ein ganz weiter Variationsspielraum frei. Die Wortkunst kann z. Bsp. alle jene Qualitäten aufweisen, das einemal naturalistisch sein, das anderemal realistisch oder idealistisch. Welche Bedingungen sind hier wirksam? Die Seinsschichten bilden den idealen Boden, der das Kunstwerk trägt, den es aber selbst kraft seiner Gestaltung erzeugt. Da kommt etwa in Betracht, ob ich der Einzeltatsache das eigentliche Sein beimesse oder der unveränderlichen Gesetzlichkeit oder auch der Wertgeltung; ob ich das Sein eines Menschen mosaikartig aufbaue aus einer Unzahl kleiner Züge, oder ob ich es auf eine einzige, durchgehende Eigen schaft projiziere. Das sollen keinerlei erkenntnistheoretische Fixierungen sein über den Begriff des Realen, den der Existenz oder Nichtexistenz. Deswegen bekümmert uns auch nicht die erkenntnistheoretische oder metaphysische Entscheidung, ob es verschiedene Schichtungen des Seins gibt oder nur verschiedene Auffassungsformen des Seins, und inwieweit diese durch die Gegenstände bedingt sind. Zu welchen Ergebnissen auch immer diese Forschungen leiten mögen, an der Tatsache ist nicht zu zweifeln, daß es mannigfache Möglichkeiten gibt, »Wirklichkeit« aufzubauen und zu erleben. Findet der eine sie in einem Netz starrer Begriffe, weil sie das eigentlich Ruhende und Dauernde sind, während alles andere vorüberfließt und entgleitet, so verlegt er den Standpunkt seines Wirklichkeitsbewußtseins und seines Wirklichkeitszusammenhanges ganz wo andershin als einer, der dem Augenblick nachjagt, weil in diesem alles Wirkliche ihm enthalten scheint. Ebenso gehört der Unterschied hierher, ob einer in der Form das eigentliche Wesen der Dinge sucht oder in der Farbe. Dem ersteren ist die Farbe eine sekundäre Zutat, höchstens notwendig, um die Form zu klären, dem letzteren setzt sich erst die Form – sofern er ihr überhaupt Beachtung leiht – aus Farben zusammen, als den eigentlichen Elementen. Ist nun aber die Seinsschicht eine unerläßliche Voraussetzung der künstlerischen Gegenständlichkeit wie das Material? Es würde zweifellos auch dem Wesen der Kunst entsprechen, wenn allenthalben die gleiche Seinsschicht sich fände. Denn die Seinsschichten sind ihr so gegeben wie die Materialien. Man muß aber dabei ein doppeltes beachten: daß etwas ein Kunstwerk ist – also eine besondere Gestaltungsform auf ein bestimmtes Erleben hin – verleiht ihm bereits ein bestimmtes Sein, eben das Kunstsein. Aber von diesem, allen Kunstwerken gemeinsamen Sein sprechen wir hier nicht, sondern von den Seinsstufen, die innerhalb der Kunst

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auftreten, ohne doch in sich etwas mit Kunst zu tun zu haben. Das Kunstsein ist an die Kunst gebunden, und ich kann ihm außerhalb der Kunst lediglich in den Fällen begegnen, wo ich Gegenstände als Kunstgegenstände auffasse, wie etwa beim sogenannten künstlerischen Naturgenuß. Daß ich aber das einemal den Schwerpunkt des Seins in den Begriff verlege und das anderemal in die augenblickliche Erscheinung, hat an sich so wenig mit Kunst zu schaffen wie die Tatsache, daß es Marmor, Bronze, Farben oder Töne gibt. Aber ohne eine der möglichen Seinsschichten in seiner Gestaltung zu realisieren, hinge das Kunstwerk gleichsam im luftleeren Raum; es könnte sich zu keiner Wirklichkeit verdichten, weil eben »Wirklichkeit« aufgebaut werden muß und auf gewissen Elementen fußt. Und darum zerreißt auch jeder – sagen wir – unfreiwillige Wechsel der Seinsstufen rettungslos das Kunstwerk; denn es zerfällt dadurch in verschiedene Wirklichkeitslagen, die nicht innerlich geeint sind, sondern einander widerstreiten. Setze ich z. Bsp. in ein zartes duftiges Linienornament einen dicken Farbenklecks, so beziehe ich diese beiden Sachverhalte auf zwei verschiedene Seinsschichten. Sie gehören anderen Lagern an; ich trenne sie darum von einander und fasse sie nicht einheitlich zusammen. Und ist ein Bild ganz flächenförmig gestaltet, und nur an einer Stelle klafft ein tiefes, dreidimensionales Loch – selbstverständlich auch bloß gemalt – so ist das ein Vorstoß in eine andere Welt. Der Wirklichkeitszusammenhang ist gestört. Oder nehmen wir den Fall, in einem Bilde seien alle Farben auf einen harmonischen Zusammenklang eingestellt. Dieses Zusammenstimmen aller Dinge ist die eigentümliche Wirklichkeit, der gegenüber das einfache Nebeneinandersein der Dinge als unwirkliches Chaos erscheint. Nun ist in diesem Bilde eine reine Gegenstandsfarbe, die sich in jene Organisation nicht einfügt. Sie zerfetzt jene Wirklichkeit, denn auf einmal drängt sich eine andere Seinsschicht vor. Aber ein Kunstwerk ohne jede Seinsschicht? das ist wie ein viereckiges Dreieck, etwas in sich Unmögliches. Wir können keinem Lebewesen die Luft entziehen, ohne es zu töten; zu seinem Werden bedarf es schon der Luft. Die Vergegenständlichung des Kunstwerks ohne eine bestimmte Seinsschicht ist schlechthin unvorstellbar. Bei einem willkürlichen Wechsel der Seinsschichten käme es nur zu Trümmern von Kunstwerken, nicht zum systematischen Zusammenschluß des Kunstwerks in seiner Einheit. Und irgendeine Wirklichkeit formen, die nicht seinsbezogen ist, hieße verlangen, ohne Bausteine zu bauen. Nur aus Bequemlichkeitsrücksichten mag es statthaft sein, sich – wo es überhaupt angeht – über die Wirklichkeit des Kunstwerks Rechenschaft zu geben durch Vergleich mit der Wirklichkeit, die wir Naturwirklichkeit nennen, obgleich auch sie doch nichts ein für allemal Feststehendes ist, sondern abhängig von unserer Stellung zu Leben und Welt. Ernstlich kann also gar nicht die Rede davon sein, daß wir hier einen unverrückbaren Punkt haben, von dem aus wir messen können, um auf diese Weise die möglichen Relationen zu bestimmen. Hiermit dogmatisieren wir nur in unkritischer Weise unsere Wirklichkeitsauffassung. Sachlich ist zu fordern, daß die Wirklichkeit des Kunstwerks geklärt wird aus ihren eigenen Bedingungen, d. h. aus ihrem Aufbau. Das moderne realistische Drama wollte

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»Lebenswahrheit«. Damit ist noch gar nichts gesagt. Es muß vielmehr untersucht werden, worauf sich seine Wirklichkeit gründet, wie es sich diese erzeugt. Da hat man häufig u. a. folgende Qualitäten genannt: an Stelle des Monologs tritt die Pantomime; die Charakteristik der Personen erfolgt möglichst durch Handlungen, weniger durch Aussprüche anderer Personen und noch weniger durch eigene. Die Vorgeschichte wird nicht erzählend dargelegt, sondern gelegentlich geboten wie in zerstreuten Mosaikteilchen. Merkwürdige Zufälle werden vermieden; die Sprache immer reicher differenziert usw. Nun kann ich mich gewiß darüber freuen, wie geschickt durch eine Pantomime einem Monolog ausgewichen wird, oder wie unauffällig die gesamte Vorgeschichte verwoben ist in den fließenden Gang der Handlung. Aber damit freue ich mich der Leistung, der dramatischen Technik. Ich will durchaus diese Freude nicht verpönen, aber sie hat mit unserer Frage nach den Seinsschichten nichts zu schaffen. Denn die gleiche Freude – nur unter anderen Vorzeichen – stellt sich etwa ein, wenn ich die Vorzüglichkeit der Materialbehandlung bewundere. Ein anderes Verhalten entspricht der Seinsschicht: daß ich durch sie erst Wirklichkeit erlebe und zwar eine bestimmte Wirklichkeit. Daß keine Monologe da sind, sondern Pantomimen, usw., das ermöglicht erst diesen bestimmten Wirklichkeitseindruck. Man hat nun die Seinsschichten gleichsam als Sprachen angesehen, kraft deren Zeichen man alles auszudrücken vermag, die aber selbst frei von Ausdruck sind. Daß die Seinsschichten den Baugrund liefern, auf dem man die verschiedensten Gebäude errichten kann, gebe ich in gewisser Hinsicht zu. Nur bedingen sie eben mit den Bau. Mögen sie welchem Ausdruck auch immer dienen, sie verleihen ihm eine bestimmte Tönung, eine gewisse Nähe oder Ferne, eine gewisse Intensität usw. Wenn ich mich gegen den Versuch einer Loslösung vom Ausdruck energisch auflehne und keine »Ausdrucksneutralität« zugestehe, so geschieht es aus dem Grunde, weil in Verfolgung dieses Weges der »Ausdruck« schließlich zu etwas wird, das gar keinen Kunstcharakter mehr haben kann. Sobald wir das Erleben abtrennen von der besonderen Gestaltungsform, gehen wir über die Kunst hinaus. Heben wir irgendwie den Sinn von der Gestaltung ab, so tun wir letzten Endes nichts anderes als jene berüchtigten Schulmeister, die immer nach den Ideen fahnden, die über oder hinter dem Kunstwerk liegen sollen, als ob das Kunstwerk nur der Pfeil auf einem Wegweiser wäre. Die Grundeinsicht dürfen wir nicht verlassen, daß das Kunstsein auf einer spezifischen Gestaltung gründet, deren Wesen ein spezifisches Erleben korrespondiert. Es gibt da kein »vor, hinter, neben oder über.« Jeder Änderung der Gestaltung geht eine solche des Er lebens parallel. Aber trotzdem ist der Einwand noch nicht völlig abgewiesen. Es könnte sich ja auch so verhalten, daß die den Seinsschichten korrelative Gestaltung lediglich eine notwendige Voraussetzung wäre für die weitere Ausgestaltung, die erst eigentlich für den Ausdruck in Betracht käme. Wohl würde sich mit jeder Gestaltungsverschiebung auch der Eindruck wandeln, der Grund läge aber darin, daß dann jene weitere Ausgestaltung sich ändern müßte bei Änderung der Seinselemente. Dafür scheint zu sprechen, daß jede Zeit wähnt, in ihrer Kunst den Gipfel des Wahrheitseindruckes erreicht zu haben. Die

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Erklärung dürfen wir gewiß nicht darin suchen, daß der Fortgang der Kunst eine stetige Entwicklung auf naturalistischer Bahn bedeutet, sondern die Seinsschicht der Kunst erscheint adäquat der Einstellung der Zeit zur Wirklichkeit, und darum offenbaren sich für die auf dieser Ebene Stehenden »die innersten Geheimnisse der Natur« durch die Kunst. Darum halten die Anhänger des sog. realistischen Dramas das sog. klassische für »unwahr«, weil ein anderer Wirklichkeitszusammenhang und Wirklichkeitsaufbau in diesem walten, die für jene nicht verpflichtend sind. Sie verlegen den Schwerpunkt des Seins in ganz andere Momente. Und die Freunde des klassischen Dramas erblicken im realistischen wieder nur eine seichte Veräußerlichung der Wirklichkeit, ein Sein, das kaum diesen Namen verdient, weil die echten Seinsbezüge und Seinselemente gar nicht in ihm Platz haben. Das gleiche gilt von dem Verhältnis des Impressionismus zum Expressionismus; auch dabei handelt es sich letzten Grundes um ein anderes »Sein«. Nun erfaßt der in einem gewissen Stil Wurzelnde das ihm entsprechende Sein in einem Kunstwerk als einen besonderen Vorzug des Werkes, als einen Wert, den er all den Arbeiten abspricht, die auf einer anderen Seinsschicht aufgebaut sind. Gewiß erblicken wir darin irrige Werturteile: ein impressionistisches Bild verliert nicht dadurch an Wert, weil es ein anderes Sein vertritt als ein expressionistisches. Vom Boden des ihm eigenen Seins muß die Wertung gefällt werden, sonst mißt man mit verschiedenen und unvergleichbaren Maßen. Wir stimmen völlig dieser Ansicht bei. Aber mit jenem Vorzugscharakter ist noch etwas anderes gemeint, das nicht widerlegt wird durch jene Einsichten in Werthaltungen: der bestimmte Wirklichkeitseindruck eines Kunstwerks entzieht sich keineswegs als selbstverständlich der Beachtung, wie wir etwa im gewöhnlichen Leben nicht auf die Worte unser Aufmerken spannen, sondern auf das, was sie bedeuten. Die Stärke, die Eindringlichkeit des Eindrucks werden sehr bewußt »empfunden«, und zwar so kräftig, daß häufig gerade mit darin das »Werturteil« sich verankert. Bisher wahrten wir die Fiktion, als ob einer Kunstepoche nur eine einzige Seinsschicht zukäme, nämlich immer die gleiche. Das ist aber nur in grobem Sinne wahr, und mit darauf ist ja auch die Tatsache zurückzuführen, daß wir überhaupt von Stilen sprechen können und dürfen. Aber ebenso gewiß ist es wahr, daß innerhalb jener Gleichheit noch sehr viel Raum sich bietet für mannigfache Verschiedenheiten in den Seinsschichten. Wir denken dabei nicht so sehr daran, daß das gleichsam vom Stil geforderte Sein ein verschiedenes Erfüllungsmaß finden kann; sondern dieses Sein ist an sich kein Punkt, vielmehr eine Strecke, in der zahlreiche Verschiebungen möglich sind. Selbst wenn man also jene grundsätzliche höhere Gleichheit als selbstverständliche Voraussetzung empfände, so käme doch den Variationen über dieses Grundthema immer wieder eine andere Färbung oder Tönung zu. Ich will das mit einem drastischen Beispiel aus einem anderen Gebiet illustrieren: würde auch die Madonnenmalerei wegen des ewigen Madonnenmotivs zu einer gleichgiltigen und langweiligen Selbstverständlichkeit – obwohl ich glaube, daß bereits die Tatsache der Madonnendarstellung auf die für diesen Wert Empfänglichen Eindruck macht und deshalb schon das Bild irgendwie hervorhebt –

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so gewänne doch die besondere Art, in der dieses Thema im Einzelfall sich darbietet, stets eine neue Bedeutung. Gleiches gilt von den Seinsschichten in der Kunst. Je mehr man auf eine bestimmte Seinsschicht abgestimmt ist, desto feinere Differenzen wird man auch empfinden, und desto stärker werden auch die leisesten Verschiebungen wirken. Nur dem flüchtigen und ungeschulten Blick wechseln erst die Seinsschichten bei dem gewaltigen Sprung vom Impressionismus zum Expressionismus; der besser Bewanderte wird innerhalb der einzelnen Reihen schier eine Unendlichkeit deutlicher Seinsverschiedenheiten erfassen, eine Vielfältigkeit, die sicherlich kein einfaches Einerlei bedeutet. So wie diese Verschiebungen in der Gestaltung des Kunstwerks immer neue Änderungen bedingen, die erst durch sie verständlich werden, so bewirken sie auch immer neue Veränderungen des Eindrucks und sind darum ebensowenig »gestaltungsneutral« wie »ausdrucksneutral«. Für die Einteilungsglieder, die hier in Frage kommen, sind meistens noch keine passenden Namen vorhanden. Sie können erst geprägt werden, wenn die sachlichen Untersuchungen genügend weit gediehen sind. Sonst erhält man stets nur Münzen in die Hand, die gleich wieder durch andere ersetzt werden. Ob man trotz der Vieldeutigkeit Ausdrücke wie naturalistisch, realistisch, idealistisch beibehalten soll, bleibe dahingestellt. Gefährlich ist es unter allen Umständen, Bezeichnungen, die für einzelne Stile gelten, einfach zu übertragen auf die diesen Stilen entsprechenden Seinsschichten. Denn dann muß immer wieder gefragt werden, ob etwa vom Impressionismus oder Expressionismus in diesem oder jenem Sinne die Rede ist. Das einemal hätte man von einem Impressionismus zu handeln als einer zeitlich mehr oder minder streng begrenzten Erscheinung, das anderemal aber von einem an keine Zeit gebundenen Impressionismus, der vielleicht mit dem ersteren nur im Moment der Seinsschicht übereinstimmen würde. Darum empfiehlt es sich schon, für so verschiedene Sachverhalte auch verschiedene Namen einzuführen und etwa zu sagen: dem Im pressionismus korrespondiere eine bestimmte Seinsschicht, aber natürlich nicht nur sie, sondern auch andere Bedingungen, und vor allem eine ganz bestimmte Synthese dieser wesenhaften Seiten. Dann ist es ohne weiteres begreiflich, daß diese Seinsschicht auch anderen Stilen angehören kann. Zieht man es jedoch vor, mit den Namen Impressionismus und Expressionismus bestimmte Seinsschichten zu fixieren, so wäre es angebracht, die betreffenden Stile anders zu benennen. Welche Anordnung auch schließlich die Forschung treffen mag, das Bewußtsein von den eigentlichen Problemen darf sie nicht mehr verlieren, soll sie nicht in den chaotischen Zustand zurücksinken, aus dem sie eben mit schweren Wehen erwacht. In allerletzter Zeit hat man immer deutlicher empfunden, daß das, was man als malerisch, linear, plastisch, tektonisch bezeichnet, sich nicht deckt mit Malerei als Farbenkunst, Zeichnung als Linienkunst, Plastik als Körperkunst usw., sondern. daß es sich hierbei um Bedingtheiten handelt, die nicht an ein bestimmtes Material gefesselt sind, in Künsten verschiedenen Materials vorkommen, obgleich sie vielleicht einem Material naturgemäß zugeordnet erscheinen. Mit steigender Klarheit stellt sich das Ergebnis heraus, daß da Unterschiede der Seinsschichten zugrunde liegen,

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die sich in verschiedenen Materialien realisieren können, aber eine wesenhafte Zuneigung zu einem Material oder zu einigen offenbaren. Es ist in unserem Zusammenhang leider nicht möglich, in eine Erörterung dieser Fragen einzutreten. Ein fast unausrottbares Vorurteil behindert die Forschung, durch wachsend subtilere Differenzierung der komplexen Verschlungenheit der fraglichen Sachverhalte sich zu nähern, nämlich die dunkle Angst, in scholastische Haarspalterei zu verfallen. Als ob etwa die Knochen- und Bänderlehre der Anatomie sich von solchen Bedenken abhalten ließe. Solange wir mit einem bescheidenen und weitmaschigen Begriffsmaterial arbeiten, werden wir niemals die Strukturverhältnisse eines Kunstwerks klären, seine Gegenständlichkeit begreifen. Und auf keinen Fall dürfen wir uns blind auf die verschwommenen Ausdrücke der üblichen Kunstsprache stützen; sie sind der praktischen Not der Verständigung entsprungen und haben zum Teil Vorzügliches in ihrem Dienste geleistet. Ihre dehnbare Verschwommenheit erwies sich als Vorteil; denn sie erleichterte ohne gründliche Nachprüfung die Verwendung. Aber im allgemeinen leiten diese Worte nicht weiter als zu den recht primitiven Scheidungen der Volkssprache. Wie vieldeutig ist es schon, wenn man von einer in einem Bildwerk gegebenen Bewegung redet, ohne genaue Bestimmung, worauf jene sachlich zurückgeht: ob auf die Darstellung eines bewegten Gegenstandes, auf die Darstellungsweise, oder ob es die durchgehende das Sein konstituierende Bewegung ist, weil in diesem Falle das Nicht-Bewegte als ein Nicht-Seiendes empfunden wird, und Sein in Bewegung erst sich erfüllt, in einer Bewegtheit, die mit Ruhe und Bewegung der dargestellten Gegenstände nichts zu tun hat. Aber selbst wo die üblichen Bezeichnungen zutreffen, haben wir niemals eine Gewähr dafür, ob ein Wort einen elementaren oder komplexen Tatbestand meint oder auch eine Gesetzlichkeit, ob. irgendeine systematische Vollständigkeit erreicht ist, ob Grundsätzliches von bedingt Geltendem geschieden wird. Gerade da eröffnet sich der Kunstphilosophie ein ganz weites Feld, das umso schwieriger zu beackern ist, weil schon so viel Raubbau auf ihm getrieben ward.

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IV. [Kunstverhalten und Darstellungsweise] Wir wenden uns nunmehr der dritten unerläßlichen Voraussetzung der künstlerischen Gegenständlichkeit zu, nämlich dem Kunstverhalten. Die Reihenfolge, in der wir unsere Bedingungen hier ausbreiten, ist völlig gleichgiltig und soll in keiner Weise irgendeinen Rangunterschied bedeuten. Das wäre ein gänzlich verkehrter Gesichtspunkt. Es hat doch auch keinen Sinn, bei einem Dreieck zu fragen, ob es für seine Konkretion bedeutsamer ist, daß es drei Seiten hat oder zwei Rechte zur Winkelsumme. Indem ein Material künstlerische Gestaltung erfährt, gewinnt es eben eine bestimmte Seinsschicht, wird es angelegt auf ein bestimmtes Kunstverhalten. Eine Abtrennbarkeit besteht da nicht: vielmehr eine Einheit, an der wir verschiedene wesenhafte Seiten zu unterscheiden vermögen, oder die erzeugt ist durch den organischen Zusammenschluß verschiedener korrelativer Bedingungen.

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Besprechen wir das Kunstverhalten als unerläßliche Voraussetzung für die Gegenständlichkeit des Kunstwerks, so zielen wir nicht auf irgendwelche Erlebensweisen, die angesichts eines Kunstwerks aufzutreten vermögen, für die das Kunstwerk den geeigneten Anlaß darstellt, sondern wir beachten die Gestaltungsbesonderheiten des Kunstwerks, die seiner Rücksichtnahme auf ein gefordertes Verhalten entspringen. Ist z. Bsp. ein Rebhuhn derartig auf eine schwarze Tafel gemalt, daß der von fern Kommende überzeugt sein muß, hier hänge ein Rebhuhn, so ist er bei näherem Zusehen »verblüfft«, daß es sich um eine Malerei handelt. Nun kann er sich über dieses üble Virtuosenmätzchen mit Recht ärgern, aber das geht uns hier nichts an, sondern lediglich die Tatsache, daß die ganze Arbeit auf diese »Verblüffung« hin orientiert ist und heischt, diese Verblüffung solle sich in eine Bewunderung des Könnens auflösen. Die gesamte Gestaltung ist mit durch diese Absicht geleitet, kann also nur aus dem Kunstverhalten heraus verstanden werden. Hier handelt es sich demnach um kein Kunstverhalten, das sich in den Gegenstand versenkt, sondern in das Können, kraft dessen dieser Gegenstand gerade so dargestellt ist. Von diesem Verhalten scheidet sich gewiß jenes, das sich willig und völlig dem Gegenstande hingibt. Diesen Verschiedenheiten der Verhaltungsweisen entsprechen verschiedene Kunstarten oder Kunsttypen, die eben auf jene angelegt sind, gerade dieser Einstellung entgegenkommen. Wertunterschiede kommen hierbei wieder nicht in Betracht, denn in jeder dieser Richtungen – die aus der eben erwähnten Gabelung entspringen – ist genügend Raum für »gute« und »schlechte« Werke. Zu achten ist stets darauf, daß ein bestimmter Kunstverhaltungstypus immer geneigt ist, gemäß seiner Veranlagung alles aufzunehmen, also in seine Bahn umzubiegen. Unser Problem aber lautet: wie erzeugt ein bestimmter Kunstverhaltungstypus die Gestaltungsgrundlagen im Kunstwerk, und welche Kunstart ist sein objektiver Niederschlag? Es ist die gleiche Frage, die wir hinsichtlich der anderen Prinzipien aufwarfen: welche Gestaltung folgt aus dem Wesen eines bestimmten Materials oder einer bestimmten Seinsschicht? Wir untersuchen ja weder Materialien, noch Seinsschichten oder Verhaltungsweisen in sich, sondern in ihrem Bezug auf das Kunstwerk, also auf die spezifische Gestaltung für ein bestimmtes Erleben, derart daß der Sinn dieser Gestaltung in dem Erleben sich erschließt. Darum bedarf es auch keiner Begründung, daß wir das Kunstverhalten einreihen in die Kette unerläßlicher Voraussetzungen der Kunst. Wir dürfen vielleicht darauf verzichten, weitere Kunstarten namhaft zu machen, die jener Grundlage entspringen. Ihre Besonderheit ist wohl klar. Hüten muß man sich nur vor einem extremen Psychologismus, der lediglich Reaktionsarten kennt, während uns der psychologische Typus als Hilfsmittel dient zur Deutung von objektiven Gestaltungsweisen der Kunst. Weiter schreitend stoßen wir auf das Prinzip der Darstellungsweise und damit auf eine Seite der Kunst, die ernstlich kaum jemals bestritten wird. Man ist im Gegenteil allzuleicht geneigt, diese Seite zu schwer zu belasten, d. h. möglichst alles in sie hineinzulegen, von dem Gefühle geleitet, daß sie als Grundsatz der Formung die eigentlich künstlerischen Werte schafft. Wir vermögen diese Ansicht nicht zu teilen, weil unserer Überzeugung nach die anderen »Seiten« nicht minder

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künstlerische Werte erzeugen, oder besser gesagt: nur durch das notwendige Zusammentreten aller Bedingungen kristallisiert sich der Gesamtwert des Kunstwerks. Nur durch die Vernachlässigung der Bedin gungsvielheit konnte jene Ansicht sich bilden. Sie wird noch von dem Gedanken gespeist, daß eben alles auf den Künstler zurückgehen müsse; was irgendwie dem Kunstwerk Wert verleihe. Gewiß verhält sich das genetisch so. Darnach fragen wir hier aber nicht. Und auch die genetische Untersuchung, soll sie nicht alles verwirren, muß darauf Rücksicht nehmen, wie der Künstler die Gesetzlichkeit des Materials zur Geltung bringt oder sich überhaupt mit ihr auseinandersetzt, wie er eine bestimmte Seinsschicht realisiert, wie er sein Werk auf ein bestimmtes Kunstverhalten anlegt, und – von den Darstellungswerten jetzt noch nicht zu sprechen – welche Darstellungsweise er dem Kunstwerk gibt. Die berühmte Scheidung zwischen dem naiven und sentimentalischen Dichter – wir dürfen sie getrost auf die ganze Kunst ausdehnen – trifft gewiß einen Unterschied der Darstellungsweise. Selbstverständlich bestehen wieder natürliche Zuordnungen zu bestimmten Gliedern der anderen Kunstseiten. Aber deswegen darf doch nicht verkannt werden, daß es sich hier um ein Prinzip handelt, das sich nicht deckt mit Material, Seinsschicht oder Kunstverhalten. Für durchaus irreführend muß ich es halten, die Darstellungsweisen als aesthetische Grundstimmungen aufzufassen. In manchen Romanen spüren wir überall milde, gütige Weisheit, in anderen flammende, glühende Leidenschaft. Es kann auch alles ins »Schöne« hinein dargestellt werden, daß ein Duft von Schönheit alles durchtränkt, ein Sehnen nach Schönheit überall durchklingt, wobei nicht an das Schöne als Darstellungswert gedacht werden darf, sondern als Darstellungsweise. Nun geht es aber gewiß nicht an, Weisheit, Güte, Leidenschaft, Zartheit als aesthetische Grundstimmungen zu bezeichnen, allerdings etwa Sehnen nach Schönheit, aber dies wäre lediglich eine unter anderen gleichberechtigten »Grundstimmungen«, der in keiner Richtung irgendeine Sonderstellung zukäme. An sich bekümmern uns auch alle diese Qualitäten nichts, ebensowenig wie ein bestimmtes Material oder irgendeine Seinsschicht, sondern nur in ihrem Bezug auf Kunst. Wie werden aus ihnen Darstellungsweisen? welche Gestaltungsprobleme ergeben sich da? wie werden sie für die Kunst und in der Kunst bedeutsam? Und da können wir sagen, daß ein Kunstwerk ohne Darstellungsweise – falls wir fiktiv eine derartige Absurdität annehmen – ein kaltes Rechenexempel wäre, nicht von Leben durchblutet und durchwärmt. Besehen wir Epigonenarbeiten, so muß es ihnen nicht an verständnisvoller Materialbehandlung fehlen, an dem Festhalten in einer bestimmten Seinsschicht, an gewaltigen Darstellungswerten, an der Anlage auf Kunstverhalten, aber sie sind – langweilig, tot. Die Darstellungsweise mangelt nicht, aber sie reicht nicht aus, alles in gleicher Weise zu beleben, von innen heraus zu erfüllen. Es ist, als ob von der Welt die Farben weggewischt wären. Und an der Gestaltungsart dieser Werke läßt sich der objektive Nachweis erbringen: sie sind gleichsam nackt und fröstelnd in ihrer Blöße. Es fehlen gerade die Besonderheiten, welche eine lebensvolle Einheit knüpfen. Man denke an Fotografien, um ungefähr das zu empfinden, was ich meine. Auch wo in einem Roman oder auf einem

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Bilde die Auffassung völlig »objektiv« erscheint, fühlen wir etwa ihre klar-gesunde Nüchternheit, oder ihre Unerbittlichkeit, ihre grenzenlose Ehrlichkeit, die fromme Andacht vor der Wunderwelt des Seins. Sicherlich werden wir Kunstarten darnach unterscheiden müssen, ob eine der wesenhaften Seiten in den Vordergrund tritt, oder auch einige, beziehungsweise alle in gleichem Maße. Dadurch ergeben sich eine Fülle von Akzentverschiebungen und damit erkennen wir erst den unsagbaren Reichtum künstlerischer Gestaltungsweisen. Wir glauben keineswegs, daß etwa in diesen Fällen die anderen Seiten wegfallen – das ist ja unmöglich, da sie unerläßliche Voraussetzungen der Gegenständlichkeit des Kunstwerks bilden – aber sie können verschieden betont sein. Das einemal vermag der Zentralwert vornehmlich auf dem Material sich aufzubauen, das anderemal auf dem Kunstverhalten, der Darstellungs weise usw. Wo das Material allein im Vordergrunde steht, liegt immer die Gefahr des Virtuosistischen oder kalt Artistischen nahe; die allzueinseitige Rücksichtnahme auf das Kunstverhalten vermag ins Geist- und Seelenlose abzuirren, wie wenn etwa nur auf Rührung und Spannung hin gearbeitet wird, ohne zu beachten, was eigentlich rührt oder spannt. Es ist dann gleichsam nur ein Erleben um des. Erlebens willen und nicht wegen der in ihm beschlossenen Werte. Aber nicht immer muß es sich bei jenen Einseitigkeiten um Entgleisungen oder Erniedrigungen handeln: die Intensität einer Darstellungsweise vermag zu erschüttern oder zu beglücken, gerade weil sie scharf in. den beherrschenden Blickpunkt des Beachtens eingestellt ist. Wir können an dieser Stelle nicht auf die typischen, oder gar möglichen Komplexionen eingehen, nur hinweisen auf die Problemfülle, die in der weiteren Verfolgung unseres Weges sich offenbart. Von verschiedener Seite her werden wir noch öfter ihr begegnen. V. [Darstellungswert]

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Wir haben jetzt unserer letzten Voraussetzung zu denken, nämlich des Darstellungswertes. Damit zielen wir nicht auf eine stoffliche Einteilung. Es wäre überhaupt bedenklich, den Stoff als unerläßliche Voraussetzung künstlerischer Gegenständlichkeit anzusehen. Denn was ist etwa der Stoff eines inhaltfreien Ornaments oder einer schlichten Melodie? Die Linien oder die Töne; aber das gehört doch zum Material. Und sagt man: die Stimmung, etwa das anmutig-graziöse Spiel der Linien, oder die Sehnsucht, die aus den Tönen schluchzt, so ist das jedenfalls ein Stoff ganz anderer Art als der, wenn ich einen Maler als Blumen- oder Tiermaler bezeichne. Gerade diese primitive, aber ungemein folgenschwere Aequivokation müssen wir unbedingt vermeiden. Rede ich von Blumen- oder Tiermalern, so mag dies in gewissen Fällen ganz nützlich sein als Hinweis auf das Feld ihrer Betätigung. Aber über die Gestaltung des Kunstwerks ist damit noch nichts ausgesagt. Es kommt darauf an, mit welchen Wertzeichen versehen jene Blumen oder Tiere erscheinen, ob vielleicht als geeignete Träger von Farbenklängen, oder ob die Blumen den zarten, duftigen Hauch des Frühlings ausatmen, oder die Tiere den breiten, ruhigen,

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gesättigten Eindruck dumpfen Lebens hervorrufen. Man hat diese Werte häufig als Gehalt dem Stoff gegenübergestellt. Und ich will gewiß nicht die Bedeutung dieser Gegenüberstellung verkennen, die einstmals einen gewaltigen Fortschritt ausmachte und heute noch mit praktischem Erfolg von den verschiedenen Kunstdisziplinen verwendet wird. Aber in unserer Gliederung ist kein Platz für sie: wir reden ja auch nicht in der allgemeinen Kunstwissenschaft von der Bronze in sich, sondern von der Bronze als Kunstmaterial, von ihrer Eignung zur Kunstgestaltung, und wie sie im besonderen Falle diese Gestaltung beeinflußt. Darum wäre es auch verkehrt, von Stoffen in sich zu sprechen, von Blumen, Tieren, Menschen, Bergen und Flüssen. Denn diese Stoffe gehen doch nur in die Kunstgestaltung ein, weil sie nach irgendeiner Richtung hin Wertträger sind oder einem Werte dienen. Man darf sich hier nicht durch die genetische Betrachtung täuschen lassen, die es manchmal so hinstellt, als ob der Künstler sich eines Stoffes bemächtigt, und durch die künstlerische Arbeit dem Stoff der Gehalt entwächst, wie dem Marmor die Statue. Die Richtigkeit dieser Behauptung brauchen wir hier nicht nachzuprüfen; sie ist auch gänzlich unverbindlich für unsere Ziele. Denn das die Gestaltung Bestimmende ist eben der »Gehalt«, und nicht der Stoff. Der Stoff ist ein Mittel, durch das der Gehalt sich offenbart. Wer vollkommen willkürlich fotografiert, der fängt mit seinem Apparat nur Stoffe ein. Der künstlerische Fotograf wählt nach Wertgesichtspunkten: da eine Ruine, weil sie »malerisch« ist, dort ein Antlitz, weil es »bedeutend« ist usw. Das Malerischsein der Ruine, das Bedeutendsein des Antlitzes, das sind die bestimmenden Gründe. Auch wo der Hauptakzent gar nicht auf dem Dargestellten liegt, wie z. Bsp. in jenen Fällen, bei denen das Kunstwerk vornehmlich seinen Wert von der Darstellungsweise oder von der Seinsschicht her empfängt, kommt der Stoff als Stoff nicht in Frage, sondern insoweit er jene Darstellungsweise oder Seinsschicht ermöglicht, ihr irgendwie zugeordnet ist. Darum können wir hier nicht von »Stoffen« sprechen, denn die Gestaltung lenken die Werte, und die Stoffe nur dadurch, daß sie jenen Werten dienen. Mit der Scheidung von Stoff und Gehalt hat sich noch ein anderes Mißverständnis eingeschlichen. Indem man den Stoff im Kunstwerk zum Gehalt sich entwickeln ließ und damit gleichsam Anfang und Endpunkt einer Linie faßte, war man geneigt, den Gehalt für das »Kunstwerk« zu nehmen und die Form für die Gesamtheit der Mittel, diesen Gehalt aus dem Stoff hervorzuzaubern. Damit sperrte man sich für die wesenhaften Seiten der Kunst, die wir durch die Prinzipien des Materials, der Seinsschicht usw. hervorhoben. Aber indem man das Auge für gewisse Seiten der Kunst verschloß, entzog sie sich überhaupt dem Verständnis. Denn der Gehalt war dann natürlich das, um dessentwillen die Kunst da ist, was nur ihr allein angehört. Und doch zeigt die schlichteste Erwägung, daß dieser durch seine Einfachheit bestrickende Gedankengang falsch ist. Malerische Ruinen, bedeutsame Geberden, eindrucksvolle Ereignisse, Sehnsucht und Jubel, Erschütterungen und Beseligungen des Gefühls gibt es auch außerhalb der Kunst. Sprechen wir von ethischen, sinnlichen, sexuellen, religiösen usw. Darstellungswerten, so meinen wir natürlich nicht, daß Ethisches als Ethisches, Sinnliches als Sinnliches, Sexuelles als

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Sexuelles außerhalb der Kunst nicht vorkommen, wohl aber daß sie durch die Kunst eine bestimmte, nur ihr eigene Gegebenheitsweise erlangen, eben weil die Kunst eine spezifische Gestaltung auf ein bestimmtes Erleben ist, derart daß der Sinn jener Gestaltung in diesem Erleben sich erschließt. Darum reden wir auch von dem Ethischen als Darstellungswert, also von seiner Kunsteignung. Das Ethi sche an ihm bleibt aber immer etwas Ethisches, und es wäre unerfindlich, wie es als solches etwas »Künstlerisches« werden sollte oder etwas »Aesthetisches«. Wie der »Gehalt« uns im Kunstwerk entgegentritt, das hängt ganz davon ab, in welchem Material, in welcher Seinsschicht er gestaltet ist, in welcher Darstellungsweise und auf welchen Kunstverhaltungstypus hin. Will man all dies in den Gehalt hineinverlegen und in die Form als das den Gehalt Erzeugende, so mag dies ja vielleicht nur Angelegenheit der Terminologie sein. Es verbirgt sich jedoch in den allermeisten Fällen hinter ihr die sachliche Unklarheit, welche die Probleme vergröbert und ihre wesenhafte Differenzierung gar nicht bemerkt. Und schließlich bleibt dann auch der »Gehalt« in dem Sinne ungedeutet, auf den wir hier abzielen, wenn wir vom Darstellungswert handeln als unerläßlicher Voraussetzung künstlerischer Gegenständlichkeit. Wir meinen nicht den Gehalt, den wir einfach dem Wert des Kunstwerks gleichsetzen könnten, noch den, der sich irgendwie von der Form abheben läßt, sondern eben den Wert des Dargestellten im Kunstwerk. Und daß im Kunstwerk alles Gestaltung ist, wissen wir. So ist auch der Darstellungswert letzthin ein Gestaltungsproblem genau wie die Darstellungsweise und die anderen Prinzipien. Hat man das einmal erkannt, so wird man auch gar nicht mehr in Versuchung geraten, immer wieder Ablösungen von der Gestaltung vornehmen zu wollen. Denn damit löst man die Kunst auf. Diese theoretischen Ausführungen wollen wir nunmehr durch einige Beispiele verlebendigen, indem wir uns etliche der wichtigsten Darstellungswerte vorführen. Da fallen zunächst die sinnlichen Werte auf: die Freude an Farben, Akkorden, am Klang der Worte, daß die Auffassung gewisser Linien lustbetont ist usw. Ganze Kunstzweige zehren von diesen Werten; zahlreiche Ornamente und Tapeten, dekorative Bilder A, bestimmte lyrische Formungen, obgleich das Material der Dichtung weniger diesen Darstellungs werten zugeordnet ist, als das der Musik, bei der das Sinnliche bekanntlich eine große Rolle spielt. Aber dieser Darstellungswert kommt nicht nur dort in Frage, wo er allein vorherrscht oder doch überwiegt, sondern auch überall da, wo er sich mit einem anderen vermählt und verbündet. Man halte Versuche derartiger Scheidungen nicht für Ausfluß überängstlicher Pedanterie; nur in Fortsetzung dieser Wege können die Gestaltungsprobleme wahrhaft geklärt werden: wie z. Bsp. ein Darstellungswert in der Gestaltung sich durchsetzt, wie er etwa als zentraler andere Darstellungswerte als Mittel benützt, und inwieweit diese noch eine Sonderbedeutung fordern, ob sie sich jenem Werte entgegenstemmen oder ihn gar beeinträchtigen, sei es daß sie selbst zu stark hervortreten, sei es daß sie es an Wert fehlen lassen. A

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Als weiteres Beispiel dürfen wir vielleicht die sexuellen Darstellungswerte namhaft machen. Ganz auszuschalten sind dabei Erwägungen, ob etwa das Kunstverhalten eine Art Ersatz für den Sexualgenuß zu bieten vermag, ob leichte sexuelle Tönungen selbst das Kunsterleben durchsetzen usw. Diese Fragen hat in erster Linie die Psychologie zu beantworten. Aber auch das Sexuelle als Darstellungsweise bleibt für uns außer Betracht, also die Art, alles so darzustellen, daß es eine sexuelle Bedeutung erhält. Spricht man vom sexuellen Darstellungswert, so erledigt sich eigentlich der Einwand, er falle künstlerisch heraus wegen der Unverträglichkeit des Sexuellen mit der rein aesthetischen Geisteshaltung. Für uns ist diese Besorgnis schon deswegen erheblich gemindert, weil wir ja durchaus nicht die allgemeine Kunstwissenschaft als Teilgebiet der Aesthetik auffassen oder die Kunst als Ausschnitt aus dem Aesthetischen. Aber selbst der Aesthetiker müßte doch bedenken, daß aesthetisch genießen und der Genußgegenstand verschiedene Sachverhalte sind. Aus der Unverträglichkeit des aesthetischen Genießens mit der Infektion seitens des Sexuellen folgt nicht die Tatsache, daß auch dem Genußgegenstand alles Sexuelle fernbleiben muß. Wo der Gegen stand Träger starker ethischer oder intellektueller Werte ist, liegt sicherlich die Gefahr nahe, daß die genießende Einstellung zu gunsten einer anderen durchbrochen wird, ganz zu schweigen etwa von Fällen, bei denen wie in der Porträtkunst vielleicht die persönliche Bekanntschaft mit dem Porträtierten eine persönliche Interessiertheit am Objekt erzeugt, die seiner Aufnahme als Kunstwerk entgegensteht. Es ist demnach in keiner Weise einzusehen, warum dem sexuellen Wert in der Kunst eine andere Stellung zukommen soll als den Wertreihen des Ethischen, Religiösen usw. Das Geschäft der künstlerischen Gestaltung ist es eben, ihm Darstellungswert zu verleihen, ebenso wie den sinnlichen oder intellektuellen Qualitäten. Strahlt ein Venusbild erotischen Zauber aus, vermag gewiß das Begehren sich an ihm zu entzünden; aber verfolge ich das heroische Leiden eines Helden im Drama, können ebenso mein Mitleid mit ihm, meine Empörung über seine Widersacher derart heiß aufflammen, daß das ganze Kunstwerk darob versinkt. Wirft man den sexuellen Darstellungswerten als unliebsame Folgeerscheinung eine mindestens »leichte Interessiertheit« am Gegenstande vor, so besteht diese Interessiertheit in nämlichem Maße, wo es sich um religiöse oder ethische Gegenstände handelt. Sie alle müßte man ausschließen, und bei konsequent radikalem Vorgehen blieben dann von der Kunst vielleicht Tapeten übrig und ihnen analoge Kunstzweige. Aber über die Bedeutung und Geltung sexueller Darstellungswerte – wie z. Bsp. die Stimmung einer pikanten, gepflegten Erotik – darf sich die allgemeine Kunstwissenschaft kein Urteil anmaßen. Wohl aber kann sie sagen, daß jene durchaus in die Gestaltung der Kunst eingehen, daß sie völlig eine künstlerische Gestaltung gestatten, derart daß der Sinn dieser Gestaltung im Kunstverhalten sich erschließt. Den Zusammenhang ethischer, religiöser oder nationaler Wertlagen mit der Kunst wird niemand in Zweifel ziehen wollen. Wichtiger ist es vielleicht auf die Lebens werte hinzuweisen, wie ich sie in Ermanglung einer passenden Bezeichnung nennen will: daß ich kräftiges oder schwächliches Leben fühle in seinen

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Höhen und Tiefen, nicht irgendwie ethisch oder intellektuell bezogen, sondern nur als breiten Lebensstrom. Von der dadurch gestillten Neugier und Wißbegierde, von den dadurch entfachten Funktionsgefühlen sprechen wir hier nicht, sondern von dem fühlenden Innewerden des dargebotenen Lebens. Aber auch das Aesthetische als Darstellungswert gehört in diese Reihe, von der wir lediglich einige besonders kennzeichnende Glieder herausgreifen können. Ich meine damit selbstverständlich nicht die Grundtatsache, daß die Aufnahme jedes Kunstwerks den Weg über das aesthetische Erleben nimmt, wenn sie auch nicht in ihm sich erschöpft und auch keineswegs die entscheidenden Werte vom Aesthetischen her erhalten muß. Ich meine auch nicht das Schöne etwa als Darstellungsweise, diesen Hauch des Schönen, der noch das Gräßliche und Furchtbare umschweben kann, sondern eben das Schöne oder weiterhin das Aesthetische als Darstellungswert: daß wir »Schönes«, »Aesthetisches« erleben. Dieses Moment des Schönen oder des Aesthetischen bedingt dann die Stoffauswahl und Stoffgestaltung, mag es sich dabei um gegenstandsfreie Farben und Töne, oder um bestimmte Gegenstände handeln. Will man von einer aesthetischen Kunst im prägnanten Sinne sprechen, so muß man jene Komplexion ins Auge fassen, bei welcher der Darstellungswert des Schönen sich vermählt mit der Darstellungsweise des Schönen und den geeigneten Qualitäten der Seinsschicht, des Kunstverhaltens und des Materials. Aber man hat dann nur eine Kunstmöglichkeit vor sich neben anderen nicht minder berechtigten: Irgendeine Vorzugsstellung vermögen wir ihr nicht einzuräumen. In unserer Musterung fortfahrend müssen wir auf eine Gruppe von Kunstarten hinweisen, die aus der Gliederung der Kunst nach den Darstellungswerten in ihrem Wesen zu erfassen sind, um. den zahlreichen Untersuchungen, die ihnen gelten, den richtigen Standpunkt und den angemessenen Ausgangspunkt zu sichern. So gehören die Zwecke, die einem Kunstwerk gesetzt sind, zu seinem Darstellungswert. Ist einem Bauwerk aufgegeben, eine Kirche zu sein, so folgen aus dieser Zweckbestimmung eine ganze Fülle von Anforderungen, denen die künstlerische Gestaltung Rechnung tragen muß. Es wäre überhaupt keine Kirche, wenn diesen Anforderungen nicht Genüge geschähe. Und die Erfüllung jener Bedingungen erzeugt den Wert des Kunstwerkes, eben als Kirchenbau. Dabei handelt es sich gewiß nicht nur darum, daß sogenannte »praktische« Zwecke künstlerisch realisiert werden, sondern ebenso die nicht minder wichtigen »idealen«. Wirkt ein Einfamilienhaus »freundlich«, »einladend«, »gemütlich«, so ist dieser Eindruck nicht durch die unmittelbare, praktische Zwecksetzung gefordert, aber es gehört zum idealen Wesen dieses Baues, »freundlich, einladend und gemütlich« zu sein. Und dieser Wert muß durch die Gestaltung hervorgerufen werden; sie wird verständlich im Hinblick auf ihn. Ein bescheidenes Wohnhaus, dem diese Werte abgehen würden, wäre unbehaglich; es würde irgendwie seinen Zweck verfehlen. Und an der Gestaltung könnte man objektiv jene Mängel nachprüfen. Ein stolzerer Wohnbau wäre wieder etwa auf die Werte des Vornehmen, Repräsentativen, Reichen angelegt; und es hieße diese Anforderung völlig umkehren, wenn an ihrer Stelle der Eindruck des Protzigen, Aufdringlichen, in seiner Überladenheit Ordinären entstünde. So

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müssen auch keineswegs jene idealen Zwecksetzungen des Kirchenbaues als Darstellungswerte immer die gleichen sein. Die ganze Gestaltung und der gesamte Eindruck werden sich wesentlich verschieben, wenn einmal die religiöse, mystische Innerlichkeit zum Ausdruck gelangt der von der Erde empor sich sehnenden Seele, und das anderemal der Glanz, die Macht, der Reichtum der Kirche. Aber nicht bloß in der Architektur kommen diese durch bestimmte Zwecksetzungen bedingten Darstellungs werte in Frage, sondern in der Dichtung überall dort, wo es sich um Tendenz handelt, in der Musik, soweit sie etwa dem Tanze oder dem Marschieren »dient«, in der Malerei, die vor die Aufgabe des Porträts gestellt ist. Auch die Darstellung bestimmter Landschaften, Städte, historischer Ereignisse darf man als eine erweiterte Porträtkunst auffassen, da die Darstellungswerte hier nicht in erster Linie davon abhängig sind, daß die betreffenden Gebilde schön oder sonst irgendwie bedeutsam erscheinen, sondern daß sie den Ausdruck schaffen jener bestimmten Landschaft, Stadt oder jenes bestimmten historischen Ereignisses. Selbstverständlich kann ich das den Werken nicht ohne weiteres »ansehen«, aber ich beurteile sie falsch, ich verstehe sie in einem gewissen Sinne nicht, falls ich nicht weiß, daß ihre Gestaltung auf jene Darstellungswerte angelegt ist. Weiter gelangen wir in Verfolgung unserer Prinzipien zu Kunstarten, die meist unter ganz anderen Gesichtspunkten behandelt Werden. An dieser Stelle können wir uns lediglich an der Hand eines Beispiels die »Sache« klarmachen, auf die es hier ankommt. Wir fassen – um es kurz im vorhinein zu sagen – das Tragische als Darstellungswert. Daß man das Tragische nicht einfach als eine rein aesthetische Kategorie betrachten darf, wird heute immer deutlicher erkannt. Man hat auch bereits darnach gestrebt, das Tragische in Beziehung zu den Darstellungswerten zu bringen. Von einer größeren Zahl neuerer Forscher wird die Ansicht vertreten, Tragik liege vor, wo sich uns ein überragender Wert durch Not und Tod offenbare. Wir können jene Werte im Erleben nur fassen auf dem Wege über Not und Tod: ob ein Mensch Mut hat, das zeigt sich anschaulich und zwingend erst in der Gefahr; ob ein Mensch seine Ideale nicht nur im Munde führt, sondern bereit ist, für sie zu leiden, das offenbaren erst die Lagen, die jenes Leid erheischen oder die Preisgabe der Ideale. Und weil dies allgemein gilt, daß das Echte sich erst in der Not überzeugend kundgibt, weil da alle Masken fallen, so hat man allmählich auch einen allgemeinen Namen dafür gefunden und seine Bedeutung schärfer abgegrenzt: eben auf jenes Offenbaren von Werten durch Leid, durch Not und Tod. Dann scheint es allerdings schwer verständlich, wieso man zu der Lehre von der tragischen Schuld gelangen konnte, zu einer Lehre, die heute zwar fast einstimmig aufgegeben ist, aber von den meisten immer wieder einer eingehenden Widerlegung gewürdigt wird. Man kam zu dieser Lehre durch eine schiefe Fragestellung: ist alles Kunstverhalten Kunstgenuß, dann dünkt es doch unmöglich, den Tod eines schuldfreien, fleckenreinen Helden zu »genießen«. Um diesen Genuß zu retten, mußte der Held in Schuld fallen. Oder anders ausgedrückt: diese irrige Fragestellung ergab sich, weil man den Stoff für die Hauptsache nahm und nicht den Darstellungswert. Dieser erhebt sich gerade oft in dem Maße, als

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der Held schuldloser und fleckenreiner wird. Der Tod ist nur Gestaltungsmittel, um einen Darstellungswert zu offenbaren, ähnlich wie in einer Melodie jeder Ton zu ihrem Aufbau notwendig ist. Die Entwicklung des Tragischen zu einer besonderen Kunstart, die von jeher das allgemeine praktische und theoretische Interesse in Anspruch nahm, beruht also darauf, daß die Kunst in ihm ein wichtiges, ja unentbehrliches Mittel besitzt, gewisse Werte zu prägen, die sie auf andere Weise gar nicht auszudrücken vermag. Vom Standpunkt des Kunstverhaltens ergibt sich hier eine natürliche Zuordnung, nämlich eine besondere Empfänglichkeit unserer Teilnahme für das Leiden, ein reich flutender Erlebensstrom usw. Dabei sind die auf der Unlustseite sich bewegenden Gefühle durchaus nicht gleichgültig: denn durch sie hindurch und nicht anders erfassen wir jene Werte; ebenso wenig gleichgültig wie die glühenden Farben eines Sonnenunterganges oder das stille Hüttchen im Tal, das der Zauber friedlicher Geborgenheit umweht. Ich behaupte nicht, das Tragische sei ein Darstellungswert wie der ethische, nationale, religiöse usw., aber das Tragische ist der Gestaltungsorganismus zur Kundgabe gewisser Werte, eine bestimmte Form, die ihre künstlerische Gegenständlichkeit ermöglicht. Ähnliche Erwägungen würden zeigen, daß es sich mit dem Komischen, Erhabenen usw. auch so verhält. Ebenso wäre das Problem hinsichtlich des Häßlichen, wie aus diesem und durch dieses Darstellungswerte entspringen können, und ob es vielleicht unentbehrlich ist zur künstlerischen Gegenständlichwerdung gewisser Werte. VI. [Intellektuelle Darstellungswerte]

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Eine eigene Betrachtung müssen wir den intellektuellen Werten widmen, nicht etwa weil wir ihnen einen besonderen Vorzug beimessen, sondern weil die Forschung durch Verwirrung der hier zuständigen und fälschlich herangezogenen Probleme zu mancherlei sehr bedenklichen Aufstellungen gelangt ist, die aber so großen Einfluß gewonnen haben, daß sie geradezu unsere Grundauffassung vom Wesen der Kunst bedrohen. Zunächst gilt es alle diejenigen intellektuellen Akte auszuscheiden, durch die sich das Kunstwerk erst für uns konstituiert. Sie ermöglichen das angemessene Kunsterleben dadurch, daß wir das Kunstwerk realisieren und kein anderes Gebilde, das mit dem gemeinten Sinn des Kunstwerks nur sehr wenig oder gar nichts zu schaffen hat. All die zu dieser Zielerreichung erforderlichen intellektuellen Akte lassen für uns das Kunstwerk entstehen nach Materialeigenart, Seinsschicht, Darstellungsweise, Kunstverhalten[s]typus, Darstellungswert und nach seiner organischen Einheit. Ob stets hierfür intellektuelle Akte notwendig sind, und wie sie im Einzelfall beschaffen sein müssen, entschlägt sich an dieser Stelle der weiteren Nachprüfung. Andere Fälle des Intellektuellen in der Kunst ergeben sich aus der Betrachtung der Kunstverhaltungsweisen eben dadurch, daß bestimmte Typen nur intellektuell genießen können, und die Gestaltung der Kunstwerke mit diesem Typus rechnet, auf ihn angelegt ist. Hier wäre etwa der Typus zu nennen, der jedes Kunstwerk als

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Leistung auffaßt und die Schwierigkeit oder Höhe dieser Leistung genießt. Dann müssen wir auf das intellektuelle in der Darstellungsweise die Aufmerksamkeit lenken: wir brauchen bloß – worauf ja oft und oft hingewiesen wurde – eine klassische griechische Statue mit einer nordischen Holzfigur des Mittelalters zu vergleichen, um zu erkennen, daß dort der Körper geradezu begrifflich durchgebildet ist, während hier der Körper einem flutenden Ausdruck dient. Unsere Unterscheidungen erleichtern uns nun die Einsicht in das Intellektuelle als Darstellungswert. Das nicht Hierher-gehörige ist gleichsam auf andere Geleise abgeschoben, sodaß die eigentliche Bahn freiliegt. Daß die Kunst ungemein viel Wissen vermittelt, entzieht sich jedem Streit. Aber viele sind geneigt, in dieser Wissensvermittlung nur eine Folgeerscheinung indirekter Natur zu sehen, die mit dem Wesen der Kunst nichts zu tun hat. Das gilt sicherlich innerhalb gewisser Grenzen. Aber wir sprechen von jenem »Wissen«, das zum Sein des Darstellungswertes, also zweifellos zum Kunstwerk gehört als ein von ihm unablösbarer Faktor. Wir sagen damit nicht, daß es zu jedem Darstellungswert gehören müsse, ebensowenig wie wir dies von Sexuellen oder Ethischen behaupten. Aber es kann zum Darstellungswert gehören, und wo dies der Fall ist, besteht jene Unabtrennbarkeit. Handelt es sich um die Darstellung gewisser Lebensverhältnisse, um das Seelenleben eines Helden, da »lernen« wir eben diese Sachverhalte »kennen« und zwar im Kunstwerk, wo dieses Kennenlernen in der Gestaltung auf ein bestimmtes Verhalten erfolgt, derart daß der Sinn jener Gestaltung in diesem Verhalten sich erschließt. Der Darstellungswert fußt also darauf, daß wir jene Sachbezüge »so« erfahren; aber es gibt einen guten Sinn nachzuprüfen, ob die fraglichen Lebensverhältnisse oder Schicksale »wahr« sind, »innerlich möglich,« Und ich erfasse im Kunstverhalten diesen Wert, den ich unmittelbar bejahe, dessen Echtheit ich erlebe: »es kann gar nicht anders sein.« Nicht abstrakt einsehen muß ich, daß es sich da um Wahrheiten handelt, sondern erleben muß ich sie aus der Gestaltung des Kunstwerks heraus. Es mag für zahlreiche Psychologen ein ärgererregendes Schrecknis sein, von einem Erleben oder Fühlen der Wahrheit zu reden. Ich zähle sicherlich nicht zu jenen, die das Evidenzerfassen in ein Fühlen der Wahrheit auflösen wollen, und habe oft genug diese unhaltbare Anschauung bekämpft. Sprechen wir hier von einem fühlenden Innewerden der Wahrheit, so sind wir uns dessen bewußt, mit diesen Worten einen Komplex ganz grob zu bezeichnen, der dringend phänomenologischer und psychologischer Analyse bedarf. Aber wie auch immer diese Analyse ausfallen mag, die Tatsache kann sie doch nicht umstürzen, auf die wir hinweisen, sondern nur »erklären«. Findet dann die Deutung unsere umschreibende Bezeichnung für unpassend, so wollen wir einen geeigneteren Ersatz dankbar annehmen. In keiner Weise kann uns jedoch die Psychologie an dem vorliegenden Tatbestand irremachen. Es fällt ja auch der Naturwissenschaft nicht ein, uns den »Eindruck« verbieten zu wollen, daß die Sonne »auf- und untergeht«; im Gegenteil: sie sucht begreiflich zu machen, warum wir jenen »Eindruck« haben und haben müssen. Und keine Naturwissenschaft könnte uns jenen Eindruck wegbeweisen. Sollten uns also manche Psychologen vorwerfen, unsere Behauptungen seien ihrer Wissenschaft zufolge unmöglich, so

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ist diese Unmöglichkeit nichts, was uns irgendwie beunruhigen könnte. Entweder ist jene Psychologie unmöglich, oder noch nicht so weit fortgeschritten, um mit ihren Mitteln die in Frage stehenden Komplexknäuel auflösen zu können. Nach zwei Seiten bestimmen wir daher den intellektuellen Darstellungswert: nach der Bedeutung, die den betreffenden Einsichten in sich zukommt, und nach der Art, wie »tief« wir ihre Wahrheit erleben, nach der Art, wie überzeugend und eindringlich sie im Kunstwerk gestaltet sind. Hier ist der Weg offen für weitere, sehr diffizile Untersuchungen; auf die wir an dieser Stelle nur hinweisen, ohne sie selbst zu verfolgen. Nach diesen Ausführungen fällt es nicht schwer, die übermäßigen Ansprüche einer intellektualistisch orientierten Kunstphilosophie auf das richtige Maß herabzuschrauben und zugleich auch zu erkennen, warum sie zu jenen Ansprüchen gelangte. Faßt man die Kunst als sinnliche Einkleidung der Idee, sodaß, Wissenschaft und Kunst, beide Wahrheit vermitteln, erstere aber rein und ungetrübt, letztere stets durch das sinnliche Medium, dann ist die Kunst zwar nicht zum Aussterben verurteilt, aber sie wird immer mehr von der Wissenschaft überschattet. Die Wissenschaft besiegt die Kunst. Und in der Tat ist die Kunst nicht zu retten, falls man sich entschlossen auf diesen Boden stellt und alle Konsequenzen aus dieser Stellungnahme zieht, ohne sie durch Scheinmanöver zu verwischen. Denn die Behauptung, die Gegebenheitsweise der Kunst rette ihr Eigenrecht gegenüber der Wissenschaft, bleibt natürlich in diesem Zusammenhang eine Ausrede, da es ja gerade an dieser Gegebenheitsweise liegt, daß wir die »Idee« nicht rein fassen. Durch sie eben unterliegt die Kunst. Nur wenn wir mit völlig anderer Grundanschauung an diese Frage herantreten, gelangen wir aus der Sackgasse heraus. Jene Gegebenheitsweise darf nicht als Mangel im Verhältnis zur höheren Stufe der Wissenschaft aufgefaßt werden, sondern als etwas, das gleichberechtigt neben ihr steht und zwar gar nicht auf der nämlichen Stufenleiter, als Wert, den die Wissenschaft kraft ihrer Mittel niemals zu bieten vermag. Nur so kann jener gefährliche Rationalismus überwunden werden. Das Problem des Darstellungswertes wird von seinen Anhängern häufig isoliert, und durch diese Isolierung wird die gesamte Kunst herabgedrückt zu einem Vorhof der Wissenschaft. Diese Einsicht hat nun einen anderen versteckteren Intellektualismus geboren, der nicht die Kunst der Wissenschaft zu unterordnen strebt, sondern sie als spezifisches Erkenntnisgebiet neben das der Wissenschaft setzt. Die Wissenschaft webt im Begriff, die Kunst lebt in der Anschauung. Zwei verschiedene Seiten der Wirklichkeit bauen sich auf in diesen Erkenntnisformen. Der zweifellos beste Ausdruck, den diese Lehre gewonnen hat, läßt jene Klarheit des Anschaulichen erst durch die Gestaltung der Kunst erzeugen. Gibt man zu, daß diese »Anschaulichkeiten« sich auch außerhalb der Kunst finden, dann kann man von der Kunst lediglich verlangen, sie möge sie auch dort herstellen, wo sie fehlen. Da es sich hierbei aber nicht um ein grundsätzliches Kunstsein handelt, kann das Problem der »anschaulichen Erkenntnis« – ebenso etwa wie das des Schönen – auch ohne jeden Bezug auf die allgemeine Kunstwissenschaft untersucht werden. Man könnte zwar noch immer sagen, der Wert eines Kunstwerkes beruhe gerade darauf, daß es seinen »Inhalt« in

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anschaulicher Erkenntnis vermittle, aber diese Gegebenheitsweise wäre dann kein Vorrecht der Kunst mehr. Worin das auszeichnende Merkmal ihrer Gegebenheitsweise besteht, was eigentlich den Kunstcharakter begründet, das wäre schwerlich nachzuweisen, jedenfalls dürften wir es nicht wieder in jenem Anschaulichen suchen. Diese Schwierigkeit vermeidet die Lehre, welche die Anschaulichkeit erst durch die Kunstgestaltung entstehen läßt, und der zufolge es geradezu absurd wäre, von einer Anschaulichkeit außerhalb der Kunst zu sprechen, man müßte denn einen ganz anderen Sinn dem Namen unterlegen. Die anschauliche Erkenntnis ist demnach an die Kunstgestaltung gebunden. Mag es außerhalb der Kunst etwas geben, was wir irgendwie als anschauliche Erkenntnis zu bezeichnen geneigt sind, jene anschauliche Erkenntnis kann es unter keinen Umständen sein. Einig sind wir mit dieser Lehre darin, den Kunstcharakter durch eine bestimmte Gegebenheitsweise zu fixieren, und diese Gegebenheitsweise objektiv als Gestaltungsproblem der Kunst zu fassen. Wir glauben. aber darum nicht, uns dem spezifischen Inhalt dieser Lehre anschließen zu können. Wir sehen uns sogar genötigt, sie wegen ihrer inhaltlichen Beschränkung entschieden abzulehnen. Man mag Erkennen noch so sehr von Erkennen scheiden, solange ich nur im Reiche des Erkennens bleibe, komme ich nicht aus der Wissenschaft heraus. Ob ich Anschauliches oder Abstraktes, Besonderes oder Allgemeines erkenne, das wandelt nicht den Grundcharakter des Erkennens als Erkennens. Die Kunst wird so zu einer Wissenschaft, meinetwegen eigener Art, aber doch Wissenschaft. Damit verliert die Kunst all die Werte, die auf ein fühlendes Verhalten abgestimmt sind. Ihrer Durchforschung müßte sich eine Disziplin widmen, die aber nicht mehr Kunstwissenschaft wäre. Aber selbst wenn alle Kunstwerke eine Prüfung auf anschauliche Erkenntnis gestatten würden, so wäre damit noch in keiner Weise ausgemacht, daß jene allemal der entscheidende Faktor sein müsse, daß von ihr aus der gesamte Gestaltungszusammenhang und Aufbau geklärt werden könne. Würde es sich lediglich um ein Erkennen handeln, dann vermöchte häufig die ganze Gestaltung anders sein, ihre Notwendigkeit wäre nicht ersichtlich. Jenes fühlende Erleben der Wahrheit, von dem wir sprachen, darf nicht ohne weiteres mit anschaulichem Erkennen gleichgesetzt werden, und es geht auch nicht an, es zum A und O der gesamten Kunstphilosophie zu stempeln. Will man alles, was an sinnlichem Reiz, an Stimmung, Gefühlsgehalt, Spannung und Beruhigung usw. in einem Kunstwerke liegt, radikal abtrennen, als unwesentlich, als nicht eigentlich zur Sache gehörig, so wird oft die Gestaltung völlig unbegreiflich, ihr Sinn verdunkelt; unergründlich, warum das Kunstwerk sich mit so unnötigen und störenden Beigaben belädt. Wird denn nicht häufig gerade der kunsterzeugte Zusammenhang des Sichtbaren in dieser bestimmten Gegebenheitsweise lediglich im Hinblick auf jene Gefühlsbedeutung usw. verständlich? Ein kaltes, frostiges Gerüst, nicht das Kunstwerk in seiner Reinheit bliebe, falls wir jenes Abzugverfahren anwenden würden. Ich muß nochmals mit allem Nachdruck betonen, daß diejenigen gründlichst irren, die immer vom Kunstwerk etwas abheben wollen, um die wahre Kunst herauszudestillieren. Sie ist eine organische Einheit, die verstümmelt wird, wenn man irgend einen Faktor antastet.

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Tatsächlich liegen jenem Problem zugrunde intellektuelle Darstellungswerte und intellektuelle Darstellungsweisen, sowie die Art, wie sie Kunstsein gewinnen; demnach eine bestimmte Möglichkeit der Kunst, die aber nicht das Auge dafür verschließen darf, daß es noch andere gibt, und sie nur eine unter vielen ist. Dazu kommt noch jener Kunstverhaltentypus, der Klarheit, Ordnung, Gesetzlichkeit verlangt, weil das Gegenteil. ihn beleidigt. In dieser Klarheit, Ordnung und Gesetzlichkeit konstituiert sich ihm die Wirklichkeit. Ein anderer Typus erblickt wieder gerade in ihnen das seine Wirklichkeit schlechthin Tötende, weil es den strömenden Fluß des Lebens zur Erstarrung, zur Vereisung bringt. Weitere Erwägungen – auf die wir hier aber Verzicht leisten müssen – würden wohl auch den noch nicht voll Überzeugten gänzlich dazu bekehren, daß jener lntellektualisierung der Kunst ein bestimmter Kunsttyp korrespondiert, ganz ähnlich wie die vormals so beliebten Versuche einer Aufsaugung des Künstlerischen durch das Ethische sich orientierten an einem einseitig ethisch gerichteten Typ des Kunstverhaltens. Mit dieser Einsicht ist aber die notwendige Konsequenz gefordert, daß hier mit Unrecht ein Teil für die Gesamtheit genommen wird, daß da wieder einmal – nur mit feineren und schärferen Mitteln – der Kampf gewagt ist, die Vielheit der Kunst zu erdrosseln im engen Prokrustesbett starrer Formeln. [. . .]

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Die Überschrift enthält schon in aller Kürze eine ganze weit umfassende und tief eingreifende Aufgabe, die hier vorerst einmal ausgesprochen und befürwortet werden soll. Sie stellt an beide genannten Gebiete unserer Denkarbeit die Forderung: sich über die geistigen Werkzeuge zu verständigen, die auf dem einen wie dem anderen gehandhabt werden sollten. Die Vertreter der Philosophie und die der Geschichte stehen einander noch immer zu fern, um der nahen Beziehungen, die schon logisch wie methodologisch in ihren Grundbegriffen gegeben liegen, soweit inne zu werden, wie es zu fruchtbarer Wechselwirkung notwendig wäre. Besonders den Kunsthistorikern ist das Bewußtsein der engen Zusammengehörigkeit noch immer nicht aufgegangen, oder vielmehr wieder abhanden gekommen. Es wird ihnen wohl gar mit Absicht ferngehalten und neuerdings sogar geflissentlich verleidet, weil eine Mehrzahl eifriger Durchschnittsarbeiter über der Anhäufung des weitschichtigen Materials das gemeinsame Ziel aus den Augen verliert oder bei dem Genuß der bunten Mannigfaltigkeit des Einzelnen nicht durch Erwägungen gestört sein will, die man ganz irrtümlicherweise für rein theoretische hält oder ausgibt 1. Die Kulturphilosophie ist das umfassendere Bereich, das eine ganze Reihe anderer Teilgebiete mitbeherrschen soll; aber sie kann diese nicht immer selbst mit ausreichender Sachkenntnis durchdringen. In doppelter Hinsicht frommt es deshalb der Kunstwissenschaft, ihrerseits die Verständigung zu suchen und bei der

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Diesen Standpunkt vertritt z. B. Fritz Knapp in einer Anzeige [= »August Schmarsow: Kompositionsgesetze in der Kunst des Mittelalters. 1. Halbbd. Leipzig / Berlin 1915« (Rez.)] der Deutschen Literaturzeitung [Bd. 38], 21. April 1917 [Sp. 519–520], in der als »kalte, nüchterne Theorie« [Sp. 519] gebrandmarkt wird, was gerade darauf abzielt, das Gesamtgebiet mittelalterlicher Architektur mit der Gefühlswärme des schaffenden oder des genießenden Menschen zu durchdringen, wie es bisher wohl nirgends versucht oder gar erreicht worden ist, es sei denn durch die vom Verfasser dieses Beitrags ausgegangenen Anregungen. Knapp hat das Buch, über das er aburteilt, überhaupt gar nicht gelesen, sondern ist am Ausgangspunkt stehen geblieben und meint, es handle sich um Erklärung aus »Naturinstinkten«;[ebd.] er gibt gar keine Auskunft über das Ineinandergreifen der Blickwanderungen mit der Ortsbewegung des Menschen durch den Raum hin und das daraus entspringende Erlebnis aller Formen, ebensowenig über die Anwendung des Prinzips auf 166 den romanischen Kirchenbau und deren Ertrag, zu dessen anschaulicher Vermittlung eigens ein Tafelwerk beigegeben ist. Keine Ahnung von dem Problem des Rhythmus überhaupt, das unsere Psychologen beschäftigt! Ganz unzureichende Aussagen über das, was denn eigentlich Gegenstand der Vergleichung zwischen der Raumform hier und der Strophenform dort sei. Mit solchen gewissenlosen Rezensionen (sogar gleich zwei Fliegen mit einer Klappe!) wird nicht allein die Literaturzeitung um ihr Ansehen gebracht, sondern auch unsere Wissenschaft, wo sie ernste, ausgereifte Lebensarbeit darbietet, dem Gespött der Laien preisgegeben. 1

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Feststellung ihrer Terminologie von vornherein das Augenmerk darauf zu richten, daß sie mit derjenigen der Kulturwissenschaften nach Möglichkeit im Einklang bleibe. So entschieden sie sonst darauf bestehen muß, ihr eigenes Rüstzeug selber auszubilden und nicht etwa das fertige, notwendig allgemeiner zugeschnittene, des größeren Ganzen einfach hinzunehmen, wie sie es vorfindet, als ob es auch zu ihren besonderen Zwecken auszureichen vermöchte, so dringend bleibt für sie die Pflicht, sich nicht kurzsichtig gegen den weiteren Sinn ihrer Begriffe zu verschließen. Dies ist um so mehr der Fall, da sich deren letzte befriedigende Klärung und deren entscheidende Tragweite häufig erst aus dem gemeinsamen Grunde gewinnen lassen, in dem sie alle wurzeln. Finden doch beide schon eine solche Unterlage in der Psychologie bereitet, unter der hier ausdrücklich auch die Psychophysik sowohl wie die Völkerpsychologie mit eingeschlossen werden sollen, wie anderseits die neuesten Abzweigungen, die differenzielle Psychologie und die des emotionalen Denkens, deren Erträgnisse insgesamt sich kein umsichtiger Forscher wird entgehen lassen 2. Wir anerkennen und verwerten bereitwillig die reifen Früchte der Psychologie als gemeinsame Grundlagen der Verständigung, auch wenn die Kunstwissenschaft ebensowenig wie die Kulturphilosophie gewillt sein kann, ihre Autonomie aufzugeben und sich unter die Obervormundschaft einer anderen, wenn auch noch so unentbehrlichen Disziplin zu stellen. Wir dürfen ja nicht vergessen, daß die sprachlichen Bezeichnungen, mit denen die Psychologie sich behelfen muß, wie »Empfindungen, Gefühle, Vorstellungen usw.« noch immer nichts anderes als Abstraktionen vermitteln, und daß vollends die geläufigen Erklärungen psychi scher Gebilde mit »Verbindung, Verknüpfung, Verschmelzung oder Assoziation, Kombination, Komplikation usw.« uns nicht das Leben selber in die Hand geben oder vor Augen stellen, sondern immer nur ein intellektuelles Surrogat sind, das uns allzuleicht verleitet, darunter aktive Kräfte zu erblicken, die unser Kausalitätsbedürfnis befriedigen könnten. Was uns mit solchen Hilfsmitteln bis dahin geboten ward, würde Kant doch nur zur »intuitiven Erkenntnis« und vielleicht gar nicht einmal zur »schematischen«, sondern zur »symbolischen Vorstellungsart« rechnen ([Immanuel Kant:] Kritik der Urteilskraft I, § 59, [hrsg. von Karl] Kehrbach [Leipzig 1878] S. 229). So sehr ich mich immer bemüht habe, die Fühlung mit der physiologischen, experimentellen und vergleichenden Psychologie auch mitten in historischer Einzelforschung aufrechtzuerhalten, so halte ich doch an dem Rechte der Kunstwissenschaft fest, die Leitung im eigenen Hause selbst zu bewahren. Auch wenn uns die deutsche Seelenkunde z. B. eine vollständigere Analyse der Phantasie bescherte, als die französische Zweiteilung in eine »plastische« oder gestaltende und eine »zerfließende«

Vgl. Oskar Wulff, Grundlinien und kritische Erörterungen zur Prinzipienlehre der bildenden Kunst, Stuttgart, Ferd[inand] Enke, 1917, S. 14 ff. und in dieser Zeitschrift XII., Bd. 1– 3 [= ders.: »Kritische Erörterungen zur Prinzipienlehre der Kunstwissenschaft«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 12 (1917), S. 1–34, S. 179–224 und S. 273–315]. 2

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oder verschwimmende, wenn nicht gar auflösende und zersetzende, 3 so wäre doch von dieser zweiten Art jedenfalls nur eine negative Funktion, niemals eine positive Synthese zu erwarten, also keine künstlerische Hervorbringung, keine schöpferische Leistung aus ihr allein zu erklären. Erst Wulffs Abwandlung dieser Lehre (a. a. O.) hilft uns wirklich weiter. Für uns bleiben die Hauptsache immer die Erwägungen der Kunstwissenschaft selber, die in den Kunstwerken, auch der Vergangenheit noch, und in dem künstlerischen Schaffen, bis in die Gegenwart hinein, über so viel tiefgründige Urkunden des Lebens verfügt, deren Zeugnis in seiner Unmittelbarkeit durch keine Hilfsmittel begrifflicher Art und keine Zurückführung auf rein psychische Quellen, geschweige denn rein wissenschaftliche Unterscheidungsversuche mit sprachlichen Vehikeln, ersetzt werden kann. Dagegen macht sich diejenige Kunstwissenschaft einer Einseitigkeit schuldig, welche die formale Seite der Kunstgebilde ausschließlich ins Auge faßt und über den Stilfragen allein den Zusammenhang alles Schaffens mit der gesamten Kultur überhaupt vergißt. In dem Inhalt dieser letzteren sind doch schließlich die Ursachen der Stilwandlung ebenso wie der Kunstentwicklung im ganzen zu suchen. Hier scheiden sich heutzutage noch die Wege der For scher. Auch da, wo ausdrücklich im besonderen Fall oder gar im allgemeinen anerkannt wird, daß hinter dem Wechsel der Stilformen auch ein Wechsel der »Weltanschauung hervorsehe« (Wölfflin) A, geht doch die Auffassung der reinen Stilvergleicher nicht von dem klaren Bewußtsein oder der inneren Überzeugung der kulturphilosophisch gerichteten und im Grunde immer kulturwissenschaftlich denkenden Fachgenossen aus. Jene sind zu einer folgerichtigen Ausreifung ihrer Begriffswelt nicht durchgedrungen. Sie sind dazu entweder auch nicht geneigt oder überhaupt nicht veranlagt, und eine Verständigung mit ihnen ist ausgeschlossen, solange diese geistige Unfertigkeit oder sorglose Halbheit fortdauert. Selbst wo Bemühungen um begriffliche Klärung von ihrer Seite vorliegen, sieht man sich bald in die Notwendigkeit versetzt, deren Unzulänglichkeit aufzudecken und als unhaltbar zu erweisen, – ein trauriges Geschäft, da gewöhnlich eine festgewurzelte Selbsttäuschung die Aussicht auf Erfolg und die Hoffnung auf Zugeständnisse nicht aufkommen läßt. Doch bleibt dies Verfahren ja Pflicht gegenüber dem Nachwuchs, der sich noch bekehren kann, und dem dazu verholten werden muß. [In der Quelle als Nachtrag am Ende des Gesamttextes:] Hält man sich genau an Ribots Unterscheidung der beiden Arten von »Imagination créatrice« und versucht doch an beiden Polen eine Kraft vorzustellen, aus der die schöpferische Tätigkeit hier wie dort entspringen könnte, so sieht man sich an einem gewissen Punkt vor die Frage gestellt, ob dem ganzen Unterschied denn noch etwas Anderes zugrunde liege, als die raumkörperliche Anschauung auf der einen, die zeitliche auf der anderen Seite, oder simultane und sukzessive Auffassung, das Festhalten eines beharrenden Komplexes dort, das Verfolgen einer fließenden Bewegung hier. Dann ergebe sich aber die Notwendigkeit einer dritten Art, in der sich unsere beiden Anschauungsformen verquicken, wie Raum und Zeit in unserer Welt. 3

A Vgl. Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwickelung in der neueren Kunst. München 1915, S. 73 sowie auch S. 142.

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In dem Bemühen, vorerst wenigstens eine genetische Definition der Kunst aufzustellen, habe ich immer wiederholt: »Sie ist eine Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt, in die er gestellt wird, gleichwie seine ethischen und seine wissenschaftlichen Bestrebungen es auch sind 4.« Die Kunst ist also nur eine solche Auseinandersetzung, und nicht etwa nur mit der Umwelt, sondern mit der ganzen erreichbaren Weite, gleichwie die Religion, die Naturerkenntnis, die sittliche Weltordnung, die wir allesamt zu unserer höchsten geistigen Kultur rechnen. Sie gehört somit selbstverständlich als integrierender Bestandteil in diesen weiteren Umkreis der Kultur hinein. Aber sie erweist sich vorzugsweise und in hervorragendem Maße als eine schöpfer ische Betätigung, etwa im Vergleich zu den vielfach negativen Ansprüchen der Ethik oder zu der zersetzenden Analyse der Wissenschaft. Ihre Leistungen und Werke tragen die vollberechtigte Anwartschaft in sich, als Kulturgüter zu gelten, und bedeuten als Gesamtheit eine der höchsten Errungenschaften des Menschentums auf dieser Erde. »Werte des Daseins und des Lebens« sind es, die des Menschen Kunst darstellt, und entweder zu immer wiederholbarem Erlebnis aus dem vergänglichen Strom des Geschehens herausrettet, oder in dauerhafter Form als bleibenden Gewinn erobert. Jede einzelne Kunst widmet sich einem besonderen Werte, für dessen Erfassung und Wiedergabe sie sich vor den anderen eignet, weil sie eben aus dem Gefühl für diesen Wert selbst entsprungen ist und ihm zuliebe alle ihre Mittel ausgebildet hat. Dies besondere Wertgefühl, das dem Künstler aufgegangen, ist die Quelle seiner liebevollen Begeisterung, ist die Triebfeder seiner schöpferischen Tätigkeit und seiner oft aufopfernden Hingebung an den letzten und höchsten Zweck seines inneren Berufes. Aus dem Zusammenwirken aller Künste, die der Mensch im Laufe seiner Geschichte hervorgebracht hat, ergibt sich eine umfassende Auseinandersetzung mit den Werten des Daseins und des Lebens, der ganzen »Welt der Werte«, die ihn umfängt, in ihm erwacht und durch ihn gedeiht: als Gesamtwerk der Kunst ersteht ein neues Reich bleibend errungener, immer wieder frisch erlebbarer Werte, das sich von Geschlecht zu Geschlecht weitererbt, wie die sittliche oder rechtliche Ordnung, die uns die Väter hinterlassen haben, oder die Gesamtheit der geistigen Kultur, an der wir alle mitarbeiten, um unserem Volke das verwirklichte Ideal seiner selbst zu bewahren und immer wieder verjüngen zu helfen, wie der Wandel der Zeiten es erheischt. Die Kunstwissenschaft, die zunächst das Wesen der Einzelkünste zu ergründen strebt, kann ihnen ihr Eigenstes nicht besser ablauschen, als indem sie den besonderen Wert festzustellen sucht, den eben diese und keine andere ebenso verherrlicht. Sie stellt also jede Kunst unter den gemeinsamen Gesichtspunkt der Kulturphilosophie und fragt nach ihrer eigentümlichen Leistung im allgemeinen Wertentdecken, Wertvermitteln und Wertschaffen menschlicher Tätigkeit. Und die Kunstgeschichte wird so zu einer ganz konkreten, alle Künste ohne Unterschied begreifenden, in wiederkehrenden Erscheinungen und mannigfaltigsten Offenba4 Setzt man in diese Formel statt Welt zunächst Natur ein, so erhellt sofort, wie weit sie als Definition von Kultur überhaupt zutrifft.

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rungen sonst sich ausbreitenden Wer tlehre, die dem Kulturhistoriker wie dem Geschichtsphilosophen die unschätzbarsten Aufschlüsse lesbar – hörbar, sichtbar, tastbar, genug, in jedem Sinn greifbar – an die Hand gibt. So habe ich, in möglichst kurzer deutscher Prägung, die Architektur als » Raumgestalter in« bezeichnet;A denn die Aufrichtung eines festen, allseitig ausgeführten Raumgebildes um uns her ist die Sicherung dieses grundlegenden, für unser Dasein auf der Erde konstitutiven Wertes, die befriedigende Bestätigung und Gewährleistung für die Folgerichtigkeit der von Tag zu Tag werdenden oder allmählich ausgewachsenen Raumanschauung des Einzelnen, ohne deren Bestand wir auch in der Weite, die sich ergänzend oder befremdend ihm gegenüberstellt, nicht heimisch wären auf dem Boden unter unseren Füßen, und anderseits auch der Raumeinheit aller, d. h. der gleich organisierten Mitmenschen, auf deren Verkehr wir angewiesen sind, oder gar aller Mitgeschöpfe sonst, auf deren Gebrauch wir unsere Wirtschaft gründen, und im Austausch mit denen allen immer neue Raumwerte sich teils von selbst herausstellen, teils als Forderung ergeben. Ohne sie wären wir nicht Herren in der Welt, die uns umkreist und umbrandet. So habe ich die Plastik als » Kör perbildner in« bezeichnet B[,] denn Körperwer te sind es, die sie schafft, sei es im harten, starren Gebilde der kristallinischen Natur, wie die Werkformen des Baues, die wir auch dann noch zur Tektonik rechnen, wenn sie sich dadurch zur Kunstform entwickeln, daß sie die stereometrische Regelmäßigkeit mehr oder weniger mit Anklängen an die organischen Gewächse, etwa der Pflanzenwelt, verbinden, sei es nach dem Ebenbilde des menschlichen Leibes im gleichen dauerhaften Material oder in weicherem bildsamem Stoff, der den Körperwert als solchen doch dem Stoffwechsel des organischen Lebens entzieht und ihn herauszureißen sucht aus dem unaufhaltsamen Gewoge des Werdens und Vergehens. Da sind wir schon an der Grenze zwischen den Werten des Daseins und denen des Lebens. Im statuarischen Werk der Plastik wird der erstere, zunächst eben der Kör perwer t, der Sitz des leibhaftigen Daseins, um den Preis des Lebens erkauft, von dessen warmem Pulsschlag und regsamem Odem nur ein Hauch über das Bildwerk hin gerettet werden kann, und doch allmählich so stark hinzuerobert wird, als atmete die Menschengestalt in ewiger Jugendfrische, und »Marmorbilder Vgl. u. a. August Schmarsow: Das Wesen der architektonischen Schöpfung. Leipzig 1894, S. 11; ders.: »Raumgestaltung als Wesen der architektonischen Schöpfung«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 9 (1914), S. 66–95 (in dieser Ausgabe der folgende Beitrag); ders.: »Raumgestaltung als Wesen der architektonischen Schöpfung«. In: Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Berlin, 7.–9. Oktober 1913. Bericht. Hrsg. vom Ortsausschuss. Stuttgart 1914, S. 246–250. B Vgl. u. a. ders.: »Der Werth der Dimensionen im menschlichen Raumgebilde«. In: Königlich-Sächsische Gesellschaft der Wissenschaften. Philologisch-Historische Klasse. 48/4 (1896), S. 44– 61, hier S. 48 und S. 57; ders.: Barock und Rokoko. Eine kritische Auseinandersetzung über das Malerische in der Architektur. Leipzig 1897, S. 21, S. 63, S. 69, S. 106 und S. 259; ders.: Unser Verhältnis zu den bildenden Künsten. Leipzig 1903, S. 54. A

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stehn und sehn mich an« A. Immer bleibt der dreidimensionale Körper, der sich selber behauptet, der Grundstock des Wertes, den auch die Bildsäule verewigt, wenn sie zum vollentwickelten Abbild des Einzelwesens geworden, oder, als Idealbild eines in sich gefestigten Charakters, eben den bleibenden Daseinswert eines Menschenlebens verkörpert. Fragen wir dann weiter nach dem Werte, den die dritte Schwesterkunst zu fassen und zu vermitteln sucht, so ist kein Zweifel: die Malerei geht über die beiden anderen hinaus zu einer höheren Einheit der von diesen gepflegten Einzelwerte. Sie verwendet zunächst als unentbehrliche Unterlage auch ihrerseits ein materielles Substrat aus der vorhandenen Wirklichkeit, die Fläche, auf der sie sich mit ihren Mitteln ergehen kann. Aber dasselbe tut auch schon die Reliefkunst, die wir ihres technischen Verfahrens und ihrer körperhaften Rundung wegen noch zur Plastik zu rechnen pflegen. In der Gemeinsamkeit der Fläche muß also der Übergang zu dem neuen Ziele gelegen sein, das beide, nur auf verschiedene Weise oder in verschiedenem Grade zu erreichen trachten. Nur die Ausbreitung im Nebeneinander, die Entfaltung in der zweidimensionalen Ebene, kann die Grundbedingung sein, auf die es dabei entscheidend ankommt. Und während das Relief so lange Plastik bleibt, als es, der Körperbildnerin gleich, an der dreidimensionalen Gestaltung in einer Raumschicht festhält, geht die Malerei, wie schon das ganz flache, wohl gar mit eingetieften Umrissen sich begnügende Relief es vorbereitet, von der zweidimensionalen Ebene des Grundes aus und erzeugt mit Pinsel oder Griffel, ohne wirkliche Zuhilfenahme der dritten Dimension, die Erscheinung der Dinge, auf der Oberfläche ganz allein. Keineswegs aber ergeben schon diese technischen Unterschiede die Bestimmung ihres Wesens. Was wollen sie beide? Ohne Zweifel nicht die Einzeldinge für sich, nur etwa in Mehrzahl beisammen, hier mehr sichtbar als tastbar wiedergeben, sondern das Nebeneinander, ja weiter dann das Hintereinander aller Dinge, wie sie in unserem Sehfeld erscheinen, nur im Relief vorerst mehr aus der Nähe, sogar noch tastbarer Nähe, dann jedoch weiter und weiter hinausgeschoben und schließlich so, daß der Raum als leere Weite, der die Körper umgibt, mit erscheint, mit dargestellt wird. In dem Beisammensein zu solchem Überblick, in der »Sehgemeinschaft« wie Adolf Hildebrand es ausdrückt B, muß der Wert zu finden sein, auf den es beide gleicherweise abgesehen haben, so daß wir die Reliefkunst von dieser Seite her schon als Gesinnungsgenossin der Malerei betrachten dürfen. – Hier aber stoßen wir auch auf den Punkt, wo beide voneinander abweichen, um ihrer eigenen Richtung ausschließlich zu folgen, und können nicht mehr verkennen, daß nur die Malerei den innersten Kern der neuen Aufgabe ganz zu erfassen vermag, an dem der höhere Wert des bisher gemeinsamen Strebens hängt, und nun den entscheidenden Umschwung und Aufschwung vollzieht, der sie dem Haften an der Raumkörperlichkeit immer mehr entfremdet. Johann Wolfgang von Goethe: »Mignon« (1795). In: Goethes Werke. Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Abt. I, Bd. 1. Weimar 1887, S. 161. B Adolf von Hildebrand: Das Problem der Form in der bildenden Kunst. Straßburg 1893, S. 113. A

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Die »Frage nach dem Malerischen«, die schon vor mehr als zwanzig Jahren ausführlich erörtert worden ist, wird noch immer wieder in Zweifel gezogen und in verschiedenem Sinne zu beantworten versucht. Und es ist gerade diejenige Schule, welche die einseitig formale Behandlung der Stilanalyse und Stilvergleichung betreibt, die nämliche, von der auch eine vermeintlich allein erschöpfende, ja wohl gar allein gültige Wesensbestimmung des Malerischen ausgeht und neuerdings mit allem Aufwand kunstgeschichtlicher Demonstration zur Durchführung gebracht wird. Dies geschieht in einem Buche 5, das dem »Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst« gewidmet ist, und sich demgemäß freilich auf das Gesamtgebiet der bildenden Künste erstrecken muß, sich zugleich aber freiwillig auf die Perioden der sogenannten Hochrenaissance und des Barock mitsamt dem Rokoko beschränkt 6. Wer gleich uns von dem Bewußtsein enger Zusammengehörigkeit der Kunstwissenschaft mit der Kulturphilosophie durchdrungen ist, mag es zunächst befremdlich finden, wenn ein Stilkritiker seine »kunstgeschichtlichen Grundbegriffe« nur aus einem einzigen Abschnitt der neueren Geschichte entnehmen will. Wir werden doch wohl von vornherein einen Mangel an Umsicht befürchten, falls der geschichtliche Zusammenhang mit den vorangegangenen Perioden der Entwicklung nicht vollauf berücksichtigt würde, wie sich gebührt und wie wir es unbedingt fordern, sowie die vorzugsweise am 16. und 17. Jahrhundert herausgearbeiteten Gesichtspunkte den Anspruch auf allgemeinere Gültigkeit erhüben. Diese weiterreichende Brauchbarkeit des geistigen Rüstzeuges, das uns geliefert werden soll, auch für andere Epochen der Kunstgeschichte, wird hier in der Tat angestrebt, ja, am Ende sogar auf das Altertum ausgedehnt. Eine Reihe von Begriffspaaren wird einander gegenübergestellt, so daß die Mehrzahl diese Absicht ohne weiteres

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Heinrich Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. München, Bruckmann 1915, 2. Auflage 1917. 6 Die Grundbegriffe der nämlichen Kunstperioden einschließlich der vorangehenden waren in meinen »Beiträgen zur Ästhetik der bildenden Künste« behandelt worden: 1. Zur Frage nach dem Malerischen, sein Grundbegriff und seine Entwicklung, 1896. – 2. Barock und Rokoko, eine kritische Auseinandersetzung über das Malerische in der Architektur, 1897. – 3. Pla- 172 stik, Malerei und Reliefkunst in ihrem gegenseitigen Verhältnis, 1899 (Leipzig, Verlag von S. Hirzel). Dazu gehörte schon meine Leipziger Antrittsvorlesung am 8. November 1893 über »das Wesen der architektonischen Schöpfung« (Leipzig, K.W. Hiersemann [1893]), die damals von Architekten so unglaublich mißverstanden wurde, und »Über den Wert der Dimensionen im menschlichen Raumgebilde«, [in:] Berichte [über die Verhandlungen] der K[öni]gl[ich] Sächs[ischen] Gesellsch[aft] d[er] Wissensch[aften zu Leipzig. Philologisch-Historische Klasse. Bd. 48], 23. April 1896 [S. 44–61]. Mit diesen Schriften hatte sich ein wissenschaftlicher Fachgenosse jedenfalls 1915 noch auseinanderzusetzen. Dagegen sind meine »Grundbegriffe der Kunstwissenschaft« von [Leipzig / Berlin] 1905 ausdrücklich auf eine bestimmte Zeit beschränkt, »am Übergang vom Altertum zum Mittelalter«, wie der Titel sagt, »kritisch erörtert und in systematischem Zusammenhang dargestellt«, wie es mir in einer ehrlichen Abfindung mit Alois Riegl geboten erschien. Auch hier vielfach mißverstanden und verketzert, möchte ich doch nicht den Inhalt mit dem Urteil Wölfflins abgetan sehen: das Buch habe nur »zusammenfassend den bisherigen Gewinn zum System zusammengefügt« (a. a. O. [siehe Fn. 5] S. VII [recte: IX]). 5

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zu verstehen gibt.A »Vielheit und Einheit« – »Klarheit und Unklarheit«, ja noch »geschlossene und offene Form« könnten sogar auf alle Künste, nicht nur die bildenden, sondern auch die musischen, Anwendung finden. Hier freilich geht ihnen das minder weit greifende Paar » Fläche und Tiefe« voran, das solche Beziehung auf die Künste der zeitlichen Anschauungsform wohl deutlich genug ausschließt. Anderseits aber für Werke der Malerei und Plastik ebenso wie für die Architektur gebraucht, beginnt es schon bedenklich zu schillern und zu schwanken, sowie wir erwägen, welche verschiedene Bedeutung die nämlichen beiden Wörter, besonders aber die »Tiefe«, dabei annehmen müssen. Der Identität des Wortes zuliebe soll bei dem Gebäude doch an die wirkliche Tiefe, die durchwandelbare dritte Dimension des Raumes gedacht werden, bei dem Gemälde dagegen doch nur an den »Tiefenschein«, die perspektivisch ertäuschte Raum darstellung. Und, so fragen wir zweifelnd weiter: was ist die » geschlossene For m« angesichts der Flächenkunst Malerei? Ist die Malfläche nicht immer und notwendig für den Maler oder auch nur den Zeichner vorn offen? Und faßt hier nicht wieder allein das gemeinsame Wort »Form« die Gegensätze des »Offenen« und des »Geschlossenen« zusammen, indem es diesen unbestimmten Ausdrücken einen vermeintlichen Halt gewährt; die Form ist doch das allein Greifbare, solange wir noch keine konkreten Beispiele vor Augen haben, sondern erst einmal das »Begriffliche« zu denken versuchen, das uns geboten werden soll. Nun, wem jene Verdeutschung nicht genügt, der mag sich an die griechischen Wörter » Tektonik und Atektonik« halten 7! Freilich stehen sie da, doch wir fürchten, das zweite wird dem, der sich daran anklammert, gar zu schnell zum Strohhalm werden; denn was bleibt von Tektonik übrig, wenn man sie einfach verneint? Was soll man sich unter Atektonik in der Architektur eigentlich vorstellen, wenn nicht einen Zustand der Unordnung oder der Formlosigkeit, der die Baukunst überhaupt ausschließt, da er schon ihre Vorstufe verneint. Doch genug solcher Bedenken und Zweifel, die das Recht dieser 7 Diese Paarung leidet zunächst schon sprachlich und damit auch begrifflich darunter, daß das zweite Glied gar nicht anderen Geschlechtes ist, beide also garnichts hervorbringen können. Die bloße Negation des nämlichen Prinzips vermag selbst nichts positiv Neues, sondern nur ein relatives Verhältnis von Plus und Minus, von Mehr oder Weniger desselben Genus zu erzeugen. Nennen wir den Hauptbegriff »Tektonik«, lateinisch Struktur, deutsch nicht nur Schichtung, sondern Gefüge, Zusammenhalt, ja Aufbau, so kann er zunächst doch nur auf tektonische Künste selber gehen, auf die Baukunst aber nur als Gerüst oder soweit diese nicht als Raumgestalterin zur Herstellung eines vollen Raumgebildes vorschreitet. Als solche bezeichnen wir sie besser mit dem Griechen als »Architektonik«, im Unterschied von ihren rein technischen Helferinnen, den Zimmermannskünsten und den Gewerken. Soll aber der nämliche Terminus Tektonik oder Atektonik auf die bildenden Künste ausgedehnt werden, so muß das innerlich motiviert werden; denn zunächst haben sie beide mit figürlicher Plastik und vollends mit Malerei garnichts zu schaffen. Ihr Gebrauch erscheint da wie eine Roheit. Es bedurfte einer Warnungstafel, um den Vorwurf des Geschmacks fernzuhalten. Auch hier aber ist genaue Scheidung zwischen Architektonik und Tektonik wünschenswert, und für Atektonik auch in Malerei und in Plastik durchaus eine Definition erforderlich, die wir vermissen.

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Vgl. H. Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe.

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Ausdrücke, sich als Grundbegriffe anzubieten, schon ziemlich stark in Frage stellt! Sind sie mehr als stilkritische Werkzeuge persönlichen Gebrauchs 8? An der Spitze aller jedoch erscheint »das Lineare und das Maler ische«, und engt damit, wie der uneingeweihte Leser jedenfalls glauben muß, das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst von vornherein auf ein einziges, immer zusammen genanntes Paar von Einzelkünsten ein: Malerei und Zeichnung. Selbst der einigermaßen orientierte Fachmann denkt das vielleicht ohne weiteres und wird durch Einzelüberschriften des vorbereitenden Kapitels notwendig darin bestärkt. – Erst die nähere Erklärung, was das Wort »linear« eigentlich bedeuten soll, belehrt ihn, daß die naheliegende Annahme doch nicht zutrifft, ja, daß er sich wohl gar auf völlig falscher Fährte befindet. Eins indessen ist unzweifelhaft klar, und darauf kommt es hier in erster Linie an: die Unterordnung der ganzen Reihe von Beg r iffspaaren unter die Gesichtspunkte der Flächenkunst! Sie verschiebt den Sinn der deutschen Wörter aus der gangbaren Allgemeingültigkeit ihrer Bedeutung in eine Besonderheit, die sich nach dem Sinn dieser Chorführer bestimmt. Wird als erster Ansatz vor »Fläche und Tiefe« das Widerspiel zwischen »Linear und Malerisch« als Anfang des Ganzen ausersehen, so ist damit der Flächenkunst eine Vor machtstellung eingeräumt. Von ihr wird überall als grundlegender Voraussetzung auch bei der kunstgeschichtlichen Begriffsbildung ausgegangen und das dort Gewonnene dann erst auf die dreidimensionalen Werke der Plastik und Architektur übertragen. Darüber hätte genaue logische Rechenschaft sich wohl gefrommt. Wie schmerzlich wir sie vermissen, wird bald genug einleuchten. Dies ganze Verfahren, bei Zeichnung und Malerei einzusetzen, hängt nun in der Tat mit der Gesamtauffassung des Barockstils zusammen, die Wölfflin noch mit Burckhardt teilt. In der Richtung auf das »Malerische« wollen beide die entscheidende Wendung von der Hochrenaissance zum Barock erkennen. Und im Übergewicht des Malerischen, ja in der Ausschließlichkeit dieser »Sehweise« erblickt Wölfflin das eigentliche Wesen des Stils, dessen Entwicklung es zu erklären galt, noch immer, obgleich dieser Standpunkt nach den inzwischen beigebrachten Ergebnissen anderer Forscher wohl einer durchgreifenden Berichtigung bedurft

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Zu den genannten fünf Begriffspaaren kommt nachträglich noch eins » Imitativ« und » Dekorativ« hinzu, das zu den übrigen in einem andersartigen, aber doch durchgehenden Verhältnis stehen soll. In seiner ersten Hälfte kann es sich doch aber auf Architektur gewiß nicht beziehen, sondern nur auf die darstellenden Künste allein. Das scheußliche Wort, das die verhängnisvolle Übersetzung des griechischen µίµησις in das lateinische »imitatio« erneuert, von der alle Veräußerlichung der so genannten Nachahmungstheorie herrührt, ist wohl nur 174 wegen des Gleichklangs mit »Dekorativ« bevorzugt worden. Dies letztere soll aber bei Wölfflin wieder etwas ganz anderes bedeuten, als es im geläufigen Sprachgebrauch, besonders auch an technischen Hochschulen und innerhalb der Baukunst, zu besagen pflegt. Wir sollen darunter die »Darstellungsform«: verstehen, die, aus dem ganzen überlieferten Schmuckwesen hervorgehend, dem jedesmaligen Zeitgeschmack sozusagen als Grundschema, auch aller Naturauffassung und -wiedergabe vorschwebt. Die Lehre von dem Zusammenhang der darstellenden Künste mit Dekoration und Ornamentik noch später Jahrhunderte, wie Barock, mußte dann notwendig eingehender dargelegt werden. 8

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hätte, die sich nicht dadurch vertuschen läßt, daß man die Kulmination des Stils von Buonar roti auf Ber nini hinüberschiebt und den einst als »Vater des Barock« gefeierten Michelangelo gelegentlich gar als einen »Übergangsmeister« bezeichnet. – Das heißt aber: Wölfflin behandelt das Problem dieses Stilwandels überhaupt gar nicht im Sinne eines Historikers, der empirisch die Entwicklung verfolgt und induktiv die Eigenschaften herauszuschälen trachtet, die ihm nacheinander in dieser oder jener Verbindung aus den Quellen entgegentreten, um dann die Verschiedenheit des so gewonnenen Gesamtcharakters darzutun, sondern er verfährt als Dogmatiker, der von vornherein einen ganz bestimmten Unterschied als gegeben hinstellt und als ausgemacht anerkannt wissen will. Das quod erat demonstrandum wird kraft der Burckhardt-Wölfflinschen Autorität vorausgesetzt, und zwar stillschweigend vorweggenommen und, wie gesagt, ganz unbekümmert um die Bedenken, die gegen die Richtigkeit dieser Diagnose von anderer Seite erhoben worden sind. Ja, das ganze Gerüst der stilkritischen Hilfsleitern verdankt seinen Ursprung dem Bedürfnis, der gewissenhaften Nachprüfung der angefochtenen Lehrmeinung auszuweichen, und der genetischen Betrachtung auf eine Folge von Stilphasen, wie ich sie in meinem »Barock und Rokoko« unterschieden hatte 9, mitsamt den daraus erwachsenden Einwürfen keine Rede und Antwort zu stehen. Daher der Vorwand, keine Polemik zu wollen, daher die Weigerung, Verbesserungsvorschlägen Rechnung zu tragen, wie es auf wissenschaftlichem Boden ihr gutes Recht gewesen wäre. Oder sollen wir annehmen, daß dieser Geist so vollständig in sein allerdings Iangerhand schon angewöhntes Antithesenspiel verstrickt sei, daß er mit wirklichen »kunstgeschichtlichen Grundbegriffen« gar nicht mehr umzugehen vermöge, wie es dem Historiker sonst zur anderen Natur wird? Die Mehrzahl der Leser, die das »Problem«, von dem da gesprochen wird, gewiß nur ungenügend kennt, vor allen Dingen aber seine Tragweite für die gesamte Kunstwissenschaft gar nicht zu ermessen weiß, die Bewunderer des geistvollen Schriftstellers und die Adepten des gefeierten Lehrers bemerken vielleicht überhaupt nicht, wieviel ihnen durch dies Verfahren eigentlich unterschlagen wird. »Sic volo, sic jubeo« heißt es im Grunde, aus dem die sogenannten Begriffe, wie sie hier auftreten, nur hervorgehen können, wenn sie vorher unter das Joch gebracht sind, das ihnen dies einseitige Dogma von der absoluten und alleinigen Vorherrschaft des Malerischen im Barock auferlegt. Sie alle werden, jenem schon oben als πρῶτον ψεῦδος gekennzeichneten Vorurteil zuliebe, ihrer logischen Geradheit beraubt, verbogen oder eingeknickt, bis sie gefügig die Dienste tun, die man von ihnen verlangt. Sie sind in dieser Entstellung nichts anderes als zurechtgemachte Handhaben, Werkzeuge zu einer Operation, wie die Sonden, Scheren und Seziermesser des Anatomen oder die Zangen eines Geburtshelfers. Sie können jedoch nur so Vgl. a. a. O. [siehe Fn. 6] die Inhaltsübersicht S. 395 f., Abschnitt II, III, IV, besonders S. 50– 123 über Michelangelo und seinen plastischen Barockstil und S. 212–234 über Bernini unter der Überschrift: »Die Glanzperiode des römischen Barock und ihr innerer Umschwung« (Übergang ins Malerische). 9

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lange für diesen vorgefaßten Zweck dienen, als man sie nicht ihrer Zwangslage enthebt. Sie wieder aufzurichten in ihrem natürlichen Wuchs, soweit sie ehrlicher Herkunft sind, sie wieder einzurenken zu gesunder Gelenkigkeit, soweit sie diese ursprünglich besitzen, das muß notgedrungen die Aufgabe sein, um uns von dem sinnverwirrenden Antithesengeklapper zu befreien. Das erste Wort, das uns zugeschoben wird, ist kein glücklicher Griff in den geläufigen Sprachschatz; denn kein Fernerstehender wird es ohne weiteres in dem Sinne verstehen, zu dem es hier gestempelt werden soll. Wir alle denken bei der allgemeinen Bezeichnung » das Lineare« jedenfalls zunächst an gerade oder krumme Linien, im leeren Raum oder auf der Fläche. Auf dieser letzteren sind es Herstellungs- oder Darstellungsmittel, die der Zeichner mit dem Schreiber teilt, so daß wir auf beide noch heute den gemeinsamen griechischen Namen »Graphik« anwenden, mögen sie schwarz auf weiß erscheinen, wie Tinte auf dem Papier, oder weiß auf schwarz, wie Kreide auf der Schiefertafel, oder farbig, d. h. in irgend einem Pigment auf anders getöntem Grunde, oder endlich nur als eingeritzte Furchen auf der Metallplatte, dem Holz oder dem Stein. Wir denken an Wellenlinien und Bogenlinien engeren oder weiteren Schwunges, an senkrechte oder wagrechte, schräg aufsteigende oder absteigende Gerade, Zusammensetzungen solcher Teile zu Buchstaben oder Mustern. Aber wir denken nicht notwendig an planimetrische Figuren oder gar perspektivische Projektionen stereometrischer Körper. Wir denken erst recht nicht unmittelbar an den Umriß menschlicher oder tierischer Gestalten und sonstiger dreidimensionaler Gewächse oder Gebilde unorganischer Natur. Solches Umrißsehen und Umrißziehen meint nun aber Wölfflin zunächst und mehr oder weniger ausschließlich mit seinem Ausdruck »das Lineare«, den er sich persönlich offenbar so angewöhnt hat, daß er nicht mehr darauf verfällt, eigentlich noch Rechenschaft schuldig zu sein für solche Beschränkung. Er setzt eben den Gedanken an die Möglichkeit der ausführlicheren Malerei auf der nämlichen Fläche bereits voraus, und wie bei sich, auch bei jedermann sonst. Und es bleibt uns in der Tat nichts übrig, als dieses spezifisch » Maler ische« erst vorwegzunehmen, um überhaupt zu verstehen, was dem Linearen, nun rein als Gegensatz dazu, alles beigemessen werden soll, d. h. wieviel ihm abgezogen oder untergeschoben werden muß, um unsere Vorstellung der persönlichen des Verfassers anzunähern und so den sogenannten Grundbegriff oder die ganze besondere Grundanschauung herauszuschälen, die er sich zurechtgelegt hat und zu allgemeinem Gebrauch darbietet. Tun wir das nicht, so erhalten wir keinen Aufschluß darüber, wie weit außer den äußeren oder inneren Umrißlinien nun etwa noch das technische Verfahren des Linienziehens in einer ausgeführten Zeichnung mit einbegriffen werden darf, oder wie weit es ferngehalten werden soll, z. B. die Schraffierung, die teils zum Modellieren der Formen dient, teils aber auch zum Schattieren der Umgebung, d. h. zur Angabe der Beleuchtung im ganzen, zur Verteilung von Hell und Dunkel über die gegebene Fläche hin verwendet wird. Und diese Abgrenzung brauchen wir notwendig, damit sich der ganze Gegensatz der beiden zuerst ausgespielten, also grundlegenden Begriffe nicht in den von »Zeichnung und Malerei« verkehre, wie

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ihn etwa Max Klinger in seiner vielgelesenen kleinen Schrift herausgearbeitet hat A und zur Selbständigkeit zweier verschiedener Künste gesteigert wissen will, d. h. zu einer Trennung, mit der doch Wölfflin erklärtermaßen nicht übereinstimmt. Allerdings braucht auch er die Zusammenstellungen »linearer Stil« und »zeichnerischer Stil« beliebig abwechselnd, ja sogar »Zeichnung« für »das Lineare«. Und hierin liegt offenbar noch ein anderer Beweggrund vor, der erst vollauf erklärt, weshalb doch die Zeichnung oder das Lineare der ganzen Reihe von Begriffen vorangestellt wird. Wölfflin sieht zunächst in der Hochrenaissance, von der er ausgehen will, einen linearen Stil. Dann aber beginnt für ihn überhaupt alle Kunstentwicklung mit der Zeichnung, also auch die früheren Umlaufsperioden, ja die Urzeit. Dies erfahren wir erst im Schlußkapitel des ganzen Buches. Da wird ([H. Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe] S. 242) die Behauptung aufgestellt oder die sichere Tatsache vorausgesetzt: »Die bildliche Imitation hat sich aus der Dekoration entwickelt – die Zeichnung als Dar stellung ist einst aus dem Or nament her vorgegangen – und dieses Verhältnis wirkt durch die ganze Kunstgeschichte nach.« Für alle diejenigen, die solche prähistorische Tatsache nun nicht für erwiesen halten, wird damit die Lehre Wölfflins auch von dieser Seite zu einer lediglich dogmatischen Geschichtskonstruktion. Schon der Anfang der Begriffsreihe ist eine Falle. Lassen wir also den unerwarteten, nach eigenem Belieben hinein gelegten Inhalt des »Linearen« vorläufig auf sich beruhen, – wir werden von selbst an der Stelle zu ihm zurückgeführt, wohin er seiner Natur nach gehört, – und wenden uns zunächst dem herrschenden Hauptbegriff zu, dem sein Partner doch nur auf den Leib zugeschnitten worden ist, damit die Dialektik der ganzen Reihe von Begriffspaaren überhaupt beginnen könne. Schon zwanzig Jahre früher habe ich in meiner, auch Max Klinger und Heinrich Wölfflin antwortenden Schrift »Zur Frage nach dem Malerischen« B eine Verbesserung dieser Fragestellung überhaupt vorgenommen, indem ich die Forderung erhob, wir müßten, um innerhalb der Kunstlehre zu einer wissenschaftlich befriedigenden Definition zu gelangen, streng daran festhalten, daß bei der Begriffsbestimmung von der Malerei als Kunst ausgegangen werde. Es sei etwas ganz anderes, nach dem Wesen der Malerei oder der Plastik zu fragen, als nach dem des Malerischen, des Plastischen, das sich doch außerhalb des Sondergebietes der Kunst ebenfalls zeigen und in das der Nachbarinnen ausbreiten könne. Wer stellt wohl die Frage nach dem Musikalischen oder nach dem Poetischen, wenn es sich erst um das Wesen der Musik oder der Poesie als Kunst handelt? Das Adjektivum dürfe bei uns in erster Linie nichts anderes bedeuten, als was zum Wesen der Einzelkunst gehört, aus deren Namen es gebildet ist. Das »Malerische« heißt dann im strengen Sinne das spezifisch Malerische, das wir als eigenste Leistung von der Kunst der Malerei erwarten und aussagen. Ich wußte mich damals, im Gegensatz zu Max Vgl. Max Klinger: Malerei und Zeichnung. Leipzig 1891. Vgl. August Schmarsow: Zur Frage nach dem Malerischen. Sein Grundbegriff und seine Entwicklung. Leipzig 1896. A B

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Klinger, mit Heinrich Wölfflin darin einig, daß die Unterschiede technischer Mittel keine genügende Begründung dafür abgeben, die Darstellung auf der Fläche in zwei verschiedene und ganz selbständige Künste, Malerei und Zeichnung (oder Griffelkunst), auseinander zu reißen und etwa die erstere als farbige Darstellung auf der Fläche (oder Pinselkunst?) zu bestimmen. Es müsse vielmehr das Gemeinsame zwischen beiden, über alle Bedingungen verschiedenartiger Herstellungsmittel hinweg, festgehalten und einheitlich bestimmt werden. Erst wenn die Lösung dieser Aufgabe befriedigend gelungen sei, könne auch die erweiterte Verwertung desselben Wortes in Betracht kommen, wo nicht unmittelbar und im engsten Sinn das Wesen der Malerei als eigener Kunst gemeint sei. Alsdann aber handle es sich immer um eine über tragene Bedeutung. Vom natürlichen Ursprungsgebiet und vollberechtigten Geltungsbereich des streng genommenen Wortsinnes verpflanzt man die Benennung dann auf erweiterte Grenzen, etwa der näheren oder ferneren Nachbarschaft der Schwesterkünste zuerst, deren Bestrebungen sich bis zu einem gewissen Grade als verwandt erweisen könnten oder gar unmittelbar damit berühren, wie wir dies vorhin schon bei Relief kunst und Malerei hervorgehoben haben. Sowie wir jedoch zu den anerkannten selbständigen Künsten, wie die Plastik oder gar die Architektur, übergehen, für die doch ihrerseits das nämliche Gesetz der Wesensbestimmung gilt, daß sie zunächst nur in ihrer spezifischen Eigenart gefaßt werden dürfen, unter entschiedenem Ausschluß aller vom Kern ihres Wesens abweichenden Erscheinungen, die sich im Lauf der Geschichte ja sehr wohl einzustellen vermögen, da kann eben nur mit kritischem Sinn und unter strenger Kontrolle versucht werden, wie weit die Übertragung des fremden Wesensausdrucks, also etwa »Malerisch« auf die Plastik, oder »Plastisch« auf die Malerei, noch im eigentlichen Verstände möglich und verantwortbar sei, oder aber, wie beim Versuch auch in der Architektur nicht allein das Plastische anzuerkennen, sondern auch das Malerische wiederzufinden, bereits eine freiere Verwendung in bewußt uneigentlichem Sinne erlaubt werden dürfe, d. h. wie weit eben die Analogie gehen möge, ohne in gewissenlose Begriffsverwirrung auszuarten. Meine logische Forderung ist damals unbeachtet geblieben, obgleich ich selbst sie für alle besprochenen Künste bereits erfüllt, also jedenfalls das notwendige Verfahren zur Auseinanderhaltung des eigentlichen und des uneigentlichen Sinnes, des strengen und des sinnvoll erweiterten oder freier übertragenden Sprachgebrauchs vorgemacht hatte. Jetzt verfällt auch Wölfflin beim Begriff des Malerischen wieder in den gerügten Fehler, das Wesen einer menschlichen Betätigung an der Hand von Ausnahmen bestimmen zu wollen. »Über der Feststellung der Tatsachen, die der Kunst der Darstellung auf der Fläche eigentümlich sind,« schreibt er – soweit also der richtigen Methode wohl bewußt! –, »wollen wir aber nicht vergessen, daß wir auf einen Begriff des Malerischen zielen, der über das Sondergebiet der Malerei hinaus verbindlich ist, und für die Architektur ebensoviel bedeutet wie für die Künste der Natur nachahmung« A (also Bildnerei und A

H. Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, S. 26.

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Malerei zusammengenommen) 10. Das ist eine bewußte µετάβασις εἰς ἄλλο γένος, um mit Aristoteles zu reden, und zwar ohne Rücksicht auf die Ver unklärung, die damit in den Köpfen befördert wird, denen man Grundbegriffe bieten will, damit sie selber davon profitieren können, wie der Meister sein Beispiel gibt. Es sind doch mindestens zwei, ja: schon drei verschiedene Begriffe, die hier unter einem und demselben Wort zusammengewürfelt werden: erstens das Malerische im engsten und eigentlichen Sinne, das nur der Malerei als Kunst selber zukommt; zweitens in übertragener Bedeutung, soweit es etwa von anderen Künsten ausgesagt werden kann, die vielleicht zeitweilig malerischen Anwandlungen unterliegen, Tendenzen verfolgen, die sonst nur die Malerei selber vollauf befriedigen kann; und bei dieser Übertragung ergibt sich der dritte Unterschied nach dem Grade der Genauigkeit des Vergleichs, so daß wir eine weitere Bedeutung als die uneigentliche bezeichnen mögen. Dabei wird noch ganz abgesehen von dem populären Sprachgebrauch, der sich an der Hand des »objektiv Malerischen« bei Wölfflin noch an recht verschiedenartigen Beispielen genauer zergliedern und nach dem ausschlaggebenden Merkmal klassifizieren ließe. Das Verfahren der Begriffsbildung, das ich vor zwanzig Jahren gefordert und selber eingeschlagen habe, ist nichts anderes als die Aufstellung eines sogenannten »Idealtypus«, die allen Wissenschaften von der menschlichen Kultur eigentümlich und in gewissem Umfang unentbehrlich ist. Sie ist deshalb bei den Logikern der Kulturphilosophie neuerdings wiederholt erörtert und nachgeprüft, von den besten Denkern auch der Sozialwissenschaften in ihrer Berechtigung anerkannt und als Leistung der Theorie für alle und jede Arbeit der empirischen Forschung aufgewiesen worden. »Wenn eine genetische Definition des Begriffsinhalts versucht werden soll,« schreibt z. B. Max Weber 11, »so bleibt nur die Form des Idealtypus zu erfüllen. Es ist ein Gedankenbild, welches nicht, die historische Wirklichkeit oder gar die ›eigentliche‹ Wirklichkeit ist, welches noch viel weniger dazu da ist, als ein Schema zu dienen, in welches die Wirklichkeit als Exemplar eingeordnet werden sollte, sondern welches die Bedeutung eines rein idealen Grenzbeg r iffs hat, an dem die Wirklichkeit zur Verdeutlichung bestimmter bedeutsamer Bestandteile ihres empirischen Gehalts gemessen, mit dem sie verglichen wird. Solche Begriffe sind Nur Joseph Strzygowski möchte uns hinter die Einsicht der antiken Kunstlehre: »´Υλη και τρόπους µιµήσεως διαφέρουσι (Plutarch) zurückwerfen, indem er nur das Material als einzigen Unterscheidungsgrund anerkennt (Die bildende Kunst der Gegenwart, [Leipzig] 1907). Aber auch Richard Hamann hat in dieser Zeitschrift, bei dem Versuch, das »Plastische« zu bestimmen, meine Warnung außer acht gelassen (1908) [= »Das Wesen des Plastischen«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 3 (1908), S. 1–46]. Ganz ebenso steht es bei Karl Scheffler, der eine Charakteristik der Plastik als einer Zwitterkunst zwischen Architektur und Naturnachahmung entwirft (Deutsche Kunst [Berlin] 1915, S. 51), aber auch »außer Hildebrands wertvoller kleiner Schrift eigentlich nichts Grundlegendes« anzugeben weiß, ja sogar in Lessings Laokoon noch eine Entdeckung zu machen wähnt, »der großen Teilen der Deutschen noch heute als ein Katechismus der Kunst gilt«. 11 [Max Weber: »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«. In:] Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik XIX (1904), [S. 22–87, hier] S. 67 f. 10

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Gebilde, in denen wir Zusammenhänge unter Verwendung der Kategor ie der ›objektiven Möglichkeit‹ konstr uieren, die unsere, an der Wirklichkeit orientierte und geschulte Phantasie als adäquat beurteilt.« »Der Idealtypus ist in dieser Funktion insbesondere der Versuch, solche Zusammenhänge, wo immer sie uns gegeben vorkommen, oder deren Einzelbestandteile in genetische Begriffe zu fassen.« Wir sind in der Kunstwissenschaft jedoch immer noch viel glücklicher daran als die Geschichtsphilosophen mit den Synthesen, die man als »Ideen« historischer Erscheinungen zu bezeichnen pflegt, oder als die Sozialphilosophen mit ihren Idealtypen irgendwelcher historisch gegebenen Gesellschafts- oder Wirtschaftsorganisation, irgendwelcher nur im Verlauf der Zeit beobachtbaren Kulturerscheinungen. Wir sprechen ganz geläufig von Einzelkünsten und von der Kunst im allgemeinen als deren Zusammenfassung, wie von einem völlig eingebürgerten und sicher gehandhabten Gemeingut, sind uns aber doch wohl klar, daß darin nicht allein die Ergebnisse historischer Empirie und unaufhörlicher Induktion vorliegen, sondern auch ein gut Teil theoretischer Begriffsbildung. Wir sprechen von Kunst gattungen, sollten uns aber doch bewußt sein, daß eine Einzelkunst keine »Gattung« im eigentlichen Sinne, d. h. der natürlichen Tier- und Pflanzengattungen sein kann, sondern nur in übertragener Bedeutung des geläufigen, der Natur gegenüber eingeübten Schematismus: Gattung, Art, Spezies und dergleichen, behufs bequemerer Klassifikation oder übersichtlicher Gliederung des Kunstbereiches nach Analogie eines Naturreiches. Uns sind aber die Begriffe doch nur gedankliche Mittel zum Zwecke der Beherrschung des empirisch Gegebenen, und können nur dies sein. Also dürfen wir uns ruhig eingestehen, daß unsere Aufstellung einer Einzelkunst auf Grund einer Zusammenfassung wirklich vorliegender Werke der Gegenwart oder der Vergangenheit nichts ist und nichts sein kann als ein solcher »Idealtypus«. Aber die Fülle der konkreten Anschauung solcher Werke, die klare Sonderung der historischen Perioden, ihrer schöpferischen Tätigkeit, gestattet uns, von solcher Einzelkunst zu sprechen wie von einem Gattungstypus. Indessen, angesichts der Reihenfolge der Entwicklungsphasen, die sie durchlaufen hat, ergibt sich sofort die Notwendigkeit, daß dieser Gattungstypus sich verschieben muß, wie unter dem Problem der Erhaltung der Arten auch der Typus dieser sich wandeln mag, innerhalb umschreibbarer Grenzen. Angesichts einer oder mehrerer solcher besonders einander näherstehender Entwicklungsphasen, Stilperioden, verwandelt sich der Typus durch Aufnahme des historisch Individuellen jeder einzelnen Gesamterscheinung zum gemeinsamen Ideal. Darunter verstehe ich nicht das subjektive Ideal der Vorstellung, ein Gedankenbild etwa, das der Phantasie als Ziel der Sehnsucht vorschwebt, sondern das ganz konkrete, objektive Ideal der Anschauung, das in der Wirklichkeit der vollendeten Kunst werke selbst gegeben vorliegt 12. Es 12 Vgl. [Schmarsow:] Grundbegriffe der Kunstwissenschaft am Übergang vom Altertum zum Mittelalter usw. 1905 [siehe Fn. 6], S. 53 f.

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beruht auf einer glücklichen Vereinigung zwischen Typus und Individuum oder umgekehrt, es ist die höhere Einheit zwischen Individuum und Typus, je nachdem man von der einen oder der anderen Seite der vorliegenden Erscheinungen ausgeht. Deshalb bekommt auch der Begriff einer Einzelkunst als Idealtypus bei uns einen günstigeren Inhalt als bei den rein gedanklichen Gebilden der Geschichtslogiker. Ein Idealtypus ist ja wieder die Zusammenfassung durchgehender Merkmale aus einer Reihe von Idealen zu einem allen gemeinsamen Typus. Je mehr es gelingt, die individuelle Lebensfülle der historischen Wirklichkeiten zu bewahren, desto mehr wird dieser Idealtypus selbst wieder zu einem höheren Ideal. Ein solcher Prozeß läßt sich beobachten, wenn wir z. B. den Grundbegriff der »Malerei« als Einzelkunst aufstellen. Je mehr wir nach unserer Aufgabe genötigt sind, auch die Malerei des Mittelalters, die Anfänge ihrer Entwicklung bei primitiven Völkern hereinzuziehen, desto mehr wird die Zusammenfassung sich typisch verallgemeinern, auf wenige entscheidende Merkmale beschränken; je mehr wir dagegen die ausgemachten Blüteperioden der Malerei unter sich allein vergleichen dürfen, desto näher kommen wir dem höchsten Ideal. Und wenden wir diesen so gewonnenen »Idealtypus« wieder als Maßstab vergleichender Betrachtungen an, so darf er auch als historisch erfülltes und nachweislich erfüllbares Ideal mit gutem Gewissen im Sinne des »Vorbildlichen« gebraucht werden und hat sich vor dem Anspruch des »Seinsollenden« nicht so zu scheuen wie die rein logischen Gedankengebilde der empirischen Sozialwissenschaft, die solchen Forderungscharakter sorgsam fernhalten muß, so schwer es ihr werden mag, die menschliche Denkweise nach Wertideen gerade da wieder auszuschalten, wo sie das Lebenselement ausmachen, wie in aller unserer Auffassung der Kulturerscheinungen. – Der Idealbegriff einer Einzelkunst ist immer an eine Wertidee gebunden; die Bedeutung ihres Schaffens und der Grund dieser Bedeutung kann nur durch diese Beziehung verständlich gemacht werden; also mag er, ja muß er auch normative Funktion erhalten. Wir beurteilen den Wert eines Kunstwerks immer nach diesem Maßstab seiner Vollkommenheit, wenn auch immer unter Rücksichtnahme auf das historische Entwicklungsstadium der Einzelkunst, der es angehört. Meine Begriffsbestimmung der Malerei ist denn auch immer von dem Wesen dieser Kunst in ihrer Eigenart ausgegangen und hat im vollen Bewußtsein der Zusammengehörigkeit ihres Schaffens mit der mensch lichen Kulturwelt nach dem Wert gefragt, den sie im Unterschied von ihren Schwesterkünsten darzustellen trachtet und zu vermitteln weiß. Meine Antwort lautet ganz einfach: Der Wert, den sie uns bietet, ist das »Bild«. Und dieses ward technisch zunächst als »flächenhafter Auszug aus Körpern und Raum« bezeichnet, oder formal und inhaltlich zugleich als » Einheit zwischen Körpern und Raum«, als » Zusammenhang zwischen den Dingen der Welt und mit der Welt, die das Bild in einem Ausschnitt umspannt«. Diesem Wert sucht auch das Relief mit seinen plastischen Mitteln schon beizukommen, soweit es eben vermag, ohne die Rundung der Körperformen aufzugeben, indem sich die Körperbildnerin an die gemeinsame Grundfläche bindet. Das Reliefbild des Plastikers und das reine Flächenbild des Malers geben zunächst

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beide eine Sehgemeinschaft, aber das erstere noch auf tastbarer Unterlage, unter der Vorherrschaft des Körpereindrucks, wenn auch immer zugleich mit diesem der Raumeindruck aus der gemeinsamen Gestaltungsschicht entsteht, der diese Körper zusammen angehören. Die gemeinsame Grundfläche wird aber im Werk des Malers notwendig zur Trägerin des entscheidenden Haupteindrucks, d. h. des umgebenden Raumes, in den alle Figuren oder sonstigen Erscheinungen eingehen, der sie alle umfängt und beherbergt; sie wird zur ersten Trägerin der Einheit zwischen Körpern und Raum, die uns der Maler als seine Errungenschaft eines neuen Wertes zeigt, aber eben nicht mehr tastbar, sondern nur noch sichtbar vor Augen stellt. Darin liegt auch der Weg ihrer Entwicklung vom Nahbild zum Fernbild vorgedeutet, dem schon der Reliefbildner nur mühsam und in beschränkten Grenzen zu folgen vermag, bis er notwendig den Wetteifer aufgibt, sowie ihm der Wert der Körper selbst als sein eigenstes Anliegen abhanden kommt. Im Bilde des Malers dagegen liegt der Wert, dem er nacheifert, weder in den Körpern für sich noch etwa im Räume für sich, sondern eben in der Gemeinschaft, der Einheit, dem Zusammenhang zwischen beiden. Nur spielt indes auch hier die Entwicklung hinein, zeitweilig das eine oder das andere als überwiegende Hauptsache hervorzuheben oder gar die innerste Aufgabe selbst zu verdunkeln oder zu gefährden 13. Der Zusammenhang im Bilde des Malers oder des Zeichners, die beide doch auf denselben Wert des Ganzen ausgehen, das sie nur mit verschiedenen Mitteln hervorbringen, bleibt zunächst ein sichtbarer; denn das natürliche Sehfeld unseres Augenpaares bietet den Wert der Wirklichkeit, dessen vorübergehende, oft ganz flüchtige Erscheinung festzuhalten und auf die Fläche zu bannen, die künstlerische Kraft herausfordert und zur Tätigkeit anreizt. In diesem Gebiet, das wir das »Objektiv-Malerische« nennen mögen, liegen die spezifisch malerischen Werte des Daseins und des Lebens ausgegossen; aber es brauchen durchaus nicht immer oder nur vorwiegend Bewegungseindrücke zu sein, die ihre Anwartschaft bestimmen (wie Wölfflin meint); sondern es liegt ihnen oft und lange noch ganz etwas anderes zugrunde. Denn was wir im Sichtbaren sehen und wiederfinden, hängt bekanntlich schon von dem Interesse, das wir zu dem Bilde mitbringen, ab, und

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Deshalb habe ich auch diese »Metamorphose des Bildes« für den Historiker zu fassen gesucht und auf eine Formel gebracht, die ihm wenigstens als heuristisches Mittel bei der Forschung zustatten kommen mag. Bezeichnen wir den zweidimensionalen Auszug mit dem Wurzelzeichen der Mathematik, so lassen sich die beiden Faktoren, aus denen sich der Inhalt zusammensetzt, in großen Buchstaben K (Körper) und R (Raum) wiedergeben, oder in denselben Zeichen des kleinen Alphabets nach ihrem Wertverhältnis zueinander unterscheiden. Sie werden als Einheit durch eine Klammer zusammengefaßt, und mit dem Additionszeichen verbunden, das schon die Möglichkeit frei läßt, dem einen oder dem anderen Bestand teil den Vorrang einzuräumen. Dann 184 √ √ bedeutet (K+r) ein Figurenbild, in dem die Körperwerte bevorzugt bleiben, (R+ k) dagegen umgekehrt eher ein Landschaftsbild, in dem der umgebende Raum das Hauptabsehen geworden √ √ √ √ ist, während die gleiche Größe beider (k+r) und (r+k), ebenso wie (K+R) und (R+K) wenigstens die Größe des Formates und innerhalb dieses noch den Vortritt des körperlichen oder des räumlichen Gehaltes anzudeuten gestattet. 13

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bleibt, auch wenn wir unerwartet neue Werte darin entdecken und sehen lernen, immer von den Wertideen bestimmt, für die wir zugänglich und empfänglich zu werden vermögen. Die Figuren sind etwa im Umriß allein gezeichnet oder im Schattenriß voll ausgetuscht; die Fläche bedeutet den Raum, in dem sie sich befinden; eine Grundlinie bestimmt etwa den Standort und damit das Verhältnis zu dem Ausschnitt, in dem sie erscheinen; der unbezeichnete Grund kann nah und eng abschließen, kann sich aber auch zur Weite der Welt ausdehnen, je nach dem Gewicht, das in seine Wagschale gelegt wird. Ein »hic et nunc« oder ein »ubique« in Ort und Zeit ist möglich, mit beiden Gliedern erreichbar. Aber mit den Beziehungen der nebeneinander aufgereihten oder zueinander gekehrten Gestalten entspinnt sich im Geiste des Betrachters ein mimischer Zusammenhang, den wir unmittelbar im Sichtbaren zu suchen und zu verstehen gewohnt sind. Sowie wir damit nach dem inneren Zusammenhang der Personen fragen, – der hinter dem äußeren zu liegen scheint, – wenn wir das Nebeneinander in ein Nacheinander auflösen, wozu uns die schweifenden Blicke der Augen selbst schon überleiten, oder das Nacheinandersehen wieder in ein Miteinander zusammenfassen, wie es im Ausruhen des Schauens sich ergibt, – so entsteht schon abermals ein Neues, nämlich die poetische Einheit oder der motivier te Zusammenhang, den wir entweder als »Vorgangseinheit« (mit Hildebrand) A oder als »Fabel« (etwa mit Lessing) B, als Erzählung oder als Handlung, mit ihrem Fluß des Geschehens oder ihrem Widerspiel der Beweggründe hinüber und herüber, genug, immer nach Gesichtspunkten der Dichtung näher bestimmen. Erst beträchtlich später erweitert sich der Blick über das Interesse an den Gegenstandsvorstellungen und den Dingbeziehungen hinaus zur Erfassung der Umwelt und sucht die Einheit nicht mehr nach Analogie des lebendigen menschlichen Subjekts, sondern im Objekt selber, wohl gar über die Personen und Sachen hinaus in dem Schauplatz, in der Natur, die alle ihre Bewohner bestimmen, oder in der Weite da draußen, deren Inhalt und Bedeutung wieder ganz von der Phantasie des Beschauers abhängt, lange noch, bevor die Verbindung mit dem Naturgeschehen des Tages, der Nacht, der Stunde, oder der Jahreszeit mit ihren Kennzeichen oder ihren Rätseln, endlich erst mit ihren überlegenen und überwältigenden Gesetzen dareinwirkt. Dann beginnt die Rolle des Lichtes und der Schatten, der Farben und der Luft, die alle Einzeldinge in sich aufnehmen, einen vollständigen Umschwung zu erleben, – Bedeutungswandel von äußerster Tragweite, bis zu ungeahnter Metamorphose, bis zur letzten Verschiebung der Pole. Aber von einer Ablösung des Augenscheins für sich, des rein optisch wahrnehmbaren körperlosen Schimmers braucht in dieser gesamten Entwicklungsgeschichte des Bildes noch gar nicht die Rede zu sein. Das Anliegen der Malerei beginnt viel früher, wird mit viel primitiveren Mitteln schon erreicht, und erobert die Werte, die nur zwischen Körpern und Raum ausgebreitet liegen, die weit über jene Einzelwerte hinausreichen, die Statuenbildnerei mit A B

Adolf von Hildebrand: Das Problem der Form in der bildenden Kunst. Straßburg 1893, S. 39. Vgl. bes. Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie. 2 Bde. Hamburg 1767–1769.

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ihren vollausgerundeten Körpern zu geben vermag oder Raumgestaltung mit ihren tastbaren Grenzen zu verwirklichen trachtet. Sind es bei der Körperbildnerin, wie wir uns gesagt haben, in erster Linie Werte des Daseins, der ruhigen Existenz, des bleibenden Bestandes, so sind es bei der Bildkunst ohne Zweifel die Werte des Lebens, des Zusammenhangs aller Menschenkinder und Einzelgeschöpfe unter sich oder mit der umgebenden Natur, die zur Darstellung kommen und verewigt werden. In solchen Verwandlungen des Bildes und seiner inhaltlichen wie formalen Entwicklungsmöglichkeiten spiegelt sich auch der Fortgang und der Wechsel der Wertideen, die in aller schöpferischen Tätigkeit lebendig wirken. In der Auffassung jenes Zusammenhanges liegt ohne Zweifel eine höhere Stufe seelischer und geistiger Verarbeitung der Welt durch den Menschen gegeben, und der Wert, den die Malerei als ihr eigentümliches Darstellungsgebiet ergreift und immer weiter entdeckend ausschöpft, kann von der Kulturphilosophie nur als ein Beweis inneren Aufstiegs gewürdigt werden. Von alledem finden wir bei Wölfflin in dem Kapitel über das Malerische keine Spur, es sei denn in der Entwicklung der Sehweise, des rein optischen Erlebnisses, auf das er auch die Geschichte der Kunst und ihrer Stile zurückführen will. Bei ihm ist es ein Wandel im Auge, nicht einmal des reproduktiven Aktes, auf den alles hinausläuft, oder negativ eine Abnahme der Beteiligung unserer Tastempfindungen beim Schauen der Erscheinungen. Obwohl er gar manchen entscheidenden Ausdruck und manchen bestimmenden Gesichtspunkt aus meinen Schriften aufgenommen hat 14, wie es bei fortschreitender Beschäftigung mit denselben Grundfragen wohl nicht anders sein kann, so hält er doch hartnäckig

Um nicht den Wortlaut aus meinen Beiträgen zur Ästhetik der bildenden Künste zu wiederholen, setze ich eine Stelle aus Ghibertis Kompositionsgesetzen [= August Schmarsow: Plastik, Malerei und Reliefkunst in ihrem gegenseitigen Verhältnis. Leipzig] 1899, S. 12 hierher: »Vergleichen wir die Einzelfiguren der Kirchenväter und Evangelisten als plastische Gebilde, so kann auch da über das gotische Prinzip der Schulung kein Zweifel walten. Schlank und feinknochig ist das Gerüst des Körpers, dessen Gliedmaßen wesentlich zu dem mimischen Ausdruck mitwirken, als dessen Träger allein das menschliche Gewächs seinen Wert zu erhalten scheint. Das sprechende Gebaren geht in großem Zuge durch die ganze Gestalt und wird eindrucksvoll klar gehalten. Über diese fast lineare Grundform legt sich die fließende Draperie, deren Faltenzüge die festen Punkte des Aufbaues, besonders hervorragende Gelenkköpfe, unter sich verbinden. Solches Gehänge bekundet schon ein maler isches Element, indem es den Zusammenhang zwischen dem organischen Kör per und seiner Umgebung her stellt . . . In dem sanften Übergleiten aus der Körperlichkeit zum Flächenhaften verrät sich schon der harmonische Geschmack Ghibertis und sein feinsinniges Gefühl für maler ische Schönheiten, die der star ren For m allein nicht eignen, sonder n nur dem Zusammenhang der Dinge für unser Schauen . . . Er sieht mit seinem natürlichen Auge schon Einheit und Zusammenhang, wo anderen nur Stückwerk geraten will, das, aufgebaut und zusammengeschweißt, doch wieder auseinanderfällt.« Filippo (Brunelleschi) lehrt »die Einheit zwischen Körper- und Raumfaktoren durch das Gesetz der Linearperspektive hervorzubringen«. Ich hätte auch schon auf meinen Donatello ([Breslau] 1886) hinweisen können, z. B. auf das, was über die Statuen am Campanile (S. 18) und über die Paduaner Reliefs (S. 46) gesagt wird. 14

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an der Erklärung fest, der »Bewegungseindruck« A sei immer die Hauptsache, auf die es im Wesen des Malerischen ankomme. »Es können Verschlingungen der Form sein oder besondere Ansichten und Beleuchtungen, immer wird die feste, ruhende Körperlichkeit überspielt sein von dem Reiz einer Bewegung, die nicht im Objekt liegt« B . . . »Der Bewegungsbegriff gehört zum Wesen des malerischen Sehens« C . . . »Das malerische Auge visiert auf jene Bewegung hin, die über das Ganze der Dinge hinweggeht.« D – Ich bin dagegen nach wie vor überzeugt, daß solche Ansicht nur auf einer Täuschung beruht, die den Sinnesreiz für das Wesentliche nimmt und die optische Erscheinung ablöst von dem, was ihr eigentlich zugrunde liegt, nämlich: Einheit und Zusammenhang, das Ganze aus Körpern und Raum, das unser Sehfeld hier, das Flächenbild des Malers dort darbietet und als höheren Wert über alle Raumgrößen oder Körperformen hinaus vermittelt. Mit solcher ausschließlichen Beschränkung auf formale Symptome der Sichtbarkeit und des optischen Eindrucks kann sich selbstverständlicherweise keine Verständigung mit der Kulturphilosophie verbinden. Dazu hilft auch schwerlich die Versicherung: was dort über Malerisch und Nichtmalerisch auseinandergesetzt sei, bilde »einen Teil des Ausdrucks, den die Weltanschauung sich in der Kunst gegeben hat« (S. 73). Kehren wir mit dieser Erkenntnis zu Wölfflins Gegenüberstellung des Linearen und des Malerischen zurück, so können wir nicht anders, als auch hier denselben Grundfehler erwarten, den die Wirtschaft mit dem Adjektivum schon auf der einen Seite mit sich gebracht hatte, weil die Definition der Malerei als Kunst versäumt ward. Der eigentliche Sinn wird nicht von der übertragenen Bedeutung geschieden, die Flächenkunst als das Gegebene vorausgesetzt, unter das sich alle Begriffe, sei es auch in unverkennbarer Abbiegung ihrer ursprünglichen Struktur, unterzuordnen und zu fügen haben. Das Lineare gibt »die greifbare Zeichnung. Der Akzent liegt auf den Grenzen der Dinge; das konturierende Sehen isoliert die Dinge, das Interesse liegt mehr in der Begreifung der einzelnen körperlichen Objekte als fester, tastbarer Werte.« »Die Linie dient als Blickbahn und Führerin des Auges« (S. 15). Wo das »Entscheidende« gegeben werden soll, heißt es (S. 22 [recte: 22 f.]): »Wir müssen auf den Grundunterschied linearer und malerischer Darstellung zurückgehen, wie ihn schon das Altertum erkannt hat: daß jene die Dinge gibt wie sie sind, diese, wie sie zu sein scheinen . . . In der Kunst haben diese Begriffe ihr dauerndes Recht. Es gibt einen Stil, der, wesentlich objektiv gestimmt, die Dinge nach ihren festen, haltbaren Verhältnissen auffaßt und wirksam machen will, und es gibt im Gegensatz dazu einen Stil, der, mehr subjektiv gestimmt, der Darstellung das Bild zugrunde legt, in dem die Sichtbarkeit dem Auge wirklich erscheint, das aber mit der Vorstellung A B C D

H. Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, S. 29. Ebd., S. 27. Ebd., S. 29. Ebd., S. 21.

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von der eigentlichen Gestalt der Dinge oft so wenig Ähnlichkeit mehr hat.« Da meinen wir, wir seien auf dem Wege zu einer psychologischen Interpretation der beiden weit auseinander gehenden Auffassungsweisen, zu einer Unterscheidung der Wertideen und damit zu einer großen, kulturgeschichtlichen Perspektive! – Aber es bleibt bei der stilkritischen Unterscheidung; es hat bei der »mehr subjektiven oder mehr objektiven Stimmung« – wessen? doch nur der Künstler? – sein Bewenden. Und wir fragen uns, ob nicht auch hier »eine Weltanschauung hinter den künstlerischen Interessen sichtbar werde«. Ist es denn wirklich nur ein Stil, um den es sich handelt, oder ein Gegensatz zweier innerhalb der Flächenkunst allein? Ist es nicht vielmehr der entscheidende Wesensunterschied zweier Künste, wie er sich nach dem besonderen Wert, den sie jede für sich ergreifen und vermitteln, erschaffen und verewigen, schon erkennen läßt. Ist nicht durch diesen logischen Fehler, nach unzulänglicher Denkarbeit bei der Gesamtdisposition des Buches, die ganze verzwackte Sinnerklärung des »Linearen« und die einseitige Definition der »Zeichnung« erst notwendig geworden? Überall bricht denn auch der eigentliche Gegenbegriff des Malerischen hervor, der nicht das »Lineare«, sondern nur das »Plastische« sein kann. Und dieser fehlt in dem grundlegenden Ansatz. Er schleicht sich nachträglich durch Hintertüren ein, aber stets in dem unvollständigen und uneigentlichen Sinn des »plastischen« Augenscheins, der »plastischen« Flächenwirkung, also in der Beschränkung auf die zwei Dimensionen der Ebene, und vermag nur einzuschmuggeln, was durch täuschende Mittel der perspektivischen Zeichnung, der rundenden Modellierung, der Helldunkelkontraste sonst umher für das Hineinsehen der dritten Dimension gewonnen werden kann. Der Vollbeg r iff des Plastischen fehlt, weil die Ableitung dieses Eigenschaftswortes von der Kunst der Plastik, der Kör perbildner in, verabsäumt worden. »Das Umreißen einer Figur mit gleichmäßig bestimmter Linie hat noch etwas von körperlichem Greifen an sich«, heißt es durchaus zutreffend. »Die Operation, die das Auge ausführt, gleicht der Operation der Hand, die tastend am Körper entlang geht, und die Modellierung, die in der Lichtabstufung das Wirkliche wiederholt, wendet sich ebenso an den Tastsinn. Wie aber das Kind sich abgewöhnt, alle Dinge auch anzufassen, um sie zu »begreifen«, so hat die Menschheit sich abgewöhnt, das Bildwerk auf das Tastbare hin zu prüfen. Eine entwickeltere Kunst hat gelernt, der bloßen Erscheinung sich zu überlassen« A15. Diese Herleitung, Diese entwickeltere Kunst ist die Malerei. »Der malerische Stil hat sich von der Sache, wie sie ist, mehr oder weniger losgesagt. Zeichnung und Modellierung decken sich nicht mehr im geometrischen Sinne mit der plastischen Formunterlage (d. h. doch der vollrunden Körperlichkeit?), sondern geben nur den optischen Schein der Sache. Lauter Flecken stehen nebeneinander, unzusammenhängende.« [Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe (siehe Fn. 5) S. 23] Was heißt diese letzte Aussage: »Lauter unzusammenhängende Flecken stehen nebeneinander«? auf der Bildfläche nämlich. Der Zusammenhang, der hier gesucht und nicht gefunden wird, ist der Zusammenhang der Einzelgestalt, der Glieder zu einem Ganzen, also eines Gewächses. Es ist 15

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bei der nur auf der Seite der Zeichnung die Plastik, als die vorauszusetzende Kunst der Tastorgane selber, dazu gehört, wäre gewiß besser geeignet »kunstgeschichtliche Grundbegriffe« für primitivere Jahrhunderte zu entwickeln, als für den Umschwung der späten Stile, von Hochrenaissance zum Barock, für die Wölfflin sie heranzieht. In der letzten Zusammenfassung des Kapitels sieht er sich gezwungen, denn doch auf einen allgemeinen kulturphilosophischen Standpunkt überzutreten. Und siehe da! Wir lesen: »Der große Gegensatz des linearen und des malerischen Stils entspricht einem g r undsätzlich ver schiedenen Interesse an der Welt. Dort ist es die feste Gestalt, hier die wechselnde Erscheinung; dort ist es die bleibende Form, meßbar, begrenzt, hier die Bewegung, die Form in Funktion; dort die Dinge für sich, hier die Dinge in ihrem Zusammenhang.« A Damit übernimmt Wölfflin ausdrücklich meine Formel für das Malerische, die auch sonst immer hereinspielt. Und ich könnte mich mit dem ganzen Satz völlig einverstanden erklären, wenn nur wenigstens statt des »linearen« der »plastische« Stil zu lesen stünde. Aber es handelt sich bei dem Inhalt dieses großen Gegensatzes überhaupt gar nicht mehr um Stile, geschweige denn Stile der Flächendarstellung allein, sondern um den Wesensunterschied zweier selbständiger Künste, Plastik und Malerei, und um den Gegensatz zweier Wertideen, der Körperlichkeit als Grundstock des Daseinswertes dort, des Zusammenhanges mit der umgebenden Welt als Spielraum der Lebenswerte hier, in voller Dreidimensionalität dort, im zweidimensionalen Augenschein hier. Mit dem »grundsätzlich verschiedenen Interesse an der Welt« sind wir bei der Wer tlehre, der auch die Kunstwissenschaft ebenso wie die Kulturphilosophie Rechnung zu tragen hat, wenn sie sich zu folgerichtigem Durchdenken ihrer Probleme zusammenrafft und nicht bei Einzelabschnitten der Stilentwicklung stehen bleibt. Der Begriff der Kultur selbst ist ein Wertbegriff 16. Was wir eine Kultur nennen, ist »ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens«.B Wenn Wölfflin schreibt: »nichts liegt der Kunsthistorie näher als Stil- und Kulturepochen parallel zu setzen« C, so darf man zweifeln, wie weit er damit einverstanden sei. Wenn die Übereinstimmung beider auch nur als Möglichkeit zugestanden wird, so erwächst daraus auch für den Stilkritiker die Verpflichtung, das Problem der der Zusammenhang des organischen Kör per s, um den es der Plastik zu tun ist. Im Werk des Malers kann die Körpereinheit zerrissen, verzettelt, aufgelöst werden; es ist ein anderer Zusammenhang über alle Einzeldinge hin hergestellt; der Wert der Plastik ist wenn nicht untergegangen doch aufgehoben in dem höheren oder doch umfassenderen Wert der Malerei. 16 Max Weber a.a.o. [= »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis« (siehe Fn. 11)] S. 54. Ebd., S. 31. Max Weber: »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 19/1 (1904), S. 22–87, hier S. 55. C H. Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, S. 9. A B

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Stilentwicklung bis in die psychologische Erklärung der zu gehörigen Kultur zu verfolgen. In deren Gesamtcharakter er st kann der letzte uns er reichbare Aufschluß erwar tet werden. Dazu bedarf es eben des brauchbaren Rüstzeuges gemeinsamer Grundbegriffe der Kunstwissenschaft und der Kulturphilosophie, deren Notwendigkeit wir soeben verfechten. Daß Wölfflin nicht selbst zu der Einsicht gekommen ist, sein ganzer Grundstock von fünf oder sechs angeblichen Paaren stilkritischer Handhaben sei von Anfang bis zu Ende schief gewickelt, wenn er seine Analyse der neueren Kunst mit dem zunächst der Flächendarstellung allein entnommenen Gegensatz von Linear und Malerisch beginne, das rührt in erster Linie davon her, daß er nicht auf die anerkannten und selbständig einander gegenüberstehenden Einzelkünste Plastik und Malerei zurückgeht. Wenn er aber darauf ausging, »die gleichen Begriffe möchten sich auch für andere Zeitalter als brauchbar erweisen,« A dann hätte er von vornherein darauf bedacht sein müssen, daß die Behandlung des einzelnen Falles, der ihm zur Hauptsache ward, nicht der Allgemeingültigkeit der Voraussetzungen entbehre, d. h. der Verständigung mit der Kunstwissenschaft als Kulturwissenschaft und womöglich auch mit der Kulturphilosophie und ihrer Begriffsbildung, die ihm nach seinen Beziehungen zum »Logos« nicht fremd sein sollte.

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II.

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Wenn »schon das Altertum erkannt hat, die eine Kunst gebe die Dinge, wie sie sind, die andre, wie sie zu sein scheinen,« B so kommt es für uns vor allem darauf an, auszusprechen, daß damit nur die beiden darstellenden Künste gemeint sein können, die auch das Altertum schon als grundsätzlich verschiedene und zu voller Selbständigkeit ausgebildete Einzelkünste besaß: die Plastik und die Malerei. Es ist aber auch ferner wohl eine allgemein anerkannte Tatsache, mit der wir rechnen dürfen, daß die Plastik für das klassische Altertum die eigentlich maßgebende Kunst gewesen, von der alle weiteren Verzweigungen des künstlerischen Schaffens bestimmt und durchdrungen wurden. Und zwar ist es gerade ihr Charakter als Körperbildnerin, der auch für die Architektur wie für die Malerei maßgebend war. Das spricht sich für den Tempelbau mit seinen vollrund aufgerichteten Säulen sogar heute noch in der kurzsichtigen Meinung aus, das plastische Wesen herrsche hier so vollständig und ausschließlich, daß von Raumgestaltung eigentlich gar keine Rede sein könne. So urteilt selbst ein Ästhetiker wie Theodor Lipps und verkennt damit seltsamerweise, daß doch die Cella jedenfalls als Innenraum dasteht, und daß auch ein offener, um diesen Kern des Ganzen etwa ringsherum laufender Säulengang doch ebenfalls ein Raumgebilde darstellt, dessen Gangbreite, zwischen Wand und Peripteros, auf jeder Seite eine eigene Raumschicht bleibt und dessen A B

Ebd., S. VI. Ebd., S. 23.

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besondere Aufgabe wir nur als allseitige Vermittlungszone, sei es auch zunächst für den andringenden Blick allein, auffassen können, aber kraft ihrer Schalträume zwischen den Säulenstämmen auch tatsächlich als solche hinnehmen müssen. Die Rolle freilich, die der plastisch durchorganisierte, zu starker Selbständigkeit gesteigerte Einzelkörper der Säulen, auch unter dem Joch des gemeinsamen Gebälks – zwischen Fußboden und Dach –, zu spielen hat, berechtigt vollauf, von Vorherrschaft statuarischer Denk weise und von »isolierender« Tendenz in der Aufreihung zu sprechen. Wir brauchen danach kaum mehr dies Verfahren in die Malerei weiterzuverfolgen, um die Auffassung der Körperbildnerin als bestimmend auch für diese Schwesterkunst, in den Figuren des Vasenbildes etwa, darzutun, denn wir halten schon ohnehin für die Plastik selbst einen er sten Gr undbeg r iff in der Hand, der sich sofort als der Kunstwissenschaft und der Kultur philosophie gemeinsam herausstellt, sowie wir ihn nur beim richtigen Namen nennen: das Individuum. Mit diesem einen Wort vollziehen wir den gewollten Zusammenschluß beider Gebiete. Plastik. Einen Einzelkörper als für sich bestehenden, von allem übrigen unabhängigen, nun eben nicht mehr unter dem durchgehenden Architrav und dem »säulengetragenen herrlichen Dach« gebundenen, für sich allein hinzustellen, ist ja die Aufgabe der statuarischen Kunst. Das menschliche »Individuum« aus dem Strom des Werdens und Geschehens herauszuheben, in voller Selbständigkeit und Geschlossenheit zu verewigen, ist das Anliegen der Plastik, solange sie ihrem eigenen Wesen getreu und dem höchsten Anspruch an ihr reines Wollen gewachsen bleibt. Das isolierte Standbild ist das Urbild der » Wer tindividualität«, die wir sogleich im Sinne von Emil Lask im Anschluß an Fichtes Denkarbeit für die Geschichtsphilosophie verstehen wollen 17. Der Wer t des Daseins selber ist es, wie wir uns schon zu Anfang gesagt haben, den die Plastik in dauerhaftem Material, zu möglichst unveränderlicher Beharrung verkörpert und in den allgemeinen Raum setzt, damit er auf dem Schauplatz, der die Welt bedeutet, aus eigener Kraft sich selber behaupte. Die Gestalt des Menschen allein, auf ausgeschnittener Platte und erhöhtem Sockel, über das Gewoge der Lebenden emporgerückt, als feste vollgerundete Form, versinnlicht diesen ursprünglichsten aller Werte, der dem Menschen im Besitz seines eigenen Leibes, als eines Körpers im Räume, aufgeht. Aber als Menschenbild erst, nicht als Säule schon, führt die »Bildsäule« diesen Wertinhalt voll zu Sinnen und zu Gemüte. Indessen, es ist uns allen geläufig und bewußt, zumal soweit wir jemals mit dem klassischen Altertum, ja nur mit primitiver Kunst überhaupt verkehrt haben, daß auch das aufgerichtete Mal schon, als reiner Körperwert, die Bedeutung des unverrückbaren Bestandes vermitteln mag und an seinem Ort irgend einen Mittel17

[Emil Lask:] Fichtes Idealismus und die Geschichte. Tübingen 1902, Neudruck 1914, S. 11 ff.

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punkt mannig faltiger, weitreichender Beziehung hervorhebt und herausstellt, mit dem Anspruch, als solcher zu verharren und sich durch alle solche Einstrahlung oder Ausstrahlung hindurch zu behaupten 18. Wir kennen diese Macht des frei aufragenden Steinblocks, den Menschenhand noch nicht einmal zum regelmäßigen Gebilde geglättet, allseitig abgeflächt und unter das Gesetz der Kristallisation gebracht hat. Das vorgefundene, roh belassene Naturding, der Holzpflock im Boden, die Stange vollends, genügt schon als Anhalt für die Phantasie; denn sie gibt schon das Wesentlichste, die Vertikalachse des Menschenkörpers selber, und dient so, als sinnliches Substrat, durch die Zutat des ankommenden Subjekts bereitwillig ergänzt, als Symbol des Wertgedankens oder der dunkeln Ahnung seiner künftigen Anwartschaft. Am behauenen Stein aber waltet die Körperbildnerin, wie an dem Einzelgliede für den weiteren Aufbau des Raumgebildes, rein tektonisch, um ihrem Werk die unmittelbar kenntlichen Wahrzeichen des Menschenwillens aufzuprägen, daß es sich vom Spiel des Zufalls und vorgefundener Beute der Gelegenheit unterscheide. Der erste und der letzte Zweck eines Monumentes ist immer die Verewigung eines Wertes und insofern identisch mit dem Zweck jedes Kunstwerks. Aber es gibt Werte, die der Veränderlichkeit alles Lebens zugrunde liegen, die als konstitutive Faktoren den Wechsel der Zeiten überragen und deshalb nach dem Verlangen des Menschen ihn auch überdauern sollten. Das äußerste menschenmögliche Maß der Beharrung zu erreichen ist das Ziel, der äußerste menschenmögliche Ausschluß aller Bewegung das Verfahren, mit dem es erreicht wird. Erstarrung ist der Preis, um den die Beharrung erkauft wird, und die Kristallisation der Existenz, des bloßen Seins selber, auf Kosten der Organisation alles Lebendigen ist der Prozeß, der sich mit der Absicht auf Monumentalität verbindet (a. a. O. S. 170 f.). Immer ist die Abstraktion von der warmen Fülle des menschlichen Geschöpfes und seiner Verwandten die Voraussetzung und haftet noch langehin an dem Grundstock der weiter fortgeschrittenen Gestaltung als das Eine, was not tut. Gegenüber dieser kristallinisch denkenden und tektonisch regelmäßigen Körperbildnerin nennen wir den griechischen Namen Plastik, der auch ihr gebührt, vorzugsweise da, wo sie sich anschickt, die Formen des organischen Gewächses an den stereometrischen Kern der Sache anzutragen, wie etwa den Menschenkopf an Stelle einer Kugel auf dem eingerammten Pfahl, oder die Büste auf dem viereckigen Steinpfosten, die dadurch beide zur Herme werden, einer Ver bindung von plastischem Bildwerk mit dem symbolischen Grundstock, die uns als solche den Weg zur selbständigen Plastik weiterweist. In dem Bewußtsein dieses engen Zusammenhangs zwischen dem tektonischen Mal und dem Gebilde der statuarischen Kunst hat auch Alois Riegl gelegentlich von der Behandlung als »isoliertes Individuum« gesprochen, selbst da, wo es sich um kein Abbild eines Menschen, sondern um einen starren, nur allseitig zur Ebene abgegrenzten Steinblock handelt. Liegt in seinem Gedanken der Nachdruck auf der Isolierung, so kommt durch die Bezeichnung des Baugliedes als »Individuum« doch eine Art Personifikation 18

Vgl. m[eine] Grundbegriffe [der Kunstwissenschaft] 1905 [siehe Fn. 6], Kap. XII.

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zustande, so daß wir gut tun, uns darüber Rechenschaft zu geben, und das Wort zu vermeiden, wo es zu weit geht oder auch nur irreführen könnte, wenngleich ihm ein berechtigter Sinn zugrunde liegt, den wir in der Aufstellung des gemeinsamen Begriffs eben auch unserseits ausdrücklich anerkennen. Unser deutsches Wort »Einzelwesen« hat manchen Vorzug vor dem uns eingeimpften und deshalb in der Wissenschaft wohl festgewurzelten lateinischen »Individuum«. Dies allgemein geläufige Fremdwort enthält ja den Sinn, den es vermitteln soll, eigentlich nur in negativer Aussage, als »nicht Teilbares«, gibt aber die Hauptsache nicht, eben das Wesen, das nur in der Endsilbe des Substantivs noch erkennbar steckt, und läßt dies als Neutrum oder Commune erscheinen: das ist »was einen Mann und eine Frau bedeuten kann«, oder aber keins von beiden zu sein braucht, d. h. im Grunde noch keinen Geschlechtscharakter trägt, oder von dieser Besonderung des einzelnen Lebewesens geflissentlich absehen heißt. »Einzelwesen« gibt sogleich positiv das »isolierte Individuum« als Einheit, und diese Einzahl zugleich in Verbindung mit einem Begriff des Seins und Lebens, der äußeren Erscheinung und der inneren Regsamkeit, der eigentümlichen Art, die wir als »Aktivität« zusammenfassen dürfen 19. Auf die Heraushebung dieser selbständigen und abgesonderten Potenz »für sich allein« kommt es bei der ganzen Auffassung an, die hier festgehalten werden muß, denn sie hat das gesamte Altertum, solange es mit sich selber einig blieb, ausschließlich bestimmt. Das Individuum ist nur als numerische Einheit denkbar. Und die Ausschaltung jedweden Zusammenhangs mit dem natürlichen Geschehen, des molekularen mit der übrigen Natur und des psychophysischen mit organischen Lebewesen seinesgleichen, des sozialen vollends mit den andern seiner Sippe oder seines Stammes, seiner näheren Gemeinschaft oder weiteren Gesellschaft – diese Abstraktion wiederum von allen solchen in Wirklich keit immer waltenden Verbindungen und Beziehungen macht erst den » Wer t des Daseins« für das Einzelbewußtsein frei. Solche Erwägung muß angestellt und mit dem lebendigen Gefühl durchdrungen werden, um die Tatsache klar zu erfassen, daß es sich um eine » Wer tidee« handelt und nicht um einen in der Wirklichkeit vorgefundenen, fertig überkommenen Wertgegenstand, den die menschliche Kunst nach der hausbackenen Nachahmungstheorie nur schlechtweg nachzumachen, womöglich genau mit der Vorlage übereinstimmend zu wiederholen oder abzubilden hätte. Ein »isoliertes Individuum« gibt es in Wirklichkeit überhaupt garnicht, und an dem Einzelwesen, das es gibt, ist nicht sowohl seine Unteilbarkeit die Hauptsache, als vielmehr seine Einheit, – oder sagen wir lieber sogleich: sein Einheitsgefühl, um nicht vom ausgebildeten Selbstbewußtsein oder vom allmählich erworbenen Ichbewußtsein zu reden, bevor es Zeit ist. – Die Wertidee hat auch ihrerseits nur den organischen Leib, zunächst als Körper im Raum, zum Anhalt, und macht dies sinnliche Substrat zum Träger, d. h. zum Symbol ihres weiteren, immer wachsenden und wandelbaren Inhalts. Die abgegrenzte Körperlichkeit, die bei oberflächlichem Tasten und Sehen als geschlossen erscheinende Körperein19

Vgl. Moritz Heyne, Deutsches Wörterbuch. Leipzig, Hirzel 1890–1895, [Bd.] III.

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heit, das ist auch hier der Grundstock der statuarischen Kunst, der Plastik, von der wir im engeren Sinne sprechen als Menschenbildnerin. Die Wertidee jedoch, die als innerer Beweggrund all ihre schöpferische Tätigkeit veranlaßt und bestimmt, geht über diese gegebene Unterlage eines Einzelorganismus durch Abstraktion von dessen allseitiger Verknüpfung mit der Natur und der Umwelt andrer Geschöpfe weit hinaus und steigert die Vorstellung des beharrenden Seins im Gegensatz zu dem verfließenden Leben, so daß wir bald genug inne werden müssen: wir haben es auch hier mit einem Gedankenbild nach Art des »Idealtypus« zu tun, das zugleich für die Kunst als Ziel des Strebens und Maßstab ihres Gelingens normative Bedeutung gewinnt. Diese sowohl steigernde wie vereinfachende Wertidee kann von der Kunst nur durch Läuterung des Willens in ihrer Reinheit erfaßt, nur durch die Stärke des Nachdrucks vom Wertgefühl durchdrungen werden, wie es schon der Fortgang der Phantasie vom freien Akt der Reproduktion zur mühevollen Arbeit der schöpferischen Tat selber erheischt. Deshalb sagten wir immer: » Die Seele der Plastik ist das Selbstgefühl!« Mit erstaunlicher Schärfe des Begriffs und unverkennbarer Abstraktion ergreift die ägyptische Skulptur den Wert des Daseins allein, mit dem Willen zu seiner Verewigung. Man möchte sagen: wie ein Raubvogel auf seine Beute herniederstößt, so zielsicher, so unbeirrt durch Hindernisse oder Ablenkungen, wirft sich der Geist in seinem Bewußtwerden auf dieses Gut, das doch nichts andres ist als der herausgeschälte Kern des Lebens, das ihm als sicheres Erbteil seiner Geburt zuteil geworden, so daß es ihm von Natur bereits gehörte. Im starrsten, unangreifbarsten Material beschränkt sich die Wiedergabe des Menschenbildes auf die gemeinsamen Wesenszüge, sichert zuerst den Typus, aber nicht nur des Menschen im allgemeinen, sondern des ägyptischen Volkes, seines eigenen Stammes oder des herrschenden Königs, den sie verherrlicht. Mühsam, aber geduldig, durch kein Opfer der Zeit, die es kostet, abgeschreckt, arbeitet der Bildhauer an dem härtesten Gestein, das die Gestaltung der Glieder nur in schematischer Einfachheit gestattet. Mit fanatischer Unerbittlichkeit wird das Eine festgehalten, worauf es ankommt: die Fortdauer der körperhaften Existenz, wohl gar zu kolossaler Größe hinaufgetrieben. Erst den Griechen war es vergönnt, das Selbstgefühl, mit der Wärme des Lebens selber bereichert, wie im Genuß der Wonne des Daseins aufgehascht, durch sein marmornes Ebenbild zu ergießen, so daß es auch den Betrachter beglückt. Aber dieser Hauch des Atems über leise geöffneten Lippen, die schwellende Fülle der Glieder sollte doch nicht darüber täuschen, wie jedes Wahrzeichen der Vergänglichkeit ferngehalten, jede Beziehung zu dem Stoffwechsel im Innern der festgerundeten Formen ausgeschaltet, dagegen die ewige Jugend dieser unverwelkbaren Blüte vorausgesetzt und ebenso selbstverständlich wie sieghaft durchgeführt worden ist. Auch hier die Mitwirkung freier Abstraktion im Sinne der verwirklichten Wertidee, auch hier die Steigerung bestimmter Eigenschaften, auf deren volle Sicherung es ankommt; aber eine Aufnahme reicherer Mannigfaltigkeit der Züge des lebendigen Daseins selber, in der Schönheit harmonisch ausgebildeter Körper, mit allen Anwartschaften für den Gebrauch im Wettstreit gleichentwickelter Kräfte. Auch

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hier noch der Ausgang vom gemeinsamen Typus, aber auch die entschieden vollzogene Auswahl der geeigneten Altersstufen, eine Bevorzugung des männlichen Geschlechts, solange die Aufgabe in ihrer eigenartigen, der hellenischen Kultur ursprünglichen Strenge bewahrt bleibt. Nun aber entwickelt sich der Typus durch die glückliche Vereinigung mit Individuellem zum Ideal, d. h. zu dem ganz konkreten Ergebnis der Wertdarstellung, das wir in den Götterbildern Griechenlands anerkennen – dem objektiv vorhandenen, im Kunstwerk erreichten Ideal, das ich als » höhere Einheit zwischen Individuum und Typus« definiert habe.A Auch dieser Gewinn erklärt sich befriedigend nur, aber dann auch ganz natürlich, aus dem Walten der Wertidee in der schöpferischen Phantasie, deren Hervorbringung sich nicht auf die Wiedergabe irgend eines in Wirklichkeit Gegebenen richtet und auf wiederholende Nachahmung beschränkt, sondern schon im Akt der Reproduktion die Freiheit des Geistes bewährt, so sehr sie an empfangene Eindrücke und erlebte Erfahrungen gebunden bleibt. Sie reinigt und verklärt, sie vereinfacht und steigert ein Urbild des Wertes, den sie nun zu verewigen trachtet: die Leibesschönheit, von der die menschliche Entdeckung aller Schönheit überhaupt ihren Ausgang genommen hat. Und durch den allmählichen Zuwachs neu beobachteten Reichtums der Erscheinungen, des Individuellen als des Einmaligen, aus zeitlich und örtlich begrenzten Bedingungen Erwachsenen, ergibt sich die letzte Ausdrucksgestaltung der nämlichen Wertidee, die der Körperbildnerin noch in ungebrochener Folgerichtigkeit ihres Wesens gelingen mag: die Verewigung des geschichtlichen Individuums, des Zeitgenossen, das Bildnis einer bestimmten Person. Aber auch sie vollzieht sich bei den Hellenen stets »sub specie quadam aeterni«, d. h. in der Übertragung auf »die höheren Regionen, wo die reinen Formen wohnen«, wo die Schlacken des irdischen Geschehens im Feuer der Begeisterung gefallen sind. Nachdem wir so den ersten Grundbegriff für die Kunst der Plastik und damit für die ganze Kultur des Altertums festgelegt haben, könnte die Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt, in die er geboren wird, von hier aus weiter verfolgt werden, indem wir uns auch dabei die biologischen und psychologischen Beobachtungen der neueren Forschung zunutze machen 20. Das menschliche Individuum ist nach der Wertidee, die in ihm selbst erwächst, ein einheitliches Ganzes, wenn es auch als organisches Geschöpf, das eben geboren wird und wieder auseinanderfällt, kein isolier tes Individuum sein kann, wie das Wertideal, das seine plastische Kunst vor Augen stellt. So ist der Körper freilich immer früher da als die Seele, und das Selbstgefühl eher als das Selbstbewußtsein in seiner gegliederten Gesamtheit. Mehr und mehr aber wächst im Fortschritt des Lebens die seelische Betätigung zugleich Vgl. Jakob Baron von Üxküll, Bausteine zu einer biologischen Weltanschauung, München 1913, und derselbe, Umwelt und Innenwelt der Tiere, Berlin 1910. – Max Scheler, »Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik« im Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Bd. 1, 1913 [S. 405–565] und Bd. 2, 1916 [S. 21–478], sowie [ders.:] »Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle, von Liebe und Haß«. Halle 1913. 20

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mit ihren höheren Lebensinteressen über die lediglich körperlichen Funktionen hinaus. Geistiges oder seelisches Individuum also wird der Mensch immer erst, wenn in ihm solche Kräfte ausgelöst werden, deren Wirksamkeit für ihn selbst mit bewußten Erlebnissen und Erfahrungen verbunden ist 21. Diesen Wandel beobachten wir auf dem Boden der nämlichen statuarischen Kunst von den Zeiten der Spätantike her durch die Jahrhunderte der christlichen Kultur. Freilich, ein ganz primärer Unterschied der Menschen besteht schon darin, welche Objekte überhaupt auf ihr mögliches Verhalten von Wirksamkeit werden können und hierdurch überhaupt erst sinnliche Gefühle auszulösen vermögen, in denen die Wurzeln auch künstlerischen Schaffens gelegen sind, und dieser Unterschied der ursprünglichen Anlage, der Triebeinstellungen einer Rasse etwa, ist schon ein Wertunterschied von grundlegender Bedeutung. Es gilt auch hier immer auf den angeborenen, von Vorfahren ererbten Körper zurückzugehen und so nochmals das gute Recht der Plastik als Körperbildnerin anzuerkennen. Dann vollzöge sich die Auseinandersetzung des Menschen allererst von seinem Körper aus, dem die übrige raumkörperliche Welt oder für die statuarische Plastik zunächst der gänzlich unbezeichnete, durchaus nicht mit in die Darstellung einbezogene Raum, somit nur als negativer Pol, gegenübersteht. Schließen wir uns Max Schelers sorgfältiger Unterscheidung von Kör per und Leib an, so hätten wir in zweiter Linie diesen Begriff des Leibes (den er wieder in Leibkörper und Körperleib auseinanderlegt), dem Begriff der Umwelt gegenüberzustellen, die im Sinne der heutigen Biologen dann wieder in eine (rezeptorische) Merkwelt und eine (effektorische) Wirkungswelt gesondert werden muß. – Darauf folgt die Auseinandersetzung des Ich mit der Außenwelt. Der Begriff des »Ich« mag sich nach dieser Fassung wieder durch die Ausdrücke Leib-Ich und Leib-Seele einerseits mit dem vorigen, anderseits mit dem folgenden Symptomengebiet (der Psyche) vermitteln, sonst aber sich als Mittelpunkt der Innenwelt erweisen. – Zuletzt kämen wir auf den Gegensatz von Per son, deren Begriff wir, auf Grund der üblichen Sonderung von Seele und Geist, klar unterscheiden müssen, wo immer es gilt, ein Individuum nicht nur im Sinne eines organischen Lebewesens, sondern auch als psychisches anzuerkennen, und anderseits der konkreten Welt dieser Person, die nun als »Welt überhaupt« dastehen mag, »weil sie ein absolut seiendes, überall konkretes, individuelles Sein ist und keineswegs eine bloße Idee im Sinne Kants«. Hier eröffnen sich alle Anwartschaften der geistigen Per sönlichkeit und ihrer Gefühls- und Gedankenwelt. Das menschliche Individuum, das nur in der Wertidee der statuarischen Kunst als isoliertes freigehalten wird, wird im Leben von unzähligen und verschiedenartigen Einflüssen berührt und tritt in unendlich vielgestaltige Austauschverhältnisse, in denen es wieder, durch seine Empfänglichkeit für diese oder jene äußeren Einwirkungen, nach seiner individuellen Eigenart bestimmt wird, die ebenso auf sein Verhalten zu der eigenen Umwelt, der Merkwelt wie der Wirkungswelt zurückwirkt. In diesem Wechselverkehr offenbart sich überhaupt erst der 21

Otto Ritschl, Die Kausalbetrachtung in den Geisteswissenschaften. Bonn 1901.

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Unterschied seiner somatischen und seiner psychischen Funktionen als wirkliche Potenz. Erst im sozialen Zusammenhang mit den anderen Menschen aber und in dem gegenseitigen Austausch mit diesen wird der Einzelne zu dem auch geistig wirksamen und leistungsfähigen Subjekt, das wir nach seinen beiden Seiten hin, nach der körperlichen und nach der seelischen, meinen, wenn wir es als Individuum bezeichnen 22. Die statuarische Kunst, die es unternimmt, in der menschlichen Gestalt, also in, mit und unter der sinnlichen Individualität, auch die sittliche Persönlichkeit zum Ausdruck zu bringen, d. h. schließlich den innersten Gehalt zu vermitteln, den Fichte die »ideale Individualität« genannt hat, muß dabei doch darauf verzichten, sie eben in ihrem Zusammenhang mit der Welt umher zu zeigen; denn sie stellt ja nur das Einzelwesen für sich allein hin und zieht schon den umgebenden Raum garnicht mehr in ihre Darstellung hinein. Das sind die höchsten Wunderwerke der Bildniskunst in der Plastik, nicht allein des Altertums, sondern auch der modernen Zeit, wo immer das historische Individuum in seiner unersetzlichen Einmaligkeit gewertet wird und wo immer ein liebender Künstler darauf ausgeht, diese Wertindividualität als Daseinswert zu verewigen 23. Mimik.

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Lange jedoch, bevor diese Aufgabe höchster Konzentration in einer selbständigen und geschlossenen Einheit erfüllt werden kann, drängt A schon das prozessierende Leben selbst zu einer Erweiterung auf zwei oder mehr Körper nebeneinander, sei es zur Gr uppe, sei es gar, mit Hilfe der Grundebene des Steinblockes, der Holzoder Metallplatte selbst, zum Relief. In beiden Fällen ist es indes nicht mehr die Körperform und Körperhaltung allein, die den Wert verwirklicht, sondern es ist die Kör perbewegung und damit das Ausdr ucksgebaren, was den Wert der 22 Vgl. O. Ritschl a. a. O. [siehe Fn. 21], wo auch eine überzeugende Entwicklungsgeschichte des Kausalbegriffs in ihren Grundzügen skizziert wird. Die »Zurechnung« hat auch Max Weber als Wurzel der Kausalität angenommen. 23 Einer neueren Erweiterung des Sprachgebrauchs begegnen wir auf dem Gebiete der Geschichtsphilosophie. Wir andern denken beim » histor ischen Individuum« zunächst an die geschichtliche Person. Die Kulturwissenschaften fassen jedoch unter diesem Namen ganze Komplexe von historischen Erscheinungen in ihrer einmaligen Bedingtheit zusammen, soweit sie durch innerlichen und äußeren Zusammenhang geeignet sind, einheitlich behandelt zu werden. » Histor isches Individuum«, schreibt Max Weber, »sagen wir jetzt, im Anschluß an einen auch in der Methodologie der Sozialwissenschaft schon gelegentlich gebrauchten und jetzt in der Logik in präziser Formulierung üblich werdenden Ausdruck, für eine Kulturer scheinung.« [S. 53] In der Kunstwissenschaft beschränken wir den Sprachgebrauch besser auf konkrete Einzelwesen, erlauben ihn uns z. B. mit gutem Recht gewiß bei jedem Bauwerk als einer ganz individuellen Schöpfung, sowie sie über die Wiederholung eines Typus hinausgeht, nicht als Durchschnittsexemplar einer Mehrzahl abgetan werden darf.

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Beziehungen trägt, und darin eben einen neuen, andersartigen Wert vermittelt. Ein Paar von Freunden oder Kampfgenossen, ein Paar von Liebenden, auch in ruhiger Gesellung, die Angehörigen um das abgeschiedene Glied einer Familie, wie die Grabstele sie vereinigt, sind Beispiele solcher Steigerung zu Wer ten des Lebens, und das Widerspiel zweier Einzelwesen, das erst deren Eigenart und Verschiedenheit hervorlockt, eröffnet ein weites Feld von Möglichkeiten, bis zum Höhepunkt des Antagonismus 24. Hier aber hat auch eine andere Kunst längst der Plastik vorgearbeitet. Ja, wir hätten gar nicht nötig gehabt, dieser Körperbildnerin auch in solcher Erweiterung ihrer Anwartschaft nachzugehen, die doch eigentlich über die Grenzen ihres ursprünglichen Wesens hinausführt. Denn es ist und bleibt das gute Recht der Mimik, an ihrem ursprünglichen Platz hervorzutreten und sich von vornherein da zu behaupten, wohin ihrer Natur nach nur sie gehört. Unleugbar sind es mimische Wer te, die sich in Gruppe und Relief zu den reinen Körperwerten jener Beispiele gesellten, und je lebhafter die Motive werden, desto notwendiger drängen sie das Hauptanliegen der Plastik zurück und müssen, durch ihre Anziehungskraft für die Phantasie, die Schätzung des ruhigen Bestandes gefährden. Ich habe immer darauf bestanden, daß wir die bildenden Künste nicht für sich allein behandeln dürfen, wenn wir den Schlüssel zu dem Gesamtbereich der Kunst nicht verlieren wollen, daß wir die ganze Reihe auch der sogenannten »musischen« Künste oder richtiger der »zeitlichen Anschauungsform« einbeziehen müssen, weil zum Verständnis ihres gemeinsamen Kernes und ihres durchwaltenden Verhältnisses keine einzige fehlen darf. Nur allzuoft verkennt man noch, daß es sich in dem Gesamtgebiet, das ich unter dem Namen Mimik begreife, um ein ganz eigenes und ursprünglich selbständiges Kunstgebiet handelt, dessen schöpferisches Gestaltungsprinzip nicht deshalb um sein Erstgeburts recht betrogen werden darf, weil es das Schicksal gehabt hat, sich als überall begehrter Bundesgenosse in eine Reihe anderer Künste zu verzetteln. Das Verlangen, die Selbständigkeit einer Kunst müsse sich durch eine historische, womöglich bis heute nachweisbare Existenz und fortlaufende Reihen unbezweifelbarer Dokumente dartun lassen, beruht auf einem Vorurteil, das schon das Amt der Theor ie verkennt, da nachzuspüren und zu ergänzen, wo Lücken der Überlieferung den notwendigen Befund der Tatsachen zerreißen, oder wo das Versagen solcher Tradition, das Verschwinden der Vergangenheit ohne Geschichte, schon in der Natur der Sache selber und in dem Mangel erhaltender (hier graphischer) Hilfsmittel zur Verewigung gegeben liegt. Die Mimik entspringt unmittelbar aus der Wirklichkeit des Lebens und versinkt auch wieder in dem fortreißenden Strom dieser überlegenen Mächte; aber es kann der historischen Forschung immer noch gelingen, gleichsam aus den verstreuten Gliedern des Osiris den zerrissenen Gott »Der Kontakt einer Seele mit einer anderen Seele ist tatsächlich im Leben einer jeden von ihnen ein ganz besonderes Ereignis, das die unvorhergesehensten Seelenzustände hervorruft, die zu erklären die physiologische Psychologie völlig außerstande ist.« – »Diese Wechselbeziehung zweier Personen ist der einzige und notwendige Grundstock des sozialen Lebens.« G[abriel] Tarde, Die sozialen Gesetze (deutsch Leipzig 1908) [S. 15 und S. 20]. 24

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wieder erstehen zu lassen, vorausgesetzt nur das Eine, daß die Kunstwissenschaft vermag, das Lebensprinzip als solches zu erkennen, wo immer es seine Zeugungskraft hat walten lassen und noch heute bewährt. Es gilt eben die nämliche Frage zu beantworten, die sonst für jede Einzelkunst gestellt wird: Welches ist die Wer tidee, der sie ihr schöpferisches Vermögen dankt, – welches ist der besondere Wer t, den sie darstellen und vermitteln will? Damit ergibt sich auch hier die Aufgabe, einen »Idealtypus« der Mimik als Kunst aufzustellen, der als ihr Grundbegriff nicht nur für eine bestimmte historische Lebenszeit, sondern ein für allemal Geltung hat und in seinen Hauptmerkmalen wenigstens für alle Leistungen normative Kraft behält, wie mannigfaltig auch die Abwandlungen sein mögen, durch die wir sie im Laufe ihrer Schicksale zu begleiten haben. Jeder Wert, den wir anerkennen sollen in seinem ursprünglichen und unweigerlichen Recht, muß nicht nur anschaulich, sondern sinnlich wahrnehmbar gegeben und damit auch dem menschlichen Gefühl zugänglich sein. Aber wo er, wie hier, im wirklichen Leben selber ausgegossen liegt, bedarf es daneben eines einheitlichen Mittels, ihn aus der Wirklichkeit des Alltags herauszureißen und vor der Verwechslung mit ihr zu bewahren. Wie in der Plastik zunächst der einfache Körperwert durch die Wahl des starren, kalten Materials zu seiner Verewigung von dem in Natur gegebenen unterschieden wird, und jeder törichte Versuch der Sinnestäuschung durch Annäherung an Farbe und Stoff der lebendigen Menschenkörper sich mit Verstimmung und Widerwillen bestraft (Wachsfigurenkabinett), so werden hier die Körperbewegungen und das Gebaren als Wert, den die Mimik ergreift, d. h. als Ausdr uckswer te herausgehoben, aber so lange von jeder Verquickung mit anderen Ausdrucksmitteln, wie dem Ton der Stimme, dem Laut der Sprache ferngehalten, durch strengen Verzicht gesondert. Nur die gänzlich stumme, auch nicht von Musik begleitete Mimik ist das freie Spiel, das sich zur Kunst entwickeln mag, die wir in ihrer Reinheit herausschälen können und als selbständig anerkennen müssen. Schmal und eng nur sind ihre Grenzen bemessen, in denen der lebendige Mensch selber der Träger der Kunstform bleibt. Über sie hinaus geraten wir sogleich zu Verbindungen zweier Künste, also zu Doppelkünsten oder Zwischenreichen des Übergangs: auf der einen Seite wird aus dem Bündnis mit der Musik unfehlbar die rhythmisierte Körperbewegung und Ausdrucksbewegung, also der Tanz, auf der andern Seite erwächst aus dem Bündnis mit der Sprache, dem Element der Poesie, die Schauspielkunst, die Helferin des Dichters zur dramatischen Aufführung; oder es entsteht gar aus dem Doppelbündnis, mit Musik und Spreche zugleich im Gesänge, eine noch verwickeltere Mischgattung, deren verschiedenen künstlerischen Prinzipien die Theorie nur gerecht zu werden vermag, indem sie die Verquickung auflöst und die gesonderten sauber auseinanderhält, um erst einmal die Synthese der Einzelpaare für sich zu verfolgen. Die Mischkunst des Schauspielers hat von der reinen Mimik sogar den Namen davongetragen; denn diese selbst ist ein » Schauspiel« im strengen Sinne, nur zur »Schau« und nicht zum Gehör zugleich wie jene, und ist ein echtes » Spiel«, das nirgends zum Ernst werden will und mit der Wirklichkeit verwechselt werden darf,

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so ernst und vollwertig sonst auch der Inhalt sei, den es, zur Kunst entwickelt, darzustellen und zu vermitteln unternimmt. Ausschaltung der Sprache, Ausschaltung der Töne, ja lange sogar des Mienenspiels im Antlitz selber, das die Maske bedeckt, ist ihre Spielregel, und damit hebt sie so beträchtliche Bestandteile des wirklichen Lebens auf, daß ihr stummes Spiel sich frei vom Boden des Alltags in das Land der Phantasie hinausschwingt, nur um die Werte der Innenwelt hervorzukehren und der sinnlichen Anschauung darzubieten, die reine Ausdruckswelt für sich zum Erlebnis der Mitmenschen zu steigern. Ihre Stummheit gerade wird die Zaubermacht, die ihr Flügel leiht 25. Überall wo sich ein menschliches Individuum mit dem andern zusammenfindet, da regt sich das Bedürfnis des Austausches von innen her, wie bei allen Lebewesen im Umgang das natürliche Mittel der Verständigung. Noch ehe die Stimme sich meldet oder gar die Sprache zu Hilfe kommt, erfaßt das Auge schon allein den Sinn der Körperbewegung, der Haltung wie des Gebarens. Darauf baut die Mimik ausschließlich als Gebärdenkunst. Und so beginnt sie zu walten, sowie wir von dem Einzelwesen in seiner Alleinigkeit zur Zweizahl oder Mehrzahl weitergehen, sowie wir also dem ersten Grundbegriff des isolierten Individuums den nächsten seiner Gemeinschaft hinzufügen. Sie ist genau so sparsam mit Figuren wie die statuarische Gruppe oder das reine Relief; denn sie weiß, daß jede kleinste Ablenkung der Aufmerksamkeit und vollends wiederholte Zersplitterung des Interesses die Einheit ihres Zusammenhanges gefährdet, der sich ohnehin im Hin- und Herpendeln von einem Individuum zum andern vollziehen muß. Es ist ja gerade die zeitliche Folge der Ausdrucksbewegungen, durch die sich die Mimik von der Körperbildnerin Plastik unterscheidet, und die Einstellung des lebendigen Menschen selber in seiner eigenen Beweglichkeit und Wandelbarkeit, die das Verfahren der stummen Gebärdenkunst bestimmt. Das Zusammenspiel des ganzen Körpers mit allen seinen zu ausgreifender Bewegung geschickten Gliedern verlangt schon den Überblick über diese Körpereinheit in jedem Moment des vorwärts drängenden und immer schneller vorübereilenden Wechsels. Daraus ergibt sich schon bei der Wechselwirkung von zweien solcher Einheiten ein fortgesetztes Überspringen von einem zum andern. Nur gelegentlich stellt sich dazwischen die Zusammenfassung beider ein, um nämlich im entscheidenden Augenblick entweder die Übereinstimmung oder den Widerspruch zu vermerken. Eine dr itte Per son kann sich nur entweder der einen oder der andern als Partner zugesellen, – sei es gleichstellen, sei es unterordnen, – oder aber sich beiden gegenüber als Dominante aufwerfen; denn die Sehgemeinschaft im engen Umkreis der Gestalten, auf dem Podium inmitten der Zuschauer, würde sonst gesprengt, und die Kontinuität des Vehikels aller Einheit des mimischen Kunstwerks durch Es ist mir fast unbegreiflich, wie man mich immer wieder dahin hat mißverstehen können, ich meine mit der Mimik nichts andres als die Schauspielkunst. Dieser Vorwurf der Flüchtigkeit im Aburteilen trifft auch einen ehemaligen Hörer, Ernst Meumann, Einführung in die Ästhetik der Gegenwart [Leipzig 1908], S. 129. 25

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eine Leere im rhythmischen Verlauf des Geschehens unterbrochen. Jeder Stillstand in der Tätigkeit und dem Gebaren der Mitspieler räumt schon der Körperschau, auf die es der Plastik ankommt, das Übergewicht ein vor der Bewegungsschau, auf die der Mimus abzielt, und wirkt wie eine Lücke im Fortgang der eigenen Darstellung seiner flüchtigen Ausdruckswerte. Der transitorische Charakter dieser Körperbewegungen und die Schnelligkeit ihrer Abfolge – auch wo das Mienenspiel durch die Maske noch ausgeschaltet ist – bringen einen andern wesentlichen Zug der reinen Mimik als selbständiger Kunst mit sich, und zwar gerade den grundlegenden, für ihr eigenstes Gestaltungs prinzip entscheidenden: das ist das Typische ihrer Dar stellungsmittel. Nicht mehr das Individuum regiert hier, sondern der Typus; deshalb reden wir bei diesem Schauspiel wie selbstverständlich von Per sonen oder gar von Figuren. Nicht die Vollständigkeit der besonderen Qualitäten eines Einzelwesens kann hier zur Geltung kommen, sondern nur was zu den durchgehenden Eigenschaften der gemeinsamen Menschennatur gehört, oder, um mit dem scharfen Denker des Mittelalters Duns Scotus zu reden, nicht die »Haecceitas«, sondern die »Quidditas« kommt in Betracht. Nur die einfachsten, unmittelbar verständlichen Variationen und die augenfälligsten Gegensätze der Altersstufen, der Geschlechter, der Rassen oder der Temperamente werden aufgeboten, nur die geläufigen Unterschiede, die schon für den Fernerstehenden zutage treten, nicht die intimen Nuancen und die verwickelten Motive, die nur der näherstehende Beobachter etwa, und gar erst im längeren Verkehr entziffern mag. – Schon weil die Sprache fehlt, ja schon die Klangfarbe der Stimme nicht mitwirkt, versagt auch die Hilfe aller innern Beweggründe, die nur sie vermitteln können, versagt ferner der ganze motivierte Zusammenhang, den uns der Dichter offenbart. Hier, im Schauspiel ohne Wor te, waltet allein die Sichtbarkeit von außen, keine Belauschung im stillen Kämmerlein, kein Aufschluß aus verborgenen Gedankenreihen oder drinnen wogenden, mit Vorstellungen verknüpften Gefühlen. Das Typische bleibt Voraussetzung alles Ver stehens. Und da auf diesen Verständigungsmitteln alle Kultur beruht, die über die Menschennatur selber hinauskommen will, so ergibt sich hier wieder ein fruchtbarer Gesichtspunkt für den Geschichtsphilosophen: ohne Typus keine Tradition, weil keine Verständigung, kein erfaßbarer Ausdruck unsrer Körperbewegungen, der nur in Auseinandersetzung mit der gemeinsamen Umwelt entspringt. Nur der typische Grundstock jeder Gebärde, jeder Haltung, jedes sinnlichen »Zeichens« für seelische Regungen gibt den Schlüssel zu deren Verständnis. Jede allzu besondere Note eines Individuums erschwert die blitzartig schnelle Übertragung auf das andre. Verstehen wir doch in einem fremden Lande geraume Zeit überhaupt nichts als das Typische. Deshalb ist auch die stumme Pantomime darauf angewiesen, ihre Darstellungsmittel zu einem System typischer Ausdr uckswer te durchzubilden und erfinderisch zu vervollständigen. Diese »Symbolik« erlangt konventionelle Geltung im weiteren Gebrauch, so daß wir sie dann mit Recht, aber keineswegs in ihren Anfängen schon, eine » Gebärdensprache« nennen dürfen. Nur typische Motive

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und damit auch nur typische Personen sind hier als Träger der Werte verwendbar; sie sind allein das Mögliche und zugleich das Notwendige. Mit ihnen vermag der lebhaftere und von Hause aus daran gewöhnte Südländer ganze Dialoge zu führen und zusammenhängende Auftritte aneinanderzureihen, so daß es auch der stummen Mimik allein gelingt, die Phantasie der Zuschauer gefangenzunehmen und sie in unausgesetzter Spannung zu halten. Da rühren wir an die Grenzen der Poesie. Mimische Werte sind typische Werte, die sich aus der Gemeinschaft der Menschen als sozialer Wesen ergeben, und die kulturphilosophischen Grundbegriffe des Völkerpsychologen oder des Soziologen können ohne weiteres aufgeboten werden, dies Gebiet des gesellschaftlichen Lebens auch für die Kunstwissenschaft zu klären, die sich seltsamerweise noch gar nicht überzeugen will, daß sie bei der Inhaltsangabe jedes Reliefs, jeder plastischen Gruppe, ja auch nur des Motivs einer Statue gar nicht auszukommen vermag ohne den Beitrag der Mimik, den sie ganz ruhig dem Bildner oder dem Maler auf die Rechnung setzt, statt nach der künstlerischen Herkunft dieser Mittel weiter zu fragen. Die Unentbehrlichkeit des durchaus selbständigen und höchst eigenartigen Prinzips der Ausdrucksgestaltung sollte doch mittlerweile auch ihr einleuchten; im Kreise der übrigen Künste zumal. Schon beim unmittelbaren Verfolg der Tätigkeit unsrer Tastorgane und natürlichen Werkzeuge alles Hervorbringens aus bildsamem Stoff habe ich immer auf den Anteil der Ausdrucksbewegung mitten in der Zweckbewegung hingewiesen. Und angesichts der monumentalen Plastik des christlichen Mittelalters muß doch unweigerlich betont werden, daß es nicht sowohl die reinen plastischen Werte mehr sind, die sie darstellt, sondern die mimischen Werte, die sie bevorzugt, d. h. nicht die vollrunde Körperlichkeit, auf der die antike Skulptur fast ausschließlich beruht, nicht die organische Form gleichmäßig ausgebildeter Glieder, sondern die Körperbewegungen und das Gebaren, also die Ausdruckswerte, deren Träger nicht selten der Annäherung an die stereometrische Form tektonischer Bauglieder unterliegen. Die Chorschranken in der Kirche, die schrägen Wandungen der Portale und die Geschosse der Fassade draußen geben eine Vorführung typischer Beziehungen zwischen biblischen Personen, sei es zwischen einem Paare, sei es zwischen ganzen Reihen, wie Maria und Gabriel in der Verkündigung, der beiden Frauen in der Heimsuchung, oder zweier Propheten und Apostel, ganzer Arkadenfolgen mit Königen oder Vertretern des Alten und Neuen Testaments. Selbst die isolierte Einzelstatue, in ihrem Tabernakel auf der Spitze eines Strebepfeilers oder Fenstergiebels, setzt sich in mimischen Zusammenhang mit dem übrigen System der Kirchenlehre, das die Gesamtheit der Bildwerke verkünden soll. So geben diese Skulpturen nicht allein Zeugnis von der chr istlichen Ver innerlichung in dem Wer tgefühl für die Individualität, sondern ordnen das Einzelwesen auch ein als Glied eines größeren Zusammenhangs, also einer » Wer ttotalität«, die nur in der Gemeinschaft zur Erscheinung kommen kann. Sie bleiben dagegen anderseits innerhalb der Schranken ihrer typischen Ausdruckswerte, die schon deshalb aufrecht erhalten werden, weil die Gleichberechtigung aller Seelen vor dem Angesicht des Höchsten, die Brüderlichkeit aller Kinder des ewigen Vaters, die immer wieder-

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kehrende Einfügung des Einzelnen an seine Stelle im Gottesreich auf Erden und im Himmel, als allgemeine Voraussetzung jeder Wer tindividualität besteht und mit der alleinigen Wer thaltung der Innenwelt gegeben bleibt. Mit der Zersetzung des antiken Selbstgefühls und der Zurückziehung auf das Selbstbewußtsein der Person ist auch der naive »Individualismus« in die Brüche gegangen. Schon der Rationalismus des Römerreichs, der die Selbständigkeit des isolierten Individuums gegenüber allen sozialen wie historischen Zusammenhängen behauptet, läßt doch vielfach gegenüber dem Wertallgemeinen eine das Individuum fast erdrückende Unterordnung zu. Dagegen vertritt das Christentum einen Individualismus, der in dem Wert der Einzelseele die selbständige Bedeutung der Wertindividualität gegenüber allen bloß abstrakten Werten anerkennt, in der Idee der brüderlichen Gemeinschaft jedoch die Eingliederung in eine umfassende Werttotalität fordert (vgl. Lask a. a. O. S. 16 f.). Die Grundbegriffe der Sozialwissenschaften und der Kulturphilosophie, die durch die Mimik schon in die Kunstwissenschaft hineinkommen, beginnen also sofort nach dem Individuum mit dessen Verdoppelung und leiten vom Paar durch alle noch einheitlich übersehbare Mehrzahl weiter bis zu einer Vielheit, wo der mimische Zusammenhang versagt, wo also nur durch konventionelle Symbolik noch zum Beziehungsreichtum eines umfassenden Systems von Gliedern fortgeschritten werden kann, d. h. zu einer Einheit, die sich nur geistig als Ergebnis einer Vorstellungsarbeit, einer Denkleistung noch vollziehen läßt. Da liegt abermals eine Grenze der Poesie. Bleiben wir jedoch einen Augenblick länger vor dem Gesamtkunstwerk einer gotischen Kathedrale stehen, so erhellt noch eine andere Einsicht, die der Kunstwissenschaft nicht entgehen sollte. Mit der Austeilung der Standbilder in die architektonischen Gliederungen verbindet sich schon das Prinzip der entweder aneinander und übereinander reihenden oder aber der g r uppierenden Aufstellung vor einem tatsächlich gegebenen oder räumlich geforderten Hinterg r und, so daß sich die Überschau mehr oder weniger der Relief auff assung nähert. Und wirkliche Reliefkunst kommt hinzu, mit erzählendem oder dogmatischem Inhalt, um die Funktion der Einzelgestalten innerhalb der Gemeinschaft zu ergänzen, oder die heiligen Personen im lebendigen Austausch miteinander, im irdischen Verkehr mit ihren Schützlingen, im leidvollen Kampf mit ihren Widersachern zu zeigen. Da rühren wir an allen Ecken und Enden an die Grenzen der mimischen Anschauungsform und betreten das unverkennbare Reich der maler ischen Auffassung und ihrer Darstellungsformen, sei es im geschlossenen Bildrahmen, sei es in fortlaufenden Wandgemälden, oder endlich in der Ausmalung eines ganzen Innenraumes, der sie schon durch seine architektonische Form zu einem gegliederten System zusammenschließt. Aber auch hier könnten wir den Übergang von Mimik in die Malerei schon unmittelbar in dem späteren Entwicklungsstadium finden, wo sie das freistehende Podium inmitten der Zuschauermenge mit der breitgestreckten, aber noch untiefen Bühne vor einer Schmalwand, des Platzes unter freiem Himmel oder des Innenraums unter Dach, vertauscht. Auch

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da ist der Übertritt aus der dreidimensionalen Anschauung der Freiplastik in die Reliefansicht von der Vorderseite vollzogen. Malerei. Was die Mimik mit ihrem mannigfaltigen Inhalt vorbereitet und in immer wechselnden Beziehungen ausgebeutet hat, übernimmt, wie die Plastik in Gruppe und Relief, so weiter die Malerei, als deren leitende Wertidee wir die Darstellung des sichtbaren Zusammenhangs zwischen Personen und ihrem Schauplatz oder zwischen den Dingen und der Welt anerkannt haben. Sie hält vor allem, gleich der Körperbildnerin noch in Statuengruppe oder Reliefbild, alle Beziehungen fest, die sich im Sichtbaren, durch die Vermittlung des Auges allein verstehen lassen. Und das Bild, die »höhere Einheit zwischen Körpern und Raum«, ist die Errungenschaft, die sie als selbständige Kunst und als ihren eigensten Wert zu bieten hat 26. Gilt es nun aber, nicht mehr bei den Gesichtspunkten der Kunstwissenschaft oder gar auf dem Standpunkt formaler Stilbetrachtung allein stehen zu bleiben, sondern einmal absichtlich den Blick zu kulturphilosophischer Überschau zu erweitern, so stellt sich der Malerei gegenüber eine überraschende Gemeinsamkeit der Grundbegriffe heraus, die uns den Ertrag der älteren idealistischen Ästhetik wieder höher einschätzen lehrt, als dies sonst neuerdings der Fall gewesen. Schon die allgemeine Prinzipienlehre der bildenden Kunst kommt heute sehr bald an einen Punkt, wo die Abzweigung der Phänomenologie der Einzelkünste gefordert oder gar der Versuch, die Fühlung länger aufrecht zu erhalten, beanstandet wird. Auf der anderen Seite jedoch führen die Bestrebungen, »kunstgeschichtliche Grundbegriffe« von allgemeinerer Verwendbarkeit aus ganz bestimmten und scharf begrenzten Einzelperioden der Stilentwicklung allein abzuleiten, zu dem empfindlichen Mißverhältnis, daß da »künstlerische Kategorien« aufgestellt und verwertet werden ohne Rücksicht auf die Darstellungskreise und die besonderen Ansprüche, die durch ihre Voraussetzungen innerhalb der jedesmaligen Kultur auch an die Darstellungsform und den Wirkungscharakter der Kunstwerke selber schon gestellt sind. Gelegentlich eingeschaltete A Ergänzungskapitel unter der Aufschrift »Betrachtung nach Stoffen« bezeugen dann nur die Unterlassungssünde, die schon bei der Gesamtanlage begangen worden, das ist die Vernachlässigung der kulturgeschichtlichen Gesichtspunkte oder des Darstellungsinhalts überhaupt. Wir alle sind ja wohl einig in der Anerkennung des Fortschritts, der für die Kunstwissenschaft dadurch erreicht worden ist, daß wir »die typischen Grundformen des durch 26 Der Verfolg der Malerei als Flächenkunst, d. h. ihre dekorative Seite mag hier mit voller Absicht außer Betracht gelassen werden.

A

eingeschaltete] eingeschaltetete

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eine bestimmte Struktur des ästhetischen Wert-Erlebens geleiteten künstlerischdarstellerischen Eindringens in die Anschauungswelt zu scheiden beginnen« 27 und für sich zu ihrem Rechte kommen lassen; aber es bestraft sich doch, wenn dabei »der jeweilig durch Ethos und Weltanschauung der Herrschenden bestimmten, durch die Kunst zu verherrlichenden Gegenstände« gar nicht mehr geachtet wird. Gerade wenn wir uns veranlaßt fühlen, jene »typischen Formen auch wieder von den bewußt angewandten ästhetischen und technischen Gesetzen zu sondern«, sollten wir nicht vergessen, daß auch sie mit der unbewußten Überlieferung von Generation zu Generation zusammenhängen und von langsam nur verschiebbaren Gewohnheiten der Kulturzustände bedingt sind. Es geht nicht an, die rein künstlerischen, z. B. auf Hochrenaissance und Barock angewandten Handhaben der Stilkritik ohne Unterschied walten zu lassen, ob etwa die Bildwerke, die Gemälde ursprünglich der kirchlichen Kunst angehören oder etwa der freien Wahl eines rein weltlichen Bildungskreises, dem ästhetischen Geschmack allein ihre Entstehung danken. Es ist unter Umständen geradezu widersinnig, den Maßstab der feierlichen Architektonik und der klargehaltenen Formen strenge, der für das Altarbild an einer Kultusstätte der selbstverständlich gegebene war, nun beliebig auf ein Schmuckstück fürstlicher Ge mächer mit irgend einer Darstellung heidnischer Mythologie oder verfänglicher Liebesabenteuer zu übertragen, oder gar umgekehrt die hier erreichte Freiheit des malerischen Vortrags, der koloristischen Reize, des verschwebenden Helldunkels, wie etwa in Correggios Danae oder Io, nun ohne weiteres mit Aufbau und Formensprache eines gleichzeitigen Kirchengemäldes zu vergleichen. Das könnte wohlfeiles Antithesenspiel, vielleicht blendende Kontrastwirkungen sinnlich gesättigter Sprache, aber kaum noch wissenschaftlich ernste Urteile und brauchbar bleibende Einsichten mehr ergeben. Je bestimmter wir die Schöpfungen eines gediegenen Malers als Kulturgüter anerkennen, desto notwendiger müssen wir sie auch einordnen in die besonderen Bedingungen, unter denen sie erwachsen sind und ihre Stelle behaupten. Die Gesichtspunkte der kulturphilosophisch gerichteten Ästhetik des 19. Jahrhunderts dürfen nicht einfach ausgeschaltet werden, auch da nicht, wo wir uns mit vollem Bewußtsein erst der Errungenschaften unsrer rein künstlerischen Betrachtungsweise zu vergewissern suchen. Die formalistische Einseitigkeit ausschließlicher Stilvergleichung gerät hier auf einen Holzweg, auf dem sie doch selber bald genug merken muß, daß er sogar Meister ad absurdum führt, oder blindlings nachtretende Jünger sicherlich in den Sumpf lockt. Unsere glücklich »überwundenen« Altvordern aus der Hegelschen Schule haben auch die Einzelkünste stets unter dem Gesichtswinkel der allgemein menschlichen Angelegenheiten und der geschichtlichen Überlieferung geschaut, zu dessen Spannweite sie selbst als Erben einer glänzenden Blütezeit unserer Philosophie und Literatur oder als Angehörige des Aufschwungs historischer Studien gelangt waren 28. Wir modernen Max Scheler a. a. O. [= »Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik« (siehe Fn. 20)] Bd. 2, S. 172. 28 Es sei nur erlaubt, an eine Parallele zu dem oben entwickelten Paar Individuum und Individualismus zu erinnern; ihm entspräche hier, – angesichts des Weltgefühls in der Malerei 27

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Spezialisten brauchen uns nur zu ihrem, uns abgewöhnten Standpunkt zurückzufinden, um der Unzulänglichkeit unsrer beträchtlich herabgestiegenen Werte noch rechtzeitig inne zu werden und unsrer bereits empfindlichen Kurzsichtigkeit abzuhelfen. Der vielgeschmähte und doch immer heimlich zu Rat gezogene Fr.Th. Vischer hat den »wahren Einteilungsgrund« des Gesamtgebiets der Malerei wie der Plastik eben als »darstellender Künste« so gefaßt: »Das durchgreifende Prinzip liegt hier im Stoffe, also . . . in der ursprünglichen Stoffwelt oder vielmehr in den Unterschieden der Phantasie, wie solche auf das eine oder andre dieser Stoffgebiete gewiesen und bezogen ist. Es ist der trennende, ausschließende Cha rakter des Räumlichen, das die Grundform aller bildenden Kunst ist, welcher diese Einteilung begründet: da kann nicht die Auffassung, sondern muß die Erfassung, des einen oder andern Stoffes, das Entscheidende für den Unterschied der Zweige sein« (§ 696 A). In der Abhängigkeit von der klassischen Archäologie, über die wir uns damals nicht wundern dürfen, stellt er das Mythenbild voran; denn es vertrete die Zweige, ehe sie entwickelt sind, oder enthalte doch die Keime von allen. Seine bedeutendste Stütze habe das Fortleben dieser Stoffwelt in einem bleibenden Bedürfnisse der auf das allgemein Menschliche gerichteten Phantasie. Indes: »der Hauptkreis des chr istlichen Glaubens, der noch dogmatisch gehalten wird und Gegenstand von Kontroversen ist, welche seiner Darstellung die unbefangene Lebenswärme absperren, muß ausgeschieden werden!« B Für die religiöse Kunst, oder gar die kirchliche des Mittelalters, werden wir also besser tun, uns bei dem tiefgründigen H.G. Hotho zu erkundigen, der seiner unvollendet gebliebenen »Geschichte der christlichen Malerei« schon den programmatischen Satz voranstellt: »Probleme, durch deren Reichtum und Tiefe der ganze Umfang der Phantasie und jede Steigerung der Form und Farbe in Frage kommen, führt ihr zuerst die chr istliche Anschauung zu und hebt sie durch glückliche Lösung auf einen Standpunkt, von welchem aus sie den Stil ihrer Dar stellung nicht mehr von ander n Künsten entlehnt, sondern umgekehrt in erhöhter Geltung das eigentlich Maler ische, das ihr Bereich ist, epochenweise auf Architektur und Skulptur überträgt« 29. Dann folgt bei Vischer zunächst die Landschaftsmalerei auf Grund »einer gegebenen Einheit von Erscheinungen der unorganischen und vegetabilischen Natur« und geht durch Vermittlung des »Tierstücks«, das sich mit dem einen und andern seiner oder der Anerkennung des schon in der Mimik vorbereiteten Zusammenhangs, nun das Paar Gemeinschaft und Kollektivismus oder gar Univer salismus. 29 [Heinrich Gustav Hotho: Geschichte der christlichen Malerei in ihrem Entwicklungsgang. Lieferung 1–3. Stuttgart 1867–1872, S. 1.] Vgl. ferner dessen Vorlesungen über »Die Malerschule Huberts van Eyck nebst deutschen Vorgängern und Zeitgenossen«, Berlin 1855 und 1858, und »Vorstudien für Leben und Kunst«, Stuttgart und Tübingen (Cotta) 1835, die von Mozarts Don Juan ausgehen. Friedrich Theodor Vischer: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart 1854, S. 645. B Ebd., S. 643 (§ 695). A

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Nachbargebiete in verschiedener Ausdehnung verbindet, zum Sittenbild über, »das den Menschen unter dem Standpunkt auffaßt, welcher der Landschaftsmalerei zugrunde liegt«, das heißt, in dem »der Mensch doch als Naturwesen im engern und weitern Sinne des Worts erscheint, – gehalten am Bande des Allgemeinen in der Bedeutung des Bedürfnisses, der Arbeit, des natürlichen und geselligen Zustands, der Kulturfor men, kurz der Gewohnheit, der Sitte überhaupt«.A Das letzte Stoffgebiet ist das der Geschichte, zu der das Bildnis überleitet. Nun erfaßt die Malerei das allgemein Menschliche in der Konkretion der entscheidenden, mit Namen, Ort und Zeit in das Gedächtnis der Nachwelt eingeschriebenen Handlung. Den weiteren Einteilungsgrund bildet auch hier »der Stoff: zunächst der Unterschied der Zeiten, Völker, der geschichtlichen Ideen«.B Der Versuch, den Unterschied zwischen Genrebild und Historie kurzweg durch das eine Wort Handlung hier und Zustand dort zu bestimmen, läßt sich allerdings wohl nicht halten, sondern die Lösung dieser Aufgabe wird nur in dem verschiedenen Entwicklungsgrade des Darstellungsgegenstands und dem damit zusammenhängenden Gehalt geistiger Kultur zu finden sein. Dies sollte wohl auch maßgebend sein bei der Beurteilung und Einordnung der Landschaft als eigenes Darstellungsgebiet der Malerei. Wo sie entwickelt auftritt und die Figuren entweder zur nebensächlichen Staffage herabdrückt oder ganz darauf verzichtet, um den Ausschnitt aus der Weite der Natur nur ihrer selbst willen zu geben, da gilt von ihr: »die Seele der Landschaftsmalerei ist das Weltgefühl«. Es ist der Zusammenhang mit dem All, das uns Menschen umfaßt, und in ihm verschwindet die Bedeutung des Einzelmenschen. Der Gegenpol unsres ersten Grundbegriffs, des » Individuums«, ist erreicht: wir könnten ihn lateinisch » Univer sum« nennen. Zwischen beiden vollzieht sich die ganze Auseinandersetzung, als die wir die Kunst betrachten. Mit deutlicher Neigung zum Pantheismus bestimmt auch Vischer den Charakter solcher Landschaftsmalerei als »Stimmungsbild« oder gar als »musikalisch« 30. Seine Einteilung ist indes mit jener summarischen Auseinanderlegung nach Stoffgebieten nicht erschöpft. Er sieht sich veranlaßt, noch ein zweites Prinzip zu Hilfe zu nehmen, das dann jedoch mit dem gegenständlichen mehr oder minder eng verquickt wird. Das ist nicht allein, für Vischers vorwiegend literarische Bildung bezeichnenderweise, wie bei so manchem Ästhetiker noch heute, aus dem Bereich der Poesie herübergenommen, sondern es liegt auch, mehr als es ihm aufgegangen, im Wesen der Malerei selbst, nämlich als Nachbarkunst der Dichtung begründet. Nur muß man sich hüten, das mindestens ebenso mannigfaltige, vielleicht sogar noch reicher differenzierte Gebiet der sichtbaren Darstellung schon von Durchaus einseitig und nur der Auffassungsweise des 19. Jahrhunderts entsprechend ist es z. B., wenn Vischer in der Landschaft ohne weiteres nur das Gebiet des Lyrischen, des Stimmungsbildes sieht. Auch hier zeigt sich die Metamorphose der geistigen Kultur überhaupt, die den Wandel der ästhetischen mitbedingt. 30

A B

Ebd., S. 661 (§ 702). Ebd., S. 679 (§ 708).

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vornherein mit den drei geläufigen Abteilungen der Poesie bewältigen zu wollen. Und auch hier gilt wieder die Warnung vor unmittelbarer Verwendung derselben Grundbegriffe, deren Bedeutung bereits einem Wandel unter zogen werden muß, bevor sie noch übertragbar werden können. Denn das Werk der Malerei ist stumm und steht, an einen Augenblick gebunden, tatsächlich still, nur im Augenschein einer-Bewegung, und sei dieser noch so suggestiv für die Phantasie des Betrachters. Letztere ist es, die weiterdichtet über das Gegebene hinaus, und das sichtbare Bild bietet zunächst nur mimische Werte, in ihrer transitorischen Erscheinung aufgehascht und festgehalten. Dennoch geht die Malerei, schon weil sie die Umgebung der Vorgangseinheit zwischen Personen mit darstellt, selbst das Einzelwesen in einer Situation, beeinflußt von seinem Milieu wiedergibt, über den reinen mimischen Zusammenhang hinaus und in den poetischen Zusammenhang über, dessen spezifische Eigentümlichkeit, auch im Unterschied vom maler ischen Zusammenhang selbst, genauer zu bestimmen wäre. Die unverkennbaren, auch unter dem Vorbehalt streng wissenschaftlicher Terminologie durchführbaren Analogien lassen sich nur befriedigend erklären, wenn man sie als Entsprechungen der inneren Organisation der Kunstgebiete und der schöpferischen Phantasietätigkeit auffaßt, die sich nicht dem logischen Schlüssel unsres Verstandes erst zu öffnen braucht, sondern viel eher schon in der physiologischen Unterlage der menschlichen Psyche begründet liegt 31. Zunächst kommt es an dieser Stelle darauf an, die ersichtliche Korresponsion zwischen Malerei und Dichtkunst als Beleg für die Tatsache sicherzustellen, daß beide einer höheren Entwicklungsstufe des Geistes angehören. Deshalb ist es wichtig, daß die beobachteten Übereinstimmungen erprobte Denker schon wiederholt angesichts der Malerei dazu geführt haben, eine Durchdringung dieser Schwesterkunst mit den Prinzipien der Poesie anzunehmen 32. So würde sich die Sache nach der Auslegung der romantischen Ästhetik darstellen, die der Dichtung, als der höchsten Kunst, auch die Rolle einer alle übrigen mitbestimmenden Leiterin beizumessen, oder sie, wenn nicht gar als Ursprung, so doch als Seele der ganzen mannigfaltigen Ausgestaltung sonst auszugeben trachtet. Lassen wir uns durch die Theorie nicht zu metaphysischen Voraussetzungen verlocken, so bleibt im Anschluß an Vischers eigene Begründung erst einmal Folgendes hervorzuheben. Geht Vischer davon aus: »das Räumliche als Grundform aller bildenden Künste müsse durch seinen trennenden, ausschließenden Charakter auch die Einteilung ihrer Sondergebiete bestimmen«, so gelangen wir doch eben mit der Poesie auch über dies Räumliche hinweg, kommen schon mit ihrer Auffassungs- und Darstellungsform ins Zeitliche hinüber und unter den Bann des immer fließenden Verlaufs. Alles räumlich »Simultane« löst sich in eine zeitliche »Sukzession« auf, Vgl. hierzu »Energetische Grundlagen der Kulturwissenschaft« von Wilhelm Ostwald, Leipzig 1909 (Philosophisch-soziologische Bücherei Bd. XVI) und Alfred Foroillée [recte: Fouillée], »Evolutionisme des idées-forces« (deutsch von [Rudolf] Eisler [Der Evolutionismus der Kraft-Ideen. Leipzig] 1908). 32 Vgl. dazu auch meine Erläuterungen [und Kommentar] zu Lessings Laokoon, Leipzig 1907. 31

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alles körperlich Koexistente verschwimmt im Strom des Geschehens, des Werdens und Vergehens. Die sichtbaren Erscheinungen entschweben vor dem sie alle durchdringenden Weben unserer Psyche, dessen erste Regungen schon sie mit Gefühl und Willen verquicken; sie werden in der Phantasie verwandelt, werden zu Vorstellungen verflüchtigt und auf Begriffe abgezogen. Was im farbigen Augenschein des Bildes vom inneren Leben der Menschen und Dinge vermittelt wird, was sich im sichtbaren Zusammenhang der Welt als Offenbarung einer Innenwelt ahnen läßt, ist aus einer anderen als der raumkörperlichen Natur der Wesen entsprungen und durchwaltet sie selber mit allem, was darinnen wohnen mag. Da stoßen wir an Rätsel, denen wir nicht beikommen werden, ohne vorher auch die Eigenart der Dichtung selber zu ergründen. Bleiben wir demgemäß bei irgend einem Beispiel der letztgenannten Gebiete der Malerei, einem Geschichts- oder einem Sittenbild. Da stehen wieder Personen vor uns. Durch die Vermittlung der mimischen Relationen werden wir sogleich von dem sichtbaren Zusammenhang auf den unsichtbaren weitergeleitet, von der körperlichen Außenseite, mit ihren augenfälligen Motiven, auf die seelische Gemeinschaft, mit ihren inneren Beweggründen. Der Weg geht also unmittelbar von dem gemalten Abbild der Mimik, als stummer Ausdruckskunst für sich, zu dem Inhalt der Poesie, der diesen Vorgangseinheiten der Genreszenen, der biblischen oder legendarischen Erzählung, oder diesen dramatischen Auftritten ohne Wor te, d. h. der schweigsamen Malerei, doch für die entgegenkommende Phantasie des Betrachters innewohnt, als sprächen sie nicht nur das Subjekt an, sondern jenen Inhalt objektiv aus. Poesie.

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Damit sind wir in der Lage, auch den spezifischen Wert zu bestimmen, den die Dichtkunst ihrerseits verfolgt, vermittelt und erschafft: es ist der motivier te Zusammenhang, den wir Menschenkinder als Täter unsres Willens, als Ursacher unsrer Handlungen überall erwarten, suchen und anzetteln. Die innere Motivierung alles Geschehens und Vollbringens ist der unersetzliche und unentbehrliche Wert, den der Dichter erfaßt und darstellt, aus seiner Kenntnis der Menschennatur und ihrer Wertgefühle heraus offenbart, und den er selbst da, wo er nicht greifbar zutage tritt, wo er vielleicht garnicht vorhanden oder doch in keiner erkennbaren Spur anzutreffen ist, aus sich selber erfinden, frei schaffend ergänzen muß, wenn er ein »Dichter«, ein »Seher« bleiben will in den Augen seiner Gemeinde. Sonst würde er für sie zum nüchternen Alltagsmenschen herabsinken oder gar sich selbst zum gewissenhaften Historiker entäußern, indem er seine Aussagen auf das Wißbare, das Beweisbare beschränkt, während er doch innerlich unausgesetzt nach jenen letzten, heißbegehrten Werten trachtet, die sich noch immer nicht entdecken wollen und doch nach unserem Glauben da sein müssen, wie ein vergrabener Schatz, den keiner stehlen kann. Und diese schöpferische Durchdringung mit der Phantasie, mit Leben

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von unserm Innenleben, bis in die verborgenen Tiefen hinein, bescheidet sich nicht bei den menschlichen Personen, mit denen es die Mimik fast ausschließlich zu tun hat, sondern geht weiter auf alle Beziehungen zu den übrigen Gefährten des Daseins, zu den Haustieren und dem Hausgerät, d. h. zu den leblosen wie den lebendigen Dingen der Umgebung. Sie erstreckt sich ferner bis in alle Bestandteile der Weite da draußen, zu den Bergen und Flüssen auf dem Erdengrund, wie zu den Wolken und den Sternen am Himmel. Alle Wesen und Erscheinungen werden dem Bedürfnis des Menschen nach ur sächlicher Erklärung unterzogen, in einen menschlich ver ständlichen, d. h. vom eigenen Gefühl erlebbaren Zusammenhang gesetzt. Und diese Kausalerklärung wandelt sich auch ihrerseits im Lauf der Zeiten. An die Stelle der personifizierenden Auslegung nach Menschenart tritt allmählich die Einsicht in das Walten andersgearteter Naturkräfte; aber auch sie behält die Analogie der Betätigung unsres Willens und damit den Kern persönlicher Aktion bei: erst mit der mechanistischen Auffassung entweicht auch der Rest dichterischer Motivierung. Mit kühnem Griff in den dahineilenden Strom des Geschehens macht die Phantasie des Menschen sich die ganze Welt zu eigen, macht den flüchtigen Augenblick, auch den rätselhaften noch, sich selber genießbar und rettet den so erhaschten Wert zu immer erneutem Genuß, indem sie das Spiel dieser Beziehungen und Beweggründe, die gesamte Welterklärung aus äußeren und inneren Motiven, als Niederschlag einer ewig sich erneuernden Einheit in die Sprache faßt, die sich aus lauter Wörtern aneinanderreiht, aber nach solchem Sinn schon jeden Satz, aus Subjekt und Prädikat, zusammenfügt. Mit ihrer Hilfe ist es ja möglich vielköpfige Massen zu einer Einheit zusammenzufassen, und wie in der Tragödie den Chor auf die Bühne zu bringen, so im Epos das Volk, das Heer als Gesamtheit herbeizuziehen. Wie mancher abstrakte Begriff tritt nur durch seinen Namen, mit männlichem oder weiblichem Geschlecht, gleich einer lebendigen Person in die Vorstellung des Hörers oder Lesers und gestattet so dem Dichter die Beherrschung eines Kollektivums oder die Vereinigung einer weit verstreuten, in Raum und Zeit getrennten Mehrheit von Erscheinungen! Und was haben wir in diesem Mittel des Wertergreifens und des Werterschaffens, das dem Menschen gegeben ward, oder sagen wir lieber: im Verkehr mit Seinesgleichen und der Welt umher erwachsen ist, was haben wir in dem » Wor t« vor uns? So nennen wir zunächst das Einzelgebilde, das unsre Sprachphysiologen schon als »Lautgebärde« kennzeichnen, nämlich als einen Komplex aus vokalischen und konsonantischen (d. h. eigentlich mimischen) Elementen, oder umgekehrt einer Gebärde, die von innen nach außen drängt, und mit Hilfe des Lautes unsrer Stimme, des Luftstroms unsrer Atmung hervorbricht, so daß sie zugleich hörbar wird, die bis dahin stumme oder gar unsichtbare (kryptomimische) Ausdrucksbewegung »verlautbart«. Wor t aber nennen wir auch ein Gefüge aus mehreren solchen einzelnen Wörtern, d. h. den Satz als Ausdruck einer Beziehungseinheit zwischen ihnen, eines noch so einfachen Gedankens. Die Mehrzahl von solchen Sätzen heißt dann nicht mehr »Wörter«, sondern »Worte«. Wir sprechen von dem »Wort des Dichters«,

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von dem »Wort Gottes«, dem »Wort der Heiligen Schrift«; das ist schon eine größere sinnvolle Einheit sprachlicher Bestandteile, eine geordnete Folge von Sätzen, die innerlich zueinander gehören, sich einem höheren Gedanken, einer herrschenden Idee unterordnen, also einen »motivierten Zusammenhang« ausmachen. Deshalb habe ich immer das Wor t als Werk der Dichtung mit dem Bild als Werk der Malerei in Vergleich gestellt und auf den Parallelismus dieser Erzeugnisse des Menschengeistes, oder erst einmal der menschlichen Organisation, geflissentlich hingewiesen. Das Bild ist die sichtbare Einheit aus Körpern und Raum im Flächenschein, das Wor t eine hörbare Einheit aus Laut und Gebärde, oder aus Tonbewegung und Körperbewegung, jenes ein optischer, dieses ein akustischer Zusammenhang. »Bild« ist aber nicht allein technisch betrachtet, als zweidimensionaler Auszug aus Raum und Körpern auf der Fläche, das sichtbare Werk des Malers, sondern diese Definition trifft auch noch für jeden beliebig kleinen Ausschnitt aus solchem Ganzen zu, solange die beiden integrierenden Bestandteile der Einheit nur irgendwie zum Vorschein kommen, wie z. B. an dem Fetzen eines zerschnittenen Kupferstichs, einer Miniatur für die Nahsicht besonders deutlich gezeigt werden kann 33. Welche umfassende Einheit bedeutet dagegen » das Wor t, sie müssen lassen stahn« A! – aber ebenso das einzelne »Wort«, die Folge von Wörtern, der Zeilen von Anfang bis zum Ende der Bibel, die der mittelalterliche Schreiber so mühsam und sauber, wie gestochen, Buchstaben für Buchstaben hingesetzt, Wort für Wort zusammengefügt und auseinandergehalten, in Reih’ und Glied unter einander geordnet hat. – Diese kurze Gegenüberstellung der beiden Ausdrucksgestaltungen zweier Schwesterkünste, wie Poesie und Malerei, ist deshalb so wichtig und wünschenswert, weil sie uns hilft, die Besonderheit der Früchte, an denen wir sie beide erkennen sollen, zugleich näher ins Auge zu fassen und in ihrer √ Das ist auch die Hauptabsicht der beiden √ Verwandtschaft zu begreifen. Formeln: (R+K) für das Bild und (L+G)√ = Laut und Gebärde oder Ton und Gebärde (Vokal und Konsonanten), also (T+G) für das Wor t, in der das Tonelement sich mit der Gebärde, der Ausdr ucksbewegung verbindet und so auch den natürlichen Zusammenhang mit Musik und Mimik hervortreten läßt. Beide Formeln veranschaulichen den Ursprung der Produkte, um die es sich handelt, als Ergebnisse einer Reduktion der zugrunde liegenden Vollwerte, die unter Verzicht auf einen Teil der sinnlichen Kraft der beiden zusammengeschweißten Bestandteile eine höhere Synthese zugunsten geistiger Schwungkraft erreicht. Über die Beweglichkeit des körperlichen Gebarens, ja des Mienenspiels hinaus, gelangt die Schnelligkeit des beschwingten Wortes durch die Verquickung der verhaltenen oder nur kryptomimisch verlaufenden Gebärde mit dem Ton der Stimme, während Man denke sonst etwa an das Legespiel, wo ein aufgeklebtes Bild auf eine unregelmäßig zersägte Holzplatte geklebt ist, und die Aufgabe darin besteht, die verwirrend mit Schlangenlinien begrenzten Stücke so zusammenzusetzen, daß das Bild sich wiederherstellt. 33

A Es handelt sich hier um ein freies Zitat des Beginns der vierten Strophe aus dem Kirchenlied Ein feste Burg ist unser Gott, dessen Text von Martin Luther verfasst wurde.

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der Laut, auch in Verzicht auf die Vollkraft des Luftstoßes, verquickt mit dem mimischen Ausdruck, die Gegenständlichkeit konkreter Bezeichnung gewinnt, die dem Ton allein in seiner frei verschwebenden Vibration versagt bleibt. Aber auch das Bild ist nur durch das Opfer der dritten Dimension wirklicher Dinge, wie des Raumes umher, zur Zusammenfassung im Augenschein befähigt und durch die Ablösung des sichtbaren Eindrucks allein von der dreidimensionalen Wirklichkeit zu einer höheren Synthese mit gleicher geistiger Anwartschaft gediehen. Beide Künste ber uhen schon nach Ausweis ihrer Grundelemente, Bild wie Wort, auf verwickelteren, also for tgeschr ittenen psychischen Leistungen, ja unleugbar freieren Er r ungenschaften geistigen Lebens, als die übrigen Künste in ihren Grundelementen, die wir doch allein vergleichen dürfen, d. h. Körper für die Plastik, Raum für die Architektur, oder Ton für die Musik und Gebärde (oder Körperbewegung als Ausdruck) für die Mimik. Deshalb müssen eben die letzten beiden Einzelkünste, Malerei und Poesie, von dem Theoretiker wie vom Psychologen auf eine höhere Rangstufe gestellt und beide wegen ihrer näheren Ver wandtschaft miteinander als Paar zusammengefaßt werden. Hier er st führ t die Auseinander setzung des Menschen mit der Welt zu einer künstler ischen Einheit der Weltanschauung, wie eben diese beiden schon aus dem »Weltgefühl« hervorgehen und von ihm bestimmt die Werte suchen, die ihr Werk uns darstellt, und die es, von der Schwere der Körperwelt befreit, der freien Phantasie, dem Schaffensdrang der Ausdrucksgestaltung übermittelt. Wie für die Malerei fordern wir auch für die Poesie die Aufstellung eines Gesamtbegriffes als » Idealtypus« dieser Kunst, oder vielmehr: hier dürfte schon am ehesten einleuchten, daß wir immerfort mit einem solchen Gedankenbild umgehen, mit ihm an die Literatur jeder Zeit und jedes Volkes herantreten, und ihm den Maßstab entnehmen, wieviel davon als Dichtung, als Dichtkunst anerkannt werden soll. Wie ganz selbstverständlich gestehen wir diesem Idealbegriff normative Bedeutung zu. In der Anwendung auf ein »historisches Individuum« (hier im Sinne der Geschichtsphilosophie oder der Kulturwissenschaften) ergibt sich aber sofort die Auseinanderlegung dieser abstrakten Einheit, der Gattung in Arten, die wir dann Epik, Lyrik, Dramatik nennen mögen. Das sind vorgefundene Erbstücke der geschichtlichen, wie der theoretischen Betrachtung der Poesie, die wir als geläufige Kategorien auch bei Fr.Th. Vischer in seiner Ästhetik verwertet, ja ganz einfach auch auf das Gebiet der Malerei herübergenommen sahen. Unsres Erachtens wäre gewiß immer auch von der »Übertragung« solcher auf anderm Boden erwachsener Begriffe erst Rechenschaft zu geben, wie anderseits nicht minder ihre Berechtigung für das Reich der Dichtkunst selber zu erweisen. Eine gründliche Nachprüfung könnte auch unsrer heutigen Ästhetik der Poesie ebensowenig schaden wie unsrer Literaturgeschichte und würde gewiß für die psychogenetische Ergründung der Phantasie willkommenen Ertrag beisteuern. Jedenfalls liegt in der Dreigliederung, mag er auch in den Namen nicht ganz zum Ausdruck kommen, der Versuch einer Verbindung des Inhaltlichen mit dem Formalen vor, wie sie auch bei Vischer als Übergang zwischen der Verteilung der »Stoffgebiete« und der »Kunstmittel« ein-

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geschaltet wird. Und die Hauptfrage wäre die, wie weit sich hier Inhalt und Form zu decken vermögen, wie weit also auch kulturphilosophische Gesichtspunkte mit den kunstwissenschaftlichen oder ästhetischen selber übereintreffen. Ein Hauptfehler solcher Erwägungen scheint mir bisher in der Vernachlässigung der Mimik als selbständiger Kunst zu liegen und in der Unterlassungssünde, die sich daraus ergibt: den Anteil und die Aufnahme des »Mimischen« in den Nachbarkünsten, also in Musik zunächst und dann vergeistigt auch in der Poesie, nicht so zu würdigen, wie es ihm gebührt. Wir stehen somit wieder vor der Aufgabe, die wir vorhin gestellt hatten, ohne sie zur Lösung bringen zu wollen, brauchen jedoch auch hier nicht weiter einzudringen oder gar eine letzte Antwort zu geben, weil es in diesem ganzen Programm nur gilt, die Probleme zu zeigen und sie unter die beiderseitigen Gesichtspunkte zu bringen. Nun aber hat sich auf dem inzwischen zurückgelegten Wege wohl von selbst die Folgerung ergeben, daß auch hier allein der Rekurs auf die Wer tideen erst geeignet erscheint, eine befriedigende Gemeinsamkeit der Grundbegriffe zutage zu fördern und damit eine höhere Synthese zwischen Kunstwissenschaft und Kulturphilosophie zu erzielen. Wir würden so mittels einer durchgebildeten, auf ganz konkreter Grundlage ruhenden Wer tlehre zu einem weitumfassenden » Wer tsystem« gelangen, das in sich abgestuft auch eine Rangordnung einschließen muß. Fragt man mich weiter, wie ich mir dies etwa angelegt denke, so will ich gern auf die tiefgründigen, mir persönlich sympathischen Darlegungen von Max Scheler hinweisen, die ausführlich erst 1915 in der Abhandlung »Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (mit besonderer Berücksichtigung der Ethik Immanuel Kants)« A gegeben worden sind. Genealogie der Künste. Für die Kunstwissenschaft kommt dabei zur Einordnung in dieses Wertsystem mit Notwendigkeit schon die Genealog ie der Künste in Betracht, die wir soeben in dem Parallelismus von Malerei und Poesie, sowie deren gemeinsamer Überordnung über die beiden ursprünglicheren Paare der Plastik und Mimik, der Architektur und Musik begründet haben, wie vorher über die Gleichstellung des ersteren von diesen bei allem Richtungsgegensatz zwischen räumlicher Anschauungsform dort und zeitlicher Abfolge hier, kein Zweifel walten konnte. Erscheint auf der einen Seite die Malerei als höhere Vereinigung des vorher von Plastik und Architektur für sich Behandelten und Erstrebten, der Daseinswerte Körper und Raum, so steht auf der andern Seite die Dichtung als höhere Vereinigung des von Mimik und Musik Behandelten und Erstrebten, der Lebenswerte Gebärdung und Stimme oder Körperbewegung und Tonbewegung als Ausdruck der Innenwelt da. Von diesen Vorstufen gehören wieder Mimik und Plastik unweigerlich als einander fordernde und auslösende Zweieinigkeit zusammen, als A

Vgl. Fn. 20.

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das grundlegende Widerspiel unzertrennlicher Partner, als die Stifter aller und jeder schöpferischen, vom Menschen ausgehenden und für Menschen bestimmten » Ausdr ucksgestaltung«. Und ebenso erweisen sich Musik und Architektur als einander bei allem Richtungsgegensatz von Zeit und Raum verwandte, über den Menschen hinausgehende Eroberungen, eben der Weite des Raumes hier, der Zeit dort, als sich vollziehende Durchdringungen der Innenwelt hüben, der Außenwelt drüben. Sie schreiten beide nach den Hausgesetzen menschlicher Organisation zur umfassenden Ausdrucksgestaltung und zur Erschaffung neuer, von Kunstgesetzen bestimmter Welten. Die Bestätigung dieses Verhältnisses geben auch die zwischen den beiden letzten Paaren selbständiger Einzelkünste gelegenen Übergangsglieder oder Zwischenreiche: zwischen Mimik und Musik der Tanz, als rhythmisierte Ausdrucksbewegung des Menschenkörpers, und zwischen Plastik und Architektur die Tektonik als Bildnerin unorganischer Körper und Vorstufe der Raumgestalterin selbst. Die Durchführung des Parallelismus zwischen dem letzten zusammengehörigen Paar der Einzelkünste lassen wir an dieser Stelle vorerst beiseite; denn wir haben es bei dieser ersten Befürwortung gemeinsamer Grundbegriffe für Kunstwissenschaft und Kulturphilosophie mehr mit der geforderten Rücksichtnahme auf die letztere allein zu tun und dürfen uns deshalb auf die »darstellenden« Künste beschränken. Architektur und Musik würden ein weiteres Ausholen zu psychophysischer Begründung und zur Aufdeckung der psychogenetischen Synthese verlangen, damit auch für sie die Bündigkeit allgemeinverständlicher Ergebnisse hervortreten könne. Sie beide würden vor allen Dingen dazu nötigen, auf die Anfänge der Kunst im Kulturleben der Völker zurückzugehen, die bei der ganzen Gelegenheit, das Wort zu nehmen, die ich hier ergriffen habe, zu fern und abseits gelegen sind 34. Doch leuchtet anderseits ja wohl von selbst ein, daß gerade dieses Zurückgehen auf die Urzeit oder die Zustände primitiver Völker die ganze Reihe dort geläufiger Gesichtspunkte der Kulturgeschichte und der Sozialwissenschaften heraufbringen muß. Angesichts der Architektur besonders stellen sich schon bei der Frage nach den äußeren Anlässen und den inneren Antrieben ihres Schaffens die geläufigen Grundbegriffe der Kulturerscheinungen ein, die das Zusammenleben der Menschen in Sippe und Familie, in Stamm und Horde, in Siedelung und weiteren Schutzverbänden erwachsen läßt. Vom Zelt zur Hütte, vom Haus zum Tempel, vom Dorf zur Stadt schreiten wir weiter zu der architektonischen Fassung der politischen oder der religiösen Einheit, von der räumlichen Verkörperung der leiblichen zu der einer geistigen Gemeinschaft, 34 Da ich die Ornamentik noch nicht als selbständige Kunst anerkennen kann, weil sie keinen Wert selber darstellt, sondern nur vorgefundene hervorhebt und begleitet, sie dagegen als Vorstufe aller Kunst überhaupt betrachte, so habe ich in dieser Zeitschrift [= Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft] (Bd. V [(1910)], 2 [S. 191–215] u[nd] 3 [S. 321–355]) über »Anfangsgründe jeder Ornamentik« in dem Sinne gehandelt, daß die dort aufgewiesenen gemeinsamen Grundlagen auch auf die sogenannten musischen Künste übertragen werden können, und schlage hier ausdrücklich vor, einmal die Rolle oder den Umfang des Anteils der Ornamentik in der Musik, im Tanz, in der Mimik und endlich in der Kunst des Wortes zu verfolgen.

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wie der Gang der Geschichte die Raumgestalterin geleitet und weiterführt. Der »Idealtypus« von Staat oder Kirche, von Sitte oder Gesetz usw. kommt, wie in den Kulturwissenschaften, auch für uns in Betracht. Der Widerstreit zwischen Individualwillen und Sozialwillen lockt auch uns, in die psychologischen Gründe hineinzublicken. Welch ein Gegensatz besteht z. B. schon zwischen dem antiken Tempel, als Stätte des göttlichen Individuums in Gestalt einer Statue, und der christlichen Basilika, als Versammlungsraum der Gemeinde oder als Wirkungsraum der überindividuellen Gemeinschaft im Verkehr mit dem unsichtbaren Gotte 35. Für die Musik mag hier der Anschluß an die Arbeiten Wallascheks A und Stumpfs B als wünschenswert bezeichnet werden, während anderseits natürlich auch die Begriffsbildung der Theorie und Geschichte auf den fortgeschrittenen Entwicklungsstufen sehr dringend in Betracht käme, wie dies etwa in der historischkritischen Übersicht von Paul Moos über die deutsche Musikästhetik von Kant bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts und von da bis zur Gegenwart C, mit Bevorzugung der Lehre Eduard v. Hartmanns als Grundlage, zu finden ist. Dazu gehört aber meines Erachtens noch eine Forderung, die sich aus dem Erweis der natürlichen Mimik als der eigentlichen Ursprungsstätte aller Ausdrucksgestaltung und der gleichnamigen Kunst als Mittelglied zwischen Musik und Poesie nun von selbst ergibt. Wie sich bei allem schaffenden Tun und Gebaren unsres menschlichen Leibes die Körperbewegungen bis hinein in das Mienenspiel der Gesichtszüge, als Ausdruck der Gemütsbewegungen und der Seelenregungen überhaupt, von innen nach außen kehren, so beruhen auch die Tonbewegungen der menschlichen Stimme, bis hinein in die zartesten Klangvibrationen, auf der nämlichen Ausdruckstätigkeit. Und die Tonerzeugung durch künstliche Instrumente, die Verteilung der verschiedenen Stimmen auf diese ursprünglich noch dienenden Begleiter des Gesanges, zur Ablösung von dem menschlichen Organ mit seiner beschränkten Möglichkeit, alle diese Verselbständigungen und Vervollkommnungen bleiben doch immer Analogiebildungen zur unmittelbaren Ausdrucksbewegung des Menschen mit seiner eigenen Stimme. Aus diesem genetischen Zusammenhang erwächst die ganze Rhythmik, wie der Körperbewegungen auch des Instrumentespielens, und es ist verhängnisvoll, die Welt der Töne als bloß akustische davon abzutrennen und die Kunst als völlig freies Spiel mit reinen, irgendwo in der Luft schwebenden Tonelementen zu behandeln. Die ganze Eroberung der »Zeit« für die Erfüllung und Hier darf ich auf meine »Grundbegriffe der Kunstwissenschaft am Übergang zwischen Altertum und Mittelalter« (1905) [siehe Fn. 6] verweisen, in denen die stetige Rücksichtnahme auf die Verständigung mit den Kulturwissenschaften sonst gewaltet hat, soweit es die Auseinandersetzung mit abweichenden Ansichten irgend gestattete. 35

Vgl. Richard Wallaschek: Ästhetik der Tonkunst. Stuttgart 1886. Vgl. bes. Carl Stumpf: Tonpsychologie. 2 Bde. Leipzig 1883–1890. C Vgl. Paul Moos: Die deutsche Ästhetik der Gegenwart. Mit besonderer Berücksichtigung der Musikästhetik. Versuch einer kritischen Darstellung. 2 Bde. Berlin 1919–1931, bes. Bd. 2: Die Philosophie des Schönen seit Eduard von Hartmann. A B

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Belebung mit solchen Ausdruckssymbolen der Menschenkunst ist nur möglich und nur gelungen auf Grund der eigenen Stimmbewegung und Körperbewegung, also letztlich desselben Vehikels, dem auch die Mimik ihren Ursprung zugleich und ihr Wesen verdankt. Von hier läßt sich auch erst ein adäquater Grundbegriff vom Wesen der Musik als Kunst gewinnen. Der »Idealtypus«, den wir ausbilden, muß den Wer t erfassen, dem sie nachjagt, um ihn zu vermitteln und immer aufs neue erlebbar zu gestalten. Es ist der flüchtigste von allen, ein Wert des Seelenlebens, das Gefühl, das als »Gemütsbewegung« in uns zittert und wogt. Nicht die Vervollkommnung der Musiktheorie indes, die wir uns von der Beachtung des mimischen Urbildes alles Tonspieles versprechen, kommt hier in Betracht, sondern die allgemeine Seite des Zusammenhangs aller Künste mit der Organisation des Menschen, die uns erst den Einblick in die Weite der kulturphilosophischen Folgerungen eröffnet. Wer ihnen nachsinnt, muß die Forderung gegemeinsamer Grundbegriffe auch für die Kunstwissenschaft wohl zugestehen. Hier liegt ein ganzes großes Kapitel, das die Vertreter der Musiktheorie um so länger vernachlässigt haben, als sie selbst mit den übrigen Geisteswissenschaften, gerade im Sinne der Kultur, keine genügende Fühlung besaßen. Eine Phänomenologie der Musik mit allen ihren historisch hervorgetretenen und heute noch nacherlebbaren Formen bedarf des Schlüssels der Psychologie und der Auffassung als Kulturwissenschaft, um die reichen Früchte einer verspäteten Ernte noch glücklich einzuheimsen. Überall aber wird sich auch hier die Notwendigkeit ergeben, zunächst die reine Musik auf das strengste von allen Verbindungen mit Nachbarkünsten, sei es im Gesang mit der Wortkunst, oder im musikalischen Drama mit Mimik nicht nur, sondern Schauspielkunst und Dichtung, zu unterscheiden und getrennt zu behandeln. Hier gerade gilt es, in wissenschaftlicher Zucht zielbewußt der Begriffsverwirrung und Analogiensucht zu steuern, sonst wird es nicht möglich sein, zur Klarheit hindurchzudringen und den rein künstlerischen Erscheinungen ebenso gerecht zu werden wie ihrer letzten kulturphilosophischen Bedeutung. Auch hier ist nur mit Hilfe der Wertideen und der ihnen entsprechenden Idealtypen zu einer Durchleuchtung der vielverschlungenen Pfade der historischen Entwicklung zu gelangen. Unser Versuch, dem Wertgefühl in dem Schaffen der Einzelkünste nachzugehen, und die Antworten über die vorschwebenden Wertideen, die er uns eintrug, unter die Gesichtspunkte der Kulturphilosophie zu rücken, eröffnet uns die Möglichkeit, die lange zurückgeschobene und in der Befangenheit ästhetischer Streitfragen vergessene oder gar mit Geringschätzung behandelte Einteilung in Dar stellungsgebiete inhaltlicher Ar t wieder aufzunehmen und sie einer Neubegründung der reichen, aus der Glanzzeit unserer Philosophie überkommenen Ergebnisse zu empfehlen. Sind es wirklich »Werte des Daseins und des Lebens«, die den Abgrenzungen und Gliederungen jener Systeme zugrunde liegen, so sind sie vollberechtigt; sie werden sich, auch uns noch, als fruchtbar erweisen. Und ist die reine Tr iebfeder des Schaffens das Wer tgefühl mit seiner Liebe,

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das dem Menschen im Lauf seiner Entwicklung zu seelischer und geistiger Reife allmählich aufgeht oder auch unerwartet und überraschend einmal an bestimmten Wendepunkten sich zu neuen Einsichten erschließt, ihn zu niemals dagewesenem Vorstoß ins Reich der Ideale begeistert, nun, so haben wir eben Offenbarungen ungeahnter Anlagen und Früchte frischbeschwingten Strebens vor uns, die jede gesunde Kulturphilosophie mit Freuden anerkennt. Fassen wir am Schluß dann noch je zwei Künste zusammen, deren eine der zeitlichen, die andre der räumlichen Hemisphäre angehört, so daß sie als Paar einander zu einheitlich geschlossener, in ihrer Art vollständiger Ausdrucksgestaltung ergänzen, so bieten sie vereint eine künstlerische Weltanschauung oder Wiedergeburt der Welt von eigentümlichem Charakter, dem derjenige großer Kulturperioden entspricht. Und es kommt innerhalb dieser objektiven Möglichkeit der Evolution nur darauf an, welcher von beiden die Hegemonie zufällt, der auch die übrigen Künste anheimzufallen pflegen, und wann der Umschwung zur Vorherrschaft der kontrastierenden Ergänzungskunst erfolgt, der die entgegengesetzte Strömung zu ihrem Rechte kommen läßt. Es ist durchaus keine fremdhergeholte, nur etwa »geistreich« das Entlegenste verknüpfende Bezeichnung, wenn ich diese Paare von solchen einander innerlich fordernden und tatsächlich ablösenden Ergänzungskünsten eben »Komplementärkünste« genannt habe. Solch ein erstes Paar sind Mimik und Plastik. Sie bestreiten lange für sich allein, nur mit dem Übergewicht der einen oder der andern von beiden, die künstlerische Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt. Es ist die primitive Zeit personalistischer Kausalität, die in dieser Verbindung unverkennbar vorliegt. Aber es ist auch, unter der Hegemonie der Plastik, die Grundvoraussetzung des klassischen Altertums. Ein zweites solches Paar bilden Poesie und Architektur. Sind sie beide in ergänzendem Zusammenwirken tätig und fruchtbar, so bedarf es zur künstlerischen Ausdrucksgestaltung der Weltansicht einer Zeit keiner nam haften Beteiligung andrer Künste, die ohnehin unter den bestimmenden Einfluß dieser herrschenden geraten. Ein schlagendes Beispiel gibt die Kunst des gesamten Mittelalters, und zwar in ihrer ersten Hälfte unter der Führung der Poesie, zu der wir natürlich die heiligen Schriften, wie die ganze Glaubenslehre der christlichen Kirche rechnen, in ihrer zweiten Entwicklungsphase, der Gotik, unter der ausschließlichen Hegemonie der Architektur. Als drittes Paar dieser Art bleiben dann Musik und Malerei noch übrig und erregen in ihrem weiten Abstand nun unter der Zumutung unmittelbarer Wechselwirkung gewiß Erstaunen und Zweifel. Aber wir anerkennen sie beide schon lange genug als die spezifisch modernen Künste, durch deren Bevorzugung und deren Erfolge sich die neuere Kultur unterscheidet. Und geben sie diesen Perioden der Kunstentwicklung nicht einen eigenartigen ästhetischen Charakter? – ergeben sie nicht ein völlig anders gefärbtes oder abgetöntes Weltbild? Der Aufschwung der Malerei ging voran. Wir wissen genau, seit wann er zum siegreichen Triumph geworden, der auch die übrigen Künste unter »die malerische Sehweise« zwang. Fing nicht endlich gar auch die Dichtkunst an zu malen? Die bisher unerhörte Blüte der Musik trat hinzu, ihr Übergewicht löste die Schwesterkunst ab, und sie selber übernahm die tonangeben-

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de Stelle. Dann wieder, nach Vorbereitung durch die Unterströmung in den übrigen Künsten, die Reform der Poesie und die Ernüchterung zu strenger Architektur, ein neuer Umschwung gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Und wie stand es danach im 19.? Unverkennbare Obervormundschaft aller Literatur im Gefolge der klassischen Überlegenheit; die Malerei, seit Winckelmann zur Nachahmung der antiken Plastik angehalten, seit der romantischen Reaktion unter dem mühsamen Bestreben, sich auf ihr eigenes Wesen zu besinnen, in langen Lehrjahren festgehalten, immer wieder als Graphik von Poesie durchdrungen, sogar als Monumentalkunst von ihr gegängelt. Selbst die Musik, vom eifrigsten Bedürfnis zur Verquickung mit dem Wort beseelt, und (durch Wagner) zum »Gesamtkunstwerk« gesteigert. Gehört nicht nach alledem jetzt im 20. Jahrhundert die Zukunft der nächsten Schwester Architektur, die nun, nachdem sie alle Stile schulmäßig wieder durchgenommen, nachdem sie beim Kunsthandwerk von unten angefangen (endlich, endlich! sagen wir kurzsichtigen Zeitgenossen nach der Spannweite unsres Blickes) wieder begonnen hat, sich in schöpferischer Freiheit ganz aus sich selber zu entfalten, – wie es ihr verheißen war, wenn sie »Raumgestalterin« werde im Einklang mit ihrem eigensten Wesen 36. Wie geht das zu? fragen wir. Jede Einzelkunst, die in Überein stimmung mit sich selber schafft, gewinnt notwendig eine Machtvollkommenheit, die sich bis zu einem gewissen Grade steigern muß und auf ihre Nachbarinnen weiterwirkt. Aber die Fortdauer dieser Wirkung bedarf des Ersatzes verbrauchter Energie; weil keine Kraft eines lebendigen Organismus unerschöpflich aus ihm selber quillt und deren stetige Erneuerung am Ende verringert und versagt, verschiebt sich allmählich auch die Überlegenheit von einer Quelle der Energie zur andern, von einem Pol der Spannung auf ihren Gegenpol hinüber. Und dieser Möglichkeiten des Übergangs von einer Kernzelle zur andern gibt es mehrere: entweder in leisem, fast unmerkbarem Wandel unter den nächstverwandten Nachbarinnen, weiter in der Reihe, oder aber im schnelleren Wechsel, im schrofferen Widerstreit zwischen zwei einander entgegengesetzten, aber einander ergänzenden und einander ablösenden Antipoden, deren innerste Natur ich nicht einfacher und zutreffender zugleich zu bezeichnen wüßte, als mit der Natur der Farben, die der Physiker »komplementäre« nennt. Mögen wir den Idealtypus einer Kunst nun mehr im Sinne eines Biologen als psychophysisches Lebewesen, oder mehr im Sinne eines Kulturforschers als »historisches Individuum« vorstellen, unser Kausalitätsbedürfnis läuft doch immer, im ersteren Falle vielleicht gar mehr auf eine dynamistische, im zweiten dagegen auf eine personalistische Auslegung der Ursächlichkeit hinaus. Die Hauptsache bleibt für uns, daß wir auf diesem Wege der Zusammenfassung je zweier einander ergänzender Künste, die gemeinsam an einer einheitlichen Ausdrucksgestaltung der zeitweiligen Weltansicht arbeiten, als bestimmendes Paar, – zu einer außerordentlich lehrreichen und fruchtbaren Reihe von höheren Idealtypen oder Kunstcharakteren ganz verschiedener »Kulturen« gelangen, denen in der geschichtlichen Entwicklung 36 Vgl. meine Leipziger Antrittsrede über »das Wesen der architektonischen Schöpfung« am 8. November 1893 [siehe Fn. 6].

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nachweisbar wirkliche »historische und gegenwärtige Individuen« nach dem Sinne des Soziologen oder des Kulturphilosophen entsprechen. Das sind die letzten Grundbegriffe, die nach meiner Überzeugung die Kunstwissenschaft schon jetzt zu bieten vermag. Sie könnten der Kulturphilosophie meines Erachtens schon besser zugute kommen, als dies neuerdings in dem Buche von Mehlis A noch geschehen ist, der diese ganzen Bestrebungen der Kunsthistoriker nicht kennt oder nicht so beachtet, wie es ihr Recht wäre.

A Vgl. Georg Mehlis: Lehrbuch der Geschichtsphilosophie. Berlin 1915 bzw. ders.: Einführung in ein System der Religionsphilosophie. Tübingen 1917.

Raumgestaltung als Wesen der architektonischen Schöpfung () Wer das Wesen einer Kunst ergründen will, muß vorerst bei dem frühen Entwicklungszustand verweilen, wo schaffendes und genießendes Subjekt noch eine und dieselbe Person sind. Das Kunstwerk – welcher der bildenden Künste es auch angehören mag – ist doch zunächst ein Werk der Menschenhand, d. h. es entsteht unter den Händen des Menschen und ihren helfenden Werkzeugen aus irgendeinem vorhandenen Material: es kann also nichts anderes sein als das Ergebnis einer Auseinandersetzung zwischen dem Menschen und dem Stoff, und zwar in erster Linie des gesamten dabei in Tätigkeit tretenden motorischen Apparates, vielleicht der ganzen Konstitution des menschlichen Organismus als Einheit, aus denen auch die geistigen, Anlagen und die Möglichkeiten des Willens sich ergeben. Wenden wir dies auf die Architektur an, so bleiben wir von vornherein vor einer einseitigen Abirrung bewahrt, die, solche Beteiligung des Körpers und seiner Tastorgane schnell vergessend, sogleich zu höheren Gesichtspunkten aufsteigen zu dürfen wähnt. Wir halten uns frei von der seltsamen Ausschließlichkeit, die das Auge als die einzige Instanz im bildnerischen Schaffen einsetzen möchte und ein Kunstwerk nur insoweit als solches anerkennen will, wie es nach den Forderungen des Auges geordnet sei und den Ansprüchen rein optischen Verhaltens beim Beschauer entspreche. Derselbe Meister jedoch, auf den sich diese Lehre beruft, hat selbst die Warnung ausgesprochen, der Mensch, sei doch nicht einzig und allein ein »Augengeschöpf«, d. h. im wörtlichen Sinne »ganz Auge«, wie wir beim Hören gelegentlich »ganz Ohr« zu sein versprechen. Das angebliche Vorzugsrecht dieser sogenannten höheren Sinne ist jedenfalls erst in einem Zustand hochentwickelter Geistesbildung möglich, dem die Anfänge recht weit voranliegen, und selbst beträchtliche Fortschritte, vielleicht eine Vorgeschichte von Jahrtausenden als Voraussetzung dient. Solange das Kunstwerk der Hervorbringung durch die Tastorgane des Menschen als die Werkzeuge seines Willens bedarf, muß auch dieser Sinnesbereich die notwendigsten Beiträge liefern, nicht aber kann ein bevorzugtes Organ, das schließlich ermöglichen mag, uns weit von der Berührung der Dinge zurückzuziehen, das Entscheidende oder gar das allein Maßgebende sein, wo es sich so ausschließlich vorerst um einen Verkehr auf Druck und Stoß handelt. Der ganze Organismus, soweit er bei der tätigen Berührung mit dem gestaltbaren Material beteiligt ist, muß als mitwirkend anerkannt werden, und es bleibt die Frage offen, wie weit der volle Bewegungsapparat und der sonstige Bestand unseres Körpers die konstitutiven Merkmale des Kunstwerkes als Menschenwerk bestimme, lange vor dem ersten Versuch eines rein optischen Verhaltens, besonders bei ruhiger Schau des sogenannten »Fernbildes«. Und die Antwort, die sich ergibt, werden wir anerkennen, ohne jede

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Voreingenommenheit für die ästhetische Alleinherrschaft eines einzelnen Sinnes, und sei er von noch unzweifelhafterer Unfehlbarkeit, als unser Auge in Anspruch nehmen darf. Von solcher Überzeugung aus soll hier die architektonische Raumgestaltung in ihren Grundlagen untersucht werden, und es versteht sich bei der Kürze der vorgeschriebenen Zeit von selbst, daß wir uns auf das Wichtigste beschränken. 1.

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Die Auseinandersetzung des Menschen mit dem brauchbaren Material beginnt in seinem Raumgebilde sicher vom eigenen Leibe aus, schon deshalb, weil seine natürlichen Werkzeuge, die Gliedmaßen selber, bei jeder Gestaltung des vorhandenen Stoffes einzugreifen haben. Die Raumform bleibt also zunächst in engstem Zusammenhang mit ihrem lebendigen Urheber und seinem eigentümlichen Körperbau. D. h. die gegebene Einheit, von der alles ausgeht, ist das menschliche Knochengerüst mit seiner charakteristischen Unterordnung zweier Horizontalausdehnungen – nach vorn und hinten, nach rechts und links – unter die Vertikalachse, als die größte und eigenste Dimension dieses Grundstocks. Die aufrechte Haltung dieses Geschöpfes, im Unterschied von anderen Lebewesen, und die ausgeprägte Vorderseite, als Sitz aller nach außen gerichteten Beziehungen oder Betätigungen, enthalten bereits den Keim der eigentümlichen Raumbildung. Die Triebfeder zum Eingreifen in die vorhandene Umgebung, zum Verschieben und Verstellen der Sachen, die von seiner Kraft bewältigt werden können, und endlich zum Herstellen einer eigenen räumlichen Umschließung liegt natürlich in der Möglichkeit freier Ortsveränderung auf dem irdischen Schauplatz. Diese spontane Bewegung von einem Punkt zum anderen mag sich lange noch auf allen vieren vollzogen haben. Gehen auch wir also von der kriechenden Haltung aus, wie sich der Jäger noch gelegentlich zurückzieht oder zur unvermerkten Angriffsstelle entlangschleicht. Gilt es einen Schlupfwinkel zu erreichen, mag er sogar mit dem Bauch die Erde berühren. Da haben wir schon eine ganz anders geartete Voraussetzung der Körperlichkeit, für die Raum gefunden oder geschafft werden soll. Die Vertikalachse des Menschenleibes legt sich in diesem Spezialfall in die nämliche Horizontalrichtung seiner Ortsbewegung. Wühlt oder gräbt er sich so in die nicht allzuharte Masse etwa eines Sandhügels oder einer Lehmschicht ein, so wird die hergestellte Höhlung ungefähr der Form eines liegenden, unten abgeflachten Zylinders gleichen oder sich gar einem Halbzylinder nähern. Diese rohrartige Form wird jedoch kaum über die eigene Körperlänge hinausgeführt: sie dient so nur als Unterschlupf bei Gefahr oder als geschützter Aufenthalt bei Unbilden des Wetters, vielleicht als Nachtlager, – sonst aber gewiß nur als Einschlupf in eine weitere Höhle dahinter. Diese bekommt eine höhere Form, weil die nachgezogenen Beine sich auf die Knie stützen, im Vorwärtsrutschen zum Hocken veranlassen; zur Weiterführung der Arbeit stellt sich die Sitzhaltung bald von selber ein, und es kostet schon einen fühlbaren Verzicht,

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wenn auch in dem bevorzugten Teile des Innern, wo der menschliche Maulwurf sich umdrehen und dem Eingang zukehren würde, der Übergang zu aufrechter Haltung ausgeschlossen bleibt. Der Bau der Kaninchen und Füchse, der Biber und Dachse weist uns den Weg, daß die nächste Fortsetzung solcher Bohrversuche zur Herstellung eines Ausganges nach der anderen Seite treibt. Daran brauchen wir jedoch bei dem Höhlenmenschen, soweit wir ihn hier beobachten wollen, noch gar nicht zu denken. Und daß auch die Ansprüche sich wirklich noch lange nicht zu dem entscheidenden Vorrecht der aufrechten Haltung verstiegen haben, das erzählen uns die vielen Konstruktionen mit leichterem Material unter freiem Himmel, die hier zum Vergleich sich anbieten. Es gibt Hütten der Primitiven, die nicht mehr sind als eine halbzylindrische Schutzdecke des auf dem Bauch am Boden liegenden Körpers 1. Es gibt Zelte oder Lauben so niedrigen Baues, daß mit der Aufrichtung des Insassen zu voller Höhe gar nicht gerechnet sein kann. Sowie wir dagegen den entscheidenden Schritt zur aufrechten Haltung tun, so gilt es nun auch die Menschengestalt in ihr Recht einzusetzen. Diese Körpereinheit ist durch die Hegemonie der Vertikale ausgezeichnet, zu der die beiden Horizontalachsen rechtwinklig stehen, und das Durchschnittsvolumen eines solchen Körpers ist der maßgebende Faktor der Umschließung in einen Hohlraum. Versuchen wir den aufrechtstehenden Menschen mit geschlossenen Beinen und senkrecht am Leibe herabhängenden Armen vom Scheitel bis an die Sohlen in eine stereometrische Gesamtform zu fassen, so nähert sie sich wohl einem Zylinder. Dieser wird um so regelmäßiger ausfallen, wenn wir die Möglichkeit der Drehung um die eigene Vertikalachse berücksichtigen, die es dem Stehenden gestattet, die aktive Vorderseite nach allen Seiten zu richten und so den Hohlraum ringsumher abzuglätten. Die Vorstellung einer solchen knappsten Einkapselung des aufrechten Menschenkörpers ist auch eigentlich der Grundgedanke der Säulenform, von deren »Kopf« und deren »Fuß« wir nicht ohne Bezug auf dieses Urbild im allseits gerichteten und ringsum abgerundeten Stamme zu reden pflegen. Geben wir aber den Armen ihre Bewegungsfreiheit und die der äußersten Streckung vom Rumpfe her entsprechende Peripherie ihrer Betätigung im umgebenden Material, das wir zunächst als undurchsichtige Masse, wie vorher als Sandhügel oder Lehmschicht annehmen mögen, so nähert sich diese Wirkungssphäre, d. h. die Grenze des eigenen Tastraumes oben der Kugelform, besonders da die Hände auch über die Scheitelhöhe hinausgreifen, und wir erhalten statt des umfassenden Zylinders für den Stillstehenden nun wohl eher die Eiform mit dem breiteren Ende nach oben, dem spitzen nach unten gegen die Füße, deren Sohlen notwendig eine abgeplattete Basis ergeben. Zwischen der zylindrischen und der ovalen Rundform liegt also der selbstgefertigte Tastraum des aufrecht stehenden Menschen, solange wir den festen Standpunkt als unverschiebbaren Ort Sommerwohnung der Menomini-Indianer, Abbildung [34]. [In:] XIV. Annual Report of Ethnology 1892/3 [S. 254], vgl. auch H[erman] Frobenius, Ozeanische Bautypen, [in: Zeitschrift für Bauwesen. 49] Berlin 1899 [Sp. 553–580]. 1

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der Vertikalachse voraussetzen. Diese Fiktion mußte erst einmal hingestellt werden, um das maßgebende Verhältnis der drei Dimensionen des Menschenkörpers zu seinem knappsten Raumgebilde hervorzuheben. Und diese Grundtatsache gewinnt höchste Wichtigkeit, wenn wir betonen, daß die Mitwirkung der Augen dabei ganz ausgeschlossen blieb; so muß erst recht einleuchten, was sie bedeutet. Damit ist auch der Grundstock für eine experimentelle Beobachtung des spontanen Raumschaffens eines Blinden gewonnen: es kann sich immer nur um eine kontinuierliche Weiterschiebung dieser Gesamtform nach irgendeiner Richtung handeln, und die Frage würde sich nur dahin zuspitzen: wie weit der Blinde auch innerhalb einer ringsum tastbaren Masse, ganz abgesehen von der ablenkenden Wirkung ihres Widerstandes, die gewollte Richtung durchzuhalten vermag. Damit vollziehen wir jedoch einen bedeutsamen Schritt, indem wir dem Urheber das zweite Vorrecht des Menschen zugestehen, die Ortsbewegung nach vorn, mit der wir schon bei der Entstehung des niedrigen Einschlupfes in die Erdhöhle vorweg gerechnet haben, als wir die Fortbewegung noch auf allen vieren anheimgaben. Beim aufrechten Stande, mit dem wir nun zu schalten haben, ergibt sich die vorwärtsschreitende Gangart als nächster Faktor. Für den unteren Teil des Körpers, zu dem die abwärts gerichteten Arme nicht mehr reichen, muß die zeitweilige Rückkehr aus der aufrechten in die sitzende, kauernde, kriechende Haltung zu Hilfe genommen werden, wo immer die Füße, die Knie und Schienbeine nicht ausreichen, das Material zu durchdringen und wegzuräumen. Behalten wir die Richtung nach vorwärts als die herrschende bei, so daß nicht stetiger Wechsel der Front nach beiden Seiten und nach hinten hinzutritt, so entsteht auf diese Weise zweifellos ein der eigenen Höhe angemessener oder mit Hilfe der Armlänge sogar darüber hinausreichender Schacht, dessen Seitenwände kaum einen weiteren Abstand erreichen werden, als einerseits das Minimum, die Schulterbreite des eigenen Körpers, und anderseits die Spannweite der Arme für die nach links und rechts ausgreifende Arbeit der Hände, das Maximum, von selbst mit sich bringen. Jedem Schritt vorwärts entspricht eine solche der senkrechten Hälfte einer Eierschale gemäße Wiederholung, oder stereometrisch ausgedrückt: die kontinuierliche Weiterschiebung der ovalen Grundform vom Anfang bis ans Ende des so zurückgelegten Weges ergibt die Raumbildung im Innern der umschließenden Masse. Der Abschluß kann nicht anders ausfallen als konkav, d. h. er wird sich unten etwa der halben Zylinderform nähern und nach oben in Form einer inneren Kugelfläche, über dem Kopf des Höhlenmenschen, im ganzen also wie eine Concha runden. Damit wäre wiederum ein höchst beachtenswertes Ergebnis gewonnen. Während die Seitenwandung neben dem raumschaffenden Individuum links und rechts beim zusammenhängenden Fortgang der Arbeit sich abflacht und mehr oder minder senkrechten Ebenen gleich wird, bleibt das Ende des Hohlraums dem natürlichen Tastraum entsprechend eine sphärische Fläche oder ein Halbzylinder mit Halbkuppel darüber. Damit ist die Form monumentaler Einschließung, die vom Sakralbau festgehalten wird, als Bestandteil des ursprünglichen Tastraums erwiesen, und darin liegt ihr Vorzugsrecht für alle plastische Körperbildung begründet. Aber

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diese geht uns hier noch nichts an; wir haben die Raumgestaltung im Innern eines leidlich nachgiebigen Materials weiter zu verfolgen, indem wir nun den letzten Faktor hinzunehmen, das Augenlicht, und die damit eintretende Erweiterung zum Sehraum beobachten. Gerade hier, an der erreichten Abschlußstelle, kann es mit einem Schlage anders werden, sowie wir die höhergelegene Sinnesregion des im Kopfe gebetteten Augenpaares zur Mitwirkung zulassen und genügend Helligkeit vom Eingang hereindämmern heißen. Dann wird die Schlußwand hinten in der schachtartigen Höhle, zumal wenn dem Raumbildner erneuter Eintritt von der Außenwelt her zur Fortsetzung seiner Arbeit gewährt war, eine merkbare Wandlung erfahren. Der vorauseilende Blick des spähenden Auges wird die hintere Grenze immer als Fläche sehen, bis er der konkaven Biegung näherkommt, und bald wird sich eine Angleichung an die senkrechten Ebenen der Seitenwände vollziehen, wenn auch zunächst ganz unbeabsichtigt und allmählich. Es versteht sich von selbst, daß die natürliche Form unseres Sehraumes, der sich jedenfalls so lange ebenfalls einer inneren Kugelfläche nähert, auch auf die vorangegangene Raumbildung schon ebenso ihren Einfluß nehmen wird wie am Ende. Wir werden also von Anfang an eine der Sehweite angemessene Peripherie in unsere schematische Konstruktion der fortschreitenden Entstehung eines Höhlenganges einsetzen müssen. Dabei bleibt jedoch zu beachten, daß diese Erweiterung nicht die des Horizontes im Freien erreichen kann, sondern vorerst stets auf die Betätigung des abtastenden Sehens beschränkt bleibt und zwar in erreichbarer, durch die Spannweite unserer Arme bestimmter Nähe. Dies gilt wenigstens so lange wie beim fortschreitenden Gange des raumschaffenden Individuums an der Richtungsachse seiner Körpermitte festgehalten wird, und nicht zugleich seitliche Ausbiegungen von dieser geraden Linie nach rechts oder nach links erlaubt sein sollen. Aber, selbst angenommen, wir änderten unseren ursprünglichen Ansatz in der Konstruktion dahin, daß solche Erweiterungen nach beiden Seiten, wie nach vorn, dem Bedürfnis unserer vorwärtsdringenden Blicke Rechnung tragen dürften, so wird doch während der Entstehung des Innenraumes, auf die es uns hier ankommt, vorerst immer das abtastende, die ausführende Arbeit kontrollierende Sehen die Oberhand behalten und die Wirkung des ruhigen Schauens erst dann sich einstellen, wenn der Raumbildner häufiger Gelegenheit hat, von dem fertig gewordenen Teil der Wandung zurückzutreten und dann prüfend dieser selbstgeschaffenen Raumgrenze wieder entgegenzutreten. Dann wachsen auch hier die Ansprüche der simultanen über die der sukzessiven Auffassung der Vertikalebenen neben uns hinaus. Der entscheidende Schritt liegt erst da vor, wo die letzte Abschlußfläche hinten sich nun deutlich in rechten Winkeln gegen die Langseiten des Schachtes absetzt. Da reicht zur Erklärung wohl der Hin weis auf die flächenhafte Natur des Sehfeldes kaum noch aus, zumal da eben sie in dem dämmrigen Halbdunkel nicht zu voller Wirkung kommen kann. Es bleibt wohl nichts anderes übrig, als dafür wieder entweder die eigene Körperform des Menschen, mit der rechtwinkligen Stellung der Koordinaten zueinander, anzurufen oder zugleich auf die geistige Organisation

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hinzuweisen, die eben mit Notwendigkeit die dreidimensionale Anschauungsform des Raumes hervorbringt und die klare Auseinandersetzung seines Achsensystems fordert und bevorzugt, wie ein sicherstellendes und wohltuendes Hausgesetz, das die Wohnung mit ihrem Insassen verbindet. Das läßt sich nur unter Tageshelle bei den freien Gebilden aus leichterem Material genauer beobachten. Damit aber sind wir an einem entscheidenden Wendepunkt angekommen, dessen prinzipielle Bedeutung erst einmal ausgesprochen und ein für allemal gesichert werden muß. Aus dem soeben angedeuteten naturnotwendigen und unverbrüchlichen Zusammenhang zwischen dem Menschen und seinem Raumgebilde ergibt sich einmal, daß wir für die theoretische Grundlegung berechtigt, ja veranlaßt sind, bei der Entstehung der architektonischen Umschließung drei Bestandteile zu sondern, die freilich stets ineinandergreifen und im Lauf der Entwicklung zur unauflöslichen Einheit zusammenwachsen, aber zu experimentellen Zwecken auch da noch auseinandergehalten werden sollten: den Tastraum, den Gehraum und den Sehraum. Die erste und die letzte dieser Bezeichnungen sind bereits geläufig und gründen sich auf zwei anerkannt verschiedene Sinnesregionen. Die mittlere, der »Gehraum«, muß seinen Namen von einer anderen Beziehung erborgen, die dem natürlichen Gegensatz jenes Paares kein logisches Äquivalent entgegenstellen kann, aber ebendeshalb geeignet ist, die Übergangsregion zwischen den beiden anderen kenntlich zu machen und von vornherein anheimzugeben, daß hier die natürliche Vermittlung zu suchen ist, die sich im Tastraum anbahnt, sowie das jede Hantierung überwachende, aber noch immer abtastende Sehen des Augenpaares hinzutritt, um dann im Vorwärtsschreiten erst die entscheidende Wendung zu nehmen, während anderseits nur der zeitweilige Verzicht auf die Ortsbewegung und die Einnahme eines festen Standpunktes die ausschließliche Vorherrschaft der optischen Eindrücke und die Ansprüche einer ruhigen Ansicht oder gar des sogenannten Fernbildes zur Geltung bringen kann. Mit der Anordnung der drei Faktoren, als Tastraum, Gehraum und Sehraum, ist somit auch der psychophysischen Aufgabe und der ästhetischen Untersuchung der Weg gewiesen, den sie – z. B. schon bei einseitiger Behandlung der Raumwahrnehmung auf Grund des Gesichtssinnes allein – nicht ungestraft verläßt. Zweitens aber ist durch das Lebensprinzip des Raumgebildes in der Ortsbewegung und durch den Nachweis der grundlegenden Bedeutung des Gehraumes beim Wachstum zur bleibenden Wohnung des Individuums oder einer Mehrzahl von Individuen das Vorrecht dieser Entwicklungsreihe begründet. Das menschliche Raumgebilde als Wohnbau beansprucht auch in der theoretischen Grundlegung die Priorität vor dem sogenannten Sakral- oder Monumentalbau, bei dem an die Stelle des wirklichen Lebewesens ein gedachter oder gar ein lebloser Körper tritt, wie der Fetisch oder das plastische Götterbild, d. h. in beiden Fällen ein Substitut, das der wichtigsten Grundeigenschaft zur eigenen Betätigung der spontanen Ortsbewegung im Raum entbehrt, ja im Gegensatz gegen die transitorischen Äußerungen und Beziehungen der Menschenkinder gerade als unverändert Bestehendes und Unvergängliches angenommen wird, d. h. das starre Prinzip der Behar r ung statt

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des lebendigen der Bewegung einsetzt. Lange genug ist die Ästhetik und Kunstwissenschaft durch das vorwaltende Interesse der klassischen Archäologie verleitet oder durch die Hegelsche Bevorzugung des hieratischen Moments überhaupt von dem gesunden und fruchtbaren Wege des Wohnbaues abgelenkt worden und voreilig auf die abweichende Bahn des Tempelbaues und der Heiligtümer geraten. Selbstverständlicherweise hat dazu der Umstand beigetragen, daß Bauwerke mit solcher idealen Bedeutung auch eher und besser erhalten blieben, daß also jede historische Forschung über vergangene Perioden sich notwendig auf die Monumentalbauten angewiesen sieht, während die vergänglicheren Wohnbauten, d. h. gerade die wichtigsten Urkunden dieser Seite künstlerischer Betätigung, dem schnellen Verfall ausgesetzt und durch Neubildungen verdrängt, für die Forschung nachfolgender Generationen verloren gingen. Dies vorgefundene Verhältnis erhaltener Belege darf jedoch nicht einen Augenblick darüber täuschen, auf welcher Seite die grundlegenden Zeugnisse für Wesen und Werden der Architektur als Kunst zu suchen sind. Und heutzutage darf angesichts des ethnographischen Materials, das wir allmählich zur Verfügung bekommen, ungescheut erklärt werden: der Wohnbau ist überall das Gr undlegende und Entscheidende für das Wesen der Architektur als Raumgestalter in, und der Sakralbau bedeutet notwendigerweise seinem ganzen Wesen gemäß bereits eine Abwandlung nach der Seite der Körperbildnerin Plastik und ihrer auf Beharrung des Einzelwesens in seiner isolierten Unabhängigkeit erpichten Prinzipien wie ihrer ganzen doch nur fiktiven Voraussetzung statuarischen Schaffens und seiner weiteren Einkleidung als Verewigungskunst. Die Zeugnisse primitiver Wohnbauten, die wir noch heute bei fernen Völkern der Südsee oder in arktischen Regionen an treffen können, sind für die allgemeine Kunstwissenschaft und die darauf fußende Ästhetik von viel tiefer greifendem Wert als das gesamte Material aller Tempelruinen und Heiligtümer, das die klassische Archäologie verarbeitet hat, zusammengenommen. Das ergibt sich schon als zwingende Folgerung aus meiner einfachen Definition der Architektur als Raumgestalter in, als Schöpferin zunächst des Innenraumes für die Umschließung menschlicher Personen mit all ihren natürlichen Anwartschaften an das Leben, von selbst. Im Wohnbau liegt auch die Stätte unmittelbarer Beziehungen für die Ästhetik, wo sich ihr wissenschaftliches Bestreben sofort in seiner aktuellen Bedeutsamkeit für das lebendige Schaffen der Kunst auszuweisen vermag. Beruht nicht unsere ganze sogenannte »moderne Wohnungskultur« auf dieser vorurteilslosen Bewertung, oder vielmehr auf dem Prinzip der Freiheit unserer architektonischen Raumgestaltung gegenüber allen vergangenen Stilen und ihrer größtenteils sakralen Formen weit? Mit vollem Bewußtsein lehre ich an deutschen Universitäten seit nunmehr dreißig Jahren dies »Wesen der architektonischen Schöpfung« als Raumgebilde von innen her. Aber das selbstgewählte oder selbstgeprägte Wort »Raumgestalterin« für Architektur – ein Fremdwort, das sogar von humanistisch geschulten Philosophen einfach mit Tektonik zusammengewürfelt werden konnte –, dies deutsche Wort besteht aus einer bewußten Verbindung zweier Bestandteile: es handelt sich nicht

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allein um Raum, den man auch abstrakt auffassen und mathematisch analysieren könnte, sondern auch um seine Gestaltung, und diese setzt ein sinnfälliges Material voraus, das unserer vorhandenen Körperwelt angehört, oder bereits von Menschen verarbeitet vorliegt, d. h. sie ist Gestaltung von Menschen für Menschen, eine vom schöpferischen Willen des Subjekts durchdrungene Körperform, auch des Innenraumes als solchen. 2.

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In dem einen Worte »Raumgestaltung« ist das schöpferische Prinzip der Architektur als Kunst hervorgekehrt und die Freiheit dieses Schaffens aus dem Urquell der menschlichen Natur heraus sichergestellt. Die räumliche Auseinandersetzung zwischen dem menschlichen Individuum und der umgebenden Körperwelt kann sich nur nach dem Hausgesetz der dreidimensionalen Anschauungsform vollziehen, oder sie erprobt sich und bewährt sich vielmehr schon in der Entstehung und Ausbildung dieser selbst, d. h. nach der dreifachen Ausdehnung in die Höhe, in die Breite und in die Tiefe. Und diese dritte Dimension ist die eigentliche Lebensachse jedes Raumgebildes für das menschliche Individuum, weil sie die Richtungsachse all seiner Ortsbewegung auf dem natürlichen Grunde und all seiner Betätigung mit den natürlichen Werkzeugen seines Leibes ist. Aber die drei Dimensionen haben im menschlichen Raumgebilde nicht den abstrakten Sinn wie in mathematischen Lehrsätzen und stereometrischen Konstruktionen, sondern sie bleiben stets in fühlbarer Abhängigkeit von dem eigentümlichen Bau des menschlichen Körpers und der Besonderheit der menschlichen Auffassungsweise, die vor allen Dingen den tastbaren Bezug auf den eigenen Organismus festhält und erst ganz allmählich sich davon entwöhnt, wenn die Gesichtsvorstellungen das entscheidende Übergewicht erhalten. »Ort und Stellung unserer zunächst beteiligten Organe, der Grad ihrer Beweglichkeit und ihrer Abhängigkeit vom Rumpfe, die Bedingungen des Zusammenwirkens der beiden Hände an den pendelnden Armen, der beiden Füße an den minder gelenken Beinen, der beiden Augen an der Vorderseite des Kopfes und die innere Einrichtung dieses Sehapparates in seinen Schutzhöhlen« – alle diese Verhältnisse bestimmen nicht allein unsere menschliche Orientierung im Raum, sondern auch unsere Beziehungen zu den Dingen und weiter die Bedingungen unseres Schaffens 2. Die erste Dimension ist für den Menschen die Höhe; denn sie ist als Dominante seiner aufrechten Gestalt gegeben, und die beiden Horizontalausdehnungen seines Körpers bleiben der Vertikalachse entschieden untergeordnet. Sie ist infolgedessen Vgl. [August Schmarsow:] Der Wert der Dimensionen im menschl[ichen] Raumgebilde [recte: »Ueber den Werth der Dimensionen im menschlichen Raumgebilde«], [in:] Ber[ichte über die Verhandlungen] der Königl[ich] sächs[ischen] Gesellsch[aft] der Wissensch[aften zu Leipzig. Philologisch-Historische Klasse. Bd. 48] 1896 [S. 44–61]. [Ders.:] Das Wesen der architektonischen Schöpfung[.] Leipzig, Hiersemann, 1893. 2

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auch die wichtigste Konstituente jedes Körpers, den wir außer uns anerkennen oder selbst in den allgemeinen Raum hinausstellen; wir bemessen nach ihr sein Verhältnis zu uns. Daraus ergibt sich sofort eine doppelte Auffassungsform, die wir auf den Gegenstand applizieren: ist er kleiner als wir, so daß wir dem Ding da sozusagen über den Kopf kommen können, so fällen wir das Höhenlot, von oben nach unten; ist er größer als wir, so daß er uns über den Kopf kommt, so verfolgen wir sein Höhenmaß von unten nach oben, im Aufstieg also. Und beidemal ist das Verfahren ein unverkennbar sukzessives, während nur bei Gleichheit zwischen uns und den umgebenden Körpern das ruhige Beharren des Bestandes vorwaltet, d. h. eine simultane Auffassung entscheidet. Für den besonderen Raum, den wir als Umschließung eines menschlichen Lebewesens, d. h. für uns selbst oder unsersgleichen herstellen, entspringt daraus eine wichtige Bestimmung: solange er nur als Innenraum gewollt und gedacht wird, bedarf er keiner sichtbaren oder gar verkörperten Mittelachse, im Gegenteil, er verträgt eine solche nicht; die körperliche Ausgestaltung einer solchen an der Stelle, die das lebendige Subjekt selber einnehmen soll, ist ein Hindernis für die richtige Anpassung, wie die Mittelstange eines Zeltes oder der Gewölbpfeiler eines Turmgemachs eigentlich den Platz des Bewohners usurpiert und diesen selbst zur Seite drängt. Schon den Stock eines Schirmes nehmen wir desto näher an uns heran, je mehr wir ihn unserer eigenen Ausdehnung anpassen, und damit berühren wir den unterscheidenden Punkt zwischen der plastischen und der architektonischen Auffassung, zwischen dem nach Körperart konstituierten Monument und dem Wohnbau für ein Lebewesen. Schon in dem kegelförmigen Zelt scheiden sich die Wege beider, je nachdem hier ein mittlerer Körper besteht oder nicht, je nachdem ein Götzenbild diesen Punkt einnimmt oder ein Individuum seinen Spielraum für die freie Ortsbewegung fordert. Die Statue verlangt die Festigung des Standortes und erhält den unverrückbaren Untersatz; der Mensch braucht die gesicherte Unterlage, den gleichmäßig geebneten Boden für seine Füße nicht allein für das Dastehen, sondern für das Hin- und Hergehen nach Belieben. Jede Beunruhigung des menschlichen Körpergefühls stört hier die Voraussetzungen auch des Raumgefühls: die Horizontalfläche unter seinen Tastwerkzeugen darf nicht durch Hebungen und Senkungen besondere Aufmerksamkeit erheischen oder gar durch Vorsprünge, durch Löcher darin zum Stolpern bringen. Auf schwankender Hängebrücke oder auf durchsichtigen Glasplatten dahinschreitend, können wir uns davon überzeugen, wie bei jeder ersten Stufe im Abstieg einer Treppe. Unser Tastraum und unser Gesichtsraum mögen noch so zwingend sich als innere Kugelfläche herausstellen, das menschliche Raumgebilde rechnet stets mit dem durchgehends gefestigten horizontalen Boden als unterer Grenze unserer Vertikalachse. Auch wo wir den Boden stampfen, in hüpfender, tanzender, springender Aufwärtsbewegung, oder uns leicht auf den Zehen erheben, gilt dies Gesetz des widerstandsfähigen und zureichend verläßlichen Grundes. Jene sind freilich Ausnahmen des Verhaltens, aber sie bestätigen die Regel; sie beanspruchen zugleich einen größeren Spielraum nach oben und führen uns so zu der Frage nach der oberen Grenze der Höhendimension,

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die das normale Verhältnis für unseren Raum bestimmen mag. Die nächstliegende Antwort, daß die eigene Scheitelhöhe wohl das gegebene Maß sei, könnte doch nur für den Tastraum gelten und wird schon hier durch die übergreifende Länge der emporgestreckten Arme zu halbkugeliger Wölbung hinausgeschoben. Der Blick unserer Augen strebt vollends darüber hinauf, fordert beträchtlich mehr, um mit seiner Richtung auf die Weite nicht immer anzustoßen und so das unangenehme Gefühl der Bedrückung und Enge davonzutragen. Der weiterdringende Blick aber verwandelt die erste Dimension durch diesen sukzessiven Vollzug in Bewegung, so daß sie eigentlich zur Richtungsachse wird, die wir verfolgen. Das lehrt uns schlagend der Vergleich mit der horizontalen Flachdecke, die unsere Blicke zum Abgleiten aus der Höhe in eine der Horizontalen zwingt und so zum Schweifen veranlaßt, hier und dort hinaus. Jede größere Überhöhung des Raumes über unserem Kopfe, sei sie auch noch so häufig durch unser Bedürfnis nach Luft und Licht bestimmt, bedeutet immer eine Zugabe, die für die Betätigung des Körpers auf unserem Boden nicht gemeint sein kann, also nur als Erweiterung zugunsten unserer psychischen oder geistigen Organisation; der Spielraum unserer Blicke wird zum Idealraum, in dem unsere optischen Eindrücke allein regieren, soweit das überhaupt angeht; denn ohne Zweifel ist es hier, wo sich die Tasterfahrungen unseres dreidimensionalen Körpers als maßgebend erweisen, auch für den leeren Raum, und wo unsere sogenannte »Anschauungsform« sich auswächst um ihrer selbst willen. Die Raumumschließung, die der Mensch als eigenstes Reich gegenüber der Außenwelt zu schaffen trachtet, kann somit ihre wesentliche Bestimmung als solche schon erfüllen, auch wo keine Flachdecke, keine Wölbung, kein Zeltdach den Innenraum nach oben abschließt. Nur einseitige Verfechter der Konstruktion oder des Monumentalwerkes können daran festhalten, solche kreisförmigen oder vierseitigen Umschließungen unter freiem Himmel von der Architektur als Kunst auszuschließen, d. h. die Tempelhöfe Ägyptens, die Vorhöfe der Basiliken, die Kreuzgänge der Klöster, den Cortile des südlichen Palastes aus der Geschichte ihrer Entwicklung zu streichen. Sie verkennen die Wichtigkeit des ästhetischen Gegensatzes zwischen der Gebundenheit an den Erdboden unten und der Freiheit in der Höhe. Man denke sich nur den Innenraum des Kolosseums einmal durch das Velarium gegen Sonnenglut oder Regenschauer geschlossen, und dann unter dem dämmernden Abendhimmel oder in lachender Morgenhelle ohne solche Grenzfläche gegen die Weite. Wie steigert sich die Wirkung der Schatten unter den Säulenarkaden gegenüber dem Ausblick in die Luftregion des Platzes! Aber unseren Augen wird auch »das Himmelsgewölbe«, von dem wir reden, in seiner unabsehbaren Höhe zum flächenhaften Fernbild, das unseren Raum bedeckt. Ein Nachklang des Kontrastes zwischen den klar begrenzten, überall tastbare Körperwerte darbietenden Wänden und der unbezeichneten Region darüber besteht auch in unserer Wohnung noch überall da, wo wir die Decke ganz glatt lassen als schlichte Fläche, in neutralem Weiß sogar, gegenüber den gegliederten oder gemusterten Vertikalebenen umher.

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Damit sind wir an dem Punkt angelangt, wo der vermittelnde Faktor zwischen Tastraum und Sehraum nicht mehr zurückgeschoben werden kann, eben der Gehraum mit seiner regelmäßigen Reihung oder periodischen Wiederkehr vom Anfang bis ans Ende des Weges, den wir durchmessen können und ebenso umgekehrt durchwandeln mögen. Unser Gehraum hängt ab von der pendelnden Bewegung unserer Beine und dem stetigen Wechsel des Auftretens beider Füße auf den Boden. Die Bevorzugung einer Richtungsachse für den fortschreitenden Gang bedeutet schon in den einfachsten Raumformen den entscheidenden Übergang zu den Ansprüchen des Lebewesens und seiner adäquaten Umschließung im Wohnbau. Stellen wir nur die geläufigen Zeltformen in eine Reihe, so verkündet sie schon beim ersten Blick von außen her die Wandlung des Charakters im Innern. Vom frühesten transportablen Schirmdach des Nomaden mag begonnen werden: die Stange wird einfach zu aufrechter Haltung im Boden gefestigt und der oben zusammengebundene Mantel nach unten peripherisch ausgebreitet. Diese Wandung verläuft noch einheitlich ringsum als schräge Fläche; die beiden elementaren Faktoren, die wir als Wand und Decke bezeichnen, stecken noch ungeschieden darin, und ihre abschließende Funktion gegen die Außenwelt hängt von der Durchsichtigkeit des Gewebes oder der Dicke schwereren Stoffbehanges ab. Für die Bewegung der Aufrechten ist nur wenig Platz in der Mitte, ringsum nur zum Sitzen, zum Kauern oder Liegen noch Gelegenheit. Es ist immer nur ein improvisiertes Schirmdach, das den Bedürfnissen dauernden Aufenthaltes nur so lange zu entsprechen vermag, als das Auge mit seiner Vorliebe für Vertikalebenen und der Sinn für klare Auseinandersetzung dieser Raumgrenzen noch nicht entscheidend dreinredet. Auch das Innere genügt nur dem plastischen Körpergefühl und der taktilen Anbequemung einer Gruppe an ihr zeitweiliges Gehäuse, in dem sogar der Herr nicht vollauf die gebührende Stelle einnehmen kann, solange nicht der Mast in der Mitte beseitigt wird. Mit Hilfe von Holzstangen, die in den Sand gesteckt werden, erreicht man die vertikal aufsteigende Umschließung, während darüber sich das Schirmdach spannt, – durch Spreizung der Stangen, die sich oben gegenseitig stützen, auch hier schon ohne Pfosten in der Mitte. Damit sind Wand und Decke gesondert und ihre Funktionen sorgfältig unterschieden, aber die Wandung ist als solche drunten und droben noch nicht weiter differenziert. Es ist ein entscheidender Schritt, einerseits zur Vereinfachung der Mittel, anderseits aber auch zur Gliede rung der Gestalt, wenn zwischen vier Pfählen – eine größere Zahl ist jetzt nicht mehr nötig – nur vier Wände gespannt werden. »Unsere vier Wände« sagen wir, als ob es sich so von selbst verstände, ohne zu bedenken, daß solche Bevorzugung des rechtwinkligen Aufeinanderstoßens der Raumgrenzen mehr als anderes einer befriedigenden Erklärung bedürfte. Ein solches Zelt mit gleichem Abstand der vier Pfähle und gleicher Abmessung der vier Wände weist immer noch auf die vertikale Mittelachse als Trägerin des Koordinatensystems zurück, also auf das plastische Gesetz des Körpers, der sich solche Umschließung schuf. Aber die Projektion der gleichen Raumgrenzen nach allen vier Seiten ermangelt des Ausdrucks einer ausgesprochenen Vorderseite, wenn

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wir nicht den Eingang als solchen anerkennen; sie entbehrt jedenfalls als Innenraum einer ausgeprägten Richtung und damit einer entschiedenen Lebensachse. Diese ausgesprochene Richtung des Ganzen drängt unverkennbar auf uns ein, sowie wir das Zelt aus fünf Stangen betrachten, das nichts ist als ein Satteldach; denn je zwei aufgerichtete sind gegeneinander geneigt und verbunden, so daß sie mit dem Boden ein stehendes Dreieck bilden, und zwischen ihren Spitzen erstreckt sich die fünfte, von beiden getragen oder beide auseinanderhaltend, genug die Dominante des einfachen Systems, die nun nicht mehr die Höhenachse ist, sondern eine Horizontale zu diesem Rang erhoben zeigt. Zunächst mag es die hingestreckte Vertikale eines Liegenden verkünden, wie der horizontale Halbzylinder, dessen Langseiten im Boden stecken. Sowie aber die Höhe zum Maß des aufrechten Menschen paßt, bleibt kein Zweifel mehr an abweichender Entstehung. Entweder haben wir im Innern eine Reihe von Individuen zu erwarten, also eine Mehrzahl von stehenden Personen hintereinander, aufrecht, aber in Ruhe – das wäre die Erklärung nach dem plastischen Prinzip –, ein beharrendes Kollektivum isokephaler Körper. Oder aber ein beherrschendes Individuum, das raumschaffende, in fortschreitender Ortsbewegung nach vorn, ist der Urheber, d. h. wir haben die Wiederholung der nämlichen Vertikalachse des lebendigen Menschen in der Richtung seiner eingreifenden Tätigkeit, – das wäre die Erklärung aus dem eigentlich architektonischen Prinzip, der lebendigen Raumgestaltung selber. Denn solange wir das Raumgebilde nur als Innenraum betrachten, auf den es uns hier allein ankommt, bleibt die Höhendimension an das Subjekt des Bewohners geknüpft, und die Objektivierung seiner Wandelbahn liegt nur im Boden unter seinen Füßen, in der langen Horizontalstange über seinem Kopfe und den schrägen Seitenwänden, die diese beiden Bestandteile verbinden. Die senkrechten Dreiecke am Anfang und Ende sind schon Beispiele für die wünschbare Wan dung ringsum, – und eben diese Aufrichtung solcher Vertikalebenen unter den Giebeln und unter dem Sattel dazwischen bringt den unleugbaren Fortschritt zustande: vom Gehäuse zur Wohnung. Mehr einer Laube als einem Zelt werden wir die leicht herstellbare Form vergleichen, die als Innenraum dem schachtähnlichen Höhlengang am nächsten steht: eine Reihe biegsamer Stäbe, von Bambus etwa, wird mit beiden Enden einander gegenüber in den Sand gesteckt, so daß sich ihre Mitte oben zum Bogen krümmt. Übergehängte Matten, Felle, oder Laubwerk und Gezweig nur, bedecken je nach Bedarf die Bogenreihe allein oder auch die aufrechten Stäbe an den Seiten. Wieder ist die Richtungsachse des Ganges die entscheidende Instanz für die Koordination der Träger und wird selbst in der übergeordneten Einheit der Scheitellinie des horizontal gelegten Halbzylinders realisiert. Der eintretende Besucher kann nicht umhin, den Vollzug der Wandelbahn nacherlebend aufzunehmen, wie der Erbauer drinnen ihn ursprünglich selber muß ausgeführt haben. Und jede weitere Durchgliederung der Lauben- oder Zeltwände – wie der in dauerhafterem Material errichteten Holzplanken, Blockverbände, Mauerschichten – erfolgt zunächst im engsten Anschluß an den periodischen Fortschritt unserer Körperbewegung und

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an den Rhythmus unserer menschlichen Gangart, also eigentlich unserer Tasterfahrungen, und an diese gebunden bleibt auch die Mitwirkung unserer Augen, die bei der ausführenden Arbeit vor allem als verfeinerte Tastorgane funktionieren, solange es sich um leibhaftige Berührung mit der Körperwelt handeln muß. Der Rhythmus des Ganges und die regelmäßige Wiederkehr der nämlichen Manipulationen beim Ausschreiten des linken oder des rechten Beines sind auf lange hin das Maßgebende. Wenn wir jedoch im abwechselnden Gebrauch der paarigen Gehwerkzeuge, wie der oberen Extremitäten, bei genauerer Kontrolle eine Bevorzugung der rechten Seite beobachten und damit einen fühlbaren Wechsel in der Stärke der ausgreifenden Bewegungen erwarten müßten, so wird die Wirkung dieser alternierenden Unterschiede für die Gesamtgliederung des Innenraumes dadurch ausgeglichen, daß der rückläufige Vollzug derselben Wandelbahn vom Abschluß zum Eingang, im stetigen Hin und Wieder den Niederschlag solcher Differenzen verwischt oder beseitigt, indem bei umgekehrter Richtung immer das Rechts auf das frühere Links und das Links auf das frühere Rechts fallen muß. So entsteht im Parallelismus beider Seiten die völlige Regelmäßigkeit des Hüben und Drüben. In solcher Abtragung der linken und der rechten Körperhälfte des Menschen auf die seitlichen Raumgrenzen vollzieht sich, wie die auf gestellte Bogenreihe unserer Laubhütte zeigt, auch nach oben die Gliederung des Innenraumes. Aber gerade angesichts dieser, die Deckenbildung wie die Wände zusammenfassenden Form drängt sich das Bedürfnis auf, Rechenschaft darüber zu geben: was haben wir in solchem Verfahren eigentlich vor uns? – Es ist doch nichts anderes als der Vollzug der zweiten Dimension bei jedem Schritt vorwärts, d. h. die körperliche Herstellung oder sinnlich wahrnehmbare Bezeichnung der Breite, vom eigenen Leibe her in die Nachbarschaft. Ist es nicht dies Nebeneinander unseres Körpers mit anderen Körpern im Raum, bei dem wir die eigene Breite zuerst als Tätigkeit erleben, d. h. im Bereiche tastbarer Berührung oder in handgreiflicher Auseinandersetzung zwischen dem eigenen und dem fremden Körper, auf Druck und Stoß? Diese zweite Dimension spielt nun bei jedem folgenden Schritt der Raumgestaltung wieder dieselbe Rolle, sie muß also hier in unsere Erörterung der dritten Dimension notwendig hineingezogen werden, um volle Klarheit über den entscheidenden Vorgang zu erreichen. Die Auskunft über das Wesen der Breite wird um so dringender schon hier erfordert, weil gerade über sie noch merkwürdige Unzulänglichkeiten im Schwange sind, z. B. da, wo man die Raumwahrnehmung ausschließlich vom Gesichtssinn her untersucht und psychologisch befriedigend erklären zu können glaubt. Man meint, im Unterschied von der ersten Dimension, über deren sukzessive Auffassung als Höhenlot oder als Wachstumsachse schon vor zwanzig Jahren wiederholt gesprochen wurde 3, sei es bei der zweiten Dimension allein möglich, sie

3 Schmarsow, Das Wesen der architektonischen Schöpfung, 1893 [siehe Fn. 2]. [Ders.:] Der Wert der Dimensionen im Raumgebilde, 1896 [siehe Fn. 2].

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als ruhende, d. h. ganz simultan aufzufassen 4. Was unser Auge betrifft, so glaube ich, diese Behauptung kann nur soweit bestehen, als es sich um ganz kleine Ausdehnungen handelt, die etwa bequem durch die Öffnung der Iris auf die bevorzugte Stelle der Netzhaut fallen können, so daß sie gleichmäßig scharf gesehen werden. Sowie dies, z. B. bei einer horizontalen Linie, nicht mehr der Fall ist, auch nur ein Ende nicht mehr in gleichwertiger Deutlichkeit wirkt, so stellt sich der Reiz zur Akkommodation ein und damit der Verfolg von einem Ende zum anderen, gegebenenfalls unter Zuhilfenahme des äußeren Bewegungsapparats am Augapfel, d. h. die unleugbar sukzessive Auffassungsform. Wenn man mit heutigen Psychologen von einer Bewegung der »Aufmerksamkeit« am Objekt, d. h. an einer solchen horizontalen Linie redet, und meint damit eine Verschiebung des intellektuellen Ziel punktes, die bei ruhiger Augenlage geschehen soll, so muß ich gestehen, ich begreife nicht recht, was das heißen soll, sondern vermag nur an eine Verschiebung des Blickpunktes am Objekt oder des Fixationspunktes im Bilde der Retina, also an Ortsbewegung zu glauben, wenn auch von minimaler Ausmessung. Was geschieht aber, wenn die horizontale Linie so groß ist, daß gar kein Zweifel aufkommen kann, wir müssen sie von einem Ende bis zum anderen absehen, wollen wir sie deutlich mit unserem Blick erfassen und nicht nur dämmernd darüber hinstarren oder gar in anderer Richtung abschweifen? Dann verwandelt sich die Breite in die Länge, d. h. die zweite Dimension wird eigentlich zur dritten. Was wir nun Länge nennen, weil wir daran entlanggleiten oder gar entlangschreiten, ist die Tiefenachse, die wir verfolgen, die Richtung durch den Raum vor uns hin, also eine ganz andere Koordinate unseres Systems, und wir haben unseren Standpunkt zum Objekt gewechselt, d. h. den festen aufgegeben und den verschiebbaren eingenommen, sind entweder wirklich an das eine Ende der Linie herangetreten oder haben uns in der Vorstellung wenigstens dahin versetzt, auch indem unser Körper ruhig an seinem Orte verharrte, und führen nun die Bewegung drüben, aber ebenso an der Seitenwand links oder rechts von uns, vom Anfang bis ans andere Ende durch. Das ist also mindestens ein unleugbares Entlangsehen, ein Verfolg des Fixationspunktes, ein sukzessives Verfahren der Auffassung auf Grund des sinnlich wahrnehmbaren Substrates, somit außerdem unzweifelhaft ein abtastendes Sehen, auch wenn wir die Horizontale ursprünglich in beträchtlicher Ferne erblickt hatten. Auch hier liegt ein Auffassungswandel vor, wie bei der Metamorphose der ersten Dimension in die dritte, ein Wechsel der simultanen und der sukzessiven Anschauungsform. Ist dieser Wechsel aber eingetreten, so ist diese Länge der nämlichen Horizontale gar nicht mehr die Breite. Was ist dann die zweite Dimension ihrem eigensten Wesen nach? Etwa die nämliche Horizontalausdehnung, nur in Ruhe, wie jene Psychologen anzunehmen F[riedrich] Schumann, Psychologische Studien [1. Abt.: Beiträge zur Analyse der Gesichtswahrnehmungen, Heft 1], [Leipzig] 1904 [bes. S. 58 und S. 109] und E[rnst] v. Aster [»Beiträge zur Psychologie der Raumwahrnehmung«], daselbst [Heft 3], [Leipzig] 1909 [S. 56–98, bes. S. 63–65, S. 81 f. und S. 91]. 4

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scheinen 5? Keineswegs, die Breite ist ursprünglich etwas ganz anderes, und unser Tastraum, nicht unser Sehraum hat das Recht der Priorität, uns die entscheidende Auskunft zu geben, über die man bei ausschließlicher Zulassung des Gesichtssinnes auch unter Philosophen im Unklaren zu bleiben scheint. Wir erfahren die Breite in der Tat zunächst am eigenen Leibe, wie wir es zuvor schon beschrieben, wenn wir etwa mit einer Schulter an eine Ecke stoßen oder gar mit der anderen ebenfalls einen Körper neben uns berühren. Die nämliche Tasterfahrung machen wir, wenn auch unsanft, an unseren Ellbogen, sowie wir im Gedränge mit fremden Mitmenschen die Breite des eigenen Körpers zu verteidigen haben oder einmal durchsetzen müssen, um nicht erdrückt zu werden. Die gleiche Tasterfahrung erlebe ich endlich, nur etwas erweitert, in der greifbaren Berührung meiner Hände, mit größerer oder geringerer Spannweite meiner beiden Arme nach links und nach rechts. Die Breitendimension ist danach unbedingt die »Diremtion« von der eigenen Mittelachse meines Körpers aus, und wenn ich diese subjektive Bestimmung objektivieren will, so kann ich es nicht anders als durch Übertragung meines Standpunktes auf den Gegenstand außer mir, d. h. auf den Mittelpunkt jener horizontalen Linie, indem ich von dort aus die Ausdehnung nach beiden Seiten bis an die Endpunkte mitmache oder absehe, wie vorhin in die Länge. Habe ich so die volle Entfaltung erreicht, die das sinnliche Objekt durch seine Größe anheimgibt, so ziehe ich mich, beziehungsweise die äußersten Endpunkte meiner Tastwerkzeuge, die ich gleichzeitig hüben und drüben anlegen kann, auf den Mittelpunkt dort, beziehungsweise meines eigenen Körpers zurück und erreiche nach Vollzug dieser rückläufigen Bewegung, also einer zweiten sukzessiven Auffassung, den Abschluß, den beiderseitig gesicherten Ruhepunkt des festen Bestandes. Und ebenso geschieht es beim Sehen, das dem abtastenden Verfahren getreu bleibt, indem ich die eigene Vertikalachse auf das Gesichtsfeld oder das Objekt darin appliziere 6. Immer ist es der Vollzug eines solchen Urteils oder richtiger das Ergebnis der Intuition, das erst bei der Rückkehr zum festen Standpunkt gewonnen wird, dem ich den Wert der zweiten Dimension für das ruhige Beharren der Körperwelt verdanke; durch dieses Erlebnis, sozusagen am eigenen Leibe, kommt mir das Dasein zum rechten Bewußtsein oder zum vollen Gefühl, und damit erklärt sich die Bedeutung der Horizontalen als Breite für die Konstitution des eigenen Körpers und sein Verhältnis zu jedem anderen neben ihm, außer ihm, d. h. der Wert für den Bestand im Räume, dem wir allesamt angehören. Dabei darf aber nicht unbeachtet bleiben, daß die soeben hervorgehobene Einstellung nach Maßgabe unserer eigenen vertikalen Mittelachse das Innehalten eines festen Standpunktes voraussetzt. Und das ist wichtig auch für die Beurteilung des Sehens bei diesem Vorgang und seinem entscheidenden Abschluß. Jedem anderen Gegenstand gegenüber nehme ich diese E. v. Aster in Schumanns Psychologische Studien, Heft 3 (1909). Beiträge zur Psychologie der Raumwahrnehmung [siehe Fn. 4]. 6 Dieser blitzschnell vollzogene Vorgang zwischen Sehen, Körperempfindung und Bewegungsimpuls (Direktive) ist das sogenannte »Augenmaß«. 5

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Einstellung vor, indem ich die eigene Mittelachse auf das Ding da drüben anwende. Das ist nur dasselbe Verhalten, wie wir es vorher bei der Feststellung der Höhe schon besprochen haben. Von diesem Höhenlot aus, d. h. von der Einschaltung der eigenen Vertikalen, beginnt die Entfaltung nach beiden Seiten gleichzeitig oder gelegentlich auch nacheinander, und es folgt die Rückkehr zur Mittelachse, um nach dieser doppelten Sukzession wieder der simultanen Auffassung Platz zu machen, die sich behaupten darf. Der erste Vorgang ergibt die Propor tionalität des Dinges, d. h. das Verhältnis seiner Höhe zu uns und zu seinen beiden Hälften; der zweite Vorgang ergibt die Symmetr ie, das Ebenmaß der beiden Seiten nach links und nach rechts oder das Gleichgewicht der beiden Hälften des Körpers. Die Proportionalität ist das Gestaltungsprinzip der er sten Dimension, und diese Bezeichnung darf nur verwendet werden, wenn das Objekt, von dem es ausgesagt werden soll, unter Applikation des Höhenlotes, d. h., wie wir gesehen haben, unserer eigenen Vertikalachse aufgefaßt und beurteilt wird, – nur im Über- oder Hintereinander, niemals im Nebeneinander. Die Symmetrie dagegen gilt nur im Nebeneinander und niemals in anderer Lage, weder im Über- noch im Hintereinander. Sie ist das Gestaltungsprinzip der zweiten Dimension, d. h. der Breite, und zwar in der Auffassungsform, die wir festgestellt haben, der »Diremtion« allein, aber nicht zugleich auch der Höhe, noch in der anderen Form, der Länge, noch endlich der Tiefenerstreckung, die wir im eigentlichen Sinne nur sukzessiv aufzufassen vermögen. Wo sich jedoch an einem und demselben Substrat der simultane Bestand, als Symmetrie in der Breite und als Proportion in der Höhe, nun beide, wie es als möglich erwiesen, der Verwandlung in die dr itte Dimension unterziehen, d. h. in sukzessive Auffassung übertreten, da herrscht auch das Gestaltungsprinzip dieser dritten Dimension, die immer Bewegung voraussetzt, d. h. das des Richtungsvollzuges, das wir » Rhythmus« nennen. Wie nun der Rhythmus der menschlichen Gangart sich dem raumgestaltenden Menschen aufnötigt im Fortschritt seiner eingreifenden Betätigung an irgendwelchem tastbaren Material, so waltet im Vollzug der Bewegungsachse des Raumgebildes, d. h. in der Tiefenausdehnung, die erst den freien Spielraum des lebenden Individuums und die Wandelbahn seines Tuns und Treibens von dem engen Gehäuse eines dreidimensionalen Körpers unterscheidet, eben dies dritte Gestaltungsprinzip, das ich nicht, mit Gottfried Semper, nur als »Richtung oder Direktion« bezeichnen kann, sondern mit voller Überlegung als »Rhythmus« angesprochen habe, weil es sich dabei immer um die zeitliche Auffassungsform eines räumlichen oder körperlichen Gebildes handelt, das Symmetrie und Proportion in sich vereinigt, und weil es dabei nicht allein auf die räumlich nebeneinander befindliche, also simultan beharrende, sondern auf die sukzessiv erfolgende oder absehbare, d. h. im Nacheinander erlebbare Wiederkehr solcher Gliederung ankommt. Da wir bereits gezeigt haben, daß sowohl die erste wie die zweite Dimension im festen Bestand des Raumgebildes der sukzessiven Auffassungsform zugänglich sind, so kann der Hinzutritt der dritten Dimension, als Vollzug der Tiefenachse durch die Ortsbewegung des menschlichen Subjekts, nur die notwendige Folge haben,

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daß für alle Teilformen des Bestandes hüben und drüben sich die sukzessive Auffassung zur simultanen gesellt und so die Aufnahme des Ganzen sozusagen in Fluß bringt. So wird eben der Innenraum mit allen seinen sichtbaren und tastbaren Veranstaltungen zu einem Erlebnis des Besuchers, der ihn von einem Ende bis zum anderen durchwandert, wie er bei seiner Ausführung selbst ein aktuelles Erlebnis für seinen Erbauer gewesen. Wie sollten auch die Seitenwände mit ihren Gliederungen, die zunächst immer nur in bequemer Erreichbarkeit der ausgestreckten Hände zu bleiben vermögen, sich anders zum lebendigen Urheber verhalten als der Boden unter seinen Füßen, der immer vorwärts tastend wirklich berührt und niemals bloß gesehen wird! Stehen doch die aufrechten Körperbestandteile des Baues der eigenen aufrechten Körperlichkeit des Menschen noch so viel näher und als gleichberechtigte Nachbarn gegenüber, sind sie doch alle nichts anderes als Abgeordnete seines gestaltenden Willens, Vertreter seiner Funktionen, die er selbst als Ausdruck dieser Lebensäußerungen hinstellt, damit sie im selben Sinne weiterwirken für jeden folgenden Gang auf demselben Wege zum Ziel am Ende, oder umgekehrt zu seinem Anfang zurück. 3. Bei der Gliederung des Innenraumes durch den entlangschreitenden Erbauer handelt es sich immer, soweit wir bis dahin gelangt sind, um eine fortwährende Abtragung der eigenen Körperwerte auf die Grenzen der räumlichen Umschließung, die unter seinen Händen erwächst. Verschiedenheit des dazu gebrauchten Materials und der technischen Behandlung vermag dieses Grundprinzip der Raumgestaltung nicht aufzuheben, sondern nur im Verfahren beim Einzelnen oder im Größenmaß der Dimensionen zueinander und zum menschlichen Bewohner abzuwandeln. Jetzt kommt es darauf an, die Fortdauer dieser unmittelbaren Beziehungen des Aufbaues zu den allgemein verständlichen Erlebnissen unserer Tastregion darzulegen und die Festhaltung dieses Grundstocks unserer räumlichen Orientierung auch da nachzuweisen, wo die Ansprüche der Augen und die leichter beweglichen Reize unseres Sehraums Gelegenheit böten, darüber hinauszugehen. Wir hatten in der Laubhütte der Länge nach die tragenden Glieder aus Bambusrohr aufgestellt und durch Querstangen oder durch Biegung der Stäbe selbst die Verbindung darüber, d. h. das Gerüst zur flachen Decke oder zur halbzylindrischen Wölbung bereit gefunden. Der Abstand zwischen diesen Stützen ergibt sich am natürlichsten aus dem Schritt des Ausführenden selber, mag dafür das alte, dem Rhythmus des Ganges abgelauschte Maß des römischen Passus angenommen werden, der einen Doppelschritt zur Einheit zusammenfaßt, oder mag nur die Hälfte davon, unser einfacher Schritt, vom linken auf den rechten Fuß, gewählt werden. Sie ergeben beide die selbstverständliche Entsprechung des Wechsels zwischen den Körperwerten, die gesetzt werden, und den Zwischenräumen, die vorerst leer belassen bleiben. Ein Verfechter der Holzbautechnik wird uns freilich

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entgegnen, die Sache verhalte sich ganz anders: der Abstand von Pfosten zu Pfosten bestimme sich nach der Länge der Querhölzer, die zur Einspannung zwischen den aufrechten Geraden dienen sollen, d. h. er werde von technischen Bedingungen aufgenötigt und könne demgemäß z. B. viel enger sein als eine Schrittlänge, die dabei gar nichts mit zu entscheiden habe. Solche Zimmermannserwägung stört uns jedoch keineswegs in der Feststellung der Tatsache, auf die es uns im Augenblick allein ankommt. Auch solche engere Stellung der Bauglieder würde nur die gleiche Wirkung auf den entlangschreitenden Menschen bestätigen, solange sie ohne weitere Verkleidung hervortritt, sei es auch schon aus der Wandfläche mit ihrem undurchsichtigen Verschluß an Stelle der Öffnungen dazwischen. Stimmt die Abfolge der Reizkomplexe hüben und drüben mit dem Rhythmus seiner Körperbewegungen überein, so wird das Erlebnis, das im Absehen oder Abtasten gar, wie vollends im Hinsetzen beim Erbauer selbst, sich vollzieht, als befriedigend oder wohltuend empfunden; stimmt es nicht, ist die Abfolge der Körperwerte z. B. schneller als das Auftreten im gewöhnlichen Gang, so wird eine Beschleunigung des Tempos angeregt und unbewußt versucht werden, ihr nachzukommen – wenn nicht im Gange, vielleicht mit anderen Bewegungen, der Arme –, und es hängt von der Möglichkeit solcher Anpassung ab, ob der Anschluß irgendwie erreicht und damit auch das Wohlgefallen erzielt wird oder nicht. Am Ende gelingt es nur den Augen noch, die dichter gedrängte Reihe der Senkungen (= Iktus oder Körperwerte) und Hebungen (= Zwischenräume oder Flächenwerte) gewissenhaft abzusehen oder doch in freierem Schweifen der Blicke noch den Anregungen zu folgen, ja die hastigere Begleitung im Gegensatz zum Grundbaß der Träger zu genießen. Sicher würde jedoch eine Unregelmäßigkeit der Abfolge sofort als unangenehm empfunden, sowie einmal der Verfolg solcher Anordnung mit hinreichender Aufmerksamkeit begonnen und die Erwartung der weiteren Wiederkehr übermittelt worden ist. Eine unstimmige Verschiedenheit der Reihe hüben und drüben, eine Abweichung vom durchgehenden Tempo sonst, wird vollends wie eine Enttäuschung stören und Anstoß erregen, bis die Beobachtung aufhört oder der tägliche Verkehr dagegen abstumpft. Gehen wir von solcher Hüttenkonstruktion noch einen Schritt weiter, zur Einstellung vollrunder Stützen in gewissem Abstand von den Außenwänden über, so wird sich auch diese Steigerung der Reizkomplexe in Gestalt isolierter plastischer Körper im Anschluß an unser Körpergefühl bemerkbar machen. Über die Wucht, mit der uns jeder Säulenstamm entgegentritt, brauchen wir gewiß kein Wort zu verlieren. Uns kommt es vielmehr auf die fortlaufende Reihung an und den Parallelismus dieser Begleitung des menschlichen Individuums, das solchen Innenraum durchwandert. Es sind plastische Mittel stärkster Art, die hier verwendet werden, von der Leichtigkeit des Bambusrohres bis zur Schwerfälligkeit ägyptischer Stämme. Die Dreiteilung des Innern, die so entsteht, begegnet uns ebenso im Festsaal eines vornehmen Hauses wie in der Wandelbahn altchristlicher Basiliken. Legen wir auf diese Holzpfosten oder Marmorsäulen statt des geraden Gebälkes die Rundbogenverbindung, so leuchtet sofort ein, wie unverkennbar dies Motiv

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der Objektivierung des Umschwunges dient, der zwischen dem Aufsetzen des einen und des anderen Beines sich mit dem Schwerpunkt des eigenen Körpers vollzieht. Ohne Zweifel besteht der Unterschied zwischen dem Eindruck des geraden Gebälkes und der Arkadenreihe in der Hervorkehrung und Betonung dieses Schwunges von einem Stützpunkt zum anderen hinüber. Und wenn der entlanggleitende Blick – von diesem allein kann in dieser oberen, nicht mehr tastbaren Region gesprochen werden – sich dem Verfolg dieses rhythmischen Zuges hingibt, so entsteht auch hier eine Beschleunigung des Tempos oder eine Beflügelung des Schrittes, selbst wenn der Abstand der Säulen voneinander der nämliche geblieben ist wie unter dem geraden Gebälke dort. Der so begleitete Mittelraum erhält eben dadurch noch ausgesprochener den Charakter der Wandelbahn als durch die Reihen parallelstehender Stützen allein, und die fühlbare Zutat eines Aufschwungs, der zum Verfolg der Obermauer überleitet oder anregen muß. Wir aber können die Raumteilung durch parallele Stützreihen nicht verlassen, ohne ausdrücklich zu betonen, daß für unsere Auffassung der Zwischenraum von Körper zu Körper denselben Anspruch auf Beachtung geltend macht wie diese selbst. Wir begnügen uns nicht mit der einseitigen Erörterung der Konstruktion und der plastischen Formgebung, noch mit der einfachen Feststellung der Enge oder Weite der Interkolumnien, sondern anerkennen auch das Recht des Zwischenraums, eben als Raumteil im Raumgebilde, demgegenüber die Mittel der Gestaltung doch immer nur Mittel zum Zweck bleiben. Auch die Intervalle zwischen den Körperwerten sind keineswegs indifferente Pausen, sondern werden durch den Rhythmus unseres Gehens und Sehens im Durchschreiten des Hauptraumes mit Leben erfüllt, so daß sie zur adäquaten Fassung des eigentlichen motorischen Vollzuges werden können, d. h. zum Spielraum für den entscheidenden Umschwung der Bewegung. Wer von der Reihe plastischer Glieder ausgeht, wird schon anerkennen müssen, daß unsere Einstellung auf Tastempfindungen oder Gesichtswahrnehmungen, die noch immer beide auf einer Auseinandersetzung in Druck und Stoß beruht, die Erwartung des Widerstandes mit sich bringt. Findet statt dessen ein Zurückweichen statt oder ein Ausbleiben des Anhalts, auch nur für das abtastend entlangsehende Auge, so mag eine solche Unterbrechung, wenn sie kurz genug ist, auch nur als neutrale Pause, als Sonderung zwischen positiven Reizkomplexen, hingenommen werden. Aber, wie jede größere Ausdehnung einer Pause, einer Zäsur, schon für das Gehör zur positiven Auffassung als Ausdrucksmittel umschlägt, so stellt sich vollends diese Notwendigkeit für unseren Blick ein, sowie er nicht in gleicher Grundebene mit den Säulenstämmen weitergleiten kann, sondern die größere Raumleere durchdringt und die Tiefenrichtung vollziehen muß. Überzeugend spricht für diesen Unterschied die Tatsache, daß farbige Vorhänge zwischen den Säulen aufgehängt werden. Diese wirken wie der fortlaufende Wandverschluß, an dem das Auge in einheitlicher Reliefauffassung der Säulenstämme hingleiten kann, während der Kontrast der Körperform mit der Fläche nicht nur, sondern auch der Kontrast zwischen den Farben und dem Stoff der Träger und der Teppiche das Gesetz der alternierenden Reihe wirksam erfüllt. Läßt man dagegen den Zwischenraum

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zwischen zwei Stützen absichtlich offen, so ist das Intervall auch als positiver Faktor, als Raumgröße zwischen den Körperformen gewollt, und die Ausweitung des Raumgefühls der Eindruck, den er ausüben soll. Da scheidet sich die Architektur als Raumgestalterin eben wieder von der Plastik und läßt sich die Reliefauffassung dieser nicht aufnötigen, als hätten beide nur gleiche Mittel gemeinsam. Für die raumschließende Wand gehört die Undurchsichtigkeit und die Kontinuität der Vertikalebene als solcher zu den wesentlichen Merkmalen, ihrer Funktion entsprechend. Für die Säulenreihe, auch die durch Vorhänge verbundene, waltet eine andere Voraussetzung, so daß auch ohne Widerspruch zu ihrem Charakter die Durchbrechung der fortlaufenden Ebene geschehen kann, die Einschaltung der Zwischenräume zum wesentlichen Erfordernis werden mag. Somit unterscheiden wir schon hier zwei Klassen von Darstellungsmitteln der Raumgestaltung, die raumschließenden Bestandteile (wie Wand, Fußboden, Decke, Dach) von den raumöffnenden (wie Tür, Fenster, Interkolumnien), und anerkennen als Vermittler zwischen beiden Polen, als raumtrennende Glieder in ihrer doppelten Funktion Pfeiler, Säule, Arkade, Balustrade usw. Von hier aus mag, zur Bestätigung unseres Prinzips, auch ein Blick auf den griechischen Tempel gerichtet werden. Noch neuerdings hat ein hochverdienter Ästhetiker, wie Theodor Lipps, der sich, von Gottfried Semper ausgehend, besonders eingehend auch mit den Formen der Tektonik und Architektur beschäftigt, die seltsame Behauptung aufgestellt, der antike Tempel sei kein Raumgebilde. Enthält aber die Cella nicht wirklich einen Innenraum, und zwar von einer Länge, die über das Gehäuse des Götterbildes ebensoviel hinausgeht, wie für den menschlichen Verkehr mit seiner Gemeinde zunächst durch die Vermittler des Lebens, seine Priester, erfordert wird? Und ist der Pronaos oder der Peripteros etwa kein Raumgebilde? Ein Abstand trennt die Säulen von den geschlossenen Wänden der Cella selbst, eben doch ein schmaler Vorplatz oder gar ein Umgang – beim Parthenon breit genug, um die Anschauung der Relieffriese mit ihrem Festzug entlangwandelnd genießen zu können –, und die Zwischenräume zwischen den Säulen machen sich überall als Raumteile geltend. Eben diese Verbindung zwischen Raumschließung und Raumöffnung ist ja gerade das Charakteristische für diesen Bestandteil des Ganzen: der Säulenumgang ist ein Vermittlungsraum, der Zugänglichkeit verspricht und einladend den Durchblick gewährt, auch wenn seine aufrechten Stämme auf steilem Sockel den heiligen Bezirk einhegen und aus der profanen Welt herausheben. Das Spiel des Helldunkels ist ja doch unleugbar in seinem Wechsel wirksam, wie der Schein des atmenden Lebens, der den strengverschlossenen Schrein darin umgibt, seitdem die Tempelbaukunst ihre bewußte Freiheit erreicht. Gewiß bleibt die Gesamtwirkung des Bauwerks eine eminent plastische, sowohl als eines Körpers im Raum, wie durch Bevorzugung vollgerundeter Körperwerte ringsum, oder an der zugänglichen Stirnseite allein. Aber der Kern dieses Ganzen ist doch das Allerheiligste mit der Statue des Gottes selber, der Innenraum der Cella, in dem die lebendige Berührung stattfindet. Je mehr sich dieser entscheidende Vorgang dem Auge der Menge draußen entzieht, desto mehr bedarf sie der Vermittlung

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der Zwischenräume und des fühlbaren Einblicks zwischen den raumtrennenden Gliedern in dem Säulengang. Eine ausschließliche Reliefauffassung dieser Außenseiten, die sich erst in gewisser Ferne zeigt oder höchstens in Schrägansichten zeitweilig einstellt, die mit vor wiegend offenen Frontalansichten beliebig wechseln, kann demgemäß nicht maßgebend sein. Wie sollte wohl das Fernbild zu solcher Bedeutung kommen, wo jeder Verehrer sich soweit körperlich zu nähern sucht, wie irgend gestattet wird. Die Neigung (Adolf Hildebrands) zur Reliefanschauung steht gerade im Widerspruch zu dem statuarischen Wesen der griechischen Plastik zur Zeit ihrer schöpferischen Tempelarchitektur. Sowie wir von den Langseiten des Peripteros zum Säulenkranz des Rundtempels übergehen, der von jedem Standpunkt aus verschiedene Weite der Interkolumnien darbietet, stets aber nach den mittleren beurteilt wird, die zugleich den Abstand von der Ringmauer der Cella unmittelbar erkennen lassen, da scheitert wohl jeder Versuch, die Reliefauffassung als ein Gesetz auch da der Baukunst aufzunötigen, wo sie vollen Raumabschluß gar nicht erreichen, sondern einen Vermittlungsraum vor dem geschlossenen Baukörper hinstellen will. Kehren wir danach zurück zur Gestaltung des Innenraumes und verfolgen hier etwa den christlichen Kirchenbau zunächst in der Basilikenform, die dem ererbten Wohnbau des Altertums so viel näher steht und sich mit dem Sakralbau der Heidenwelt immer bewußter auseinandersetzt. Niemand wird leugnen, daß im Parallelismus der Säulenreihen sofort eine Stockung eintritt, sowie wir statt des einzelnen Stammes an irgend einer Stelle einen doppelten einschalten oder statt der Rundform die flache Stirn des Pfeilers hineinsetzen. Es ist eine haltgebietende Verstärkung des Körperwertes, die als Hemmung des rhythmischen Vollzuges wirkt, mindestens wie eine Zäsur im Verse, oder wie ein unfreiwilliger Stillstand, den erst neue Mittel zu überwinden vermögen. Der fortlaufende Gang der Reihe sondert sich in zwei Hälften, oder bei abermaliger Unterbrechung durch solchen unerwarteten Reizkomplex in drei Abschnitte, die der Entlangwandelnde sofort als beabsichtigt auffassen wird, sobald sie drüben in der begleitenden Reihe der anderen Seite genau an derselben Stelle sich scheiden wie’ hüben. Solcher Stützen Wechsel bringt jedoch ein ganz anderes rhythmisches Gesetz in den Verlauf des Innenraums. Nicht mehr die einfache oder alternierende Reihung waltet im Zusammenklang beider Arkadenzüge, sondern es ergibt sich, durch die Einrahmung mit stärker betontem Anfangs- und Schlußglied einer kleineren, schnell übersehbaren Reihe die Zusammenfassung zu Untereinheiten, bei deren Feststellung wir doch jedesmal länger verweilen, als es beim Durchschreiten der Wandelbahn mit einfacher Reihung der Parallelen geschehen war. Und die Hauptteilung des Mittelschiffs in je zwei oder drei solcher Abschnitte wird zum beherrschenden Eindruck des Ganzen. Hier überwiegt die simultane Auffassung des ruhigen Bestandes auch im Nacheinander, und die sukzessive Auffassung der parallelen Reihen wird wesentlich verändert. Der Unterschied zwischen den stärkeren und den schwächeren Stützen, etwa Pfeilern und Säulen, mag nun nicht allein durch die Gestalt hervorgehoben werden, sondern zugleich auch durch die Farbe; dann

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steigert sich natürlich der Reichtum des rhythmischen Erlebnisses, wie z. B. in S. Miniato al Monte bei Florenz, wo sich außerdem zwischen beiden Reihen ein trennender Gurtbogen ausspannt und die Teilung der Wandelbahn in ihre seitlich markierten Abschnitte erstreckt, wie durch einen Querstrich verdeutlicht. Solche Mittel der Zusammenfassung der Glieder zu größeren Einheiten bereiten auch die Umgestaltung des oberen Abschlusses vor. Statt der flachen Holzdecke mit kassettierter Verschalung oder des offen gelassenen Sparrenwerks, dessen stärkere Querbalken den Hauptstützen entsprechend hervortreten, mag nun das Tonnengewölbe mit seinen Gurtbögen folgen, dessen regelmäßiger Reihung wir schon bei der einfachen Form des Bogenganges oder der Laubhütte aus Bambusrohr begegnet sind. Einen entscheidenden Schritt weiter führt uns jedoch das Kreuzgewölbe mit seinen vier Kappen; denn die beiden einander durchschneidenden Diagonalen weisen dem emporschauenden Menschen mit voller Bestimmtheit den festen Platz in der Mitte an, wo sich im Schnittpunkt die Einheit beider Parallelseiten zusammenfaßt. Damit ist wieder die eigene Vertikalachse des lebenden Individuums drunten als Dominante der rhythmisch gegliederten Hälften zu seiner Rechten und Linken eingesetzt, und die Aufnahme und Wirkung dieses geschlossenen Strophenbaues nimmt die Aufmerksamkeit in Anspruch, bis im weiteren Verfolg der Mittelachse des Ganzen die letzte Gewölbkappe des einen und die erste des folgenden Joches sich voneinander abheben und mit der Anerkennung des Schlusses hier auch der Anlauf zur neuen sich verbindet. Holen wir an dieser Stelle noch die Gliederung des Obergadens über den seitlichen Arkadenreihen nach, erwähnen das Fenster oder gar ein Paar von solchen, das dem Paar der Bogenöffnungen unten entspricht, oder gedenken der eingeschobenen Empore, die vielleicht eine dreiteilige Gruppe von kleineren Öffnungen unter einem größeren Blendbogen auf jeder Seite zweimal wiederholt, so haben wir die Elemente beisammen, die der feinsinnige Kenner der mittelalterlichen Architektur wie der gesamten Renaissance, Heinrich v. Geymüller, mit dem charakteristischen Namen »die rhythmische Travée« bezeichnet hat.A Das quadratische Kreuzgewölbe des sogenannten »gebundenen« romanischen Systems zerlegt somit das ganze Langhaus in drei oder vier solcher strenggegliederter Strophen, die sich als geschlossene rhythmische Perioden gegeneinander absetzen und so in wuchtiger Abfolge wiederholen, daß die Gesetzmäßigkeit ihres Aufbaues und die Korre sponsion beider Hälften mit unerbittlicher Konsequenz zusammenwirken. Demgegenüber stellt die Gotik mit dem quergelegten Rechteck seines Rippengewölbes den einheitlichen Gang des Vollzuges und das schnellere Tempo der regelmäßigen Reihung als oberstes Prinzip im Langhause wieder her, obgleich von dem Reichtum der rhythmischen Travee nichts geopfert wird, sondern im Gegenteil der innigste Zusammenschluß der Vgl. Heinrich von Geymüller: Die ursprünglichen Entwürfe für Sanct Peter in Rom von Bramante, Raphael Santi, Fra Giocondo, den Sangallo’s u. a. m. nebst zahlreichen Ergänzungen und einem Texte. Wien / Paris 1875, S. 71 sowie auch S. 23 und S. 59. A

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Bewegung, von den Pfeilerbündeln unten bis zur Durchkreuzung der Rippen oben, alle Geschosse verbindet. Von dem Spitzbogen als solchem müßte ausgegangen werden, diese Verkörperung menschlichen Gebarens im starren Meißelwerk des Steinmetzen hindurch zu verfolgen zum Stabwerk und Maßwerk der zweiteiligen Fenster droben; denn die Einheit dieser Bogenform, die sich nur aus der Spannung der beiden Hälften in ihrem gemeinsamen Höhepunkt ergibt, wirkt bestimmend weiter bis zum Gewölbeschluß empor. Aber die Durchführung des Nachweises, wie unentbehrlich die eigene Körperbewegung und die mimische Ausdrucksfähigkeit der Menschengestalt bei der Entstehung dieses Bausystems mitgewirkt hat, würde an dieser Stelle zu weit führen. Betonen wir deshalb nur noch eins: wie der entscheidende Einheitspunkt jeder strophischen Periode auf der fortleitenden Tiefenachse solches Langhauses immer mit dem Knotenpunkt der Koordinatenachsen zusammenfällt, und wie die Apperzeption einer solchen vielgliedrigen Einheit, die ein mannigfaltiges sukzessives Verfahren voraussetzt, immer nur an der Stelle sich vollziehen kann, wo die Vertikalachse des entlangwandelnden Subjekts sich mit der Dominante solches Koordinatensystems identifiziert, so daß sie für die eigene Körperempfindung zusammenfallen: dann erst strahlt das vielgliedrige Leben aller tektonischen Formen wieder von dem ursprünglichen Quellpunkt aus, und man genießt die Systole und Diastole in sinnlich wahrnehmbarer Gestalt. Gehen wir von diesem vollendeten Beispiel der Innengliederung des Langhauses, dem wir die Aneinanderreihung der Räume auch eines Wohnbaues nach Maßgabe des Systems von Zwecken, die das Leben mit sich bringt, an die Seite stellen könnten, nun sogleich weiter zu dem Anschluß der folgenden Raumteile zum Ganzen des mittelalterlichen Kirchenbaues; denn überall gewährt die höchste Leistung die vielseitigste Gelegenheit zur Bestätigung der durchgehenden Prinzipien, die auch bei bescheideneren Aufgaben maßgebend sind. Wir dürfen wieder nur der geschichtlichen Entwicklung folgen, um zu erweisen, wie überall die Grundlagen der Raumgestaltung aus dem Körpergefühl des Menschen, d. h. aus dem Schatz seiner Tasterfahrungen beim Stehen und Gehen, beim Greifen und Hantieren sonst sich ergeben, nur daß die Kontrolle der Augen natürlich von der abtastenden Begleitung der Arbeit und des Schreitens allmählich über die Höhe und Weite der Tastregion hinausgelangt und immer freier zwischen dem geschäftigen Nahsehen und dem ruhigen Schauen ins Weite wechselt, bis an die entscheidenden Stellen, wo sich im Durchblick des Raumes auch der Wert des Fernbildes zu melden beginnt, – mitten im umschließenden Bau, dem dieses Hinausschweifen ins Unbestimmte sonst nicht gerade zu entsprechen scheint. Setzen wir noch einmal ein beim halbzylindrischen Abschluß, den wir bereits als Ende des Höhlenganges in seinem Unterschied von der flachbleibenden, als solcher späteren, Schmalwand festgestellt haben. Für den vorwärtsdringenden Raumbildner ergab er sich als Form des Tastraumes von selbst mitsamt dem Ausschnitt aus der inneren Kugelfläche darüber. Nun wird aber der letzte Standpunkt des schaffenden Subjekts zum entscheidenden Wendepunkt, wenn dieses die Drehung um die eigene Vertikalachse auch hier vollzieht, und zwar linksum oder rechtsum

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Kehrt macht. Dann befindet sich seine Vorderseite der zurückgelegten Strecke gegenüber, und da die Arbeit der eingreifenden Tastwerkzeuge damit aufgegeben wird, überschauen die Augen den hergestellten Innenraum, von der Helle der Eingangsöffnung bis an die äußerste Grenze hingezogen. Das vollendete Werk mag so als Ganzes genossen werden. Aber, sowie an der Schwelle hinten irgendeine die Aufmerksamkeit erregende Erscheinung auftaucht, die etwa als gleichartiges oder anders organisiertes Lebewesen erkannt wird, so bekommt die abgerundete Nische sofort ihren ursprünglichen Sinn als Hälfte des Zylinders, der den ganzen Menschen in aufrechtem Stande zu umschließen vermöchte. Nun deckt auch diese Hälfte den Rücken des beunruhigt spähenden Individuums und gewährt das Gefühl der Sicherheit, so daß sich alle Abwehr nach vorn richten mag. Das ist natürlich schon eine vorübergehende Abwandlung des normalen Verhältnisses zwischen dem einzelnen Höhlenbewohner und seiner Abschlußnische hinter sich; aber gerade diese Ausnahme mag dazu dienen, das eigentliche Verhältnis zum nächsten Gehäuse auch in späteren Entwicklungsphasen darzutun, die wir sogleich ins Auge zu fassen haben, um den Anschluß an unseren vorher verfolgten Zusammenhang wieder zu erreichen. Denken wir uns nun zunächst in die Tribuna der Basilica forensis, so steht oder sitzt darin der Tribun, der Prokonsul, der Basileus oder Imperator, in seiner Funktion als Gerichtsherr über die im Saal davor versammelten Parteien mit ihrer Korona. Er gewährt ihnen als Körper im Raum nur das Abbild eines gewohnten Anblicks höherer Art, dessen Auktorität sie so imponierend beeinflußt: das des stehenden oder thronenden Marmorbildes in seiner Nische, der Statue des Gottes selber. Die halbrunde Apsis ist auch in der altchristlichen Basilika der letzte Überrest der monumentalen Umschließung, aus dem das Götterbild oder die Persönlichkeit des vergötterten Herrschers verschwand. Aber noch wirkt die dominierende Vertikalachse seiner aufrechten Haltung und der Gesichtskreis seines Antlitzes nach vorn zu, mag dem Ankommenden auch statt seiner nur ein Symbol, wie das Kreuz, oder ein sichtbares Zeichen des Unsichtbaren sonst, wie die segnende Hand des Ewigen, gezeigt werden. Das heißt, alles was in der Apsis (oder später im erweiterten Chor) auftritt, wendet seine Schauseite gegen das Langhaus und ist für die darin Versammelten die Quelle der erwarteten Wirkung. Nur aus der Gegeneinanderführung der beiden Faktoren also, der Priesterschaft und der Gemeinde, kann die Entwicklung des Kirchenbaues verstanden werden. Nur so wird die Vierung die bedeutsamste Stelle der Wechselwirkung. Und die Ausbreitung der Kreuzarme, die für die Raumgestalt doch zunächst Ausweitungen nach rechts und links oder angefügte Nebenräume bedeuten, gehört nun zum adäquaten Ausdruck, der Sammelstelle der Gläubigen nicht nur, sondern auch der gespanntesten geistigen Sammlung nach zurückgelegtem Wege durch das Langhaus. Hier aber an dem Zentralpunkt der Raumkomposition, die in solchem Zusammenstoß der rhythmischen Bewegungen, vom Chorhaupt und vom Laienhaus her, ihren höchsten Sinn empfängt, d. h. aus lauter nur sukzessiv verfolgbaren Komponenten die simultan erfaßbare Einheit gewinnt, hier kommt auch der Übergang aus der Ortsbewegung von allen Seiten und aus der Objektivierung tastbarer Werte in

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zugleich sichtbarer Gliederung der plastischen Körper zur rein schauenden Bewegung der Blicke zustande, und endlich die Möglichkeit ausschließlich optischer Auffassung, – sei es, daß sich unten vor dem Hochaltar bei ruhiger Vertiefung ins Allerheiligste die Beharrung einstellt, oder daß die Blicke des Andächtigen sich droben im körperlich unerreichbaren Idealraum des Lichtgadens verlieren, den gewohnten Drang des Alltags nach Greifbarkeit aller Dinge verlernen und zur Versenkung in den Anblick des Fernbildes übergehen. Genug, hier ist die einzige Stätte, wo im entwickelten gotischen Kathedralbau der vorwärtsdrängende Verfolg der Tiefenachse zurückstaut und aufhört, alle Glieder in rhythmischem Gewoge als transitorische Reizkomplexe zu erleben, um statt dessen im umfassenden Gesamtbilde der abschließenden Ansicht auszuruhen. Das ist auch die Geburtsstätte der nachfolgenden Bestrebungen zum Wandel des Kirchenbaus und zur Vereinheitlichung eines Gesamtraumes an Stelle der vierteiligen Raumkomposition. Denn hier erwächst das Verständnis der zentralen Perspektive und das Bedürfnis eines Flächenbildes, die wir als »male rische« Tendenz auch inmitten der architektonischen Raumgestaltung charakterisieren dürfen 7. Bei diesem Einblick in den natürlichen Zusammenhang der architektonischen Schöpfung mit der Tastregion des menschlichen Körpers und seinem motorischen Apparat mag es vorerst sein Bewenden haben. Damit sind bereits die Grundlagen jeder weiteren Ausführung ins Einzelne, wie der folgenden Kapitel über den Außenbau und den Städtebau, vorgezeichnet. Sie bieten nicht allein den Schlüssel zur vergangenen Entwicklungsgeschichte der Architektur, sondern auch zum lebendigen Schaffen der Gegenwart, das um so fruchtbarer ausfallen wird, je frischer sich das Gefühl für diesen Zusammenhang mit dem Menschenkörper erneuert.

7 Ernst von Aster hat a. a. O. [siehe Fn. 4], wie es scheint ohne Kenntnis meiner Schriften, die Natur der perspektivischen Auffassung einer Flächenzeichnung im räumlichen Sinne als allein dadurch bedingt nachgewiesen, daß wir eine Linie sukzessiv ablesen, d. h. als Richtung von vorn nach hinten oder umgekehrt von hinten nach vorn vollziehen. Damit ist ganz unabhängig, von völlig anderen Erwägungen aus die Richtigkeit und Notwendigkeit meiner Lehre von der architektonischen Raumgestaltung bewiesen. Nur reicht eben die Beschränkung auf die Gesichtswahrnehmungen allein ohne Rücksicht auf ihre Weiterwirkung in die Tastregion nicht aus, um bis zum Lebensprinzip der Raumbildung selber vorzudringen, oder auch nur die perspektivische Auffassung einer planimetrischen Figur als räumliches Erlebnis zu erklären.

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Vorwort. Dieses kleine Bändchen enthält gewissermaßen Prolegomena zu einem künftig zu schreibenden System der Ästhetik. Denn das, was als letzte Synthese aus einer Betrachtung der ästhetisch wirksamen Faktoren in den einzelnen Künsten erwachsen sollte und durch eine solche Betrachtung erst in allen Teilen sicher begründet werden kann, soll hier vorweggenommen werden. So ist es mehr ein Wegweiser als ein abschließendes Resultat, eine Anweisung, sich bei allen Einzelheiten der Kunstbetrachtung oder ästhetischer Erlebnisse der Richtung auf das ästhetisch Wesentliche bewußt zu bleiben und im Urteil auch das eigentlich Ästhetische zu treffen, nicht aber alles mögliche, was sich sonst über Kunst und verwandte Dinge sagen läßt. Damit scheidet in diesem System der Ästhetik auch von vornherein alles aus, was der allgemeinen Psychologie oder Physiologie oder der Soziologie oder Ethnologie angehört. Weil sich diese Betrachtungen zuweilen an denselben Dingen betätigen, die auch ästhetisch angesehen werden können, nennen sie sich fälschlich soziologische oder psychologische oder physiologische Ästhetik. Ja wir gehen so weit, auch von der Psychologie des Kunstschaffens hier ganz abzusehen, weil sie durchaus einer allgemeinen Psychologie des Schaffens oder der geistigen Produktion überhaupt angehört, und zur Ästhetik keine andere Beziehung hat, als durch einen Inhalt, der in seiner ästhetischen Eigentümlichkeit auch unabhängig von den hervorbringenden Kräften und Prozessen, d. h. als Eindruck oder ästhetisches Erlebnis erkannt wird. Der knappe Raum, der diesem vorbereitenden System der Ästhetik vergönnt ist, gebietet aber auch, daß alle Fragen möglichst aus der Diskussion ausgeschieden werden, die nur die Ästhetiker von Fach angehen und nicht in pleno erörtert zu werden verdienen; dahin gehören alle Fragen vom Verhältnis des Ausdrucks zum Ausgedrückten, vom Symbol zum Symbolisierten. Für die Diskussion solcher Fragen ist Dessoirs »Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft« (Stuttgart, Ferdinand Enke) heute das geeignete Organ gegeben. Dennoch möchte das hier gebotene System der Ästhetik in keinem anderen Sinne populär sein, als es jedes philosophische System sein muß, das ein Gebiet – nicht der Wissenschaft, sondern einer allgemeinen menschlichen Betätigung, eines geistigen Verhaltens, wie es von jedem Menschen gefolgt wird, auf begriffliche Formeln bringen und im ganzen überschauen möchte. Auch würde man denen unrecht tun, die aus instinktiver Übung und ständiger Praxis heraus zu begrifflicher Klarheit und Einsicht streben, wenn man ihnen nur leichte Oberflächlichkeiten bieten wollte, statt eines strengen gedanklichen

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Zusammenhanges, für den sie die empirischen Erfahrungen ja selber mitbringen. So kommt andererseits Beschränkung auf knappen Raum und die Notwendigkeit, sich kurz zu fassen, der Systematik zugute. Es kann und soll hier etwas Ganzes gegeben werden, in dem der innere Zusammenhang stärker sein muß als die äußere Begründung. Ich habe versucht, mit dieser systematischen Konsequenz und strengen Zusammenfassung von Erfahrungen, die sich im Umgang mit den verschiedensten Gebieten der Kunst ergeben haben, etwas Eigenes und Neues zu geben, soweit sich etwas Neues auf einem Gebiete sagen läßt, das von allen Seiten bearbeitet ist und seine Wahrheiten unter verschiedensten Gesichtswinkeln entschleiert hat. Fremde Ansichten sind deshalb benutzt, nicht um sie zu widerlegen oder zu Hilfe zu rufen, sondern um eine partielle Wahrheit an die Stelle eines Systems zu stellen, wo sie den Zusammenhang des Ganzen stützt und eingeschränkt besser zur Geltung kommt als da, wo sie alles erklären möchte. Von einer Einführung in die Probleme der ästhetischen Forschung und von der Angabe der Literatur konnte abgesehen werden. Darüber orientiert [Ernst] Meumann, [Einführung in die] Ästhetik der Gegenwart (Leipzig, Quelle und Meyer [1908]). Nur möchte ich vor Meumanns Überschätzung der experimentellen und Unterschätzung der systematischen Ästhetik warnen. Wenn jemand wünscht, in der Richtung, die dieses eigene System angibt, zur Betrachtung spezieller Probleme geführt zu werden, so muß ich ihn notgedrungen auf eigene Schriften verweisen, vielleicht mit dem Erfolg, daß diejenigen, die bei dem heutigen Mißtrauen gegen alle Systematik sich vergewissern möchten, ob sie hier nicht eine abstrakte Konstruktion vor sich haben, dadurch beruhigt werden. In Betracht kommen: Das roman tische Naturgefühl ([in:] Zukunft [Bd. 34] 1901 [S. 546–550). Das Problem des Tragischen (Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik. Bd. 117 [(1901), S. 231–250], 118 [(1901), S. 89–107]). Das Symbol (Berliner Dissertation 1902 [Gräfenhainichen 1902]). Architektur als Raumkunst ([Die] Rheinlande 1905 [S. 293–296]). Rembrandts Radierungen (Berlin, Bruno Cassirer 1906). Individualismus und Ästhetik (Zeitschrift für Ästhetik [und allgemeine Kunstwissenschaft]. Bd. I. [(1906), S. 312–322]). Der Impressionismus in Leben und Kunst (Köln, M. Dumont-Schaubergsche Buchhandlung 1907). Ästhetik der Landschaft ([Die] Rheinlande 1908 [S. 90–93]). Zeichnende Künste und Photographie ([Die] Rheinlande 1911 [S. 30–33]). Für den aber, der in der Gegensätzlichkeit der Meinungen sich einen selbständigen Standpunkt erringen möchte, nenne ich von den modernen Ästhetiken, die auch ein systematisches Ganzes geben, diejenigen, die ich für die wichtigsten halte, und präzisiere zugleich meinen Standpunkt ihnen gegenüber. [Max] Dessoir, Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft (Stuttgart, Ferdinand Enke 1906). [Auszugsweise in dieser Ausgabe S. 3 –25.] In diesem Buche wird man reichste Anregung finden, weil es an Erfahrungen und Ausblicken am vielseitigsten ist. Der Verfasser ist – auch in allen speziell modernen Fragen – am besten versiert, immer spürt man ein lebendiges Verhältnis zu den ästhetischen Tatsachen. Aber er ist auch von einer weltmännischen Skepsis, die nicht zu dem

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kommen läßt, zu dem mancher zu gelangen wünscht, zu einer festen, entschiedenen Ansicht und zusammenhängenden Begründung. Diese wird man finden bei [Theodor] Lipps, Ästhetik. Psycholog ie des Schönen und der Kunst ([2 Teile in 2 Bden.] Hamburg und Leipzig. Leopold Voß [1903–1906]), der den einseitigen, gar nicht das Wesentliche des Ästhetischen betreffenden Gesichtspunkt der Einfühlung mit feuriger Dialektik durchführt und, anstatt die Tatsachen zu erklären, den Dingen einen ästhetischen Charakter aufnötigt, ihn in sie hineindeutet, auch wo sie ihn an sich gar nicht haben. Es ist das ein Verfahren, das dem Dichterischen ähnelt, ein Phantasieprodukt, das aber ganz nach der geistig-dialektischen Seite liegt. Die Anregung, die von diesem glänzenden Werke ausgeht, ist selbst eine ästhetische, weniger eine Erklärung des Ästhetischen. Ähnlich [Johannes] Volkelt, System der Ästhetik ([insgesamt 3 Bde.] München C.H. Becksche Verlagsbuchhandlung [1905– 1914]). Bei ihm herrscht derselbe Gesichtspunkt der Einfühlung, aber weniger nach Seite der Deutung und Dialektik, als des Gefühls, das zuweilen emphatisch den Dingen andeklamiert wird. So findet man auch hier mehr ästhetisch Interpretation im einzelnen, poetische Gefühlsseligkeit als Schärfe der Begriffe. Dazu kommt ein ungeheures Tatsachen- und Beispielmaterial, dessen man nicht recht froh wird, weil es nicht systematisch gebändigt ist. Wenn Ästhetik oft als eine frauenzimmerliche Sache bewertet wird, so ist eine solche gefühlige Art, Ästhetik zu treiben, mit daran schuld. Ganz logisch und streng begrifflich sind [Stephan] Witaseks Gr undzüge der allgemeinen Ästhetik (Leipzig, Joh[ann] Ambr[osius] Barth 1904), aber leider nicht rein aus den ästhetischen Erlebnissen heraus gewonnen, sondern auf einer rationalisierten Psychologie aufgebaut, die von Brentano den Schematismus des Seelenlebens als eines Systems von gegebenen Empfindungen und seelischen, an den Empfindungen sich betätigenden Funktionen übernimmt. Diese Ästhetik ist wesentlich eine Ästhetik für Fachleute. Dagegen möchte ich die Allgemeine Ästhetik von Jonas Cohn (Leipzig, Wilhelm Engelmann 1901) am meisten empfehlen, obwohl auch sie sich auf einer bestimmten Philosophie der Werte aufbaut, die manche Probleme unnötig kompliziert und verschiebt. Aber Jonas Cohn geht entschieden zunächst auf das Ganze des ästhetischen Verhaltens, und erst von der Wesensbestimmung des ästhetischen Gebietes aus betrachtet er die spezielleren Tatsachen ästhetischer Erfahrungen in einer nicht sehr originellen, aber sehr verständigen Weise. Mit dieser Ästhetik erkläre ich mich selbst in vielen Dingen einverstanden. Würde ich mich mit ihr identifizieren, wäre es nicht nötig gewesen, dieses System der Ästhetik zu publizieren. Dr. Richard Hamann.

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I. Das Wesen des ästhetischen Erlebnisses. A. Ästhetik und Kunst. Die Betrachtungen über das Wesen des ästhetischen Verhaltens des Menschen knüpfen fast ausnahmslos an Betrachtungen über das Wesen der Kunst an, stellen zum mindesten die Kunstwerke in den Mittelpunkt der ästhetischen Theorie, ja es gibt Ästhetiker, die das sogenannte Naturschöne überhaupt nicht als ästhetisches Objekt anerkennen oder, wo es ein ästhetisches Erlebnis vermittelt, behaupten, daß es als Kunstwerk gedeutet würde. So kommen Ästhetiker aus ganz heterogener Richtung, Hegel der Idealist und Konrad Lange der Naturalist zu demselben Resultat: Das Schöne existiert nur in der Kunst. Die einen, die als Schönheit das Offenbarwerden der Idee in der Erscheinung erklären, können diese Idee in der Zufälligkeit und dem ungereinigten Charakter der Wirklichkeit nicht wiederfinden. Die andern, die behaupten, alle Kunst sei Nachahmung, und der Genuß an der Kunst sei die Freude an der Illusion der gelungenen Nachbildung, können in dem Vorbild der Nachahmung nichts Illusionäres, also auch nichts Ästhetisches entdecken, es sei denn, das Naturobjekt sehe aus wie Kunst und wirke dadurch illusionär. Dennoch ist es eine Lebensfrage der Ästhetik, das Wesen des Ästhetischen vom Wesen der Kunst zu trennen, und erst, wenn das Wesen des ästhetischen Verhaltens in seiner Selbständigkeit erkannt ist, zu begreifen, welche besonders engen Beziehungen zwischen Ästhetik und Kunst bestehen, ohne daß das Wesen der einen in dem der anderen aufginge. Denn daß es nicht so ist, lehrt nicht nur die ästhetische Freude an der Natur, sondern auch die Einsicht in das Wesen der illustrativen Kunst.

1. Illustration.

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Ohne Einblick in die Eigenart der Illustration bleibt ein bedeutender Zweig des Kunstschaffens der Menschheit verkannt und ist beständig in Gefahr, von einem falschen oder schiefen Gesichtspunkt aus beurteilt zu werden, dem ästhetischen. Folgendes Beispiel möge das Wesen der Illustration verdeutlichen: Eine Justizkommission hat einen Einbruch zu beurteilen und ist sich theoretisch, d. h. begrifflich über Art und Ausführung der verbrecherischen Tat klar. Dennoch stellt sich als wünschenswert heraus, ein deutliches Bild der Tat zu erlangen, sich von der Möglichkeit des begrifflich Fixierten zu überzeugen. Die Kommission begibt sich also an den Tatort und läßt von einigen geschickten Personen den Einbruch spielen. Dabei verfolgt die Kommission dieses Spiel, diese Vorstellung mit Interesse, aber niemand wird das ein ästhetisches Interesse nennen. Es ist ein theoretisches und praktisches. Es mögen sich auch Leute einfinden, die von der Sache noch nichts wissen. Ihr Interesse äußert sich dann wohl so, daß sie fragen, was hat das zu bedeuten, daß sie Namen und Begriffe für das Geschaute verlangen. Wie

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diese letzteren verhalten sich auch alle Menschen, die auf einem hohen Berg die Rundsicht in der Weise »genießen«, daß sie bei den einzelnen Dörfern, die sie erblicken, sich auf den Namen bestinnen oder ihn erfragen und lernen, so daß sie sich also orientieren und ein topographisches Wissen einsammeln. Auch sie genießen nicht ästhetisch. Wird dagegen diese Landschaft interessiert angeschaut, so aber, daß Name Schall und Rauch bleiben, und ein lernen und Behalten dabei nicht in Frage kommt, so rückt die Landschaft in den Kreis ästhetischer Objekte. Ebenso jene Kriminalillustration, wenn sie in einem Kinematographentheater einer schaulustigen Menge vorgeführt wird. Die Beispiele, die wir anführten, hatte noch nichts mit Kunst zu tun, obwohl man bei der Kriminalvorstellung schon einige Kunstfertigkeit, etwas Schauspielertalent voraussetzen wird, wenn nicht gar dichterisch kombinierende und ergänzende Phantasie. Das aber, was sie uns dartun, die unästhetische illustrative Bedeutung des Betrachteten, findet sich wieder in einem großen, vielleicht dem bedeutendsten Gebiet der bildenden, aber auch der übrigen Kunst. Alle religiöse Kunst ist illustrativ, dazu geschaffen, daß dem religiösen Gefühl der Gegenstand seiner Verehrung und Anbetung möglichst nahe sei, und daß das Ungewisse und Unvorstellbare eine greifbare Wirklichkeit erhalte, an die sich das Gemüt mit seinen Hoffnungen und Wünschen wenden kann. Die ganze mittelalterliche Kunst übergibt den Reichtum ihrer Beziehungen doch nur dem, der eingeweiht ist in die Geschichte ihres Inhaltes, so daß er die Namen und Begriffe für sie hat, oder der begierig nach ihnen fragt, um sich ins richtige Verhältnis zu ihr zu setzen. Wenn diese Bilder dann demjenigen, der voraussetzungslos an sie herantritt, leer und abstrakt oder gekünstelt vorkommen und ganz allgemein die Forderung erhoben wird, es dürfe im Bilde nur das geschildert werden, was »aus sich heraus« verständlich sei, so dürfen die Vertreter jener Kunst umgekehrt sagen: Euch, die ihr mit profanen ästhetischen Gelüsten unsere Kirchen betretet, sollte man wie die Wechsler mit Peitschen aus dem Tempel treiben, geht in eure Museen und Theater, wenn ihr »genießen« wollt, unsere Kirchen sind nicht zum ästhetischen Genuß sondern zur Erbauung da, und unsere Bilder sind dem Eingeweihten und Gläubigen ganz verständlich. Ja sie können noch weiter gehen und sagen, die Kunst ist im Innersten verderbt, wenn sie an heilige Stätten Bilder hinsetzt, die den Geist vom Heiligen ablenken. Von diesem Standpunkt kann auf die große Wendung der Kunst, die sich beim Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit vollzog, mit Groll und Verachtung geblickt werden, weil damit die Selbstverständlichkeit und die Befriedigung der Schaulust in die hübschen und bunten Bilder eingezogen sind, der religiöse Gehalt aber profaniert wurde, Ebenso kann man denen, die an einem Heiligenbilde – das den größten Teil der Betrachter langweilt – herum rechnen, um die Schönheit der Farbe und Komposition mit allen Mitteln der Wortkunst zu preisen, vorwerfen, daß sie damit alles Ästhetische sehr gut getroffen hätten nur nicht, daß hier eine Madonna, ein Heiliger verehrt werden will. Eins geht also aus alledem hervor, daß, ob etwas ästhetisch ist oder nicht, nicht durch das Objekt und seine Pracht, auch nicht dadurch, daß es ein Kunstwerk ist, entschieden wird, sondern durch bestimmte Beziehungen, in denen dieses Kunstwerk zu uns steht. Ebenso steht

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es fest, daß es eine illustrative Kunst gibt, der gegenüber der ästhetische Gesichtspunkt in dreifacher Beziehung versagt, einmal indem das ästhetische Bedürfnis in vielen Fällen von solchen Kunstwerken nicht befriedigt wird und dennoch diese Kunstwerke ihren Zweck an ihren Platze voll erfüllen, indem ferner eine Behandlung der Kunstwerke nach ästhetischen Gesichtspunkten von seiten des Künstlers wie des betrachtenden deplaciert sein kann und das Wesentliche, die illustrative Bedeutung, vernichtet, und indem schließlich einer ästhetischen Betrachtung und Interpretation, wo sie möglich ist wie in vielen Fällen, die modi fizier te Bedeutung dieser ästhetischen Momente für das wesentliche dieser Kunst verkannt bleibt. Illustrative Kunst ist das geistliche Schauspiel, das das Leiden und Sterben des Herrn Jesu dem Volke recht eindringlich und bejammernswürdig vorführt. Illustrationen sind ferner alle jenen bildlichen Beigaben in gedruckten Büchern, wie die großen und kleinen Passionen, die Topographien und Holzschnitte geschichtlicher Chroniken. Illustrationen sind letzten Endes alle geschichtlichen Bilder, alle Ehrenstatuen und Porträts, die »zum Gedächtnis«, zum »Andenken« geschaffen sind, um dem blassen und immer blässer werdenden Gedanken eine anschauliche Gegenwart als Rückhalt der Erinnerung zu geben, einer Erinnerung zu geben, einer Erinnerung, die selber nicht mit ästhetischen, sondern mit ethischen Banden an das dargestellte Objekt geknüpft ist.

2. Kultus und Demonstration.

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Innerhalb der illustrativen Kunst könne wir zwei Gruppen unterscheiden, je nachdem sie dem ethischen oder dem theoretischen Bedürfnis des Menschen entgegenkommt. im ersten Falle handelt es sich um Kultus, dem die illustrative Kunst dient, indem die dem Anbetungs- und Verehrungsbedürfnis ein der Anschauung entrücktes Objekt in greifbarer Nähe und in anschaulicher Gestalt vor Augen stellt. Bezieht sich dieser Kultus auf eine öffentliche Angelegenheit, so entsteht daraus die monumentale Kunst, wie sie in den Denkmälern der religiösen Kunst, aber auch in jedem profanen Denkmal enthalten ist. Monument, Denkmal, bedeutet ja Erinnerungsstütze, Versinnlichung des leiblich Entrückten, nur noch der Phantasie Verbliebenen. Bezieht sie sich auf das private Leben eines einzelnen, so entsteht die Form des Por träts, eine künstlerische Aufgabe, die die größten Künstler aller Zeiten beschäftigt hat und dennoch mit Ästhetik gar nichts zu tun haben braucht. Daß diese dem Kultus geweihte Kunst nicht auf die bildende Kunst beschränkt ist, lehrt die religiöse und geschichtliche Dichtung des Mittelalters, der Heldengesang, das Heldenepos, wie ja die Geschichte ursprünglich und zum Teil auch jetzt noch nichts anderes ist wie die in Bildern niedergelegte Götter-, Helden und Menschenverehrung, eine literarische Ahnengalerie. Dadurch bestimmt sich auch das Wesen der Geschichte, der Biographie, als außer halb der Ästhetik liegend selbst dort, wo Poesie an Eindringlichkeit und Schwung der Darstellung nichts nachgibt.

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Die Beziehung zum Kultus erklärt auch, warum die monumentalen Darstellungen und das Porträt eine künstlerische Aufgabe bedeuten und nicht mit gutem Erfolg der mechanischen Reproduktion anvertraut werden können. Weil es sich in allen diesen Fällen nicht um eine objektive, mechanischer Messung oder Reproduktion zugängliche Wirklichkeit handelt, sondern um ein Ideal, eine Wirklichkeit, von der wir nicht einen Begriff, sondern eine Idee haben, die wir in der sinnlichen Erscheinung wiederfinden wollen. Wir wollen nicht den Menschen, den wir gelegentlich sagen, sondern den, den wir lieben, nicht den Helden, wie er seinem Kammerdiener aussieht, sondern wie er uns in den Momenten der höchsten Begeisterung erschien, nicht den Heiligen, wie er Bürger unter Bürgern auf Erden wandelte, sondern den Übermenschen, der sich seiner göttlichen Mission bewußt war. So wie er uns als Ideal erschien, als wir ihm im Leben begegneten, verklärt, erhaben, so muß der Künstler, der uns ein Abbild seiner Person herstellen soll, fähig sein, sich eine adäquate Idee von ihm zu machen, um auch im Abbild ein Ideal, eine Idee in sinnlicher Erscheinung herzustellen. Die Photographie vermag wohl ästhetisch wirksame Bilder zu schaffen, aber die persönliche Auffassung des Kultbedürfnisses liegt ihr fern. Deshalb ist niemand mit ihr zufrieden. Auf diese illustrative Kunst des Kultus, Monument wie Porträt, paßt deshalb ganz die idealistische Ästhetik Hegels und seiner Nachfolger, daß das Kunstwerk die Idee in der Er scheinung dazustellen habe. Denn diese Forderung bedeutet, daß einmal alle Kunst illustrativ sei, nicht Bild, sondern Abbild, daß sie ein Vorbild habe, aber nicht in der Natur, sondern in der Idee von etwas, zu dem wir in ethischem oder religiösem Konnex stehen. Es bedeutet ferner, daß die Idee keine Phantasieschöpfung ist, sondern etwas, von dessen Wirklichkeit wir eine Gewißheit, wenn auch keine deutliche Vorstellung haben, die uns ja das Kunstwerk erst schaffen soll. Das religiös praktische, das ethische Interesse schafft und diese Gewißheit, wie alle Wirklichkeitsgewißheit in letzter Linie auf praktischen Motiven beruht. Es ist nun auch kein Zufall, daß diese idealistische Theorie der Kunst gleichzeitig mit der Kunst in Deutschland entstand, die sich in den Dienst der Religion und der ethischen Ideen stellte, der Kunst der Nazarener. Hegel ist der Zeit- und Gesinnungsgenosse von Peter Cornelius. Mimesis. Da alle illustrative Kunst voraussetzt, daß einem Vorbild das Abbild oder einer Theorie die Erscheinung entspricht, so kann jede Theorie der illustrativen Kunst sich den Begriff der Mimesis, der Nachahmung oder besser Nachbildung zu eigen machen, und wir verstehen, daß gerade idealistische Kulturen wie die griechische und ein Philosoph wie Plato oder die klassizistische Kultur Ludwigs XIV. und ein Kritiker wie Boileau den Begriff der Nachahmung und der Wahrheit in den Vordergrund der Ästhetik stellen konnten. Diese Theorie besteht zu recht, hat aber mit Ästhetik nichts zu tun. Hier, wo die monumentale Kunst, die Verherrlichung der Religion, des Fürstenhauses, der nationalen Vergangenheit das Kunstschaffen bedingte, mußte das Kunstwerk in der Tat wahr sein, d. h. jener Gewißheit des Ideals, das in den Verehrern jener Institutionen lebte, entsprechen. Der Begriff der Nachahmung, besser der Nachbildung, ist deshalb noch kein Zeichen von Naturalismus.

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Demonstration. Es wird es erst, wenn aus Motiven der Erkenntnis oder der praktischen Bearbeitung des Lebens im Bilde eine objektive Wiedergabe der Wirklichkeit verlangt wird, die von jeder persönlichen, durch ethischen Konnex bedingten Auffassung absieht. Ein Lehrbuch der Zoologie, Abbildungen mikroskopischer Präparate, Bildnisse von Verbrechern im Steckbrief, Aufnahmen eines Hauses, das zum Verkauf angeboten ist, sind auf eine Methode angewiesen, die Zug und Zug die objektive Natur wiederzugeben, am besten zu kopieren gestattet, – und sind daher in vielen Fällen auch besser der Photographie als dem Künstler anzuvertrauen. Eine Theorie der Kunst, die also vom Kunstwerk möglichst getreue Naturnachbildung, objektive, steckbriefliche Wahrheit verlangt, fordert von ihm, daß es demonstrativ wissenschaftlich, d. h. nicht nur unästhetisch, sondern auch unkünstlerisch sei. Daß eine solche Forderung bei manchen Bildnern Berechtigung haben kann, geht aus den obengenannten Beispielen hervor. Zugleich folgt aber aus unserer ganzen Betrachtung: Der ästhetische Gesichtspunkt ist nicht der einzige, der der Kunst gerecht wird, deshalb ist aus dem Wesen der Kunst das Wesen des Ästhetischen nicht abzuleiten. Das ganze Gebiet der illustrativen Kunst ist deshalb unästhetisch, weil es das Kunstwerk nur in Beziehung und Entsprechung zu einem Wirklichen (Ideal oder Natur) bestehen läßt und in einen wissenschaftlichen oder ethisch religiösen Zusammenhang hineinstellt. Wenn gegen die religiöse oder Historien-Malerei des 19. Jahrhunderts der Vorwurf erhoben ist, sie sei unästhetisch, so kann man das von jeder religiösen Kunst zugestehen. Ein Vorwurf aber ist daraus erst abzuleiten, wann nachgewiesen ist, daß an der Stelle, wo sich das religiöse Kunstwerk befindet, ein ästhetisches am Platze sei oder umgekehrt. Ein Museum mit Heiligenbildern bleibt eine Qual. Aber eine Kirche mit ästhetisch vergnüglichen Freilichtlandschaften dürfte es für ein religiöses Gemüt ebenso sein. Ob man deshalb in der Kirche, in den Schulen, im Kasino illustrative oder ästhetische Bilder für berechtigt hält, wird davon abhängen, ob man die ethische oder die ästhetische Einwirkung für wichtiger oder an dem betreffenden Platze für berechtigter hält. Nicht aber ist über die Qualität des Kunstwerkes an sich damit schon etwas gesagt. Für die, welche alle illustrative Kunst bekämpfen, muß daran erinnert werden, daß Raffaels Disputa und Schule von Athen oder Michelangelos Schöpfungsgeschichte in der sixtinischen Kapelle ebenso zu den höchsten Kunstschöpfungen gerechnet werden wie die Dichtungen, die als Idee des menschlichen Lebens eine illustrative Tendenz verraten, die faustischen. Das Wesen des Ästhetischen führt und deshalb zu den Begriffen der ästhetischen Situation und Gelegenheit oder des ästhetischen Zustandes. Andrerseits wird man in einem Kunstwerk, das zur ästhetischen Betrachtung dargeboten wird, eine unästhetischen Tendenz erkennen, wo die Frage, was ist das, wie heißt das, nahe gelegt wird, wie z. B. in Haeckels Werk »Kunstformen der Natur« A, wo das Wissensinteresse sich einstellt, wenn auch Momente genug in jeder einzelnen Abbildung liegen mögen,

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Ernst Haeckel: Kunstformen der Natur. 2 Sammlungen in 2 Bden. Leipzig / Wien 1899–1904.

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die uns bei einem erfreulichen Betrachten verweilen lassen. Wir sagen wohl, die einzelnen Tiere sind schön, aber das Wissensbedürfnis ist damit nicht ausgeschaltet. Ist aber vielleicht mit der Erkenntnis des Schönen die Erkenntnis des Ästhetischen gegeben? B. Ästhetisch und schön. Hier können wir uns kürzer fassen. Daß das Gefallen an der Schönheit noch nicht den ästhetischen Zustand bedingt, geht aus dem Vergleich der Fälle hervor, in denen ein Mann eine schöne Frau »mit Künstleraugen« betrachtet und ein rein ästhetisches Wohlgefallen an ihr hat, und ein anderer, gerade von der Schönheit berückt, sie zu besitzen strebt, also bei dem »reinen« Wohlgefallen an der Schönheit nicht stehen bleibt oder überhaupt nicht zu einem solchen reinen Bewundern gelangt wie vor den Sternen, über deren Pracht man sich freut, die man aber nicht begehrt. Ob das, was übrig bleibt, wenn man von allem, was mehr als reine Schönheit an der Frau ist, absehen könnte, genügen würde, ein ästhetischen Erlebnis herbeizuführen, wird noch besonders zu untersuchen sein. Es sei nur daran erinnert, daß manche Statuen weiblicher Schönheit, obwohl sie doch nicht ganz auf Weiblichkeit und Menschlichkeit verzichten, also zu dem Eindruck des Schönen noch etwas hinzufügen, doch kühl anmuten, ästhetisch nicht befriedigen. Jedenfalls genügt es nicht, auf das Verhalten einer eindrucksvollen Schönheit gegenüber Schlüsse über das Wesen des Ästhetischen zu gründen und es dem Schönen gleich zu setzen. In jener »Reinheit« der Betrachtung, dem »künstlerischen« Verhalten liegt vielleicht der Schlüssel zum Wesen des Ästhetischen, und das Schöne mag zu ihm in besonderer Beziehung stehen, aber identisch sind ästhetisch und schön nicht. Vor allem läßt das Schöne als einziger Inhalt des Ästhetischen den Begriff des Ästhetischen viel zu eng werden. Es ist schon sehr erzwungen, wenn man die ergreifende Wirkung ausdrucksvoller, runzliger Gesichter schön nennt und auf die Schönheit der Seele dabei hinweist. Der Sprachgebrauch, der von einem schönen Manne in etwas verächtlichen Sinne spricht, stellt doch richtig und feinfühlig Schönheit in Gegensatz zu Charakter und Ausdruck. Wohin aber würde es führen, wenn man die Hille Bobbe von Franz Hals, dieses verlumpte und wüste Gesicht in einem wie mit Dreck und Schmutz und mit frechen Pinselstrichen hingesetzten Bilde etwas Schönes nennen wollte. Und doch ist den meisten Menschen dies Bild ein vollkommener ästhetischer Eindruck. Man mag, um sich die Freude an dem Bilde leichter zu erklären, etwas von Komik darin finden, aber Komik und Schönheit sind auf keinen Fall unter einen Hut zu bringen. Zu erklären, wie Lipps es tut, man wolle alles ästhetisch Gefallende als Schönheit bezeichnen, heißt den Knoten einfach zerhauen, statt ihn zu lösen, und Fragen abschneiden, deren Beantwortung einen wichtigen Beitrag zur Erkenntnis des Ästhetischen hinzufügt.

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C. Ästhetisches Erlebnis und Anschaulichkeit. Doch was in der illustrativen Kunst den Namen des Kunstwerkes rechtfertigte und dadurch die Beziehung zur Ästhetik nahe legte, war vor allem die sinnliche Lebhaftigkeit, die Anschaulichkeit der Darstellung. Es handelte sich ja bei der Illustration darum, eine Idee, ein Abstraktum oder eine blasse Vorstellung zu deutlicher und eindrucksvoller Anschauung zu erheben. Der Schein des Ästhetischen und auch die Möglichkeit, das, was nicht in ästhetischer Absicht geschaffen ist, ästhetisch zu betrachten, resultierte von dieser Eindrucksfähigkeit des anschaulichen Bildes. Kein Wunder, daß daher die Anschaulichkeit im Gegensatz zu gedanklicher Begrifflichkeit als ausschlaggebender Faktor hingestellt wurde. Gegen diese Anschaulichkeit scheint zunächst die Poesie zu sprechen. Hier handelt es sich ja noch um lauter Worte, d. h. Begriffe, die als solche nicht unmittelbar anschaulich wirken, wenn sie auch eine sinnliche Gegenwart durch den Klang oder das Schriftbild uns vorführen. Das was wir in ihnen begreifen sollen, ist jedenfalls in dieser sinnlichen Gegenwart nicht enthalten, sondern durch sie nur nahegelegt. Dennoch kann man auch hier in übertragenem Sinne von einer anschaulichen und unanschaulichen Schilderung reden, wenn im ersten Falle der Dichter oder Erzähler die konkreten Züge eines Ereignisses in lebhafter Darstellung herausgreift, ein anderesmal ein Chronist in allgemeinen trockenen Worten nur das Fazit des Gesamtereignisses berichtet. Je konkreter, lebendiger und die Vorstellung des unmittelbaren Dabeiseins erweckend, desto ästhetischer, künstlerischer wäre es. Aber auch das trifft nicht zu. In der Tat kann die Kunst vermittelst der Sprache ein abstrakt überliefertes Ereignis, eine begrifflich bekannte Tatsache veranschaulichen, besonders wenn, wie in der Geschichte oder in der religiösen Überlieferung die Reden der Helden – vielleicht nicht wörtlich, sondern dem idealen Porträt entsprechend – überliefert sind. Aber es bleibt dann eben doch Geschichte, Predigt, monumentale und illustrative Kunst, wie der Heldensang, die Bibel. Eine monumentale, historische Dichtkunst ist noch nicht ästhetisch, weil sie Kunst und anschaulich ist. Behauptet man aber, sie sei noch nicht anschaulich genug, weil sich die Anschauung auf einen Begriff beziehe, etwas Bewußtes oder etwas, was man behalten, worüber man sich noch informieren will, so trifft auch das nicht ganz den Gegensatz von ästhetisch und unästhetisch. Nehmen wir an, es sei ein Steckbrief hinter einem Verbrecher erlassen, eine Belohnung auf seine Ergreifung ausgesetzt und nun mit Hilfe einer genialen Wortkunst dem ahnungslosen Leser nicht nur die Person des Verbrechers und sein Name bekannt gegeben, sondern auch so anschaulich geschildert, daß ihm alles leibhaftig vor Augen steht. Dieselbe Schilderung bilde die Exposition eines Kriminalromans. In beiden Fällen wird der Leser unterrichtet und verpflichtet, etwas zu behalten, ein Begriff, der ihm später noch begegnen wird, ist ihm anschaulich illustriert. Danach ist es nicht die Anschaulichkeit, die den Steckbrief zu einem sozialpraktischen Erlebnis, dieselbe Schilderung im Roman zum Teil eines ästhetischen Erlebnisses macht. Wieder kommt es auf den ganzen Zusammenhang an, in dem das

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anschauliche Erlebnis auftritt. Die Anschaulichkeit und Abwesenheit aller Begriffe allein macht es nicht. Ja sie ist nicht einmal unumgänglich nötig. Es lassen sich aus Dichtungen Stellen genug herausholen, die nicht nur Reflexionen der dargestellten Personen enthalten – Faust, Hamlet – denn da könnte man sagen, charakterisieren sich die Personen durch sie und werden uns mit ihrer Hilfe anschaulich, sondern wo mit abstrakten, auch gar nicht sehr lebendigen Worten die Personen vom Erzähler geschildert und charakterisiert werden, ohne daß deshalb die Geschichte unästhetisch würde. Vielleicht wird sie in einigen Fällen dadurch etwas leer, unwirksam, aber nicht unästhetisch, wir haben höchstens mit Rücksicht auf die Eindruckskraft zu beachten, warum die Anschaulichkeit, obschon sie nicht für das Ästhetische nötig ist, doch besonders leicht eine ästhetische Auffassung nicht ästhetischer Momente herausfordert. Gegen die Notwendigkeit des Anschaulichen spricht aber vor allem das Geistreiche, jene Gedanken, die anregend sind, ohne daß eine difinitive Wahrheit sich in ihnen entschleiere, die nur durch die Fülle der Beziehungen, das Überraschende der logischen Verknüpfungen oder gar das Verkehrte, das nur mit dem Schein des Rechtes spielt, uns in vergnügte Stimmung versetzen. Schwerlich wird jemand, der die mit Bonmots gespickten Erzählungen oder Dramen Oskar Wildes liest, sie theoretisch oder wissenschaftlich nennen, weil das Amüsante in ihnen nicht anschaulich, sondern rein gedanklich ist. Eher sind sie hyperästhetisch. D. Das Wesen des ästhetischen Zustandes. Einige Beispiele mögen uns den Begriff des Ästhetischen näher bringen. Im Atelier von Wiertz in Brüssel ist ein Hund in einer Hundehütte an die Wand zu ebener Erde so täuschend gemalt, daß er eine Art »stummen« Portiers darstellen kann und sein Anblick und ein »cave canem« zuzurufen scheint. Der Anblick des Hundes tritt hier also in Beziehung zu unserm realen und täglichen Leben; er ist nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck, er mischt sich ein in den praktischen Zusammenhang unseres Lebens. Der Anblick ist durch und durch unästhetisch. Dagegen hilft weder etwas, daß es das Werk eines Künstlers ist, noch daß es anschaulich ist. Auch wenn wir von vornherein erkannt haben, daß es kein wirklicher Hund ist, wenn also der Hund für uns von vornherein »Schein« ist, und der Gedanke, daß er bellen und beißen könnte, eine »bewußte« Selbsttäuschung, so stört es uns, daß dieses Gebilde mit unseren augenblicklichen, im Zusammenhang unseres Tageswerkes bedingten Tun verknüpft ist. Ja indem wir sagen, der Hund ist nur Schein, nicht Wirklichkeit, ein künstlerischer Betrug, unsere Anschauung ist nur Illusion, verurteilen wir diese Darstellung, indem wir das, was wirklich und wirkend sein sollte, als nichtig erkennen. Vielleicht lachen wir darüber und finden das komisch. Wenn aber dasselbe Bild, falls es wirklich gut gemalt ist, in einem Rahmen an der Wand hängt und uns gefällt, so ist es ein ästhetisch befriedigendes Erlebnis, obwohl

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es dasselbe Objekt darstellt. Jetzt tritt es vermittelst des Rahmens aus unserem Lebenszusammenhang heraus, mischt sich nicht in unser Tun, es isolier t sich und konzentr ier t die Aufmerksamkeit ganz auf sich allein. Also nicht auf die Sache, sondern auf den Rahmen, in dem es erscheint, kommt es an, auf den Zusammenhang, in dem es auftritt. Unser Beispiel lehrt, daß der objektive Zusammenhang, die Placierung des Bildes für die ästhetische Auffassung entscheidend sein kann, wie wir schon bei der illustrativen Kunst bemerkten, daß dasselbe Bild in der Kirche und im Museum anders wirkt. Ein anderes Beispiel. Der Anblick eines Kornfeldes, eines schön gewachsenen Baumes kann auf verschiedene Betrachter ganz verschieden wirken. Ein Bauer, der nach dem Stand der Saaten sieht und in der Aussicht auf die Ernte den Nutzen überschlägt, den es bringt, stellt das Kornfeld hinein in den Zusammenhang seines tätigen, von Arbeit, Sorge und Erfolg erfüllten Lebens, und nicht anders ein Förster das Bild eines prächtig entwickelten Baumes, da seine Freude mit der Berechnung des Nutzwertes eines Waldes und mit dem Erfolge einer durch den Beruf geforderten Fürsorge zusammenhängt. Der Naturschwärmer dagegen schaut und genießt, weder besteht eine Nötigung für ihn, auf diesen Anblick zu achten, anders als in dem Anblick selbst, noch spielt dieser eine Rolle in seiner Zukunft. Losgelöst von allen Interessen seines praktischen täglichen Lebens freut er sich des Anblicks und ist vielleicht von dem roten Mohn im Korn, den Efeuranken an der Eiche entzückt, die Bauer und Förster verwünschen. Daraus geht hervor, daß es nicht darauf ankommt, on der Anblick, der sich bietet, Kunstwerk oder Natur sei, auch nicht ob er Wirklichkeit oder Bild ist, sondern auf den Lebenszusammenhang, in dem er auftritt. Und dieser Zusammenhang kann nicht allein durch objektive Zusammenhänge, sondern auch durch subjektive, schon bestehende Beziehungen bedingt sein, durch den Beruf und die dadurch erzeugten Interessen und Stimmungen. Daher wird ein religiöses Bild von einem Religiösen und Indifferenten ganz verschieden betrachtet werden. Als wir vom Schönen und seiner Beziehung zum Ästhetischen sprachen, sahen wir, daß die Schönheit vieler Objekte ein Anlaß sein kann, sie für unser Leben zu begehren, daß also Schönheit vieles in einem Sinne wertvoll macht, der nicht ästhetisch ist. Wenn wir daher von »reiner« Freude oder »reiner« Betrachtung sprachen, so enthält dieses rein erst das eigentlich ästhetische Moment der Losgelöstheit von Interessen des Lebens. Schönheit ist also etwas, das die Wahl gewisser Gegenstände zu beeinflussen vermag, ästhetisch aber erst wird, wenn diese Wahl beiseite gelassen wird. Deshalb tritt es nur nebengeordnet neben das, was mit Schönheit nicht zu tun hat, das Ausdrucksvolle. Es spielt sich auf der Straße ein ergreifendes Drama ab, nehmen wir an, eine Szene mit Selbstmordversuchen, Gefahren, Lebensrettung, Wiedererkennung, Gegnerschaft und ungleichem Erfolge von Partei und Gegenpartei. Wenn wir zufällig Zuschauer dieser Szene werden, so können wir, ohne einzuschreiten, doch so mit Urteil und Verurteilung der Personen des »Schauspiels«, somit Wunsch und Hoffnung, Bedauern und Nachdenken, was aus den

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Personen werden wird, beteiligt sein, daß unser Interesse ein durchaus ethisches ist, geleitet von der Verpflichtung, an dem Wohl und Wehe unserer Mitmenschen teilnehmen zu müssen, und von den Werturteilen, die sich uns im praktischen und täglichen Verkehr mit Menschen herausgebildet haben. Ebenso wird eine Erhebung oder Niedergeschlagenheit über den er- oder verwünschten Ausgang des Dramas zurückbleiben, die eventuell ihren Schatten über unser ganzes ferneres Dasein zu leben vermögen. Wenn wir aber mit Interesse dem Vorgang folgen, auch wohl innerlich Partei nehmen und von einer an der Handlung beteiligten Person aus das Ganze miterleben, aber im übrigen nur besorgt sind, daß uns nur gar nichts entgehe, und wenn wir dann zum Schluß befriedigt fortgehen, mit dem Bewußtsein, etwas Interessantes erlebt zu haben, was uns im übrigen nichts angeht, dann verhalten wir uns ästhetisch. Wieder also hängt es nicht von der Künstlichkeit der Szene ab, ob sie ästhetisch ist oder nicht. Denn wohl tut der objektive Zusammenhang viel zur Ästhetisierung hinzu, und eine solche Szene im Theater aufgeführt wird leichter ästhetisch wirken als auf der Straße, im »Leben«. Aber auch der Vorgang auf der Bühne kann ästhetisch oder unästhetisch betrachtet werden, denn der Bauer, der den Bösewicht auf der Szene steinigen möchte oder seinen Groll noch auf den Schauspieler überträgt, genießt das Schauspiel nicht ästhetisch. Ein Tendenzstück, das gewisse Lebensverhältnisse und Personen, die mit uns im praktischen Leben in Beziehung stehen, recht anschaulich unserer Be- und Verurteilung aussetzt, also der demonstrativen Kunst angehört, ist ebenfalls nicht ästhetisch. Es folgt aber aus dem Verhalten der Schönheit und dem Ergreifenden gegenüber, daß das ästhetische Erlebnis außer von dem objektiven Zusammenhang auch von der Empfänglichkeit oder Erzogenheit des Betrachters für ästhetische Erlebnisse abhängt. Das Wesen des ästhetischen Erlebnisses aber ist aus allen diesen Fällen klar herauszulesen. Nicht irgendein Inhalt ist in seiner gegebenen Qualität ästhetisch, sondern er wird es erst durch eine bestimmte Form des Erlebnisses, seine Beziehung zu anderen Erlebnissen, durch die Art des Auftretens in unserem durch Müssen, Gewohnheiten und Zweckzusammenhänge bestimmten Leben. Negativ ausgedrückt: Das Wesen des Ästhetischen besteht in der Beziehungslosigkeit des Erlebnisses, in der Loslösung eines Erlebnisses aus den durch Pflichten (Ber uf), Gewohnheiten, Notdürften bestimmten Lebenszusammenhängen unseres täglichen Daseins. Positiv ausgedrückt: Das Erlebnis ist ästhetisch, wenn es in sich r uhend, in sich beschlossen, nicht Mittel zum Zweck, sonder n Selbstzweck ist. Es ist das Gesetz der Isolation des Erlebnisses, das den Begriff des Ästhetischen bestimmt. Also nicht irgendein Inhalt, ein Objekt, ein Geschehnis ist ästhetisch, sondern das subjektive Erleben, und auch das Erlebnis ist nicht durch seine Qualität ästhetisch, sondern wird ästhetisch oder unästhetisch erst durch die Beziehung, bzw. die Beziehungslosigkeit, mit der es im Lebenszusammenhang des einzelnen Menschen auftritt. Erst dadurch, daß gewisse Inhalte des Erlebens und der objektiven Welt

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eine solche Isolation leichter ermöglichen und nahelegen, als andere, daß gewisse objektive Verhältnisse dieses subjektive herbeizuführen geeignet sind, kann von ästhetischen Objekten und Eigenschaften, ästhetischen Gelegenheiten (Placierungen wie Thater, Museum) gesprochen werden und neben die subjektive Methode eine (scheinbar) objektive treten. Innerhalb der subjektiven Methode beanspruchen besonderen Raum die sozial- und individualpsychologische, die das Verhältnis von Gesellschaftsklassen und individuellen Anlagen zu ästhetischer Auffassung untersuchen. Alle aber müssen orientiert sein und sind es auch unbewußt an der Form des ästhetischen Erlebnisses, seiner Stellung im Lebenszusammenhang. Insofern bildet die Grundlage aller Ästhetik die Psychologie und ihr Grundbegriff, das Erlebnis. Da es sich aber nicht um die Konstatierung dessen handelt, was jemand zufällig alles im Bewußtsein hat bei einem Erlebnis, das ästhetisch genannt wird, sondern um das Wesen dieser Erlebnisart im Zusammenhang des ganzen Erlebens, ferner um die Beziehung objektiver Kulturgüter auf diese Erlebnisart und die Beziehung dieser zur ganzen Kultur, also um lauter begrifflich festgelegte Beziehungen, so handelt es sich um eine teleologische Betrachtung, Feststellung von Beziehungen mit der Richtung auf eine bestimmte Art des Erlebens, d. h. um Geisteswissenschaft, und um Psychologie nur als Grundlage der Geisteswissenschaft. [. . .]

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II. Die Modifikation des ästhetischen Erlebnisses. A. Erlebniskunst.

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Die Isolation des ästhetischen Erlebnisses bedingt, daß ganz anderes als im Zusammenhang des zwecklichen Handelns oder theoretischen Forschens das in dem Rahmen der ästhetischen Gelegenheit auftretende Ereignis die Aufmerksamkeit auf sich lenkt, und die einzelnen Faktoren viel intensiver an dem Gesamteindruck beteiligt sind als im gewöhnlichen Leben. Wie in dieser konzentrierenden und intensivierenden ästhetischen Eindringlichkeit des ästhetischen Objektes ein Ersatz für mangelnde Anknüpfungspunkte an den Lebenszusammenhang gegeben waren, so drängt auch das ästhetische Verhalten darauf hin, selber das Objekt intensiver zu erfassen und sich darauf zu konzentrieren. Man denke nur daran, wie durch den Rahmen eines Bildes die Farben leuchtender werden, weil sie den Blick, die Aufmerksamkeit stärker auf sich konzentrieren, oder wie die verweilende ästhetische Betrachtung der Natur statt des neugierigen Beobachtens einzelner Objekte ein Bild im ganzen festhält, in dem jetzt dort, wo wir vorher nur räumliche, den Lebenszusammenhangkonstituierende Verhältnisse erforschten, Farben und Lichter glanzvoll hervortreten. So steht der Inhalt des ästhetischen Erlebnisses im Vordergrund des Bewußtseins, alle Aufmerksamkeit konzentriert sich auf dasselbe, und die Schilderungen treffen das Wesen des Ästhetischen am besten, die behaupten, im ästhetischen Erlebnis vergessen wir alles um uns herum und uns selbst, wir verlieren,

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versenken uns darin, es fesselt und bezwingt uns, es bringt alle anderen Interessen zum Schweigen, entrückt uns in eine andere Welt. Wenn es aber die Aufgabe der Kunst ist, solche suggestiven Erlebnisse für uns zu schaffen, so ist die Erlebniskunst sicherlich nicht die einzige Kunst, und es gibt neben ihr eine Kunst, die nicht die Aufgabe hat, uns aus dem Leben herauszureißen, sondern erst recht an dieses zu fesseln, die Kunst, die das Leben verschönt, die dekorative Kunst. Worin besteht das Wesen der dekorativen Kunst, und vor allem, was hat es mit Ästhetik zu tun? B. Dekorative Kunst. Eine Untersuchung der darin beschlossen liegenden Probleme muß zunächst davon absehen, daß die Ausschmückung unserer Umgebung und des Lebens darin bestehen kann, uns mit ästhetischen Objekten zu umgeben, um für die kleinen Pausen der Arbeit, die momentanen Gelegenheiten eine Ausfüllung darzubieten, etwa eine schöne Landschaft, die wir bei dem Aufsehen von der Arbeit erblicken und an der wir uns »tätig erholen«, erquicken und ebenso erfrischen, wie bei dem Blicj aus dem Fenster auf grüne Bäume und Wiesen. Das Problematische im Wesen des rein Dekorativen liegt darin, daß es im stärksten Gegensatz zur ästhetischen Isolation zu stehen scheint, nicht Selbstzweck ist. Wir nennen doch Dekoration etwas, das nicht für sich selbst Gegenstand der Betrachtung oder des Interesses sein soll, sondern nur an einem größeren Ganzen mitbeachtet wird, sich also, soll es dekorativ bleiben, diesem unterordnen muß. In der Tat empfinden wir heute wieder sehr stark das Mißverhältnis gewisser Dekorationen zu ihrem Gegenstand, wenn etwa an Stühlen ganze Statuen dargestellt sind, die für sich betrachtet werden wollen, oder auf Tellern ganze Landschaften sich unseren Blicken bieten. Wir finden diese Erlebniskunstwerke an dieser Stelle deplaziert. Nun kann man er widern, es sei schon wichtig, daß die Dekoration sich nach dem Ganzen des dekorierten Gegenstandes richten müsse, aber durch diese Hinzufügung des Schmuckes, diese Intensivierung wird eben der Gegenstand als ganzer ein Erlebniskunstwerk. Auch da ist nicht zu bestreiten, daß er es werden kann, wie man ja auch eine schöne Vase auf einen Sockel stellt, einen Teller an eine Wand hängt. Aber jeder empfindet, daß, je mehr sie sich dort für sich zur Geltung bringen, sie um so mehr aufhören, dekorativ zu sein. Das Dekorative ist der Feind jedes Rahmens, und ein schöner Tisch oder Stuhl in einem Zimmer im Rahmen untergebracht, wären etwas Lächerliches. Das Dekorative drängt gerade auf Unterordnung, auf Einordnung, nicht auf Selbständigkeit des Eindruckes. Deshalb werden sich dekorativ empfindende Zeiten nicht darauf beschränken, nur Dekoration dem einzelnen Gegenstand unterzuordnen, und selbst noch dem Material anzupassen, sondern diesen Gegenstand in Beziehung zum Zimmer zu setzen, das Zimmer als Glied des Hauses, das Haus als Glied eines Platzes und einer Straße, Platz und Straße im Zusammenhang des Städtebaues, und diesen noch wieder in Einklang mit der Landschaft zu behandeln, so daß alles miteinander verknüpft ist, und der

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Zusammenhang des Lebens erleichtert wird durch die ästhetische Ordnung und gegenseitige Anpassung aller einzelnen Gegenstände. Schon in dieser Beziehung wird es klar, wie Architektur zur dekorativen Kunst gehört. So wie die dekorative Kunst der Feind aller objektiven Isolierung ist, ist sie es auch der subjektiven, überall nämlich dort, wo der dekorierte Gegenstand einem Gebrauchszweck genügen soll. Wir können eine Dekoration doch unmöglich als passend bezeichnen, die bewirkt, daß wir ein Glas, aus dem wir trinken, nur ansehen, ein Zimmer oder ein Haus gerne betrachten, aber nicht in ihm wohnen mögen, und das gibt es öfter als man denkt. Auch diese Zweckbestimmung charakterisiert die architektonische Schöpfung, die deshalb den größten Gegensatz gegen die Erlebniskunst »Musik« in dieser Hinsicht bedeutet. Das Dekorative ordnet sich einem Lebenszusammenhang ein, dessen Zwecke und Aufgaben durchaus das Interesse beherrschen. Darum stellt sich auch die Dekoration durchaus in Gegensatz zu der mit der Isolation in Verbindung stehenden Intensivierung und Konzentrierung. Wir empfinden alles Laute, Schreiende, sich Vordrängende in der Dekoration als unpassend, als protzig und reden von sinnloser Häufung des Schmuckes, weil sie gegen den Sinn des Dekorativen verstößt. Deshalb gehört es zum Wesen des Dekorativen, sich auch dem Zweckzusammenhang des Lebens ein- und unterzuordnen, nicht im Vordergrund der Aufmerksamkeit zu stehen, sondern nur indirekt betrachtet zu werden, gar nicht aufzufallen oder mehr aufzufallen, wenn sie fehlt, als wenn sie vorhanden ist, weil sie da, als notwendig mit dem Leben zusammenhängend, mitwirkt, mitschwingt, ohne direkt beachtet zu werden. Dekorative Kunst ist Hintergrundskunst, nur Begleitung, nicht Selbstzweck. Am gefährlichsten ist für die Dekoration die Versuchung, ästhetische Unterbrechungen zu bewirken. Aus diesem Grundsatz heraus ist gerade in neuester Zeit ein Purismus gefordert worden, der lieber auf Dekoration verzichtete als duldet, daß sie uns vom Leben ablenke. Diese auf englische Anregungen zurückgehende Bestrebung macht zum ästhetischen Standpunkt der Dekoration und damit auch der Architektur die reine Zweckmäßigkeit und meint, das vollkommen zweckmäßig Gestaltete sei von selber schön und ästhetisch wirksam. Die Folgen davon sind die ästhetischen Greuel der modernen Klubmöbel, die zwar wundervoll bequem zum Sitzen, höchst zweckmäßig, aber für den Anblick doch recht scheußlich sind, und jeder Gefängnisstil der kahlen Wände und geraden Linien in der neuesten Architektur, wo die Dekoration in der Tat sich störend bemerkbar macht, weil sie fehlt. Jetzt hören wir die Stille. Die reine Zweckmäßigkeit und ihre Armut können unmöglich das Wesen der Dekoration ausmachen, so berechtigt an dieser Theorie auch das ist, daß das Dekorative den gebrauchszweck und Nutzen nicht behindern und beeinträchtigen darf. Und wertvoll sind solche puristischen Bestrebungen doppelt, wo es gilt, das Dasein von der Überladung mit Schmuck und von dem Wahn zu befreien, als sei alle Kunst, auch die Dekoration, Erlebniskunst. Eine zweite Theorie der dekorativen Kunst stellt einseitig das Mater ial in den Vordergrund der künstlerischen Schöpfung, also das von der Natur Dargebotene,

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Gegebene, ähnlich wie der Naturalismus die Nachahmung des Naturvorbildes. Aller Schmuck, alle Formen sollen nur in dem von der Natur des Materials bedingten Kreise sich bewegen, das Material gewissermaßen hervorheben, zum Ausdruck bringen. Unästhetisch sei es, wenn gewisse, aus einem bestimmten Material entsprungene Muster einem andern Material aufgenötigt würden, z. B. Flechtmotive dem Porzellan, dem Stein, Steinmotive (mit Hilfe der Malerei) einer glatten Fläche als gemalte Rustika, Motive eines festen Materials (Bronze, Stein) einem brüchigen und porösen, wie bei den Skulpturen in Gips. So liege der ästhetische Eindruck der Backsteinarchitektur in all den Formen und Motive, die sich aus dem Backstein als einer leichten, brüchigen und aus einzelnen Steinen zusammengesetzten Masse ergeben im Gegensatz zu der Hausteinarchitektur, wo die Formen durch Hinwegnehmen aus großen, konsistenten und schweren Massen gewonnen werden. Der flächenhafte, mit farbigen und gitterförmigen Mustern wirkende Eindruck von Backsteinbauten sei das spezifisch Ästhetische an ihm im Gegensatz zur plastischen Bestimmtheit und modellierenden Durcharbeitung der Hausteinbauten. Auch diese Theorie steht unter einem Zeichen von Armut. Tatsächlich würde die strenge Forderung der Materialechtheit uns ebenso veröden lassen wie die Zwecktheorie oder allen Schmuck nur den Reichen, die sich kostbare Materialien leisten können, übrig lassen. Im Grunde müßten alle Tapeten aus unseren Zimmern weichen, weil sie das Material der Wand und ihren Charakter verkleiden, alle Beizung heller Hölzer, alle jene Marmor imitierenden polierten Stukkaturen, die die Treppenhäuser unserer Mietshäuser hell und freundlich machen. Auch in dieser Theorie wird man eine gewisse Berechtigung und einen dekorativen Standpunkt erkennen. Sie stemmt sich dagegen, daß die Dinge etwas scheinen wollen, was sie nicht sind, also gegen den isolierenden Faktor der Erlebniskunst, der durch die Künstlichkeit gegeben ist, gegen die Bildlichkeit. Es soll nicht etwas um des Effektes willen in fremdem Material dargestellt werden wie in der Erlebniskunst, sondern der Stoff der Wirklichkeit soll im Wirklichkeitszusammenhange bleiben, praktisch wirksam werden. Deshalb läßt sich die Forderung auch vom Standpunkte des Nutzens so rechtfertigen, daß dort, wo dem Material ihm fremde Formen aufgenötigt werden, diese die Struktur des Materials, also auch seine Haltbarkeit zerstören oder wo das nicht, durch die Vortäuschung eines anderen Materials eine Brauchbarkeit vortäuschen, die der Stoff nicht zu leisten vermag, so daß der Gips zwar wie Marmor aussieht, aber nicht so haltbar ist, der Anstrich Eichenholz vortäuscht, aber nicht die Solidität von Eiche garantiert. Zugleich geht diese Theorie über die reine Zweckmäßigkeit hinaus, insofern als sie dem Materiale eine selbständige Schönheit, eigene und zwecklose Formen zugesteht und die Aufforderung stellt, auch aus dem geringen Stoff die echte ästhetische Qualität durch ihm sich anpassende Gestaltung, durch Politur beim Holz, Anordnung beim Backstein usw. herauszuholen. Das Stehenbleiben aber bei diesen stofflich bedingten Formen ist die Einseitigkeit dieser Theorie. Etwas weiter und über die Stofftheorie hinaus geht die Lehre, die die Wirkungen der dekorativen Kunst, speziell der Architektur[,] nicht im Charakter ihres

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Stoffes, sondern im Ausdruck der in ihr wirkenden statischen Kräfte sucht. Noch allgemeiner gefaßt, können wir den Kern dieser Theorie darin sehen, daß alle architektonische Gestaltung Ausdruck eines Innern sei, entweder in dem Sinne, daß uns die Fassade über die Raumverhältnisse des Innern berichte, ein Standpunkt, der vom Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit als der der Orientierung wohl berechtigt ist, und in dem Sinne, daß sich in der Architektur, den Säulen und Gebälken die Verhältnisse des Tragens und Lastens, der freien Haltung oder gedrückten Beklemmung symbolisierten, aber nicht willkürlich, sondern so, daß die in der Architektur selber herrschenden Verhältnisse von Last und Träger, von aktiven und passiven Kräften, Funktion und Schwere zum Ausdruck kämen. Die Unzulänglichkeit dieser Theorie besteht darin, daß sie einseitig die Auffassung lebendiger Kräfte als ästhetischen Eindruck gelten läßt und damit für die Schönheit und Kostbarkeit des Materials ohne Verständnis bleibt, wie denn auch von Vertretern dieser Theorie wie Jac. Burkhardt die venezianische Architektur als minderwertig bezeichnet wird. Das Berechtigte liegt wieder in der Beziehung auf den Gegenstand, indem die dekorative Ausgestaltung sich ganz nach den im Gebäude herrschenden Kräften richten, seine Solidität gleichsam zum Ausdruck bringen soll. Streng genommen aber können das die Formen, Säulen, Gebälke, auf die sich diese Theoretiker berufen, gar nicht leisten, da ja infolge der Zusammensetzung dieser Formen aus einzelnen Steinen in der Wirklichkeit des Gebäudes eine ganz andere Statik mächtig ist, als der ästhetische Anblick verrät. Zugleich kommt diese architektonische Gestaltung zu ausdruckvollem Anblick nur dadurch, daß die Formen unabhängig von der statisch-mechanischen Notwenigkeit menschenähnlich gebildet werden, wie die Säule mit Körper und Kopf. Wir können aber gar nicht wissen, ob die mechanischen Funktionen im Bauwerk den organischen Empfindungen des Menschen entsprechen. So bleibt von der Unterordnung der Dekoration nur das übrig, daß die Formen an gewisse große Dispositionen des Bauwerkes, Dach und Wand, Öffnungen und Bedeckung sich anschließen, und daß die Analogie zur menschlichen Persönlichkeit, die der Bauform angearbeitet wird, nur die Verhältnisse berücksichtigt, die im Bauwerke selber sich finden, von aufrechtem Stehen und wagrechtem Liegen, von Tragen und Lasten, von Beugung und Streckung. Es ist auch kein Zweifel, daß tatsächlich diese dynamisch ausdrucksvolle Gestaltung imstande ist, über den reinen Zweck hinaus das Bauwerk dekorativ ästhetisch wirksam zu gestalten, ohne daß die einzelne Dekoration sich vordrängte. Die drei Theorien, reiner Zweck, Stoff und Funktion, entsprechen annähernd dem Formalismus, dem Naturalismus und der Einfühlungstheorie in der Erlebniskunst. Den andern voraus hat auch hier die Einfühlung das stärkste intensive Moment des innerlichen Miterlebens, ist aber auch dadurch am leichtesten in Gefahr, den dekorativen Gesichtspunkt ganz zu vergessen und durch Ausdichtung der Einfühlungsmomente, bes. durch Hinzunahme ethischer Gefühle von Trauer und Freude die architektonische Form zum Erlebnis zu machen. Denn daß die Architektur die unpopulärste und am schwersten verständliche Kunst ist, liegt eben daran, daß sie dekorative, nicht Erlebniskunst ist, und daß sich erst die Ästhetiker

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bemühen, sie mit Hilfe der Einfühlung zum Erlebnis zu machen, indem sie einen Sturm im Wasserglase beschwören. Mit einem bestimmten Inhalt, Material oder Funktion fassen wir das Wesen des Ästhetischen nicht, aber auch die reine Zweckmäßigkeit hat mit ästhetischer Dekoration so wenig zu tun wie mit dem Ästhetischen überhaupt. Trotzdem liegt die Entscheidung in der Verbindung von Ästhetischem und Zweckmäßigem. Die Frage lautet: wie ist es möglich, daß etwas zugleich ästhetisch, isoliert und zwecklos ist, ferner dem unmittelbaren Erleben (Eindruck) angehörig, nicht nur durch Wissen bedingt, und doch zweckvoll und in den Zusammenhang des Lebens einbezogen. Die Antwort lautet dahin: Ästhetisch ist das Dekorative, soweit es über den reinen Zweck hinausgreift, als solches weder nötig noch nützlich ist, sondern eine freie Zutat der künstlerischen Betä tigung. Dieser Überflußcharakter der Dekoration wird gewährleistet, wenn der Gegenstand schon zweckmäßig ist ohne die Formung, die die Dekration an ihm vollzieht. Ästhetisches erleben wird die Dekoration, wenn sie, ohne die Kenntnis des Zweckes oder die Absicht der Benutzung eines Gegenstandes vorauszusetzen, rein im Anschauen oder unmittelbaren Erleben wirksam und stimmungsvoll ist. Die Einordnung in den Lebensund Zweckzusammenhang aber geschieht in der Weise, daß das Erlebnis, das die Dekoration anschaulich bietet, übereinstimmt mit der Lebensbetätigung, die durch den Zweckzusammenhang bedingt ist, und sich diesem Zweckleben unterordnet und im Hintergrund bleibt. Es hat also Bedingungen an sich, z. B. die reine Form oder den Sinnesschein, die isolierend wirken und ein Erlebnis garantieren könnten, aber nicht Intensität genug, um uns selbständig zu befriedigen und aus dem Lebenszusammenhang herauszureißen. Damit wird die Dekoration im Verhältnis zum Leben, was im ästhetischen Erlebnis selber die Begleitung ist, etwas, was das Erlebnis fördert, aber nicht eigentlich verändert, da es sich nach ihm richten muß, und doch als Zutat soviel ästhetische Freiheit besitzt, um in verschiedensten Variationen auftreten zu können. So ist es also das Wesen des Dekorativen, eine im Erleben gegenwärtige (anschauliche), dem Zweck angepaßte, aber durch ihn nicht notwendig gemachte Begleitung zu sein. Man denke sich, um das Verhältnis des Dekorativen zum Leben zu illustrieren, zwei Reihen, von denen die eine, die den Lebenszusammenhang repräsentiert, klar und bestimmt im Vordergrund verläuft, kontinuierlich und so, daß alle Glieder miteinander verknüpft sind. Die andere, der ästhetischen Begleitung entsprechend, bleibt im Hintergrund, sie hat Lücken, und ihre Glieder stehen isoliert für sich und sind insofern ästhetisch. Aber sie spiegeln ein Glied der vorderen Reihe wieder und sind durch diese Beziehung mit dem Zusammenhang der vorderen Reihe, dem Leben[,] verkettet, insofern dekorativ. Diese Art des Zusammenstimmens des Unnützen mit dem Nützlichen nennen wir Stimmung und werden auf die stimmende Funktion des Dekorativen noch näher eingehen, vor allem auf die Art des Lebens, auf die es sich stimmend beziehen soll, zunächst aber das Verhältnis von dekorativer Freiheit zum Zweckzusammenhang des Lebens durch Beispiele näher erläutern.

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Ein Polsterstuhl, in dem es sich recht gut sitzt, genügt den Zwecken des Sitzens vollkommen, aber deshalb, weil wir wissen, daß es sich gut in ihm sitzt, wird er nicht ästhetisch wertvoll. Dagegen ein Stuhl mit schön geschwungener Rückenlehne, dessen Schwingung ausgebreiteten Armen zu vergleichen ist, die uns aufnehmen wollen, gibt uns ein anschauliches Erlebnis, das allein nicht imstande ist, uns zu befriedigen, aber dem Zweck des Stuhles, uns aufzunehmen, unserer Absicht, uns zu setzten, entspricht, wenn es sich auch nicht um einen Deut besser darin sitzt als in einem Stuhl mit grader Rückwand. Ein Stuhl mit geschweiften Beinen ist weniger tragfähig als einer mit graden, und es bedarf eines Mehr an Material oder des Luxus besserer Sorten, um die gleiche Tragkraft herzustellen. Trotzdem sieht er aus, als trüge er besser, weil de Schweifung uns an elastisches Nachgeben, an aktive Arbeit erinnert, und den Anschein erweckt, als bemühe sich der Stuhl um das Tragen. Bekanntlich hat auch die Kannelierung der dorischen Säule den technischen praktischen Erfolg, die Tragkraft der Säule etwas zu schwächen, während der Anblick des Straffen und Steifen die Energie des Widerstrebens ausdrücklich zu garantieren scheint. Wenn wir uns fragen, in welcher Beziehung nun dieses Stimmen des dekorativ Ästhetischen stattfinden kann, so kommen wir auf etwa folgende, nicht absolute Vollständigkeit verbürgende Reihe, indem wir bei den objektiven Realitäten des Lebenszusammenhangs beginnen. 1. Das Mater ial. Soweit irgendeine Bearbeitung eines Gegenstandes die Struktur seines Materiales zur Geltung zu bringen versteht und anschaulich macht, also nicht das Leben des Materials darstellt, sondern das Erleben des Materiales ermöglicht, werden wir zugleich für das Material gestimmt, und der Verkehr wird mit ihm erleichtert. Daher kommt die dekorative Haltung und der dekorative Wert etwa von Mosaiken, die ein Gemälde gleichsam bauen, so daß die Materialität der Wand trotz bildlicher Darstellungen im Sinnenendruck bestehen bleibt. 2. Konstituierende Verhältnisse, d. h. Flächen, Körper, Räume. Der Wert mittelalterlicher Wandmalereien besteht hauptsächlich darin, daß sie mit Hilfe einer Linearzeichnung den Charakter der Wand bestehen lassen oder vielmehr noch hervorheben. So kann man mit Hilfe von Linien an einem Teller, dessen Formen auch ohne Dekoration dem Zweck ge nügen, doch die Richtung der Flächen, die Aus- und Einbiegungen, die Teilungsverhältnisse hervorheben und erleben lassen. Eine Zutat, die solchermaßen auf die vorhandenen Raumverhältnisse Rücksicht nimmt, sie anschaulich macht, ist dekorativ. Die Weite oder Enge eines Raumes, die Richtung seine Wände, das Ebene oder Gerundete seiner Bedeckung kann mit Hilfe bestimmter Linien oder Verteilung von Mustern eindrücklich gemacht werden. 3. Funktionelle Verhältnisse. Wie durch Ausbiegungen der Formen, durch Wechsel von horizontal liegenden oder vertikal gestreckten Formen die Verhältnisse des mechanisch-statischen Aufbaues lebendig werden, bildet ein Hauptkapitel jeder Ästhetik der Architektur. 4. Charakter der Individualität. Eine Tracht wird dann dekorativ sein, wenn sie nicht selber individuell sein will oder als prächtig sich vordrängt, sondern

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sich dem Charakter dessen, der das Gewand als Schmuck trägt, anpaßt. Deshalb empfinden wir es als störend, wenn ein gelehrter sich wie ein Lebemann kleidet, eine Magd wie die Herrschaft, ein Bauer wie der Städter. Zu passen, nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich, ästhetisch, ist die Bedingung für das Dekorative der Tracht. Zu den subjektiven A Realitäten, denen sich die Dekoration anpassen kann, gehört zunächst 5. die allgemeine Natur des Menschen, sein Fassungsvermögen, dem durch Ordnung und Übersichtlichkeit eine Sache leichter gegenwärtig wird als durch Unordnung. Daher ist dekorative Kunst auch wohl mit ordnender Kunst gleichgesetzt. Hier brauchen wir nun nicht bei den dauernden Verhältnissen der Außenwelt, den räumlichen, stehen zu bleiben, wir können auch Poesie und Musik hinzuziehen. Jeder weiß, daß sich Verse leichter lernen als Prosa, und daß deshalb der grammatische Sinn der Regeln, ihre Beziehung auf künftige Anwendung, gerne durch den Überfluß von Rhythmus und Reim in eine unmittelbar gegenwärtige, erlebbare Regel gebracht werden, die durch die Bedeutung der Grammatik nicht notwendig gemacht ist, aber für sie stimmt. Ebenso hat die Musik einen dekorativen Charakter, wenn sie zu der Beschäftigung unseres tätigen Lebens und seinem Wechsel das Erlebnis rhythmischer Tonfolgen stimmend hinzufügt. Der »Marsch« stimmt zum Marschieren 6. Für besondere Situationen des menschlichen Daseins verhält sich die Ausschmückung dekorativ, indem sie für jede Situ ation andere Mittel verwendet. Ein Arbeitszimmer, ein Schlaf-, Wohn-, Eßzimmer usw. sind nicht gleicht gut dekoriert, wenn sie gleich dekoriert sind. Wie wir zur Trauer eine andere Tracht anlegen wie zum Vergnügen, so ist ein Trauermarsch anders komponiert als ein Festmarsch. Und eine Leichenrede verlangt einen anderen Tonfall als der Toast, auch da, wo beide inhaltlich einmal dasselbe sagen. 7. Im Gegensatz zur Erlebniskunst, die aus dem Leben herausführt, ist die dekorative Kunst B die Kunst der täglichen Umgebung, und als solche bewährt sie sich, wenn sie auch auf die besondere Ar t des Lebens dessen Rücksicht zu nehmen vermag, der in dieser Umgebung zu leben entschlossen ist. Ein Feldherr oder ein Denker, ein Zahlenmensch oder ein Träumer werden sich in verschiedenen Räumen wohlfühlen. 8. Und schließlich liegt es in dem sich einordnenden Wesen der Dekoration, auch dem Wechsel der Zeiten zu folgen und der Mode in ganz anderer Weise unterworfen zu sein, als die Erlebniskunst, in der es ewig junge, nie alternde Leistungen gibt, während die höchsten Schöpfungen der Architektur nicht davor bewahrt geblieben sind, in ihrer dekorativen Eigenschaft zu veralten, weil der Geist der Zeiten sich gewandelt hat.

A B

subjektiven] subjektiven, Kunst] Kunst,

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Durch diese Anpassung an die Natur des erlebenden, handelnden oder tätigen Subjektes ist es gekommen, daß wir die Stile der Kün[n]ste und damit die Zeitperioden überhaupt nach dem Stil der dekorativen Kunst, speziell der Architektur benennen, nicht nach den Erlebniskunstwerken. Wie es heißt, sage mir, mit wem du umgehst, könnte es heißen, womit du dich umgibst, und dich will dir sagen wer du bist. Zugleich ist es nicht schwer, einzusehen, daß die vermeintlich objektiven Beziehungen von Material, Raum, Person und Dekoration auch nur subjektive sind, weil das anschauliche Erleben der im Wissen bereits vorhandenen Verhältnisse doch nur insofern dekorativ ist, als es mit irgendeinem durch dieses Wissen bedingten Verhalten des Erlebenden zusammenstimmt. Durch dieses Übereinstimmen mit einem subjektiven, im Lebenszusammenhang bedingten Verhalten gewinnt nun das Wort »Stimmung« der dekorativen Kunst eine doppelte Bedeutung: des Stimmens im musikalischen Sinne der Harmonie, der Übereinstimmung, daß es nicht stört, nicht haurausfällt, und des Stimmens im ethischen Sinne, uns in Stimmung versetzen, für etwas stimmen, d. h. den günstigen Boden, eine seelische Verfassung für etwas bereiten. Damit entschleiert sich nun die ganze Leistung der dekorativen Kunst. Sie stimmt uns, sie bereitet und vor und ladet und sein, indem sie mit Hilfe des sinnlichen Eindrucks die seelische Verfassung für uns herstellt, die für eine Handlung notwendig ist, und auf deren Grundlage sie sich von selbst vollzieht. Indem der bloße Anblick, das von außen ohne unser Zutun gegebene Erlebnis, und so beeinflußt, daß die Bestimmung des Gegenstandes und der Situation bereits darin vorweggenommen wird, bedarf es nicht besonderer im Leben gegebener Motive oder besonderer Willensentschlüsse für die im Leben geforderte Aktion. Die Dekoration will für uns, nimmt und das Wollen ab und macht so eine pflichtmäßige Handlung zu einer von selbst getanen. Der durch die Lebensbeziehungen auf Trauer nicht Vorbereitete wird durch die Trauermusik in Traurigkeit versetzt. Und eine feierliche Kirche stimmt uns andächtig, obwohl doch der Allgegenwärtige an jedem Orte nahe sein sollte. Auch das weiß jeder, wie trotz Müdigkeit und Unlust ein fröhlicher Marsch von neuem die Stimmung des Marschierens schafft. Da geht das Marschieren von selbst, bedarf es nicht des gezwungenen Entschlusses. So ist die dekorative Kunst – weit entfernt auch hier ein Luxus zu sein – geeignet, dem ganzen Leben das Müssen zu nehmen, ohne die Pflichten zu beseitigen. Gibt es doch Räume, die uns zu dem Ausdruck hinreißen, daß es eine Lust sei darin zu arbeiten. Mit Hilfe der Dekoration erhält das ganze Leben die Leichtigkeit und Freiheit, die wir sonst im Erlebniskunstwerk finden, und anstatt uns aus dem Leben herauszuführen, hält sie uns darin fest, indem sie das ganze Leben zur Kunst macht. Dazu kommt noch eins. Die reinliche Scheidung des Dekorativen und der Erlebniskunst, die wir hier durchgeführt haben, hält die Praxis des Kunstgewerbes oder der angewandten Kunst nicht fest, und die dadurch bedingte Modifikation des Ästhetischen wird nie so rein durchgeführt. Schon dadurch, daß die Dekoration eine Zutat und ein, wenn auch im Hintergrund bleibendes, Erlebnis war, wurde das Leben in diesem Momente auch reicher, lebendiger. Die Praxis des Schmückens

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beschränkt sich nun nicht darauf, nur das auszubilden, was strenge Beziehung zum eigentlichen Lebensinhalt hat, sondern sie fügt einen Erlebnisüber schuß hinzu, der sich in der Musik als Me lodie im Gegensatz zu den innervierenden Momenten von Takt und Rhythmus, in der Malerei in der mehr oder minder deutlichen Ausbildung des figürlichen Elementes kund gibt. Aber auch hier bewährt sich der Begriff der dekorativen Kunst insofern, als sich auch im Erlebnisüberschuß das Maß der Isolation, Intensität und Konzentration nach dem eigentlichen Lebensinhalt richtet, von der geistigen Produktion angefangen, bei der der Erlebnisüberschuß gleich 0 sein muß, also auch keine Dekoration möglich ist, weil das ganze verfügbare Interesse auf die Arbeit konzentriert ist, bis zur mechanischen Handarbeit, bei der eine Unterhaltung und reine Erlebnisse möglich sind, weil die Arbeit in der Region vor sich geht, die der Dekoration vorbehalten sein sollte, dem Hintergrund des Bewußtseins. Das Wesen des Dekorativen und die Modifikation des Ästhetischen in ihm bleibt deshalb doch die, die wir charakterisiert haben, und jedes dekorative Werk ist mit Rücksicht auf diese Beziehung hin zunächst zu prüfen und zu beurteilen, ganz gleich ob in der Praxis des Lebens in vielen Fällen wenn nicht die ganze Psyche, so doch ein Teil der Seele feiert und gleichzeitig durch ästhetisches Erlebnis ausgefüllt werden kann. Diejenigen, die sich zwar nicht auf den reinen Purismus der Zweckgestaltung, aber auf den des rein Dekorativen, etwa des Geometrisch-Ornamentalen zurückziehen, wie z. B. heute van de Velde, vergessen, daß sie zwar damit dem Wesen des Dekorativen gerecht werden, aber nicht den Erfordernissen, die an die Ausschmückung des Daseins überhaupt gestellt werden. In jedem Schmuck ist eine stimmende und eine »belebende« Wirkung, und beide verhalten sich zueinander wie dekorative und Erlebniskunst. Natürlich aber wird dem dekorativen Kunstwerk, d. h. dem, das auch mit den belebenden Seiten seiner Wirkung zur Ein- und Unterordnung bestimmt ist, die größte Gefahr von diesem belebenden Teil her drohen. Durch zu reiche, besonders zu naturalistische Ausgestaltung wird das Interesse zu stark in Anspruch genommen werden. Alle jene beliebten Scherze wie die Ausbildung eines Topfes als Menschenkopf, von Aschbechern mit tanzenden Mäusen, Spaziergriffen als Frauenleiber wirken dem Gebrauchszweck direkt entgegen. Aber diese einen niedrigen Geschmack befriedigenden »Tändeleien« sind vom dekorativen Standpunkt schließlich nicht geschmackloser als die mit höchster Kunst der Formen- und Farbengestaltung gearbeiteten Nachbildungen von Käfern und Schmetterlingen, die als Schmuck getragen werden sollen. Das kunstvollste Glas, das uns in Form und Farbe das Ideal einer Blüte vorzaubert, ist vom Gesichtspunkt des Trinkgefäßes undekorativ oder geschmacklos. Da auch hier die undekorative, selbständige Behandlung wie bei der Zerstückelung eines Bildes in Einzelobjekte von der Nachbildung selbständiger Naturobjekte abhängt, können wir diesen Standpunkt den des undekorativen »Naturalismus« nennen. Wie der dekorative Naturalismus sich an die Materie, das Material gebunden fühlt, so dieser an die Natur und Wirklichkeit. Er setzt an die Stelle der Dekoration ein selbständiges Werk. Sein Produkt ist das Schaustück, das die Neugier herausfordert.

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Der Ästhetizismus dagegen setzt wohl eine Empfänglichkeit für das Dekorative voraus, aber da die Zwecke des Lebens fehlen, ist das dekorative doch isoliert und wird zum selbständigen Erleben, sei es, daß die Reizbarkeit des Ästheten trotz der Zurückhaltung der Dekoration sie intensiv genug empfindet, oder daß die Phantasie ins Spiel tritt, die dekorativen Eindrücke zu beleben. Wie das mit Hilfe der Einfühlung geschieht, davon war schon die Rede. Auch hier hört die Dekoration auf, Stimmung zu sein, sie wird selbständiges, isoliertes Erlebnis. Romantischer Ästhetizismus dagegen ist jene Lebensverfassung, bei der die Stimmung des Dekorativen, also seine untergeordnete Beziehung zum Leben das Leben ersetzen muß. Hier sind Gefühle und Wollungen des Lebens wieder nicht kräftig genug, sich nach außen Geltung zu verschaffen, und infolgedessen hilft das stimmende Erleben der dekorativen Eindrücke sie realisieren. Die Romantiker suchen deshalb in der Natur die Stimmungen auf, die ihnen das Leben geben sollte, sie umgeben sich mit stimmungsvollen Dekorationen, oder sie warten stimmungsvolle Gelegenheiten ab, weil allein mit deren Hilfe ihre seelische Verfassung sich auswirken kann. Hier ist zwar die Dekoration in Beziehung zu Lebensverfassungen gesetzt, aber als herrschend, diese bedingend oder erst schaffend. Romantische Naturen sind deshalb die, die immer in Stimmung sein müssen, um etwas von sich geben zu können, sie also die Stimmung völlig über sich Herr werden lassen und erst mit Hilfe des Ästhetischen ein Leben zu führen imstande sind. Hier richtet sich also das Leben nach der Dekoration.

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C. Reklamekunst. Wenn nicht neuerdings Bestrebungen rührig wären, das Plakat der künstlerischen Bearbeitung zuzuweisen und es ästhetisch zu veredeln, so würde man vielleicht überhaupt nicht darauf kommen, die Reklame zur Ästhetik in Beziehung zu setzten und als eine Modifikation des Ästhetischen zu betrachten. Es gibt zwar Plakate, die mit vollendeter Kunst Bilder aus der Umgebung einer berühmten Heilquelle vorführen und sogar möglich machen, solche Bilder als belebenden Schmuck uns in die Stube zu hängen. dennoch wird man diese Bilder als wenig plakatmäßig empfinden und behaupten, Plakate, die solche Erlebniskunstwerke schaffen, haben ihren Zweck verfehlt, weil nichts mehr von Reklame in ihnen verbleibt. Das Problem ist wieder eine Beziehung des Ästhetischen zur Reklame, ohne daß das Wesen der Reklame darunter leidet. Zunächst scheint ja Reklame der stärkste Gegensatz zu der Zwecklosigkeit und Insichbeschlossenheit des Ästhetischen überhaupt. Denn die ist unlöslich mit Vorteil, Gewinnsucht, mit der Praxis des Lebens verknüpft, ja mit der Praxis des Lebens, der man am wenigsten ästhetische Haltung, auch inbezug auf Dekoration zutraut, der geschäftlichen. Denn auch der dekorativen Zweckmäßigkeit, der Stimmung ist die Reklame entgegengesetzt. Sie will uns nicht stimmen, sondern bestimmen, nicht im Hintergrund bleiben, sondern laut und vernehmlich schreien.

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Ein echtes Plakat als Dekoration in unserer Umgebung ist ein unausdenkbarer Gedanke. Die dekorative Gestaltung eines Plakates andererseits läßt nicht viel von der Reklame übrig. Bleiben wir deshalb bei der Erlebniskunst, so finden wir bei genauerer Betrachtung doch eine Verwandtschaft zwischen Reklame und Ästhetik. Nicht am Ende des Reklameerlebnisses, denn dort weist es ja über sich hinaus, auf einen Zweck, der im praktischen Leben bedeutsam wird, dort vermittelt es und eine Erfahrung, die wir auf die geschäftliche Regulierung unseres Daseins beziehen müssen. In dieser Hinsicht ist Reklame also ganz und gar demonstrativ. Anders dagegen am Anfang. Die Reklame setzt ja voraus, daß unsere Aufmerksamkeit noch nicht auf das, was sie anpreist, gelenkt ist, daß noch kein Anknüpfungspunkt gegeben ist. Die gegebenen Anknüpfungspunkte zeigen vielmehr eine Richtung an, die an dem Objekt der Reklame vorbeiführt. Aus dieser Richtung will und die Reklame herausreißen, um unsere Aufmerksamkeit zunächst auf sich zu konzentrieren. Hier am Anfang ist also eine Ähnlichkeit mit dem Ästhetischen vorhanden und zwar mit den Bestimmungen der Isolation, Intensität und Konzentration, indem auch die Reklame uns durch intensive und konzentrierte Eindrücke für sich erobern will. Die Wirksamkeit der Isolation des Reklameerlebnisses kennt der, der eine Geschäftsannonce unter den Familienanzeigen oder im politischen Teil der Zeitung untergebracht haben möchte, oder der auf einem einsamen Felsen im Meere den Vorbeifahrenden in großer Schrift entgegenleuchten läßt: SunlightsSoap die Beste. Die Intensität aber, das Schreiende, sinnlich Starke ist von der Reklame unzertrennlich, je lauter, je besser; ebenso die Konzentration, das Sehen mit einem Blick. Die Zusammenfassung steigert sich in der Reklame zur höchsten Prägnanz. Die Kunst der Reklame ist zunächst die Kunst, unsere Aufmerksamkeit zu erwecken. Als solche hat sie die Fähigkeit mit der ästhetischen Unterbrechung gemeinsam, uns aus dem Lebenszusammenhang herauszureißen, uns abzulenken. Dennoch braucht diese Ablenkung noch keine ästhetische zu sein. Der Mann, der im Plakat mit geladenem Revolver auf uns zielt und uns einen Moment zwingt, jede seiner Bewegungen angstvoll zu verfolgen, reißt uns aus einem lebenszusammenhang in einen anderen hinein. Das Plakat wird hier nicht ästhetische Unterbrechung, sondern Nötigung. Ästhetisch wird dagegen das Plakat, wenn die Erregung unserer Aufmerksamkeit uns einen ästhetischen Genuß verspricht, Reklame, wenn es dieses Versprechen auf die Dauer nicht hält, sondern dieses Versprechen benutzt, uns nun auch für die praktische Sache zu gewinnen, so etwa, wenn im dichtesten Verkehr des Potsdamer Platzes plötzlich über den Häusern ein Feuerwerk losgeht, von einfachsten aufleuchtenden Lichtkugeln beginnend, zu Reihen und Strahlen sich steigernd, den Eiligen also nötigt, zu schauen, und zu genießen, bis in solcher Leuchtkugelschrift schließlich eine Zigarettenmarke »Salem Aleikum« klar vor uns steht. Oder während wir die Zeitung durchsehen und uns zur ästhetischen Erholung auf das Feuilleton stürzen, lesen wir dort eine spannenden Geschichte mit Verwicklungen, Streit und Totschlag, was alles

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nicht stattgefunden hätte, wenn die geschilderten Personen rechtzeitig in dem oder jenem Geschäfte ihre Einkäufe gemacht hätten. Das ästhetische Erlebnis bleibt nur ein Köder, und die Konzentration besteht nicht nur darin, dies Erlebnis uns zwingend zu suggerieren, sondern auch es mit dem realen Zweck passend, notwendig zu verbinden, damit wir das Vergnügen des ästhetischen Erlebens auch mit dem angepriesenen Objekt wirklich verbinden und uns nicht ärgern, aus dem ästhetischen Erlebnis wieder in die Prosa des Lebens herausgerissen zu werden. Diese Beziehung der Reklamekunst zur Ästhetik ist der Grund, daß viele Reklamekunstwerke in der Ästhetik mit behandelt sind und ohne diesen Gesichtspunkt der Ästhetik der Reklame schief beurteilt wurden. Reklamepoesie sind alle Fabeln, die das ästhetische Interesse an der spannenden Geschichte so geschickt für die Moral der Geschichte auszubeuten wissen, überhaupt alle Tendenzpoesie unterliegt der Ästhetik der Reklame; ferner das ganze Gebiet der Rhetorik, bei dem man die recht weiß, soll man die Schönredner am höchsten stellen oder den, der auf jede Rhetorik verzichtet. Die Entscheidung liegt im Wesen der Reklame. Der Vortrag macht des Redners Glück, aber doch nur, wenn es nicht bei leerer Deklamation, beim Schmuck wie Zitaten und schönem Pathos der Rede bleibt. So gibt es außer dekorativem Schmuck auch einen Reklameschmuck, ja ein großer Teil des Schmuckes der Menschen hat den Sinn, sich hervorzutun, Reklame für sich zu machen, besonders auf dem Heiratsmarkt des Lebens. Auch da ist die Reklame sehr wohl mit Ästhetik zu vereinigen. Es ist nur dafür zu sorgen, daß es nicht bei dem ästhetischen Erlebnis bleibt, daß man sich nicht wie der »Geck« zum Schaustück macht. Reklamemusik sind alle Signale, die sich dem Ohre einschmeicheln und doch eine bestimmte Hinweisung geben auf das, was noch kommen soll. Wie die Dekoration auch im Erlebniskunstwerk selber Platz haben kann als Begleitung, so kann auch die Reklame auf ein Erlebniskunstwerk hinweisen und die Wahl der ästhetischen Gelegenheit beeinflussen, ja sich unmittelbar mit dieser verbinden, wie das Vorspiel mit dem Anklingenlassen der verschiedensten Motive, das Vorwort, in dem wir durch Frechheit dem Leser imponieren oder durch geheuchelte Bescheidenheit günstig stimmen, jedenfalls aber hinweisen auf das, was wir ihm zumuten, und das Vorgericht mit seinen gewürzten und appetitreizenden Sachen, die selbst noch hors d’oeuvre, außerhalb der eigentlichen Tafelfreuden stehen. Auch in ihnen kann die Ästhetik der Reklame sich bewähren, vorausgesetzt, daß es nicht in diesen Fällen vorteilhafter ist, sich auf bloße Reklame zu beschränken, und es überflüssig erscheint, durch einen versprochenen, aber nicht gehaltenen ästhetischen Genuß auf einen ästhetischen Genuß vorzubereiten. Immer aber handelt es sich darum, daß alles, was unter den Begriff der Reklame fällt, nicht ganz ästhetisches Erlebnis werden kann, ohne aufzuhören Reklame zu sein, und daß die ästhetische Veredelung nur darin bestehen kann, mit Hilfe ästhetischer Erlebnisvorspiele und Vorspiegelungen eine Sache anzupreisen und ihr einen Wert zu verschaffen, der ihr von sich aus nicht zukommt. So kann die

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Ästhetisierung der Reklame ein Mittel werden, die schlechtere Sache zur besseren zu machen, zu überreden, statt zu überzeugen, und reiht sich deshalb auch allen Künsten und Kniffen, eine Sache anzupreisen, ein. Auch die Ästhetik hebt sie darüber nicht hinweg. Die Beurteilung der Reklame kann deshalb auch nur vom Standpunkt des Lebens, der Ethik erfolgen. die Ästhetik kann nicht entscheiden, ob Reklame sein soll oder nicht, ob der fromme betrug geduldet werde oder nicht. Deshalb bleiben alle Ästhetiken einseitig, die Tendenzpoesie wie die Fabeln entweder aus der Kunst und dem Bereich des Ästhetischen überhaupt verwiesen wissen wollen oder das Heil dieser Künste darin sehen, daß sie uns reine Erlebniskunstwerke schaffen. Die Gefahren der Reklame und besonders der ästhetischen Reklame liegen ja auf der Hand. Aber das sind Fragen, die von höherer Warte aus zu beantworten sind, und um so leichter beantwortet werden können, je klarer man sich des Begriffes der ästhetischen Reklame als Modifikation des Ästhetischen ist. Ein Gesichtspunkt drängt sich dabei durch die Beziehung zum ästhetischen Erlebnis hervor. Die Reklame fällt im allgemeinen aus der ästhetischen Gelegenheit heraus und unter den Begriff der ästhetischen Unterbrechung. Soll sie die Gunst, die sie gewinnen will, nicht von vornherein verscherzen, so muß sie darauf bedacht sein, nicht zu stören oder deplaziert zu sein: Reklamen in erhabener Natur ärgern, aber bestimmen nicht. Deshalb hängt mit der unterbrechenden Wirkung des Reklameerlebnisses ihre Prägnanz zusammen. Je kürzer, je schlagender, desto besser. Die Konzentrierung ist wesentlich Kompri mierung. Der Witz und der zündende Funke sind bevorzugte Mittel der Reklame. Naturalismus, Ästhetizismus und Romantik aber würden sich in der Weise auf die Ästhetik der Reklame stürzen, daß der erste die Reklame zu selbständigen Bildern ausarbeitet, der zweite die Reklame als Bild genießt, oder auch enttäuscht ist, wo die Reklame sich bemerkbar macht, die dritte aber die Beziehung der Erlebnisvorspiegelung zum Kaufobjekt für bare Münze nimmt und ihr Wollen durch den Nimbus der Reklamekunst in erster Linie bestimmen läßt. Nur wird die Romantik an Plakaten und Reklamekünsten sich seltener ein Objekt suchen, da die Prosa des Gegenstandes, der durch die Ästhetik mit Nimbus zu versehen ist, dem romantischen Schwärmer sich meist für seine Träume verschließt, oder es müßte sich etwa um den romantischen Aufputz von Zigeunern und Varietésternen handeln, die den Unerfahrenen in seine Träume hinein verfolgen. De Vorliebe für diesen »Flitter« haben die Romantiker oft genug literarisch dokumentiert. Auch die Vorliebe der Romantiker für die katholische Religion beruht auf dieser prédilection d’art, dieser Neigung, sich durch die Szenerie, die Aufmachung bestimmen zu lassen. Leichter aber als den Romantikern ist das Geschäftsplakat den Ästheten als rein künstlerisches Erlebnis möglich, so daß die besondere Reizbarkeit und Genügsamkeit des Ästhetizismus an kurzen Erlebnissen dazu geführt hat, moderner Kunst überhaupt einen Anstrich von Plakat zu geben, wozu man bedenken muß, daß die Abstumpfung des Ästhetizismus die Aufdringlichkeit der Reklame wohl erträgt und, da das ganze Leben sich aus ästhetischen Erlebnissen zusammensetzt, es

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auch keine eigentlichen Unterbrechungen geben kann. Was stört, ist deshalb auch nicht die Unterbrechung, sondern daß es nicht bei der Unterbrechung bleibt, daß das Plakat ins Leben wieder hineinführt. Daher ist die Beziehung des Ästhetizismus zur Reklame die, daß er nicht nur das Plakat ganz ästhetisiert, sondern auch das ästhetische Erlebnis im Plakatstil ausbildet. [. . .]

Erich Everth: Richard Hamann: Ästhetik () Richard Hamann, Ästhetik. VI und 120 S. Leipzig, B.G. Teubner, 1911. (Aus Natur und Geisteswelt.) Ich will es machen wie der Autor, der gleich medias in res und zwar sofort in recht komplizierte Dinge und Einzelheiten hineinspringt, und will ihn eine Wegstrecke begleiten. Er beginnt damit, das Wesen des Ästhetischen vom Wesen der Kunst zu trennen, um erst nachher zu zeigen, welche besonders engen Beziehungen zwischen beiden bestehen. Bisher hielten wir »ästhetisch« einfach für den weiteren Begriff, Kunst für den engeren, der nirgends aus dem Umfange des Ästhetischen herausschreite (wir dachten bei letzterem neben der Kunst an die ästhetische Freude an der Natur). Der Verfasser dagegen meint, daß es auch Kunst gebe, die nicht ästhetisch sei; das beweise das Wesen der illustrativen Kunst. Ich glaube das nicht; ich würde sagen: auch sie ist Kunst nur, soweit sie ästhetisch ist; daß auch etwas Außerästhetisches – daher aber auch Außerkünstlerisches – in ihr ist, wird nicht bestritten. Man kann sicher Kunst unästhetisch anschauen, aber nicht sie in außerästhetischem Zustande schaffen; sonst ist das, was sich da betätigt, nur ein Können und keine Kunst (diese zwei Worte mit verschiedenen Bedeutungen haben wir doch, sie weisen darauf hin, daß man einen Unterschied dazwischen schon längst gefunden hat). So würde ich auch entscheiden bei der relig iösen Kunst. Der Verfasser bringt über ihren religiösen Sinn feine Bemerkungen und es kann auch offen bleiben, welcher Wert, der religiöse oder der ästhetische, im ganzen gesehen höher ist; daß aber die Werke dieser Kunst, sofern sie wirkliche Kunstwerke sind, in einem nur religiösen und gar nicht ästhetischen Zustande geschaffen seien, davon wird man uns nicht überzeugen; und es steht wohl fest, daß auch ein rein ästhetisches Verhalten das Religiöse in vielen Fälle fördern kann, so sehr es in anderen den Ernst des Religiösen gefährden mag. Es ist nicht anders wie im Kunstgewerbe, wo selbst der praktische Zweck in einer gewissen Sublimierung der Bewußtseinsform als vollgültiger künstlerischer und ästhetischer Gehalt in das Erlebnis eingeht und daneben der Gegenstand doch noch brauchbar bleiben kann; so können auch religiöse Stoffe ästhetisch geformt werden und ihre religiöse Wirkungskraft und Erbaulichkeit bewahren. Die beiden Betrachtungsweisen, die ästhetische und die andere, brauchen sich also nicht zu befehden, und gerade bei großen Kunstwerken wird das selten der Fall sein, da diese meist Takt haben und ihren bestimmten Inhalt sachlich gestalten werden. Anderseits sind viele »bildliche Beigaben in Büchern« A, an die der Verfasser für die Unterscheidung ästhetischer und außerästhetischer Kunst erinnert, überhaupt A

Richard Hamann: Ästhetik. Leipzig 1911, S. 4. (In dieser Ausgabe S. 274.)

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nicht Kunst, aber nicht deshalb, weil sie religiösen Zwecken dienen wollen, sondern weil sie nach ästhetischen Gesichtspunkten nicht genügen. Mit welchem Recht der Verfasser illustrative Werke, die das ästhetische Bedürfnis nicht befriedigen, aber an ihrem Platze ihren Zweck erfüllen, Kunstwerke nennt, begründet er nicht. Wir sprechen doch auch von Kriegskunst – Luther sprach von der Kunst astronomia – und wir wissen sehr wohl, daß sie nicht in den Kreis der früher deutlich sogenannten »schönen Künste« (wir würden eher sagen ästhetischen Künste) gehört. Wenn der Autor schließlich meint: »Illustrationen sind letzten Endes alle geschichtlichen Bilder, alle Ehrenstatuen und Porträts usw. als Rückhalt der Erinnerung, die nicht mit ästhetischen, sondern mit ethischen Banden an das dargestellte Objekt geknüpft ist« A – so brauchen wieder die Werke deshalb doch nicht ausschließlich mit ethischen, sondern können auch mit ästhetischen Banden daran geknüpft sein. (Seltsamer Radikalismus!) Und so kann auch illustrative Kunst wirklich ihren Namen mit Recht führen, das heißt Kunst, das heißt aber auch ästhetisch sein. Innerhalb der illustrativen Kunst nun unterscheidet Hamann zwei Gruppen, »Kultus« und »Demonstration«.B Wenn er da aber das Monumentale und das Porträt als Unterarten des Kultus bezeichnet, so ist das wieder radikal, und wenn das gar zugleich heißen soll, daß diese Gebiete aus dem Ästhetischen hinausgerückt werden sollen, so – hört die Gemütlichkeit auf. Daß ein künstlerisches Por trät mit Ästhetik (soll heißen mit dem Ästhetischen) gar nichts zu tun zu haben brauche, das gilt für manchen Betrachter, aber niemals für den Künstler, der es schuf. Da sind so feine Mischungen von »interesselosem Wohlgefallen« (auf das Hamann mit seiner eigenen Definition von ästhetisch eigentlich hinaus will), so feine Mischungen davon mit allerlei anderen Interessen und so viele Grade des ästhetischen Interesses möglich, daß man die gewaltsame Behandlung hier nicht billigen kann. Und beim Monumentalen, wenn es auch »Erinnerungsstütze, Versinnlichung des leiblich Entrückten« C usw. ist, ist der Zweck und die »kultische« Beziehung doch nicht so grob, daß das ästhetische Verhalten darunter litte. Ja, gerade in diesem Versinnlichen eines Abgeschiedenen ist hier ein anderes Moment des Ästhetischen, nämlich das Anschauliche, so ausgesprochen da, daß man erst das Anschauliche vom Begriff des Ästhetischen abstreifen muß, wie Hamann auch nachher tut, um beim Monumentalen das Ästhetische leugnen zu können. Und bei der Biog raphie: da, wo sie »der Poesie an Eindringlichkeit und Schwung der Darstellung nichts nachgibt« D, liegt sie eben nicht mehr außerhalb des Ästhetischen. Auch ein Geschichtswerk kann ein Kunstwerk sein und als solches d. h. eben ästhetisch aufgenommen werden; es gibt auch hier verschiedene Grade des Ästhetischen. Wenn man z. B. Schriften von Ranke oder Herman Grimm oder Treitschke nur auf die Sprache hin und nur als Ausdruck der Persönlichkeit des Autors liest, so ist der äußerste Pol rein A B C D

Ebd. (In dieser Ausgabe S. 274.) Ebd. (In dieser Ausgabe S. 274.). Ebd. (In dieser Ausgabe S. 274.) Ebd., S. 5. (In dieser Ausgabe S. 274.)

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ästhetischen Verhaltens erreicht. Wenn man aber auf den Inhalt achtet und ihn auch durchaus mit theoretischem Verstandesinteresse aufnimmt, kann noch immer zugleich ein Element ästhetischer Empfänglichkeit dabei sein und verträgt sich damit, mag man das Ästhetische auffassen wie man will, selbst so, wie es der Verfasser nachher will. Auch diese Freude an Werken großer Historiker ist nicht bloß künstlerisch, sondern auch ästhetisch; künstlerisch (das Wort hier im rezeptiven Sinne genommen) wird nämlich die ästhetische Freude, sofern das Bewußtsein des Menschenwerks und das Vergnügen am Können zu dem ästhetischen Verhalten hinzutritt. – Hamann übertreibt seinen Gedanken des Kultischen weiter, wenn er behauptet: »Die Photographie vermag wohl ästhetisch wirksame Bilder zu schaffen, aber die persönliche Auffassung des Kultbedürfnisses liegt ihr fern, deshalb ist niemand mit ihr zufrieden.« A Deshalb? Zunächst könnte ein Kultbedürfnis ja nur beim Porträt in der Photographie auftreten, und ferner mögen wir Photographien manchmal deshalb nicht, weil das Schaffen in gewissem Grade fehlt; sicherlich gibt es Photographien, die zufällig ästhetisch wirksam sind (ich meine damit solche, die zufällig dem Bedürfnis unseres Auges entgegenkommen); soweit sie das zufällig tun, sind sie keine Kunst, sondern dann handelt es sich sozusagen um ein Naturschönes; die meisten ästhetisch wirksamen Photographien aber haben ein künstlerisches Moment, ein relativ freies Schalten des Photographen zur Voraussetzung, und soweit ist man dann mit ihnen auch zufrieden; dieses Schaffen aber richtet sich nicht zuletzt auf jene Zubereitung für unsere Sinnlichkeit. Gewiß ist der ästhetische Gesichtspunkt nicht der einzige, der die Kunst erschöpfend erfaßt, es muß eben zum Unterschiede von der Natur das freie Schaffen des Künstlers dazu genommen werden und das muß in der Kunstwirkung ununterbrochen als Hintergrund im Unterbewußtsein des Aufnehmenden da sein; der enge Zusammenhang aber zwischen dem Ästhetischen und der Kunst zeigt sich auch gerade darin, daß, wenn man für dieses freie Schaffen des Künstlers keinen Sinn hat, also wenn man überall nicht ein Bild, sondern Abbild, Nachbildung, Bildnis und Illustration sieht, was manche Betrachter ja überall fertig bekommen – daß man dann auch unästhetisch sieht. Und umgekehrt: wenn man in diesem Sinne sich unästhetisch verhält, d. h. gedanklich über das Gegebene hinausgeht, in beliebige Phantasien abschweift, so sieht man auch unkünstlerisch. Und endlich: wenn man auch alles sinnlich Wahrnehmbare in der Welt ästhetisch ansehen kann, selbst etwas Außerkünstlerisches von Menschenhand, ja sogar eine mathematische Formel wie a2 + 2ab + b2 mit ihrer anschaulichen Symmetrie, und wenn man auch anderseits alles unästhetisch ansehen kann, selbst etwas Künstlerisches – so fallen darum beide Begriffe doch noch nicht auseinander! Es gibt Grade der Ausbildung des Individuums, die das ästhetische Verhalten immer leichter und häufiger eintreten lassen, und dazu wird man namentlich mit Hilfe der Kunst erzogen; und es gibt durchschnittlich der Kunst gegenüber auch beim ganz Unerzogenen mehr ästhetisches Verhalten als gegenüber dem praktischen Leben oder selbst der A

Ebd. (In dieser Ausgabe S. 275.)

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landschaftlichen Natur. Auch beim Höchsterzogenen aber werden die ästhetischen Erlebnisse, die er haben kann, ganz überwiegend an die Gelegenheiten gebunden sein, die die Kunst gibt. » Ästhetisch und schön« A ist ein weiterer Abschnitt überschrieben. Auch das unterscheiden wir längst, sehen aber den Umfang des Begriffes »schön« überall gedeckt von dem des Begriffes »ästhetisch«, der seinerseits über jenen hinausgeht. Hamann dagegen will wieder die beiden Begriffskreise sich nur schneiden lassen, er meint: das Gefallen an der Schönheit bedinge noch nicht den ästhetischen Zustand. Ich kann auch hier nicht beipflichten; man darf eben ein solches Gefallen, wie er es dabei im Auge hat, wissenschaftlich nicht mit dem Worte Schönheitswirkung bezeichnen. Er nimmt als Beispiel die erotische Wirkung von Frauenschönheit auf einen Mann, – ja das ist doch ein ganz besonderer, komplizierter und dennoch leicht in seiner Heterogenität gegenüber dem Ästhetischen durchschaubarer Fall, dem außerdem schon die Beobachtung entgegengehalten werden kann, daß ein Mann die Schönheit einer Frau vollkommen einsehen und würdigen und trotzdem erotisch gänzlich unberührt bleiben kann, hingegen von einer anderen Frau, deren viel geringere Schönheit er ebenso klar einsieht, erotisch affiziert werden kann. Ich kann mir weiter denken, daß man er st ein reines Schönheitsgefallen empfindet und dann in zeitlicher Folge, gerade auf Grund dieses Gefallens, sich noch andere Empfindungen dem Gegenstand gegenüber einstellen; warum sollte nicht gelegentlich ein rein ästhetischer Eindruck weiterhin erotisch wirksam werden können? Man ist bekanntlich häufig genug zur umgekehrten Konstruktion, zu der Behauptung, die Schönheitswirkung sei stets erotogen, merkwürdig behende bereit gewesen. Wenn man aber überhaupt nicht zu einem reinen Wohlgefallen gelangt, für solche Fälle würde ich empfehlen, nicht von »schön« zu sprechen, sondern etwa von »reizend«. Vielleicht empfindet man in solchen Fällen das Begehrenswerte und weiß daneben selber, daß man denselben Gegenstand auch schön finden könne, und nennt es darum so häufig schön. Es wird sich die Freude das eine und das andere Mal auch nicht streng genommen auf dieselben Elemente des Gegenstandes zu richten brauchen; es ist vielmehr beidemal nicht nur ein anderer Zustand des Aufnehmens da, sondern man liest auch aus dem Objekt je nach den verschiedenen Interessen verschiedene Elemente aus; jeder sieht an der Mona Lisa anderes und zu verschiedenen Zeiten wieder Verschiedenes und vielleicht hört jeder Wagnerische Musik anders; man muß es doch z. B. für wahr halten, daß manche Menschen wirklich während des ganzen Tristan nicht von erotischen Vorstellungen allersinnlichster Art loskommen. » Ästhetisches Erlebnis und Anschaulichkeit« (Seite 9). Wieder spaltet Hamann, was nicht zu trennen ist. Denn mir scheint das ästhetische Verhalten ohne sinnlich anschauliche Elemente nicht vorhanden zu sein (seien diese selbst nur vom Betrachter nachträglich hinzugebracht, wie z. B. dann, wenn man sich die innere Form eines wissenschaftlichen Buches oder eines philosophischen Systems vorstellt: A

Ebd., S. 7. (In dieser Ausgabe S. 277.)

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da sieht man etwa vor seinem inneren Auge gegliederte Massen). Dieses besondere Verhältnis zur sinnlichen Anschauung hat für die Kunst unübertrefflich fein und tief einer der größten Kunstdenker des 19. Jahrhunderts, C. Fiedler, und doch nicht umsonst ausgeführt.A Für seine Feststellungen muß fortan in jeder Ästhetik ein Platz sein. Man kann über die Rolle der Anschaulichkeit vielleicht streiten, man kann sie aber unmöglich als so unerheblich, ja als unnötig beim ästhetischen Verhalten hinstellen wie Hamann das tut! Man versteht Fiedlers Genialität nicht, wenn man nicht einsieht, daß er in erkenntnistheoretisch sicherster Begründung wirklich eine Weltanschauung der Kunst, eine der großartigsten Kunstphilosophien gegeben hat, die wir überhaupt kennen. Man kann anderer Meinung sein als er, aber man kann nicht die Seite, die er genial formuliert hat, als unwesentlich bezeichnen. Fiedler war nebenbei der Freund einiger unserer größten Maler im 19. Jahrhundert und der Theoretiker einer der einflußreichsten Kunstgruppen der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, der Marées-Hildebrandschen. Hildebrands epochales Buch B dann fiel (nach Wölfflins Wort) wie ein erfrischender Regen auf dürres Erdreich. Nun, was in diesen Werken stand, das war die Botschaft von der ästhetischen Sinnlichkeit, von der Sinnlichkeit, die wir freilich im nordischen Alltag schier ganz und gar zu schätzen und auszubilden verlernt haben, und zu der uns nur die Kunst wieder erziehen kann. Daß auch hier geistige Aktivität, wenn auch von anderer Richtung als beim theoretischen Verhalten, vorhanden ist, zeigt Fiedler vornehmlich, und das zeigt das Wort Anschauung besser als das Wort Sinnlichkeit (von der Gemütsnähe der sinnlichen Elemente nachher noch ein Wort). In dieser Funktion nun ersieht man vielleicht auch klarer, als bei Hamann geschieht, für die Kunst eine große Kulturmission für immer, keineswegs nur (aber allerdings besonders) für unsere heutige verstandesmäßige und mechanisierte Kultur, und man sieht eine große Provinz für das eigentümliche selbständige Leben der Kunst abgegrenzt. Und dies alles gilt nicht bloß auf dem Gebiete der bildenden Künste; denn in der Anerkennung des akustisch Sinnlichen in der Musik sind z. B. Hanslick C und Friedrich von Hausegger D völlig einig, diese beiden, die vielleicht am deutlichsten die Pole zweier Hauptrichtungen der Musikästhetik, ja der Musikauffassung und des Musikschaffens im ganzen 19. Jahrhundert repräsentieren; ihr Unterschied, daß der eine mehr das Formale, der andere mehr den Ausdruck betont, liegt denn doch ganz wo anders. Hamann freilich greift sofort auf die Dichtung zurück, spielt also einen besonderen Fall aus; er gibt zu, daß der Klang oder das Schriftbild eine sinnliche Gegenwart auch da ergebe; wenn er aber fortfährt: »das, was wir in ihnen begreifen sollen, ist jedenfalls in dieser sinnlichen Gegenwart nicht enthalten, sonVgl. Konrad Fiedler: Schriften über Kunst. Hrsg. von Hermann Konnerth. 2. Bde. München 1913–1914. B Vgl. Adolf von Hildebrand: Das Problem der Form in der Bildenden Kunst. Straßburg 1893. C Vgl. Eduard Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst. Leipzig 1854. D Vgl. Friedrich von Hausegger: Die Musik als Ausdruck. Wien 1885. A

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dern durch sie nur nahegelegt« A, so würde ich weiterschließen: um soviel weniger unmittelbar ästhetisch ist eben die Dichtung, um so viel vermittelnder ist hier die Kunst der Sprache. Wir kennen die originelle (aber einseitige) Theorie Theodor Meyers über die Dichtung, aber auch sie kann an unserem Begriff des Ästhetischen nicht rütteln, denn sie betrifft nur die reproduzier ten anschaulichen Inhalte, von denen Meyer freilich zeigt, daß man sie vielfach überschätzt hat. Hamann fährt weiter fort: »Je konkreter, lebendiger und die Vorstellung des unmittelbaren Dabeiseins erweckend, desto ästhetischer, künstlerischer wäre es. Aber auch das trifft nicht zu.« B In der Tat, daß es dennoch zutreffe, das ist unsere Meinung und ist übrigens selbst die Meinung Theodor Meyers. Wenn diese Bestimmungen vielleicht zugleich auf Schundliteratur zuzutreffen scheinen, so ist zu beachten, daß sowohl deren Mittel wie Wirkungen dennoch andere sind, daß bei der Schundliteratur vor allem eines fehlt, Geschmack, den Goethe neben der von ihm so hochgepriesenen Phantasie für unerläßlich hielt (»Phantasie ohne Geschmack ist furchtbar«) und schließlich, daß auch Hamanns Grundprinzip für sich noch kein Kriterium enthält, um das »Drinsein« des Lesers und das Abgeschlossensein gegen die Interessen der übrigen Welt, die Versenktheit und Versunkenheit bei sozusagen legitimen ästhetischen Erlebnissen zu unterscheiden von ähnlichen Wirkungen der Schundliteratur oder auch des bloßen Schmökers. Da gibt noch eher unser Prinzip der sinnlichen Vertiefung sofort von sich aus Handhaben, um beide Arten von Eindrücken auseinander zu halten: die sinnliche Vertiefung in das, was da ist, wird gerade davor bewahren, einem hastigen, stoffhungrigen und von der Phantasie besessenen Jagen beim Lesen zu verfallen und unter den dumpfen Druck der nur immer vorwärtstreibenden Spannung zu geraten; diese selbe sinnliche Vertiefung aber, wenn man sie als Leser bei Erzeugnissen der Schundliteratur ver sucht, wird deren elenden Charakter schon ausreichend offenbaren. Bleiben wir indessen bei wirklich großer Literatur, um Hamanns Prinzip zu illustrieren: Nach ihm wäre vielleicht die Leistung Zolas nicht die großartige Anschaulichkeit, mit der er z. B. in Verité das Toben und Schreien der Menge gibt oder sonst irgendwo große Kollektivwesen, die uns gewöhnlich nur Begriffe bleiben, etwa ein Warenhaus zu dem einheitlichen Bilde eines Organismus zusammenballt – was man, von anderer Seite angesehen, auch als seine mythenbildende Kraft bezeichnet hat – sondern es wäre nach Hamann vielleicht wieder die Fähigkeit der Isolierung, d. h. nun freilich nicht bloß, daß der Leser in seinem Bann steht, sondern auch, daß der Dichter höchst realistische Stoffe doch noch ohne Störung dem Leser darstellen konnte. Gewiß ist auch dies letztere eine Leistung und eine, die gerade beim Naturalismus sehr fein sein kann, das Schaffen der Distanz bei ganz alltäglichen Dingen; aber ist dieses Erträglichmachen gewöhnlicher oder grober Stoffe nicht mehr nur eine Vorbedingung und ist nicht in den meisten Fällen erst ein Positives, eine stärkere Freude, ein Genuß das eigentliche Ziel? Auch jenes »Pathos der Distanz« kann einen A B

R. Hamann: Ästhetik, S. 9. (In dieser Ausgabe S. 278.) Ebd. (In dieser Ausgabe S. 278.)

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feinen Genuß bereiten, zumal im raffinierten Bewußtsein solcher Leistung, aber das Betonen der sinnlichen Momente bedeutet doch wohl einen stärkeren Sinn für unmittelbare und positive Wirkungen der Kunst. Es sind dies möglicherweise letzte Auffassungsverschiedenheiten nicht nur in der kunsttheoretischen Art, die Dinge anzufassen, sondern im künstlerischen Erlebnis selber. Ein Kunstdenker von Hamanns Typ würde dann in der Kunst wesentlich eine Befreiung vom Leben sehen – eine Richtung, die ihren Gipfel hatte in Schopenhauers Erlösungsästhetik, hingegen der sensualistische Typ würde gerade das unmittelbare, elementare, voroder unter-, jedenfalls außerbegriffliche Erleben, wie es das ästhetische Verhalten bietet, stark empfinden und in erster Linie im Bewußtsein haben (ohne daß dieser letztere Typ deshalb im geringsten die fundamentale Verschiedenheit der Kunst vom ge wöhnlichen Leben oder von der Natur vergäße). Beide Seiten der Sache aber sind wichtig. Übrigens würden wir mit der unsrigen imstande sein zu zeigen, daß jene andere gewiß außerordentlich wichtige Seite, die Hamann voranstellt, auch schon im sinnlichen Gebiet ein eigenes breites Leben hat, wo man z. B. gleichfalls wünscht, daß einem das Realistische nicht allzu real »auf die Nerven falle« oder wo man noch fähig bleiben will, sich sinnlich daran zu freuen oder sich ihm, ich möchte sagen, mit sinnlicher Aufmerksamkeit zu widmen, ohne sinnlich abgeschreckt oder chokiert zu werden. Ja, wir können sagen, daß gerade jener Zustand der interesselosen, spielenden Aufmerksamkeit, der Betrachtung, die weder theoretische Beobachtung noch praktische Prüfung ist, sich durch das Interesse für sinnliche Faktoren ergibt, die eben den sachlichen Interessen eine gewisse Konkurrenz im Bewußtsein machen und insofern die Stoßkraft des Stofflichen abschwächen! Auch so ergibt sich der kontemplative Zustand, der seine Bezeichnung übrigens ja auch erst durch Übertragung erhalten hat. Also nicht bloß die eine ästhetische Eigenschaft, die direkte und unmittelbare Wirkung, hängt mit der Sinnlichkeit zusammen und davon ab, sondern auch die gerade entgegengesetzte, ebenso wichtige, die »fernende« Wirkung, wird vom Sinnlichen unterstützt. Hamann nimmt weiter das Beispiel eines Steckbriefes, der den Verbrecher so sinnlich schildern soll, daß dem Leser alles lebendig vor Augen steht, was man ja als möglich unterstellen kann, und meint, die Anschaulichkeit allein tue es nicht. Nein, jede tut es nicht, diese Steckbriefsart z. B. wird, rein anschaulich betrachtet, bei aller Genauigkeit, ja Lebendigkeit der Teile, gleichgültig bleiben, da sie weder (kurz gesagt) aufs Schöne noch aufs Häßliche hin gearbeitet ist. Darauf aber kommt’s im Ästhetischen an: auf diese Zubereitung für unsere Sinne zu starken Eindrücken, positiven oder negativen, denn beide sind ästhetisch. Das sinnlich Langweilige hingegen oder das sinnlich gleichgültige Verhalten ist überhaupt nicht ästhetisch. Denn ästhetisch ist ein besonders gesteigerter Zustand beschaulichen Verweilens um des Schauens willen. Das Steckbriefprinzip aber ergibt Langeweile, das genaue Beschreiben und Schildern ist in der Dichtung ja gerade als öde berüchtigt und führt dort nicht zum Ziele. Es wird also auch beim Steckbrief nicht zur Anschaulichkeit eines Ganzen führen, es wird nicht möglich sein, daß

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das beabsichtigte Gesamtbild auch nur sinnlich lebhaft wirkt – worin ja immerhin schon ein Sinnlichkeitswert liegen könnte, wenn auch erst ein rein quantitativer oder intensiver, nicht qualitativer. Hamann seinerseits weist auf den Unterschied hin, der hervortritt, wenn wir dieselbe Schilderung, die das eine Mal Steckbrief sei, als Exposit[i]on eines Kriminalromans antreffen. In beiden Fällen solle man etwas behalten (ja, aber beim Steckbrief zu einem praktischen Zweck, im Roman nur zum Verständnis dieses Kunstwerks) und er schließt: »Danach ist es nicht die Anschaulichkeit, die dieselbe Schilderung im Roman zum Teil eines ästhetischen Erlebnisses macht, hier kommt es auf den ganzen Zusammenhang an.« A Das letztere ist richtig, nur kann man unter Zusammenhang wieder noch etwas anderes verstehen als er; er denkt an jene spielende Haltung des Bewußtseins, man kann aber auch daran denken, daß dasselbe Anschauliche das eine Mal Element für Element hingenommen wird mit dem gefühlsmäßig indifferenten Bewußtsein, daß diese Kenntnisnahme einen praktischen Zweck hat, während es das andere Mal mit Genuß an dieser Anschaulichkeit als solcher, mit freudigen Sinnen also, aufgenommen wird. Und weiter: »Die Anschaulichkeit und Abwesenheit aller Begriffe allein macht es nicht. Ja, sie ist nicht einmal unumgänglich nötig. Es lassen sich aus Dichtungen Stellen (!) genug herausholen, die nicht nur Reflexionen der dargestellten Personen enthalten, sondern wo mit abstrakten und gar nicht sehr lebendigen Worten die Personen vom Erzähler geschildert und charakterisiert werden, ohne daß deshalb die Geschichte (!) unästhetisch würde« (S. 10). Ganz recht, die Geschichte wird durch einzelne Stellen, die vielleicht unästhetisch sind, nicht unästhetisch; in solchen Komplexen wie einer Dichtung können ja gar nicht alle Elemente in gleicher Weise rein oder nur ästhetisch sein, in großen Kunstwerken sind sehr viele andersartige Elemente, die auch nicht einmal alle als Ausdruck und Gehalt völlig Form geworden zu sein brauchen und dann allerdings in ästhetischem Sinne etwas leere Stellen ergeben, aber dem Ganzen deshalb noch nichts anhaben. Es wird kaum ein großes Kunstwerk geben, das wirklich durch und durch bis in die letzte Faser geformt wäre. Aber solche Stellen sind dann nicht, wie Hamann meint, bloß etwas leer, jedoch nicht unästhetisch, sondern gerade auch unästhetisch. (Auch an anderen Stellen übrigens, die durchgeformt sind, ist der Genießende durchaus nicht lückenlos imstande, seinerseits sich ästhetisch zu verhalten; da sind Abschweifungen in außerästhetisches Verhalten namentlich bei umfangreicheren Werken ganz unvermeidlich und brauchen dennoch dem ganzen Werk gegenüber das ästhetische Verhalten kaum wesentlich zu schädigen.) – Ich kann dem Verfasser aber auch den letzten Absatz dieses mich besonders interessierenden Abschnittes nicht zugestehen. Er sagt hier: »Gegen die Notwendigkeit des Anschaulichen spricht aber vor allem das Geistreiche, jene Gedanken, die anregend sind, ohne daß eine definitive Wahrheit sich in ihnen entschleiert, die nur durch die Fülle der Beziehungen, das Überraschende der logischen Verknüpfungen oder gar das A

Ebd., S. 10. (In dieser Ausgabe S. 278.)

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Verkehrte, das nur mit dem Schein des Rechtes spielt, uns in vergnügte Stimmung versetzen. Schwerlich wird jemand, der die mit Bonmots gespickten Erzählungen oder Dramen Oskar Wildes liest, sie theoretisch oder wissenschaftlich nennen, weil das Amüsante in ihnen nicht anschaulich, sondern rein gedanklich ist. Eher sind sie hyperästhetisch.« A Nein, warum soll man Bonmots ästhetisch nennen? Wegen des Spielerischen der geistigen Haltung? Dafür gibt es doch ein anderes gutes Wort, nämlich unterhaltend; darin liegt auch das Vergnügliche ausgedrückt. Man kann doch nicht jedes Divertissement als ästhetisch hinstellen. Bonmots können ästhetisch sein, z. B. wenn sie Klangwitze sind oder etwa räumliche Situationskomik in ihren Vorstellungen enthalten und dergleichen, d. h. eben wenn sie – anschauliche Elemente aufweisen. Es ist durchaus nicht gesagt, daß alle Bonmots, alle geistreichen Gedanken, auf die Hamanns Beschreibung hier zutrifft, entweder in das Gebiet des Ästhetischen oder außerhalb seiner Grenzen fallen müssen, sondern sie werden sich hüben und drüben verteilen; die Begriffe Bonmot und ästhetisch schneiden sich, zeigen aber nicht einfache Subordination; sie gehen einander zunächst durchaus nichts an, und man braucht über die Frage gar nicht nachzudenken, ob man das Bonmot und dergleichen überhaupt zusammengenommen aus dem Umkreis des Ästhetischen hinaus verweisen soll oder nicht. Ich möchte hier bei der Frage des Anschaulichen noch etwas verweilen; es ist zwar nicht der Ort, die von Hamann abweichende Grundanschauung positiv auszuführen, aber einiges möchte ich doch selbst hier seiner Grundanschauung entgegenstellen. Ästhetisch heißt zunächst, dem Worte nach, sinnlich, empfindungsmäßig. So ist es von Aristoteles, so von Baumgarten und Kant gebraucht worden. Warum soll man ohne Not den Sinn einer brauchbaren Bezeichnung verschieben? Es handelt sich nicht nur darum, daß das Wort unzweifelhaft damals, als man es zuerst für dieses Gebiet in Gebrauch nahm, die sinnliche Seite der Sache meinte, sondern auch darum, daß man das Wort für die Sache bisher beibehalten hat in der Meinung, daß jene Seite in der Sache liegt, und zwar als eine recht erhebliche. Darin sind sich Antipoden wie Hegel und Zimmermann vollkommen einig gewesen Nach jener Benennung ist im ästhetischen Gebiet die äußere Empfindung bezeichnender (vielleicht nicht immer wichtiger) als die Vorstellung, geschweige als Begriffe oder auch als das Gefühl; das Bezeichnendste, das Eigentümlichste, das Unterscheidendste ist die sinnliche Seite. Wir werden zu fragen haben, ob das in der Tat so ist. Nun, jedenfalls will man doch Unter scheidungen haben, d. h. man wünscht, wie auch Hamann tut, schon im Grundprinzip nicht nur das Umfassendste für dieses Gebiet zu erfassen, sondern auch das Gebiet gegen andere Gebiete abzugrenzen und, möglichst ebenfalls schon an der Hand des Grundprinzips, innerhalb des Gebietes selber Unterscheidungen zu treffen. Dann wird sich also fragen, welche Abgrenzung z. B. gegen Wissenschaft und praktisches Handeln hin schlagender ist und welche verschwommener, die Hamannsche oder eine andere? Da A

Ebd. (In dieser Ausgabe S. 279.)

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muß ich gestehen, daß mir trotz der ganz außerordentlichen und grundlegenden Wichtigkeit, die ich dem Kantischen Prinzip der Interesselosigkeit zuerkenne, die andere Kantische Unterscheidung »Schön ist, was ohne Begriff gefällt« A unvergleichlich schlagender und in viel tiefere Klüfte hinableuchtend scheint. (Daß in größeren ästhetischen Erlebniskomplexen und gar in großen Kunstwerken eine Fülle von begrifflichen Bestandteilen stecken kann, das wird wohl nie ein Mensch übersehen haben, davon wird aber die Frage nach den spezifisch ästhetischen Elementar vorgängen, die das Wesen des Ästhetischen sozusagen in Reinkultur enthalten, gar nicht berührt.) Jedenfalls liegt es dem Durchschnittsmenschen von heute – mancher würde sagen dem Bourgeois – sehr viel weiter ab, ist ihm eine viel neuere und unerhörtere Aufklärung, daß es ein Gefallen gibt, wo der Verstand nicht die Hauptrolle spielt, als die, daß es eine Unterhaltung gibt, wo die praktischen Interessen schweigen. Namentlich wenn man den Begriff der Kultur des ästhetischen Verhaltens und schließlich auch die Eigenart der Kunst gerade gegenüber Unterhaltungen im Auge hat, dann wird man ( auch in der rein theoretischen Betrachtung, die auf Richtigkeit sieht und nicht auf pädagogische Wichtigkeit) das sensualistische Prinzip voranstellen, das nicht nur pädagogisch in unserem Volke, wie schon angedeutet, auf unabsehbare Zeit hinaus von unvergleichlicher Bedeutung ist, sondern das eben dadurch rein faktisch hinweist auf die Eigenart, auf das ganz besondere Wesen der Kunst, das unserem Volke als Publikum bisher in Wahrheit verzweifelt wenig, am ehesten noch in der Musik, wirklich aufgegangen und vertraut geworden ist. – Es handelt sich, nochmals gesagt, um die Unterscheidung der Kunst als eines Ganzen von anderen Gebieten und dann um ebenso wichtige Unterscheidungen innerhalb des ästhetischen Gebietes, unter anderem um die Unterscheidung der einzelnen Künste. Da dürfte es auch für die theoretische Vorstellung nichts Einfacheres und Schlagenderes geben als die sinnliche Empfindung; daß man die Künste in solche des Auges und des Ohres teilt und immer teilen muß, das kann schon dafür sprechen, daß man noch allgemeiner bei den im ästhetischen Gebiete nötigen Unterscheidungen unsere Sinne zugrunde legt. Dadurch scheint mir auch die Abgrenzung des Ästhetischen vom Moralischen, diesem ganz und gar unsinnlichen Verhalten, gegeben oder endlich der Unterschied zwischen dem wieder ganz anderen und allerinnerlichsten religiösen Erleben. Die alte Einteilung enthält immer noch etwas Treffendes und Brauchbares: Wissenschaft ist das durchgeistigte Gebiet des Verstandes, Moral das durchgeistigte des Willens, Religion das höhergeistige des Gefühls (etwa neben dem mehr lebensmäßigen oder naturhaften großen Gefühlsgebiet des Familienlebens), und das ästhetische Gebiet ist dann unzweifelhaft das der sinnlichen Empfindung und Vorstellung. Mancher mag auf solche starken und klaren Einteilungen nicht so sehr aus sein, weil er überhaupt ein komplizierter Kopf ist, es gibt aber Leute, deren oberster Begriff auf dem Gebiete der Kunst die Klarheit ist (Fiedler, Hildebrand, Wölfflin) – diese A Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft (1790). In: Kant’s gesammelte Schriften. Hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. 1. Abt, Bd. 5. Berlin 1908, S. 211 (§ 6).

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werden auch in der Kunstwissenschaft kräftige natürliche Unterscheidungen dankbar empfinden. Darüber läßt sich freilich keine Belehrung geben, ob man in der Kunst mehr Klärung oder Bereicherung suchen »solle«; es wird dieser individuelle, aber typische Unterschied schließlich verwandt sein (aber nicht identisch) mit dem Unterschied zwischen mehr formal interessierten Personen und anderen, die auch inhaltlich interessiert sind. Welche jener beiden Richtungen man also bevorzugt, das mag persönlich bedingt sein, theoretisch wichtig sind beide. Man wird daher auch diese Vorrangsfragen der Grundbegriffe in ihrer Erheblichkeit nicht überschätzen wollen, das Wesentliche bleibt ja, daß die Wirkungen auf dem ästhetischen Gebiet, die tausendfacher Art sind, möglichst umfassend festgestellt werden und man die möglichen psychologischen Verhaltungsweisen kennen lernt; wie weit es dann möglich ist, letzte Grundprinzipien in ihrem Gewicht abzuwägen und einen Vorrang dazwischen zu bestimmen, das ist überhaupt zweifelhaft. Ein Monismus, also die Annahme eines letzten Grundprinzips, ist hier so wenig selbstverständlich wie irgendwo sonst. Die Stellung der einzelnen Erkenntnisse, der mehr oder weniger umfassenden Prinzipien im System der Ästhetik ist immerhin weniger wichtig; das System kann nämlich allerlei (ja lauter) richtige Einzelerklärungen enthalten und nur ihr Verhältnis in einem besonders auffallenden Grade verschieben und dann manchen Beurteilern schief erscheinen, die deshalb die einzelnen Erkenntnisse nicht etwa durchweg anfechten; so geht es mir mit Hamanns, an neuen feinen Bemerkungen und Erklärungen gewiß reichem Buche. Z. B. ist es ein prinzipiell bedeutender systematischer Mangel, daß sein Grundprinzip bei ästhetischen Elementargebilden, z. B. wie Linienornamenten, an denen doch schon sehr junge Menschen (etwa Knaben, die anfangen zu zeichnen) Gefallen finden können, recht wenig besagt, während die sensualistische Theorie gerade in den Elementen ihr Bestes gibt, wie jede Wissenschaft, die es irgend erreichen kann, sich auf Erkenntnis von Elementarbeziehungen stützt. Das Buch von Cornelius hat gezeigt, daß auch auf diesem Gebiet feste Gesetze der Elementarverhältnisse zu finden sind.A – Was ist nun in positiver Ausführung nach Hamann das Wesen des ästhetischen Zustandes? Die Isolation, wie sie sich am einfachsten zeigt bei Rahmen und Sockel. Ich bin fern davon, diese objektiven Geräte oder Veranstaltungen zu unterschätzen oder gar den entsprechenden inneren Zustand des Betrachters; und wenn die Bestimmung der Isolierung von Hamann vor allem als eine antinaturalistische Tendenz festgehalten würde, so würde ich sie, wenigstens für die Erken[n]tnis der Kunst, fast als gleich wichtig mit den sensualistischen Bestimmungen erachten können. Wenn er aber meint, daß alle scheinbar eine andere Methode befolgenden Ästhetiker an der Charakterisierung des ästhetischen Erlebnisses als des isolierten orientiert sind, so irrt er. Für Fiedler z. B. trifft es ganz sicher nicht zu. Hamann bringt dann die alten guten Beispiele, wie der Bauer sein Feld betrachtet und wie A Vgl. Hans Cornelius: Elementargesetze der bildenden Kunst. Grundlagen einer praktischen Ästhetik. Leipzig / Berlin 1908.

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anders der Spaziergänger eingestellt ist, der sich am Anblick selber freut. Er sollte nur weitergehen und die Funktion des Sehens selber schon, ganz unabhängig vom Inhalt, richtig einschätzen, das bloße Schauen, das bei Künstlern unwillkürlich ist, beim Laien freilich meist bewußter Einstellung in diese Richtung bedarf, das aber jedenfalls im ästhetischen Verhalten mehr zu seinem Recht kommt als irgend sonst, wo andere seelische Betätigungen ihm Konkurrenz machen. Außerdem aber sind auch viele Inhalte da, die sozusagen rein optisch oder akustisch für den peripheren und den zentralen Seh- und Hörapparat zuträglich sind; und noch vieles andere Sinnliche klingt an, so daß dies alles zusammen schon für sich völlig ausreichen kann, um den Inhalt eines selbstgenügsamen und starken Erlebnisses zu bilden. Die Hingegebenheit an solches Erlebnis ist auch etwas Spezifisches, wozu wir sonst im Werk- und Alltag mit all den Zwecken und Freuden nicht kommen. Aber es handelt sich, wie eben gezeigt, beim Ästhetischen auch um etwas inhaltlich Spezifisches, wobei »inhaltlich« freilich noch etwas rein Sensuelles bedeuten kann; nicht handelt es sich nur um eine besondere Art von Tätigkeit oder, wie Hamann meint, seelischer Zuständlichkeit, wo die Inhalte dieselben wären wie sonst überall im Leben, nur daß die Fäden zu den gewöhnlichen Lebenszusammenhängen gelöst wären! Und wenn er weiter sagt: wenn wir von reiner Betrachtung sprächen, so enthalte dieses »rein« den Schlüssel zum Wesen des Ästhetischen, so ist auch dies ganz meine Meinung, nur denke ich da bei dem Worte »rein« weniger an den Kantischen Sinn der Bezeichnung als an den Goetheschen; auch bei Goethe nämlich spielte das Wort eine große Rolle: er wollte die Natur und alles Menschliche »rein« aufnehmen lernen, das hieß aber nur: ungefälscht, sozusagen möglichst objektiv, möglichst offen, ohne Vorurteil, ohne Voreingenommenheit, mit ganzer Hingebung. Diese Offenheit war gerade bei ihm bereits sinnlich vorhanden, und die Hingebung kann sich in der Tat schon an die sinnliche Seite der Dinge richten. Ungestört aufnehmen wollte Goethe vor allem, sein ganzes Leben lang; »Ihr beobachtender Blick«, so schrieb ihm Schiller, »der so still und freundlich auf den Dingen ruht . . .« Da haben wir eine Anlage und Gemütsverfassung, die uns weiteren Einblick eröffnet in die Beziehungen zwischen dem interesselosen Verhalten und dem ruhigen Anschauen. Bald kann das eine, bald das andere von beiden Vorbedingung oder Folge sein. Daß die Kontemplation im weiteren Sinne aus der Versenkung in die sinnliche Anschauung entstehen kann, wurde bereits im vorigen gestreift, hier erkennen wir auch die umgekehrte Möglichkeit: zum schauenden Verweilen muß man Zeit haben und frei von Geschäften sein. Wer sich aber z. B. ärgert, dem kommt etwas anderes dazwischen, der erfährt eine Hemmung und »verliert den klaren Blick«, wie wir sagen, sicherlich auch sinnlich. Nun, jedenfalls gehören beide Faktoren zusammen, die Freiheit, wie Schiller in Fortbildung Kants auch hier sagte, und die sinnliche Gegenwart, daher denn auch Jonas Cohn Anschaulichkeit fordert, weil ja Kant bloße Betrachtung verlange. (Zur bloßen Betrachtung im ästhetischen Sinne darf man nicht wie Hamann auf S. 17 tut, Anschauung oder Reflexion rechnen.) – Auch das Wort Schauspiel faßt jene beiden Faktoren zusammen,

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das Schauen so gut wie daß das Vorgeführte nur ein Spiel, »ein Schauspiel nur« bedeute. Das Wort Schauspiel kann man für die Kunst überhaupt in derselben Breite verwenden wie das Wort Bildlichkeit; wo ein Schauspiel ist, da gibt es etwas zu sehen, aber nicht nur in dem Sinne, daß der Verstand eine Mitteilung von Geschehnissen durch das Auge empfängt, sondern auch so, daß eine angenehme Beschäftigung des Auges stattfindet, daß das Sehen selber Vergnügen macht. Wenn Hamann das Anschauliche auch beim Demonstrieren zu finden meint, so arbeitet er mit einem anderen Begriff von Anschaulichkeit als wir; er meint recht wirkliche Darstellung, und wir meinen Klärung und Bearbeitung nach Bedürfnissen des Auges oder Ohres. Und wenn er einwirft, ein Tendenzstück sei auch anschaulich, so dürfen wir erwidern, daß dessen Mängel auch unter unserem Gesichtspunkt einleuchten: im Tendenzstück wird eben durch die Konkurrenz anderer Momente das Schauen gestört. Für uns ist im Worte Schauspiel nicht die Hauptsache, daß es ankündigt, es sei »etwas los«; das Goethesche Vorspiel auf dem Theater meint nur die Schaulust der Menge, wenn es sagt: »Vor allem laßt genug geschehen«; wir stimmen deshalb Hamann auch in der weiteren Meinung nicht bei, daß das Erleben überhaupt – auch und gerade das von solchen Dingen, die uns im praktischen Sinne »eigentlich nichts angehen« – ästhetisch sei; das erscheint uns zu weit, denn dann gehört jeder Zeitvertreib, nicht bloß z. B. Unterhaltungsliteratur, ebenfalls dazu. Die Anschaulichkeit umschreibt einen bestimmteren Kreis und doch ist ihr Begriff weit und umfassend genug, um sich zum Grundbegriff zu eignen. In die sinnliche Form kann fast alles eingehen, fast alles sich darin ausdrücken; und soweit es sich sinnlich ausdrückt, es sei, was es sei, ist es ästhetisch. Wir brauchen also durchaus nicht einseitig formalistisch zu sein wie Zimmermann A oder Siebeck B; wie ja umgekehrt der Formalismus nicht sensualistisch zu sein braucht, denn es gibt auch innere Form, und manche Form, z. B. in großen Romanen, ist so weit ausgespannt, daß man sie nur mit erheblichem, intellektuell unterstütztem Formensinn erfaßt. Über Siebeck nun hat Hamann in dem Abschnitt über »ästhetische Theorien« (Seite 19) eine interessante Stelle. Wenn Siebeck, ausgehend von Kants Bestimmung, daß im Ästhetischen das Interesse an der Existenz des Gegenstandes ausfalle, die im Anblick, im unmittelbaren sinnlichen Erleben gegenwärtige Gestalt als das eigentlich Wichtige erklärt, d. h. (bei ihm) die bloße Oberfläche, wogegen er schon das, was als materielle oder organische Struktur dahinterliegt, ausschließt, – so erscheint uns das freilich übertrieben und wir geben Hamann recht, wenn er sagt: »Dann ist das Weitergehen von der Oberfläche zum Seelisch-Innerlichen ebenso unberechtigt«.C Gewiß, es treten notwendig andere Prinzipien zu dem rein Vgl. bes. Robert Zimmermann: Allgemeine Aesthetik als Formwissenschaft. (Ders.: Aesthetik, Bd. 2.) Wien 1865. B Vgl. Hermann Siebeck: Das Wesen der ästhetischen Anschauung. Psychologische Untersuchungen zur Theorie des Schönen und der Kunst. Berlin 1875. C R. Hamann: Ästhetik, S. 19. A

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sensualistischen hinzu, namentlich das Ausdrucks- oder Gebärdenprinzip, das ja einzigartig glücklich Form und Inhalt, Äußeres und Inneres, Bewegung und seelischen Ablauf, Zeichen und Bedeutung zusammenschmilzt. Das ästhetische Erleben ist eben mannigfach und kompliziert und deckt und erschöpft sich nicht mit dem, was man dabei als zentral oder als das Umfassendste oder Spezifischste bezeichnen möchte. Aber auf manche ganz besonders eigenartigen Erlebnisse kann dennoch Siebeck mit seiner Einseitigkeit oder, wenn das Wort erlaubt ist, Außenseitigkeit aufmerksam machen. Es gibt nämlich ganz elementare, völlig unmittelbare sinnliche Erlebnisse, die doch schon alles, was für das Ästhetische wesentlich ist, enthalten; also etwa der Anblick einer einzigen schönen Farbe (wie oft behalten wir aus einem Gemälde eine einzige Farbe jahrelang im Gedächtnis) oder das Verfolgen einer Linie oder der intensive Genuß der Klangfarbe eines Tones; diese Wirkungen die wir manchmal ganz »verloren« oder versunken, sozusagen »dösend« einsaugen mögen, können geheimnisvoll stark und sehr tief sein, was man am besten mit dem Wort »elementar« zusammenfaßt. Goethe wußte viel davon zu sagen, z. B. in der Farbenlehre und in Äußerungen über Versmaße. Rätselhaft bleibt so etwas nur für den, der nicht aus dem vollen organischen Leben des Menschen zu erklären vermag, der z. B. bei der Psychologie des Lichtes nicht schon die physischen Einwirkungen des Sonnenlichtes, die unseren Körper so gut wie Tiere und Pflanzen treffen, heranzieht oder bei Darstellungen der Atmosphäre den Druck der Luft in Rechnung zu setzen vergißt, den wir auch beim Anblick eines Bildes nachempfinden können. Es klingen also tausend dunkle Erlebnisse an, die im einzelnen unter der Schwelle des Bewußtseins bleiben, die wir aber in ihrer Summierung als Stimmung spüren und die gerade dem Ästhetischen jenen gefühlsähnlichen dunklen Charakter geben, der so oft zum Mißbrauch des Gefühlsbegriffs in der ästhetischen Theorie geführt hat. Hier wird am allerdeutlichsten, wie das ästhetische Erlebnis etwas fundamental anderes sein kann als alles, was wir aus dem hellen Tagesbewußtsein, etwa gar dem wissenschaftlichen Verstand, kennen. Es kommt vor, um noch einige Beispiele sozusagen rein sinnlicher Erlebnisse zu geben, daß man selbst in der Natur, etwa in einer langen Allee, in der man geht, deren Perspektive momentan nicht »versteht«, sondern wirklich sozusagen nur netzhautmäßig sieht, also einfach konvergierende Linien wahrnimmt an Stelle einer Raumvertiefung 1; wo aber dennoch dann dieser Bewußtseinszustand keineswegs für unser unmittelbares Auffassen eine Leere bedeutet, uns nicht etwa als Seelenlosigkeit oder Geistesabwesenheit im Sinne eines Mangels erscheint, sondern ganz positiv als Befreiung, Entlastung, Transposition, Entrückung in eine andere Daseinssphäre und höchste Konzentration Ähnlich hat der wohl ein Bild nicht genügend gesehen, der Schatten nur sofort als Schatten und Raumvertiefung und nicht auch als Dunkelheit apperzipiert; und der hat gewiß nicht ausreichend ein Glanzlicht gesehen, der sich nicht auch einmal klar wurde über das Weiß oder den Grad von Grau oder Gelb, der an der Stelle zu sehen ist; nicht bloß der Maler muß wissen, daß schwarze Stiefel um so weniger schwarz aussehen, je mehr sie geschwärzt und gewichst werden, und das gehört auch nicht bloß zum Wissen des Theoretikers, sondern das muß man auch jedesmal sehen – weil man’s sehen kann. 1

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auf etwas rein Sinnliches. Da liegt, möchte man sagen, die ganze Seele im Auge, da ist man im höchsten Grade gesammelt, schier gegen alles Wissen und alle Lebensbeziehungen abgeschlossen, wenn auch natürlich um den Preis, daß große Bewußtseinsschichten schweigen und schlafen. Gewiß sind diese Momente nicht allzu häufig und spielt das gewöhnliche Kunsterlebnis nicht derart gleichsam auf einer einzigen Saite. Dennoch erscheinen mir solche Erlebnisse als Urphänomene des ästhetischen Erlebens, Prototype ästhetischer Elementarvorgänge »in Reinkultur«; und »in Reinkultur« ästhetisch können meiner Ansicht nach überhaupt nur einzelne Elementarvorgänge sein. Die rätselhafte Tiefe solcher Erlebnisse, die ihnen für unser Bewußtsein ganz unvermittelt anhaftet, erklärt sich zum Teil dadurch, daß gerade bei möglichst rein sinnlichen Erlebnissen, bei diesen ganz unmittelbaren, durch keinerlei Verstandesoperation vermittelten Erlebnissen, zugleich ganz andersartige elementare Erlebnisse aus den Gründen und Abgründen der Seele empor an das Tageslicht der Seele oder doch in dessen Dämmerung zu dringen vermögen. Die Oberfläche der Seele gleichsam muß eben und still sein, wie sie vielleicht nur in der vollkommenen Ruhe der rein sinnlich verlorenen oder versunkenen Kontemplation, des bloßen Schauens vorhanden ist; wo nichts weiter sich in uns regt und wir ganz passiv, nur rezeptiv und vergessen hingegeben scheinen; dann steigen (gleichsam!) feine Blasen auf, die sich vom Grunde der Seele wohl auch sonst lösen, deren Steigen man aber bei bewegter oder stürmischer Oberfläche, d. h. bei gewöhnlichem Tagesbewußtsein, nicht bemerkt; nur bei unbewegter Oberfläche kann man einem tiefen Wasser auf den Grund sehen; und stille Wasser sind tief, das gilt auch hier. Wie die religiöse Kontemplation, etwa buddhistische Versenkung, ein völlig gleichmütiges, unbewegtes, ja geistesabwesendes Antlitz nach außen zeigt (man mag an die Buddhastatuen denken), so können auch in den Momenten ästhetischer Kontemplation, wenn an der Oberfläche des Bewußtseins nichts von Affekten oder Begriffsoperationen vor sich geht, vielleicht die Tiefen um so ungestörter sprechen. Gerade wenn das Oberbewußtsein schweigt und fast schlafähnlich gesammelt ist, kommt das Unterbewußtsein zu seinem Recht. Nichts aber ist in der Seele so elementar, so einfach wie die Sinnesempfindung, die daher und vermöge ihres eindringlichen Charakters in besonderem Grade zu sammeln und sozusagen die sonst vom Oberbewußtsein behaupteten Provinzen der Seele frei zu machen vermag für andersartige, seltene Erlebnisse! Bekanntlich bedient sich der Buddhist zu Zwecken völliger Sammlung und Versenkung in die Meditation, in die Iha¯ nas, wohl eines blanken Knopfes oder ähnlicher ganz starker und einfacher Eindrücke, die das Auge oder Ohr und damit das Bewußtsein überhaupt zu bannen vermögen. Selbst der bannende Basiliskenblick eines Schlangenauges ist nur ein besonders starkes Beispiel für die Macht rein sinnlicher Eindrücke, das Bewußtsein sozusagen punktuell zu konzentrieren, zu verengen und auch, wie sich an dem Beispiel des Schlangenauges zeigt, die Willenstätigkeit ebenso wie die höheren intellektuellen Funktionen auszuschalten; nur daß im Ästhetischen das Positive auch in den unterbewußten Regungen, Stimmungen liegt, die nunmehr gleichsam freier steigen können. Es tritt also hier

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ein positives Resultat ein, ebenso wie bei der religiösen Meditation des Derwisches (wodurch, davon nachher). Wenn auch im Ästhetischen die sinnlichen Elemente zumeist nicht so einfach sind und also nicht zu so bohrender Fixierung des Blickes und des Bewußtseins führen, wie in jenen außerästhetischen Beispielen, wo das Bewußtsein gleichsam wie in einen Trichter hineingesogen und verengt wird 2, so bleibt doch auch im Ästhetischen eine durch das soeben Gesagte verständliche Abblendung des gewöhnlichen Tagesbewußtseins ein wichtiges Resultat der rein sensuellen Faktoren und berührt sich ja übrigens durchaus mit dem, was Hamann als das wichtigste Kennzeichen des Ästhetischen hinstellt. Vor allem aber scheint mir schließlich an dieser eben beschriebenen Bewußtseinslage wesentlich, daß alles, was nunmehr im Bewußtsein ist, im Unterschied vom Tagesbewußtsein einen eminent unmittelbaren Charakter trägt. Hier liegt der wesentliche Unterschied der Kunst, z. B. auch gegenüber der Wissenschaft; nicht nur darin besteht dieser, daß in der Kunst kein theoretisches Interesse vorhanden ist, sondern noch viel spezifischer ästhetisch sind diejenigen Bewußtseinslagen, wo überhaupt keine Vermittlung durch Verstandesoperationen stattfindet. In diesem unmittelbaren und direkten Charakter der ästhetischen Erlebnisse liegt ihre Stärke, um derentwillen man ebenfalls in ästhetischen Theorien mit dem Gefühl operiert hat, da man gewöhnlich so starke Erlebnisse nur aus dem Gebiete des Gefühlslebens kennt. Die Eindruckskraft des Ästhetischen, die besondere Wirkungsfähigkeit liegt in seinem unmittelbaren Charakter, den sowohl seine sinnlichen wie seine Stimmungselemente tragen! Wie diese beiden zusammenhängen können, wie den Stimmungselementen durch die sinnlichen der Weg zur Schwelle des Bewußtseins gebahnt wird, das habe ich im vorigen kurz anzudeuten versucht und möchte hinzufügen, daß ich unter den Stimmungsmomenten hier zum guten Teil wieder die allerunmittelbarsten, d. h. elementare, organische, ja sozusagen vegetative verstehen möchte. Auch darum sind ästhetische Erlebnisse so stark, weil sie so viel Primitives, Körperliches, Sinnliches auch noch als Inhalt, nicht nur in der Form enthalten. Gerade durch diese Einfachheit, durch die Sinnlichkeit der Form und teilweise auch des Gehalts der Kunst, durch die Simplizität der »Seelenoberfläche« des Aufnehmenden im Vergleich mit dem gewöhnlichen Tagesbewußtsein, versteht man nach dem vorigen zum Teil die Tiefe der Kunstwirkungen, die ja ebenfalls durch das Wort »elementar« erklärt wird. Und schon hierdurch begreift man viel von dem Geheimnis und all dem Rätselvollen, was die Kunst bieten kann; das hebt sie herauf aus tiefen Gründen, wo es sonst schläft, unterdrückt vom Getriebe des Werktags, übertönt von den grelleren Geräuschen des gewöhnlichen Seelenlebens oder überstrahlt vom blendenden Tageslicht des Verstandes und des Alltags. So besitzt die Kunst vielfach die Dunkelheit (aber auch die Wärme), die sonst unserem Wirkt aber nicht bei Rembrandt oft die eine ins Licht gehobene Stelle so faszinierend, so magisch anziehend auf das Auge wie in einer Art von vegetativem Heliotropismus, daß schon dadurch die unerhörte Konzentration und das »Frappierende« des Eindrucks sich erklärt? Ein solcher Sonnenblick etwa, manchmal schier punktuell zwischen tiefen Dunkelheiten aufleuchtend, muß ja fixieren, ja kann in ungeschickter Anwendung vexieren, schmerzhaft stark ins Auge dringen. 2

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Gefühlsleben, verglichen mit intellektuellen Funktionen, eignet (doch darf man sich, wie mehrfach betont, von dieser Ähnlichkeit nicht verleiten lassen, die Rolle des Gefühls in der Kunst zu überschätzen); Dunkles, ja Mystisches birgt sie so häufig, schon weil so vielerlei Elementares mitspielt, das nur in seiner Summierung, in seinen Resultaten halbwegs spürbar ist, nicht aber in den einzelnen Elementen. So erfaßt man ausgiebig die psycho-physische Wirkung der Kunst, die so stark körperlich ist und zugleich das Innerste der Seele, sozusagen ihre mythischen Schichten aufregt. Das ist ja unsere menschliche Natur: Seele und Leib, bis ins Tiefste hängen sie zusammen. Und je somatischer die Wirkungen der Künste verstanden werden, um so verständlicher wird zugleich ihre seelische Bedeutung. Dann wird das Organische, das Einheitliche, das Lebendige und Belebende der Kunstwirkung voller begreifbar; hier kann man die oft nur phrasenhafte Rede, daß der »ganze Mensch« an den Kunsterlebnissen beteiligt sei, einigermaßen berechtigt finden. Wie merkwürdig hat z. B. Schmarsow das Menschlich-Körperliche in den Eindrücken der Künste lebendig gemacht, welche Vielfältigkeit und welche Kraft des Erlebens hat er uns aufgewiesen einfach an der Hand des körperlichen Baues und der körperlichen Funktionen des Menschen, lauter sinnlichen Inhalten, wenn auch nicht lauter direkten, sondern zum Teil auch indirekten oder vermittelten, die nur im Anschluß an den Augeneindruck lebendig werden – mag man für die Verknüpfung all dieses reichen Gehalts mit der sinnlichen Empfindung nun als letzten erklärenden Begriff die Assoziation oder die Einfühlung oder die Gebärde nennen. Mir scheint, in der Gebärde liegt auch die Erklärung, warum bei jener oben geschilderten Versenkung oder Abblendung des Tagesbewußtseins nun in das Bewußtsein, das durch die sinnliche Konzentrierung sozusagen nur erst frei geworden ist, diese und diese bestimmten Regungen eintreten oder heraufdringen: sie hängen gebärdenhaft mit den der unmittelbaren Wahrnehmung gebotenen sinnlichen Elementen zusammen. Ich glaube also, daß man ganz gut ein Stück mit Siebeck und über ihn hinausgehen kann, ohne zu stranden oder zu versanden, ja daß man im Flusse dieser Gedanken ins weite und tiefe Meer der vollsten ästhetischen Wirklichkeit gelangt. Man kann sie noch sehr ausweiten und vertiefen, nicht nur im Sinne Fiedlers, der seinerseits schon einen Riesenschritt über Siebeck hinaus getan hat, wenn er auch sozusagen nur erkenntnistheoretisch interessiert war und das Ästhetische als eine Art Erkenntnis nahm und außerdem in einem einseitigen und hartnäckigen Formalismus beharrte; auch ihn kann man ersichtlich noch beträchtlich ergänzen, und zwar im wesentlichen mit Hilfe des Ausdrucksprinzips, wie es z. B. Hausegger für die Musik getan hat; diesem werden wir dann freilich ein unendlich umfassenderes, großartigeres System der Kunsteinsicht zugestehen, als es seinem Antipoden Hanslick zugänglich war, der Hauseggers Ansichten zwar widersprach, dem umgekehrt aber in seinem positiven Teile Hausegger nicht zu widersprechen brauchte. Man bleibt also nicht notwendig oberflächlich, flach, leer, ärmlich, wenn man das Sinnliche voranstellt, und wenn man dafür auch in der Theorie eine offene Empfänglichkeit hat; es ist nichts Äußeres, nichts Äußerliches, auch nicht bloß eine

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sehr wichtige Durchgangsstation, sondern es ist selber etwas höchst Lebendiges, Organisches, Naturhaftes, Saftiges, Starkes, etwas Warmes, ja gelegentlich Glühendes und Üppiges, man braucht ja nur den Namen Heinse zu nennen. Um aber zu Hamann zurückzukehren, so will ich zum Schluß noch zwei meiner Ansicht nach große Mängel seiner Grundanschauung hervorheben, die etwas später hervortreten und beide in einer ungenügenden Abtrennung des Ästhetischen von anderen Gebieten bestehen. Da für ihn, wie schon gesagt, jede Kontemplation, also auch die Reflexion, ästhetisch ist, so führt das u. a. zu der eigentümlichen Folge, daß er auch die philosophische Kontemplation eigentlich nicht abzutrennen vermag von der ästhetischen und ebenso die religiöse und mystische gelegentlich offenkundig hineinzieht; alle Werte der Entsagung, der Abkehr vom Leben, der Erlösung von den Begierden wären dann ästhetische Werte und der Buddhismus etwa wäre vollendeter Ästhetizismus. Von dem Schopenhauerschen Lebensgefühl spricht der Verfasser diese Ansicht geradezu aus (Seite 42): »Die ganze Schopenhauersche Metaphysik ist eine Art Ästhetik des Ästhetizismus.« Das erscheint mir nun als ein innerlich allzu interesseloses Spiel mit Gedanken und mit großen Gedanken – das dadurch aber keineswegs etwa selber ästhetisch wird. Ich halte es für eine Beleidigung so großer Lebensformen. Mag Schopenhauer selber die ästhetische Betrachtung von der philosophischen und religiös-mystischen nicht streng scheiden (das ist eben auch bei ihm ein Mangel, der genugsam bekannte Mangel aller Romantik), so ist doch auch für ihn keineswegs, wie Hamann meint, »die Kunst oder die Kontemplation« A das Ziel des Lebens; mag auch die Kunst für ihn eine so große Rolle spielen, daß man seine Ästhetik in Parallele mit den Erlösungsreligionen als eine Erlösungsästhetik bezeichnen kann, und mag auch die Kunst bei ihm ihren Hauptwert empfangen durch die Seligkeit der Erlösung vom Leben und Leiden, so ist doch umgekehrt auch nach ihm diese Seligkeit nicht auf ästhetisches Verhalten angewiesen und empfängt nicht von da aus seinen Wert! Ich muß gestehen, daß solche Hamannschen Konsequenzen einer zu weiten Fassung des Begriffs »ästhetisch« für mich etwas Erschreckendes haben; wenn diese außerästhetischen – überästhetischen – Dinge, die für manchen unter uns denn doch noch Höheres bedeuten als wenigstens die Breite des ästhetischen Lebens (wenn auch nicht Höheres als einige größte Werke und seltenste Erlebnisse), wenn die also für solche Auffassung ins ästhetische Gebiet gleiten können, so ist das theoretisch und kulturell gleich bedenklich. Und noch eines: da Hamann, wie mehrfach bemerkt, den reinen Erlebniswert oder den Selbstzweck des Erlebnisses für ausreichend hält, um es ästhetisch zu nennen, so wird ihm eine letzte, aber sehr wichtige, auch von ihm für wichtig gehaltene Unterscheidung schwer und gelingt ihm nicht: die des ästhetischen Lebens und Schaffens vom Spiel. Sie gelingt ihm nur durch den sonderbaren Einfall, das künstler ische Schaffen aus dem Gebiet des Ästhetischen auszuschließen! Er erklärt die Spieltheorie für die wohl wichtigste von allen ästhetischen Theorien; A

Ebd., S. 42.

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Spiel und Kunst stimmen in der »Erlebnisart« überein, auf die es ihm gerade ankommt; aber wie unterscheiden sie sich nun? Hamanns Antwort lautet: »Spiel ist eine produktive Tätigkeit, eine Aktivität, Klavier spiele ich, aber Musik, die ich höre, erlebe ich ästhetisch, Theater spiele ich, aber das Drama sehe ich in ästhetischer Verfassung an. In der ästhetischen Betrachtung verhalte ich mich rezeptiv.« A Und der Schaffende? Verhält er sich nicht ästhetisch? Gewiß, er arbeitet oft, er will etwas (nicht immer, oft muß er auch bloß und erlebt eine Entladung, eine reine Funktion, der gegenüber er »Zuschauer« ist), aber auch wenn er etwas will, will er doch etwas Ästhetisches und muß die ästhetische Wirkung schon einigermaßen vorausnehmen oder überhaupt in einer ihr irgendwie ähnlichen Verfassung sein neben seiner Arbeitstätigkeit und zwischen ihr immer wieder; zwischendurch mag es Strecken der Arbeit geben, die kaum noch etwas Ästhetisches enthalten, – aber diese Strecken gerade, die am allerwenigsten spielerisch sind, würden sich nach Hamann nicht vom Spiele unterscheiden lassen. Wir haben dagegen bisher gemeint, eher und mehr als der Schaffende spiele denn doch der Aufnehmende. Das rezeptive Aufnehmen eines wichtigen Spieles aber ist auch noch nicht ästhetisch, denn wenn Hamann fortfährt: »Ein Rätsel, das ich löse, eine Partie Schach sind eine spielende Gedankentätigkeit, aber Bonmots, die ich lese, genieße ich ästhetisch« B, so läßt sich das in dieser Allgemeinheit bestreiten. Die Bonmots können ästhetisch sein, brauchen es aber, wie schon gesagt, nicht, nach meiner Ansicht sind sie es dann nicht, wenn sich nicht ihre witzigen Beziehungen auf anschauliche Elemente gründen. Das interesselose Gefallen an geistigen Leistungen kann rein intellektueller Art sein, ist noch nicht ästhetisch, sondern vielleicht wissenschaftlich – wenn auch nicht wissenschaftlich aktiv, sondern wissenschaftlich rezeptiv. Denn auch das Gebiet des Wissenschaftlichen umspannt diese zwei Seiten, genau wie das Ästhetische. Ein seltsamer Versuch Hamanns, Produktion und Konsumtion plötzlich hier auf einem Lebensgebiet so sehr auseinanderzureißen, während sie hier wie überall zusammengehören; man trennt doch sonst Lebensgebiete nicht ab, indem man sie mitten durchschneidet und überall erlebt das Aufnehmen in gewissem Grade das Schaffen nach. Hamann reißt Schaffen und Aufnehmen gewaltsam auseinander, wie er überall mehr teilt als verbindet. Es ist bemerkenswert, daß er denn auch an dieser Stelle, um den Unterschied des Ästhetischen vom Spiel nun zu markieren, die Anschaulichkeitstheorie als Lückenbüßer zulassen muß, so lange nämlich, »als man das Merkmal benutzt, das Ästhetische vom Spiel zu unterscheiden, nicht aber, sobald es die ästhetische Betrachtung von der außerästhetischen scheiden soll« C. Diese Logik dürfte gekünstelt erscheinen: auch das Spiel ist hiernach doch etwas »Außerästhetisches«, wovon das Ästhetische eben unterschieden wird. Im übrigen ist für mich der Unterschied zwischen dem Spiel und dem Ästhetischen hier sekundär, die Hauptfrage bleibt: Wo liegt das Spezifische des Ästhetischen? A B C

Ebd., S. 24 f. Ebd., S. 25. Ebd.

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Mit diesem Grundproblem der Ästhetik will ich mich hier in der Besprechung begnügen. Ich habe 25 Seiten des Buches genau durchgesprochen. Daß es überall interessant ist, möchte ich noch einmal betonen, besonders werden die freilich kurzen Abschnitte über die »konstituierenden Merkmale des ästhetischen Erlebnisses« fesseln (namentlich unter Nr. 3, »Intensivierung« A), weil sie zum Teil neue Kategorien aufzustellen versuchen, d. h. Begriffen, die wir alle schon kennen, zu einer festen Stelle im System und zu dem Rang von Grundrichtungen zu verhelfen suchen. Solche Begriffe sind z. B. Aktualität, Impressionskraft, Bedeutung und Sensation, Irritation, Suggestivität und das Ergreifende. Aber seltsam ist auch hier die Anordnung: mit diesen Begriffen koordiniert behandelt er z. B. den assoziativen Faktor; oder er möchte die Sinnenfreude unter einen Spezialpunkt (nämlich unter 3b, Impressionskraft B) einordnen, als ob dor t ihre bescheidene Stelle wäre! Wie sehr er damit daneben greift, wie wenig er wirklich sensualistische Theorien damit trifft, zeigen die Worte: »Sinnenfroheit ist manchem geradezu identisch mit Ästhetik und Kunst geworden. Die Kunst pflegt farbiger zu sein als das Leben. Glanz und Pracht spielen eine besondere Rolle im ästhetischen Erlebnis, der Zauber der venezianischen Kunst beruht zum großen Teil auf diesen Sinnesintensitäten.« C Was hat das z. B. mit dem strengen, ja herben Sensualismus eines Fiedler zu tun, den man bekanntlich ebensogut einen Idealismus der abstrakten Räumlichkeit nennen kann? Fiedler zielte auf nichts weniger als auf virtuose Tapezierer wie Veronese oder Tiepolo. Man sieht: wo man so aneinander vorbeiredet, ist eigentlich ein Kampf der Meinungen nicht möglich, aber auch nicht nötig. Wenn ich, um diese etwa kasuistische Besprechung, die jedoch der Denkweise und Anordnung des Buches entspricht und ihr gefolgt ist, wenigstens etwas zusammenzufassen, zum Schluß noch einiges über die Form des Buches und seine Denkart sagen darf, so ist das erste, was mir auffiel, daß es mit recht komplexen Fragen und einer ziemlich kasuistischen Behandlung sofort beginnt; das wird ihm nicht jeder Leser danken. Ob z. B. gerade so komplizierte Fälle wie das Porträt oder das Heldenepos mit seiner Verwandtschaft zur Geschichtswissenschaft mit Nutzen so bald am Beginn des Buches Erwähnung finden? Diese Dinge könnten nachher, als für die theoretische Durchführung reizvolle Mischungen bereits erörterter Elemente, besser am Platze sein. So aber erhält man nicht zunächst starke und einfache Unterschiede, die als Grundlage des weiteren Aufbaues sich einprägten, und so konnte es geschehen, daß die Begriffe Kunst und künstlerisch überhaupt nicht definiert werden und doch sofort damit gearbeitet wird. Verursacht ist diese Anordnung zum Teil durch eine Vorliebe für scharfsinnige Distinktionen und Diremptionen, die auch der Begriffsbildung Hamanns nicht selten etwas Kapriziöses, wenn nicht Eigensinniges gibt. Bemerkenswert ist dabei weiterhin, was wir noch eben an einem Beispiele fanden, daß er bei seinem Sinn für Unterscheidungen oft allzu harsch A B C

Ebd., S. 30. Ebd. Ebd.

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auseinanderreißt und sich graduelle Übergänge entgehen läßt, also als ein Mann, der in mancher Hinsicht kompliziert denkt und auch schreibt, dennoch für den eigentlichen Reiz und auch die Wahrheit von Abstufungen und Mischungen wenig Empfänglichkeit hat. Er denkt und schreibt nicht besonnen und ruhig, er ist weitaus kein letzter Formulierer, eher ein etwas draufgängerischer Minierer, worin gewiß große Wertmöglichkeiten liegen; aber es ist vielleicht nicht nötig, daß man dabei so viele herkömmliche und gut ausgearbeitete Begriffe der Ästhetik über den Haufen läuft oder verstellt, – bisweilen um einiger geistiger Pikanterien willen, deren Rolle übertrieben empfunden wird. Der Verfasser erscheint mehr scharfsinnig als umsichtig, kein versöhnlicher Kopf, sondern ein Widerspruchsgeist, seine Wirkungen haben etwas Frappierendes, im guten wie gelegentlich im minder erfreulichen Sinn. Er wirkt anregend, man nimmt Stellung zu ihm; aber stimmt man auch fast alle drei Zeilen fühlbar zu, so schüttelt man auch recht häufig ebenso fühlbar den Kopf. Hamann ist auch in der (inneren) Form nicht der Mann des stetigen Ganges, der großen, ruhigen Konturen, sondern des aufgelösten Umrisses und der nicht selten geistreichen Einzelbemerkungen, ich möchte sagen impressionistisch. Er hat denn bisweilen auch das Gewaltsame und Radikale wie mancher Impressionismus, und man vermißt häufiger, bei aller logischen Schärfe, eine quantitative Logik, d. h. er sieht oft Dinge, die zwar richtig, aber nicht immer auch so wichtig sind, wie er sie nimmt; er vermag theoretische Finessen für ausschlaggebend zu halten. Die Stellung der Elemente im Komplex zu beachten, ihren Anteil abzuschätzen, ihr Gewicht abzuwägen, dazu nimmt er sich sozusagen keine Zeit: er sieht, daß diese und jene Wahrheitselemente zu finden sind – genug für ihn, um für sie gleichsam mit Ellbogenkraft Geltung zu beanspruchen. Hamann behandelt in der Vorrede die Ästhetik Volkelts A etwas von oben herab, ja, man muß wohl sagen schnöde; mir stieg in der weiteren Lektüre oft Volkelts Werk als Gegenstück auf – und Hamanns Buch wurde davon »an die Wand gespielt«. Denn wie aufklärend, wie umfassend und gerecht legt Volkelt alles auseinander, mit welcher ruhigen Überlegenheit löst er Dilemmen – löst sie wirklich und freut sich nicht bloß daran –, und wie arbeitet er gern mit dem gedanklichen »Sowohlalsauch«, wie er es selber einmal ausdrückt. Er bemißt die verschiedenen Grade des Anteils und der Berechtigung, die die Elemente im Ganzen haben, erkennt Teilmängel mancher Erscheinungen und duldet sie, sieht Gefahren gewisser Richtungen und zeigt ihre Grenze usw. Höchst reichhaltig erscheint da Leben und Kunst und doch nicht verwirrend, sondern zugleich sehr klar, und ihre verschiedenen Elemente theoretisch verträglich. Nun, ein Altersabstand und ein Temperamentsunterschied. Und man soll ein Werkchen, das sein Verfasser selbst als Prolegomena bezeichnet, nicht mit dem Lebenswerk eines anderen vergleichen, das seinen Autor drei Jahrzehnte beschäftigt hat; aber mir scheint dies letztere bezeichnend: Volkelt hat Zeit, er betrachtet ruhig und arbeitet ohne Hast, die zwar gute Einfälle bringen, aber sich auch schnell festrennen kann, so daß man vielleicht A

Vgl. Johannes Volkelt: System der Ästhetik. 3 Bde. München 1905–1914, hier Bd. 1.

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vor den vielen Einseitigkeiten oder häufig bloß überraschenden Lichtern, neuen Beleuchtungen nicht das Gefühl eines umfassenden erfolgreichen Erkennens im Ganzen, ja nicht einmal das der vollen Erkenntnismöglichkeit bekommt. Bei Volkelt dagegen erhält der Leser – als vielleicht wertvollstes Gesamtresultat – das belebende Zutrauen zur Erkennbarkeit dieser Dinge. Berlin-Friedenau.

Erich Everth.

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Da von Dr. Utitz bereits das Verhältnis von Allgemeiner Kunstwissenschaft zur Ästhetik in einem Sinne behandelt wurde A, mit dessen Ergebnis ich im wesentlichen einverstanden bin, sei hier mehr auf das Verhältnis der Allgemeinen Kunstwissenschaft und Ästhetik zur Kunstgeschichte der Nachdruck gelegt. Was ist das Wesen, welches sind die Aufgaben einer allgemeinen Kunstwissenschaft, was leistet sie für die Kunstgeschichte und was empfängt sie von ihr, und ist sie mit Ästhetik identisch oder wie verhalten sich Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft zueinander? Das sind die Fragen, die zu beantworten sind. Sie werden zunächst beantwortet durch eine Prinzipien-Wissenschaft, die selbst besser nicht allgemeine Kunstwissenschaft heiße, sondern als ein Teil der Erkenntnistheorie die Besonderheit der Begriffsbildung oder der spezifischen Auffassung der Phänomene in der Kunstwissenschaft, Ästhetik und Geschichte erläutert und so die besonderen Inhalte, mit denen es diese Wissenschaften zu tun haben, erst begründet. Die besondere Synthese, durch die einzelne Sinnesdaten zu künstlerischen, ästhetischen und geschichtlichen Tatsachen werden, ist das Problem, das von der Erkenntnistheorie, die bisher einseitig nur die naturwissenschaftliche Objektivierung untersucht hat, noch kaum angegriffen ist. Nur daß im Gegensatz zu der Wirklichkeit, die die naturwissenschaftliche Begriffsbildung umfaßt, Begriffe von geistigen Inhalten bestehen, die aber durch diesen Gegensatz als unwirklich entwertet scheinen, ist wohl allgemein anerkannt. Man hat dann von einer anderen Art von Wirklichkeit, der des Sinnes oder der Bedeutung gesprochen. Besser würde es sein, um die geistigen Auffassungen den naturwissenschaftlichen gleichzustellen, von den Phänomenen auszugehen und auch die Wirklichkeit nur als eine bestimmte Art von Bedeutung anzusehen, die durch die Deutung oder Beziehung der Phänomene auf motorisch-praktische Tätigkeit des Menschen zustande kommt. Je nach der Beziehung der Phänomene auf andere als diese praktischen Verhaltungen können die Phänomene auch andere als »wirkliche« oder dingliche Bedeutung erlangen und so aus Naturobjekten zu ethischen, ästhetischen, religiösen oder künstlerischen Inhalten werden. Nur unsere im allgemeinen auf die dingliche Auffassung zielenden Begriffe nötigen uns, die ethische, ästhetische, künstlerische Bedeutung dem Ding wie eine Eigenschaft zuzuschreiben, anstatt diese Bedeutungen von den dinglichen loszulösen und zu selbständigen Begriffen von ästhetischen, ethischen, künstlerischen Tatbeständen auszubilden. Vgl. Emil Utitz: »Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft«. In: Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Berlin, 7.–9. Oktober 1913. Bericht. Hrsg. vom Ortsausschuss. Stuttgart 1914, S. 102–106. A

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Beim künstlerischen und mehr noch beim ästhetischen, zum Teil mit künstlerischem zusammenfallenden Tatbestand kann die dingliche Bedeutung ganz zurücktreten, und es kann nun schon in der reinen Perzeption des Phänomens je nach der Art der verschiedenen Auffassung eine Veränderung vor sich gehen, derart, daß durch die Aufmerksamkeit verschiedene Seiten des Phänomens, besonders in den Gestaltqualitäten, beachtet werden. Gerade die Eigenschaften, die die dingliche Bedeutung ausmachen, können am stärksten zurücktreten. Man denke an die andere Bedeutung des Sinnesphänomens Zitrone in einem Gemüseladen und für den Koch und in einem Stilleben für den ästhetischen Betrachter. So bedürfen die Kategorien des Künstlerischen als anschaulicher Vertretung des Nicht-Gegenwärtigen, der Begriff des Monumentes, des Bildes, Abbildes oder des anschaulichen ästhetischen Erlebnisses der erkenntnistheoretischen Begründung, damit die Phänomene unter diese Kategorien aufgefaßt werden und eine allgemeine Kunstwissenschaft möglich machen, die die spezifisch künstlerischen Tatsachen begrifflich erfaßt und in ein System bringt. Damit ergibt sich als erste Beziehung der allgemeinen Kunstwissenschaft zur Kunstgeschichte, daß ohne die Systematik der allgemeinen Kunstwissenschaft die Kunstgeschichte in Gefahr ist, überhaupt (nicht von künstlerischen Tatsachen zu handeln, sondern von dinglichen Gegenständen, als welche die für die künstlerische Auffassung in Betracht kommenden Phänomene auch aufgefaßt werden können. Ist doch die ganze Einteilung der Künste einerseits von den dinglichen Kategorien des Materials und der Technik beherrscht, andererseits von der psychologischen des Motivs und der unkünstlerischen Scheidung von Inhalt und Form. Oder aber die die künstlerischen Inhalte betreffenden Begriffe wie malerisch, klassisch, monumental, melodiös, poetisch, lyrisch, dramatisch usw. werden verworren für die verschiedensten Inhalte verwendet. Das beweist die kunstgeschichtliche Praxis auf Schritt und Tritt. Es ist also keineswegs so, daß die allgemeine Kunstwissenschaft auf Generalisationen und Spekulationen ausgeht, die den Boden der Tatsachen verließen, sondern daß, um überhaupt künstler ische Tatsachen exakt zu beschreiben, erst einmal diese Tatsachen in ihrer Eigenart erkannt und begrifflich gefaßt werden müssen. Gerade die kunstgeschichtlichen Methoden, die sich als die exaktesten ausgeben, wie die Morellische, haben ihre Exaktheit nur erkauft mit der völligen Preisgabe des künstlerischen Tatbestandes, indem sie in der Weise eines Steckbriefes sich mit der Vergleichung eines einzigen gegenständlichen Merkmales zur rein dinglichen Identifizierung des Bildes begnügten. Da aber die künstlerischen Inhalte sowohl eine religiöse wie ethische, wie ästhetische Bedeutung haben können, so ergibt sich, daß sich allgemeine Kunstwissenschaft und Ästhetik keineswegs decken, ja es nicht einmal richtig ist, Ästhetik und Kunstwissenschaft besonders eng zu verbinden, da Religion und Kunst vielleicht ebenso eng verknüpft waren. Richtig ist nur, daß die ästhetischen Bedeutungen besonders gern in der Kategorie des Künstlerischen (rein anschaulich Gestalteten) uns entgegentreten, aber dies rein anschaulich Gestaltete auch alle anderen Kulturbedeutungen in seine Erscheinungsform aufnehmen kann. So bleibt es auch

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der Kunstgeschichte in jedem Fall überlassen, erst festzustellen, ob die Bedeutung, die ein künstlerischer Inhalt als historisches Faktum gehabt hat, eine ästhetische war oder Hamann, Allgemeine Kunstwissenschaft und Ästhetik nicht, oder ob nicht etwa die ästhetische Bedeutung, die wir ihm heute geben, erst nachträglich hinzugefügt ist. Aber auch das setzt in jedem Fall die volle Beherrschung des das Künstlerische bezeichnenden Begriffsmaterials voraus. Auf Grund der Begriffsbildung der allgemeinen Kunstwissenschaft erlangen wir also ein begrifflich erfaßtes, künstlerisches Tatsachen« material, aber noch keine Kunstgeschichte. Deren Eigenart zu verstehen, müssen wir uns auf das Wesen der historischen Begriffsbildung besinnen. Auch darin liegt ein spezifisch modernes Problem und ein Gegensatz gegen die einseitig auf die Begründung der Naturwissenschaft gerichtete Erkenntnistheorie. Auch ist die Lösung dadurch erschwert, daß man das Wesen der Geschichte nur als logische Methode interpretierte, ohne ihr eine besondere Klasse von Tatbeständen zuzuschreiben, die es wieder erkenntnistheoretisch zu begründen gilt. So hat man einerseits den Nachdruck gelegt auf die besondere Art des Verständnisses historischer, d. h. vergangener Tatsachen, und als geschichtliches Problem einseitig die Interpretation erörtert wie Simmel, oder man hat in dem Gegensatz von Beschreibung des individuellen einmaligen Faktums und der Aufstellung allgemeiner zeitloser Gesetze den Unterschied von Geschichte und Naturwissenschaft finden wollen, wie besonders Rickert. Im ersten Falle gelangen wir nur zu Tatsachen geistigen Lebens aus Überlieferungen, wie wir auch zu naturwissenschaftlichen Tatsachen durch Deutung von Überlieferungen kommen könnten, im anderen Fall zu einer logischen Methode, die für Naturerkenntnis wie Erkenntnis des Geschichtlichen gleichmäßig gilt. Für uns gilt es nicht, ein neues Ideal des Geschichtsschreibens aufzustellen, sondern die übliche Geschichtsschreibung in ihrem innersten Wesen zu verstehen und die daraus sich ergebenden Begriffe zu erläutern. Und da definieren wir Geschichte als die Wissenschaft von dem, wie etwas geworden ist und was aus etwas geworden ist, also als eine Wissenschaft von besonderen Tatbeständen, für die es keiner besonderen logischen Methoden bedarf, sondern nur besonderer Kategorien, die diesen Tatbestand ergeben. Und zwar liegt in dieser Formulierung beschlossen, daß zur Geschichte ein Subjekt gehört, auf das alles Geschehene bezogen wird, zu dem alles hin- oder von dem alles wegführt, aber so, daß in jedem Moment dieses Subjekt der Betrachtung als Ideal vorschwebt und in jedem Geschehen die Minderung oder Mehrung in bezug auf das Ideal betrachtet wird. Ein Subjekt also ist es, das eine Geschichte hat, eine Vergangenheit, in der es geworden ist, eine Zukunft, in der es verdorben ist. Beide Richtungen in bezug auf dieses Subjekt haben sich ursprünglich mit Wertschätzungen verbunden, indem man entweder zeigte, wie wir es so herrlich weit gebracht, oder die gute alte Zeit heraufbeschwor, und so für Werden und Vergehen die Begriffe des Fortschritts und des Verfalls einsetzte. Die wissenschaftliche Betrachtung bedarf dieser Werte nicht. Sofern ein Subjekt eine Geschichte hat, kann es auch zum Objekt der Geschichtsbetrachtung werden, ohne daß sein Werden als Fortschritt, als wünschenswert, sein Vergehen als Verfall und

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beklagenswert damit gewürdigt würde. Das ergibt sich besonders in geschichtlichen Pro blemen, wo zwei sich folgende Zustände gegenseitig als Vergehen des einen oder Werden des anderen aufgefaßt werden können. So kann die Hochrenaissance als Werden des Barock, das Barock als Vergehen der Hochrenaissance aufgefaßt werden. In dem einen Pali ist die Hochrenaissance das historische Subjekt, im anderen das Barock. Nun setzt das Werden und Vergehen eines Subjektes voraus, daß wir die Kategorie von Gegenständen bilden, die, ohne sich gleich zu bleiben, doch ihre Identität wahren, d. h. eines Subjektes, das dasselbe bleibt und mit demselben Namen (Eigennamen) genannt wird, aber sich doch verändert. Ohne die Kategorien des Organismus (die Entelechie) und des Werdens ist keine Geschichte möglich. Damit erklärt sich auch der Gegensatz der historischen Begriffsbildung zur naturwissenschaftlichen. Sobald die Naturwissenschaft die Begriffe des Organismus und des Werdens benutzt, kann sie auch Geschichte schreiben. Sobald sie aber die ganze Welt unter der Kategorie des Mechanismus und der sich gleichbleibenden kleinsten substantiellen Einheiten betrachtet, gibt es keine Subjekte, die werden können, und keine Geschehnisse, die sich als auf ein Ziel gerichtete Veränderungen desselben auffassen lassen, sondern nur Bewegungen und Ortswechsel der substantiellen Einheiten. Auf die Kunstgeschichte angewendet, finden wir geschichtliche Betrachtungen einmal in der Künstlergeschichte, der Biographie. Hier haben wir ein Menschenleben, wo Kindheit und Alter auf ein ideales Subjekt bezogen werden, den in seiner Eigenart sich kundgebenden Künstler, und wo nun eine wahrhaft geschichtliche und nicht anekdotische Betrachtung alle Ereignisse des Lebens daraufhin wertet, wie sie eine gewisse Anlage, eine das historische Subjekt im Keim enthaltende Natur allmählich zu dem bilden, was wir als Zustand der Reife ansehen, und dem wir, je nach der Zeitgrenze, bis zu der wir diesen Zustand hinausschieben, ein Vergehen, ein Altern folgen lassen. Eine solche Künstlergeschichte wird Kunstgeschichte nur heißen können, wenn alle Werdevorgänge auf die Entwicklung der Produktion künstlerischer Inhalte bezogen wird. Geschieht dies aber, dann haben wir eine Geschichte des Künstlerischen in den Werken eines Autors, in der er selbst als Persönlichkeit kaum eine Rolle zu spielen braucht. Die Biographie wird sich aber nicht nehmen lassen, umgekehrt auch die künstlerischen Äußerungen nur als Belege für die Entwicklung der Persönlichkeit aufzufassen, und so ist die Biographie am wenigsten als Ideal der Kunstgeschichte anzusprechen. Eine geschichtliche Betrachtung kann sich ferner auf das Werden eines Kunstwerkes beziehen und so verfahren, daß gezeigt wird, wie in der Konzeption schon der Keim des fertigen Werkes vorhanden ist, und wie alle von außen kommenden Bedingungen doch gleichsam nur die Nahrung sind, die das Wachsen des fertigen Werkes ermöglichen, ohne es aber zusammen« zusetzen. Auch für diese Kunstwerksentstehungsgeschichte kann das Werden des spezifisch Künstlerischen d. h. die Auseinandersetzung der als Idee vorschwebenden anschaulichen Endgestaltung mit den äußeren Reali sationsbedingungen verfolgt werden. Doch spielen beim

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Werden des Kunstwerkes – beim Vergehen sogar ausschließlich – eine Reihe von materiellen oder nichtkünstlerischen Bedingungen hinein, die von einer rein künstlerischen Geschichte abführen können oder müssen. Die wichtigste Frage ist aber doch die: wie ist Kunstgeschichte möglich als Geschichte der aufeinanderfolgenden Kunstwerke einer örtlich und zeitlich zusammenhängenden Kulturgemeinschaft? Denn hier haben wir Werke neben Werken, in sich geschlossene Einheiten wie die Atome, die, wenn sie historische Subjekte werden, niemals miteinander anders verknüpft werden können, als indem die Geschichte des einzelnen Werkes geschrieben wird, wobei vorangehende Werke als Anregung im Sinne der Beeinflussungstheorie aufgefaßt werden können. Damit hätten wir, wenn es nicht wie bei den meisten Kunstgeschichten bei bloßer Aufzählung der Werke verbleibt, zwar gewisse Verknüpfungen geschaffen, aber es würde die Kunstgeschichte dann ein Nebeneinander von unübersehbaren Kunstwerksgeschichten. Ist aber Geschichte die Wissenschaft vom Werden eines sich in bestimmter Richtung verändernden Subjektes, dann können wir Kunstgeschichten nur schreiben, wenn wir durch die sich folgenden Kunstwerke hindurch eine bestimmte künstlerische Bedeutung verfolgen, also z. B. das Werden und Vergehen des Klassischen, Malerischen, Stillebenhaften, Interieurmäßigen, Monumentalen, um bei der bildenden Kunst zu bleiben, und wieder müssen wir uns über das Wesen dieser Bedeutungen und ihre begriffliche Fixierung völlig klar sein, um auf sie als historisches Subjekt einen kontinuierlichen Werdevorgang zu beziehen. Natürlich bleibt es auch da Sache der Forschung, in jedem Fall festzustellen, ob in einer bestimmten Zeit die Kunst von einer bestimmten künstlerischen Bedeutung erfüllt ist, und ob diese eine Geschichte gehabt hat. Dabei können das einzelne Kunstwerk oder die Summe der Kunstwerke einer Zeit an mehreren geschichtlichen Werdegängen beteiligt sein und in verschiedenem Sinne, so daß sich etwa mit dem Wachsen des Intimen das Vergehen des Monumentalen an demselben Kunstwerk demonstrieren läßt. Für die Ästhetik aber bedeutet das, daß das Ästhetische selber historisches Subjekt im Werdegang des Künstlerischen werden kann, d. h. daß das Werden oder Vergehen ästhetischer Bedeutsamkeiten ein historisches Problem der Kunstgeschichte ist, nicht aber die ästhetische Bedeutung Voraussetzung jedes historischen Kunstwerkes. Ist durch diese Geschichte künstlerischer Bedeutungen ein zeitlicher Zusammenhang, d. h. die Darstellung eines Werdeganges mit einheitlicher Subjektsetzung garantiert, so fehlt noch die Zusammenfassung der Kunst einer Zeit unter einem einheitlichen Subjektsbegriff, der eine Geschichte haben kann. Das würde leicht sein, wenn eine Zeit von einer einzigen künstlerischen Bedeutung beherrscht wird. Immer aber ist es doch so, daß verschiedenste absteigende oder aufsteigende Werdegänge in einer Zeit zusammentreffen. Hier liefert nun die Erkenntnistheorie den Begriff des Stiles als den Einheitsbegriff, der sich aus einem mehr anschaulich als begrifflich zu fassenden Zusammenhang der verschiedenen Bedeutungen in einer Zeit ergibt, und die allgemeine Kunstwissenschaft wird unter dem Begriff

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des Stiles wieder Typen solcher künstlerischen Einheiten unter dem Begriff etwa des Naturalismus, Harmonismus, Impressionismus, des Archaismus, der Klassik, des Barock zusammenfassen und diese Begriffe der Kunstgeschichte zur Beschreibung einer bestimmten Zeitlage geklärt übergeben. Ob eine bestimmte Zeit Stil hat, bleibt natürlich in jedem Fall erst zu untersuchen. So sehr wir zur geschichtlichen Erfassung der Kunst einer Zeit auf den Begriff des Stiles angewiesen sind, – ob wir ihn anwenden können, entscheidet das vorliegende Material. Es sind eben nicht Methoden, sondern Kategorien, Formen der Aussagen über gegebene Inhaltlichkeiten. Dieser Stil nun, der zunächst nur Mittel zur Konstatierung eines zeitlich und räumlich lokalisierten Faktums ist, kann selbst seine Geschichte haben, und so können wir das Werden und Vergehen der Renaissance, des Barock, der Gotik usw. schreiben. Es bleibt noch eine Frage: Kommen wir damit zu einer Weltgeschichte der Kunst, d. h. können wir die ganze Kunstgeschichte oder wenigstens die Geschichte der antiken Kunst und die der neueren Kunst als einheitliche Werdegänge von Stilen auffassen? Daß das möglich ist, zeigt die ältere Kunstgeschichte mit ihrem Begriff des Klassischen, auf den hin der ganze Verlauf der Kunstentwicklung bezogen wurde. Dann gäbe es eigentlich nur einen Stil, der in jeder Zeit als Entwicklungsfaktor wirksam wäre, so daß frühere und spätere Zeiten nur als Vorbereitung oder Verfallsstadium dieses Stiles zu betrachten wären. Dagegen sträubt sich die moderne Auffassung, die in der zeitlichen Folge verschiedenster Kunstrichtungen eine Folge verschiedener gleichberechtigter Stile spezifischer Kunstwollungen sieht und damit wohl eine Geschichte der einzelnen Stile anerkennt, aber eine Weltgeschichte der Kunst eigentlich negieren würde. Dennoch lassen sich beide Betrachtungsweisen zu einer historischen Gesamtbetrachtung vereinen. Würden wir die ganze Kunstentwicklung als einen einzigen Werdegang auffassen, so würde bei der ununterbrochenen und kontinuierlichen Entwicklung wie bei einer Bewegung eine Beschreibung unmöglich sein, wenn wir nicht Einschnitte machen würden, um Stufen der Entwicklung zu konstatieren. Das Problem der Periodisierung wird aktuell, das ja meist in äußerlicher Weise durch willkürliche Zeitabschnitte runder Zahlen (IV cento, V cento, Jahrzehnte usw.) gelöst wird. Können wir aber eine Folge von Zeitstilen feststellen, die nicht einer als Vorstufe des anderen aufgefaßt werden, so können diese zur Periodisierung einer einheitlichen Geschichtsauffassung dienen. Je gegensätzlicher die Stileinheiten des Romanischen und Gotischen charakterisiert werden können, desto geeigneter sind sie, historische Perioden anzusetzen und empirisch-zeitlich zu fixieren. Das braucht aber nicht zu hindern, daß diese Einheiten den Zusammenhang künstlerischer Bedeutungen betreffen, die als solche sich durch die Stile hindurch in ab- oder zunehmender Weise entwickeln und so neben der Konstatierung einer Stileinheit und der Entwicklung dieses Stils den Verfolg durchgehender Verläufe künstlerischer Bedeutungsentwicklungen gestatten. Auch hier kann nur die Erfahrung lehren, wie weit sich durch verschiedene Stilfolgen hindurch künstlerische Bedeutungsgeschichten verfolgen lassen, oder ob sich die ganze Entwicklung der Kunst an

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wenigen auf- oder absteigenden Bedeutungswerdungen zur Einheit eines einzigen historischen Verlaufes gestalten läßt. Empfängt aber die Kunstgeschichte ihre Subjektsbegriffe, sei es der Stileinheiten oder der einzelnen künstlerischen Bedeutungen, von der allgemeinen Kunstwissenschaft, so kann diese andererseits ihr System nur dann für die Geschichte fruchtbar aufbauen, wenn sie bei der Aufstellung ihrer Begriffe das ganze reiche von der Geschichte überlieferte Tatsachenmaterial berücksichtigt und deren historische Bedeutung sich zu verlebendigen sucht. Denn auch die historischen Stile können, wenn sie als Stileinheiten erfaßt sind, zu Allgemeinbegriffen werden, wie z. B. das Barocke oder Romantische, da die sachliche Einheit des Stilgehaltes nicht ausschließt, daß dieser Begriff sich noch einmal in der Geschichte realisiert. Beiden aber, der allgemeinen Kunstwissenschaft und der Kunstgeschichte, muß die Einstellung des Bewußtseins auf das Künstlerische vorausgehen, dessen Kategorie begrifflich zu erläutern der Erkenntnistheorie vorbehalten bleibt.

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Dieser Kongreß war mehr als eine Veranstaltung mit bestimmt umrissenem Programm und sachlichen Zielen, deren Resultate sich als wissenschaftliches Ergebnis zusammenfassen ließen, er war eine Programmerklärung, ein Symptom und ein Manifest. Es kommt deshalb auch vielmehr darauf an, festzustellen, wie weit auf diesem Kongreß das Programm sich durchgesetzt hatte, als worüber im einzelnen verhandelt wurde. Und da ist es aufs äußerste zu begrüßen, daß das, was man sonst als äußere Beigabe hinnimmt, hier besonders glänzend gelungen war: die festlichen Veranstaltungen, der Empfang mit einigen zündenden, sich bis in die hohe Politik versteigenden Reden, und schließlich der äußere Verlauf der Verhandlungen mit dem sorgfältig vorbereiteten Programm und den, bis auf wenige Ausnahmen, auch annähernd eingehaltenen Rede- und Diskussionsterminen. Wie schon in den Begrüßungsansprachen hervorgehoben wurde, galt es, einem bisher im Verband der Philosophie mitgeführten, aber auch dort als Nebensache oder überhaupt nicht als Wissenschaft anerkannten Wissensgebiet, der Ästhetik, und mehr noch, einer wissenschaftlichen Richtung im Gebiete der Kunstforschung, der Kunstwisssenschaft, die sich in Gegensatz zur Kunstgeschichte stellt, zur Anerkennung zu verhelfen. Und was hätte ihnen dazu besser verhelfen können als die Tatsache, daß sich diese beiden verwandten Wissenschaften als kongreßfähig erwiesen hatten. Der glänzende Verlauf dieses Kongresses hatte den Beweis erbracht. Wer freilich den wissenschaftlichen Ertrag des Kongresses nachprüfen würde, der würde den Skeptikern, die sich gegen alle geisteswissenschaftlichen Kongresse ablehnend verhalten, in manchem recht geben müssen. Was vorgetragen wurde, waren Aufsätze, die man im Kongreßbericht besser lesen kann und die; da sie nicht demonstriert zu werden brauchten, auch nicht gesprochen zu werden brauchten, wenn sie nicht auf rhetorischen Erfolg rechneten. Immer hin hätte die anschließende Diskussion den mündlichen Vortrag rechtfertigen können, indem sie die zu Worte kommen ließ, die auch zu dem Thema etwas zu sagen hatten. Aber die Beschränkung der Diskussionszeit, die im Sinne der Organisation des Kongresses sehr wohltätig wirkte, machte die Diskussion auch unergiebig und uninteressant, da in geisteswissenschaftlichen und besonders systematischen Fragen der unvorbereitete Diskussionsredner erst nach einigen Entgegnungen zur höchsten Präzision seines Standpunktes zu kommen pflegt. Es ergab sich auch, daß das Interesse der Kongreßbesucher den Themen sich am stärksten zuwandte, die am meisten Stimmung, am wenigsten strenge Wissenschaft zu geben versprachen. Es waren mehr oder minder doch Vorträge, keine Verhandlungen. Worauf es in Wirklichkeit ankommt, ist aber doch immer, daß man in breiter Öffentlichkeit Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft als Erforschung künst-

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lerischer Tatbestände und mit dem Anspruch, selbständige Wissenschaften zu sein, diskutierte, oder daß die Erkenntnis, daß sie es seien, unverlierbares Gut der wissenschaftlichen Organisation verbliebe. Und zwar richtet sich diese Selbständigkeitserklärung nach zwei Seiten, gegen Philosophie und Kunstgeschichte. Denn diese beiden Disziplinen hatten bis dahin beansprucht, die eine, das Wesen des »Schönen« im Zusammenhange mit einem philosophischem System zu deuten, die andere, die künstlerischen Tatsachen zu begreifen und wissenschaftlich zu behandeln. Bei diesem Anspruch der Kunstgeschichte, alle wissenschaftlichen Fragen, die die Kunst betreffen, von sich aus und mit den Methoden der Geschichtsforschung lösen zu können, spielt die oberflächliche Ansicht hinein, als sei das künstlerische Objekt ein dingliches Faktum oder menschliches Erzeugnis wie alle anderen und deshalb jedem so erkennbar und vertraut wie eine menschliche Handlung oder ein natürliches Objekt. Aber auch die andere, ebenfalls sehr oberflächliche, als sei Geschichte nur eine bestimmte Methode der Feststellung von Tatsachen, die in die Vergangenheit zurückreichen, und nicht vielmehr Geschichte selber eine bestimmte Art von Tatsächlichkeiten gegenüber den Geschehnissen der Naturwissenschaft, eben die Werdegänge eines Subjekts. Mit der Tatsache, wie etwas geworden ist, hat es die Geschichte als Wissenschaft zu tun. Die Dinge selber, soweit sie geschichtliche Subjekte sein können, haben ihre Geschichte. So ist denn die Wissenschaft von den Exemplaren, Arten, Gattungen und gegenseitigen Verhältnissen eines Gebietes eine durchaus eigene und in ihrer Methode selbständige gegenüber der, die die Werdegänge solcher Tatsachen und Arten oder Typen solcher Werdegänge beschreibt. So fällt es doch niemand ein, die Wissenschaft von dem System politischer Funktionen mit der Geschichte, die Taktik mit Kriegsgeschichte zu identifizieren. Und in der Nationalökonomie sind Geschichte der Volkswirtschaft und System der ökonomischen Funktionen als verschiedene, meist auch in ihren Vertretern gesonderte Forschungsrichtungen schon lange anerkannt. In der Naturwissenschaft wird eine Geschichte der Welt, soweit sie überhaupt in dem Rahmen einer Naturwissenschaft möglich ist als ein besonderes Unternehmen gewürdigt werden, das aber unbedingt eine Kenntnis des faktischen Naturzusammenhanges voraussetzt. Immer also geht in einem bestimmten Gebiet von Tatsachen die Erforschung des systematischen Aufbaues und Zusammenhanges der besonderen Tatsächlichkeiten ihrer Geschichte voraus oder nebenher. Wie kommt es dann, daß im Gebiete der künstlerischen Tatbestände einer Forschungsrichtung, die das Wesentliche dieser Tatbestände erkennen, den Umkreis der Arten und Gattungen bestimmen, die Beziehungen zwischen ihnen feststellen will, daß dieser die Existenzberechtigung abgesprochen wird. Offenbar aus der Doppelstellung des Kunstwerkes, neben dem Träger eines künstlerischen Tatbestandes zugleich ein Ding wie andere, ein Naturobjekt oder deren Abbild und Produkt einer menschlichen Handlung, ein Werk, wie viele andere, zu sein, so daß man sich mit der Feststellung dieser beiden Seiten begnügte und deren Werden geschichtlich verfolgte. Da bedurfte es denn keiner besonderen Unterweisung, um sich in diesen Tatsachen zurechtzufinden. Es genügte die Vor-

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bereitung durch das Leben, die Kenntnis der Natur und zuweilen etwas Einsicht in spezielle handwerkliche Techniken. Mit der Vergleichung des dinglichen Inhaltes und der Untersuchung des Vorgangs der Produktion glaubte man das Künstlerische erkannt zu haben, obwohl doch dabei von dem spezifisch Künstlerischen gar nicht die Rede zu sein brauchte. Daß aber die Bildlichkeit eines Spiegelbildes einen anderen Sinn hat als die Bildlichkeit im Kunstwerk, daß die Tatsachen der Illustration, der Repräsentation, der Dekoration, des anschaulichen ästhetischen Erlebnisses erst gewissen Inhalten eine andere als naturwissenschaftliche Bedeutung geben, daß erst in Beziehung zu diesen Begriffen eine spezifisch künstlerische Richtung sowohl das menschliche Schaffen gewinnt, wie das im Bilde Objektivierte, das selber zunächst rein natürlich, politisch, religiös, ethisch sein kann, alles das sollte nicht eine Fülle von Problemen aufrollen, die systematisch behandelt werden müssen, und die mit Geschichte nichts zu tun haben, vielmehr neue, bisher nicht gekannte oder verkannte Subjekte erst der historischen Betrachtung begrifflich nahe bringen wollen? Dabei fällt besonders ins Gewicht, daß nun mit der Richtung auf diese spezifisch künstlerischen Beziehungen auch die Auffassung schon der Erscheinungen, die Synthese der bloßen Sinneseindrücke eine ganz andere werden kann als in der Naturauffassung, und Erscheinungen eine Bedeutung gewinnen können, die sie in der natürlichen Weltauffassung nicht haben. Man denke nur daran, wie in einer ein ästhetisches Farbenerlebnis vermittelnden Darstellung von Früchten die Farbenzusammenhänge alle Aufmerksamkeit beanspruchen, und die Erkenntnis der – es sei vorausgesetzt – undeutlich dargestellten Früchte garnicht angestrebt wird, während in der natürlichen Auffassung die Aufmerksamkeit ganz auf die Erkenntnis der Dinge gerichtet ist. So liefert in dem einen Fall derselbe sinnliche Tatbestand eine positive künstlerische Synthese, die mit dem Begriff des FarbigSymphonischen etwa zu beschreiben wäre, im anderen Falle eine negative, die mangelnde Deutlichkeit erkennbarer Dinge. Wie notwendig aber eine solche Wissenschaft und Systematik künstlerischer Tatbestände ist und die Ergründung eines Aufbaues von Begriffen, die der Beschreibung des spezifisch Künstlerischen in auch anders zu deutenden Erscheinungskomplexen dienen, das beweist die Tatsache daß über die allgemeinsten Fragen dieser Art noch keine Einigung besteht, und jeder die Begriffe des Malerischen, Plastischen in einem andern Sinne gebraucht, daß das Monumentale mit dem Dekorativen verwechselt wird, und das Wesen der intimen Malerei noch ungeklärt ist. Nun wird sich eine solche Wissenschaft nicht anmaßen, der Kunstgeschichte vorzuschreiben, nur die Geschichte künstlerischer Objektivationen zu schreiben. Nach wie vor muß es der Geschichtsforschung, die sich mit Werken der Kunst beschäftigt, überlassen bleiben, ihr historisches Interesse nach eigenem Ermessen oder offenen Fragen ihrer Wissenschaft zu richten. Nur das muß mit aller Entschiedenheit betont werden, daß es eine Geschichte der spezifisch künstlerischen Ausdrucksweisen nicht geben kann, oder daß sie im Finsteren tappt, ehe nicht diese systematisch erkannt werden. Vorläufig haben wir kunstgeschichtliche Werke

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in Mehrzahl, in denen das Wort Kunst überhaupt nicht vorzukommen brauchte, man denke nur an die vielen architekturgeschichtlichen Untersuchungen, die von Architekten vorgenommen sind, an die Kunstgeschichten, wo sich statt der Beschreibung des Künstlerischen das Urteil über Kunst in Ausdrücken des Gefallens und Bewunderns kundgibt, aber doch erst nachgewiesen werden müßte, ob diese auch dem spezifisch Künstlerischen im Kunstwerk gelten. Mit der Beschreibung des Inhaltes, Konstatierung dinglicher Ähnlichkeiten mit anderen Kunstwerken, Festlegung der Chronologie, Schilderung der Wirkung auf die Zeitgenossen und der Folgeproduktion ist meist die kunsthistorische Arbeit erschöpft. Ähnliche Gedankengänge wie diese bildeten auch die Problemstellung des vorzüglichen Dessoirschen Vortrags.A Aber schon hier mußte man einen Mangel an Entschiedenheit in der Durch setzung des Programms dieses Kongresses konstatieren. Denn um diesen Vortrag und dies Thema mußte sich alles andere gruppieren. Dieser Vortrag hatte keinen Titel, nannte sich Eröffnungsrede und blieb ohne Diskussion. Dann wurde das Thema noch zweimal behandelt B, aber in die philosophische Sektion verwiesen, also vor eine Hörerschaft, von der man annehmen konnte, daß sie am ehesten geneigt sei, die Forderung einer selbständigen Ästhetik und Kunstwissenschaft anzuerkennen, während die Vertreter der kunstgeschichtlichen Disziplinen, mit denen eine Aussprache grade über dies Thema herbeigeführt werden mußte; gleichzeitig über andere Themen verhandelten. Nicht als ob diesem Thema ein größeres Publikum zu wünschen gewesen wäre. Die Beteiligungsziffer war im Interesse der äußeren Wirkung des Kongresses angenehm, für die sachliche Behandlung waren es schon in jeder Sektionssitzung zu viel. Der Einwand, der von kunstgeschichtlicher Seite gegen die allgemeine Kunstwissenschaft gemacht wird, geht meist dahin, daß damit die Kunstgeschichte in das Fahrwasser der Philosophie, d. h. der Ästhetik gerate und an Stelle exakter Forschung fruchtlose Spekulation setze. Wie verhält es sich aber mit der Verknüpfung von allgemeiner Kunstwissenschaft, Ästhetik und Philosophie? Zunächst begegnet die Ästhetik von seiten der Philosophie einem ähnlichen Mißtrauen wie von seiten der Kunstgeschichte, und ebenso würde es kunstwissenschaftlichen Untersuchungen gehen. Rein äußerlich macht sich das fühlbar bei den Schwierigkeiten, die im Lehrbetrieb derjenige findet, der auf Grund ästhetischer oder kunstwissenschaftlicher Arbeiten in ihm einen Platz sucht. Aber daran ist nicht schuld, daß man Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft als besondere und selbstständige Wissenschaft einschätzt, denn das würde für die Psychologie – besonders die experimentelle – A Vgl. Max Dessoir: »Eröffnungsrede« [zum ersten Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft]. In: Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Berlin, 7.–9. Oktober 1913. Bericht. Hrsg. vom Ortsausschuss. Stuttgart 1914, S. 42–54. (In dieser Ausgabe S. 28 – 40.) B Vgl. Emil Utitz: »Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft«. In: Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, S. 102–106; Richard Hamann: »Allgemeine Kunstwissenschaft und Ästhetik«. In: Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, S. 107–113. (In dieser Ausgabe S. 121 –125 und S. 319 –325.)

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in viel höheren Graden gelten, sondern daß man hier den Einfluß künstlerischer Auffassung als gefährlich für die Strenge wissenschaftlicher und philosophischer Erkenntnis hält. Tatsächlich muß sich aber die allgemeine Kunstwissenschaft und, vorausgesetzt, daß eine Systematik ästhetischer Tatsächlichkeiten möglich ist, auch die Ästhetik aus dem Verbande der Philosophie im eigentlichen Sinne lösen, wenn sie eine selbständige Wissenschaft werden will. Denn auch die Naturwissenschaft rechnet sich doch nicht zur Philosophie, wenn sie ihr Gebäude von Tatsachen und Gesetzen der Natur auffüllt. Für die Philosophie bliebe dann gegenüber der allgemeinen Kunstwissenschaft wie gegenüber allen anderen Einzelwissenschaften die letzte, umfassendste Synthese, etwa im Sinne einer Kulturphilosophie, oder die Prüfung der erkenntnistheoretischen Grundlagen für die besonderen Inhaltsgebiete, im Sinne der kritischen Philosophie, die Beantwortung der Frage also, unter welchen Bedingungen der Auffassung ein Erscheinungskomplex naturwissenschaftliche, ästhetische oder künstlerische Tatsache wird. Die Wirkung, die man dem Kongreß wünschen würde, ist die, daß nun die Diskussion über die obigen Forderungen der Anerkennung der allgemeinen Kunstwissenschaft als selbständigen wissenschaftlichen Forschungsgebiets nicht mehr von der Tagesordnung verschwinde, zugleich aber auch die praktische, daß die Kunstwissenschaft als selbständiges Forschungsgebiet im Hochschulunterricht sich immer mehr ihren Platz erobere. Diese letztere Frage ist auf dem Kongreß nicht diskutiert, ob wohl sie am ehesten sich zu Verhandlungen eignete, vielleicht ist sie aber diejenige, die am wenigsten reif ist zur Erörterung. Einige Punkte seien auch darüber hier vorgebracht. Das Verhältnis der allgemeinen Kunstwissenschaft zur Kunstgeschichte macht eine Bestimmung über die Beteiligung der geistigen Arbeiter auf diesen Gebieten nötig. Wenn aber die allgemeine Kunstwissenschaft eine Systematik von Begriffen künstlerischer Tatbestände entwirft, so liefert sie der Kunstgeschichte, die eine Geschichte künstlerischer Objekte schreiben will, die Begriffe, diese künstlerischen Objekte zu beschreiben. Natürlich muß sich der Historiker bei der Anwendung eines solchen Begriffes auf ein historisches Faktum über die Bedeutung des Begriffes klar sein, aber es ist nicht nötig, daß diese Begriffe von ihm selber aufgestellt, und die in ihm enthaltenen Beziehungen von ihm selber definiert seien, sowenig wie etwa ein praktisch arbeitender Chemiker an der Systematik chemischer Begriffe und Formeln beteiligt zu sein braucht. Andererseits ist es für den Systematiker notwendig, seine Begriffe und seine Systeme auf der breitesten Basis erreichbarer künstlerischer Tatsachen aufzubauen, ohne daß ihm zugemutet werden müßte, sich diese Tatsachen selbst auf dem Wege historischer Forschung verschafft und durch die Beziehung zu der geistigen Verfassung der historischen Zeitlage interpretiert zu haben. Hier scheiden sich nicht nur verschiedene Forschungswege, von denen jeder das Material fertig bearbeitet vom andern empfängt, um damit zu arbeiten, sondern, was wichtiger ist auch verschiedene Geistesrichtungen. Nicht immer ist der systematisch gerichtete Kopf fähig, sich durch das verschlungene Gestrüpp der Quellen zum glaubwürdigen historischen Faktum und der richtigen Chronologie durchzuarbeiten oder den

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historischen Zusammenhang zu erkennen und darzustellen, und noch seltener ist der historisch gerichtete Forscher imstande, von der Beschreibung und Interpretation der historischen Tatsache zu den Verallgemeinerungen und Beziehungen eines Begriffssystems fortzuschreiten. Hier sind also verschiedene Interessensphären, die auch verschiedene Vertreter bedingen können, wie es z. B. in der Nationalökonomie üblich ist, wenn auch natürlich das fruchtbarste Ineinanderarbeiten beider selbständigen Gebiete dort zu erwarten ist, wo durch Personalunion die Gewähr gegeben ist, daß die Generalisationen der allgemeinen Kunstwissenschaft nicht leichtsinnige Konstruktionen ohne Kenntnis des Materials sind, die historischen Zusammenhänge wirklich auf Kenntnis der künstlerischen Tatbestände und dem sinnvollen Gebrauch der Begriffe beruhen. Es ist nicht uninteressant, daß von den großen Universitäten Wien als erste eine Verteilung des kunstgeschichtlichen Forschungsgebietes nach der streng historischen und der mehr systematischen Seite hin vorgenommen hat, indem unter Strzygowskis Leitung ein Seminar eingerichtet wurde, das seine Hauptaufgabe in der systematischen Abteilung sieht. (Siehe [Josef Strzygowski: »Das kunsthistorische Institut der Wiener Universität«. In:] die »Geisteswissenschaften«, Heft 1 [(1913)] S. 12 ff. [= S. 12–15]). Die Systematik, die hier für die Erforschung der Kunst aufgestellt ist: 1. Material und Technik, 2. Gegenstand (in den angewandten Künsten der Zweck), 3. Gestalt, 4. Form und 5. Inhalt verbürgt freilich nicht, daß hier wirklich eine Systematik künstlerischer Tatbestände im oben ausgeführten Sinne zu ihrem Rechte kommen wird, und läßt deshalb eine allgemeine Kunstwissenschaft um so dringender erforderlich erscheinen. Eins wäre noch zu fragen, ob allgemeine Kunstwissenschaft etwa in dem Sinne zu verliehen sei, daß es allgemeinste Fragen der Kunst überhaupt, d. h. also das Gemeinsame aller Künste zu behandeln habe. Sicherlich liegen hier eine Reihe von interessanten und schwierigen Problemen vor, wie ja der Begriff der Kunst überhaupt oder die in allen Künsten gleichmäßige Beziehung zur ästhetischen Auffassung. Das aber zur Grundlage eines besonderen Faches zu machen, würde sich kaum empfehlen, da diese Fragen mehr für einen auf die letzten Verallgemeinerungen, d. h. auf die Philosophie gerichteten Geist interessant sind, als für eine das ganze Tatsachenmaterial zu brauchbaren Begriffen verarbeitende Kunstforschung. Die obersten Begriffe pflegen auch die leersten zu sein und gewinnen erst Leben, wenn sie zu den großen Synthesen aller geistigen Verhaltungen in Beziehung gesetzt werden. Das aber sei einem umfassenden, schöpferisch-synthetischen Geist vorbehalten, der durch keine wissenschaftliche Methode eines Faches ersetzt werden kann. Wie steht es nun mit dem Erfolg des Kongresses nach der ideellen und praktischen Seite hin in bezug auf das Problem seiner selbständigen Kunstwissenschaft? Und da scheint mir, daß der glänzenden Leitung des Kongresses vorzuwerfen ist, daß sie alle Reibungsflächen zu sehr vermieden habe, indem sie die Diskussion des Hauptproblems, besonders auch nach der praktischen Seite hin zu sehr beiseite stellte. Doch mögen da Politiker anderer Meinung sein. Denn einen Erfolg einen großen Erfolg hat der Kongreß unstreitig gehabt. Es ergab sich am Schluß in

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der geschäftlichen Sitzung der allgemeine Wunsch, den Kongreß zur dauernden Einrichtung eines internationalen Kongresses zu erheben. Eine einzige Stimme erhob sich dagegen, sie wurde ohne Gegengründe zum Schweigen gebracht, und ihr das Wort, wenn nicht entzogen, so beschnitten. Man bewarb sich von Frankreich her für Paris und von Österreich her für Wien um den Kongreß. Die Mehrsprachigkeit, die bei dem ersten Kongreß ausdrücklich ausgeschlossen war, um die Verhandlungen und die Diskussionen gedeihlicher zu machen und eine wirkliche Arbeitsgemeinschaft herzustellen, wurde beschlossen.A Werden nun nicht diejenigen recht behalten, die dem Kongreß fern blieben, weil sie prinzipielle Gegner aller geisteswissenschaftlichen Kongresse sind, wie Heinrich Wölfflin, oder die ihre Mitarbeit am Zustandekommen dieses, wie sie glaubten, ersten und einzigen Kongresses seiner besonderen Mission wegen zur Verfügung stellten, aber dem Kongreß selbst fern blieben, wie Max Herrmann? Wird es nicht diesem Kongreß wie anderen geisteswissenschaftlichen gehen, daß sich die Jüngsten vordrängen, daß man aneinander vorbeiredet, und die fehlen, die zu hören sich lohnt, und wofür ein Kongreß ein – wenn auch wenig taugliches Mittel sein könnte. In zweijährigem Turnus soll der Kongreß für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft sich wiederholen, als ob nun aus diesem Kongreß die Sache, die es zu vertreten galt, als fix und fertig hervorgegangen sei, ein Kind, das ohne Schmerzen geboren. Nun, die Kritik dieses Beschlusses lieferten die Herren selbst, die am heftigsten für die Wieder holung eingetreten waren, es waren ein Historiker, ein Prähistoriker und ein glänzender Festredner.B Der Historiker verlangte, daß der Kongreß ein solcher für vergleichende Kunstgeschichte sein sollte, also ein Kongreß, der, da es sich um Demonstration eines von verschiedenen Forschern herbeigeführten Materiales handeln würde, seinen Zweck wohl erfüllen würde. Es war Lamprecht, der den Vorschlag machte, und der auch eine vergleichende Ausstellung primitiver Kunsterzeugnisse von Kindern, Wilden und Urvölkern für den Kongreß veranstalte hatte, die sehr instruktiv war. Nur mit dem Programm eines Kongresses für allgemeine Kunstwissenschaft hat die vergleichende Kunstgeschichte nichts zu tun, nicht mehr als die Kunstgeschichte überhaupt. Die anderen Herren suchten – offenbar aus einer geheimen Abneigung gegen das Systematisieren heraus – wenigstens diese, die. Kunstgeschichte, in den Kongreß hineinzubringen, der nun Kongreß für Ästhetik, allgemeine Kunstwissenschaft und Kunstgeschichte heißen sollte, obwohl es einen internationalen kunstgeschichtlichen Kongreß längst gibt. Wird da nicht die Grenze zwischen allgemeiner Kunstwissenschaft und Kunstgeschichte immer mehr verwischt werden, wenn diejenigen die Führung nach außen hin in die Hände bekommen, die innerlich am wenigsten mit der Sache selbst verbunden sind. So muß es nachträglich als eine schwere Unterlassungssünde empfunden werden, daß die leitende Idee des Kongresses nicht mit aller Schärfe in den Mittelpunkt Vgl. »Geschäftliche Sitzung« [des ersten Kongresses für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft]. In: Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, S. 526–529. B Vgl. ebd. A

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gestellt wurde, und statt der Trennungslinie zwischen Historie und Systematik der künstlerischen Tatbestände immer nur die Verständigung zwischen den Vertretern der beiden Forschungsgebiete betont wurde. Da bleibt fast den Gegnern eines Kongresses nichts anderes übrig, als einen neuen Kongreß für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft für notwendig zu halten. Freilich müßte dieser alles das nachholen, was der erste versäumt hat. Der zweite Kongreß wird in Wien stattfinden, der Stadt, deren Vertreter auf dem Kongreß das Bedürfnis nach Einbeziehung der Kunstgeschichte geäußert hatte und von wo soeben eine »Methode der Kunstgeschichte« 1kommt, die die schärfste Absage an jede selbständige Kunstwissenschaft und zugleich die stärkste Verkennung ihrer besonderen Aufgaben bedeutet, wo ferner die Kunstgeschichte bisher an ein allgemein historisches Institut gebunden war, und so das Tatsachenmaterial der Kunst ganz für historische Aufgaben und Untersuchungsmethoden reserviert wurde. Was daneben an systematischer Arbeit geleistet worden ist, besonders durch eine schöpferische Persönlichkeit wie Alois Riegl, betrifft doch in erster Linie das historische Verhältnis bestimmter Zeiten zu ihrer Kunst, weniger die Systematik künstlerischer Inhalte. Wird da die Gegenpartei, die der Systematik stärker geneigt ist, den Widerstand gegen eine allgemeine Kunstwissenschaft überwinden, wo sie doch auch, wie wir wissen, gegen alle Ästhetik eingenommen ist, deren Anwendung auf ihre Fragen die allgemeine Kunstwissenschaft nicht entbehren kann, auch wenn sie nicht, wie auf dem Kongreß von Utitz betont wurde A, mit ihr zusammenfällt. Und nun hat noch dazu neuerdings Strzygowski die Leitung des Kongresses aus der Hand gegeben. Das Programm dieses Kongresses wird lehren, wie weit die Kunstwissenschaft auf ihm zu ihrem Recht kommen wird. Der dritte Kongreß soll in Paris stattfinden. Wird da nicht der Kongreß immer ästhetischer und künstlerischer werden, anstatt methodischer und wissenschaftlicher? Wir werden Kongresse haben, aber auch eine allgemeine Kunstwissenschaft?

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H[ans] Tietze, [Die] Methode der Kunstgeschichte, Leipzig, 1914.

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Vgl. E. Utitz: »Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft«.

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Untersuchungen über die Methode einer Wissenschaft pflegen oft genug das Anzeichen einer Krisis in dieser Wissenschaft zu sein, indem neue Probleme den Rahmen bis dahin geübter Praxis wissenschaftlicher Forschung zu sprengen drohen, neue Forschungen und Ansprüche, gewiß oft einseitig, erhoben werden, und wiederum die Vertreter der alten Praxis in der Revolution die kommende Anarchie fürchten und nun ihre Methode aus den gesicherten Resultaten zu rechtfertigen suchen. Das Buch von Hans Tietze, Die Methode der Kunstgeschichte 1 ist von letzterer Art. konservativ, warnend und, ohne es immer deutlich auszusprechen, ein Protest gegen Bestrebungen, die sich unter dem Namen einer allgemeinen Kunstwissenschaft zusammenzufinden versprechen. Es ist nicht zu verstehen, ohne den Stolz auf ein Institut, das mit den Mitteln der reinen Geschichtswissenschaft die Kunstgeschichte an den Betrieb historischer Forschung und Kritik gekettet hat, und in der Exaktheit dokumentarischer Feststellung eindeutiger Fakten allein wissenschaftlichen Wert erblickt. Dabei geht es Tietze wie der Kraft, die das Böse will und das Gute schafft. Als wichtigste Begriffe seiner Methode hat er von dem nach der systematischen Seite bin bedeutendsten Vertreter dieser Schule, Alois Riegl, den des Kunstwollens einer Zeit und der geistigen Entwicklung mitbekommen, die sich niemals mit den Methoden historisch-dokumentarischer Tatsachenerforschung rein erledigen lassen und Tietzes Opposition gegen alle Gesetzesforschung und Aufstellung von Analogien den einen Einwand entgegenstellen: selber gar nicht denkbar zu sein, ohne eine Gesetzlichkeit zu bedeuten. Daß Tietze diesen Widerspruch nicht bemerkt hat, liegt offenbar an einer gewissen Unfähigkeit, des begrifflich Allgemeinen Herr zu werden, einem Mangel, den er selbst mit den Worten zugibt: »Sein Verfasser hat weder die Absicht noch auch die Berechtigung oder Befähigung, eine methodologische Untersuchung auf erkenntnistheoretischer Grundlage zu führen.« A Liegt so die Gefahr vor, der der Verfasser auch keineswegs entgangen ist, daß er mit seinem Kampf gegen eine Wissenschaft des Allgemeinen in der Kunst aus seiner und einer ganzen Schule Not eine Tugend zu machen bestrebt sein wird, und mußte es zunächst als ein Leichtsinn erscheinen, die letzten und allgemeinsten, nur erkenntnistheoretisch zu erledigenden Fragen einer Wissenschaft in einem umfangreichen Werk trotz eingestandenem Mangel an Befähigung für eine solche theoretische Aufgabe zu behandeln, so entschädigt der Verfasser durch die Weite der Umschau, die Vielseitigkeit sachlicher Kenntnisse 1

Hans Tietze, Die Methode der Kunstgeschichte. E.A. Seemann, Leipzig 1913.

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Hans Tietze: Die Methode der Kunstgeschichte. Ein Versuch. Leipzig 1913, S. V.

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und durch die Fülle der aus der Praxis kunsthistorischer Forschung sich ergebenden Probleme, so daß das Werk seinen Zweck vortrefflich erfüllt: »Die Prinzipienfragen der Kunstgeschichte von irgendeiner Seite zur Diskussion zu stellen.« A Nach dieser Seite hin ist es so bedeutend, da8 es nicht in einer empfehlenden oder abtuenden Besprechung erledigt werden kann, sondern daß die Fragen, die es von allen Seiten aufwirft, nur in einer den Widerspruch begründenden Diskussion der Prinzipien behandelt werden können. Wenn es eine besondere Methode der Kunstgeschichte geben soll, die sich von der Methode der Geschichtsforschung überhaupt unterscheidet, so wird diese in einer Modifikation der allgemeinen historischen Methode durch die Besonderheit des künstlerischen Materials bestehen. Darüber Ist sich auch Tietze vollständig klar. Ihre Erkenntnis setzt aber voraus sowohl einen gültigen Begriff vom Wesen der Kunst wie vom Wesen der Geschichte. So wenig nun zu verlangen ist, daß jemand, der die Beziehung der Geschichte der Kunst erforschen will, sich die Begriffe von deren Wesen selbständig bildet, so sehr ist doch eine kritische Prüfung der übernommenen Begriffe notwendig, besonders wenn es sich um eine noch keineswegs abgeschlossene Diskussion über das Wesen der Geschichte und des Kunstwerks handelt. Hier nun versagt Tietze vollständig. Betrachten wir zunächst seinen Beg r iff der Geschichte. Man kennt den Streit zwischen Lamprecht und Rickert und über die Frage historischer Gesetze und Tatsachenforschung. Tietze übernimmt seinen Begriff der Geschichte von Rickert als der Denkweise, die dem Forschen nach den Gesetzen das Interesse an den Tatsachen entgegenstellt. Ästhetik und Kunstgeschichte scheiden sich als die Wissenschaft vom Allgemeinen und vom Individuellen. Bekanntlich stellt Rickert damit zugleich den Gegensatz von Naturwissenschaft und Geschichte zusammen. Nun ist grade kaum ein Material wie das der bildenden Kunst so geeignet, diesen Begriff der Geschichte zu widerlegen, der ja auch von philosophischer Seite aus bereits energischen Widerspruch erfahren hat. Die Einwände laufen darauf hinaus, daß es wissenschaftliche Feststellungen des Einmaligen und Tatsächlichen gibt, die nicht historisch genannt werden können, daß diese Tatsachenkonstatierung für die Naturwissenschaft nicht weniger wertvoll ist wie für die Geistes(Kultur-)wissenschaften, und daß andererseits es Gesetzlichkeiten gibt oder solche methodisch gefordert werden können, die allein die Historie angehen. Auch letzteres wird grade durch die Kunstgeschichte dargetan, doch davon später. Ich meine, der Richter, der alle Einzelheiten eines Verbrechens feststellt, der Arzt, der einen besonderen Krankheitsfall beschreibt, beide fällen damit Urteile, die absolute Tatsachenkonstatierungen sind, ohne doch Geschichte genannt werden zu können. Breite Gebiete der Naturwissenschaft wie die Geologie, Geographie, Mineralogie, alle Arten von Statistiken behandeln idiographisch mit dem Interesse am Einmaligen den Bestand der Erdoberfläche, der geologischen Formationen, der Erzlagerstätten, der komA

Ebd.

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merziellen Beziehungen von Ländern und Völkern, in denen ein Gegenwarts-, aber kein historisches Interesse vorliegt. Grade in der Kunstforschung kann die Katalogisierung und Inventarisierung der an einem Ort vereinten Werke in einer Weise vorgenommen werden, daß das Einzelfaktum in seiner Besonderheit völlig erschöpft wird, ohne daß ein historisches Interesse sich auch nur einzumischen braucht. Alle Wissenschaft, die der Orientierung in der unmittelbaren Gegenwart dient, ist Tatsachenfeststellung, aber noch längst nicht Geschichte. Dazu gehört offenbar, daß die Tatsache als vergangen ein besonderes Interesse beansprucht, und die Beurteilung dieser Tatsache als einem bestimmten Punkte der Vergangenheit angehörig den eigentlichen Inhalt des Urteils bildet. Ist Geschichte die Wissenschaft von vergangenen Ereignissen und die ausdrückliche Beurteilung dieser als vergangen, so ergeben sich sofort zwei wichtige methodische Prinzipien für die Geschichtsforschung. Es kann uns eine Tatsache in ihrer Qualität vollständig bekannt sein, unbekannt ist die Stufe der Vergangenheit, der sie zugehört. Wir wissen etwa, daß Kain Abel erschlug, Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben wurden. Aufgabe der Forschung ist, den Zeitpunkt festzustellen, in dem die Ereignisse stattfanden. Und da zur völligen Bestimmtheit dieses Faktums auch der Ort hinzugehört, an dem es als ein und dasselbe chronologisch festgelegt wird, so ist diese Methode die der zeitlich-ör tlichen Attr ibuier ung. Oder aber wir kennen den Zeitpunkt und gehen von diesem und einem bestimmten Ort aus und fragen, was geschah hier in diesem Zeitpunkt oder, wenn ein Teil davon bekannt ist, wie sah das Ganze oder der Rest aus? Es ist die Methode historischer Tatsachenrekonstr uktion. Die Kunstgeschichte macht besonders klar, wie es nicht auf das individuelle Faktum, sondern auf die einer bestimmten Stufe der Vergangenheit angehörige Tatsache ankommt. Die logische Rekonstruktion eines Torsos nach Bedürfnissen der Gegenwart ist von der historischen grundverschieden, im Resultat wie in der Methode. Man denke an die Ergänzungen von Statuen im 16. und 17. Jahrhundert, die Restauration von alten Gemälden, um sie museumsfähig zu machen, und vergleiche damit die Rekonstruktion eines historischen Zustandes, die schon von dem veränderten Aussehen der erhaltenen Teile gegenüber ihrem ursprünglichen Bestande ausgeht. Es läßt sich begreifen, warum die Theorie der Geschichtsschreibung bisher auf diese Konstatierung des Vergangenheitsmomentes als des Wesentlichen historischer Urteile kein Gewicht gelegt hat, offenbar nämlich, weil in der älteren, vorwiegend politischen Geschichtsschreibung es sich fast nur um Konstatierung von Ereignissen handelte, bei deren Beschreibung die chronologische Identifizierung ohne weiteres mitgegeben war, weil ein Gegensatz von Gegenwartscharakter und Vergangenheit nicht in Betracht kam, da sie als Menschenereignisse und Taten nur in einem bestimmten Zeitpunkt existierten. Die Beschreibung des Faktums war dadurch zugleich eine historische Attribuierung und Rekonstruktion. Das wird aber sofort anders bei Tatsachen, die heute noch dauern und bei denen die Beschreibung des Faktums als noch vorbanden sofort ein Gegenwartsinteresse daran knüpft, das im Gegensatz steht zum historischen. Hier wird, wie es beim Kunstwerk der Fall ist,

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die einfache Tatsachenbeschreibung vom historischen Urteil sofort geschieden, und sowohl die historische Attribuierung wie die Rekonstruktion werden Problem bei dieser zunächst unhistorischen oder überhistorischen Tatsache. Auch warum Rickert bei dem Bemühen, den wissenschaftlichen Wert der bloßen Tatsachenbeschreibung zu rechtfertigen, sich auf die Geschichtsschreibung stützte und so dazu kam, Geschichte und idiographische Methode zu identifizieren, läßt sich verstehen. Während bei fast allen anderen Individualurteilen – man denke an Medizin, Rechtsprechung, Statistik – diese Urteile unmittelbar einem praktischen Interesse zu dienen pflegen, scheint in der Konstatierung des Vergangenen nur ein unmittelbares Wissensinteresse vorzuliegen, und dadurch ein Wissensgebiet von Einzeltatsachen jedenfalls sich als vorhanden zu erweisen. Dennoch wäre es richtiger, darauf hinzuweisen, daß der teleologische Charakter, der praktische oder sonstige Wert, der der Einzeltatsache eignet und deren Konstatierung oft der Technik, dem praktischen Betrieb überläßt, dieses Individualurteil nicht um seinen Wahrheitswert, also seine logische Bedeutung bringt, und daß ebensogut auch die systematischen Urteile und Gesetze mit Hinblick auf die teleologische Bedeutung der durch sie berechenbar gewordenen Einzeltatsachen gerechtfertigt werden können. Vor allem aber lä8 t sich zeigen, daß auch den Individualurteilen der Geschichtswissenschaft eine teleologische Bedeutung über die rein theoretische hinaus zukommt, daß die Vergangenheit einen Wert bedeutet und so die objektive Konstatierung der Vergangenheitsstufe die darunter fallenden Tatsachen einer bestimmten Wertung aussetzt und in eine Wertreihe einordnet. Auch hier ist die Kunstgeschichte besonders belehrend. Es ist das antiquarische Interesse, der Wert der Altertümlichkeit, den wir unmittelbar empfinden, wenn eine Sache uns plötzlich Dicht mehr gefallt, weil sie sich als neu herausstellt, während wir sie für alt gehalten haben, oder wenn schon allein das Alter einer sonst wertlosen Sache einen Wert verschafft, und die ältesten Zeiten besonders Ziel wissenschaftlichen Interesses sind. So rangieren die Tatsachen in eine Reibe, je nach der Vergangenheitsstufe, der sie angehören. Wir brauchen nicht zu diskutieren, ob dieser Wert noch Berechtigung hat, oder ob er selber noch wieder anderen Quellen entstammt. Er ist da und vermag der Geschichte eine teleologische Bedeutung zu geben, wenn auch, wie in jeder Wissenschaft, die wissenschaftliche Praxis unabhängig von diesem Telos das Material, die objektiven Urteile liefert, die für die Bewertung die Grundlage abgeben, Ur teile über den Vergangenheitscharakter von Tatsachen oder über die Tatsachen einer bestimmten Vergangenheit. Von hier aus, werden wir sehen, ergibt sich, wie in allen Wissenschaftsgebieten, das Verhältnis vom Allgemeinen zum Besonderen, vom Gesetz zur Tatsache, nicht aber liegt im Wesen eines typischen Verfahrens schon das Wesen der Geschichte beschlossen. Von hier aus fallen besondere Lichter auf das Wesen der Kunstgeschichte. Bei Tietze dringt zuweilen die Erkenntnis durch, daß es auf diese Vergangenheitsbestimmung ankomme, so wenn er von der Menge historischer Kunst redet, die den Kunstbesitz der Menschheit bildet – das einzelne Stück ist vom Nimbus des

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Alters und der historischen Bedeutungen umgeben –, überhaupt in der ganzen Diskussion über Gegenwartswert und historischen Wert. Aber methodisch ausgenützt ist diese Erkenntnis nirgends, noch weniger zu einem Begriff der Geschichte oder zu einer Kritik des von ihm übernommenen Begriffes verarbeitet. Für uns aber wird der Begriff der Geschichte als Wissenschaft von chronologisch zu fixierenden Vergangenheitstatsachen wichtig, als dadurch tatsächlich das Problem einer kunsthistorischen Methode seine besondere Beleuchtung erfährt, und von hier aus Schwierigkeiten und Eigentümlichkeiten der Kunstgeschichtsforschung eine Erklärung finden. Tietze behauptet mit Recht, das uns zugängliche Kunstwerk sei noch nicht die historische Tatsache, diese ist uns mit dem Kunstwerk noch nicht gegeben, wie der historische Realismus glauben könnte. Aber die Deutung, die Tietze diesem Satz gibt, hebt ihn zum Teil wieder auf oder gebt an dem historischen Problem vorüber. Für ihn sind die Kunstwerke nur Ausdruck eines in ihnen verkörperten schaffenden Willens, er schiebt also die Erkenntnis des künstlerischen Tatbestandes auf die eines psychologischen Faktums zurück. Wenn er aber (S. 122) sagt: »Das Kunstwollen ist die aus der Summe der ästhetischen Faktoren eines Kunstwerks gewonnene Abstraktion, daher muß es in diesem völlig verkörpert sein und daher deckt sich im Kunstwerk die Quelle so weitgehend mit der Tatsache, die sie meldet, daß wir uns in der Praxis zur Identifizierung beider Begriffe berechtigt fühlen«, so negiert dies die Erkenntnis, daß der im Kunstwerk gegebene ästhetische Inhalt noch kein historisches Faktum ist. Dieses erhalten wir erst, wenn wir fragen, wie kommen wir von dem gegebenen, also gegenwärtigen Kunstwerk aus zu einer Tatsache der Vergangenheit? Hier entscheidet also das eigentümliche Wesen des Kunstwerks über die historische Methode, dieses Wesen gilt es also erst zu erkennen, um daraus die eigentümlichen historischen Probleme abzuleiten. Drei Bestimmungen sind es, wie mir scheint, die das Wesen des Kunstwerkes ausmachen, von denen jede einzeln Dicht imstande ist, das Kunstwerk – wir reden jetzt nur von bildender Kunst – eindeutig zu bestimmen, und von denen jede für sich genommen weiter reicht als das Kunstwerk und es deshalb in Zusammenhänge hineinstellen kann, die einer besonderen Methode der historischen Feststellung bedürfen. Denn zunächst gehört zum Wesen des Kunstwerkes, daß es ein materielles, dauerndes Ding ist, das damit den Schicksalen der Zerstörung und der Veränderung ausgesetzt ist, wie alle Objekte der Natur, und nach naturwissenschaftlichen Methoden untersucht werden kann. Alles, was wir von Materialkunde am Kunstwerk voraussetzen, ist naturwissenschaftlich orientiert und betrifft den materiellen Charakter des Werkes. Mit dieser Bestimmung dauernder materieller Existenz trennen wir das Werk der bildenden Kunst ab von allen Produktionen unmittelbarer menschlicher Darstellung, allen lebendigen Vorführungen, wie in der Akrobatik, im Theater, in der Tracht, die für das Auge wohl etwas zu bieten vermögen, was Werken der bildenden Kunst entspricht, trotzdem solche nicht sind. Wir trennen es aber auch von dem bloßen geistigen Inhalt, mit dessen Existenz in einer psychischen Realität die Romantiker schon das Wesentliche des Kunstwerks erschöpft sahen.

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Das zweite ist die Bestimmung als Kunstwerk, d. h. als Produkt menschlichen Tuns, das zur Beurteilung der besonderen Leistung menschlichen Könnens herausfordert. Die Begriffe, unter denen wir dieses Können beurteilen, und die die Methode bestimmen, sind die Begriffe der Originalität einerseits in bezug auf Erfindung, Findung oder Gestaltung eines bis dahin noch nicht existierenden Gebildes, und der Technik andererseits in bezug auf Darstellung des Gebildes in einem bestimmte Schwierigkeiten stellenden Material. Der Gegensatz dazu ist die Kopie, das Abbilden, bei dem die Kunstleistung nur noch nach der technischen Seite zu suchen ist, oder die mechanische Verfertigung, wo eine besondere menschliche Leistung nicht vorauszusetzen ist. Damit würden also Photographien aus dem Bereich der Kunstwerke ausscheiden, da sie mechanische Abbildungen sind, oder höchstens nach Seite des Findens, Entdeckens von wertvollen Gebilden hineingezogen werden können. Mit diesem Gesichtspunkt ist nun für die historische Methode zugleich der Rückgang auf den Künstler gegeben, und die Fragen nach Lehre, Anregung, Vorbildern, Motiven sind keineswegs müßig, wenn es sich darum handelt, das Maß seiner Originalität festzustellen, ebensowenig wie die Frage nach der Konzeption, der künstlerischen Absicht, um zu sehen, wie weit er fähig war, sie in seinem Material zu realisieren. Wie das Urteil von Juristen und Pädagogen ist auch die Kunstbeurteilung auf die Psychologie und ihre Methode angewiesen. Als dritte Bestimmung des Kunstwerkes gilt uns das, was wir als spezifisch künstlerischen Gehalt auffassen, daß nämlich die in der Wahrnehmung dargebotenen sichtbaren Elemente als solche eine Bedeutung haben, die wir im weitesten Sinne als Veranschaulichung bezeichnen. Nur wo die Kunstleistung in der Herstellung eines sichtbaren Gebildes sich bemüht hat, das seine Bedeutung im Sichtbaren selber hat, und nicht im Begriff, den es uns vermittelt, da reden wir von einem Werke der bildenden Kunst. Dieser anschauliche Wert sichtbarer Dinge kann liegen in der Vergegenwärtigung eines Fernen wie beim Denkmal und Porträt oder in der Illustrierung eines nur begrifflich Bekannten, oder in der Eigenbedeutsamkeit, d. h. der ästhetischen Bedeutung des Sehgebildes. Die Erkenntnistheorie hat diese Kategorien anschaulicher Gegenstände genau so zu bestimmen wie die des naturwissenschaftlichen Gegenstandes und das besondere Verfahren anschaulicher Logik darzulegen, mit der wir zu solchen Sehbedeutungen gelangen. Dieser geistige Gehalt kann durchaus unabhängig von den beiden anderen Bestimmungen auftreten; denn er ist sowohl unabhängig von der Kunstleistung, da ihn Natur und Photographie auch zu bieten vermögen, als auch von der materiellen Existenz lebloser Körper, da er von Menschen vorgeführt werden kann (lebende Bilder) und auch als Vision, Phantasma, Halluzination aufzutreten vermag. Dieser anschauliche Gehalt und die Synthese seiner gegebenen Sinnesdaten ist aber nicht nur abhängig von dem objektiven materiellen Bestand des Kunstwerkes, sondern ebenso sehr von der Aufstellung, in der es uns entgegentritt, da die Umgebung, in der es erscheint, den anschaulichen Gehalt zu ändern vermag, ferner von den Erfahrungen, die jemand mitbringt, das Sichtbare zu deuten. Denn

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bei der illustrativen und monumentalen Bedeutung anschaulicher Gebilde ist ja die Kenntnis von Begriffen vorausgesetzt, die illustriert wurden. Aber auch bei eigenbedeutsamen anschaulichen Inhalten, sofern nicht das rein Optische allein den Inhalt bildet, bestimmen frühere Erfahrungen das Verständnis des Sichtbaren von einfachsten Körperhaltungen an bis zur höchsten Stufe seelischen Ausdrucks. Dem, dem diese Erfahrungen nicht gegenwärtig sind, können sie durch Interpretation, wohin unter anderem alle ikonographische Analyse eines Kunstwerkes gehört, vermittelt werden. Die Methode einer solchen Kunstinterpretation wird sich naturgemäß an die anlehnen, die schon immer als Hauptaufgabe die Interpretation von sichtbaren oder hörbaren Zeichen, das Feststellen ihrer Bedeutung betrieben hat, an die Philologie. Methodisch ergeben sich zunächst unabhängig von der historischen Aufgabe die Möglichkeiten: entweder das Kunstwerk andern wissenschaftlichen Disziplinen auszuliefern, wie man denn die chemisch-physikalische Untersuchung gern den Fachleuten der Naturwissenschaften überläßt, oder aber das Kunstwerk als bestimmend für das Wissensfach anzusehen und von ihm auszugehen als dem eigentlichen Forschungsobjekt. Dann bleibt nichts übrig, als schon hier drei ganz verschiedene, mit verschiedenen Methoden arbeitende und an verschiedene Wissenschaften sich anlehnende Forschungsgebiete anzuerkennen, die alle dasselbe Kunstwerk zum Ziele haben, ihre Vereinigung aber in einem gemeinsamen Wissensbetrieb als allgemeine Kunstwissenschaft zu bezeichnen. Ob das zu einer Personalunion oder auch einer Arbeitsteilung führt, bleibt methodisch gleichgültig, aber die Spezialisierung der naturwissenschaftlichen Seite (man denke an Raehlmann A) und zum Teil auch der technischen, für die man gern die Künstler selbst zu Worte kommen läßt, deutet darauf hin, daß man auch für die die anschauliche Bedeutung erforschende Richtung ein Sonderrecht sich spezialisierender Praxis beanspruchen darf. Diese Forschungsrichtungen können systematisch vorgehen und Gesetze aufstellen, sie können aber auch mit ihren systematisch geordneten Begriffen ein Einzelfaktum beschreiben, Geschichte treiben sie damit weder in dem einen noch in dem andern Falle, und damit wird auch Tietzes Argument gegen eine allgemeine Kunstwissenschaft hinfällig, das er so formuliert: »Das Wesentliche ist aber, daß die beiden Wissenschaften, die Im Kunstgeschehen das Gesetzmäßige oder das Einmalige aufzuspüren suchen, in Aufgabe und Arbeitsweise so durchaus verschieden sind, daß eine Kreuzung zwischen ihnen, wie sie die Kunstwissenschaft anzustreben scheint, widernatürlich und widersinnig ist.« B Die logischen Verfahren der Verallgemeinerungen und Systematik und der Beschreibung des Einzelfaktums sind nichts. was Forschungsgebiete scheiden könnte, weil sie nicht Methoden der Gegenstandsbestimmung sind. Und ein Gegensatz von Ästhetik und Kunstgeschichte ist in dem Argument Tietzes überhaupt nicht vorhanden. Vgl. Eduard Raehlmann: »Die Stellung der Temperamalerei in der Kunst der verschiedenen Zeitepochen«. In: Monatshefte für Kunstwissenschaft. 9 (1916), S. 404–418. B H. Tietze: Die Methode der Kunstgeschichte, S. 5. A

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Die Kunst geschichte wird von dem Problem einer allgemeinen Kunstwissenschaft zunächst gar nicht betroffen. Die Krisis, in der sich die Kunstgeschichte zur Zeit befindet, hängt vielmehr ab von neuen Aufgaben, die ihr dadurch gestellt sind, daß die dritte Bestimmung des Kunstwerkes, die anschauliche Bedeutung, bisher kaum beachtet und vor allem noch nicht methodisch ausgearbeitet ist. Daher ist nichts dringender als eine Klärung und Systematik anschaulicher Bedeutungen, die im Kunstwerk verkörpert sein können, damit die Kunstgeschichte als Kunstgehaltsgeschichte möglich wird, nachdem sie vorher nur Kunstwerkgeschichte als Kunstleistungsgeschichte und Geschichte materieller Objekte gewesen ist. Man denke doch nur daran, wie bislang die Beurteilung des Kunstwerkes als technischer Leistung, als Naturnachahmung, fast der einzige geschichtliche Gesichtspunkt gewesen ist. Zugleich aber wird mit dem Verlangen nach einer Systematik anschaulicher Bedeutungen in Werken der bildenden Kunst für diejenigen, die vom Kunstwerk als Forschungsgebiet ausgeben wollen, das Problem einer Wissenschaft, die das allgemeine der das Kunstwerk charakterisierenden Begriffe systematisiert, um so dringender, als die Ästhetik, der man diese Aufgabe bisher zuerteilte – und Tietze tut es auch heute noch –, gar nicht sich mit den materiellen Bestimmungen des Kunstwerkes und der Kunst als Leistung abzugeben braucht, vor allem aber nicht einmal sämtliche anschaulichen Werte im Kunstwerk behandelt, sondern eben nur die eigenbedeutsamen. Während sie also für diese zwar die Prinzipien der Gegenstandsbildung, die ästhetischen Kategorien liefert, hat eine vom Kunstwerk ausgehende Systematik bei jedem Kunstwerk erst einmal zu fragen, ob es eine ästhetische Bedeutung bat oder nicht. Obwohl Tietze sich einer von mir durch Einführung der illustrativen Bedeutung des Kunstwerks am entschiedensten geforderten Trennung von Ästhetik und Kunsttheorie gelegentlich anschließt, zieht er nicht die Konsequenz einer Kunstwissenschaft, die, auf die Ästhetik nicht mehr als auf Erkenntnistheorie überhaupt angewiesen, vom Kunstwerk ausgeht und die anschaulichen Bedeutungen in ihrem Zusammenhang mit den dinglichen und spezifisch künstlerischen klärt und systematisiert. Auch hier also besteht ein Problemkreis, ganz unabhängig von Kunstgeschichte, den wir – im Gegensatz zur allgemeinen Kunstwissenschaft als der Gemeinsamkeit aller vom Kunstwerk als Forschungsobjekt ausgehenden Richtungen – mit systematischer Kunstwissenschaft bezeichnen wollen. Konnten wir aber nur vom Wesen des Kunstwerkes das besondere Wesen der Kunstgeschichte verstehen, so auch nur aus den von der systematischen Kunstwissenschaft übergebenen Begriffen die eigentümlichen Methoden der Kunstgeschichte. Durch sie erhalten wir die Objekte, deren Geschichte wir schreiben wollen. [. . .] Das werfen wir Herrn Tietze vor: Daß er auf der einen Seite skeptisch jede Gesetzlichkeit in der Geschichte leugnet, gern mit der Berufung darauf, daß alle diese scheinbaren Gesetze nichts Tatsächliches seien, sondern Konstruktionen des menschlichen Geistes, als ob nicht jede Tatsache schon ein Gesetz

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ihrer Konstitution, ein Bildungsprinzip enthielte. Er macht sich so zum Anwalt einer rein empirischen Geschichtsforschung, die, wenn sie konsequent verführe, nicht weiter als zur Aufweisung einzelner Werke in zeitlicher Folge oder zur zeitörtlichen Attribuierung qualitativ geordneter Einzelwerke käme und in jedem Fall die betreffende Prädizierung, d. h. die Attribution oder Rekonstruktion, der dokumentarischen Feststellung überlassen müßte. Auf der andern Seite stehen die dogmatisch sten Behauptungen über gesetzliche zusammenhänge, die Tietze zum Mitläufer moderner, d. h. gesetzlich und systematisch orientierter Kunstforschung macht und zu Behauptungen kommen läßt, daß jede Zeit ihr bestimmtes Kunstwollen habe, d. h. ein Einheitsprinzip systematischer Art, daß sich kein Werk dieser Einheit entziehen könne, daß es möglich sei, mit stilkritischer Methode jedes Werk haarscharf sozusagen historisch einzureihen. Ebenso dogmatisch sind die vielen als Beispiele eingestreuten Entwicklungsverläufe, die sein Buch besonders reizvoll machen durch die Oberblicke über eine Reihe von Entwicklungsabläufen, z. B. der Rezeptionen der Antike, des literarischen Kunsturteils, der Geschichte einzelner Periodenbegriffe und anderes mehr, wie sie ein vielseitig und gründlich orientierter Autor zu geben vermag. Aber einzeln besehen, unterscheidet sich doch keine dieser Zusammenfassungen von den Verallgemeinerungen und Systemisierungen des geschichtlichen Verlaufes, die Tietze anderen Autoren zum Vorwurf macht. Oberhaupt ist das Buch belastet mit Geschichte, Beispielen angewandter Methode, nur die Methode und die Rechtfertigung der Begriffe fehlen, unter denen sich die Systemisierung der Kunstgeschichte und die eigenen Zusammenfassungen des Verfassers vollziehen sollen, für alle die, denen historisches Wissen mehr als begriffliche Klarheit über die methodische Grundlegung ihrer Wissenschaft am Herzen liegt, sicherlich etwas, was das Buch besonders empfiehlt. Die bewußte Anerkennung alles dessen, was die rein empirische Feststellung des Einzelnen angeht, hat bewirkt, daß unter dem Kapitel Methode hauptsächlich Gesichtspunkte verhandelt werden, die die eigentlichen kunstgeschichtlichen Aufgaben erst vorbereiten, die der Quellenkunde, dagegen im Kapitel über Wesen der Kunstgeschichte und Auffassung und Darstellung die eigentlichen kunstgeschichtlichen Methoden gestreift werden, ohne daß es zu einer wirklichen Klärung der Begriffe kommt. Denn wenn von einer Anarchie in der Kunstgeschichte die Rede sein soll, dann doch einmal in der Hinsicht, daß im Veröffentlichen von Notizen dokumentarischer Art oder von unbekannten Werken, also von historischen Attributionen und Rekonstruktionen sich ein Kleinbetrieb der Kunstgeschichte breit zu machen beginnt, der, an sich wertvoll und unerläßlich, den Wert historischer Arbeit vom Zufall oder vom Reisegeld abhängig macht und den Blick für die großen Zusammenhänge trübt. Auf der andern Seite wird die Kunstgeschichte davon bedroht, daß in den Begriffen, mit denen die größere Zusammenhänge suchende Kunstgeschichte arbeitet, sich ein logischer Dilettantismus verrät einerseits in der oberflächlichen Berücksichtigung der Fakten, die man zur Konstruktion der Begriffe heranzieht, auf Seite mehr philosophisch als kunsthistorisch gebildeter

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Autoren, andererseits bei Kunsthistorikern in der logischen Synthese und erkenntnistheoretischen Begründung, mit der man künstlerische Tatsächlichkeiten zu Begriffen formt. Und da die Kleinarbeit als Ausgangspunkt immer ihr Recht behält und nur ihre Anmaßung zurückgewiesen werden muß, wegen ihrer angeblichen Sicherheit und Zuverlässigkeit als einzig wissenschaftlich zu gelten, so liegt die größere Gefahr für eine Anarchie der Kunstgeschichte in der Laxheit ihrer Begriffe und dem logischen Dilettantismus ihrer Vertreter. Und hierfür ist uns Tietze selber Beweis genug, und wenn wir aus nichts anderem das erschließen würden als aus der Tatsache, daß ein Buch, das sich durch seine zwingende Logik und seinen systematischen Aufbau rechtfertigen soll, fast jeden seiner Sätze mit einer Autorität belegt, die durch ihre Glaubwürdigkeit den Gedanken als Quelle rechtfertigen soll. Es gibt kaum etwas Störenderes, als auf einer einzigen Seite den Gedankengang drei- bis viermal durch Belege für ganz selbstverständliche Behauptungen unterbrochen zu sehen. Und daß die Disposition des Buches eine ziemlich übereinstimmende Wiederholung der von Bernheims historischer Methode ist, zeigt, daß der Ausgangspunkt Tietzes nicht die Kunstwerke und die Kunstgeschichte waren, sondern eine sich mit der Überlieferung dokumentarischer Art befassende reine Geschichtswissenschaft. Dieser Gefahr zu begegnen, aus Begriffen, die nicht aus kunstgeschichtlichem Material gewonnen sind, Konstruktionen für die Kunstgeschichte aufzustellen, und mit Begriffen, die nicht logisch verarbeitet sind, die kunstgeschichtlichen Aufgaben einzuengen und zu fälschen, bedarf es einer systematischen Kunstwissenschaft, die des Tatsachenmaterials so wenig wie die Kunstgeschichte entbehren kann, sich aber allein auf die qualitativen Möglichkeiten und Zusammenhänge einläßt und diese in ein System bringt, ohne sich um die raumzeitliche Attribuierung oder um historische Rekonstruktionen zu kümmern. Zugleich sorgt sie aber dafür, daß die Wissenschaft, die die geschichtliche Einordnung und Rekonstruktion besorgt, die Kunstgeschichte, Subjektsbegriffe in die Hand bekommt, von denen sie ihre historischen Urteile fällen kann, oder mit denen sie zu Parallelen von qualitativen Reihen mit zeitörtlichen gelangen kann. Gehen wir von der Erforschung des Kunstwerkes aus als des eine Wissenschaft und einen Wissensbetrieb zusammenhaltenden Materials, so ergeben sich systematische Kunstwissenschaft und Kunstgeschichte als methodisch gänzlich verschiedene Forschungsrichtungen, von denen die eine, die systematische, notgedrungen an der Philosophie, d. h. logisch und erkenntnistheoretisch orientiert ist, die andere, da sie als Wissenschaft von Vergangenem auf Überlieferung angewiesen ist, an einer Wissenschaft, die sich die Kritik der literarischen Oberlieferung zum Ziel gesetzt bat. Diese reine Geschichtswissenschaft zu nennen, dürfte auf die Dauer sich nicht empfehlen, da in demselben Maße, wie die politischen Begebenheiten nur ein qualifiziertes Material werden, neben dem Rechts-, Sprach-, Kunst- und andere Geschichten sich auftun, die Quellenkritik ein besonderes methodisches Verfahren sein wird, das außerhalb der Beurteilung der besonderen Materie die Überlieferungen etwa als Dokumentenkunde behandelt, aus denen alle Geschichten gleichmäßig schöpfen.

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Die verschiedenen Forschungsmethoden innerhalb eines Tatsachenkomplexes, die systematische Materialbearbeitung einerseits, die zeitörtliche Attribuierung und Rekonstruktion andererseits, von denen jede wieder auf die andere angewiesen ist, machen es notwendig, hier ein Gebiet allgemeiner Kunstforschung anzuerkennen, das mit dem Namen der Kunstgeschichte nur einseitig bezeichnet sein würde, und mit dem Ausdruck der allgemeinen Kunstwissenschaft sich wohl am besten benennen läßt. Auf jedem anderen Gebiet steht die systematisch-begriffliche Behandlung des Stoffes neben der Geschichte und geht ihr praktisch voran, wir haben eine Rechtswissenschaft systematischer Art neben Rechtsgeschichte, Politik neben politischer Geschichte, systematische neben historischer Nationalökonomie, Physik neben Erdgeschichte, warum sollte es in der Kunstgeschichte anders sein? Es ist nur anders, weil das Kunstwerk, soweit es materielles Ding ist, dazu geführt hat, sich mit Begriffen bei der historischen Attribuierung zu begnügen, die wir von unserer Naturerkenntnis her gewohnt sind. Im selben Augenblick aber, wo wir uns von dieser unglaublichen Primitivität dieser Kunstbegriffe losmachen, haben wir nicht nur eine systematische Kunstwissenschaft nötig, sondern stellen sich eine Fülle neuer historischer Aufgaben, weil neuer Tatsachen, für die Attribuierung ein. Die Anerkennung der Selbständigkeit systematischer Kunstbetrachtung neben der historischen und der Einheit beider in dem Ausgehen von demselben Gegenstand, den Kunstwerken, hat auch praktisch ihre Konsequenzen. Die wissenschaftliche Organisation, besonders nach Seite des Unterrichts, macht beim Ausgehen von denselben Gegenständen eine fachliche Trennung nach Forschungsmethoden, also nach systematischer und historischer Seite, nicht wünschenswert, wohl aber eine Anerkennung der Resultate beider Richtungen innerhalb des einen Faches. Es darf nicht vorkommen, daß eine systematisch begriffliche Behandlung der bildenden Kunst als Doktorarbeit nicht zugelassen wird, oder daß man bei der Bewerbung um Zulaß in eine wissenschaftliche Organisation von der Kunstgeschichte wegen der systematischen Betrachtungsweise an die Philosophie, von dieser wegen der Beschränkung auf das Gebiet der Kunst an die Kunstgeschichte verwiesen wird. Die geringschätzige Aufnahme, die Schmarsows Arbeiten grade in der Wiener Schule gefunden haben, obwohl man ihm das Verdienst ernstlicher Bemühungen um den geistigen Gehalt der Kunst auch dann nicht absprechen kann, wenn man seine begrifflichen Resultate nicht als endgültig zu akzeptieren geneigt ist, ist vom Standpunkt der allgemeinen Kunstwissenschaft und deshalb auch einer geisteswissenschaftlich orientierten Kunstgeschichte etwas Unerhörtes. Nur aus der Verkennung der Methode der Kunstgeschichte und der Aufgaben einer systematischen Kunstbetrachtung heraus kann es kommen, daß Wölfflins Klassische Kunst A, das Musterbeispiel für die systematische Feststellung eines Stilbegriffes an einem bestimmten historischen Material, damit kritisiert wurde – freilich mehr in A Vgl. Heinrich Wölfflin: Die klassische Kunst. Eine Einführung in die italienische Renaissance. München 1899.

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privatem Gespräch als öffentlich –, daß in dem Buche nichts Neues enthalten sei, womit man meint, daß keine neuen, bis dahin unbekannten Werke vorgeführt, oder keine bekannten neu attribuiert seien. Aus eigener Erfahrung kann ich dasselbe Urteil anführen aus einer Kritik über mein Buch über Rembrandts Radierungen A, in dem ich versuchte, die anschaulichen Bedeutungen der Radierungen zu rekonstruieren und in ihrer historischen Folge systematisch zu ordnen, eine Aufgabe, die also sowohl nach Seite der Rekonstruktion und Attribution neu als auch rein historisch war, deren Lösung aber natürlich in jeder Weise kritisierbar war. Man mochte also von hier aus das Buch beurteilen wie man wollte, und es könnte alles falsch darin sein, aber das Urteil eines das Buch fast über Gebühr lobenden Kritikers, es enthielte eigentlich nichts Neues, muß uns in der Forderung bestärken, daß eine systematische Kunstwissenschaft erst einmal die anschaulichen Werte der Kunst in ihrer vollen Bedeutung klarlege, damit auch eine Geschichte solcher anschaulicher Werte auf Verständnis rechnen kann. Verweist man aber diese Systematik anschaulicher Inhalte der Kunst und der Einheitsbegriffe der Stile aus dem organisierten Wissensbetrieb der Kunstgeschichte, so liegt die Gefahr vor, daß man sie, da sie auch bei der Philosophie und Ästhetik – trotz Tietzes Behauptung – keine Heimat hat, leichtsinniger und unverantwortlicher Ästhetisiererei in die Arme treibt. Die Verpflichtung, die der akademische Betrieb, aber auch sonst jede wissenschaftliche Organisation den Vertretern einer Disziplin auferlegt, ist eine Gewähr dafür, daß die Systematik mit vollster Berücksichtigung aller Tatsachen betrieben wird. Und unter uns sei es gesagt, daß bei aller Anerkennung der Kombinationsgabe, die Überlieferung und Kunstwerke historisch verknüpft, die schwierigere Denkaufgabe immer auf Seite der systematischen Betrachtung liegen wird, wozu noch die Schwierigkeit kommt, daß jeder systematische Begriff prinzipiell immer die Kenntnis des gesamten Kunstmaterials voraussetzt, während die historische Betrachtung, wenn die Begriffe feststehen, sich mit einem bestimmten Kreis von Tatsachen begnügen kann. Daher kann jede rein historische Arbeit zu Resultaten kommen, die bis zu gewissem Grade gesichert sind und Bestand haben, während jede systematische Betrachtung die Aufgabe nur einen Schritt der Lösung näher bringt, aber durch jede bessere Lösung verdrängt und ersetzt werden kann und auch mit jedem Zuwachs an Material revidiert werden muß. So werden der logischen Aufgaben systematischer Betrachtung wegen zu ihr mehr als zur historischen sich spezifische Begabungen finden, ähnlich etwa wie in Mathematik, und sie sollten sich weder durch ein Evangelium der Wiener Schule noch durch eine fälschlich sogenannte Methode der Kunstwissenschaft noch durch die in dem Wesen systematischer Betrachtung liegende Problematik, sieb einem Ziel nur nähern, es nie ergreifen zu können, davon abhalten lassen, der Aufgabe eines Systems der bildenden Künste ihre Kräfte und ihr Leben zu widmen, und dieses Ziel als das ihrige im Auge zu behalten, auch wenn auf dem Wege dorthin hier und da auch A

Vgl. Richard Hamann: Rembrandts Radierungen. Berlin 1906 (21913/1914).

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eine rein historische Arbeit abfällt. Was sie damit leisten, sind Bausteine zu einer allgemeinen Kunstwissenschaft, die Geschichte und Systematik gleichmäßig umfaßt und, ohne die Verschiedenheit ihrer Methoden zu verwischen, beide aufeinander verweist, die eine, indem diese mit historischer Rekonstruktion der Systematik neue Tatsachen verschafft, die andere, indem diese für die Tatsachen der Geschichte immer präzisere und klarere Begriffe vermittelt.

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My intention to show that aesthetics and art theory are two entirely different matters, would turn out to be a suspicious undertaking, if I began with a definition of the term aesthetics. For necessarily I should have to define it in such a way that art theory would not be included. And if, after this, I maintained that theory of art was something other than aesthetics, I would seem to play the very childish game of turning around in a circle. Therefore I shall take the word in its most general meaning, and without restrictions. I shall try not to disregard any of those phenomena which we usually call aesthetic: the psychological facts of aesthetic feeling and pleasure, and the conditions under which they occur; the structure of the aesthetic object, and the attitude of contemplation by which it is apprehended; the principles of aesthetic value, and the form of judgment by which this value is stated. Considering all these different meanings I maintain that art theory must emancipate itself from aesthetics; and in order to justify this claim, I shall not only show why this is necessary, but also, how it is possible. I. I begin with an analysis of the aesthetic object. Any object under aesthetic contemplation loses its connection with all other objects. It is isolated; not only from theoretical or practical things, but also from any other esthetic object. It is impossible, therefore, to establish a relation between two aesthetic phenomena without changing the characteristics of both by transforming them into a new aesthetic object with entirely new characteristics. For example, when we first look closely at a picture and then contemplate it in connection with the room in which it hangs, the picture does not remain the same. By contributing to the total effect of the room it reveals new qualities which disappear the moment we return to our former standpoint. This shows that not only by connecting two aesthetic objects do we transform them into a new aesthetic phenomenon, but also that by selecting parts of an aesthetic object we change its characteristics. What remains, is not a part of the former object, but an entirely new phenomenon. When you look at a wide landscape with valleys and mountains and then suddenly concentrate on a small group of houses in it, the group which you see now does not form a part of the landscape you saw before; it is a new aesthetic object with entirely different qualities. From these facts we can draw the conclusion that in connection with the structure of the aesthetic object we have no right to speak of relations. This statement may cause some misunderstanding. Of course, I do not attempt to deny 1 Read at the twenty-fourth annual Meeting of the American Philosophical Association, Eastern Division, at Swarthmore, Pa., Dec. 30, 1924.

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that while we are in the act of contemplation, thousands of physical relations exist; that in order to contemplate, we ourselves must establish psychological relations. What I maintain is merely this: no matter how many relations may be needed to make possible the opening of the aesthetic sphere – in this sphere itself there are none. There is no coordination between two different objects, no subordination of a part to a whole, not even a representation of one thing by another. For the aesthetic phenomenon has no other meaning than its own. It is isolated, it is indivisible, and it is self-sufficient. II. In analyzing the aesthetic value, we find similar characteristics. That it does not relate to practical or theoretical values is self-evident. But even in the aesthetic sphere as such, one value is not connected with the other. I cannot infer an aesthetic value. I can verify it only by looking at the object where it appears. In other words, the act by which I apprehend the object, is identical with the act by which I comprehend its value. This is an extraordinary case. In ethics, for instance, the evaluation of an object is a complicated act, and is preceeded by the knowledge of the object as such. I must know what happened before I can say that the happening is a crime. In science the evaluation does not even relate to the object which is judged, but to the validity of the judgment itself. If I make a true statement about this table, the value of truth belongs to my statement, not to the table. Only in aesthetics is the value given as an immediate quality of the appearing object. The landscape is simply beautiful. Neither do I apprehend the landscape as such before I apprehend its beauty, nor is it my feeling of the landscape which I call beautiful; it is the landscape itself. The idea of a value, appearing as an immediate quality, contains a paradox for philosophical minds. Plato formulated it by saying that the idea of beauty was the only one which appears in the world of perception. He made this statement in his Phaidros, although by doing it he seemed to tear down the barrier which he himself had set up between the world of eternal ideas and the fluctuating world of perception. To formulate the same case in Kant’s terminology we would have to say that the categories of formal possibility and material reality turn out to be identical when applied to aesthetics. If the aesthetic value is now an appearing value, it must necessarily be an individual one. For without having individual qualities it could not appear. In fact, in apprehending the beauty of this landscape, I apprehend a beauty of an individual kind, and vice versa; in apprehending its individual characteristics I apprehend them as being beautiful. It can be proved (although I have not the space to do it here), that only these two kinds of aesthetic judgments are possible: the judgment which states the aesthetic value, and the one which states the aesthetic individuality; and that the one refers implicitly to the other and is not possible without it. III. In speaking of the aesthetic judgment I have reached the point where the problem begins. Whoever tries to express in a statement that which he has discovered through aesthetic contemplation, gives up the aesthetic attitude, transcends the aesthetic sphere. He transforms into a judgment what is really the result of a

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feeling, and in doing so he has to decide which of the two he prefers: To deny the judgment’s origin in feeling and to try to defend it by reasoning, or to confess that it has no rational basis and to disclaim its pretension of being true. The statement which he makes cannot be proved; for the aesthetic value, as we have shown, does not relate to any other thing. It is irrational in the most exact meaning of the word. On the other hand, the fact that a statement is made, provokes the desire for proof. How can this dilemma be solved? We cannot insist upon the validity of our aesthetic judgment unless we transcend the sphere of its origin. The moment we begin to discuss whether we are right or wrong in maintaining that this picture is good or bad, we give up the attitude of contemplation. We begin to analyze the picture. We try to demonstrate how well or badly this kind of spacing fits to this kind of composition. And by discriminating between composition and space, we show (whether we admit it or not) that our object is no longer indivisible. We divide it according to certain categories; and as it is possible to apply these same categories to other objects, it is evident that our object is no longer isolated. Moreover, as it is our ambition to prove how well the different elements which we expose by analysis correspond to each other, we must admit that the structure of the object no longer shows the lack of relations which was characteristic of the aesthetic phenomenon. These few statements will be sufficient to challenge all individuals who have a romantic conception of art. They are sure to object that art is meant to be felt and not to be analyzed; and if they were inclined to be sarcastic they would cite Rembrandt, who said that pictures were made to look at and not to smell. Nevertheless, it is easy to refute these objections. Even if they were right we would in every special case need a criterion to decide whether our feeling is just the one which corresponds to the meaning of the piece of art to which we apply it; and this criterion could not be found in the aesthetic feeling itself. The aesthetic attitude is not restricted to art; it can be applied to many other things. We contemplate not only pictures, but also dresses and flowers, a railroad station, or perhaps even a morgue. The mere fact that we can apply aesthetics to nature, is sufficient to make us doubt its relationship to art. It should make us understand, that if we contemplate a piece of art in the aesthetic attitude, this attitude has a totally different function, than if we simply apply it to nature. If two people who are contemplating the Hudson River receive very different impressions, they may quarrel about this, but they cannot discuss it. It would be merely presumptions if the one maintained that the other misunderstands ›the meaning of the Hudson River.‹ But if the same two people are contemplating a picture by Rembrandt, the question whether or not they do understand its meaning is not only reasonable, but even necessary. The problem is whether their impression of the picture is the one which was intended by the artist. The fact that discussions are possible, shows that mistakes are possible. And these mistakes cannot be due to an aesthetic judgment which expresses only that which it did not find itself; they must be the fault of an aesthetic contemplation which

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was misdirected. But how can the concepts of right and wrong be applied to aesthetics? Did I not say myself that the aesthetic sphere contains no relations, no representation of one thing by another? Indeed! As long as I speak of the aesthetic phenomenon as such, it can be neither wrong nor right. It is simple there. But as soon as I maintain, that in apprehending this phenomenon I comprehend the artist’s piece of work, that the result of my aesthetic contemplation coincides with the results of his artistic intention, I assume an understanding, and this is more than aesthetic. While I am enjoying a picture aesthetically, I can misunderstand its artistic meaning; but this misunderstanding cannot be proved in the aesthetic field. We must transcend into the field of art theory. To put it briefly: Art contemplation finds its expression in a statement. This statement provokes an argument. As soon as this argument is discussed, art contemplation turns into art criticism. Art criticism uses concepts which must have their foundation in art theory. A similar necessity for an independent theory of art can be shown from the standpoint of art history. IV. Alois Riegl A, the great Viennese historian of art, once made the statement that the best art historian was the one who had no taste. In spite of its humorous form this sentence is meant quite seriously. As long as one does not identify ›no taste‹ with ›bad taste,‹ it is not even paradoxical. It merely postulates that the art historian should not let his aesthetic pleasure interfere with his judgment. This is a conflict which every art historian must go through and which he must overcome if he intends to be a conscientious worker: the conflict between contemplation and analysis, between aesthetic feeling and scientific judgment. If art history, the moment it ceases to be merely biographical, should begin to be merely emotional, it would present an unpleasant mixture of poetry and investigation. The statements of historians of art would be worthwhile only in so far as they them-selves were interesting as personalities, not in so far as they are successful as scientists. But fortunately we have an art history which is a science; which looks at pictures not from the point of view of what impressions they make on human souls, but what artistic problems they undertake to solve and how they solve them. The art historian analyzes, for instance, the form of space which is inherent in a certain picture by asking: How does this form of space reconcile the antagonism between the dimensions of plane and depth? – For there exists a natural conflict between the visual qualities of these two dimensions, a conflict and at the same time a necessary relation. I cannot emphasize the qualities of depth without reducing the importance of the plane, and vice versa. But on the other hand, I must relate the qualities of depth to those of plane, in order to make them visible; and I must relate the qualities of plane to those of depth, in order to distinguish them.

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This is what I call an artistic problem in which the artist has to make a decision. It is not the only one. I may ask as well: What is the difference between painting a line and painting a spot? And I can answer: The line presents a certain value of form and limitation, while the spot presents a certain value of tone. Now I cannot draw a line without giving it a certain tone; for otherwise it would not be visible; it would be merely a geometrical concept. On the other hand I cannot make a spot without giving it a certain form. Otherwise it would be nothing. But by using the tone only for making a line visible, I disqualify its intrinsic values, I use it merely as a means. And by using the form in order to shape a spot, I also reduce its independent value. This is the conflict between intensive and extensive qualities. A third example of an artistic problem is the relation of the work as a whole to its individual elements, its details. I cannot speak of these individual elements without regarding their connection to the whole; and there is no sense in speaking of a whole without assuming the presence of individual elements. But the more an artist emphasizes the importance of the details, the more the value of the whole is reduced to a mere form of connection. The whole turns out to be a composition. On the other hand, the more he emphasizes the importance of the whole, the more the details lose their independent qualities. The details turn out to be differentiations. To exemplify the contrast of possible decisions we may refer, on the one hand, to Egyptian art, where all emphasis is given to the single figures, while their connection is reduced to a mere rule of sequence; on the other hand, to the modern art of impressionism, where the picture is conceived as a unity whose details have no independent meanings. A whole system of such artistic problems exists, and it is easy to develop it, if once one knows the method. I shall restrict myself merely to an exposition of this method. V. I ask: What are the ontological conditions that make the facts of artistic work and artistic understanding possible? I do not ask what psychological process is going on in the artist while he is working. Neither do I ask what conditions of environment, what personal experiences influence his inspiration. I do not even ask: What is this inspiration itself of which all people say: ›It is the origin of artistic creation.‹ My question is merely: What does an artist assume in taking for granted that his work has a certain meaning which can be comprehended by other people? What is the basis of this expectation? I could ask just as well: What does a thinker assume in formulating ideas which he expects to be understood and judged? – In the case of the thinker the question is easy to answer; for logic is more advanced than theory of art. The thinker who expresses his ideas by speech, produces sounds. By articulating these sounds according to certain rules of phonetics, he enables us to distinguish words. By forming and connecting these words according to certain rules of grammar, he enables us to grasp their meanings as concepts. By forming these concepts and connecting their meanings according to the rules of logic, he challenges us to adjudge the truth or falsity of his statements. This shows that

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understanding is based on systematic rules of coherence. What are these rules of coherence in art? The artist also presents first of all a certain material of perception, sounds or colors – a conglomeration which is nothing, as long as it is not articulated. As far as visible arts are concerned, the problem of articulation is now identical with the problem which we formulated before; the reconciliation of intensive and extensive values, of form and tone, of line and spot. By determining his standpoint between these principles, the artist creates a rule of articulation. This rule involves necessarily a similar decision in the problem of space. The more an artist decides in favor of the line, the more he must decide in favor of the plane. This is why Egyptian art which is the most linear art we know, is also the most flat one in space. In order to develop its wonderful relations in the plane, it must disregard the third dimension. On the other hand the more an artist decides in favor of the spot, the more he must decide in favor of depth. This is why the impressionistic art excels in those open and airy landscapes where the space seems infinitely deep. Articulation and space being mutually related to each other, involve a certain kind of grouping: An artist who by working in spots creates a depth of space, cannot form details except by differentiation. An artist who by working in lines develops his figures in a plane, cannot form a unity except by composition. The decision in all these problems determines the decision in a new problem: the representation of things. Visible objects appear in those spots or lines, in this form of space and this mode of arrangement. In order to be visible, these objects must have individual qualities; but in order to belong to an object these qualities must be bound by a general scheme. The scheme and the individual qualities are necessarily related; but both are necessarily in conflict with each other. The artist’s decision, whether he lets the schematic or the individual side of his objects prevail, depends upon his decision with regard to the other problems. Again we can show that the linear character of Egyptian art involves a schematic presentation of objects, while the ›luminerism‹ of impressionistic art emphasizes their individual qualities. The problem of presentation is closely connected with the problem of expression. The artist’s way of presenting his figures determines the figure’s way of expressing its life. Life, in order to be expressed, must be formulated. There is no expression of life without a formula. But the formula, in order to be expressive, must be animated. There is no expressive formula without life. However, the more importance we give to life as such, the more we must reduce the value of the formula; and the more we emphasize the importance of the formula, the more we must disregard the value of life. Here again we have a relation and at the same time an antithesis. Egyptian art decided to restrain the life of its figures to such an extent that their action was reduced to a mere pose. Impressionistic art decided to reduce formulas to such an extent, that the feeling expressed in its landscapes was dissolved into a mere mood. Between these two extremes lie thousands of other possibilities. Thousands of decisions are possible. But every one has its consequences according to the system of artistic problems.

Theory of Art versus Aesthetics ()

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It is not possible, within the confines of an article of this length, to expound the logical foundations of this system, or to demonstrate its practical implications, – which would show that it can be applied to all the different phenomena in the history of art. I must even renounce the attempt to prove that the method which I applied just now to the visible arts, can in the same way be applied to music and poetry. The only thing I wish to say is this: These outlines of art theory show that the rule of art does not imply a norm but only a condition – that the artistic imperative has not the categorical but the hypothetical form. Art theory does not claim: the artist must do this and that; it merely states: If the artist decides one problem in a certain way, then he must necessarily decide the other problems in a correspondent manner. It merely demonstrates the conclusions of the artist’s free decision, and it is able to demonstrate them because it analyzes the problems which make the decision necessary. Art history and art criticism are both based on art theory. The art historian is chiefly interested in discovering the artistic decision as such; for he wishes to interpret it as an historical event. The art critic is chiefly interested in examining whether or not the implications of this decision are carried out; for he wishes to judge the consistency and validity of the work. Two other fields are more indirectly affected by art theory. The one is pure philosophy. Aesthetic contemplation and scientific analysis, although antagonistic in the highest degree, nevertheless attempt to approach the same object – the object of art. The question how this is possible, presents a new problem to the general study of relations. The other field is pedagogy. Here the conclusion is clear. It may be the goal of art education to develop in the student a feeling for art; but it cannot be its method to begin by discussing this feeling. To start the teaching of art appreciation (as is so often done) by asking the pupil which picture he likes best, is the same as to ask a student whether he likes a language when he does not yet understand it. The question of liking should be eliminated altogether. We must first teach grammar. We must show why in this picture this special kind of line or spot involves this special kind of space and grouping, and how all this together corresponds to the representation of things and the expression of life. With these means, and with no others, can we develop a feeling for art which is based on solid knowledge and reasonable understanding, not on mere talk and uncontrolled emotions. Edgar Wind. New York City.

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A. Der Begriff des »künstlerischen Problems« und seine Anwendung in der Kunstgeschichte. I.

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Es gibt kaum einen kunstwissenschaftlichen Terminus, der häufiger mißbraucht würde als der des »künstlerischen Problems«, – keinen, der mit stärkeren Unklarheiten behaftet wäre. Man hat sich gewöhnt, derjenigen Art der Kunstgeschichtsforschung, für die Wölfflin den Ausdruck »Kunstgeschichte ohne Namen« geprägt hat A, den positiveren und zugleich anspruchsvolleren Titel » Problemgeschichte« zu leihen. Dabei hat ein großer Teil der von Wölfflin gestellten Forderungen mit einer Untersuchung von »Problemen« (im eigentlichen Sinne des Wortes) noch gar nichts zu tun. Wer die Wandlungen »der Licht- und Schattenbehandlung, der Perspektive und Raumdarstellung« B verfolgt, wer den Wechsel »in der Figurenzeichnung, Gewandzeichnung, Baumzeichnung« C aufweist, der befaßt sich noch lediglich mit den Gestalteigenschaften des Kunstwerks, mit den Merkmalen seiner äußeren Erscheinung. Ähnlich wie der Botaniker, verfährt er mor pholog isch beschreibend und vergleichend; wenn er auch die Objekte nicht, wie dieser, klassenweise nach Gattungen und Arten, sondern reihenweise im Sinne einer zeitlichen Abfolge ordnet. So notwendig und unentbehrlich aber diese Art der Betrachtung für den Fortgang der kunstwissenschaftlichen Urteilsbildung ist – (jede Untersuchung von Problemen hat von ihr auszugehen und muß sich letzten Endes auf sie berufen können) –, mit den Problemen selbst kommt sie noch gar nicht in unmittelbare Berührung. Denn die Erscheinungen als solche sind noch keine »Probleme«; diese beginnen vielmehr erst dort, wo an die Stelle der bloßen »Schilderung« die »Deutung« tritt. Allerdings hat jene unklare Verwendung des Wortes »Problem« wenigstens den Vorzug, – ungefährlich zu sein: Sie wurzelt überhaupt nicht in einem feDer Aufsatz ist einer größeren Arbeit (»Ästhetischer und kunstwissenschaftlicher Gegenstand«) entnommen, die im Juli 1922 abgeschlossen wurde, aber aus äußeren Gründen noch nicht erscheinen kann. 1

Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwickelung in der neueren Kunst. München 1915, S. V. B Ders.: Die Klassische Kunst. Eine Einführung in die italienische Renaissance. 4München 1908 (11899), S. X (Vorwort zur 2. Auflage). C Ders.: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, S. V. A

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sten Begriff von »künstlerischen Problemen«, sondern nur in einem Mangel an terminologischer Schärfe. Weit bedenklicher ist der Fall, wenn hinter der bloß sprachlichen Unklarheit eine sachliche Verwechslung steht: die Verwechslung von » künstler ischem Problem« und » vorkünstler ischer Aufgabe«. Wenn die »künstlerischen Probleme« jenseits der Erscheinungen selbst zu suchen sind, so gilt für die »vorkünstlerischen Aufgaben« das Gleiche. Nur liegen beide in ganz verschiedener Richtung: Die »Aufgaben« gewinnt man, indem inan den vorkünstlerischen Tatbestand rekonstr uier t, – einen Tatbestand, der sich aus materiellen und ideellen Momenten zusammensetzt: Eine Wandfläche von bestimmter Größe in einem bestimmten Raum ist mit Farben von bestimmter Zusammensetzung auszumalen! Gegenstand der Darstellung soll eine Schlacht sein! – So gefaßt, ist sowohl das materielle wie das ideelle Moment noch gänzlich gestaltlos und unanschaulich. Gerade darum sind aber beide geeignet, als Vergleichspunkte für verschiedene Bildgestaltungen zu dienen. In der Stellungnahme zu den gemeinsamen Vorbedingungen äußert sich die anschauliche Besonderheit. – Wie aber wird der vorkünstlerische Tatbestand rekonstruiert? Falls er nicht aus den Urkunden über einen Auftrag oder einen Wettbewerb hervorgeht, muß er aus den Kunstwerken selbst erschlossen werden. Dies geschieht durch Abstraktion: Man sieht von der besonderen sinnlichen Erscheinung des fertigen Kunstwerks ab und bestimmt nur die Technik als solche (Fresko), die Wahl des Motivs (Schlachtdarstellung) und dergleichen allgemeine Momente mehr. Auf diese Abstraktionen lassen sich dann die verschiedensten konkreten Gestaltungen beziehen. Es wäre ein Irrtum, nun anzunehmen, daß auch die » künstler isches Problem« auf dem Wege der Abstraktion bestimmt würden 2. In Wahrheit sind sie nicht durch »Rekonstruktion« zu gewinnen; denn sie stellen überhaupt keine empirischen Tatbestände dar. Im Gegensatz zu den »Aufgaben«, welche als äußere Vergleichspunkte dienen, fällt ihnen die Funktion zu, eine Deutung zu ermöglichen, und insofern müssen sie einen immanent-künstler ischen Ursprung haben. Zugleich muß aber ihre Struktur von der der vorkünstlerischen Aufgaben wesensverschieden sein: Während die »Aufgaben«, eben weil sie als Vergleichspunkte dienen, notwendig einen eindeutigen, festen (wenn auch oft schemenhaften) Charakter tragen, weisen die »Probleme« eine innere Spaltung auf: Um etwas als » künstler ische Leistung« zu begreifen, muß ich es als Lösung eines vorher Ungelösten ansehen, d. h.: ich muß einen Konflikt setzen, der sich in der künstlerischen Erscheinung als »versöhnt« darstellt. Da nun dieser Konflikt ein immanent-künstlerischer sein soll, alles Künstlerische aber der konkret-anschaulichen Region angehört, so muß sich die Antithetik auf eben diese anschauliche Sphäre beziehen. Die Prinzipien, die miteinander im Widerstreit liegen, dürfen also keine logisch-begrifflichen sein. Umgekehrt kann aber der Wider streit selbst 2 Diese Verwechslung begegnet selbst in [Hans] Tietzes »[Die] Methode der Kunstgeschichte« [Leipzig 1913], z. B. S. 17 u[nd] f., S. 393.

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nicht anders als log isch verstanden werden; wie auch seine Aufdeckung rein aus begrifflichen Motiven erfolgt. Im Denken muß also das Problem gesetzt sein, dessen Lösung nur im Anschaulichen zu finden ist. Hiermit ist die Eigentümlichkeit der »künstlerischen Probleme« gekennzeichnet: sie schließen eine vom Denken gesetzte Antithetik in sich, die dennoch keine Antithetik für das Denken ist. – Zum Begriff »des« Problems als solchem gehört die Antithetik als notwendiges Moment; zugleich gibt es »Probleme« nur für das denkende Bewußtsein. Ein »künstlerisches Problem« besteht also – als Problem – immer nur für das kunstwissenschaftliche Denken: dennoch ist es aber ein künstler isches Problem und kein Denkproblem. – Der Unterschied zwischen beiden erhellt aus folgendem Beispiel: Jedes mathematische Problem wird vom mathematischen Denken für das mathematische Denken gestellt, und zwar derart, daß das »Problem« die Anfangsthese ist, an welche das weitere Denken anknüpft. Ein »künstlerisches Problem« dagegen wird vom kunstwissenschaftlichen Denken für das künstler ische Schaffen angesetzt, – aber nicht derart, daß das Problem der Lösung vorhergeht, sondern so, daß es zur Deutung der Lösung erst gesucht wird. Es liegt also der paradoxe Fall vor, daß die Lösung gegeben, das Problem aufgegeben ist, – aufgegeben, damit die Lösung als »Lösung« begriffen werde. Wenn man aber von Lösungen auf Probleme » zurückgeht«, darf man da nicht von einer »Rekonstruktion« sprechen? – Der Ausdruck »Rekonstruktion« (im oben verwendeten Sinne) bezeichnet die Wiedergewinnung eines empirischen Tatbestandes. »Probleme« sind jedoch keine »Realitäten«, sondern Idealgebilde. Diejenige Denkrichtung nun, die von fertigen Gegebenheiten auf Probleme »zurückgeht«, heißt Reflexion. In der Reflexion – so dürfen wir sagen – werden die künstlerischen Probleme erfaßt. Und will man das Verfahren in seiner Methodik näher kennzeichnen, so wird man es » spekulativ« nennen müssen, – womit gemeint ist, daß es, zur Deutung der Erscheinungen, hinter diese zurückzugehen sucht und nicht von den Erscheinungen » abstrahier t«. Wir stellen also der Rekonstr uktion die Reflexion, der Abstraktion die Spekulation gegenüber: Wenn die »abstraktive Rekonstruktion« die Methode zur Gewinnung der » vorkünstler ischen Aufgaben« war, so führt die »spekulative Reflexion« zur Gewinnung der » künstler ischen Probleme«. Welches sind nun aber die Pr inzipien dieser »spekulativen Reflexion«? Und wie hat man sich die künstlerischen Probleme im einzelnen vorzustellen?

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II. Wir knüpfen an die Arbeiten Riegls an. Einige Beispiele aus der »Spätrömischen Kunstindustrie« A mögen zeigen, welch scharfe Ausprägung die Antithetik der künstlerischen Probleme bei ihm findet: Riegls Bemühen, für die antike Architektur ein Gegensatzpaar aufzustellen, aus dem heraus die verschiedenen baukünstlerischen Leistungen von den Tempeln der Klassik bis zu den spätrömischen Kultbauten sich deuten lassen, führt ihn zu folgendem Ergebnis: Dem Streben der Antike, stoffliche Individuen in geschlossener Einheit zu bilden, mußte als höchstes Ideal die Form des Zentralbaus entsprechen. Dennoch war das »eigentlich treibende Element« der Langbau, – ein Typus, der, »für die Bewegung von Menschen im Innern geschaffen«, zum »Verlassen der Ebene«, zur »Berücksichtigung des Tiefenraumes« auffordert.B Die Geschlossenheit des Zentralbaus und die Bewegung des Langbaus, die »objektivistischen« Werte, die im ersteren, die »subjektivistischen« Werte, die im letzteren verkörpert werden, – das ist also die Spannung, die nach Riegl dem antiken Bauschaffen zugrunde liegt. »Die antike Kunst war fortwährend bemüht, diesen latenten Gegensatz zu überbrücken oder doch zu verschleiern, aber gerade in diesen Bemühungen lag ein Problem und damit ein zwingender Anlaß zu unablässiger Entwicklung.« C Der Ausgleich in der klassischen Kunst erfolgte durch »Auflösung der taktischen Außenwand in Portiken«; er vollzog sich, wie Riegl ausdrücklich betont, nicht an einem Zentralbau, sondern an einem Langbau: dem Tempel. – In der mittleren Kaiserzeit beruhte die Lösung auf der »Individualisierung des Langraumes« durch »Formung gleichmäßig begrenzter kubischer Raummassen«;D was sich an den geschlossenen Saalbauten des 3. Jahrhunderts, insbesondere an dem Mittelschiff der Caracallathermen, aufweisen läßt: »Die Lösung der Spannung ist durch eine Zerlegung des Oblongums in drei Zentralräume erreicht. Da dieselben untereinander völlig gleich sind, werden sie durch die Symmetrie der Reihung – wie die Portiken am griechischen Säulenhaus – zur Einheit vereinigt.« E Auch in den ältesten griechisch-christlichen Zentralbauten findet Riegl das Bestreben, den Zentralbau mit dem Langbau zu verquicken: Der Altar steht niemals in der Mitte, sondern dem Eingang gegenüber, und dadurch erfolgt eine Richtunggebung, die mit der zentralen Ruhe rivalisiert. »In der Notwendigkeit der Versöhnung dieses latenten Gegensatzes lag ein Problem, und solange man dasselbe verfolgte, war die griechische Kirchenarchitektur fruchtbar und entwicklungsfähig.« F – Die eigentlich originellen Lösungen erfolgen hier (wiederum nach Riegl) im Anschluß Alois Riegl: Die spätrömische Kunst-Industrie nach den Funden in Österreich-Ungarn im Zusammenhange mit der Gesamtentwicklung der Bildenden Künste bei den Mittelmeervölkern. Wien 1901. B Ebd., S. 28. C Ebd. D Ebd. E Ebd., S. 30. F Ebd., S. 35. A

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an die mittlere Kaiserzeit: durch Anordnung halbverschleierter Seitenräume, durch Annäherung an den in drei Quadrate zerlegten Saal (Hagia Sophia!). Wie bei Architekturanalysen so bewährt sich die Antithetik der »künstlerischen Probleme« auch gegenüber Werken der dar stellenden Kunst. Riegl führt z. B. die Komposition ägyptischer Reliefs auf das Gesetz der »symmetrischen Reihung« zurück: die Figuren sind mit der Ebene verbunden und ausgeglichen und gegeneinander isoliert; »aber die geringste Notwendigkeit, zwei Figuren in einen engeren augenfälligen Bezug zueinander zu bringen, mußte zu einer Durchbrechung des Prinzips der Reihung führen. Hier lag ein Gegensatz und daher ein Problem . . . Es ist ferner nicht minder klar, daß die Raumrelationen – Verkürzungen, Deckungen, Schatten – unmöglich vollständig unterdrückt werden können, sobald auch nur die Ebenenrelationen zugelassen sind . . . Die Unterdrückung der Räumlichkeit in der ägyptischen Kunst bedeutete somit einen zweiten latenten Gegensatz, in welchem abermals ein Problem zur Ver söhnung und daher der Keim zu einer Weiterbildung enthalten war.« A III.

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Offensichtlich ist es das ständige Bestreben Riegls, »latente Gegensätze«, »Probleme zur Versöhnung« aufzuzeigen. Aber sind ihm die Probleme lediglich Mittel der systematischen Deutung? Sieht er in ihnen nicht vielmehr histor ische Faktoren, – Bestimmungen, die nicht sowohl der Deutung der Erscheinungen als solcher, als vielmehr der Deutung ihrer Entwicklung dienen? Fast wie ein Beleg hierfür klingen die Sätze, mit denen er die Betrachtungen über das ägyptische Relief abschließt: »Die Aufgabe der Versöhnung der beiden genannten latenten Gegensätze haben nächst den Semiten namentlich die Griechen übernommen, freilich nicht ohne neue Gegensätze zu provozieren, deren Ausgleichung sie den romanisch-germanischen Völkern als das Problem der neueren Kunst hinterlassen haben.« B In der Abfolge der »Probleme« entfaltet sich hier das Bild einer immanenten Kunstentwicklung, – in viel durchdachterer und reinerer Form als Wölfflin es später entworfen hat. Denn hier wird die Entwicklung nicht, wie bei Wölfflin, aus einer psycholog ischen Gesetzmäßigkeit heraus gedeutet, die als solche notwendig außerkünstlerisch ist – (alles Psychologische liegt ja diesseits der besonderen Gegenstandsgebiete) – ; es ist vielmehr die Log ik in der Abfolge der »künstler ischen Probleme« selbst, welche der Entwicklung ihren Sinn gibt: Jede neue »Lösung« provoziert notwendig neue »Probleme«, und damit wird gerade aus der Log ik heraus die individuelle For m des Ablaufs begriffen; während für die psychologische Deutung der Prozeß erst dann etwas »Einleuchtendes« erhält, wenn er sich durch eine generelle For mel decken läßt. A B

Ebd., S. 53. Ebd.

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Man hat gegen Riegls Betrachtungsweise mancherlei Einwände erhoben, – teils tatsächlicher Art, indem man auf Phänomene hinwies, die sich der von ihm verfochtenen Logik der Entwicklung nicht fügten, teils pr inzipieller Art, indem man sich überhaupt gegen eine »Logik« der Entwicklung, die das geschichtliche Leben vergewaltige, sträubte. Diese pr inzipielle Ablehnung hat jedoch nur dann Sinn, wenn man die Entwicklung als realpsycholog ischen Prozeß versteht, – und dazu fehlt die Berechtigung. Denn da die »Probleme« ihrem Wesen nach Idealgebilde sind, so darf ihre Abfolge nicht einem wirklichen Geschehen gleichgeachtet werden. Wenn man von der » Log ik« ihrer Abfolge spricht, so kann damit nicht die Gesetzmäßigkeit eines realen Verlaufs, sondern nur die ideale Folgerichtigkeit gemeint sein, mit der jede Lösung eines Problems die Bildung eines neuen Problems hervorruft. Mag Riegls eigene Ausdrucksweise, die in den psychologischen Anschauungen seiner Zeit befangen ist, diesen Sachverhalt auch zuweilen verschleiern, – daß ihm die künstlerischen Probleme nicht als real wirkende Kräfte galten, zeigt er deutlich, indem er sie dem »Kunstwollen« nicht zuordnet, sondern gegenüber stellt. In dem »Kunstwollen« erblickt er in der Tat eine reale Kraft; aber ausdrücklich betont er ihre autonome Wirksamkeit. Es gehört zu ihrem Wesen, durch keinerlei äußere Bedingungen bestimmt zu sein, – also auch nicht durch künstlerische Probleme. Die Probleme – so dürfen wir daraus schließen – wirken nicht auf das Kunstwollen ein, sie bilden nur ideale Substruktionen, die man errichtet, um von ihnen aus das jeweilige Kunstwollen zu erfassen. Riegl konstruiert die »Problemlage«, um das Kunstwollen an ihr zu messen, nicht um es aus ihr abzuleiten. Problemlage und Kunstwollen gehören somit gänzlich verschiedenen Sphären an: Die Region der Probleme ist die der theoretischen Bedeutsamkeit; die des Kunstwollens ist die Sphäre psychologischer Wirksamkeit. Da nun aber diese Wirksamkeit als indeter minier t anzusehen ist, kann ihr gegenüber von einer Log ik der Entwicklung nicht gesprochen werden. Hier eröffnet sich eine eigentümliche Doppelseitigkeit in Riegls Auffassung von der Kunstentwicklung: Bleibt er bei den »künstlerischen Problemen« und deren »Lösungen« stehen, d. h. begreift er die künstlerischen Erscheinungen als ideale Inhalte, die sich aus einer besonderen Antithetik heraus deuten lassen, so erhält er, indem er sie in ihrer Abfolge betrachtet, das Bild einer immanent-logischen Entwicklung. Fragt er hingegen nach der Kraft, die von Fall zu Fall die Lösungen bewirkt, d. h. versteht er die Entwicklung im Sinne eines dynamisch-psychologischen Prozesses, so kann nicht mehr von einem » Logos« sondern nur noch von einem » Telos« die Rede sein. Das Kunstwollen hat seine Zielsetzungen, seine Strebungen; – und während in der idealgegenständlichen Sphäre die Entwicklung darauf beruhte, daß jede neue Lösung neue Probleme » provozier te«, kann in der dynamisch-psychologischen Sphäre nur gefragt werden, in welche Richtung das jeweilige Kunstwollen » tendiere« 3. 3 So subintelligiert Riegl. z. B. der Entwicklung Rembrandts ihr besonderes Telos: Rembrandt habe die »Koordination nach innen und außen« (das allgemeine Ziel des holländischen

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Es war der Fehler der Kritiker Riegls, daß sie diese eigentümliche Spaltung nicht bemerkten. Indem sie sich gegen eine Logik der Entwicklung grundsätzlich verwehrten, übersahen sie den Dualismus von »idealen Inhalten« und »wirkenden Kräften« und bezogen den Gedanken der »Logik« voreilig auf die letzteren. Diejenigen Forscher nun, die als Nachfolger Riegls gelten dürfen, haben den Dualismus aufgehoben, – teils bewußt, teils unbewußt. Und je nachdem, zugunsten welcher der beiden Seiten sie die Entscheidung trafen, haben sie die Rieglsche Lehre bald logisch geklärt und im idealistischen Sinne weitergebildet, bald haben sie ihren realistischen Einschlag für das Wesentliche gehalten und sie ganz ins Psychologische gewandt. Die logische Weiterbildung erfolgte, indem man mit vollem Bewußtsein das Kunstwollen« aus der Sphäre psychologischer »Wirksamkeit« in die Region theoretischer »Bedeutung« übertrug. »Kunstwollen«, – das sollte nicht die reale Kraft sein, welche die Lösung hervorbringt, sondern der ideale » Sinn« der Lösung selbst (siehe Panofsky, Der Begriff des Kunstwollens 4). Damit mußten sich aber das »Kunstwollen; und die künstlerischen Probleme in der gleichen idealen Sphäre zusammenfinden. Für die Entdeckung beider mußten die gleichen Bedingungen maßgebend sein. Und in der Tat finden wir bei Panofsky zum erstenmal jene Methode gefordert und entwickelt, die wir oben als »spekulative Reflexion« bezeichnet haben. Was aber die psychologische Auffassung der Rieglschen Lehre betrifft, so beruht sie auf einer unbewußten Verschleierung des Dualismus. Die künstlerischen Probleme, die ihrem Wesen nach den Sinn idealer Setzungen haben, werden psychologistisch als wirkende Faktoren gedeutet. Man sucht plötzlich abzuschätzen, »einen wie bedeutenden Raum im künstlerischen Schaffen sie einnehmen«, man fragt, »wie weit sie sich objektiv feststellen lassen«, – lauter Überlegungen, die nur dort Sinn haben, wo man die Probleme als psychologische Realitäten ansieht, auf deren Rekonstruktion es ankommt. »Rekonstruktion«, – das war aber die Methode, die wir der »Reflexion« ausdrücklich gegenübergestellt hatten. Die Rekonstruktion, so hatten wir gesagt, beziehe sich auf einen realen Tatbestand; dieser müsse, falls er nicht aus Urkunden hervorgehe, durch Abstraktion ermittelt werden. Es ist daher nur folgerichtig, wenn diejenigen Forscher, in deren Augen die Probleme Realitäten sind, gerade von der Abstraktion viel halten. So lesen wir z. B. bei Tietze: »Es gibt kein systematisch bereitetes Netz von Fragen, . . . sondern es gibt nur konkrete Probleme, die zum Teil gerichtet, d. h. bewußt vorhanden (!), zum

Kunstwollens) mit den romanischen Hilfsmitteln der Subordination und inneren Einheit erstrebt. »In der Tat war aber« die äußere Einheit mit dem betrachtenden Subjekt »stets das Endpostulat (!) geblieben, um dessen vollkommenster Entwicklung allein willen er auf die Suche nach der inneren Einheit der Antike und der Romanen ausgegangen war« ([Alois Riegl:] Das holländ[ische] Gruppenporträt [in: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen des allerhöchsten Kaiserhauses. 23/1 (1902), S. 71–278, hier] S. 222). 4 [Erwin Panofsky: »Der Begriff des Kunstwollens«. In:] Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft [14] 1920 [S. 321–339].

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Teil die Abstrahierung (!) eines tatsächlich bestehenden Zusammenhanges sind« 5. Daß diese Methode nur zu vorkünstlerischen Aufgaben, niemals zu künstlerischen Problemen führen kann, haben wir oben genügend erörtert. Ist nun einmal die Idealität der künstlerischen Probleme anerkannt, gesteht man zu, daß sie Gegenstände der spekulativen Reflexion sind, so braucht man sich über die spezifisch historische Bedeutung, die sie in Riegls Ausführungen gewinnen, keine weiteren Gedanken zu machen. Man kann von der zeitlichen Abfolge der Probleme abstrahieren, kann unbeachtet lassen, durch welche vorangegangene Lösung das jeweilige Problem »provoziert« werde, – es bleibt doch immer die Tatsache bestehen, daß jeder künstlerischen Erscheinung überhaupt ein »Problem« zugrunde liegt und daß dieses Problem in einem »latenten Gegensatz« ruht. Nach Ausschaltung des historischen Gesichtspunkts behalten wir also noch immer das systematische Grundfaktum übrig, und allein auf dessen formalen Bestand kommt es uns an. Indessen, gegen diese einfache Ausschaltung alles Historischen erhebt sich ein sehr berechtigter Einwand. Haftet nicht den »künstlerischen Problemen«, wie sie sich bei Riegl finden, – auch wenn man ihre psychologische Fassung bekämpft und von ihrer historischen Gebundenheit absieht, – noch eine bedenkliche Eigentümlichkeit an? Wenn unter dem geschichtlichen Gesichtspunkt jede neue Lösung neue Probleme »provoziert«, so heißt das, systematisch betrachtet: Es gibt eine Unzahl verschiedener Probleme, zu denen sich immer neue gesellen können, – genau so, wie die künstlerischen Erscheinungen selbst in einer unübersehbaren Reihe sich darbieten. Haben diese Probleme aber dann überhaupt eine Wurzel im Apriori? Gibt es Prinzipien, die ihnen allen in gleicher Weise zugrunde liegen? – Wenn wir den oben zitierten Satz Tietzes wegen seines psychologischen Realismus angriffen, – vielleicht bestehen seine ersten Worte dennoch zu Recht: »Es gibt kein systematisch bereitetes Netz von Fragen, . . . es gibt nur konkrete Probleme . . .« A? B. Die systematische Wurzel der künstlerischen Probleme. Wenn die »Probleme« nur eine lose Summe konkreter Einzeldaten wären, nicht anders als das künstlerische Material selbst, so müßten sie sich – genau wie dieses – empirisch auffinden lassen. An der anschaulichen Erscheinung eines Kunstwerks kann man jedoch immer nur einfache morphologische Tatbestände, niemals irgend Hier ist die doppelte Methode aller Rekonstruktion deutlich ausgesprochen: Entweder Urkunde oder Abstraktion! Denn nur aus Urkunden kann man entnehmen, daß ein Problem »bewußt vorhanden« gewesen sei. – Zur Kritik solcher Urkundenbelege siehe: Panofsky, »Der Begriff des Kunstwollens« [S. 326], wo darauf hingewiesen wird, daß alle theoretischen Äußerungen von Künstlern als »Objekte«, nicht als »Mittel der sinngeschichtlichen Interpretation« zu betrachten sind. 5

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S.o. S. 362.

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etwas »Problematisches« entdecken. Zwar, wenn man etwa die »Hagia Sophia« mit reinen Zentralbauten und reinen Basiliken vergleicht, wird man ihre morphologische Erscheinung als »Durchdringungsform« bezeichnen. Aber damit ist noch keine Antithese gesetzt; von einem Rivalisieren zweier gegensätzlicher Prinzipien ist noch keine Rede. Die »Durchdringungsform« ist ein unzweideutiger morphologischer Tatbestand wie jeder andere. Behaupte ich, daß ihr ein eigentümlicher »Gegensatz« innewohne, so muß ich diesen erst suchen; er ist »latent«. Ich muß mir die anschaulichen Werte, die das zentrale Prinzip in sich begreift, und diejenigen, die im longitudinalen Prinzip beschlossen liegen, in ihrer grundsätzlichen Polarität vergegenwärtigen. Damit gehe ich aber notwendig über das Konkrete des Einzelfalls hinaus. Denn in dessen Erscheinung ist keiner dieser beiden Pole als solcher anzutreffen. Die Polarität ist eine bloß gedachte, ideelle, – ein Gegenstand »spekulativer Reflexion«. Sie ruht in einem Gegensatz zwischen zwei anschaulichen Ordnungen. I. Es ist bezeichnend, daß gerade Riegl, bei dem wir eine Vielheit verschiedener, einander ablösender Einzelprobleme fanden, sich darum bemüht hat, grundsätzliche Antithesen zwischen anschaulichen Ordnungen herauszuarbeiten. Ich denke hier vor allem an seine Gegenüberstellung der »optischen« und »haptischen« Werte. Daß es sich hier um Prinzipien anschaulicher Ordnung, also um gegenständliche Bestimmungen handle, mag bei der psychologischen Färbung der Ausdrücke »optisch« und »haptisch« zweifelhaft erscheinen. Aber schon die Tatsache, daß diese Begriffe ihren Sinn behalten haben, obwohl die psychologische Ableitung, die Riegl für sie geliefert hat, kaum zu halten ist, sollte zu denken geben 6. Psychologisch betrachtet, geht das Bewußtsein derjenigen Qualitäten, die Riegl »haptisch« nennt, gar nicht im besonderen auf das Tastempfinden zurück, sondern auf motor ische Elemente, die sich mit taktilen und optischen Sinneswahrnehmungen in gleicher Weise verbinden können. Ich taste eine Form mit den Blicken ab – das heißt: Motorische Vorgänge verbinden sich mit optischen Empfindungen. Ebenso vereinigen sie sich mit taktilen Sinneswahrnehmungen, wenn ich eine Form mit den Finger n abtaste. Schaltet man nun aus dem optischen Erleben die motorischen Elemente aus, so bleibt der bloße Farb- oder Lichtreiz übrig. Beim taktilen Erleben bleibt im entsprechenden Fall ein bloßer Tastreiz zurück. Wollte man also den eigentümlichen Gegensatz, den Riegl durch die Antithese »haptisch-optisch« kennzeichnet, psychologisch-genetisch entwickeln, so müßte man sagen, daß das Bewußtsein der einen Qualitäten im wesentlichen auf Bewegungsempfindungen, das der anderen auf reine«, d. h. von motorischen Elementen 6 Für die nicht-psychologische Bedeutung der Rieglschen Begriffe vgl. Panofsky a. a. O. [= »Der Begriff des Kunstwollens« (siehe Fn. 4).]

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befreite, Sinneswahrnehmungen zurückgehe. – Mit solch einer Unterscheidung wäre aber für die Deutung der morphologischen Tatbestände nichts gewonnen. Man könnte immer nur der einzelnen anschaulichen Qualität ihren psychologischen »Ort« zuweisen und so die morphologischen Unterschiede der Objekte in Verbindung bringen mit Unterschieden, die im menschlichen Auffassungs apparat lokalisiert wären. Man würde dadurch eine Parallelität zwischen zwei Reihen von Erscheinungen erhalten, ohne doch sagen zu können, daß eine von ihnen hinter der anderen liege. Entsprechend den morphologischen »Durchdringungsformen« würden sich auf der psychologischen Seite Vorgänge von komplexem Charakter ergeben: bestimmte Verbindungen von Bewegungsempfindungen und »reinen« Sinneswahrnehmungen, wobei die einen in bestimmtem Maße dominieren, die anderen in bestimmtem Maße zurücktreten würden. Ebensowenig aber wie in der morphologischen Sphäre würde hier, in der psychologischen, diese Verquickung irgend etwas »Problematisches« bedeuten. Und damit ist das Entscheidende gesagt: Die Antithese des »Optischen« und »Haptischen« ist von Riegl im »problematischen« Sinne gemeint, sie schließt einen » Gegensatz«, einen » Wider streit« in sich, und dar um kann sie nicht psycholog ischer Natur sein! Von einer Antithetik zwischen Bewegungsempfindungen und reinen Sinneswahrnehmungen zu reden, wäre widersinnig, – widersinnig schon deshalb, weil Antithetik und Widerstreit Ausdrücke für ideale Unvereinbarkeit sind. Psychologische Vorgänge stehen aber in einem realen Verhältnis zueinander. Sie können sich gegenseitig wohl behinder n oder gar verdrängen, niemals aber einander wider streiten 7. Der wahre Ursprung der Unterscheidung zwischen Optischem und Haptischem tritt zutage, wenn man auf den Grundbegriff aller Kunsttheorie reflektiert, welcher die Region des Künstlerischen dem Denken allererst eröffnet: den Begriff des »Konkret-Anschaulichen«. Was das » Konkret-Anschauliche« vom » Rein-Anschaulichen« unterscheidet, ist die sinnliche Fülle. Bedingung alles Anschaulichen aber ist die Gestalt, die Form. »Fülle« und »Form« müssen sich also verbinden, um die Region des Künstlerischen überhaupt zu konstituieren 8. Die Art dieser Verbindung aber bleibt immer ein Problem, – ein Problem, das Wo man in psychologischen Zusammenhängen dennoch von »Widerstreit« spricht, liegt stets schon eine Beziehung auf das Ideal-Gegenständliche vor. So z. B. wenn ich einen Körper durch Gesichts- und Tastsinn wahrnehme und beide Sinne mir von seiner Gestalt »widersprechende« Vorstellungen vermitteln. Die hier sich äußernde »Unvereinbarkeit« ist gewiß nicht psychologischer Natur. Denn gerade indem ich zwischen beiden Vorstellungen schwanke, zeige ich, daß sie innerhalb eines psychologischen Bewußtseins sehr wohl zusammentreffen können. Das Gleiche gilt auch für das Schwanken vor einer Willensentscheidung. Die Handlungen oder Forderungen, zwischen denen die Entscheidung zu wählen hat, sind gegenständlich unvereinbar. Die ihnen entsprechenden Vorstellungen aber finden sich psychologisch unter dem Modus des Schwankens zusammen. 8 Vgl. hierzu und zum Folgenden den zum Teil bereits auf meine Ausführungen bezugnehmenden Aufsatz Panofskys »Über das Verhältnis der Kunsttheorie zur Kunstgeschichte« im laufenden Jahrgang dieser Zeitschrift [= Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 18 (1925), S. 129–161]. 7

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sich abwandelt, je nach den Materialsbedingungen der einzelnen Künste. Um es speziell für die bildende Kunst zu kennzeichnen, bedarf es zweier anschaulicher Ordnungen, die, aufeinander bezogen und zugleich einander entgegengesetzt, die sinnlich-elementaren Voraussetzungen dieser Kunst zum Ausdruck bringen. Hier scheint mir nun die Bedeutung der Rieglschen Antithese zu liegen. Man müßte allerdings, um der psychologischen Mißdeutung zu entgehen, nach einer mehr gegenständlichen Formulierung suchen. Aber – ganz abgesehen davon, daß es mißlich (und meist auch unnütz) ist, gegen eine altbewährte Formel anzukämpfen, zumal wenn man ihren Sinn aufrecht erhält – es dürfte schwer sein, eine nur annähernd so einprägsame und handliche Antithese zu finden; auch wird man immer wieder auf sachliche Schwierigkeiten stoßen. Man könnte etwa für »haptische Werte« »Körperwerte«, für »optische Werte« »Lichtwerte« einsetzen; aber das Körperliche ist nur ein Spezialfall des Haptischen, und kein ganz reiner. Wählt man anderseits den umfassenderen und treffenderen Ausdruck »Formenwert«, so erhält man einen allzu blassen und abgebrauchten, vielleicht sogar mißverständlichen Terminus. Wir halten daher an Riegls Ausdrucksweise fest. Die Werte, die der haptischen Ordnung angehören, und diejenigen, die sich in der optischen Region entwickeln, rivalisieren grundsätzlich miteinander; die unbedingte Herrschaft der einen schließt die Aufhebung der anderen in sich: Wo die Sehwerte dominieren, werden die Tastwerte aufgelöst; wo anderseits die Tastwerte zu absoluter Geltung kommen sollen, müssen die Sehwerte unterdrückt werden, – eben weil es in ihrer Tendenz liegt, die Tastwerte zu zersetzen. Allerdings ist dieser Radikalismus ein bloß gedachter. In der Erscheinung ist kein absoluter Tastwert, kein absoluter Sehwert anzutreffen; denn um konstitutive Bedeutung zu gewinnen, sind beide Ordnungen aufeinander angewiesen; erst ihre Verbindung macht eine konkret-anschauliche Gestalt aus. Das rein Optische, das aller haptischen, d. h. formalen Grenzen entbehrt, ist gänzlich amorph wie das bloße Licht – ein konkretes Etwas, aber kein anschauliches. Das rein Haptische, Formale, das aller optischen Bestimmungen entbehrt, ist gänzlich abstrakt, eine geometrische Figur, – ein anschauliches Etwas, aber kein konkretes. Erst die Beziehung beider zueinander gibt jedem von ihnen das Gepräge einer anschaulichen Ordnung. Zugleich ist diese Beziehung aber der Ausdruck einer Spannung. Aufgabe des Denkens ist es, die Spannung festzulegen, sie als ideelle Voraussetzung aller Gestaltung ins Auge zu fassen. Die Gestaltung selbst aber bekundet sich in der Auseinandersetzung zwischen den beiden Polen. Man kann den »Sinn« der verschiedenen morphologischen Charaktere darin suchen, daß sie – jeder in seiner Weise – einen Ausgleich zwischen der optischen und der haptischen Ordnung darstellen: Was bei der morphologischen Einzelbeschreibung etwa »aufgelöster Kontur« heißt, erhält nun seinen besonderen Sinn. Leonardos »sfumato« wird als eine bestimmte Form des »Ausgleichs« gedeutet. Und auch technische Bestimmungen

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werden herangezogen: In den »Bohrlöchern« A einer Marmorplastik erblickt man ein Zeichen für die »Entwertung der Linie zugunsten des Flecks« B. Selbst eine so eindeutig auf die haptischen Werte eingestellte Kunst wie die ägyptische kann der optischen Momente nicht restlos entraten: Um die haptischen Werte konkret-anschaulich zu kennzeichnen und zu isolieren, braucht sie Schattenränder und Farben, wenn sie diesen selbst auch keinen Eigenwert zuerkennt. – Die griechische Kunst bringt einen mittleren Ausgleich zwischen den beiden Ordnungen, – eine Lösung, die Riegl als »haptisch-optisch« oder (in seiner psychologischen Redeweise) als »normalsichtig« bezeichnete, womit er sie in Gegensatz stellte zu der »nahsichtigen« Auffassung der Ägypter, die nur die haptischen Werte gelten läßt, und der »fernsichtigen« der Spätrömer, bei welcher die optischen Werte dominieren. – Wie aber auch in der neueren Kunstgeschichte der Ausgleich im einzelnen variiert, mag die verschiedenartige Verwertung eines einzelnen optischen Mittels verdeutlichen: die Verwertung des Schattens. Während der »Körperschatten« eine bloß kubische Funktion erfüllt (er dient der Modellierung der Einzelform), fällt dem »Raumschatten« die Versinnlichung des Freiraums zu; der »Schlagschatten« wiederum steht in der Mitte zwischen beiden 9). Je nachdem nun, ob eine Kunst allein den »Körperschatten« verwendet, ob sie ihn mit dem »Schlagschatten« verbindet oder ob sie beide in dem »Raumschatten« untergehen läßt, ergeben sich Stufungen – von der Unterordnung der Sehwerte unter die Tastwerte bis zur Verschleierung der Tastwerte durch die Sehwerte. – Von den Farben läßt sich das Entsprechende sagen: Bald werden sie »polychrom« verwendet und tragen dazu bei, die einen haptischen Werte gegen die anderen »abzusetzen«, bald umspielen sie die Formen »koloristisch« und lösen sie eigenmächtig auf 10.

Vgl. Riegl, Das holländische Gruppenporträt [Siehe Fn. 3]. Diese Auseinandersetzung zwischen optischen und haptischen Werten hat ihr genaues Gegenstück in der Musik. Man kann den sinnlichen Klangwer t der Töne von den melodischfor malen Werten unterscheiden. Die zwischen diesen Ordnungen bestehende Rivalität wird bald zugunsten der einen, bald zugunsten der anderen entschieden. So kann die Instrumentation das Mittel sein, um eine melo dische Folge gegenüber einer anderen zu differenzieren, um sie – 451 durch Veränderung des Klangreizes – als melodische Folge herauszuheben. Wo aber der Klangreiz dieser dienenden Rolle enthoben wird und Eigenwert gewinnt, da tritt der entgegengesetzte Fall ein: Die Klangwerte überspinnen die melodisch-formalen Elemente, bis schließlich die Melodien selbst nur noch als Reize wirken. Vgl. Franz Schreker, Malipiero und andere moderne Komponisten. 9

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A Vgl. A. Riegl: Die spätrömische Kunst-Industrie, S. 69 und S. 71 sowie auch S. 91; H. Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, S. 63. B Vgl. ebd., S. 15 f. und S. 110 sowie auch S. 232.

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II. Bezog sich die Polarität des Haptischen und Optischen auf die sinnlich-elementaren Voraussetzungen der Gestaltung, so kann man jedem dieser sinnlichen Elemente seinen besonderen »Ort« zuweisen, – diejenige Dimension, in der es seine Werte recht eigentlich zur Entfaltung bringt. Wir erhalten damit eine zweite, nunmehr räumliche Antithese: die Gegenüberstellung von »Fläche« und »Tiefe« – oder besser, da es sich um einen Gegensatz zwischen anschaulichen Ordnungen handelt: Die Polarität von Flächen wer ten und Tiefen wer ten. Man mag sich die Art, wie beide aufeinander bezogen sind, als das Verhältnis von »Muster« und »Grund« vorstellen. Muster und Grund sind gegensätzliche Ordnungen. Aber ein Grund ohne Muster verliert seinen eigentlichen Sinn, genau wie das Muster seinerseits den Grund zum Gegenspieler braucht. So kann auch ein Tiefenwert sich nicht anders äußern als in der Stellungnahme zur Fläche; die Ordnung des »Hintereinander« bleibt auf die des »Nebeneinander« angewiesen. Eine tiefenmäßige Lagerung, die sich nicht in der Fläche bekundete, würde einer völligen »Deckung« gleichkommen und der konkreten Anschauung entzogen sein. Umgekehrt kann eine Figur nur dadurch ihre Flächenhaftigkeit bewähren, daß sie sich vom Grunde »absetzt«, womit sie wieder notwendig auf ihn Bezug nimmt. Wie bei den optischen und haptischen Werten schließt also auch hier die Polarität eine Spannung und zugleich eine Wechselbeziehung in sich. Und wie dort läßt sich auch hier die einzelne Gestalt als ein »Ausgleich« zwischen den beiden Polen deuten. Um die Variabilität der möglichen »Ausgleiche« zu veranschaulichen, sei von der extrem einseitigen Lösung der ägyptischen Kunst ausgegangen. Die radikale Entscheidung zugunsten der Fläche, wie sie sich hier findet, bedingt eine radikale Entwertung des »Grundes«. Der »Grund« ist als solcher wohl da, aber er ist gleichsam nur das »Negativ« der Flächenwerte und spricht als eigenbedeutsamer Faktor nicht mit; genau so, wie ja auch optische Momente (Farben, Schattenränder) in die ägyptische Gestaltung eingehen, aber nur zu dem einen Zweck, um haptische Einheiten zu kennzeichnen und abzugrenzen. Die Figuren sind vom Grunde unterschieden; also darf man von einer Auseinandersetzung zwischen »Muster« und »Grund« sprechen. Aber die Figuren entwickeln sich, ohne in eine positive Beziehung zum Grunde zu treten; der Grund ist also jeglichen Eigenwertes beraubt. – Entsprechendes gilt auch für die »Frontalität« ägyptischer Freiskulpturen, ferner für die ägyptische Architektur, insbesondere die Anlage der Tempel: Außen die geschlossene Mauermasse, die in ihrer ungeheuren Ausdehnung als Ganzes nicht zu übersehen ist und daher nur sukzessiv in der Fläche zur Entfaltung kommt. Innen die Häufung von Kolossalsäulen, deren dichtgedrängte Reihung die anschauliche Wirkung des Tiefenraumes ausschließt. Die einzelne Säule ist als »stoffliches Individuum« zwar vom Grunde gelöst; erst dadurch wird sie überhaupt zur Säule. Aber nur die Säulen masse gilt als künstlerischer Wert, während der Raum zwischen den Säulen nicht mitspricht.

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An der griechisch-klassischen Kunst läßt sich die Emanzipation des Grundes zeigen. Hier beginnen Tiefenwerte die Flächenwerte zu durchsetzen, der Widerstreit zwischen beiden wird im Sinne eines mittleren Ausgleichs geschlichtet, – analog zu dem Ausgleich, der hier zwischen optischen und haptischen Werten stattfindet. Die Komposition der Reliefs und der Giebelgruppen vereinigt eine Differenzierung der Tiefenschichten mit einer Bindung innerhalb der Fläche: In der Stellung der Figuren zueinander entfalten sich Ebenenrelationen (symmetrische Entsprechung) und zugleich Tiefenrelationen (Deckungen). In hellenistischen Reliefs wird der Grund gar zur herrschenden Ordnung. – Die Architektur bringt die »Peripteralstellung«. Die Intervalle zwischen den Säulen gewinnen die Bedeutung von Tiefenwerten, obwohl sie durch feste Begrenzungen flächenhaft gebunden sind. Und die einzelne Säule selbst bildet einen »mittleren Ausgleich« zwischen Fläche und Tiefe: Sie ist ein »körperliches« Gebilde. Das Körperliche, Plastische – so stellt sich hier heraus – ist keine elementare Kategorie, wie man oft angenommen hat, sondern eine besondere Form des Ausgleichs einer Grundantithese. Und wenn man die Durchbildung des Körperlichen als eines der Wesensmerkmale der klassischen Antike bezeichnet, so kann man den »Sinn« dieses Merkmals erst dadurch begreifen, daß man es auf eine Polarität anschaulicher Ordnungen bezieht. Ganz entsprechend verhält es sich mit den »Lösungen« der neueren Kunst. Der pyramidale Aufbau in den Kompositionen der Renaissance muß als ein Ausgleich zwischen Flächen- und Tiefenwerten verstanden werden. Genau so die zentralperspektivische Konstruktion, welche orthogonale Tiefenentfaltung und Frontalität vereinigt. Und eben der Gegensatz von Fläche und Tiefe ist es auch, der in der Landschafts malerei durch das Mittel der »Kulissen« versöhnt wird, – eine Form der Lösung, in der die Vorherrschaft der Tiefenwerte schon deutlich zum Ausdruck kommt. Fällt hier aber noch den Flächenwerten eine durchaus positive Rolle im Bildganzen zu, so müssen sie doch – mit fortschreitender Steigerung der Tiefenwerte – immer mehr und mehr zurückgedrängt werden. Die letzte Folgerung ist das genaue Gegenteil des ägyptischen Stils: eine radikale Entscheidung zugunsten des »Grundes«, eine völlige Entwertung der Ebene, des »Musters«. (Beispiel: holländische Seelandschaft.) Wie aber in der ägyptischen Kunst der entwertete Grund doch noch stehen blieb, wenn auch als das bloße »Negativ« der Flächenwerte, so wird auch hier, im entgegengesetzten Fall, die Ordnung des »Musters« durch ein letztes Residuum vertreten: durch den Rahmen, den »Ausschnitt« als solchen 11.

Was für die bildende Kunst der Raum, das bedeutet für die Musik die Zeit. Wie dort die Ordnung nebeneinander zur Ordnung hintereinander, so verhält sich hier die sukzessive Ordnung zur simultanen. Den (einzeln »abzulesenden«) Ebenenrelationen entspricht die zeitliche Aufeinanderfolge, in der die melodische Beziehung der Töne sich darstellt, – der (mit einem Blick zu umfassenden) Tiefenentf altung die zeitliche Koinzidenz, welche den har monischen Zusammenklang eröffnet. 11

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III.

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Nachdem wir jedem der gegensätzlichen Elemente, dem Haptischen wie dem Optischen, seinen besonderen » Or t« zugewiesen und so eine Polarität der »Raumwerte« gewonnen haben, müssen wir nunmehr fragen: Welche Form des » Zusammenschlusses« entspricht der haptischen, welche der optischen Ordnung? – Die Antwort ruht in der Polarität der » Glieder ungswer te«, die in distinkte und amor phe, in Einzelwerte und Einheitswerte zerfallen: Denkt man sich eine selbständige Entfaltung der haptischen Elemente – unter Ausschaltung aller optischen –, so erhält man lauter formale Grenzsetzungen, ohne daß eine Substanz vorhanden wäre, auf die sie sich bezögen. Das heißt aber: Die Grenzsetzung wäre in ihrem Vollzuge ungehemmt, und es würde sich eine immer weiter fortschreitende Zer teilung ergeben, – eine »distinctio ad infinitum«. Anderseits läßt sich ein reiner Zusammenschluß von optischen Elementen nur als Ver schmelzung denken. Und da mit der radikalen Ausschaltung der haptischen Momente alle festen Grenzen zerfließen müssen, kann hier als Resultat nur eine amorphe Substanz übrigbleiben. – »Verschmelzung« und Zerteilung« sind also die beiden gegensätzlichen Richtungen der Entfaltung. Beide führen, voneinander getrennt, zu bloßen Negationen: Auf der einen Seite ergibt sich ein »amorphes Etwas«, auf der anderen ein »distinktes Nichts«. Wie in den früheren Fällen, so erschließt aber auch hier die Polarität ihren positiven Sinn in einer Wechselbeziehung: Erst in der Auseinandersetzung mit den distinkten Einzelwer ten offenbart sich die Ver schmelzung als Vereinheitlichung; erst in der Durchdringung der amor phen Einheitswer te bewährt sich die Zer teilung als Distinktion. Wiederum lassen sich die einzelnen morphologischen Erscheinungen als »Ausgleiche« zwischen den beiden Ordnungen deuten: In der ägyptischen Kunst triumphiert die »Zerteilung« über der »Verschmelzung«. Distinkte Einzelwerte treten heraus, dem Gesetz der gleichmäßigen Reihung unterworfen. Die Figuren der Reliefs sind gegeneinander isoliert; sie wirken als lose Folge von Einzelgliedern. Daß sie aber überhaupt »Einzelwert« haben, besagt, daß eine Distinktion gegenüber einer amorphen Einheit stattgefunden hat. Und dieses amorphe Moment ist auch – als »Grund« – in der Erscheinung vorhanden. Nur greift es nicht in die Gliederung ein. Es ist – als einheitschaffendes Moment – entwertet. Daß auch bei der Gliederung der Architektur die Einheitswerte völlig ignoriert werden, bezeugt unter anderem der Mangel jeglicher Ecklösungen. Die Einzelwerte sprechen nur für sich. Riegl hebt (in den oben zitierten Sätzen über das ägyptische Relief) hervor, daß jeder Versuch, »zwei Figuren in einen engeren augenfälligen Bezug zueinander zu bringen, zu einer Durchbrechung des Prinzips der Reihung führen« muß. Und in der Tat gefährdet jede Anordnung in Gruppen die Neutralität des Amorphen. Der Gruppenzusammenhang bedeutet eine Vereinheitlichung; also hebt er die radikale Vereinzelung auf. Und da die Beziehungen innerhalb der Gruppen enger sind als

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über die Grenzen der Gruppen hinweg, fällt dem Medium zwischen den Figuren eine bindende und trennende Funktion zu. Amorphe Gliederungswerte treten damit in die Erscheinung. Die ägyptische Kunst hat solch eine gruppenartige »Vereinheitlichung« zu vermeiden gewußt, teils indem sie die einander zugewandten Gestalten »parallel« gliederte, so daß sich eine Konfiguration ergab, der jede bindende Kraft fehlte, – teils indem sie die zusammengehörigen Figuren von vornherein als ein in sich geschlossenes, »massenkontinuierliches Gebilde« auffaßte, derart, daß gar kein verbindendes Medium in Anspruch genommen wurde. Die griechische Kunst aber bringt mit der Emanzipation des »Grundes« auch die Emanzipation der Einheitswerte. Sie löst die distinkten Elemente aus ihrer Vereinzelung, und indem sie sie mit amorphen Werten verschmilzt – die Intervalle werden in die Gliederung einbezogen –, schafft sie einen mittleren Ausgleich zwischen »Einheit« und »Einzelheit«. Die Einzelheiten werden zu »Teilen« der Einheit; die Einheit aber ruht in der Beziehung der Einzelheiten. Wie die Antithese der Raumwerte von der griechisch-klassischen Kunst im Sinne des » Plastischen« gelöst wurde, so findet also die Antithese der Glieder ungswerte ihren klassischen Ausgleich in der » tektonischen« Gestaltung. Das »Tektonische« ist demnach ebensowenig ein elementarer Begriff wie das Plastisch-Körperliche. Es wird seinem Sinne nach (d. h. als künstlerische Leistung) erst dann verständlich, wenn man es aus der Auseinandersetzung zwischen distinkten Einzelwerten und amorphen Einheitswerten hervorgehen läßt. Damit ist aber gesagt, daß die bloße Negation dieses Begriffs keinen Anspruch erheben darf, selbst als eindeutige Bestimmung zu gelten. Unter den Begriff des »Atektonischen«, sofern man ihn wörtlich nimmt 12, fallen schlechterdings alle Kunstäußerungen, die den Widerstreit der Gliederungswerte nicht im Sinne eines »mittleren« Ausgleichs schlichten, – also die ägyptische Kunst ebensowohl wie etwa die holländische des 17. Jahrhunderts. Wollte man also den Begriff des Tektonischen als festen Bezugspunkt ansetzen und, streng begrifflich verfahrend, seinen Gegenpol zu konstruieren suchen, so würde man eine Vielheit verschiedener Pole erhalten, je nachdem in welcher Richtung man ginge. Sie alle wären Negationen des Tektonischen, wären aber dadurch noch in keiner Weise bestimmt 13. Die wahrhaft sicheren Bezugspunkte sind eine Schicht tiefer zu suchen, – in der grundlegenden Antithetik der Ordnungen: Indem man feststellt, daß die holländische Kunst die distinkten Einzelwerte zugunsten der amorphen Einheitswerte auflöst, scheidet man sie scharf

Die nachfolgenden Bemerkungen bezwecken eine rein terminologische Klärung. Sie stellen vom methodischen Standpunkt aus die Bildung des Wölfflinschen Ausdrucks »atektonisch« in Frage, ohne damit ein kunsthistorisches Urteil über die besondere Art seiner Anwendung fällen zu wollen. – Zur Kritik von Wölfflins Verfahren vgl. im übrigen den Exkurs D III, S. 481 [in dieser Ausgabe S. 397]. 13 [Arnold] v. Salis bezeichnet z. B. in seinem Buch »Die Kunst der Griechen« [Leipzig 1919] den kretisch-mykenischen Stil als atektonisch. 12

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und positiv sowohl von der klassischen Lösung als auch von Gestaltungen im Sinne der ägyptischen Kunst 14.

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IV. Die drei Antithesen, die wir im vorstehenden entwickelt haben, beanspruchen nicht, irgendwie erschöpfend zu sein. Ihre extensive Vollständigkeit läßt sich nicht belegen, – im Gegenteil: Wir werden ihnen späterhin weitere Antithesen an die Seite stellen. Hinsichtlich der intensiven Vollständigkeit aber darf jede von ihnen schon jetzt als etwas Endgültiges angesehen werden. Als Pole anschaulicher Ordnungen sind sie gleichsam die letzten Instanzen, von denen aus die Erscheinungen sich deuten und als »künstlerische Leistungen« begreifen lassen. Wenn sie aber »letzte Instanzen« sind, so müssen sie doch auf alle Erscheinungen anwendbar sein. Wie verhalten sie sich dann zu der Vielheit der ver schiedenen Probleme, die im Verlauf der historischen Entwicklung einander ablösen? Wie ist überhaupt solch eine Vielheit historischer Einzelprobleme möglich? Sind die Einzelprobleme nur Spezifizierungen jener grundlegenden Antithesen? Die speziellen Probleme kommen meist dadurch zustande, daß man für die anschaulichen Werte, die grundsätzlich miteinander rivalisieren, besondere Wert repräsentanten einsetzt. So spricht man von der »Auseinandersetzung zwischen Figur und Raum«, – eine Ausdrucksweise, die nur dadurch Sinn hat, daß man sowohl Figur wie Raum als »Träger« bestimmter Werte (etwa die Figur als Träger haptischer, den Raum als Träger optischer Werte) ansieht. Wenn man also sagt, der Raum »verschlinge« die Figuren, so heißt das nichts anderes als: Die optischen Werte lösen die haptischen auf, die Einheitswerte dominieren über den Einzelwerten. Der einzige Unterschied ist, daß die allgemeine Antithese in ganz spezieller Fassung auftritt. Gerade darin liegt aber das Entscheidende: Die Einführung der »Träger« begrenzt den Bereich des künstlerischen Problems. Indem man die Werte an bestimmte empirische Gegenstände bindet, geht die umfassende Anwendbarkeit der Antithese verloren. Denn nur einer beschränkten Auswahl von Kunstwerken sind die betreffenden »Träger« gemeinsam. Noch deutlicher tritt die Spezifizierung dort zutage, wo man das künstlerische Problem an eine gegenständliche Bedingung knüpft, wie sie etwa durch ein bestimmtes Thema gegeben ist. Eine »vorkünstlerische Aufgabe« wird dann zum Fundament des künstlerischen Problems, und zwar derart, daß die »Aufgabe« die Antithetik des Problems vorzeichnet. So leitet Riegl in seinem »holländischen Die Antithese der Gliederungswerte läßt sich unmittelbar auf die Musik übertragen, ohne daß erst, wie in den früheren Fällen, eine Parallele gesucht zu werden braucht. Denn Kategorien wie Einheit und Einzelheit, Ganzes und Teil lassen sich, da sie als reine Beziehungsbegriffe über den einzelnen Sinnesgebieten stehen, auf alle Inhaltsarten in gleicher Weise anwenden; wohingegen von unseren früheren Antithesen die des Optischen und Haptischen an das Visuelle, die von Fläche und Tiefe ans Räumliche gebunden war. 14

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Gruppenporträt« die Probleme der Auffassung und der Komposition aus den Besonderheiten des Auftrags ab: Mehrere Personen sollen in völliger Handlungslosigkeit dargestellt werden; zugleich ist aber äußere Porträtähn lichkeit gefordert. Da muß sich eine Rivalität ergeben zwischen der »ungebundenen« Auffassung und dem »gestellten Bild«: Für die psychologische Charakteristik der Figuren bedeutet das einen Konflikt zwischen »Aufmerksamkeit« und »Willensäußerung«, für die Komposition einen Widerstreit zwischen loser Vertikalreihung (d. h. Aufhebung der Ebenenrelationen) und Bindung durch ein normales Schema (d. h. Bejahung der Ebene). Es braucht kaum betont zu werden, daß dieser Widerstreit nur die besondere Ausformung einer Grundantithese ist. Die Beispiele zeigen deutlich, daß die außerkünstlerische Fundierung der Probleme nur deren Anwendbarkeit eingrenzt, aber nicht recht eigentlich ihren Sinn. Man dürfte also hier weniger von »speziellen« Problemen als von »speziell angewandten« Problemen sprechen. Denn die Antithesen als solche werden in ihrer grundlegenden Bedeutung herangezogen, – ganz so, wie wir sie oben entwickelt haben. Wo sind aber dann wahrhaft spezielle Probleme anzutreffen? Man findet oft, daß statt einer gegenständlichen oder thematischen Vorbedingung eine konkrete morphologische Gestalt zum »Wertrepräsentanten« gewählt wird. So liest man etwa: »Stütze und Wand sind Gegensätze« (Frankl A). Für den Kunsthistoriker ist das eine ganz geläufige, ohne weiteres verständliche Ausdrucksweise. Der Logiker aber muß stutzig werden: Wie kann man zwei konkrete Gebilde gegeneinander ausspielen? – Nur dadurch, daß man sie als Vertreter grundsätzlicher Ordnungen ansieht. Es sind die in den Gebilden verkörperten Werte, die man gegeneinander kontrastiert, – nicht die Gebilde selbst. Hier aber beginnt die Komplikation: Eine konkrete Gestalt (etwa eine Säule) ist nicht einfach der reine Repräsentant eines einzelnen Wertes, sie schließt vielmehr schon den Ausgleich einer Antithetik von Werten in sich. Stellt man sie also einer anderen konkreten Gestalt (etwa der Mauermasse in einer bestimmten Ausformung) gegenüber, so bezieht man zwei gegensätzliche Lösungen aufeinander und setzt damit ein neues Problem, – ein Problem, das seinerseits der Versöhnung, der »Lösung« bedarf. Dieses neue Problem ist aber kein grundlegendes mehr, sondern ein durchaus spezielles. Es kann nur als besondere Voraussetzung einer bestimmten Gestaltung, nicht als allgemeine Voraussetzung der »Gestaltung überhaupt« angesehen werden. Nichtsdestoweniger läßt es sich aber auf allgemeine Antithesen zurückführen; denn jeder seiner Pole kann selbst in eine elementare Polarität aufgelöst werden: »Säule« und »Wand«, die wir antithetisch einander gegenübergestellt haben, schließen schon jedes einen bestimmten Ausgleich zwischen optischen und haptischen Werten in sich. Und ebenso ist z. B. das Kompositionsschema des Dreiecks, das in bestimmten Phasen der nordischen Malerei mit den tonigen Raumwerten »rivalisiert«, selbst aus einer Auseinandersetzung zwischen Fläche und Tiefe hervorgegangen. A

Paul Frankl: Die Entwicklungsphasen der neueren Baukunst. Leipzig / Berlin 1914, S. 101.

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Damit stellt sich heraus, daß die wahrhaft speziellen Probleme komplexen Charakter tragen und in elementare Bestandteile aufzulösen sind. Jedes histor isch bedingte Problem läßt sich in diesem Sinne auf ein überhistor isches, jede entwicklungsgeschichtliche Polarität auf eine systematische zurückführen. Wir kommen also zu dem Schluß, daß gerade an den speziellen Problemen die grundlegenden Antithesen sich als »letzte Instanzen« bewähren. Die »konkreten Probleme« weisen von sich aus auf ein »systematisch bereitetes Netz von Fragen« zurück. Noch aber haben wir solch ein »systematisches Netz« nicht aufgewiesen. Wir haben in loser Abfolge drei grundlegende Probleme dargestellt und dabei die »spekulative Reflexion« in ihrem Vollzuge beobachtet. Die Frage aber ist: Läßt sich eine apriorische Deduktion der Probleme geben? C. Grundzüge einer systematischen Ableitung. Um für die Ableitung feste Anhaltspunkte zu gewinnen, müssen wir auf unsere erste Frage zurückgehen: Welches ist das Wesen der künstlerischen Probleme? Wie sind sie gebaut? Jedes von ihnen enthält eine Antithese zwischen zwei anschaulichen Ordnungen. Damit aber beide Ordnungen überhaupt in Widerstreit geraten können, müssen sie sich in derselben Ebene, in der gleichen Schicht zusammenfinden. Außer der antithetischen Form hat also jedes Problem noch seinen besonderen Ort. Durch diesen Ort, d. h. durch die Stelle, an der die Antithetik sich abspielt, ist es von den übrigen Problemen unterschieden. Die For m der Spannung aber ist sämtlichen Problemen gemeinsam; sie drückt ihnen allererst den bestimmenden Stempel auf und darf daher als »kategorial« bezeichnet werden. Zwei Aufgaben sind es also, vor die die systematische Ableitung sich gestellt sieht: die »kategoriale Antithese« als solche zu bestimmen, und die »Regionen«, in denen diese sich auswirkt, aufzuweisen. I.

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Zum Ausgangspunkt wählen wir wieder die Arbeiten Riegls. Das Gegensatzpaar des »Subjektivistischen« und »Objektivistischen«, das er in die Kunstforschung eingeführt hat, scheint auf den ersten Blick zur Formulierung der kategorialen Antithese geeignet; denn es übergreift alle einzelnen Regionen, bleibt aber auf jede von ihnen anwendbar. Die optischen Werte z. B. sind »sekundäre Qualitäten«, die haptischen (als Formenwerte) »primäre«; man darf die ersteren daher als »subjektivistisch«, die letzteren als »objektivistisch« bezeichnen. Ebenso sind die anschaulichen Tiefenwerte nur Phänomene eines subjektiven Bewußtseins, während die Ebenenrelationen sich mathematisch festlegen lassen. Schließlich wird

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man distinkte Einzelheiten als determinierte und daher objektive Bestimmungen gelten lassen, eine amorphe Einheit dagegen als bloß subjektives Phänomen bezeichnen dürfen 15. – Wo aber hat die Subjekt-Objekt-Antithese, wie Riegl sie bringt, ihren Ursprung? Erst durch eine systematische Ableitung kann sie als spezifisch künstler ische Polarität beglaubigt werden. – Hier beginnen jedoch grundsätzliche Schwierigkeiten. Zunächst wird man an der umfassenden Bedeutung der Antithese Anstoß nehmen. Der Gegensatz des Subjektiven und Objektiven spielt doch (ganz abgesehen von den wechselnden Ausdeutungen, die er in der Geschichte der Philosophie gefunden hat) auf den verschiedensten Geistesgebieten eine Rolle; er durchzieht die Fragen der Erkenntnis ebenso wie die Theorien der Ethik, und gewiß wird er sich auch auf künstlerische Gestaltungen anwenden lassen. Aber warum sollte er etwas spezifisch Künstlerisches sein? Spricht nicht seine vielfältige Anwendbarkeit dafür, daß wir es hier mit einer ganz allgemeinen Betrachtungsweise zu tun haben, für welche die Kunst nur ein Objekt unter anderen ist 16? Es kommt hinzu, daß die Subjekt-Objekt-Beziehung, wie Riegl sie faßt, erkenntnistheoretisch bedenklich ist. Nur von dem psychophysischen Subjekt kann man sagen, daß es – als Träger besonderer Eigenschaften – den Objekten räumlich »gegenüberstehe«. Das psychophysische Subjekt ist aber ein Faktum innerhalb der realen Welt. Wer also den Gegensatz von Subjekt und Objekt in dieser dinglichen Form zur Grundlage nimmt, geht von empirischen Voraussetzungen aus und nicht von apriorischen. Und wenn er Bestimmungen da durch einander gegenüberstellt, daß er die einen im Subjekt, die anderen im Objekt lokalisiert, – so muß diese Unterscheidung problematisch werden, sobald man auf transzendentale Voraussetzungen zurückgeht. Zwar, ein Unter schied der Bestimmungen wird auch hier bestehen bleiben; denn die transzendentale Betrachtungsweise kann nichts verschwinden machen. Aber man wird den Gegensatz nicht in ein fertiges psychophysisches Weltbild eingliedern, sondern ihn – Kantisch zu reden – aus den »Vermögen unseres Gemütes« abzuleiten suchen. Das Gegenüber von betrachtendem Subjekt und betrachtetem Objekt muß sich dann in einen Unterschied innerhalb der Betrachtungs weise verwandeln, so daß die »objektivistischen« und die »subjektivistischen« Eigenschaften letzten Endes auf zwei verschiedene Funktionen des Bewußtseins zurückführen. Von diesen mag man nun die eine als »Empfindung«, die andere als »Anschauung« bezeichnen; jedenfalls entspricht 15 Gerade dem Fall der amorphen Einheit hat Riegl ein besonderes Interesse zugewandt. Hier hat er seinen Begriff des Subjektivismus auch wohl am glücklichsten demonstriert. Vgl. die Abhandlung über das »Holländische Gruppenporträt« [siehe Fn. 3], wo er nicht müde wird, darauf hinzuweisen, daß bei der spezifisch holländischen Kompositionsform das »verbindende Element« im »betrachtenden Subjekt« liege. 16 Ich lasse es dahingestellt, ob Riegl in dieser umf assenden Bedeutung der Antithese nicht gerade ihren Vorzug sah. In Verbindung gebracht mit gewissen Grundtypen psychischen Verhaltens (Wille, Gefühl, Aufmerksamkeit) ermöglichte sie es ihm, die künstlerischen Erscheinungen mit religiösen und ethischen in Parallele zu setzen.

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der ersteren die »sinnliche Fülle«, der letzteren die »formale Bestimmtheit« des Gegenstandes. Wir stoßen also, wenn wir Riegls Begriffe ihrer psychophysischen Bedeutung entkleiden, letzten Endes auf die Antithese von Fülle und Form. Und für diese läßt sich der notwendige Zusammenhang mit dem Künstler ischen leicht nachweisen. Denn sobald man sie als Polarität faßt, d. h. sobald man Fülle und Form wechselseitig aufeinander bezieht, erhält man das Problem der konkretanschaulichen Gestaltung, und damit eröffnet sich die Region des Künstlerischen (vgl. oben S. 449 ff. [in dieser Ausgabe S. 366ff.]). Man wird einwenden, auch für andere Geistesgebiete bestehe doch die Antithese von Fülle und Form. Wir erwidern: Niemals als grundlegende kategoriale Wechselbeziehung. Die Naturerkenntnis z. B. ist weit davon entfernt, beide Begriffe als gleichwertige Gegenspieler zu fassen; vielmehr hat sie das Ziel, die Fülle in Form aufzulösen. In der Form, in quantitativen Relationen, liegt für sie das eigentlich Gesetzliche, und die qualitative Mannigfaltigkeit, die Fülle, ist ihr bloß vor wissenschaftlich gegeben. Fülle und Form werden hier also getrennten Sphären zugeordnet, und das Problem liegt, statt in ihrer wechselseitigen Durchdr ingung, gerade umgekehrt in ihrer Loslösung voneinander, in der Befreiung der Form von der Fülle. Allerdings setzt diese Aufgabe die Vereinigung beider wenn nicht als Ziel, so doch als Ausgangspunkt der Forschung voraus. Und so scheint die Naturwissenschaft zum mindesten in ihrem Ausgangspunkt das Reich des Künstlerischen zu berühren. Das Gemeinsame liegt jedoch gerade in dem, was an aller Naturwissenschaft vorwissenschaftlich, an allen Kunstwerken vorkünstlerisch ist: in jenem bloßen »Aggregat«, das zurückbleibt, wenn man kraft einer gedanklichen Ab straktion alle synthetische Deutung aus dem Sinnlichen ausschließt. Dieses sinnliche Aggregat entfaltet dann keinerlei Gesetzlichkeit, weder eine konkretanschauliche noch eine naturwissenschaftliche. Es hat überhaupt keinen »Sinn«, ist vielmehr das schlechthin Gesetzlose, »Sinn freie«, das vor aller Problemstellung liegt. Erst indem das naturwissenschaftliche Denken es seinen Kategorien unterstellt, um so die Fülle in Form aufzulösen, wird es vom Naturgesetz durchzogen. Anderseits ist auch jedes Kunstwerk solch ein »bloßes Aggregat«, solange man die Verbindung von Fülle und Form nicht als Problem ansieht. Erst mit der Setzung dieses Problems unterstellt man das Objekt der grundlegenden Kategorie des kunstwissenschaftlichen Denkens 17. Zur Formulierung der kategorialen Urantithese hat Panofsky das Gegensatzpaar von Raum und Zeit vorgeschlagen (»Über das Verhältnis der Kunsttheorie zur Kunstgeschichte«, im laufenden Jahrgang dieser Zeitschrift [= Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 18 (1925), S. 129–161]): Dem Raum als der Form der äußeren Anschauung, und damit dem Prinzip der Objektivierung, der Sonderung und Unterscheidung – stellt er die innere Anschauungsform der Zeit als das Prinzip des Verfließens und Verbindens gegenüber. Diese metaphysisch gerichtete Lehre (metaphysisch deshalb, weil sie das Verhältnis der immanenten Bewußtseinswelt zur transzendenten Objektwelt behandelt), die, an Kant anknüpfend, in ihrer Durchführung der modernen Auffassung vom »immanenten Zeitbewußtsein« nahekommt, bietet zu unseren Aufstellungen über das Verhältnis von Fülle und Form eine willkommene und notwendige Ergänzung. Denn während Fülle und Form, gleichsam durch eine Kluft voneinander getrennt, das Dasein des Problems, 17

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Es leuchtet ein, daß die Urantithese, wie sie von uns bestimmt worden ist, noch keine konkrete Anwendung zuläßt, daß sie an sich nicht ausreicht, um ein gegebenes Kunstwerk auf seine künstlerische Leistung hin zu deuten. Man kann ein Bild nicht unmittelbar daraufhin »abhören«, wie es sich zu der Polarität von »Fülle und »Form« stelle. Um im Anschaulichen einen Widerhall zu finden, muß man selbst in die Region des Anschaulichen herabsteigen. Es bedarf eines besonderen Mediums, um die Antithetik ins Konkrete zu wandeln und so für die Handhabung am Objekte tauglich zu machen. II. Die apriorische Deduktion genügt also nicht. Wir brauchen neben der kategorialen Antithese noch ein reg ionales Schema, welches uns im Konkret-Anschaulichen die Stellen zeigt, an denen die Kategorie sich bewähren soll. Woher wissen wir aber von diesen »Stellen«? Etwas spezifisch Künstlerisches können sie nicht sein; denn sie geben – als bloße »Regionen« der kategorialen Antithetik – nur gleichsam den Boden für das Künstlerische ab. Dennoch müssen sie für den Bestand des Kunstwerks ebenso notwendig sein wie die kategoriale Antithetik selbst; denn sie enthalten die Bedingungen, unter denen diese spezifiziert werden muß, um überhaupt auf Erscheinungen anwendbar zu sein. Hier liegt also der entscheidende Punkt: Wir haben es mit den Bedingungen der künstlerischen Er scheinung zu tun. Enthielt die kategoriale Antithetik die Voraussetzung für die Deutung eines Phänomens als künstlerischer Leistung, so stoßen wir nunmehr auf die Voraussetzungen, unter denen künstlerische Leistungen überhaupt gegenständlich werden. Die Bedingungen der Gegenständlichkeit des Künstler ischen können aber keine anderen sein als die allgemeinen Bedingungen der Gegenständlichkeit in der sinnlichen Sphäre überhaupt 18. Wir sehen uns also zur Lösung unserer Aufgabe an die Phänomenologie der Sinnesgebiete, in denen Kunstwerke in Erscheinung treten, verwiesen: Welches sind die Momente eines visuellen, welches die eines akustischen Anschauungsgegenstandes, und was gehört zu einem sprachlichen Ge-

welches aller konkret- anschaulichen Gestaltung zugrunde liegt, in starrer Weise markieren, sind Zeit und Raum beim Aufbau der konkret-anschaulichen Welt in einer wechselseitigen Durchdringung begriffen, vermöge welcher sie die Lösung jenes Problems in ihrem Vollzuge darstellen können. Die Begriffe von Raum und Zeit sind also vorzüglich geeignet, durch die besondere Art ihrer Verbindung die jeweilige Lösung eines Problems zu formulieren, müssen aber das Problem als solches dabei als bekannt voraussetzen. Die Antithese von Fülle und Form wiederum bewährt sich in der Festlegung des Problems als solchem, kann aber dessen Lösung lediglich forder n. So sind beide dazu bestimmt, sich wechselseitig zu ergänzen. 18 Von den besonderen Bedingungen, die innerhalb der sinnlichen Sphäre den Unterschied zwischen der künstlerischen und der empirischen Gegenständlichkeit, zwischen der ideell gerichteten Anschauung und der reell gerichteten Wahrnehmung begründen, kann hier abgesehen werden, da sie das Wesen der künstlerischen Probleme nicht beeinflussen.

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bilde? – Auf diese Weise muß man für bildende Kunst, Musik und Poesie die Frage gesondert stellen; denn nunmehr beginnt, wovon bei der Aufweisung der kategorialen Urantithese noch keine Rede war, die Scheidung in verschiedene Künste. Im Anschluß an unsere früheren Beispiele, welche ausschließlich dem Bereich der bildenden Kunst entnommen waren, werden wir uns auch im folgenden auf die visuelle Sphäre beschränken; wobei manches von dem, was oben nur einführend besprochen wurde, im systematischen Zusammenhang seine nähere Begründung finden wird.

1. Die Sphäre der »qualitativen Erscheinung«. a) Die haptischen und die optischen Werte.

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Zwischen visueller Empfindung und visueller Anschauung besteht der folgende Unterschied: Die Empfindung verharrt bei dem einfachen »Dasein« der sinnlichen Inhalte als solcher, die Anschauung geht darüber hinaus auf das, was die Inhalte gegenständlich »besagen«. Indem aber die Anschauung so auf ein Gegen ständliches gerichtet ist, das sich sinnlich »darstellt«, ohne doch im Sinnlichen aufzugehen, bedingt sie eine Artikulation innerhalb des Sinnlichen selbst, da ja erst hierdurch eine Zuordnung an das Gegenständliche ermöglicht wird. Wie auf sprachlichem Gebiet die sinnlichen Laute sich für die Darstellung von Worten erst dadurch als geeignet erweisen, daß sie sich bestimmten Gegenständen (den Begriffssymbolen) zuordnen lassen, diese Zuordnung aber ihrerseits zur Voraussetzung hat, daß die Laute unter sich in einer geregelten Beziehung stehen, – genau so hängt auch auf visuellem Gebiet das geregelte Erfassen von Gegenständen mit einer Regelung des Sinnlichen als solchem zusammen. Diese rein sinnliche Ordnung aber, zu deren Bezeichnung wir der Lauflehre den Ausdruck »Artikulation«: entlehnen, beruht innerhalb des Visuellen auf der Durchführung eines bestimmten Ausgleichs zwischen optischen und haptischen Werten. Der Unterschied zwischen einer Linie und einem Fleck, oder des Näheren: die Verschiedenheit in der Führung zweier Linien, in der Anlegung zweier Flecken, – all solche und ähnliche Bestimmungen besitzen ihre eigentümliche Form in dem Ausgleich, den sie zwischen jenen beiden Polen, dem optischen und dem haptischen, schaffen. Wenn wir oben die Antithese des Optischen und Haptischen als das Prinzip der » sinnlich-elementaren Wer te«; bezeichnet haben, so findet dieser Ausdruck jetzt seine Rechtfertigung: Das Wort »Element« schützt vor der falschen Vorstellung, als ob wir es mit »bloßen Empfindungen« zu tun hätten; denn Elemente gehören stets einem Systemzusammenhang an. Das Beiwort »sinnlich« aber weist darauf hin, daß dieser Systemzusammenhang selbst wiederum diesseits alles Gedanklichen oder Dinglichen liegt. Denn zum Wesen der Artikulation gehört es, daß sie sich rein im Sinnlichen entfaltet; wenngleich sie eben dadurch

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Gebilde hervorbringt, die sich dank ihrer gesetzmäßigen Bestimmtheit auf Gegenstände beziehen lassen. b) Fläche und Tiefe. Alle visuellen Inhalte entwickeln sich im Räume; jede Farberscheinung ist an eine Ausdehnung gebunden. Wo wir nun den visuellen Inhalt nicht als »bloße Empfindung« aufnehmen, sondern in ihm ein artikuliertes Gebilde erfassen, da können wir nicht umhin, auch den zugehörigen Raumkomplex als geglieder t anzusehen. Hand in Hand mit der Bewertung der sinnlichen Qualitäten nach ihrem Verhältnis zum Optischen und Haptischen geht also die Abschätzung der Raumwerte nach ihrer Stellung zwischen Fläche und Tiefe. Der konkret-anschauliche Raum, der sich damit auftut, unterscheidet sich vom geometrischen durch seine Zweidimensionalität. Denn was für die diskursive Vorsteilungsweise der Geometrie die Ausdehnung in der er sten Dimension bedeutet, das findet in der visuellen Raumanschauung kein Gegenstück. Hier fängt das Bewußtsein der Ausdehnung erst mit der Fläche an, und die eigentliche Raum gestalt entfaltet sich in der Beziehung dieser niedersten konkretanschaulichen Dimension zur nächst höheren, d. h. in dem Verhältnis von Flächen- und Tiefenwerten. Eigentümlich ist dabei, daß diese beiden Dimensionen durchaus nicht als homogen zu betrachten sind wie etwa die unter sich völlig gleichartigen Koordinaten des geometrischen Raumes; daß sie vielmehr in einem antithetischen Spannungsverhältnis, in einer polaren Wechselbeziehung zueinander stehen. Streng genommen dürfte man daher nicht einmal von einer »niedrigeren« und einer »höheren« Dimension sprechen. Denn Fläche und Tiefe sind heterogen und daher überhaupt nicht vergleichbar. Keine von ihnen darf innerhalb der Wechselbeziehung eine »Erweiterung« der anderen für sich in Anspruch nehmen; denn jede wirkt auf die andere beschränkend und wird selbst durch die andere beschränkt. Die Verbindung der beiden Dimensionen, aus welcher die anschauliche Raumgestalt hervorgeht, stellt sich also nicht als Fortgang von einer niedrigeren zu einer höheren Stufe dar (wie etwa in der Geometrie die Erweiterung der Linie zur Fläche, der Fläche zum Körper); sie vermittelt vielmehr einen Ausgleich zwischen zwei gegensätzlichen Ordnungen. c) Distinkte Einzel- und amorphe Einheitswerte; Zerteilung und Verschmelzung. Zu den sinnlich-elementaren und den räumlichen Werten gesellen sich die Werte der Glieder ung, – ein Begriff, der zu den früheren insofern eine notwendige Ergänzung bildet, als diese noch in keiner Weise das Verhältnis von »Ganzem« und »Teil berührten. Die Artikulation durchzieht das Sinnliche gleich einem Gewebe, dessen Struktur sich erkennen läßt, gleichviel ob man sie an einer einzelnen Masche oder einem größeren Komplex von Maschen beobachtet.

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Genau so kann auch das Verhältnis zwischen Fläche und Tiefe sowohl an einem einzelnen Ausschnitt als auch an der Gesamtheit des Werkes studiert werden. Die Frage nach dem » Abschluß« weist über den Ausgleich zwischen optischen und haptischen, zwischen Flächen- und Tiefenwerten hinaus. Sie enthält, wie sehr die Gliederung sich auch an sinnlichen und räumlichen Elementen bekundet, ein gesondertes, ausdrücklich zu formulierendes Problem. – Natürlich hindert dies nicht, daß mit der besonderen Form des Ausgleichs zwischen Optischem und Haptischem oder zwischen Fläche und Tiefe die Entscheidung hinsichtlich der Gliederungswerte unmittelbar zusammenhängt. 2. Die Sphäre des »erscheinenden Dings«. Die bisher erörterten Regionen (die der Artikulation, der Räumlichkeit und der Gliederung) entbehren noch jeder dinglichen Bedeutung. Sie gehören jener vordersten Schicht des Sichtbaren an, weiche, obwohl die Gegenstände sich in ihr » dar stellen«, doch selbst noch nichts Gegenständliches » enthält«. Erst die »Darstellungsbeziehung« weist, indem sie uns dazu bestimmt, das sinnlich und räumlich geformte und nach Einheit und Einzelheit gegliederte Gebilde als die visuelle Erscheinung eines » Dinges« aufzufassen, über die qualitative Gestaltung als solche hinaus. Sie eröffnet uns, parallel zu der qualitativen Sinnes er scheinung, die Welt des » er scheinenden Dings«. Diese gehört aber, eben sofer n sie er scheint, notwendig zur visuellen Gegenständlichkeit hinzu. Daher müssen wir sie in unsere Analyse miteinbeziehen und unsere früheren Beispielsfolgen (S. 450–456 [in dieser Ausgabe S. 366 –372]) überschreiten, welche, ihrem bloß einführenden Zweck entsprechend, nur die Schicht der rein sinnlichen Gestaltung berücksichtigt hatten. a) Schema und singuläre Qualität.

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Das »erscheinende Ding« ist stets ein singuläres Ding. Denn nur sofern es visuelle Eigenschaften, die notwendig singulär sind, trägt, ist es sichtbar. Umgekehrt müssen aber diese Eigenschaften, um ihre Zugehörigkeit zu dem Dinge zu erweisen, durch ein Schema desselben gebunden sein. Wie früher die haptischen und optischen Werte, stehen sich also hier zwei verschiedene Seiten der Dingerscheinung gegenüber: die schematische Formvorstellung und ihre singulare Erfüllung. Beide zusammen machen erst den Begriff des »Dinges« aus. Denn ein rein schematisches Gebilde ohne singulare Qualitäten käme dem Begriff eines bloßen Zeichens gleich, während singulare Qualitäten ohne schematische Bindung ein bloßes Aggregat bilden würden, dem jede »dingliche« Bedeutung fehlte. Wie nun jeder Stil zwischen Haptischem und Optischem, Fläche und Tiefe, zwischen distinkten Einzel- und amorphen Einheitswerten seine Entscheidung trifft, so schafft er auch einen besonderen Ausgleich zwischen der schematischen

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und der singulären Komponente des »Dings«. Die ägyptische Kunst z. B. hebt die singulären Verschiedenheiten zugunsten einer abstrakten Gleichartigkeit auf, indem sie für die darzustellenden Gegenstände feste Schemata bildet; der Impressionist, der gerade das Singulare allein für darstellenswert erachtet, sucht sich von allen formelhaften Bindungen zu befreien, da sie das reine »Sehen«, auf das er seine Dingauffassung ausschließlich gründet, begrifflich trüben würden. Die Klassik wiederum vereinigt das Allgemeine mit dem Besonderen zu jenem »mittleren Ausgleich«, aus dem die Dingform des » Typus« hervorgeht 19. b) Idealität und Realität. Das singulare und das schematische Prinzip gehören verschiedenen Or ten an, genau wie das optische und haptische verschiedenen Dimensionen. Während aber bei den sinnlich-elementaren Werten die Frage nach dem Orte sich auf die räumliche Stellung bezog, ist sie hier, gegenüber den Faktoren des »erscheinenden Dinges«, im ontolog ischen Sinne gemeint: Der singulären Eigenschaft Von der Art der »Dingauffassung« hängt die Möglichkeit einer symbolischen Dar stellung ab. Symbole sind Zeichen, und Zeichen erscheinen als Schemata. Der Grad, in dem die schematische Dingauffassung über die singulare siegt, ist daher maßgebend für die Möglichkeit, an die dargestellten Dinge Symbolbedeutungen zu knüpfen. In Ägypten bringt nicht nur der Schematismus eine Annäherung der dargestellten Dingwelt an die Welt der bloßen Zeichen mit sich; auch umgekehrt wird diese Annäherung wieder durch die bildhafte Schrift begünstigt, deren Zeichen vielfach schematischen Dinggebilden entsprechen. So scheint hier die Kluft zwischen Dingerscheinung und Zeichen, zwischen Bild und Schrift, fast völlig überbrückt. Innerhalb eines Bildes lassen sich Schriftzeichen als dargestellte »Dinge« behandeln, ohne dadurch ihre Bestimmtheit als Zeichen zu verlieren; während umgekehrt auch bildmäßig dargestellte Dinge die Bedeutung von »Zeichen« gewinnen können, ohne darum aufzuhören, als Dinge gestaltet zu sein. Bekannt ist z. B. jenes Relief des mittleren Reichs, auf welchem die Landesgötter die Pflanzen von Ober- und Unter-Ägypten um das Schriftzeichen »vereinigen«, schlingen. (Vgl. Heinr[ich] Schäfer, Von ägyptischer Kunst, Leipzig 1919, Taf. 24.) Hier erscheint die Hieroglyphe als »Ding«, nicht nur formal der Komposition des Ganzen eingegliedert, sondern den dargestellten Göttern und Pflanzen auch gegenständlich zugeordnet. Allerdings, ihre Bedeutung als Zeichen weist über die konkrete Anschauung hinaus und muß als begrifflich bekannt vorausgesetzt werden; denn innerhalb der dinglichen Schicht wird das Symbol nicht in seiner stellver tretenden Bedeutung erfaßt, sondern einfach nur als anschauliches »Ding«, das aus einem Ausgleich zwischen Schematisierung und Individualisierung hervorgeht. Indessen, gerade dadurch, daß dieser Ausgleich hier zugunsten der Schematisier ung erfolgt, wird wiederum die stellver tretende Funktion, die symbolische Beziehung, überhaupt er möglicht. Denn jegliche Symbolik setzt eine relativ schematische Richtung der Dingauffassung voraus. Zum mindesten muß das Schema soweit zugelassen sein, daß die Darstellung »typischer« Gegenstände noch möglich bleibt. Auch dann handelt es sich freilich nur um die Darstellung symbolischer Gegenstände, um die Darstellung von Dingen, an welche sich mittelbar (dank ihrer »Typik«) eine symbolische Bedeutung knüpft, – nicht, wie in dem ägyptischen Beispiel, um die unmittelbare Darstellung reiner Symbole, die selbst als Dinge erscheinen. Die Probleme der Symbolik sind im vorstehenden nur soweit erörtert worden als sie mit denen der Dingauffassung zusammenhängen. Weitere Bemerkungen siehe S. 469, Anm. 1 [in dieser Ausgabe S. 386, Anm. 24]. 19

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und dem allgemeinen Schema kommt eine verschiedene Seins-Ar t zu. Das singulare Moment ist eine reelle Gegebenheit, das Schema ein ideelles Gebilde. Nur das Einzelne aber, zu dessen Wesen es gehört, nur einmal da zu sein, ohne in der gleichen Weise je wiederzukehren, ist – im Augenblick seines Daseins – tatsächlich vorhanden; während das Allgemeine, Abstrakte, das jenem Wechsel der Einzeldaten enthoben ist, auch dem Dasein nicht eigentlich zugehört. In diesem Sinne liegt jedes Schema jenseits des reell Vorhandenen, jedes singulare Moment diesseits des ideell Bestehenden. Das »Ding« aber, das aus einer Vereinigung von Schema und singulärer Erscheinungsweise hervorgeht, befindet sich in einer mittleren Zone zwischen den beiden Welten. Bald relativ schematisch, bald relativ singulär gestaltet, vereinigt es ideellen Bestand mit reellem Dasein, wobei für die Proportion dieser Verbindung unendliche Möglichkeiten bestehen: Die Lösung der Klassik ruht wieder in der Versöhnung des reellen und des ideellen Moments in einem mittleren Ausgleich. Diesseits und jenseits dieser Lösung aber spricht man von »Idealismus« und »Realismus« – je nachdem, zugunsten welcher der beiden Seiten die Entscheidung fällt. Beide Ausdrücke sind jedoch vage, weil – bei der notwendigen Wechselbeziehung von Ideellem und Reellem – eine rein idealistische und eine rein realistische Gestaltung in gleicherweise unmöglich sind 20. Niemals ist einer der beiden Faktoren alleinherrschend: weder in der ägyptischen Kunst, wo das ideelle Schema, gerade indem es die Dinggestalt entscheidend bestimmt, nicht umhin kann, in einer großen Anzahl von »Exemplaren« reell ins Dasein zu treten; noch im Impressionismus, wo der Künstler in seinem technischen Verfahren zwar auf eine schematische Bindung des Singulären ausdrücklich verzichtet, für die eigentliche Bildwirkung aber dennoch mit der Fähigkeit des Beschauers rechnet, zu den singulären Qualitäten das ergänzende Schema zu finden.

c) »Trennung« und »Verbindung«. Fragen wir nun, in welcher Weise die singulären Momente ihr Dasein entfalten, und wie ihnen gegenüber die schematischen Gebilde ihren Bestand bewähren, so finden wir auf der einen Seite ein unausgesetztes Verfließen (denn die singulären Inhalte gehen stetig ineinander über): – auf der anderen Seite eine strenge Sonder ung (denn die Schemata binden und trennen die gegebenen Qualitäten je nach ihrer dinglichen Zugehörigkeit) 21. Wo daher die Besonders für gewisse Formen des sogenannten »Realismus« ist es bezeichnend, daß sie zur Charakteristik des Individuellen eine feste Typik ausbilden, also in hohem Maße schematischideelle Momente verwenden. Nur der Impressionismus treibt die Auflösung der Schemata so weit, daß er den ideellen Bestand bloß noch gleichsam als Grenzwert gelten läßt. 21 Es liegt nahe, in der hier entwickelten Polarität eine bloße Wiederholung des früheren Begriffspaares »Zerteilung und Verschmelzung« zu erblicken. In Wahrheit handelt es sich um die 20

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künstlerische Entscheidung zugunsten des Singulären und Reellen ausfällt, dort überwiegt der gleichmäßig-qualitative Zusammenhang und überspinnt die Verschiedenheiten der Dingformen. (Äußerster Fall: Impressionismus.) Wo dagegen die Auffassung zum Schematisch-Ideellen neigt, dort erscheinen die Dinge scharf voneinander geschieden, und die Einzelqualitäten ordnen sich dieser Gruppierung unter. (Äußerster Fall: ägyptische Kunst.) – In der Lösung der Klassik halten sich »Verbindung« und »Sonderung« die Wage: Der schematische Anteil an der Dingauffassung führt zwar zu einer Trennung einzelner Teile; da aber der verbindende Faktor in gleichem Maße mitspricht, sind die gesonderten Gebilde lediglich als Teile getrennt, d. h. sie schließen sich, unbeschadet oder gerade ver mittels ihrer Sonderung, zu einem übergreifenden Ganzen zusammen. Diese Gleichwertigkeit in der Wechselbeziehung von Ganzem und Teil bildet ein entscheidendes Merkmal der sogenannten »organischen« Gestaltung. Allerdings betrifft es nur deren Außenseite. Denn das Wesen des Organischen erschöpft sich nicht in den Bestimmungen des »erscheinenden Dings«, sondern vor allem in der Form des »sich äußernden Lebens«.

3. Die Sphäre des »sich äußernden Lebens«. Die vorderste Schicht des Visuellen, die der rein sinnlichen Gestaltung, war mit der nächstfolgenden, der Schicht des »erscheinenden Dings« durch die » Dar stellungsbeziehung« verbunden. Das »erscheinende Ding- kann seinerseits auf die Welt des »Gefühls« oder »Lebens« durch die » Ausdr ucksbeziehung« verweisen. Handelte es sich dort um das Verhältnis der visuellen Erschein ung zum visuell Erschein enden, indem wir die rein sinnliche Gestalt als Medium benutzten, um mittels ihrer die sich darstellenden Dinge zu erfassen, – so müssen wir jetzt von der Außenseite, welche uns das Ding als Erscheinung darbietet, auf dessen Inneres, sofern es sich darin ausdrückt, schließen. Wir entfernen uns damit um eine weitere Stufe von dem rein Visuellen, wie es uns die vorderste Schicht bot. Denn während das »erscheinende Ding« sich noch sichtbarlich dar stellte, wenn es auch selbst (als Ding) nicht im Sichtbaren aufg ing, so hat das » Gefühl« gar keine direkte Beziehung zum Sichtbaren mehr; denn es läßt sich nur insoweit mittelbar wahrnehmen, als das » Ding«, in dem es sich ausdrückt, seinerseits » er scheint«. Gerade in dieser vermittelten Weise gehört es aber notwendig zum phänomenologischen Bestand des Visuellen hinzu.

Anwendung der gleichen Beziehungsform auf ein anderes Inhaltsgebiet. Die Ergebnisse sind in beiden Fällen zwar analog, aber nicht identisch. Vgl. S. 456, Anm. [recte: S. 465, Anm.; in dieser Ausgabe S. 381, Anm. 19.]

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a) »Statuierung« und »Belebung«.

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Der Begriff des » sich äußer nden Gefühls« enthält eine ähnliche Antithese wie der des » er scheinenden Dings«. Mußte dort das Ding, damit es sich sichtbar darstellen könne, singuläre visuelle Eigenschaften tragen, so muß hier umgekehrt das Gefühl, um mimisch ausdrückbar zu sein, sich zu einer gewissen Formel verfestigen: Ein Gefühl, das in keiner Weise »statuiert« und damit gewissermaßen zum Stillstand gebracht ist, bleibt stets ein »unausdrückbares« Gefühl; ein Status anderseits, in dem sich keinerlei Gefühl verfestigt, bleibt eine »ausdrucklose« Gebärde. Dort fehlt dem lebendigen Gefühl die Formulierung, also geht es gar nicht in die Ausdrucksbeziehung ein; hier der Formel die Belebung, die Ausdrucksbeziehung bleibt also leer und funktionslos. Erst aus der Verbindung beider, aus der Auseinandersetzung zwischen Belebung und Statuierung, geht eine Gefühlsform, welche sich »ausdrücken« kann, hervor. – Die also geforderte Verbindung kann aber wieder in der mannigfachsten Weise variieren: Der klassischen Lösung entspricht die einfache Ausübung einer Körperbewegung (man denke etwa an den »Diskobol«); denn hier gleichen sich Lebendigkeit und Status in dem schlichten Vollzuge der vorgeschriebenen Handlung aus. Diese völlige Versöhnung ist aber aufgehoben, sobald die Lebendigkeit dasjenige Maß das zur einfachen Ausübung der Handlung gehören würde, entweder unerfüllt läßt oder überschreitet: Läßt sie es unerfüllt, wie in der ägyptischen Kunst, so gewinnt die Formel das Übergewicht; die Handlung wird nicht mehr lebendig »ausgeübt«, sondern durch eine bloße » Stellung« bezeichnet. Das Bild vermittelt daher, streng genommen, gar nicht mehr die Handlung selbst, sondern gleichsam nur ihren Beg r iff. Durch diese »Aufhebung« alles Lebendigen in der Formel gelangt aber die Ausdrucksbeziehung an diejenige Grenze, wo sie in die Symbolbeziehung überzugehen beginnt. Allerdings ist dieser Schritt noch nicht selbst vollzogen; denn bei aller Formelhaftigkeit enthalten die »Stellungen« der Ägypter doch noch jenes Minimum an Belebung, welches erforderlich ist, um sie unmittelbar als Stellungen eines Streitenden, Sitzenden usw. zu erkennen. (Zum Wesen des reinen Symbols gehört es da- gegen, daß der Zusammenhang zwischen Zeichen und Bezeichnetem nicht einsichtig gegeben, sondern willkürlich gesetzt ist 22. Aus dem einfach ausgeübten » Akt« der Klassik, der bei fortschreitender »Reduktion« des Lebendigen allmählich zur ägyptischen »Stellung« erstarrte, entwickelt sich auf der anderen Seite, sobald das lebendige Gefühl zu überwiegen beginnt, die gefühlsgetragene » Geste« 23. Eine Gestalt faltet z. B. die Hände oder hebt die Vgl. [Edmund] Husserl, Logische Untersuchungen [2 Bde. Halle 1900–1901); ferner auch [Georg Wilhelm Friedrich] Hegels Vorlesungen über Ästhetik [hrsg. von Heinrich Gustav Hotho. 3 Bde. 2Berlin 1842–1843 (= Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Werke. Bd. 10,1–3)]. 23 Der allgemeine Unterschied zwischen »Akt« und »Gestus« ist folgender: Der »Akt« geht in seinem Vollzuge völlig auf; der »Gestus« vermittelt, indem er sich vollzieht, noch einen geistigen 22

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Arme; – für die klassische Auffassung würde die Lebendigkeit sich hier im einfachen Vollzuge des Armhebens oder Händefaltens erschöpfen. Nun sind aber die Finger aus Verzweiflung verkrampft; die Arme sind »flehentlich« erhoben. Da vermittelt die Ausdrucksbeziehung nicht nur den sich vollziehenden Akt als solchen, sondern zugleich den Modus seines Vollzuges; und die Lebendigkeit beginnt, indem sie der Handlung eine seelische Färbung gibt, die Statuierung zu überflügeln. Noch bekundet sich zwar dieser Überschuß an Gefühl nur in der Modifikation der Formel (wie ja auch auf der Erscheinungsseite des Dings das Schema auf dieser Stufe nur singulär veränder t, nicht aber im Singulären aufgehoben wird), – ein formelhafter Kern ist also noch immer vorhanden. Bald aber wird dieser Kern zum bloßen Substrat und verliert seine Eigenbedeutung, wie z. B. in den Spätwerken Rembrandts, wo die Gesten nichts Eigentliches mehr »besagen«, sondern der ganze Ausdruck in der Modalität des Gestus, in der Ar t seiner Ausführung liegt. – Die äußerste Stufe aber ist erreicht, wenn die »Modalität«: des Gefühls jede Formel, und damit jede Möglichkeit einer Gestensprache in sich auflöst, so daß der Ausdruck sich in eine bloße »Stimmung« verwandelt. Wir stoßen damit von neuem auf einen Grenzfall der Ausdrucksgestaltung, und zwar auf das Gegenstück zur oben besprochenen ägyptischen Auffassung. Denn die Stimmungsqualitäten werden, genau wie früher die symbolischen Bedeutungen, durch die dinglichen Gebilde nicht eigentlich »ausgedrückt«, sondern scheinen nur gleichsam an ihnen zu »haften«. Dieses »Anhaften« aber, dessen Natur im Falle der Symbolik beg r iff lich, im Falle der Stimmung gefühlsmäßig ist, liegt zunächst außerhalb der künstlerischen Gestaltung, erweist sich also ihr gegenüber als Zufall. Der Ägypter überwindet nun diesen willkürlichen Einschlag, indem er der symbolhaften Formel ein Minimum an Belebung einflößt, wodurch die symbolische Beziehung in eine (wenn auch noch so schwache) Ausdrucksbeziehung übergeht. In entsprechender Weise muß auch der Impressionist den stimmungsmäßigen Gefühlen, falls er ihnen künstlerischen Bestand

Inhalt. Die Art dieser Vermittlung kann nun, je nachdem ob sie sich auf eine Beg r iffs- oder eine Gefühlsbedeutung bezieht, symbolisch oder mimisch sein. Ist sie symbolisch, so weist sie über die visuelle Sphäre hinaus und entzieht sich mitsamt ihrem Inhalt der künstlerischen Gestaltung. (Eine symbolische Geste braucht sich daher hinsichtlich ihrer Gefühlsfor m von der Ausübung eines »Aktes«, einer schlichten »Handlung«, gar nicht zu unterscheiden.) Hat hingegen der Gestus mimische Bedeutung, so liegt das, was sich über den einfachen Akt erhebt, innerhalb der Ausdrucksbeziehung selbst, ist also der Gefühlsform des Kunstwerks immanent. Im übrigen ist zu beachten, daß die Möglichkeit, an eine Handlung eine Zeichenbedeutung zu knüpfen und sie dadurch zu einer symbolischen Geste zu machen, ein bestimmtes Maß von »Statuarik« zur Bedingung hat: daß also die Symbolbeziehung, wenn sie auch selbst in den eigentlichen »Ausdruck« nicht eingeht, doch eine bestimmte Art der Ausdrucks gestaltung voraussetzt. (Vgl. die entsprechende Forderung in der dinglichen Sphäre, oben S. 465, Anm. [in dieser Ausgabe S. 381, Anm. 19.])

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verleihen will, ein Minimum an Formelhaftigkeit zuordnen, wodurch sie (wenn auch noch so schwach) »statuiert« werden 24. b) Objekt und Subjekt.

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Das Begriffspaar des Subjektiven und Objektiven, das sich für die Bezeichnung der kategorialen Urantithese nicht als geeignet erwiesen hatte, weil es sich nicht formal deduzieren ließ, hat seine berechtigte Stelle innerhalb der materialen (und daher speziellen) Region des »sich äußernden Lebens«. Denn sofern man unter dem Subjekt die Quelle der Lebensäußer ung (und nicht: das erkenntnistheoretische »Ich«), unter dem »Objekt« das Produkt der Lebensäußer ung (und nicht: den erkenntnistheoretischen »Gegenstand«) versteht, sind Subjekt und Objekt gleichsam die gegensätzlichen »Orte«, denen die beiden Pole der Ausdrucks gestaltung, »Gefühl« und »Status«, zugehören. Jeder Verbindung zwischen Statuierung und Belebung entspricht daher ein Ausgleich zwischen der fertigen Welt der Objekte und der ewig im Flusse begriffenen Welt des Subjekts. – Die mannigfachen Formen dieser Auseinandersetzung genau zu erörtern, ist für uns nicht erforderlich, um so weniger, als die hierher gehörigen Fragen von den Vertretern der modernen »Lebensphilosophie« (insbesondere von Simmel) ausgiebig behandelt worden sind 25.

24 Otto Baensch hat in einer sehr anregenden Studie (»Kunst und Gefühl«, Logos Bd. XII [(1923/24), S. 1–28]) die »Stimmungen« als »objektive Gefühle behandelt. Wir können uns seiner Auffassung nicht restlos anschließen, da wir, sofern von Kunstwerken die Rede ist, die Unterscheidung der im Kunstwerk gestalteten Stimmungen von den bloß » anhaftenden« für notwendig halten. Von dieser Unterscheidung aus sind zwei Hauptthesen B[aensch]s anzugreifen: 1. daß die »Stimmungen« als »objektive Gefühle« von den »ausgedrückten« (seelischen) Gefühlen streng getrennt seien. – Nach unserer Auffassung bilden sie vielmehr, soweit sie gestaltet sind, einen Grenzf all der »ausgedrückten Gefühle«, und man kann (durch stetige Veränderung der Proportion von Belebung« und »Statuierung«) die eine Gefühlsform kontinuierlich in die andere überführen. Die Stelle des Übergangs nimmt die Gefühlsform des späten Rembrandt ein (vgl. oben S. 469 [in dieser Ausgabe S. 385]), – die sich denn auch der B[aensch]schen Alternative nicht fügt. 2. daß es der Sinn aller Kunst sei, »objektive Gefühle« (d. h. insbesondere: »Stimmungen) einzufangen und sie dadurch dem Bewußtsein in allgemeingültiger Weise zugänglich zu machen. – Hiergegen ist einzuwenden: Stimmungen zu » gestalten[«], ist das Ziel nur einer beschränkten Auswahl von Kunstepochen, kann daher nicht zur Aufgabe aller Kunst gemacht werden. Die – mehr oder weniger – allen Kunstwerken » anhaftenden« Stimmungswerte aber liegen wieder außerhalb des künstlerischen » Sinnes«, sind also (um B[aensch]s eigenen Ausdruck zu gebrauchen) nicht »allgemeingültig«. 25 Das eigentliche Dogma der »Lebensphilosophen« brauchen wir darum nicht zuzugeben: die Erhebung eines systematischen TeiIgebietes, wie das des »sich äußernden Lebens«, zur Bedeutung eines metaphysischen Ur spr ungsgebiets.

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c) Starre Isolierung und lebendiges Verfließen. Die subjektive Welt der Gefühle entfaltet sich in einem stetigen Fluß und bedarf der Statuierung in Formeln, d. h. der objektivierenden Sonderung. Die objektive Welt der Formeln wiederum ruht in der starren Isolierung ihrer Gebilde, bedarf daher der Belebung durch das Gefühl, das vereinheitlichend in sie »einströmt«. Aus der Auseinandersetzung zwischen diesen beiden »Ordnungen«, der starrisolierenden und der Iebendig-verschmelzenden, gehen die verschiedenen Formen des Ausdruckszusammenhangs hervor; von ihnen seien (im Anschluß an unsere früheren Beispielsfolgen) wieder nur die prägnantesten Fälle besprochen: Die isoliert zu fassende »Stellung« einer ägyptischen Figur baut sich aus den gleichfalls isoliert zu fassenden »Stellungen« ihrer Glieder auf. Eine bestimmte Handstellung gesellt sich zu einer bestimmten Armstellung; zu dieser tritt wieder eine bestimmte Stellung des Rumpfes, eine bestimmte Stellung der Beine usw. So besteht eine Regel der Anordnung, welche die Stellungen der einzelnen Teile zur Stellung der Gesamtfigur verbindet; und auf die gleiche Weise vereinigen sich mehrere Gesamtfiguren wieder zur Stellung« einer gemeinsamen Handlung (etwa eines »Zuges«). Die »starre Isolation« herrscht also vor, und das Prinzip des »lebendigen Verfließens« ist zu jener » Regel der Anordnung« geworden, welche auf der Grenze zwischen Symbolik und Ausdrucksgestaltung liegt. Die klassische Kunst der Griechen schafft demgegenüber einen lebendigen Aktionszusammenhang. In ihren Kampfdarstellungen fällt jeder Figur (bzw. jeder Gruppe) eine bestimmte »Rolle« innerhalb des Ganzen zu; gerade in der Ausübung der ihr zugeordneten Handlung ist aber jede Einzelgestalt wieder gesondert faßbar, – ja innerhalb ihrer selbst läßt sich die Aktion jedes einzelnen Gliedes (das Zugreifen einer Hand, das Auftreten eines Fußes) herauslösen und isoliert betrachten. Es sind also relativ selbständige Teilhandlungen, die innerhalb der Gesamthandlung ergänzend zueinander hinzutreten; und das Prinzip des »lebendigen Verfließens« behauptet sich gegenüber der isolierenden Gestaltung in der funktionalen Wechselbeziehung, die alle einzelnen Gebilde verbindet. Sobald nun die einfache Handlung durch den Gestus abgelöst wird, und der Aktionszusammenhang ein seelisches Zentr um erhält, hört die relative Selbständigkeit der Teile gegenüber dem Ganzen auf. Die einzelnen körperlichen Handlungen spielen ihre Rolle nur noch um der mimischen Bedeutung willen (Verkrampfung der Finger, nach oben gerichteter Blick). Als bloße »Äußerungen« des Seelischen weisen sie auf eine übergreifende, gefühlsmäßige Einheit hin, der sie ihren eigentlichen Sinn verdanken. Während aber hier der Aktionszusammenhang noch als Mittel des lebendigen Ausdrucks (wenn auch nicht mehr als dessen Ziel) Beachtung findet, löst er sich in dem eigentümlichen »Fluidum«, das auf den Spätwerken Rembrandts alle Ge stalten miteinander verbindet, fast völlig auf. Noch ist zwar eine zusammenhängende Handlung gegeben; denn das »Fluidum« spielt zwischen handelnden

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Personen, die voneinander gesondert sind. Aber diese Sonderung ist nur gesetzt, um in der verfließenden Einheit wieder aufgehoben zu werden. So bildet das »Fluidum« Rembrandts den Übergang zu der reinen impressionistischen »Stimmung«, die ja keinerlei Trennung innerhalb des lebendigen Verfließens duldet. (Wie denn auch das Rembrandtsche »Helldunkel« zwischen der »kubischen« Raumgestaltung und dem »Pleinair« gerade in der Mitte liegt 26.[)]

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Die Ergebnisse unserer Analyse lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Die Sphäre des Visuellen teilte sich uns in drei verschiedene Schichten, deren jede wiederum drei verschiedene Regionen enthielt. So ergab sich ein Schema von insgesamt neun Stellen. Durch Anwendung auf diese Stellen ließ sich die Form der kategorialen Antithese in eine Vielheit konkreter Probleme verwandeln. Die »Tafel« dieser neun Probleme weist eine doppelte Beschränkung auf, eine willkürliche und eine notwendige. Willkürlich ist es, daß wir bei der Aufweisung des regionalen Schemas nur die visuelle Erscheinungssphäre berücksichtig; haben; doch wie schon aus gelegentlichen Anmerkungen hervorging, lassen sich, parallel zu den Bestimmungen für die bildende Kunst, auch die Erscheinungssphären der anderen Künste analysieren. Notwendig aber ist es, daß innerhalb der visuellen Sphäre die Unterschiede von Architektur, Malerei und Plastik unberücksichtigt blieben; denn sie haben mit den künstlerischen Problemen (im strengen Sinne des Wortes) gar nichts zu tun. Unsere neun Begriffspaare gründen sich lediglich auf das for male Pr inzip, das die »künstlerische Leistung« überhaupt möglich macht, und auf die phänomenolog ischen Bedingungen, unter denen diese Leistung in Erscheinung tritt; nicht aber auf die empir ischen Bedingungen, unter denen diese Er scheinung realisier t wird. Die Unterschiede von Architektur, Malerei und Plastik treten aber erst unter dem letzteren Gesichtspunkt hervor, dann nämlich, wenn man die Frage aufwirft: Welche Beziehung besteht zwischen den ideellen Elementen, aus denen die künstlerische Erscheinung des Werkes sich aufbaut, und den reellen Elementen, die seine empirische Existenz begründen? Welche Beziehung z. B. zwischen dem im Kunstwerk gestalteten Räume, und dem realen Raum, dem es als empirischer Gegenstand angehört 27? Daß die Entscheidung hierüber diesseits der künstlerischen Probleme liegt, geht schon daraus hervor, daß unsere neun Begriffspaare sich auf alle drei Kunstarten in gleicher Weise anwenden lassen. Daß dessenungeachtet die »Tafel« unserer neun Begriffspaare – gemessen an dem Reichtum der künstlerischen Erscheinungen, dem sie gerecht werden soll – einen recht dürftigen Eindruck macht, liegt nur zum Teil an der Unvollkommenheit unserer Ableitung. Gewiß enthält unsere Scheidung der einzelnen Regionen nur die Grundzüge einer Analyse des Visuellen, und es läßt sich vertiefen und verfeinern, was hier nur im Rohen gekennzeichnet wurde. Allein, es ist zu bedenken, daß die neun Antithesen lediglich die Gr undprobleme darstellen sollen, aus denen sich die Einzelprobleme in unendlicher Mannigfaltigkeit entwickeln lassen. Wir haben 26 27

Vgl. Riegl, Das holländische Gruppenporträt [siehe Fn. 3]. Die hierher gehörigen Fragen hoffe ich bei späterer Gelegenheit ausführlich zu beantworten.

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ja oben gezeigt, wie jede »Lösung« eines Grundproblems einer anderen »Lösung« gegenübergestellt werden kann, und wie aus der Antithetik beider ein neues, nunmehr spezielles Problem erwächst (vgl. S. 457/58 [in dieser Ausgabe S. 373 f.]). Diese Möglichkeit einer unendlichen Differenzierung muß man berücksichtigen, wenn man entscheiden will, ob unsere Bestimmungen imstande sind, der Fülle der historischen Erscheinungen gerecht zu werden. III. Vor allen besonderen Einwendungen wird man ein ganz allgemeines Bedenken gegenüber unserer Ableitung geltend machen: den Zweifel, ob sie überhaupt einen Zweck habe. Daß der Kunstwissenschaftler sich bei seiner konkreten Arbeit auf abgeleitete Begriffe »festlege«, wird kein Verständiger erwarten oder auch nur wünschen. Wozu dann aber eine »Tafel der künstlerischen Grundprobleme«? Sie vermittelt uns einen Einblick in allgemeine Gesetzmäßigkeiten, welche wissenswert sind, ganz unabhängig von der Frage, wie groß ihr methodischer Nutzen sei. Sie läßt uns z. B. erkennen, daß innerhalb der sinnlich-qualitativen Gestaltung jede Entscheidung zugunsten der haptischen Werte eine entsprechende Bevorzugung der Fläche vor der Tiefe und der »Zerteilung« vor der »Verschmelzung« im Gefolge hat; daß ferner mit der Gesamtgestaltung des Qualitativen die Art der Dingauffassung notwendig zusammenhängt, und daß beide wieder mit der Ausdrucksgestaltung in unlösbarer Beziehung stehen. In demselben Maße, wie z. B. die haptischen Werte vor den optischen vorherrschen, muß auch die schematische Dingauffassung über die singuläre siegen, der statuierte Ausdruck über den »belebten«. Innerhalb der dinglichen Sphäre selbst aber folgt wieder aus jeder Bevorzugung der »Schematik« eine zur »Idealität« neigende Auffassung, – nicht anders als innerhalb der Ausdrucksgestaltung, wo jede Zunahme der »Statuierung« eine zunehmende »Objektivierung« bedingt usw. Die Einsicht in diese Gesetzmäßigkeiten bleibt natürlich nicht ganz ohne methodischen Nutzen. Sie läßt sich zur Erprobung kunstwissen schaftlicher Urteile verwerten. Hat man z. B. bei der Analyse eines Kunstwerks die Gestaltungsweise zunächst im Sinnlich-Elementaren bestimmt, so involviert diese Bestimmung notwendige Folgen für die Art der Raumbildung und der Gliederung, der Dingauffassung und der Ausdrucksgestaltung. Die Kenntnis der gesetzmäßigen Beziehungen ermöglicht also einen vorgreifenden Schluß von dieser einen Bestimmung auf alle anderen. Stimmt das Ergebnis dieses Schlusses mit den Tatsachen nicht überein, so erweist sich dadurch die erste Bestimmung, die Analyse des Sinnlich-Elementaren, als unzureichend; und die Kenntnis der apriorischen Gesetzmäßigkeiten gewinnt damit die Bedeutung eines methodischen Regulativs. Der durchgängige Zusammenhang zwischen den verschiedenen Problemen hat seine letzte Wurzel darin, daß sie alle schließlich nur besondere Ausformungen des Urproblems »Fülle« und »Form« sind. – Außer an den bisherigen »Orten«

473

390

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bewährt sich aber das Urproblem noch an einer weiteren »Stelle«, die wegen ihres besonderen Charakters jetzt getrennt von den übrigen betrachtet werden soll:

Dingerscheinung und Ausdrucksgehalt.

474

Die Sphäre der »sinnlichen Erscheinung« war mit der des »erscheinenden Dings« durch die Dar stellungsbeziehung verbunden, die Sphäre des »erscheinenden Dings« mit der des »sich äußernden Lebens durch die Ausdr ucksbeziehung verknüpft. Nun geht sowohl die Erfassung der Dinggestalt als auch die des Ausdrucksgehaltes auf ein einseitig bestimmtes Ziel aus. Infolgedessen verlaufen beide, die Darstellungs- und die Ausdrucksbeziehung, in einseitiger Richtung: Jene tendiert von den singulären Qualitäten zum allgemeinen Schema; denn indem sie »darstellt«, ist es ihr um den »Bestand« des Dinges zu tun, das in singulärer Weise »erscheint«. Diese wiederum tendiert von dem formelhaften Status zum lebendigen Gefühl; denn indem sie »ausdrückt«, will sie das eigentümliche »Leben« vermitteln, das sich in der »Äußerung« bekundet. Betrachtet man nun beide Richtungen sub specie der kategorialen Urantithese von Fülle und Form, so erkennt man, daß das Ziel der Dar stellungsbeziehung (das allgemeine Schema) auf seiten der »Form«, – das der Ausdr ucksbeziehung aber (das lebendige Gefühl) auf Seiten der »Fülle« liegt. Und so gesellt sich zu den verschiedenen Polaritäten, die ihre Spannung innerhalb der einzelnen Regionen auswirken, noch eine besondere Rivalität zwischen den Regionen der Dinger scheinung und des Ausdr ucksgehaltes als solchen. Wo daher die künstlerische Entscheidung zugunsten der »Form« (und damit zugunsten des Haptischen und der Fläche, des Schematischen und des Ideellen, der Statuierung und des Objektiven) ausfällt und die »Fülle« mit allen ihren Spezifikationen dagegen zurücktritt, – dort hat auch die Dinglichkeit als Ganze notwendig das Übergewicht über den Ausdr uck. Als Beispiele können der Stil der italienischen Frührenaissance und die archaische Kunst der Griechen (die »Ägineten«, der Delphische »Wagenlenker«) dienen. In dem Maße hingegen, wie der Zeiger zugunsten der »Fülle« ausschlägt (und damit zugunsten des Optischen und der Tiefe, des Singulären und des Reellen, des Gefühls und der Subjektivierung), lenkt auch der Ausdr ucksgehalt die eigentliche Aufmerksamkeit auf sich und vermindert die Bedeutung der Dinglichkeit. Am weitesten wird diese Entwer tung der Dar stellungsbeziehung natürlich vom Impressionismus getrieben, der der schematischen Gegenständlichkeit der Dinge jede künstlerische Bedeutung nimmt. – Und wiederum bietet die ägyptische Kunst mit ihrer völligen Entwer tung der Ausdr ucksbeziehung hierzu das genaue Gegenstück. – Die klassische Kunst aber entscheidet sich weder für die Dinglichkeit noch für den Ausdrucksgehalt, sondern indem sie keine der beiden Sphären ausdrücklich bevorzugt, schafft sie zwischen Darstellungs- und Ausdrucksbeziehung jenen eigentümlich schwebenden Ausgleich.

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Zum Schluß fassen wir nochmals die Grundsätze zusammen, die unserer Ableitung die Richtung gaben. Wir behaupten: Alles kunstwissenschaftliche Denken, insbesondere alle Reflexion auf künstlerische Probleme, gründet sich auf ein doppeltes methodisches Postulat: auf die Forderung einer grundlegenden Antithetik, – einer Spannung, von der aus die künstlerischen Erscheinungen sich als »Leistungen« deuten lassen; und auf die Forderung eines regionalen Schemas, welches die Anwendung der Antithetik auf Erscheinungen möglich macht. Wie dieses doppelte Motiv (das Interesse an den »Regionen« und an der »Antithetik«) im kunstwissenschaftlichen Denken wirksam ist, mag an den methodologischen Bemühungen einiger neuerer Kunstforscher belegt werden. Indem wir nachweisen, wie bei ihnen – bald deutlich, bald verworren, – bald rein, bald vermengt mit vorgefaßten Theorien – die beiden von uns hervorgehobenen Postulate zum Ausdruck kommen, finden wir zugleich Gelegenheit, unsere Grundsätze kritisch zu bewähren. D. Kritischer Exkurs 28. I. Strzygowski hat zum Zweck »planmäßiger Kunstbetrachtung« ein »System« konstruiert, das er als »heuristisches Prinzip zur Förderung allseitiger Erkenntnis« empfiehlt 29. Er will also ein regionales Schema bieten, welches die für den künstlerischen Gegenstand wesentlichen Momente aufzählt und so den Kunstforscher vor der Gefahr hütet, eine irgendwie wesentliche Seite des Objekts zu übersehen. Betrachten wir nun aber die Tafel, die Strzygowski uns vorführt, so finden wir, daß sie die Befugnisse eines bloßen Wegweisers, der einfach auf die verschiedenen Erscheinungsklassen aufmerksam macht, weit überschreitet. Sie will zugleich Richtlinien für die Deutung der Erscheinungen geben:

Es sei ausdrücklich bemerkt, daß die Kritik, die wir im folgenden an einigen Kunsthistorikern üben, sich ausschließlich gegen das von ihnen aufgestellte methodische Prog ramm, nicht gegen die von ihnen geleistete Arbeit richtet. Eine Methode beherrschen und über ihre Voraussetzungen nachdenken, ist zweierlei. In die Reflexion, die der Arbeit folgt, können sich Fehler einschleichen, ohne daß die Bedeutung der Arbeit selbst dadurch beeinträchtigt wird. Dies gilt insbesondere für Wölfflin und Frankl. – Im Falle Strzygowski allerdings, wo die methodischen Überlegungen dazu bestimmt sind, die eigentliche Arbeit zu lenken, wird jeder Unklarheit in der Methodenlehre eine Unsauberkeit in der Arbeitsweise notwendig entsprechen. 29 [Josef Strzygowski: »Ostasien im Rahmen vergleichender Kunstforschung«. In:] »Ostasiatische Zeitschrift« II, 1913 [S. 1–15, hier S. 10]. Vgl. ferner [ders.: »Das kunsthistorische Institut der Wiener Universität«. In]: »Die Geisteswissenschaften« 1. (einziger) Band [(1913), S. 12–15], sowie die seither erschienenen Arbeiten Strzygowskis. 28

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Bedeutung

!

%

Welt

#

1. Material und Technik

Erscheinung

!

Mensch

3. Gestalt

Subjektive Freiheit

5. Inhalt

4. Form

Es muß stutzig machen, daß in einem Schema, das heuristischen Zwecken dienen soll, Begriffe wie »objektive Gebundenheit« und »subjektive Freiheit« als leitende Gesichtspunkte verwendet werden. Wenn ein Teil der Erscheinungen, auf die man zu achten hat, der »objektiven Gebundenheit«, ein anderer Teil der »subjektiven Freiheit« unterstellt wird, so besteht ja innerhalb des Schemas selbst eine Spannung. Und in der Tat sieht Strzygowski im »Gegenstand« und in der »Gestalt« diejenigen Momente, die dem Künstler von außen her gegeben sind, – in der »Form« und im »Inhalt« dasjenige, was er, aus dem eigenen Innern schöpfend, in sie hineinlegt: Der »Gegenstand« als solcher sei durch die Kultur bedingt, in die der Künstler sich gestellt sehe; die »Gestalt« finde er in der umgebenden Natur vor, mag es sich nun um Formen des menschlichen Körpers oder um vegetabile Elemente handeln; gegebenenfalls würden Gestaltmotive auch von einer schon bestehenden Kunst (etwa der Antike) übernommen. All diesen äußeren Gegebenheiten stehe aber der konzipierende Geist gegenüber, der sich in »Form« und »Inhalt« äußere. – Damit wird deutlich, daß das ganze System von einer vorgefaßten psychologischen Theorie des Kunstschaffens durchzogen ist. Und das Motiv dieser Verquickung ist leicht zu durchschauen: Man will die künstlerische Leistung als solche herausstellen. Die Spannung, die hierzu vorausgesetzt werden muß, führt Strzygowski durch Beziehung auf ein vorkünstlerisches Faktum ein. Damit spielt er aber die »Auseinandersetzung« aus der immanent-künstlerischen Sphäre in die psychologischgenetische hinüber 30. In das Schema kommt dadurch ein Denkfehler hinein: Entweder sind »Gegenstand« und »Gestalt« vorkünstlerische Momente, – Kultur- oder Naturfakta, die wir aus Kulturgeschichte bzw. Naturwissenschaft erfahren; dann haben sie in einem »System der künstlerischen Qualitäten« nichts zu suchen. Oder aber sie sind am Kunstwerk selbst anzutreffen; dann können sie nicht in einem Gegensatz zu »Inhalt« und »Form« stehen, und die Gegenüberstellung von »objektiver Gebundenheit« und »subjektiver Freiheit« wird sinnlos. Strzygowski verdeckt diese Unklarheit durch ein altes Schlagwort: Die beiden Grundaspekte, die sich in seinem System durchkreuzen, sollen durch die Worte »Mensch« und »Welt« zum Ausdruck kommen. Ist damit gemeint, daß alles Es muß wundernehmen, daß ein Forscher, der in seiner Disposition der kunsthistorischen Aufgaben die »Wesensforschung« von der »Denkmalkunde« und der »Entwicklungsgeschichte« scharf scheidet, die Prinzipien der erstgenannten von empirisch-genetischen Momenten nicht rein zu halten vermag. 30

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2. Gegenstand (Zweck)

%

#

476

Objektive Gebundenheit

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künstlerische Schaffen eine Auseinandersetzung zwischen Mensch und Welt sei? Aber eben diese Auseinandersetzung ist doch schon durch den Gegensatz von »subjektiver Freiheit« und »objektiver Gebundenheit« ausgedrückt, der – innerhalb des »Systems« – ganz auf die Seite des »Menschen« fällt. Wie nun einem Begriff »Mensch«, der diesen Gegensatz bereits in sich schließt, noch ein gesonderter Begriff »Welt« gegenübergestellt werden kann, bleibt unverständlich; unverständlich auch, wieso die Worte »Material und Technik« dazu kommen, die obere linke Ecke des Systems zu füllen. Doch diese Schwächen interessieren uns weniger als die Tatsache, daß aus der Verworrenheit des »Systems« das doppelte Motiv sich herausschälen läßt: die Forderung nach einem Schema, welches die am Kunstwerk aufzusuchenden Erscheinungen registriert, – und die Forderung nach einer Antithetik, welche die künstlerische Leistung als solche begreiflich macht. Daß diese beiden Postulate des kunst- wissenschaftlichen Denkens im Fall Strzygowski zu höchst anfechtbaren methodischen Grundsätzen führen, liegt an der Verunklärung und Verzerrung, die sie hier erfahren. Die Verunklärung beruht auf der Einmischung psychologischer Theorien, die Verzerrung darauf, daß die Antithetik, statt innerhalb einer jeden Region, nur zwischen den Regionen aufgesucht wird. II. In seinem Buch über »die Entwicklungsphasen der neueren Baukunst« kennzeichnet Frankl sein methodisches Vorgehen ausdrücklich durch zwei Momente: durch die »methodische Suche nach Polarität« und durch die Zerlegung eines jeden Bauwerks in die vier Elemente »Raum, Körper, Licht und Zweck«.A Diese Elemente sollen die Regionen sein, in denen die Polarität jeweils aufzusuchen ist. Wie gewinnt Frankl aber seine regionalen Bestimmungen? Und woher leitet er die Forderung der Polarität ab? Das regionale Schema – so sagten wir oben – soll die Bedingungen der Gegenständlichkeit des Künstlerischen enthalten. Einer ähnlichen Auffassung begegnen wir auch bei Frankl; nur daß er sie auf das spezielle Gebiet der Architektur überträgt und sie auch hier in einem ganz besonderen Sinne ausformt: Raum, Licht, Körper und Zweck sind für ihn die Eigenschaften, die das architektonische Gebilde als solches konstituieren, – die Bedingungen der Gegenständlichkeit eines jeden Bauwerks, wobei das Bauwerk aber noch als vor- künstlerisches Objekt verstanden wird. Frankl sagt ausdrücklich: »Jede Scheune hat die vier Elemente« 31. Er geht also einfach von dem empirischen Faktum des architektonischen Gebildes aus. Indem er den » Träger« der künstlerischen Eigenschaften analysiert und verschiedene 31

[P. Frankl: Die Entwicklungsphasen der neueren Baukunst] S. 15.

A

Ebd., S. V.

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Regionen an ihm unterscheidet, gewinnt er eine Vielheit von »Stellen«, die nun auch »Stellen« des Künstlerischen sein müssen. – So wenig sich gegen diese Art der Ableitung einwenden läßt, – es bleibt doch für die Beurteilung des Folgenden zu beachten, daß die Begriffe »Licht, »Körper und »Raum«, wie sie hier auftreten, keine spezifisch künstlerischen Eigenschaften, sondern nur die empirischen Fundamente des Künstlerischen bezeichnen. Bei der Ableitung der » Polar ität« geht Frankl gleichfalls empirisch vor. Er verzichtet auf eine systematische Grundlegung und verweist lieber auf den historischen Verlauf der Kunstentwicklung. Diese stelle sich nicht als ein unaufhörliches Weiterfließen dar, es gebe vielmehr »feste Einschnitte«.A »Die Entwicklungsrichtung bleibt sich nur streckenweise gleich, dann knickt sie plötzlich um nach der entgegengesetzten Richtung oder schlägt eine vollständig neue ein.« B Dementsprechend unterscheidet Frankl »polare Gegensätze einzelner Phasen« und »totale Verschiedenheiten ganzer Phasenfolgen«.C – Woher weiß man aber überhaupt von den »Knickpunkten« D? – Frankl antwortet: Sie werden durch die Stilkritik festgelegt. Was versteht man aber in diesem Fall unter »Stilkritik« E? Die Ordnung auf Grund morphologischer Analyse, die Bildung von Gruppen an Hand von Merkmalen? – Dann darf man gar nicht mehr von gegebenen »festen Einschnitten« F sprechen; denn der Umfang einer jeden Gruppe ist relativ, ist abhängig von der Auswahl der zu vergleichenden Merkmale und dem Grade ihrer Bestimmtheit. Jeder Zusammenschluß mehrerer Kunstwerke zu einer Gruppe, ihre Abtrennung gegenüber einer anderen Gruppe, ist eine spontane Setzung des Denkens, – ein Akt der Willkür, wenn man von der Kontinuität innerhalb der Erscheinungen ausgeht. Vom Denken aus gesehen, liegt hier allerdings keinerlei Willkür vor. Denn in jedem Einzelfall bestehen bestimmte Gründe dafür, die Grenzen der Gruppen so und nicht anders anzusetzen: Die ausgewählten Merkmale, die in dem Exponenten der Gruppen vereinigt werden, haben ihren besonderen künstlerischen »Sinn«. Es ist also die einmal erkannte künstlerische Wesenheit, welche als Bezugspunkt dient und um welche die Gruppenbildung in ihrem Vollzuge kreist. Die Kenntnis dieser »Wesenheit« setzt aber ihrerseits die Polarität der künstlerischen Probleme voraus. Denn nur als Ausgleich einer künstlerischen Antithetik läßt sie sich begreifen. Wir kommen also zu dem Schluß, daß die Polarität, welche sich bei Frankl als Abstraktion aus der kunsthistorischen Erfahrung gibt, in Wahrheit eines jener Prinzipien ist, welche kunsthistorische Erfahrung überhaupt erst möglich machen. Es wäre ja auch widersinnig, wollte man das methodische Postulat, in den Erscheinungen

A B C D E F

Ebd., S. 9. Ebd. Ebd., S. 13. Ebd., S. 10 und S. 12 sowie auch S. 59 f. und S. 76. Ebd., S. 4–6. Ebd., S. 9.

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nach Polaritäten zu suchen, wiederum auf die Tatsache gründen, daß man in den Erscheinungen Polaritäten gefunden hat. Die Unklarheit, in der sich Frankl über den wahren Ursprung der Antithetik befindet, führt ihn zu einer eigentümlichen Auffassung: Er erblickt in den Polaritäten kunst histor ische Phänomene. Darin liegt ein Doppeltes beschlossen: 1. Da er die Polaritäten von vornherein im geschichtlichen Sinne versteht, muß er sie sofort spezialisieren. Denn alle Polaritäten, die im Verlauf des historischen Geschehens einander ablösen, tragen komplexen, nicht elementaren Charakter 32. Sie haben keine grundlegende, allumfassende Bedeutung, vielmehr ist der Umfang ihrer Anwendbarkeit eng begrenzt. So spricht denn Frankl auch nur von dem polaren Gegensatz »einzelner Phasen«, schließt diese zu »Phasenfolgen«, zu »Epochen« zusammen und setzt sie gegen andere Epochen ab, welche wiederum ihre besonderen Polaritäten haben. Bei der »totalen Verschiedenheit« der Phasen folgen bleibt aber die Frage offen, ob nicht die einzelnen polaren Gegensätze über die Verschiedenheiten der Epochen hinweg die gleiche a priori bestimmbare Form besitzen. 2. Da Frankl die Polarität als kunsthistorisches Phänomen betrachtet, verliert sie für ihn den Charakter des künstlerischen Pro blems. Statt die anschaulichen Erscheinungen als »Lösungen« vorgefaßter Antithesen zu begreifen, bildet er die Antithesen aus den anschaulichen Bestimmungen selbst. Die Polarität geht also nicht hinter die Erscheinungssphäre zurück, sondern bleibt in ihr befangen. Sie kann daher nicht als Mittel der Deutung, sondern nur als Ausdruck einer anschaulichen Charakteristik dienen. – Wie kommt man aber darauf, die anschauliche Charakteristik gerade in Form einer Antithese vorzubringen? – Hier verrät sich, daß die »künstlerischen Probleme« in Frankls Darlegungen doch latent enthalten sind. In ihrer eigentümlichen Polarität bilden sie die implizite Voraussetzung aller seiner Untersuchungen, – eine Voraussetzung, die ihm selbst allerdings nicht zum Bewußtsein kommt. Denn er faßt, ohne auf die Probleme zurückzugehen, gleich die Lösungen selbst ins Auge. Er stellt etwa die Lösung des Barock der der Renaissance gegenüber. Wieso sind aber beide überhaupt vergleichbar? – Wir werden darauf hingewiesen, daß zwischen Renaissance und Barock kein »Stilbruch« liege, daß der Barock eine »Fortsetzung auf der vorhandenen Basis« sei.A Welches ist aber diese Basis? – Ein bestimmtes künstlerisches Problem, das in seiner besonderen historisch bedingten Ausformung dem Barock und der Renaissance gemeinsam ist? – Frankl spricht nur davon, daß beide Stile den gleichen »Formenschatz« haben.B Ein charakteristischer Zug seiner Betrachtungsweise: Auf die künstlerischen Probleme notwendig hingedrängt, bleibt er doch bei den Erscheinungen als solchen stehen. 32

Vgl. S. 458. [In dieser Ausgabe S. 374.]

A

Ebd., S. 13. Ebd.

B

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Dieses Verharren in der Erscheinung hat bedeutsame Folgen: Da man die »Lösungen« nicht auf die Probleme bezieht, kann man sie auch nicht aus Problemen heraus formulieren. An Stelle von Kategorien, die über die Erscheinungssphäre hinausweisen (oder besser: hinter sie zurückgehen), muß man Bezugspunkte suchen, die in der Erscheinung selbst anzutreffen sind. Und so geschieht es, daß Frankl, der die Form der Antithetik aus der kunsthistorischen Erfahrung zu abstrahieren glaubt, den reg ionalen Bestimmungen die Bedeutung von Kategor ien zuspricht. Jedes der vier Elemente (Raum, Körper, Licht, Zweck) ist für ihn ein kategoriales Prinzip, – eine Frage, welche nur durch Polaritäten zu beantworten ist, und welche – als Frage – die besondere Art der Polarität vorherbestimmt. Dem Raum z. B. kann nur eine geometrische Polarität entsprechen, dem Körper nur eine psychologischdynamische usw. – Damit wird deutlich, daß die Regionen nicht nur die »Stellen« sind, an denen die Antithesen aufgesucht werden, sondern daß in ihnen zugleich der Inhalt, der » Sinn« der Aussage ruht. Frankl sagt be zeichnenderweise, das jeweilige Element (Raum, Körper usw.) verhalte sich zu der zugehörigen Polarität wie das Subjekt zum Prädikat. Die Polaritäten sagen also etwas über die Elemente aus, diese sind der zu erforschende Gegenstand, die grundlegende Frage, welche die Richtung der Untersuchung bestimmt. Damit berühren wir aber einen kritischen Punkt in Frankls Theorie: Raum, Körper, Licht waren doch nur die »Träger« der künstlerischen Eigenschaften, ohne selbst etwas spezifisch Künstlerisches zu sein. Nun werden sie plötzlich zu sinngebenden Prinzipien. Da müssen sie mit den »anschaulichen Ordnungen« kollidieren, die in ihrer Antithetik die wahren Bedingungen des Künstlerischen sind. – Frankl ordnet der »Körperform« ihre besondere körperliche, der »optischen Form« ihre besondere optische Polarität zu. Und er spricht von dem »Irrtum, daß . . . Körper und Licht polare Gegensätze« seien 33. »Sie sind bloße Andersheiten, keine Gegensätze; ich brauche hier ein eigenes Begriffspaar für die Körper allein und ein zweites Begriffspaar – verschieden von dem ersten und nicht mit ihm sich schneidend – für das Licht.« A – Hierauf ist zu erwidern: Wenn man »Licht« und »Körper« als regionale Bestimmungen versteht, so sind sie gewiß keine Gegensätze; sondern innerhalb eines jeden von ihnen ist der Gegensatz gesondert zu suchen. Versteht man sie aber als anschauliche Ordnungen, so rivalisieren sie grundsätzlich miteinander und bilden eine Antithetik, die in der künstlerischen Erscheinung versöhnt werden muß. Im ersten Fall kennzeichnen sie die Stellen in der Erscheinung, welche kraft der Polarität gedeutet werden sollen, im zweiten Fall bedeuten sie die Polarität selbst, welche in der Erscheinung gar nicht anzutreffen ist. Würde Frankl dort, wo er sich gegen die Antithese »Licht – Körper« wendet, seine ursprünglichen Termini einsetzen, – für den Begriff des »Lichts« den des »Bildes«, für den »Körper« die »tektonische Schale«, – so ließe sich leicht zeigen, daß die Not33

[P. Frankl: Die Entwicklungsphasen der neueren Baukunst] S. 142.

A

Ebd., S. 142.

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wendigkeit, »tektonische Schale« und »Bilderscheinung« als Regionen voneinander zu sondern, sich mit der anderen Notwendigkeit, »Körper« und Licht« als Werte antithetisch zu fassen, überhaupt nicht berührt. Allerdings scheint mir der Gr und für Frankls Stellungnahme tiefer zu liegen als in einer bloßen Äquivokation: Wer die reg ionalen Bestimmungen zu Kategor ien erhebt, hat für die Antithetik der anschaulichen Ordnungen keinen gebührenden Platz mehr. III. Frankl hat, wie er selbst sagt, seine methodischen Grundsätze im Anschluß an Wölfflin gebildet. Er sucht denjenigen Beobachtungen, die Wölfflin (mit Kant zu reden) nur »rhapsodistisch« vorträgt, »systematische« Sicherheit zu geben. Der Versuch, die letzten Motive der Frankischen Methodik aufzuzeigen, führt also von selbst auf die Frage nach dem Wesen der Wölfflinschen »Grundbegriffe«. Daß sie in Wahrheit keine »Grundbegriffe« sind, d. h. keine grundlegenden Kategorien der kunstwissenschaftlichen Deutung, darf als erwiesen gelten 34. Sind sie aber darum »nur eine durch naturwissenschaftliche Methode erreichte Klassifizierung?« 35. Dies scheint mir zu weit gegangen; denn wie käme man dann überhaupt auf Polaritäten? Bei der einfachen morphologischen Klassifikation faßt man die gleichen oder verwandten Gestalten unter einem bestimmten Begriff zusammen. Dieser Begriff – das Charakteristikum – mag zwar eine Vergleichung und Unterscheidung voraussetzen; er ist aber nicht seinem Sinne nach auf einen Gegenbeg r iff bezogen. Gerade darin liegt jedoch das Wesen der Wölfflinschen Grundbegriffe; sie sind antithetisch gebildet. Und da es hierfür nur die eine Erklärung gibt, daß sie die künstlerischen Probleme implizite voraussetzen, darf man sie als » mor pholog ische Bestimmungen höherer Ordnung« bezeichnen: Es genügt, etwa das Gegensatzpaar »linear-malerisch« einem Terminus wie »strähnig« gegenüberzustellen, um zu verstehen, daß es sich hier um zwei verschiedene Stufen morphologischer Charakteristik handelt. Das »Strähnige« ist etwas Singuläres, das erst auf künstlerische Probleme bezogen werden muß, um als spezifisch künstler ische Qualität zu erscheinen. Das »Lineare« und »Malerische« hingegen sind typische Bestimmungen, die durch die Antithetik der künstlerischen Probleme schon gleichsam hindurchgegangen sind. Das Singuläre kann nun im Typischen aufgehen, das »Strähnige kann als »malerisch« erscheinen. Aber es wäre doch ein Irrtum, daraus folgern zu wollen, daß es sich zum Malerischen verhalte wie der Ar tbegriff zum Gattungsbegriff. Wenn der Begriff »malerisch« Siehe Erwin Panofsky, Der Begriff des Stils in der bildenden Kunst [recte: »Das Problem des Stils in der bildenden Kunst«], Bd. X dieser Zeitschrift [= Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft (1915), S. 460–467]. 35 A. [recte: Bernhard] Schweitzer, Der Begriff des Plastischen [recte: »Begriffe des Plastischen und Malerischen als Grundformen der Anschauung«], Bd. XIII dieser Zeitschrift [= Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft (1919), S. 259–269]. 34

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auch umf assender ist als die Bestimmung »strähnig«, so ist er darum doch in keiner Weise abstrakter. Seine prinzipielle Überlegenheit, seinen größeren Umfang verdankt er nicht seiner übergeordneten Stellung im Sinne der naturwissenschaftlichen Klassifikation, sondern einzig und allein der Tatsache, daß er – zugestanden oder nicht – schon der Ausdruck einer kunstwissenschaftlichen Deutung ist. »Malerisch« heißt die schon gedeutete, »strähnig« oder dergleichen die er st zu deutende Erscheinung. Notwendig setzt also Wölfflin, indem er »morphologische Bestimmungen höherer Ordnung« bildet, die Systematik des kunstwissenschaftlichen Denkens insgesamt voraus. Und wie von allen »rhapsodistischen« Beobachtungen, so kann man auch von seinen »Grundbegriffen« (wiederum mit Kant) sagen, daß sie »nichts weniger als systematisch, obgleich auf gewisse Weise methodisch zustande gebracht« sind. Die »gewisse Methodik« äußert sich darin, daß es ein und dieselbe Form der Spannung ist, welche die fünf Begriffspaare durchzieht. Infolge des Mangels an Systematik aber bleiben die Voraussetzungen dieser Methodik unerörtert, – Voraussetzungen, die an folgende zwei Fragen gebunden sind: 1. Wo hat die Spannung, welche die fünf Begriffspaare in gleicher Weise durchzieht, ihren Ursprung? Und wie ist sie rein formal, d. h. unabhäng ig von den fünf Arten ihrer Erscheinung, zu kennzeichnen? 2. Welches sind die fünf Regionen, in denen die Spannung sich konkretisiert? Und in welches Schema lassen sie sich, unabhängig von der Spannung als solcher, vereinigen?

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Die erste Frage erledigt sich für Wölfflin insofern, als er der Polarität überhaupt keine systematische Bedeutung zuerkennt. In seinen Augen ist sie nur ein kuns thistor isches Phänomen, das auf induktivem Wege gewonnen, sich wohl einer psychologischen Reflexion, aber keiner systematischen Ableitung unterwerfen läßt. Wir stoßen also auf eine ähnliche Auffassung wie bei Frankl und brauchen nur auf die oben gegebene Kritik zu verweisen. Was aber die zweite Frage, – die Frage nach dem Schema betrifft, so wird auch Wölfflin zugeben müssen, daß die grundlegende Antithese sich ihm nur deswegen in fünffach verschiedener Gestalt darbietet, weil er ihr an fünf verschiedenen »Stellen« des Kunstwerks nachspürt. – Sucht man nun aber diese »Stellen« genau zu kennzeichnen, so stößt man auf Schwierigkeiten: Welchen regionalen Titel soll man z. B. der Antithese »Klarheit – Unklarheit« geben? Die Frage nach der visuellen Deutlichkeit, wie sie hier gestellt wird, läßt sich aus den Bedingungen des künstlerischen Gegenstandes schwerlich ableiten. Soll man also auf ein vorkünstlerisches, in voller »Klarheit« gedachtes Objekt Bezug nehmen und so einen fremden Maßstab in die Analyse des Künstlerischen hineintragen? – Auf das Bedenkliche einer solchen Zumutung braucht kaum hingewiesen zu werden. Sie liegt wohl auch Wölfflin selbst im Grunde fern. Worauf es ihm ankommt, ist offenbar die Gegenüberstellung des »Amorphen« und des »Distinkten«, – also eben jene Unterscheidung, die wir innerhalb der »Gliederungswerte« getroffen

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haben. Die Schwierigkeit liegt nun aber darin, daß man das Begriffspaar »Klarheit – Unklarheit« mit der Polarität der Gliederungswerte nicht ohne weiteres gleichsetzen darf. Wenn bei der systematischen Entwicklung der Gliederungswerte 36 »Verschmelzung« und »Zerteilung« sich als die beiden gegensätzlichen Prinzipien der Entfaltung darstellten, so lag darin beschlossen, daß alle distinkten Werte zugleich Einzelwer te, alle amor phen Werte zugleich Einheitswerte waren. Bei Wölfflin finden wir jedoch die Antithese »Vielheit – Einheit« neben der Polarität »Klarheit – Unklarheit« –, ein Zeichen dafür, daß er den gemeinsamen Ursprung, die wechselseitige Durchdringung beider verkennt. Er trennt zwei Bestimmungen, die in Wahrheit unlöslich miteinander verbunden sind. Und er gewinnt so für ein und dieselbe Erscheinung zwei verschiedene Begriffspaare, von denen doch jedes – vom anderen getrennt – einseitig und unvollkommen bleibt. Die Antithese Einheit – Vielheit« ist, für sich genommen, schemenhaft und bedarf, um brauchbar zu sein, der näheren Bestimmung. Und das Gleiche gilt, wie eben gezeigt, für die Begriffe »klar« und »unklar«. Wölfflin bietet uns noch eine dritte Antithese für die »Gliederungswerte«: die Polarität »tektonisch-atektonisch«. Dieses Begriffspaar ist insofern interessant, als sich an ihm deutlich zeigen läßt, wie Wölfflins Polaritäten nicht auf die eigentlichen Probleme, sondern schon auf die Lösungen selbst bezogen sind. Der Terminus tektonisch« bezeichnet ja den mittleren Ausgleich in der Antithetik der Gliederungswerte. Diese Form der Lösung, die Lösung der Renaissance, kontrastiert Wölfflin gegen die Lösung des Barock, welche er mit einem anfechtbaren Ausdruck 37 als »atektonisch« bezeichnet. Und indem er so Lösung gegen Lösung stellt, muß er – unausgesprochen – ein gemeinsames künstlerisches Problem voraussetzen. Das heißt: Jede morphologische Polarität, wie wir sie bei Wölfflin finden, ist fundiert durch eine Antithese anschaulicher Ordnungen: So liegt dem Begriffspaar »linear-malerisch« die Antithese »haptisch-optisch« 38, der Polarität »flächenhafttiefenhaft« die Antithetik der Raumwerte, den drei übrigen Antithesen – wie schon erörtert – die Polarität der Gliederungswerte zugrunde. Was die fundierenden Antithesen von den morphologischen scheidet, ist der Radikalismus und die Exaktheit. Das Haptische z. B. stellt den radikalen Gegensatz zum Optischen dar, die Antithetik ist im absoluten und strengen Sinne gemeint; und ebenso verhält es sich bei den anderen künstlerischen Problemen. Im Augenblick aber, wo man die Polarität nicht mehr hinter, sondern in den Erscheinungen aufsucht, wo man nicht mehr auf die begrifflich gesetzten » Probleme« achtet, sondern auf die For men der Lösung, wie sie in der Erscheinung anzutreffen sind, – in diesem Augenblick muß die Schärfe des Gegensatzes schwinden. Die »morphologischen Bestimmungen höherer Ordnung« sind anschauliche Prädikationen, und da es zu deren Wesen gehört, inexakt zu sein, kann hier von einer scharfen 36 37 38

Vgl. oben S. 453, III. [In dieser Ausgabe S. 370.] Vgl. oben S. 455. [In dieser Ausgabe S. 371.] Vgl. Panofsky, Der Begriff des Kunstwollens [siehe Fn. 4].

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Determination nicht mehr gesprochen werden. Da nun die Unbestimmtheit der Begriffe zugleich eine Unbestimmtheit ihrer Antithetik bedingt, können die morphologischen Polaritäten immer nur relativ gemeint sein. In der Erscheinung ist nur ein »Mehr oder Weniger« zu finden, – ein mehr oder weniger Malerisches, ein mehr oder weniger Tiefenhaftes, – niemals aber strenge und prinzipielle Gegensätze, wie sie die künstlerischen Probleme auszeichnen. Die beiden Tatsachen, die wir hiermit feststellen: 1. die Inexaktheit der »morphologischen Bestimmungen höherer Ordnung«, 2. der unbestimmte, relative Charakter ihrer Antithetik,

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haben auch Frankls Gedanken beschäftigt. Den Vorwurf der Relativität glaubt er, theoretisch erledigen zu können, dem Mangel der Inexaktheit sucht er praktisch abzuhelfen. Die theoretischen Erwägungen lauten folgendermaßen 39: »Man ist leicht geneigt, allen polaren Gegenüberstellungen vorzuwerfen, daß sie nur relative Unterschiede treffen, aber in solchen Skalen gibt es einen Nullpunkt. Auf dem einen Ast der Skala sind die Unterscheidungen »mehr oder weniger malerische möglich, auf dem anderen Ast aber liegt das, was »überhaupt nicht malerisch ist«. – Ist aber dieses »überhaupt nicht Malerische« – so könnte man fragen – nicht seinerseits relativ, nämlich »mehr oder weniger linear«? Ist z. B. die ägyptische Kunst nicht »linearer« als die klassisch-griechische? – Mit der Annahme eines »Nullpunktes« ist die Relativität der antithetisch-morphologischen Bestimmungen nicht behoben. Denn der Nullpunkt kann nichts anderes sein als die Stelle des »mittleren Ausgleichs« zwischen zwei anschaulichen Ordnungen, und diese Stelle ist innerhalb der Kontinuität der Übergänge in keiner Weise »markiert«. Wo das Haptische über dem Optischen vorherrscht, ist die Erscheinung »Iinear«; wo das Optische das Haptische überbietet, nennen wir sie »malerisch«. Der Grad des Überbietens aber, d. h. die besondere For m des Ausgleichs, läßt sich in der Erscheinung gar nicht sicher bestimmen. Zu diesem Zweck muß man auf Probleme, d. h. in die Sphäre des rein Begrifflichen zurückgehen. Auch der »Nullpunkt« – als die Stelle des mittleren Ausgleichs – läßt sich also innerhalb der Erscheinungssphäre gar nicht präzise festlegen. In seinem praktisch gerichteten Versuch knüpft Frankl an seine »vier Elemente« an, denen er ja die Bedeutung von »Kategorien« zuschreibt. Die Beziehung auf diese »Kategorien« soll den Bestimmungen Exaktheit geben. Und in der Tat: Indem die »Raumform« eine geometr ische Polarität vorschreibt, indem die Polarität der »Körperform« sich auf die »mechanischen Kräfte« beziehen muß, wird scheinbar jedem Begriff seine genaue logische Bedeutung zugewiesen. Dennoch genügt ein Blick auf die von Frankl aufgestellten Begriffspaare, um diesen Gedanken zu widerlegen. Die durch die Kategorie des Raumes diktierte geometrische Polarität lautet: »Raum addition und Raum division«. Wollte man nun diese beiden Begriffe im 39

[P. Frankl: Die Entwicklungsphasen der neueren Baukunst] S. 141.

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strengen Sinne der mathematischen Terminologie verstehen, so dürfte man sie überhaupt nicht als geometrische, sondern nur als arithmetische Bezeichnungen auffassen. Dann ginge aber nicht nur die geforderte Beziehung zur Raumform verloren, sondern die Gegenüberstellung erwiese sich obendrein noch als unlogisch; denn um überhaupt einen Gegensatz zu erhalten, müßte man entweder für »Addition« Multiplikation, oder für »Division« Subtraktion einsetzen. Wollte man anderseits den geometrischen Inhalt und die logische Geltung der Antithese dadurch retten, daß man die beiden lateinischen Ausdrücke nicht mathematisch, sondern einfach wörtlich auffaßte: »Addition« als »Aneinanderfügung«, »Division« als »Teilung«, – so würde die Antithese, auf den Raum angewandt, zwar nicht logisch widersinnig, wohl aber geometrisch bedeutungslos werden. Denn gerade für die geometrischen Eigenschaften eines mehrgliedrigen Gebildes ist es gleichgültig, ob seine Gliederung aus der Aneinanderfügung ursprünglich getrennter Teile, oder aus der Teilung eines ursprünglich ungetrennten Ganzen hervorgeht. Ob ich in einem spitzwinkligen Dreieck die Höhe fälle und es dadurch in zwei rechtwinklige Dreiecke »teile«, oder ob ich von diesen beiden rechtwinkligen Dreiecken ausgehe und sie zu dem spitzwinkligen Dreieck »zusammenfüge«, – die Konfiguration bleibt immer die gleiche. Gerade darin bekundet sich die Homogenität des geometrischen Raumes, – eine Eigenschaft, die ihn von dem Raume der künstlerischen Anschauung wesensmäßig unterscheidet. Frankls Versuch, seinen Bestimmungen Exaktheit zu geben, muß damit als gescheitert betrachtet werden. Nichtsdestoweniger ist aber seine Antithese, wenn sie nur ihren Anspruch auf Exaktheit aufgibt äußerst glücklich gewählt. Sie bewährt sich als anschauliche Bestimmung, als Gleichnis. Addition und Division haben gar nicht die Bedeutung mathematischer Termini, sondern kennzeichnen zwei gegensätzliche Formen der anschaulichen Gliederung. Und wenn im Mathematischen zwischen Addition und Division, arithmetisch betrachtet, kein Tertium, geometrisch betrachtet, kein Unterschied zu finden war, so ergibt sich beides um so leichter durch Beziehung auf eine Antithetik anschaulicher Ordnungen. Der Gegensatz von »amorphen Einheitswerten« und »distinkten Einzelwerten«: liegt beiden Formen in gleicher Weise zugrunde. Im Falle der »Division« ist die »amorphe Einheit« das dominierende Moment und wird durch die »Distinktion« nur differenziert und so allererst zur Geltung gebracht. Im Falle der Addition werden die »distinkten Einzelwerte« als solche miteinander verbunden; und in dieser Verbindung bewährt sich wiederum die Ordnung der »Einheit«. Wollte also Frankl die Bestimmungen, auf die es ihm ankommt, exakt fixieren, so müßte er ihre Stelle zwischen den beiden anschaulichen Ordnungen festlegen und sie als eine besondere Form des »Ausgleichs« begreifen 40. Allerdings wäre damit die Sphäre des Anschaulichen verlassen, wir würden eine abstrakte Formel, keine »Addition« und »Division« würden dann nicht mehr als extreme Gegensätze einander gegenüberstehen: Während die »Division« radikal zur »amorphen Einheit« hinneigen würde, wäre die »Addition« etwa der mittlere Ausgleich. 40

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morphologische Bestimmung erhalten. Wir hätten die Erscheinung als »Lösung« eines künstlerischen Problems gedeutet. Dahin muß aber jeder Versuch führen, dem es wahrhaft auf präzise Bestimmungen ankommt. Um ein exaktes Fundament zu gewinnen, muß man hinter Wölfflins Voraussetzungen zurückgehen.