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German Pages 219 [220] Year 2006
LOTHAR MERTENS (Hrsg.)
Deutschland und Israel
Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung Band 88
Deutschland und Israel Ausgewählte Aspekte eines schwierigen Verhältnisses
Herausgegeben von
Lothar Mertens
Duncker & Humblot • Berlin
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5774 ISBN 3-428-12049-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Das Verhältnis Deutschland-Israel ist noch immer eine sehr besondere, von Spannungen und häufigen Missverständnissen gekennzeichnete Beziehung, da noch immer ein latenter Antisemitismus bzw. Antizionismus in Teilen der deutschen Bevölkerung existent ist. In Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für politische Bildung, Stabsstelle Lüneburg unter Leitung von Dirk Hansen, dem ich für seine wohlwollende Unterstützung ausdrücklich danken möchte, will die Fachgruppe Sozialwissenschaft der Gesellschaft fur Deutschlandforschung mit diesem Sammelband einen kleinen Beitrag zur fundierten Information und zum besseren Verständnis liefern. Da eine umfassende Gesamtdarstellung des komplexen Themas kaum möglich ist, beleuchten die hier publizierten Beiträge mit der gebotenen wissenschaftlichen Distanz an einigen ausgewählten Beispielen aus verschiedenen Bereichen und Fachdisziplinen sowie mit unterschiedlichen Fragestellungen exemplarisch sowohl die historische Entwicklung der deutsch-israelischen Kontakte als auch die aktuelle gesellschaftliche Situation. Während Esther Jonas-Märtin (Potsdam) die traditionellen, meist positivreligiös geprägten Israel-Vorstellungen zeitgenössischer jiddischsprachiger Schriftstellerinnen nachzeichnet, untersucht Marina Sassenberg (Duisburg) die distanziert-kritischen Israel-Entwürfe deutsch-jüdischer Emigranten an ausgewählten Beispielen. Den großen intellektuellen Beitrag vertriebener deutsch-jüdischer Wissenschaftler zur Entwicklung der israelischen Wissenschaften skizziert Lothar Mertens (Dresden). Das langjährige diplomatische NichtVerhältnis des zweiten, sozialistischen Deutschlands zum Jüdischen Staat analysiert eingehend Stefan Meining (München) in seinem Beitrag über die DDR und Israel. Martin Kloke (Berlin) untersucht in einem kritischen Rückblick auf die letzten fünfzig Jahre die Frage, ob und warum der Staat Israel ein Alptraum der bundesdeutschen Linken ist. Abschließend behandelt Lothar Mertens die jüdischen Zuwanderungsströme aus der Sowjetunion bzw. den GUS-Staaten nach Israel und in die Bundesrepublik Deutschland, sowie die damit verbundenen Integrationsschwierigkeiten in den beiden Ländern.
Dresden, im Sommer 2005
Lothar Mertens
Inhalt Esther Jonas-Märtin Der imaginäre Ort: Israel Marina Sassenberg Israel-Entwürfe deutsch-jüdischer Emigranten nach 1933
9 45
Lothar Mertens Akademische Jeckes. Vertriebene deutsch-jüdische Wissenschaftler und ihr Beitrag zur Entwicklung der israelischen Wissenschaften - ein Überblick 65 Stefan Meining Die DDR und Israel: Bilanz eines NichtVerhältnisses (1950-1990)
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Martin Kloke Israel - Alptraum der deutschen Linken?
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Lothar Mertens Integrationsprobleme der jüdischen Zuwanderer aus der UdSSR/ den GUS-Staaten in Israel und in der Bundesrepublik
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Verfasserinnen und Verfasser
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Der imaginäre Ort: Israel Von Esther Jonas-Märtin I. Einleitung Israel - schon ein kurzer Blick in ein Lexikon verrät, dass eine einfache Definition nicht möglich ist. Die Vielschichtigkeit des Begriffes in den verschiedenen Bedeutungen, wie beispielsweise als Glaubensgemeinschaft, Volk, altes Königreich, geographische Region und nicht zuletzt als politisch-territorialer Staat, erlaubt keine eindimensionale Lesart. Israel ist mehr als ein Teil der Identität, mehr als ein Teil des kulturellen Gedächtnisses nicht nur eines Volkes. Die besondere Bedeutung Israels für die Selbstdefinition der jüdischen Religion steht außer Frage. Da gibt es das tägliche Schma Israel („Höre Israel"), das Gebet für den Staat Israel in der Synagoge und nicht zuletzt den wohlbekannten Satz: „Nächstes Jahr in Jerusalem". All das ist für die Identitätsbildung eines Volkes von entscheidender Bedeutung, aber Identität ist zuallererst an den einzelnen Menschen gebunden, an die persönliche Authentizität. „Die hervorragendste Stellung unter allen jüdischen Sprachen, nur übertroffen von der religiösen Bedeutung des Hebräischen, nimmt das Jiddische ein. Es übertrifft die anderen j.[üdischen; E. J.-M.] Sprachen an autonomer Ausgestaltung, kultureller Bedeutung und Verbreitung [...] Die Entstehung des Jiddischen wurzelt also in der kulturschöpferischen Kraft der j.[üdischen; E. J.-M.] Religion."1
Mit dieser Erklärung über das Jiddische ist im wesentlichen der Rahmen für die folgenden Ausführungen gegeben. Die kulturellen Kontinuitäten und Brüche bilden die Folie, wobei nach der Bedeutung der jeweiligen Konzeption Israels für die Gestaltung der eigenen Identität gefragt wird. Dieser Ansatz wird noch ergänzt durch den jeweiligen historischen und biographischen Hintergrund in der Poesie jiddischsprachiger Schriftstellerinnen, 2 welche für diese Untersuchung die Ausgangslage bilden. In ihrer Poesie findet sich das Motiv Israel so identitätsstiftend verbindend wie auch subjektiv vereinzelnd wieder. 1 2
Jüdisches Lexikon, Bd. III, Sp. 269 f.
Die biographischen Angaben zu den Schriftstellerinnen stammen, wenn nicht anders angegeben, aus dem „Leksikon fun der nayer yidisher Literatur".
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Mit dem Wissen um die allgemeine Wichtigkeit wird die Frage nach ideeller Konzeption und poetischer Konstruktion des imaginären Ortes Israel umso spannender. In der Lyrik, als der subjektivsten Form der Ausdrucksweise, als der unmittelbarsten Mitteilung einer einzelnen Person, beginnt die Spurensuche in einem von der Forschung weitestgehend unbeachteten Gebiet, in der jiddischen Literatur. 3
II. Rachel Korn Als eine der bekanntesten Dichterinnen des Jiddischen gilt Rachel Korn. In einem Dorf Ostgaliziens 1898 geboren, lebte sie bis zum Beginn des zweiten Weltkrieges 1941 in Lwow. Nach schwierigen Jahren in Rußland emigrierte sie nach Kanada. Bis zu ihrem Tod 1982 publizierte sie poetische und prosaische Texte, deren hauptsächliche Charakteristik in deren Feinheit und Bildhaftigkeit besteht. „Der Weg nach Jerusalem"4 (unten S. 28 ff.), welches 1968 in der Zeitschrift „Di goldene Kejt" erschien, hinterlässt nach dem Lesen viel mehr Fragen als Antworten. Das auffälligste Merkmal dieses Gedichtes ist dessen Zweiheit. Was sagen diese Teile aus und warum hat die Autorin diese miteinander verbunden? Es scheint es sich um zwei Gedichte zu handeln, die unter einem Titel oder auch Motto, verbunden sind. Dieser Eindruck wird durch den Rahmen, d.h. der Wiederholung der ersten Strophe am Ende des ersten Teils noch verstärkt. Dieser Wahrnehmung folgend, betrachten wir die Teile nun getrennt voneinander und analysieren beide, als wären es tatsächlich zwei Gedichte. Im ersten Teil wird der offenbare Weg nach Jerusalem beschrieben, weil dort „jeder Baum ein Wegweiser" ist, aber unverkennbar wird dieser Weg als Friedhof gezeichnet. Die Panzer und Jeeps, die wie gefallen daliegen, wie einstmals lebende und nun quasi sterbliche Überreste der „furchtbaren Tage ". Diese „furchtbaren Tage" beziehen sich wahrscheinlich auf den Sechs-Tage-Krieg im Juni 1967. Im Gegensatz zu der Hochstimmung in Israel nach diesem glänzenden Sieg, wobei nicht nur Ägypten besiegt, sondern auch die heiligen Stätten allen voran die Klagemauer in Jerusalem - und einiges an strategisch wertvollem Gebiet eingenommen wurde, schildert Rachel Korn die Kehrseite dieses Sieges. Die Verluste, die dieser Krieg gekostet hatte, an Menschen, wie an Material. Der Rost auf den Kameraden ist wie Blut auf Skeletten. Das Blut als Allegorie für das Leben, wird hier auf eigentlich tote Materie übertragen. Die 3
Die Auswahl der Texte erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit hinsichtlich einer Enzyklopädie möglicher Lesarten. Es kann sich hier nur um einen Bruchteil, einen kleinen Ausschnitt, in einer Vielzahl weiterer höchst unterschiedlicher Variationen eines Themas handeln. 4
In: Di goldene Kejt, No. 62/63, Tel Aviv 1968, S. 31 f.
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Personifizierung der Panzer und Jeeps lässt deren Verlust ungleich schwerer wiegen. Zwischen dem rostenden Eisen finden sich Blumen, sowohl schon verblühte, wie auch frische. Es bleibt offen, wie diese dorthin gelangt sind, ob sie jemand gebracht hat, oder ob die Natur sich inzwischen ihr Territorium zurückerobert hat. Der Tau, welcher die Blumen benetzt, ist möglicherweise eine Anspielung auf Tränen der trauernden Erde, wie auch auf deren lebensspendende Kraft, Leben zu schaffen, wo es durch menschliche Zerstörungswut vernichtet wurde. Es liegt im Machtbereich der Natur, dass neues Leben auf zerstörter Erde entsteht, wie ein Wunder. Die getöteten Soldaten selbst werden mit keinem Wort erwähnt. Die Trauernden sind zwar nicht zu sehen und auch nicht zu hören, aber auffälligerweise ihrer Nennung nach weiblich: Eine Mutter, eine Schwester, eine Braut, ein Weib? In ihrer Trauer umarmen sie die Jeeps und Panzer stellvertretend als wären es die Körper der Soldaten. Bedeutet das, dass Trauer eine weibliche Angelegenheit ist? Oder hat man(n) um die Soldaten nicht zu trauern, deren Tod nicht zu bedauern, weil sie einen so glänzenden Sieg errungen hatten, weil sie als Helden starben? Jerusalem, die Stadt auf dem Berg zu befreien, als adäquate Rechtfertigung für jedes Opfer. „Opfer" ist hier allerdings nicht als Opfer zu verstehen, für die Stadt von heute und einst sein Leben zu geben gilt gleichermaßen als Pflicht wie Ehre. Die Frauen stehen hier als die eigentlich Leidtragenden. Die traditionelle Vorstellung trauernder Frauen, von Klageweibern, die seit jeher die Toten beklagen, erscheint seltsam unreflektiert. Die Tatsache, dass nicht nach der Trauer von Vätern, Brüdern und Männern gefragt wird, zeigt auf, wie tief tradierte Rollenbilder im gesellschaftlichen Denken, wie auch im subjektiven Verständnis Rachel Korns, verankert sind. Dies wird noch erstaunlicher, da Frauen in Israel bereits wehrpflichtig waren.5 Die traumatische Erfahrung des Verlustes der Geliebten in der nicht selbst erfahrbaren und erlebbaren Kriegshandlung, verursachte das Bedürfnis auch im Schreiben das Geschehene zu verarbeiten. In diesem Gedicht wird m.E. eine Möglichkeit aufgezeigt, wie Frauen - vielleicht gemeinsame - Wege aus der Trauer finden können. Wege, die geschlängelt und gewunden sind und doch ein klares Ziel haben. Eine allgemeine Trauerarbeit findet in diesem Text nicht statt und auch deren zukünftige Möglichkeit wird nicht aufgezeigt; das Fehlen der Männer bleibt bestehen. Trotz der sehr körperlichen und körperhaften Beschreibung der gesamten Szenerie mit den Schlüsselworten, Bäuche, Rippen, Blut, Skelett, Umarmen und Leib, bleibt dennoch offen, ob danach überhaupt ein menschliches Wesen dort war. Angesichts dieser Begrifflichkeiten verwundert die Anonymität der Schilderung. Eine Anonymität, die im nächsten Augenblick nur Frauen als Trauernde in Erwägung zieht? Es würde zu weit gehen, daraus eine Aufforderung nach mehr Differenziertheit im Umgang mit 5
Die wehrpflichtigen Frauen wurden jedoch meist in Militäreinheiten eingesetzt, die nicht direkt am Kampfgeschehen beteiligt waren. Siehe ausführlich Wolffsohn/Bokovy, S. 191.
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diesem Krieg zu lesen, trotzdem sich meiner Meinung nach diese Schlussfolgerung notwendig ergibt. Als Kontrast zur Realität und in der Sehnsucht nach der Geborgenheit göttlicher Gegenwart, der Schechina, erscheint die Stadt Jerusalem als eingehüllt von Gebeten und Traum, dem immerwährenden Traum und den Gebeten um Jerusalem. Die Struktur und der Inhalt des zweiten Teils scheinen auf den ersten Blick komplett anders zu sein. Allein die verwendete Strophenform lässt ein traditionelles Motiv vermuten. Das Motiv der ewigen Sehnsucht nach Jerusalem, die seit Jahrhunderten ihren eigenen Ausdruck in der Pessach-Haggada findet mit dem Satz Nächstes Jahr in Jerusalem. 6 Neben der Strophenform besitzt auch der Inhalt ein vollkommen anderes Gesicht. Kontrastierend zum ersten Teil schildert Rachel Korn hier auf der persönlichen Ebene, aus der ganz persönlichen und damit inneren Perspektive. Dieser zweite Teil bildet das genaue Gegenteil zur Anonymität des ersten Teils. Im Kontext ihrer Biographie und des Schicksals ihrer Familie verankert die Dichterin die alte Sehnsucht nach Jerusalem. Während es ihr mit ihrer Tochter gelang nach Usbekistan zufliehen, wurden ihr Ehemann und der größte Teil ihrer Familie in der Shoa ermordet. Aber in diesen Versen ist es die Erfahrung des Vaters, mit seiner nie erfüllten Sehnsucht, die hier ihren expressiven Ausdruck findet. Einen Ausdruck, dessen Intensität betroffen macht. Die Dichterin schildert ihren Vater als einen sehnsüchtigen und dabei um das Wohl anderer besorgten Menschen. Er bekämpfte seinen innigen Wunsch und die Sehnsucht nach der trauernden Schechina und machte auf diese Weise das Leben in und mit der Exilsituation für seine Familie erträglich. Dennoch muss es speziell für die Dichterin spürbar gewesen sein, denn selbst unter blühenden Gärten, grünen Wiesen ließ sich das innere Weinen nicht verstecken. Die ungeweinten Tränen7 bleiben ungeweint und die Sehnsucht unerfüllt. Die Hoffnung blieb dem Vater zwar erhalten, denn selbst aus einer so isolierten und isolierenden Umgebung bahnt sich seine Stimme den Weg in die Heimat der Vorfahren. In dem Satz, den alle observanten Juden zu Pessach beten: „Zum nächsten Jahr im aufgebauten Jerusalem", das stets sich erneuernde Gebet und der ewige Traum. Aber auch als Teil der täglichen Liturgie hat Jerusalem eine besonders herausragende Position: „Habe Acht auf Jerusalem, deine Stadt. Lass deine Gegenwart in ihr wohnen und lass es bald und noch in unseren Tagen eine Stadt sein, in der deine Gerechtigkeit wohnt. Möge sie ein Zentrum des Gebets sein für alle Völker. Gepriesen seist du Ewiger. Du baust Jerusalem."8
6
Shire, S. 52.
7
Kahn, S. 175.
8
Magonet, S. 181.
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Diese Gebete illustrieren m.E. die tiefe innere Bedeutung, die seelische und gefühlsmäßige Verbindung mit Jerusalem. Der Vater starb und liegt nun begraben infremder Erde. Sein Grab wurde zerstört, wahrscheinlich von Soldaten der Wehrmacht, die die Grabsteine zum Straßenbau verwendeten, und damit der adäquaten Form der Erinnerung beraubten. Ein Friedhof, ein ungestörter Platz für die Toten, ist von eklatanter Wichtigkeit für Juden. Die Tatsache, dass es keinen Ort der Erinnerung gibt, ist daher umso schmerzhafter. Den Angehörigen bleibt es auf diese Weise verwehrt, das Grab zu besuchen, die Rituale zu vollziehen und wenn es „nur" das Ablegen eines Steines auf dem Grabstein wäre. Die Dichterin sieht sich als einzige Überlebende in der Verpflichtung, die unerfüllte Sehnsucht des Vaters nach Jerusalem zu tragen. Stellvertretend für ihren Vater trägt sie nun die Sehnsucht weiter bis die Tochter sie eines Tages der heiligen Erde überantworten kann. Indem die Sehnsucht die heilige Erde küsst, soll sie ausgelöscht sein. Eine im (Volks-) Glauben tief verankerte Vorstellung ist der Kuss Gottes. Der Talmud9 deutet diesen Akt als „ ein sanftes, friedliches, ohne Schmerz und Todeskampf vor sich gehendes Sterben. " l 0 Sehr klar trennt die Autorin die Sehnsucht des Vaters von der eigenen Person und damit den eigenen Wünschen. Es ist nicht ihre Sehnsucht und wird es auch nicht. Sie hat ihre Heimat seit 1948 in Montreal, wo sie sich offenbar ohne die ewige Sehnsucht nach Jerusalem ihrer Identität versichern kann. Die Zweiheit des Gedichtes widerspiegelt die gefühlsmässige Spaltung, die der Sechs-Tage-Krieg hervorgerufen hatte. Einerseits waren die heiligen Stätten, besonders Jerusalem mit der Klagemauer, wieder für Juden zugänglich und die Sehnsucht danach fand endlich ihre Erfüllung, aber auf der anderen Seiten standen Tod, Schmerz und Zerstörung keinfriedliches Sterben der Sehnsucht.
in. Rose Gutman Als eine aussergewöhnliche Dichterin gilt auch Rose Gutman. Die Dichterin wurde am 16. Juli 1903 in Kovne/Litauen geboren. Sie absolvierte die Volksschule, das Gymnasium und die Universität in Kovne. Ihr erstes Gedicht erschien 1920 im Kovner Sammelbuch „Wispe". Von 1921 bis 1939 wechselte sie mehrmals ihren Wohnort, sie lebte in Berlin, Paris, London und auch in Spanien. 1939 kam sie nach Amerika, wo sie an der New Yorker Universität lehrte. Sie publizierte in verschiedenen Zeitschriften, unter anderem in Kovne, 9
Die wörtliche Bedeutung des talmudischen Begriffes lautet „Tod durch Kuss".
10
Jüdisches Lexikon, Bd. IV/I, Sp. 239.
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Esther Jonas-Märtin
Warschau, New York und Tel Aviv. In den Jahren 1925 und 1947 erschienen ihre Gedichte auch in Buchform. Schon ihre ersten Verse weisen sie als gewandte Dichterin aus. Ihre Lyrik ist kurz, aber sensibel, voller Metaphern und Bilder. In dem 1958 erschienen Gedicht ,3erg von Israel" 11 (S. 32 f.) lässt sie eines ihrer starken und bedeutungsvollen Bilder aufleuchten. Der erste Eindruck besteht aufgrund der Bildhaftigkeit in mehreren Fragen. Was ist mit dem Berg von Israel gemeint? Was ist mit der Brücke zwischen Himmel und Erde? Wer klettert den Berg hinauf und stellt so nachdrücklich seine Forderung? Die naheliegendste Assoziation über den Berg liegt in dessen Identität mit dem Tempelberg. Dies erscheint auch insofern sinnvoll als damit auch die Brücke mit der Himmelsleiter identifiziert werden könnte, die bereits in der biblischen Überlieferung den Himmel und die Erde miteinander verbunden haben soll. Das Buch Genesis12 erzählt vom Traum Jakobs, als er seinen Kopf auf einen Stein gebettet schlief, träumte er von einer Leiter, die Erde und Himmel verband und Engel auf und ab stiegen. Jakobs Leiter, welche das irdische und das himmlische Jerusalem direkt miteinander verbindet, soll in Jerusalem „an der Pforte des Himmels an der Stelle des künftigen Heiligtums (Ber. R. 69, 7) " gestanden haben. In seiner Vision gab Gott sich Jakob zu erkennen und segnete ihn sowie seine Nachkommenschaft. Als Jakob daraufhin erwachte, gab er diesem Ort den Namen Beth-El, das Haus Gottes.14 Mit dem Wohnsitz Gottes sind mehrere Begriffe verknüpft, zum einen die Stadt Jerusalem, Zion, der Tempel und schließlich der Tempelberg. Dabei handelt es sich bei dem Zion vor allem um einen Begriff kultisch-religiösen Zusammenhangs, als Ort Gottes. Es ist der Platz von welchem aus der unmittelbarste Kontakt zu Gott hergestellt werden kann. Für die Unmittelbarkeit des Kontaktes war der Tempel von entscheidender Bedeutung. Der Verlust des Tempels, zerstörte den „direkten Draht" und in diesem Sinne die Brücke, die Gott und das Volk Israel miteinander verband. Von dieser steinernen, felsenfesten Verbindung der Verheißung Gottes sind nur mehr Reste übrig. Aber dieser Rest ist gewichtig genug, um dem nachzugehen. Jemand klettert den Berg, den Rest der Brücke hinauf, und er verlangt sie zurück. Er bittet nicht darum, er fordert, macht lautstark auf sich aufmerksam und demonstriert ein Selbstbewusstsein gegenüber Gott, welches Erstaunen hervorruft. Angesichts der Verheißung Gottes jedoch, die zwar keinen Vertrag darstellt, aber dennoch in diesem Sinne aufgefasst wird, da beide Seiten ihren Part haben. Folgt man dieser Argumentation, wird lediglich etwas eingefordert, was dem auserwählten Volk von Rechts wegen zusteht.
11
In: Di goldene Kejt, No. 30, Tel Aviv 1958, S. 192.
12
Siehe ausführlich: Gen. 28,10 ff.
13
Jüdisches Lexikon., Bd. III, S. 209.
14
Buber/Rosenzweig, S. 80.
Der imaginäre Ort: Israel
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IV. Kadye Molodovsky Kadye Molodovsky (1894-1975) gehörte zu einer Generation von Schriftstellerinnen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, welche immer wieder ihre Stimme erhoben und sowohl intellektuell als auch emotional, ihr Eigenes, ihre Identität definierten. Kadye Molodovsky wurde unterrichtet von ihrem Vater, welcher ihr Zugang gewährte zu diesen Bereich strikt männlicher Vorherrschaft. Auf diese Weise wurde sie ausgebildet in Talmud und Thora, in Bildungsbereichen also, die sonst nur Jungen zugestanden wurden. Der Vater unterrichtete sie in der Literatur des Jiddischen ebenso wie in den jüdischen traditionellen Texten.15 Diese Ausbildung machte ihr das Examen zur Lehrerin am Warschauer Hebräischen Seminar möglich. Gleichermaßen wurden aber auch ihre literarischen Ambitionen geweckt und so begann sie schon zu Anfang der 1920er Jahre ihre politischen Erfahrungen, sozialen Wahrnehmungen und generell eigenen Empfindungen literarisch umzusetzen. „In ihren Gedichten jener ersten Jahre wandelt sich die erfahrene Dreifachmarginalisierung als weibliche Angehörige eines ärmlichen jüdisch-orthodoxen Milieus von der individuellen Sozialerfahrung zum Teil des kollektiven Bewusstseins einer sozial, ökonomisch und politisch unterdrückten Minderheit".16
Neben ihrer Arbeit als Lehrerin engagierte sie sich in sozialistischen Gruppierungen wie dem ,3und", dem „Allgemeinen jüdischen Arbeiterbund in Polen", was bei der zunehmenden antisemitischen Stimmungslage letztlich nur den Ausweg der Emigration bot. Sie emigrierte 1935 in die USA und ließ sich New York nieder. Dort erweiterte sich ihr literarisches Schaffen beträchtlich, so publizierte sie Novellen, Kindergedichte, Kolumnen für das jiddische Tageblatt „Forverts" und arbeitete als Herausgeberin des Literatuijournals „Seviva", zu dessen Mitbegründern sie 1943 gehörte. Zwischen 1948 und 1952 lebte Kadye Molodovsky kurzzeitig in Tel Aviv, wo sie ein Journal für Pionierfrauen, „Di Heym", herausgab.17 Zwischen Entwurzelung und Identitätssuche, thematisierte Molodovsky die zwei klassischen Bereiche kollektiven Gedächtnisses: das Erwähltsein und die Zurückweisung des jüdischen Volkes nicht nur in ihren journalistischen Arbeiten über „Jiddishkejt" sondern ganz explizit in ihrer Lyrik. Dass die amerikanische Gesellschaft nicht die allgemeine Glückseligkeit mit sich bringt, wird ganz besonders deutlich in dem Gedicht „Von Jerusalem" 18 (S. 34 f.), in welchem sie an die Prophetie Jesajas erinnernd, den Ort, von dem alles Positive ausgehen soll, mit Jerusalem identifiziert. Mehr als 15
Die biographischen Angaben sind entnommen aus Pareigis, S. 69.
16
Pareigis, S. 71.
l7
http://www.jwa.org/archive/jsp/perInfo.jsp?personID=85,3/10/2003, S. 1.
18
In: Di goldene Kejt, No. 30, Tel Aviv 1958, S. 158.
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Esther Jonas-Märtin
anderswo kommt hier ihre Verbundenheit mit dem jüdischen Volk explizit zum Ausdruck. Aber nicht nur ihre Kenntnisse der Hebräischen Bibel, sondern auch diejenigen des Midrasch fließen in dieses Gedicht ein. „Die Stadt des Tempels, der Könige und Propheten, die einst der stolze Mittelpunkt Israels, sodann bis auf den Grund zerstört, war bei den Späteren naturgemäß dauernd Gegenstand rührender Erinnerungen und hoffhungsfreudiger Ausmalung einer besseren glanzvollen Zukunft". 19
Ganz in dieser Tradition der zentralen Verehrung Jerusalems stehend, verbinden sich in einer Abfolge von Fragen und Antworten, die Attribute Jerusalems zu einem poetischen Ganzen. Die Dichterin selbst versah das Gedicht mit der Angabe, dass es sich hierbei um ein Volksmotiv handelte. Ein Motiv also, welches tief im kollektiven Gedächtnis verankert ist. Jede Strophe beginnt mit der Frage nach der Herkunft eines der Attribute der Stadt Jerusalem. Der Titel verrät nichts vom hochgradig inhaltsschweren Inhalt. Zunächst liegt die Erwartungshaltung auf der Darstellung einer netten Geschichte „von Jerusalem". Rasch wird die Leserschaft eines Besseren belehrt und mitgenommen auf einen Streifzug durch die populären, teils mystischen, teils philosophischen, Vorstellungen über die Stadt der ewigen Sehnsucht, Jerusalem. Jede Strophe beginnt im ersten Vers mit der Frage nach dem Woher einer bestimmten Qualität. Im immer gleichen Ablauf wird die Frage mit größter Selbstverständlichkeit und in sich stimmiger Herleitung beantwortet. Zweifellos ist die Herleitung nur für diejenigen selbstverständlich, für die diese Vorstellungen Volksmotiv sind, wo also ein bestimmtes Wissen bzw. ein bestimmtes kulturelles Gedächtnis vorhanden ist. Schwierig wird das Verständnis für den Außenstehenden. Auch wenn diese Verse aufgrund ihrer vordergründig einfachen Strukturierung den Eindruck vermitteln, es würde sich hier um einen anspruchslosen Text handeln, verbirgt sich dahinter ein überaus komplexes Konstrukt. Jerusalem wurde schon früh „als der geographische und moralische Mittelpunkt der Welt" 20 angesehen. War diese Idee schon in der biblischen Überlieferung fester Bestandteil so intensivierte sich dies noch in den Schriften des Talmud und der Midraschim. Alles, was existierte, hatte demnach seinen Ausgangspunkt in Jerusalem. Angefangen von der Schöpfung selbst bis hin zu den einzelnen Attributen. Mit der Frage nach der Herkunft des Lichtes, sind wir schon mittendrin im Konstrukt der Imaginationen Jerusalems. Der Begriff des Lichtes bildet den Anfang, weil es im übertragenen Sinne alles „Hohe und Reine"21 beinhaltete und die Grundlage darstellt für das daraus Folgende: „ The first spoken words ,Let there be light' (Gen, 1:3) - are God's and they not only announce the 19
Jüdisches Lexikon, Bd. III, Sp. 209.
20
Ebd.
21
Ebd., Sp. 1102.
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creation of light, but literally bring it into existence". 22 Das Licht bildet auch eine Metapher für die Gegenwart Gottes, die Schechina, und steht somit nicht nur für die Gegenwart Gottes an sich, sondern auch für den Ort Gottes selbst. Aus dem göttlichen Licht wiederum emanieren alle anderen nun folgenden Attribute. Das Bild erinnert an einen Brunnen, bei welchem aus einem zentralen Becken das Wasser in die anderen Becken fließt. Dabei setzt Molodovsky den Gesang an die erste Stelle. Verknüpft wird der Gesang mit David, dessen Sangeskunst besonders in der Folklore einen festen Platz23 einnimmt. Zudem wird er in der Überlieferung als überragender König dargestellt, als Dichter von Psalmen verehrt und von entscheidender Bedeutung ist die Annahme, dass aus seinem Geschlecht eines Tages der Messias kommen soll. Die eigentliche Verbindung zwischen Gesang und David liegt m.E. im Gebet. Singen und Beten gehören zusammen und es wird gesagt, dass ein gesungenes Gebet wirkungsvoller sei als das bloße gesprochene Wort. Ergänzend erklärt der Talmud: „Wenn David zu singen begann und dann die Inspiration über ihn kam, war es ,Für David, ein Psalm'; wenn aber zuerst die Inspiration über ihn kam und er daraufhin sang, dann war es ,Ein Psalm für David'".24
Folgerichtig ist demnach, dass das Singen, die Melodie, näher am göttlichen Licht, mehr göttlichen Ursprungs ist, als das Wort. Weil der Sänger schlechthin dort ruht, in Jerusalem, muß auch der Ursprung des Gesanges dort sein. Die Gnade, ein weiteres Attribut, wird hier mit den in Jerusalem wirkenden Propheten verknüpft. Die Propheten, die das Volk Israel immer wieder an die Gebote Gottes erinnerten und es ermahnten und die inspiriert waren von göttlicher Eingebung, göttlichen Visionen. Auch die Gnade ist eine unmittelbar aus göttlicher Quelle stammende Gabe, welche besonders durch die Propheten ihre Verbreitung fand. Aus der Gnade resultiert die Kraft, die unmittelbar verwoben ist mit den göttlichen Geboten. Am Berg Sinai hatte der Prophet Mose die Gebote empfangen, nach jüdischer Vorstellung die gesamte schriftliche und die mündliche Überlieferung. Diese Überlieferung besteht aus der Hebräischen Bibel und dem Talmud und bildet die Grundlage für die jüdische Religion. Ähnlich dem Ideal göttlicher Schöpfung, bilden die hier genannten Eigenschaften eine auf einander abgestimmte Kette. Diese Kette behält die Dichterin bei bis zum letzten Attribut, der Schönheit. Aber das bis hierhin entworfene harmonische Bild bricht abrupt ab. Von den Steinen Jerusalems kommt die Schönheit über die Welt, weil sie mit Tränen gewaschen, weil sie mit Schmerzen geläutert - ; Tränen und Schmerzen sind demnach die Ursache für die Schön22
Stern, S. 543.
23
Jüdisches Lexikon, Bd. II, Sp. 51 f.
24
Zitiert in: Heschel, S. 17.
Esther Jonas-Märtin
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heit der Welt? „Zehn Maß Schönheit kamen in die Welt, neun davon hatte Jerusalem ", 2 5 das besagt die Überlieferung des Talmud. Warum dieser Bruch inmitten der ansonsten stringenten Aufzählung? Dieses Verfahren erinnert an die Überlieferungstradition der Thora, deren Text im Laufe der Jahrhunderte die unterschiedlichsten Deutungen und Auslegungen erfahren hat. „Die Ereignisse bleiben, was sie waren, aber in der Reflexion des Gedenkens erscheinen si durch die Zeitdimensionen hindurch in der Gegenwart. " 2 6 Im Verlauf der zyklischen Wiederholung der Thoralesungen wird eine Verbindung hergestellt zwischen geschichtlichen Ereignissen, der gegenwärtigen Lebenssituation und der Zukunft. Die wachsende Erkenntnis, die von Generation zu Generation weitergegeben wird, wird so zum kollektiven Gedächtnis, welches seine Kraft und ständige Erneuerung aus den stetig neu inspirierenden Texten selbst, symbolischen Handlungen und aus den individuellen Erfahrungen schöpft. An dieser Stelle wird nun der Entstehungszeitpunkt wichtig, welches dank der Publikation des Gedichtes in einer Zeitschrift spätestens auf das Jahr 1958 festgelegt werden kann. Im Jahre 1958 feierte Israel sein zehnjähriges Bestehen, unter anderem mit Militärparaden, Grund genug an die kriegerische Vergangenheit in diesem Lande zu denken und ganz besonders an die Kämpfe um Jerusalem. Die Schönheit hat einen hohen Preis, nicht messbar mit materiellen Kriterien, zahlbar in Tränen und Schmerz. Immer, wenn im Zusammenhang mit Jerusalem von Tränen die Rede ist, steht das in Verbindung mit der Trauer um die Zerstörung des Zweiten Tempels. Tränen und Schmerz kennzeichnen auch die Zeit vor dem Erscheinen des Messias und alles Leid, was diese Zeit dem jüdischen Volk brachte und noch mit sich bringen wird, wie zum Beispiel die mehrfache Erfahrung des Exils, Verfolgungen, nicht zu vergessen die Shoa. Obwohl die Frage nicht direkt gestellt wird schwingt sie mit in diesem Vers. Die Frage danach, ob die Stadt des Friedens, wie Jerusalem oft übersetzt wird, eines Tages die Gabe der Schönheit friedlich genießen kann, ob eines Tages nicht mehr dafür bezahlt werden muss. Dieser Gedanke fuhrt direkt zu der Idee des Messianismus.27 Ein messianisches Zeitalter dessen Ausgangpunkt ebenfalls Jerusalem sein soll wird demnach eines Tages eingeläutet werden und die Völker werden dann friedlich aller Schönheit der Welt teilhaftig werden. Das hebräische Wort für Frieden „signifies a State of prosperity, of blessed harmony, on several levels, physical and spiritual ". 28
25
Jüdisches Lexikon, Bd. III, Sp. 209.
26
Pareigis, S. 21.
27
Siehe Schulte, S. 197 ff.
28
Ravitzky, S. 685.
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V. Malke Li Einer weiteren Dichterin, die in der gleichen Ausgabe wie Kadye Molodovsky ihre Hymne auf Jerusalem veröffentlichte, wenden wir uns nun zu. Malke Li (1904-1976) gehörte zur gleichen Generation wie Kadye Molodovsky, die ebenso politisch engagiert und mit ebenso großer Ehrlichkeit Texte in jiddischer Sprache verfaßte. Nachdem Malke Li mit 16 Jahren allein in die USA emigriert war, studierte sie bis 1923 an der jüdischen Lehrerbildungsanstalt, am Hunter College und am City College in New York. Bald nach ihrer Ankunft in den USA begann sie nunmehr, sie hatte vorher in deutscher Sprache geschrieben, in Jiddisch zu schreiben. In ihren Texten spiegelt sich ihr religiöses Erfahrungsmilieu wider, die durch die lebendige Spiritualität des Chassidismus geprägt war. Das Wissen über chassidische Innenwelten und die ihr eigene klare Wahrnehmungsfähigkeit sind charakteristisch und kennzeichnen ihr gesamtes Schaffen. Eine Hymne auf Jerusalem, das ist der erste Eindruck, den dieser Text hinterlässt. Eine Hymne voller biblischer Anspielungen und trotz der beschriebenen Kämpfe sind es in „Ein Gesangfiir Dich, Mutterstadt Jerusalem/" (S. 36 f.) Verse voller Idealismus und Hoffnung. Während der Titel mit der schlichten Nennung des Namens dieser Stadt „Jerusalem"29 noch neutral bleibt, zielt der erste Vers eindeutig auf ein Loblied ab, gewidmet der Mutterstadt. Dieses Motiv der Stadt Jerusalem, von welcher alles ausgeht, ist nicht neu, neu ist allerdings, die Bezeichnung „Mutterstadt". Während der Ausdruck „Tochter Zion" als Bezeichnung für das Volk Israel in der Bibel häufiger erscheint, ist der Terminus „Mutter Zion" erst in späterer Überlieferung, im Midrasch, zu finden. Mit der Personifikation Jerusalems als Mutter, spricht die Dichterin die ursprünglich engste existierende Verbindung an, nämlich die zwischen einer Mutter und ihrem Kind. An den Liedern ihrer Kinder, und hier werden zunächst speziell Miriams Töchter genannt, soll die - alte - Mutter wieder jung werden. An der Freude, die die Musik mit sich bringt, soll sie wieder Kraft zur Erneuerung finden. Gleichermaßen ist Jerusalem Symbol und stärkstes Synonym für die Entwicklung des Volkes Israel zu einer staatlichen Existenz.30 Die Musik als tragende Kraft, mit ihrer heilenden Wirksamkeit ist auch Teil der täglichen Liturgie. Bereits für mittelalterliche Denker gehörte Musik zu den Bereichen genereller Bildung, gleich der Mathematik.31 Musik bildete einen untrennbaren Bestandteil für die Heilung Kranker und ganz speziell für den Lobpreis Gottes. 29
In: Di Goldene Kejt, No. 30, Tel Aviv 1958, S. 207.
30
Talmon, S. 497.
31
Idel, S. 635.
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So ist es kein Zufall, dass Miriam in diesen Zusammenhang gestellt wird. Nach dem Auszug aus Ägypten und der Durchquerung des Roten Meeres, so die biblische Erzählung im Buch Exodus, führte Miriam die Frauen im Tanz und sang ihr eigenes Lied zum Lobpreis Gottes. „Still, my song [das Lied der Miriam; E. J.-M.], though so much briefer [ 3 2 E. J.-M.], today stirs the hearts of Jewish women, inspiring them to create new songs, poems, stories, meditations, inter pretative commentaries, and prayers ". 3 3 Bemerkenswert ist die zentrale Bedeutung der fortwährenden und dauerhaften Inspiration dieses Liedes der Miriam für die Töchter. Die herausgehobene Stellung der Töchter ist aufgrund der von ihr betonten Matrilinearität 34 des Judentums für Malke Lis gesamtes poetisches Werk von tragender Bedeutung. Sie widmet sich in ihrem Schaffen wiederkehrend dem Topos der Urmütter und deren Erbe, welches an die folgenden Generationen weitergeben wurde und wird. Es wird kein Zweifel daran gelassen, dass dieses Erbe ein positives ist. Gesang, Flöten und Zimbeln steigen als pure Lebensfreude und Lebenskraft bis in die Himmel 35 auf. Von überall her kommt Gesang aus Berg und Tal, es sind die Lieder eines Volkes, was zweitausend Jahre gewachsen und aufgegangen ist. Tatsächlich wird im Original das Wort verwendet, welches den Sonnenaufgang beschreibt. Jeden Tag gibt es einen Sonnenaufgang, solange die Welt besteht, ein Symbol für Erneuerung und Hoffnung, für den neuen Anfang. Jeder Tag trägt also das Neue in sich, aber etwas bleibt erhalten: die ewige Sehnsucht nach Jerusalem. Jakobs Kinder - die Kinder des Patriarchen Jakob, von welchem das Volk Israel abstammt36 - trinken aus dem alten Becher Jerusalem auf das Leben. Jerusalem, die ewige Stadt, die der Überlieferung nach Ausgangspunkt37 all dessen ist, was existiert und laut biblischer Prophezeiung auch das messianische Zeitalter einläuten wird. Zu dem Zeitpunkt werden die Völker von allen Seiten kommen, womit das Zeitalter des Friedens beginnen soll. Eingeschlossen sind wirklich 32
In der biblischen Oberlieferung existiert lediglich ein einziger Vers dieses Liedes, im Gegensatz zu dem Triumphlied ihres Bruders Mosche, welches mit achtzehn Versen überliefert ist. Zudem sieht diese Uberlieferung aus wie eine Kopie einer Strophe des Liedes von Mosche, was die spätere Praxis der Editoren in Hinsicht auf weibliche Vorbilder und Gestaltungsfähigkeit mindestens als einseitig kennzeichnet. 33
Frankel, S. 110.
34
In der halachischen, d.h. religionsgesetzlichen, Überlieferung gelten nur die Kinder einer jüdischen Mutter als Juden. 35
Die Himmel bezeichnen als Umschreibung oft Gott, oder auch die Wohnung Gottes; Jenni/ Westermann, S. 969 f. 36 37
Goshen-Gottstein, S. 703.
Wie tief dieses Bild von Jerusalem als Zentrum der Welt im Denken verhaftet war, zeigt sich nicht zuletzt an Kartendarstellungen aus dem Mittelalter, in welchen die Darstellung immer von einer Mitte „Jerusalem" erfolgte.
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alle Menschen, nicht nur eine bestimmte Elite. Malke Li beschreibt hier einfache Menschen, Bauern und Hirten, die nach Jerusalem kommen und die Stadt mit ihrem Gesang erneuern werden. In der biblischen Erzählung (Gen. 32; 29ff.) erhielt Jakob nach dem Kampf mit dem Engel den Namen Israel und wird der Stammvater38 der zwölf Stämme Israels. 39 Die Vier-Wände als einfachste Beschreibung einer Wohnung, wirken einerseits begrenzt, bilden andererseits aber einen geschützten Raum, aus welchem die Dichterin die unbegrenzte Weite des Erbes, hier ganz ausdrücklich des mütterlichen Erbes ansprechen kann. Aus dieser häuslichen Umgebung, dem traditionellerweise der Frau zugeordneten Bereich, schlägt Malke Li einen Bogen von der biblischen Rachel, einer der vier Urmütter, 40 bis hin in die Moderne, das zwanzigste Jahrhundert, zu Channa Szenesch,41 die auch als die Jeanne d'Are Israels bezeichnet wird. Im letzten Vers dieser fünften Strophe, klingt der Priestersegen an, welcher oft den Abschluss des Gottesdienstes bildet. Während jedoch im Text des Priestersegens42 die Aktivität in der Anrufung an das segensreiche Handeln Gottes hegt, wird nun das lyrische Ich in die aktive Rolle getaucht. Das lyrische Ich ruft Jerusalem an und gibt der Stadt Frieden. Das ist es auch, was die nächsten beiden Strophen beinhalten. Durch alle Kämpfe, Zerstörungen und Opfer hindurch ist der Glaube an Erneuerung da. Mit den erdachten Melodien, dem Gesang meines Volkes, wird ein imaginäres Jerusalem gezeichnet, welches strahlend aufgeht in seiner sich erneuernden Altstadt.
VI. Rachel Krampf Eine weitere Dichterin widmete sich in einem ihrer Gedichte ebenfalls dem Motiv „Jerusalem"43 (S. 38 f.), Rachel Krampf. Einige ihrer Texte erschienen in diversen Zeitschriften. Außerdem veröffentlichte sie 1970 und 1973 zwei 38
Jüdisches Lexikon, Bd. IV/2, Sp. 629.
39
Die zwölf Stämme sind nach den zwölf Söhnen des Jakob benannt: Rüben, Simon, Levi, Juda, Dan, Naftali, Gad, Ascher, Isachar, Sebulon, Joseph, Benjamin. 40
Die anderen drei Urmütter waren: Sara, Rivka und Lea.
41
Channa Szenesch (1921-1944) kämpfte im Zweiten Weltkrieg als Fallschirmjägerin und Funkoffizierin in Ungarn und Jugoslawien. Ausführlich dazu: Navd-Levinson, S. 140 ff. 42
Der Text des Priestersegens stammt aus den fünf Büchern Mose, dem Buch Numeri 6; 24-26 und lautet: „Der Ewige (andere Bezeichnung für Gott; E. J.-M.) segne dich und behüte dich. Der Ewige lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig. Der Ewige wende dir sein sicht zu und gebe dir Frieden." 43
In: Bay Zikh, H. 11, Tel Aviv 1977, S. 102.
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Gedichtbände in Tel Aviv. Ähnlich dem oben besprochenen Text von Malke Li, widmet sich Rachel Krampf der ewigen Stadt Jerusalem; allein der Zugang zur Thematik ist ein anderer. Während Li im Tonfall einer Hymne die Linie der mütterlichen und väterlichen Tradition wiedergibt und deren Erbe für die Heutigen zu einer hoffnungsfrohen Botschaft zeichnet, klingt es in den Strophen Krampfs wie die Feststellung einer Tatsache und schließlich wie eine Bestimmung, die zugleich ein Segen ist. Trotz der - körperlichen - Nähe zum Großvater bleibt der Eindruck erhalten, welcher beim ersten Lesen entstanden ist. Die enthaltene Distanz zur Ewigkeit macht den Spannungsbogen der Verse aus. Das Geheimnis der Mauern Jerusalems, welches für den Leser Geheimnis bleibt, während das lyrische Ich als auktorial auftritt. Das lyrische Ich kennt das Geheimnis, welches in direkte Verbindung zum weißen Haar des Großvaters gestellt wird. Die Krone, zunächst die der Jahre und dann die weiß-strahlende bildet das eigentliche Zentrum des Gedichtes. In einigen Lehren der Kabbala findet sich die Vorstellung vom Ur-Israel als das Geheimnis der höchsten Krone, der höchstmöglichen Nähe zu Gott. 44 „ The land of Israel [mit dem Herzstück Jerusalem; E. J.-M.] is the center of the earth, representing that which Israel is to represent among people"* 5 Eine Krone als solches symbolisiert das Herausgehobensein eines Einzelnen aus dem Volk, wobei das für Könige ebenso gilt wie für den Kopfschmuck der Hohepriester 46 nach dem Ende des israelitischen Königtums. Die mit dem Herausgehobensein verbundene Aufgabe lässt sich nicht leugnen, womit wir bei der Frage wären, was es mit dem Auserwähltsein Israels 47 auf sich hat. Die primäre Quelle der Idee entstammt der Bibel. 48 „Judaism avoided being drawn into a universalistic, proselytizing monotheism through is interpretation of election as a duty, the particular relation between a people and its god, in its social and historical reality. The mortal danger, from the point of view of Jewish monotheism itself, is confusion of the two levels: the infinite and the finite, the theological and the existential".49
Bei der Frage der Erwählung Israels muss ganz klar unterschieden werden zwischen einem Ideal und individueller Realität. Die weiß-strahlende Krone des Großvaters trägt einen Segen in sich, was zum einen das lange Leben des 44
Goshen-Gottstein, S. 705.
45
Ebd., S. 707.
46
Jenni/Westermann, S. 52.
47
Diese Begrifflichkeit und diese Frage ist m. E. nach nicht eindeutig zu klären, da jede Generation diese Frage neu stellte) und jede Generation und genau genommen jeder einzelne für sich eine Antwort darauffinden muss(te). 48 Die erste Erwähnung ist im Buch Exodus 19; 5 f. nachzulesen, wichtige weitere Stellen sind u.a. die Propheten Jeremijah und Jesaja. 49
Atlan, S. 58.
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Großvaters meint und zum anderen die erhoffte ewige Existenz des jüdischen Volkes. Die Existenz des Volkes erscheint hier gekoppelt an die Existenz Jerusalems, ebenso wie die ewige Suche nach Erneuerung. Im Herzen Jerusalems schlägt der Puls vom Neuen, immer vom Neuen...; welchem nicht entgangen werden kann. Es bleibt die Wahrnehmung, dass dieser Segen ein hohes Mass an Kraftaufwand in sich trägt. Dadurch entsteht der distanzierte und vorsichtige Eindruck, den diese Verse hinterlassen. Während die ersten beiden Strophen individuell und als eigene Erfahrung formuliert wurden, bildet die letzte Strophe einen Bruch, bezeichnet den Zwiespalt zwischen dem Eigenen und dem kollektiv Erfahrbaren. Die Dichterin trägt den Segen mit sich fort, empfindet aber die alltägliche umfassende Anforderung des Pulsschlages Jerusalems.
VII. Rachel Boimwol Mit einer Forderung, welche die Stadt Jerusalem mit sich bringt, setzt sich die folgende Autorin auseinander. Rachel Boimwol (1913-), eine Lyrikerin, die in Jerusalem lebt und ganz direkt mit den Verhältnissen und im besonderen mit der Atmosphäre dieser Stadt in Berührung kommt. Die,»Frühlingszeit in Jerusalem" 50 (S. 40 f.) ist eine Zeit, die ganz besondere Assoziationen weckt. Frühling bedeutet umfassend neues Leben, neues Werden und Wachsen in der Natur. Der Regen verwandelt Wege in Bäche und Flüsse, die ihrerseits brausendes Leben in die Stadt bringen. Frühlingsstürme, Sonne und Regen sind die Boten des Frühlings, die alle zusammen auf einen Schlag das Gesicht der Stadt verwandeln. Die Wege - laufen, treiben, tauchen, fließen, springen und dauern fort, - sind in Bewegung begriffen, wobei sie doch eigentlich festgelegte Koordinaten haben. Hier sind sie quasi lebendig, besitzen dabei die Eigenschaften von Wasser, welches seiner Natur folgend sich überall seinen Weg bahnt und dabei oft die seltsamsten Wege einschlägt. Bis einschließlich der dritten Strophe, bleibt der Leseeindruck, dass diese Strophen dem Frühling in der Natur gewidmet sind. In der vierten Strophe - ohne dass der entstandene Eindruck negiert worden wäre - werden die Leser direkt adressiert und auf ihre Entscheidungen hin sensibilisiert. Die Wahl der Entscheidung an etwas zu glauben oder nicht, liegt bei jedem Einzelnen. Die Hoffnung auf die Fähigkeit zur richtigen Wahl ist in den letzten beiden Versen bereits angelegt: es funkelt die Mandelblüte nächtens da in den Feuernl Der Mandelbaum blüht als erster Baum bereits im Monat Schevat,51 womit die Bedeutung seines hebräischen Namens 50 51
In: Bay Zikh, H. 11, Tel Aviv 1977, S. 66.
Der Monat Schevat des jüdischen Jahres entspricht den Monaten Januar und Februar. In diesem Monat wird das Neujahr der Bäume „Tu bi-Schevat" gefeiert.
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scheqedia, „der Wachsame",52 zusammenhängt. Es ist der erste Baum, der Blüten trägt und so den Frühling ankündigt. Die Mandelblüte als Symbol der Hoffnung leuchtet heller als die Feuer. Ihr Leuchten bahnt sich einen Weg, wie die Bäche und Flüsse, durch alle Kämpfe und selbst durch Feuer lässt es sich nicht aufhalten. Die Hoffnung bleibt trotz dessen bestehen, so wie der Mandelbaum jedes Jahr wieder Blüten trägt. Ein gänzlich anderer Zugang lokaler Verbundenheit zeigt sich in den folgenden Versen der Jerusalemer Dichterin. „Orangen" 53 (S. 42 f.) lautet der ebenso einfache wie vielsagende Titel dieses Gedichtes. Vielsagend aufgrund der Assoziationen, die damit ausgelöst werden. Diese goldenen Früchte in einer strahlend orangenen Verpackung mit ihrem süßen Geschmack sind für die Daseinsfreude geradezu prädestiniert. Das Dasein schließlich ist es, worum es hier geht. Nicht menschliches Dasein ansich, sondern die Existenz als Juden, auf die man angesichts des israelischen Produkts stolz ist. „Man" das sind diese Juden, die sich zum Narren machen, nur deshalb, weil sie Orangen aus Israel in der Diaspora in Moskau kaufen können. Offensichtlich ist nicht der Kauf der Früchte selbst von entscheidender Bedeutung. Der etwas ironische Unterton und die Belustigung der Dichterin ist trotz eines lyrischen Ichs, welches mit zur Reihe der Käufer zählt, bei der Schilderung des Kaufens unverkennbar. An den berühmten Jaffa-Orangen zeigt sich der Stolz auf die Hervorbringungen des Landes, dem man sich verbunden und zugehörig fühlt. Für den jüdischen Stolz nicht wenig entscheidend ist zudem die Tatsache des allgemeinen Mangels an Südfrüchten im Sozialismus. Die damit zutage tretende Überlegenheit des ansonsten unerwünschten Landes Israel löst ein Wohlgefuhl bei den Käufern aus, was durch die historische Einordnimg des Gedichtes durch die Autorin, in den September 1966, in eine Zeit eklatanten Mangels noch betont wird. Der einzige, der nicht weiß und vermutlich nicht wissen will, woher die Ware stammt, ist der Goj, ein Nichtjude. Es ist der Verkäufer dieser Früchte, welcher von den Kaufenden bis zum Rand der Erschöpfung getrieben wird, weil sie es nicht erwarten können, die kostbare Verknüpfung zu ihrem gelobten Land herzustellen.
52
Keel/Küchler/Uehlinger, S. 82.
53
In: Bay Zikh, H. 20, Tel Aviv 1982, S. 103.
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Vffl. Fazit Wie aufgezeigt werden konnte, gibt es eine Vielzahl der unterschiedlichsten Lesarten und Imaginationen Israels. Ausgehend von der traditionellen Überlieferung von Hebräischer Bibel, Talmud und Midrasch bis hin zu modernem Konsumverhalten, zieht sich der Bogen hinweg und bietet damit einen Einblick in die einzigartige Beziehung zum Land Israel. Dabei ist m.E. deutlich geworden, dass alle Autorinnen nicht nur ein Interesse an diesem Land haben, sondern auch auf ihre jeweils eigene Weise versuchen ihren Zugang zu finden. Sie verorten sich nicht nur in den historischen Koordinaten ihrer Tradition. Sie finden Wege, diese Erfahrungen auf die heutige Zeit zu übertragen und auf die aktuellen Verhältnisse zu übertragen. „ The connection of Israel the people and Israel the land is therefore vital ". 54
54
Goshen-Gottstein, S. 707.
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Gedichte 55
רחל קארן דער ווענ קיץ ירושלים א בארג ארויף ,בארג ארויף שלענגלט ,דרייט זיך רער וועג צווישן פעלדזן אוראלטע און ביימער - א וועגווייזער איז דא יערער בוים צו רער שטאט, באטליתט מיט תפילות און טרוים. ביים ראנד פונעם וועג מיט די בייכער ארויף, מיט צעבראכענע ריפן, לינן טאנקען און דזשיפן, אזר ,ווי זיי זענען געפאלן אין יענע פארכטיקע טעג. רער זשאותגר ראסטיקט ,ווי פאגליווערט בלוט אויף די סקעלעטן פון טאנקען און טאנקעטען - אזא שווייגן אדום, קיין פויגלשער צווירטש, קיין שום מענטשלעך קול, ניט צו וועקן די שטילקייט אויף רעם בית-עלמין פון אייזן און שטאל. צווישן ראסטיקן אייזן פארטריקנטע בלומען, ז און אט אין מיטן א פרישער בוקעט, נאך פייבט פון טל ,צי פון טרערן - כ׳קען קענעם ניט זען, ס׳איז קיין טריט ניט צו הערן, מסתמה געקומען, געשטאנען א ווייל און אוועק 55
Die Israel-Gedichte der Schriftstellerinnen sind auf den folgenden Seiten in Jiddisch und Deutsch (Übertragung durch die Verfasserin) abgedruckt.
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Rachel Korn Der Weg nach Jerusalem a. Berg hinauf, Berg hinauf schlängelt, windet sich der Weg zwischen uralten Felsen und Bäumen - jeder Baum ein Wegweiser zu der Stadt, eingehüllt von Gebeten und Traum. Beim Wegesrand mit den Bäuchen oben, mit gebrochenen Rippen, liegen Panzer und Jeeps, so wie sie gefallen sind in jenen furchtbaren Tagen. Der Kamerad rostet, wie geronnenes Blut auf den Skeletten von Panzern und Waffen ־solch ein Schweigen. kein Vogel zwitschert, keine menschliche Stimme, nichts weckt die Stille auf dem Friedhof von Eisen und Stahl. Zwischen rostendem Eisen vertrocknete Blumen und sieh, mittendrin ein frisches Bukett noch feucht vom Tau, oder von Tränen Ich kann niemanden sehen, kein Schritt ist zu hören vielleicht gekommen, gestanden einen Moment und fort auf geschlängeltem Weg. Eine Mutter, eine Schwester, eine Braut, ein Weib? Umarmen den Jeep, oder den Panzer, als wäre es des Geliebten Leib mit Eisen und Stahl verwachsen zu befreien die Stadt auf dem Berg, die Stadt von heute und einst. Berg hinauf, Berg hinauf, schlängelt, windet sich der Weg zwischen uralten Felsen und Bäumen jeder Baum ein Wegweiser zu der Stadt eingehüllt von Gebeten und Traum. Mein Vater versuchte für mich das Exil zu verstecken inmitten blühender Gärten, grüner Wiesen, bis es in seinem Blut weinte ־ die Sehnsucht nach der trauernden Schechina.
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מיט געשלעננלטן והגג א מאמע ,א שוועסטעה א כלה ,א ווייב? ארומנענומען דעם דזשיפ ,אדער טאנק, גלייך דאם וואלט נעווען פון געליבטן ראם לייב, וואם האט דך פארשותפט מיט אייזן און שטאל צו באפ1רייען די שטאט אויפן בארג, די שטאט פון היינט"און א מאל. בארג ארויף ,בארג ארויף שלעננלט ,דרייט זיך דער וועג צווישן פעלדזן אוראלטע און ביימער - א וועגוויתער איז דא יעדער בוים צו דער שטאט, באטליתט מיט תפילות און טרוים.
ב מיין טאטע האט געפתווט פאר מיר דעם גלות אויסבאהאלטן אונטער סעדער בליענדיקע ,לאנקעס גרינע, בעת עס האט אין בלוט זיינעםיגעוויינט די בענקשאפט צו דער טתיערנדיקער שבינה. פון פרעמדע ערד פארדעקט האט זיינע יונגע ביינער, ווער ווייסט ,צי ס׳איז א זכר נאך פארבליבן פון קבר זיינעם אויף מאשציסקער בית-עלמין, ווו דער פארלענדער האט געפלאסטערט גאסן מיט די מצבה-שטיינעד'. נאר מיר דער איינציקער פון זיינע קינדער דריי איז עם געווען באשערט דורך אלע נע־ונדן זיין בענקשאפט צו דערטראגן, זי זאל קענען א קוש טאן די הייליקע ערד.
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[Fortsetzung von] Der Weg nach Jerusalem b. Mitten aus Getreidefeldern und dichten Wäldern umgeben von nichtjüdischen Nachbarn, bahnte seine zitternde Stimme sich einen Weg in die Urheimat: ״Zum nächsten Jahr im aufgebauten Jerusalem". Fremde Erde bedeckt nun seine jungen Gebeine, Wer weiss, ob noch eine Erinnerung verblieben von seinem Grab auf dem Moschzisker Friedhof, wo der Zerstörer die Strassen pflasterte mit den Steinen der Gräber. Nur mir, als einzigem seiner drei Kinder ist es bestimmt durch alle Heimlosigkeit seine Sehnsucht zu tragen, für einen Kuss auf die heilige Erde.
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ראזא גוטמאן באת פון ישראל בארג פון ישראל -רעשט פון חרובער אור־אלטער שטיינערנער בריק צווישן היטל און ערד! קלעטערט ווער אין די נעבט -א גרייז־גרויער ,מיט יונגן געניק, און ער שארט אויפ דיין היד ,און ער קלאפט, אוןערשווערט, און ער מאנט די פארלארענע אור-אלטע בריק צווישן הימל און ערה
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Rose Gutman Berg von Israel Berg von Israel Rest einer uralten zerstörten steinernen Brücke zwischen Himmel und Erde! Klettert jemand in der Nacht ein Greis-grauer, mit jungem Hals, und er scharrt auf deiner Höhe und er klopft und er müht sich, und er verlangt nach der verlorenen uralten Brücke zwischen Himmel und Erde?
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קאדיע מאלאדאווסקי פון ירושלים* פון וואנען קומט דאס ליכט איבער די ומלט? פון ירושלים קומט דאם ליכט איבער דער וועלט ,ווייל דארט רוט די שכינה - קומט האם ליכט איבער דער וועלט. פון וואנען קומט געזאנג איבער דער וועלט? פון בארג פון ציון קומט געזאנג איבער דער וועלט ,ווייל דארטן רוט דער זינגער - מיזמור שיר'לדוד - קומט געזאנג איבער דער וועלט. פון וואנען קומט דער חסד איבער דער וועלט? פון ירושלים קומט דער חסד איבער דער וועלט ,ווייל דארט זענען געגאנגען די נביאים - קומט דער חסד איבער דער וועלט. פון וואנען קומט די גבורה איבער דער וועלט? פון די זאמדן פון בארג סיני קומט די גבורה איבער דער וועלט ,ווייל דארטן טראגט מען די געבאטן אויף דייפייערדיקע זיילן - קומט די גבורה איבער די וועלט, פון וואנען קומט די שיין איבער דער וועלט? פון די שטיינער פון ירושלים קומט די שיין איבער דער וועלט ,ווייל מען האט געוואשן זיי מיט טרערן ,ווייל מען האט געלייטערט זיי מיט פיינען - קומט די שיין איבער דער וועלט.
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Kadye Molodovsky Von Jerusalem (Volksmotiv) Woher kommt das Licht in die Welt? Von Jerusalem kommt das Licht in die Welt, weil die Schechina dort ruht kommt das Licht in die Welt. Woher kommt der Gesang in die Welt? Vom Berg von Zion kommt der Gesang in die Welt, weil der Sänger dort ruht Psalmenlied Davids - kommt der Gesang in die Welt. Woher kommt die Gnade in die Welt? Von Jerusalem kommt die Gnade in die Welt, weil die Propheten dort wandelten kommt die Gnade in die Welt. Woher kommt die Kraft in die Welt? Von den Sanden des Berg Sinai kommt die Kraft in die Welt, weil die Gebote dort getragen auf feurigen Säulen kommt die Kraft in die Welt. Woher kommt die Schönheit in die Welt? Von den Steinen Jerusalems kommt die Schönheit in die Welt, weil sie mit Tränen gewaschen, weil sie mit Schmerzen geläutert kommt die Schönheit in die Welt.
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מלכה לי ירושלים א געזאנג צו דיה מאמע־שטאט ירושלים! מיט שירה וועלן דיינע טויערן זד באנייען, מרימם טעכטער מיט פלייטן און מיט צימבלען וועלן אויסשאלן פרייר צו דיינע הימלען... פון טאל און בערג וועלן אויפשקאלן צו דיר געזאנגען ,דורך צוויי טויזנט יאה מיין פאלק איז אויפגעגאנגען, יעקבס קינדער וועלן צו דיה ירושלים, טרינקען פון דיינע אלטן כוס :לחיים. פון פעלדער וועלן קומען שניטער־יונגען, פאסטעבער מיט שעפסן פון די בעת צעשפרונגען ,מיט יונגער גבורה דיין אלטקייט צו באנייען ,מיט געזאנג צו דיינע טויערן ,ירושלים, אויף קעמלען יונגע פארלעך מיט די לירעס, הארבן אנגעלאדן מיט רחבות און עשירות, יעקבס לייטער אויפשטראלן וועט ווידער - א געזאנג פאר דורות :מייגע ברידער... פון דער ווייטער ווייט פון מייגע דלד-אמות - דאם אויסגעבעגקטע ליד פון אלע מאמעם, דארט ווו רחלם קבה ווו חנה סעגעשם חלום, חף אד צו דיר און ניב דיר שלום. צו דיינע טויערן פון קאמפן און פון דגן, שיק אד דיר מיין אויסנעבענקטע ניגון. דיין אלטשטאט זאל מיט יובל באנייען פון חורבן און פון טרויער זד באפרייען... ביי דיינע חורבות פון שטיינער און פון שטויבן בויט מיין פאלק מיט נייעם גלויבן, פון דארשט זאון הונגער ניט געבראבן - א געזאנג צו דיר פון ליכטיקן נצחון!
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Malke Li Jerusalem Ein Gesang für dich, Mutterstadt Jerusalem! mit Liedern werden deine Tore sich erneuern, Miriams Töchter mit Flöten und Zimbeln tragen Freude hinaus in deine Himmel. Von Berg und Tal erschallen Gesänge zu Dir, durch zweitausend Jahre, - aufgegangen ist mein Volk, Jakobs Kinder sehnen sich nach dir, Jerusalem, trinken aus deinem alten Becher: auf das Leben. Auf Bergkämmen junge Paare mit der Leier Hügel laden ein mit Gemütlichkeit und Überfluß Jakobs Leiter wird wieder erstrahlen ein Gesang für Generationen: meine Brüder... Aus der weiten Weite meiner Vier-Wände das erdachte Lied aller Mütter, dort, wo Rachels Grab, wo Channa Szeneschs Traum rufe ich zu dir und gebe dir Frieden. Zu deinen Toren von Kämpfen und Siegen, schicke ich meine erdachten Melodien. Deine Altstadt soll mit Frohlocken sich erneuern von Vernichtung und von Trauer sich befreien... Nahe deinen Vernichtungen von Steinen und Staub baut mein Volk mit neuem Glauben, von Durst und Hunger ungebrochen ein Gesang zu dir vom strahlenden Sieg!
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רחל קראמף ירושלים ירושלים האט באהאלטן אין אירע ווענט דעם סוד פון אונחערע עלטער־עלטער זיידעס. דאם האט מיין זיידע מיר דערציילט, בעת איך האב די קרוין פון יארן ז אויף זיין ווייסן קאפ געגלעט. אויף מיין זיידנס קאפ נעלויבטן האט א ווייס־שטראליקעיקרוין. אין איר האט געפינקלט א ברבה פאר אונדז: אייביק צו זיין *
ירושלים את ווי די אייביקייט אלט, ירושלים את ווי די אייביקייט ניי. אין הארץ פון ירושלים קלאפט דער דופק פון דאם ניי, אלעמאל פון דאם ניי...
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Rachel Krampf Jerusalem Jerusalem wahrte in ihren Mauern Das Geheimnis unserer Ururgroßväter. Das hat mein Großvater mir erzählt, während ich die Krone der Jahre auf seinem weißen Kopf streichelte. Auf meines Großvaters Kopf leuchtete Eine weiß-strahlende Krone. In ihr funkelte ein Segen für uns: Ewig zu sein Jerusalem ist wie die Ewigkeit alt Jerusalem ist wie die Ewigkeit neu. Im Herzen Jerusalems Schlägt der Puls vom Neuen, immer vom Neuen...
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רחל בדמוואל ירושלים פחליעצייט אלץ מיט א מאל -מיין ערן ווארט! ס׳איז ווינטיק-זוניק-רעגנדיק. א וועג לויפט דא ,א וועג לויפט דארט, זיך טרעפן ניט דערוועגנדיק. א וועג לויפט דארט ,א וועג לויפט דא, זיי שטויסן אויףא בוים זד אן און טונקען אפ זיך אין זיין בלא - ז ער את אין בלומען אנגעטאן! א וויילע טונקען זיי זד אפ און אין דער קרום צעפליען זד - אט -בארג ארויף ,אט -בארגאראפ די שפרינגען אלץ אץציען זד. צי גלייבט איר יא ,צי גלייבט איר ניט - די ברירה את שדן אייערע - עם שימערירט דער מאנדל-צוויט ביינאבט דא אין די פייערן!
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Rachel Boimwol Frühlingszeit
in Jerusalem
Alles auf einmal ־mein Ehrenwort! Es ist stürmisch-sonnig-regnerisch. Ein Weg läuft da, ein Weg läuft dort, nicht wagend, einander zu begegnen. Ein Weg läuft dort, ein Weg läuft da, treiben an einem Baum einander zu tauchen ein in sein Blau ־ er ist in Blüten eingehüllt! Eine Weile tauchen sie ein auseinanderfliessend in der Biegung nun ־den Berg hinauf, nun ־den Berg hinab Sie springen weiter und dauern fort. Glaubt es oder glaubt es nicht die Wahl ist schon euere ־ funkelt die Mandelblüte nächtens da in den Feuern!
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Esther Jonas-Märtin
רחל ברמוואל פאמעראנצן' פאמעראנצן מיט א שטעמפל ״יפו״ - הא אין מאסקווע האנדלט מען מיט זיי. ב׳נעם אתים ראם לעצטע געלד פון שאפע און איך גיי זיך'שטעלן אין דער ריי. אין דער ריי אמיינסטן שטייען יידן. אויף די קעסטלעך קוקן זיי מיט שטאלץ. איי די יידן! מע איז שטארק צופרידן מיטן אויפשריפט ״יפו״ אויפן האלץ. דעם פאקויפער האבן זיי פארמאטערט. שטופנדיק האם געלט אים אין דער האנט, מאבט זיך יעדער איינער תמעוואטע: פאמעראנצן! פון אוועלבן לאנד ?... ב׳ווייס ניט! טוט א ברום דער גוי פארביסן,און ער באפט זד פא דער והאגשאל שנעל. נאר דער פרעגער גיט אים גלייך'צו וויסן: -זעסט דעם אויפשריפט ? ס׳איז פון ישראל!
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Der imaginäre Ort: Israel
Rachel Boimwol Orangen Orangen mit dem Stempel ״Jaffa" Dort in Moskau handelt man mit ihnen. Das letzte Geld vom Wandschrank nehm ich heraus und geh mich in die Reihe stellen. In der Reihe stehen zumeist Juden. Auf die Kästen sehen sie mit Stolz. Eh! Schau diese Juden! Man ist sehr zufrieden Mit der Schrift ,Jaffa" auf dem Holz. Den Verkäufer haben sie entkräftet. Drücken das Geld ihm in die Hand, macht ein jeder sich zum Narren: - Orangen! Aus welchem Land? ... - Weiss nicht! Brummt der Goj verbissen, schnell wirft er sich zur Waagschale. Jedoch der Frager gibt ihm gleich zu wissen: ־Siehst die Aufschrift? S'is aus Israel!
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Israel-Entwürfe deutsch-jüdischer Emigranten nach 1933* Von Marina Sassenberg
I. Einleitung Flucht und Exil sind im „Zeitalter der Migration" (Stephen Castles) zentrale Themen der jüngsten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Vor diesem Hintergrund erklärt sich, dass seit Mitte der 1980er Jahre die Exilforschung einen enormen Aufschwung erlebt hat. Zugleich herrscht wissenschaftlicher Konsens darüber, dass noch viele Fragen offen sind. Dies betrifft auch und vor allem das deutsch-jüdische Exil nach 1933.1 Der Kontext der vorliegenden Publikation erlaubt, eine dieser Leerstellen zu untersuchen. Ein solches Unternehmen führt zunächst auf einen früheren Forschungszusammenhang zurück: In den 1990er Jahren referierte die Verfasserin in Israel mehrmals zu biographischen Themen der deutsch-jüdischen Geschichte und damit auch zum deutsch-jüdischen Exil. Im Anschluss an die Vorträge wiederholte sich im Publikum stereotyp die Frage: „ Welches Verhältnis hatte XY zu Israel? " Sie kam von Seiten der sogenannten „Jeckes", den nach 1933 ins Land eingewanderten Flüchtlingen aus Deutschland.2 Im Vordergrund stand nicht die politische Orientierung der biographierten Person bzw. deren Einstellung zum Zionismus. Vielmehr ging es um die Formulierung eines gemeinsamen Ortes, ungeachtet aller biographischen und politischen Unterschiede. Nach ihrer Einwanderung oft noch als „Hitler-Zionisten" beschimpft, hatten sich die meisten deutschen Einwanderer mit größter physischer und psychischer Kraftanstrengung eine neue Existenz in Palästina/Israel aufgebaut und sich im Land etabliert. Was sie suchten, war Anerkennung, Zuspruch und Bestätigung, das Richtige getan zu haben. Auch und vor allem von jenen, die nicht unbedingt zionistisch dachten und nach 1933 andere Wege ins Exil gegangen waren. Mit
* Heinrich Schupler zum Gedächtnis (Köln 1907 - Haifa 2001). 1 So jedenfalls lautete der Tenor der Herausgeber des 19. Jahrbuchs für Exilforschung (Krohn et al.) im Vorwort, S. 9. 2
Es gibt inzwischen eine Reihe von Arbeiten zur Geschichte der Jeckes, siehe letzthin noch Joachim Schlör: Endlich im Gelobten Land? Deutsche Juden unterwegs in eine neue Heimat. Berlin 2003.
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dem biologischen Ende der Generation der Jeckes stellt sich die Frage neu und im identitätsgeschichtlichen Diskurs der deutsch-jüdischen Historiographie. 3 Unmittelbar nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten im Jahr 1933 suchte nur eine zahlenmäßige Minderheit deutscher Juden sofortige Zuflucht im damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina. Zumeist handelte es sich um überzeugte Zionisten, die vor sich eine Aufgabe und eine Zukunft in einem noch zu gründenden Staat Israel sahen. Das Land war für sie gesellschaftliche und politische Herausforderung, mit der sie sich täglich auseinander zusetzen hatten und über die vielfach geschrieben worden ist. Blicken wir deshalb auf die anderen, die Mehrheit derjenigen, die in die westlichen Industriestaaten emigrierten, zunächst ins benachbarte europäische Ausland, später vornehmlich in die USA. Der analytischen Klarheit wegen möchte ich diese als Westemigranten bezeichnen.4 Für diese Gruppe von Emigranten war das damalige Palästina ein abstrakter Begriff. Im Vordergrund stand ihr Bedürfnis, sich an die Gesellschaft des jeweiligen Exillandes anzupassen, im Hintergrund die deutsche Vergangenheit, die Erinnerung an Landschaft und Kultur. In ihrem Werk, in autobiographischen Schriften und Korrespondenzen formte sich dennoch ein Begriff von „Israel", gleichsam als Vexierbild, mit unterschiedlichen Zusammenhängen, Funktionen und Konnotationen. Der folgende Beitrag versucht, einen Teil dieses Bildes zu skizzieren,5 biographisch festgemacht an den Beispielen der Kunsthistorikerin Julie Braun-Vogelstein, der Dichterin Nelly Sachs sowie dem Rabbiner Albert H. Friedlander.
3
Soweit im Rahmen dieser Arbeit zu übersehen ist, existiert noch keine systematische Untersuchung zu diesem Thema. Bedauerlicherweise wurde die vielversprechende Arbeit von Marion Hamm mit dem Titel „Zwischen-Identi täten. Komplexe Geschichtskonstruktionen deutsch-jüdischer Emigranten und Emigrantinnen in Großbritannien", gefördert vom Deutschen Historischen Institut London, nicht vollendet (Marion Hamm an die Verfasserin am 10. August 2004). 4
Der Text stützt sich im wesentlichen auf Aussagen, autobiographische Quellen und Korrespondenzen von Emigranten aus dem Bereich von Kultur und Wissenschaft, die über sich, ihre Situation im Exil etc. reflektierten. 5
An dieser Stelle sei der Werkstattcharakter dieses Beitrags betont - um zu wissenschaftlich verlässlicheren Aussagen zu gelangen, ist eine sowohl zeitlich wie räumlich umfangreichere systematische Untersuchung erforderlich. Auf ein hier zu erwartendes Kapitel „Hannah Arendt und Israel" wurde aus Gründen der Originalität und des Textumfangs verzichtet. Das Thema ist vielfach dokumentiert und hätte bei weitem den Rahmen dieser Arbeit überschritten.
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Π. 1933: Fluchtentwürfe Um zu verstehen, wie ein Begriff von Palästina/Israel nach der Emigration formuliert wurde, muss zunächst danach gefragt werden, ob vor 1933 ein solcher Begriff existierte und wenn ja, in welcher Form. Zionistische Konzeptionen waren bis zum Jahr 1933 eher Theorie als Praxis.6 Anhänger des Zionismus, Intellektuelle und Studenten zumeist, begriffen sich als „ elitärer Vortrupp im deutschen Judentum Für sie war Herzls „jüdische Heimstatt" Palästina vor allem eine Idee. Als sich deren Umsetzung erstmals mit der Balfour-Deklaration 1917 konkretisierte, gingen die Meinungen über das „Wie" diametral auseinander. Wollten die einen, zumeist älteren, exponierten Persönlichkeiten der zionistischen Bewegung, die „Gegenwartsarbeit" in der Diaspora stärken, proklamierten die anderen, vorwiegend jüngeren, das ausschließliche Ziel, den Aufbau Palästinas zu befördern, und zwar persönlich und vor Ort. 8 Abgesehen von dieser zionistischen Minderheit besaßen die meisten deutschen Juden überhaupt kein Verhältnis zu Palästina, weder geographisch, noch ideologisch. Viele hatten infolge der berüchtigten „Judenzählung" des Jahres 1916 überhaupt erst begonnen, über ihr Verhältnis zu Deutschtum, Judentum und Zionismus nachzudenken. In diesem Jahr hatte eine Erhebung des preußischen Innenministeriums über die Kriegsbeteiligung von Soldaten jüdischer Herkunft den latenten Antisemitismus in einer bis dahin nicht gekannten Weise geschürt und damit alle jüdische Existenz in der deutschen Gesellschaft zur Disposition gestellt.9 Unabhängig von der Einstellung, die vom Dissidententum bis zum traditionellen Judentum reichte, stand man als deutscher Jude nun vor der Frage: „Abkehr vom Judentum oder Hinwendung zu ihm? " Die wenigsten hinterließen Zeugnisse darüber, wie sie dachten und welche Entscheidung sie am Ende trafen. Zu diesen Ausnahmen zählte die Historikerin Selma Stern (1890-1981), die 1941 in die USA emigrierte „große alte Dame der deutsch-jüdischen Geschichtswissenschaft". Kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs notierte sie in ihr Tagebuch: „Der Zionismus [...] ist mir fremd. Ich könnte mich in Palästina nie wohlfiihlen. Ich hänge an allem in Deutschland, an seiner Kultur, seiner Geschichte, seiner Literatur, an allem Germanischen 6
Vgl. Schütz, S. 129.
7
Barkai, S. 91.
8
Vgl. ebd., S. 91 f.
9
Nach Meyer besaß der Antisemitismus seit 1880 einen zwiespältigen Einfluss auf die jüdische Identität: Er führte sowohl zur Entfremdung vom Judentum wie auch zu dessen Neubelebung. In der zweiten Hälfte des Kaiserreichs stärkte er den Zionismus, führte zu einer Neuorientierung in der Wissenschaft des Judentums und bei einem kleinen Teil der deutsch-jüdischen Gesellschaft zur Rückbesinnung auf ihr Judentum. Meyer, S. 66-69.
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mit ganzem Herzen. " 1 0 Viele waren wie Selma Stern nicht mehr in jüdischen Traditionen aufgewachsen, beherrschten nicht oder nur rudimentär die hebräische Sprache. Man fühlte sich deutsch und zu einem variablen Prozentsatz auch jüdisch, lebte mit den Worten des Schriftstellers Ludwig Marcuse (1894-1971), als „gebildeter Europäer in einer Welt mit dem Zentrum Paris" In dieser Welt war New York „ferner als Afrika " und Jerusalem allenfalls ein virtuelles Konstrukt, erinnert aus Gebeten und Segenswünschen der Kindheit. Dies änderte sich im Jahr 1933. Mit zunehmender Bedrohung durch die Nationalsozialisten rückte Palästina als konkretes Emigrationsziel auch für nicht ideologisch gebundene Juden immer näher. Bis 1936 nahm das britische Mandatsgebiet die meisten Auswanderungswilligen auf. Vorwiegend Jugendliche und junge Erwachsene bereiteten sich deshalb in Hachschara-Lagern auf das neue, harte Leben in einem großenteils noch zu kultivierenden Land vor, lernten handwerkliche und technische Fertigkeiten. Wer unvorbereitet einreiste, traf insbesondere bei der ersten zionistischen Einwanderungsgeneration auf Skepsis, so dass die Frage an die Neueinwanderer immer öfter lautete: „Kommen Sie aus Überzeugung oder kommen Sie aus Deutschland?" 12 Denen, die noch in Deutschland waren, konnte solches nicht verborgen bleiben. Mochte vieles für eine Flucht nach Palästina sprechen - die meisten konnten sich dazu nicht entschließen und hielten privat wie beruflich an ihrem Lebensmittelpunkt fest. Sterns Ehemann, der Althistoriker und Leiter der Berliner Akademie für die Wissenschaft des Judentums, Eugen Täubler (1875-1953), der sich als Vermittler zwischen der zionistischen Bewegimg in Palästina und der „Diaspora" verstand,13 zögerte bei dem Gedanken an eine mögliche Übersiedlung nach Jerusalem, aus privaten, aber auch axis beruflich-pragmatischen Gründen: die institutionelle Emigration der Wissenschaft des Judentums, an der er zusammen mit anderen Kollegen beständig arbeitete, 14 ließ sich einfacher innerhalb Europas bewerkstelligen als ein Transfer nach Palästina. Auch der Dichter Karl Wolfskehl (1869-1948) emigrierte nicht nach Palästina, sondern über die Schweiz und Italien, wie er schrieb, ans „Ende der Welt", nach Neuseeland, im wesentlichen, wie es in den Erinnerungen eines Freundes heißt, aus Furcht vor einem von Hitler initiierten Weltkrieg, in den nach Ansicht Wolfskehls Europa, Afrika
10
Tagebucheintrag vom 24. September 1917; Selma Stern-Täubler Collection, Leo Baeck Institute (LBI) New York. 11
Marcuse, S. 249.
12
In deutsch-jüdischen Emigrantenkreisen wird dieses Wort bis in die Gegenwart kolportiert, ist aber auch nachzulesen, u.a. bei Grossmann, S. 152. 13
Vgl. Schart>aum, S. 76 f.
14
Vgl. dazu Nattermann.
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und Westasien einschließlich Palästina verwickelt sein würden. 15 Täubler und Wolfskehl schätzten wie andere die Idee des Zionismus, nicht aber die Vorstellung der eigenen „Alijah". Unabhängig von ihrer politischen Einstellung kam für die meisten deutschen Juden eine Flucht nach Palästina nicht in Frage. Die Skala derer, die diese Position vertraten, reichte politisch von rechtskonservativ bis links, vom Historiker Hans-Joachim Schoeps (1909-1980) über den Staatsbeamten Fritz Rathenau (1875-1949) 16 bis zu der damals im zionistischen Untergrund tätigen Hannah Arendt (1906-1975). Ihr missfiel das Klima, die orientalische Kultur, auch das Hebräische, von dem sie behauptete, es sei keine Sprache, sondern ein „nationales Unglück" Dennoch verstärkten sich seit 1933 die Bemühungen aller jüdischen Organisationen und Selbsthilfegruppen, eine größtmögliche Zahl Ausreisewilliger auf ihre Auswanderung nach Palästina vorzubereiten. Das gemeinsame Ziel der langfristigen Existenzsicherung zwang Zionisten und Nichtzionisten zur Zusammenarbeit. Selbst der liberalkonservative „Centraiverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" begrub seine Jahrzehnte alten Differenzen mit der Zionistischen Vereinigung fur Deutschland und setzte sich für Maßnahmen zur Auswanderung nach Palästina ein. 18 Deutsch-jüdische Erinnerungen an die Jahre vor der Emigration kreisen immer wieder um das Thema „Bleiben oder Gehen - und wenn ja, wohin? " sowie um das Für und Wider potentieller Aufnahmeländer. Zu den bevorzugten Emigrationszielen wie den Vereinigten Staaten, Palästina, England und Frankreich 19 traten immer exotischere Namen potentieller Einwanderungsländer wie Marokko (Casablanca), China (Shanghai), New South Wales (Sydney), Madagaskar. Andererseits: je größer die Fluchtbewegung aus dem nationalsozialistischen Deutschland wurde, desto mehr Länder erschwerten die Einreise (Großbritannien); manche schlossen ihre Tore ganz (Brasilien, Ecuador). 20 Der Romanist Victor Klemperer (1881-1960), der 1933 öffentlich sein deutsches Selbstverständnis verteidigt hatte,21 konnte sich lange Zeit ein Leben im Exil 15
Vgl. Maier, S. 195 f.
16
Vgl. zu Rathenau die biographische Studie von Thomas Rink.
17
Siehe Hannah Arendt an Heinrich Blücher, 8. August 1936. In: Lotte Köhler (Hg.): Hannah Arendt - Heinrich Blücher. Briefe 1936-1968. München-Zürich 1996, S. 39; zit. nach Vowinkel/ Borowicz, S. 37. 18
Vgl. Matthäus, S. 28.
19
Die Reihenfolge richtetsich nach dem Umfang des Aufnahmekontingents des Emigrationslandes. Vgl. die Tabelle der Aufnahmeländer jüdischer Flüchtlinge 1933-1943 bei Grossmann, S. 161. 20
Adler-Rudel, S. 74.
21
Klemperer, Bd. 1, S. 67. Zu den deutsch-jüdischen Selbstentwürfen Klemperers vgl. Rieker.
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nicht vorstellen, nicht einmal, was nahegelegen hätte, in Frankreich. Erst angesichts der akuten Bedrohung nach dem Novemberpogrom 1938 sah er unter anderem auch in Palästina eine Option, obwohl im britischen Mandatsgebiet die Einwanderungsmöglichkeiten vor allem nach den arabisch-jüdischen Konflikten 1936 drastisch eingeschränkt waren: „ meine SOS-Rufe sind überall hingegangen", schrieb Klemperer am Silvesterabend 1938 in sein Tagebuch: „nach Lima, nach Jerusalem, nach Sidney, an die Quäker in Livingstone Ζ' 22 Der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Hans Mayer (1907-2001), der in der Schweiz überlebte, analysierte in seinen Erinnerungen seinen Entschluss gegen den Fluchtort Palästina folgendermaßen: „Wenn ich damals nicht einen Augenblick an den Zionismus dachte, obwohl es keine Unterhaltung mit jüdischen Emigranten gab, die nicht von Palästina gehandelt hätte und dem Altneuland des Theodor Herzl, so verbarg sich dahinter eine tiefe, in die Kindheit hinabreichende Scheu, fast eine Inhibition, mir ein Leben »unter lauter Juden' vorzustellen."23 Damit beschrieb er die Haltung der Mehrheit jener, die sich, auch nach 1933, in erster Linie als Deutsche verstanden eine Haltung, die jedoch mit zunehmender Bedrohung und Dauer des Exils immer brüchiger wurde. Im Exil entstand eine Art intellektuelles und emotionales Vakuum, das auch als Einsamkeit, Sprachlosigkeit, Ort- und Heimatlosigkeit reflektiert wurde. Als Reaktion darauf entwickelten sich im wesentlichen zwei Handlungsmuster: während die einen sich der eigenen Sprache und Vergangenheit zu entledigen suchten, gingen die anderen daran, ihr deutsch-jüdisches Selbstverständnis in der Erinnerung zu konservieren. Es waren zum Glück nur wenige, die wie der Schriftsteller Stefan Zweig an dieser Exilerfahrung zerbrachen. Zweig beschrieb diese Situation mehrfach in Briefen und Gesprächen mit Freunden, so auch an Carl Zuckmayer: , J)ie Welt, die wir geliebt haben, ist unwiederbringlich dahin. Und zu dem, was später kommt, können wir nichts mehr beitragen. Unser Wort wird nicht mehr verstanden werden - in keiner Sprache. Wir werden Heimatlose sein - in allen Ländern. Wir haben keine Gegenwart und keine Zukunft." 24 Am 22. Februar 1942 wählte er zusammen mit seiner Frau Lotte in Petropolis/Brasilien den Freitod. Für die in der Emigration Überlebenden verdich-
22
Klemperer, Bd. 1, S. 450.
23
Mayer, Bd. I, S. 193.
24
Zitiert nach einem Ausstellungstext über Literatur im Exil, konzipiert unter der Leitung von Ariane Neuhaus-Koch an der Philosophischen Fakultät der Universität Düsseldorf, www.philfak.uni-duesseldorf.de/ffyverboten/aus/zweig__exil.html.
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teten sich persönliche Exilerfahrung und kollektives Trauma nach Kriegsende, als das Ausmaß der nationalsozialistischen Vernichtung nach und nach bekannt wurde. Zugleich war etwas im Entstehen begriffen, wozu sich alle Emigranten auf irgendeine Weise positionieren konnten und wollten: die Staatsgründung Israels.
ΙΠ. Nach 1945: Entwurf und Realität Am 21. Mai 1948 erschien im Aufbau, dem exponierten Organ der deutschjüdischen Emigration in New York, ein geradezu programmatischer Beitrag seines damaligen Chefredakteurs Manfred George. Der Vetter von Nelly Sachs25 betont darin das Bekenntnis der Verbundenheit mit Israel als neuem politischen Akteur auf dem internationalen Parkett westlicher Demokratien sowie die Erwartung, dass dieser neue Staat neue Maßstäbe für eine humanistische Gesellschaft setze. „Kein Zweifel", so George, „daß wir in vielfacher Hinsicht mit diesem Staat verbunden sind. Wir sind als einzelne verbunden mit ihm durch die Tatsache zahlreicher Verwandter und Freunde [...]. Durch das Band der Religion, das das Band einer gemeinsamen Weltanschauung und Lebensführung bedeutet. Vor allem aber durch das Band zu einer neuen Demokratie, die in den Kreis der Völker getreten ist." Das „Wir" Manfred Georges suggeriert Einheit und universale Verbundenheit. Es fordert „einen Staat, der vorbildlich ist in der Gerechtigkeit für seine Bürger, in der Sauberkeit seiner Verwaltung und in dem Humanismus seiner Außenpolitik. Dieser Staat soll nicht der Ausgangspunkt für eine Vorherrschaft über die arabische Welt werden, sondern das Zentrum einer arabisch-jüdischen Verständigung, die beiden Völkern zum Segen und Gewinn gereichen muß." Abseits ihres zeitgemäßen Pathos deutet sich in den Worten Georges bereits an, wie sehr die Staatsgründung Israels integrativ auf die deutsch-jüdische Westemigration wirkte. Waren sich trotz unterschiedlichster Positionierungen Zionisten und Nichtzionisten vor 1933 einig gewesen in der Bejahung der ersten deutschen Republik, so einte sie nach 1945 die Bejahimg des neuen jüdischen Staates. Deutsch-jüdische Reisebeschreibungen des 20. Jahrhundert spiegeln Wahrnehmungs- und Deutungsmuster von Palästina bzw. Israel, die ganz entscheidend von der Erfahrung des Holocaust geprägt waren. 26 Manch einer 25
Vgl. Dinesen, S. 143.
26
Zu dieser Thematik vgl. Kaiser, hier insbesondere S. 531.
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stellte nach seiner ersten Begegnung mit dem Land fest, dass Entwurf und Realität nicht unbedingt deckungsgleich waren. So entdeckte Hans Mayer erst viel später, „daß ein Leben unter Juden den extremen Pluralismus bedeuten kann, vom Noch des Gettos bis zur Technologie der Atomzeit. " 21 Nach 1945 wurde die erste Begegnung mit Palästina/Israel für die meisten zur Entdeckungsreise an einenfremd-vertrauten Ort, so etwa für den amerikanischen Komponisten Kurt Weill (1900-1950) aus Dessau. Er kam 1947 nach Nahariya, die „ Stadt der Jeckes " , 2 8 Seine Eltern lebten dort und andere Mitglieder seiner Familie, die zehn Jahre zuvor eingewandert waren 2 9 Nach seiner Ankunft resümierte Weill seinen ersten Eindruck: „Es ist viel hübscher als wir dachten. [...] Ein wirklich reizender Ort, Kalifornien sehr ähnlich, von deutschen Juden wunderschön aufgebaut - das ganze ist sehr beeindruckend. [...] Ich wohne bei Nathan, esse Mittagbrot bei Mutter, bin den ganzen Vormittag am Strand, fahre mit Nathan per Auto durch arabische Dörfer (sehr interessant) und rede mit allen Freunden der Familie - und das ist die ganze Ortschaft. Da liegt ein großes Gefühl von Glück, von Jugend und Heiterkeit über dem Ort." 30 In seinen Briefen an Lotte Lenya aus dieser Zeit mischt sich Privates und Berufliches, er berichtet von einer Theatervorstellung „in einer dieser berühmten Kollektivfarmen ", die er „ unerhört eindrucksvoll" findet. 31Doch tritt die gesellschaftliche und politische Gegenwart in den Hintergrund angesichts eines sich weit tiefer einprägenden Bildes: „ die fremdartig schöne, biblische Landschaft und der ganz und gar orientalische Charakter des Lebens und der Menschen" - „drei Zivilisationen zusammen auf einem engen Stück Land." 32 Weills Bild von Palästina ist ein vierfaches: da ist zum einen die vertraute Welt der deutschen Einwanderer, die er als Außenstehender mit einem gewissen Amüsement zur Kenntnis nimmt, aber auch mit dem Wissen, dass es sich hierbei um eine Gesellschaft ,Davongekommener4 handelt; daneben stehen Weills Faszination des Orients sowie die Utopie einer multiethnischen Gesellschaft, beides nur angedeutet wie auch der Respekt vor einem sich modernisierenden demokratischen Staatsgebilde, das mit dem Kibbuzmodell neue, egalitäre Lebensformen praktiziert. Im Groben sind damit bereits die Entwürfe ange27
Mayer, Bd. I, S. 193.
28
Ausführliche Literaturangaben zum Ruf Nahariyas als Mittelpunkt der deutsch-jüdischen Einwanderung bei Schellinger (II), S. 49 f. 29
Sein Vater Albert, Rabbiner und „Zionist seit Herzls Zeiten" hatte sofort nach 1933 die Ausreise betrieben; siehe Schellinger (II), S. 42. 30
Kurt Weill an Lotte Lenya, Naharia, 22. Mai 1947. In: Symonette/Kowalke, S. 476 f.
31
Kurt Weill an Lotte Lenya, Naharia, 27. Mai 1947. In: Ebd., S. 478.
32
Kurt Weill an Lotte Lenya, Naharia, 31. Mai 1947. In: Ebd., S. 479.
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sprachen, die sich im wesentlichen auch in den biographischen Aufzeichnungen anderer Emigranten finden. Weill sieht, soweit es sich aus den kurzen Brief-Passagen entnehmen lässt, das Land mit den Augen des amerikanischen Touristen, des Geschäftsreisenden. Er knüpft und pflegt Kontakte zu anderen Künstlern, spricht mit potentiellen Auftraggebern und sucht wie auch andere Westemigranten, landschaftliche, klimatische und atmosphärische Parallelen zur eigenen Exilwelt. Die Beweggründe für eine erste Begegnung mit Israel waren individuell sehr unterschiedlich und richteten sich nach der jeweiligen persönlichen und sozialen Lebenssituation. Doch dachten vermutlich viele wie Selma Stern, die 1957 schrieb: ,,[E]he ich sterbe, möchte ich das Land sehen " . 3 3 Für Stern blieb Palästina/Israel nach 1945 zunächst ein fernes, fremdes Land, ein Teil Asiens. Ihr Freund und ehemaliger Kollege an der Akademie für die Wissenschaft des Judentums in Berlin, der 1933 nach Jerusalem eingewanderte David Hartwig Baneth, vermochte diese Haltung nicht aufzubrechen. Ihm zufolge sprach nach dem Tod ihres Ehemannes Eugen Täubler 1953 alles für eine Übersiedlung nach Israel. Mit Eloquenz und psychologischem Geschick appellierte Baneth an Sterns akademischen Ehrgeiz, ihre wissenschaftliche und persönliche Selbständigkeit. Im Mittelpunkt seiner Argumentation stand dasfruchtbare akademische Milieu Jerusalems, wo sich nach 1933 durch den Einfluss emigrierter deutscher Historiker die sogenannte „Jerusalemer Schule" herausgebildet34 hatte. Baneth suchte mit allen Mitteln zu überzeugen: „ Wahrscheinlich ", schrieb er Stern, „könnten Sie hier sogar über die Juden und den preußischen Staat weiterarbeiten". In Jerusalem, so Baneth, würde Stern eine kongeniale Umgebimg finden, in der sie sich anders als in den USA nicht mehr einsam fühlen würde. Selbst ihre sprachlichen Bedenken suchte er zu entkräften: „Abgesehen davon, daß man mit englisch und deutsch för praktische Zwecke hier sehr gut durchkommt, gibt es ausgezeichnete hebräische Intensivkurse " . 3 5 Wie viele andere ihrer Mit-Emigranten, unter ihnen auch Hannah Arendt und Julie Braun-Vogelstein,36 besaß Selma Stern nur rudimentäre Kenntnisse des Hebräischen. Sie hatte es als Kind nicht gelernt und selbst für ihre historische Biographie des Josel von Rosheim37 einen Übersetzer benötigt. Nicht zuletzt aus diesem Grunde
33
Stem an ihren Schriftstellerkollegen und badischen Landsmann Jacob Picard am 7. April 1957; Picard Collection, LBI New York. 34
Siehe dazu Jütte, insbesondere S. 123-136.
35
Alle Zitate Baneth an Stern am 26. August 1953; NL Stem-Täubler, UB Basel.
36
Braun-Vogelstein an Jisrael Neumark am 21. Oktober 1967.
37
Josel von Rosheim. Befehlshaber der Judenschaft im Heiligen Römischeri Reich Deutscher Nation. Stuttgart 1959 [= Josel of Rosheim. Commander of Jewry in the Holy Roman Empire of the German Nation. Philadelphia 1965].
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blieben Baneths Bemühungen ohne Erfolg. Zehn Jahre nach der Staatsgründung reiste Stern zum ersten Mal nach Israel, vor allem, um Familie und Freunde wiederzusehen.38 Danach erst sprach sie mit Sorge und Sympathie von Israel, ja Hochachtung vor der Aufbauleistung der Gründergeneration. Sie blieb dabei, in Israel „nicht beheimatet zu sein", 39 behielt aber ihre Sorge um Land und Menschen.
IV. Der politische Entwurf: 40 Julie Braun-Vogelstein (1884-1971) Mit Sorge und Anteilnahme begleitete die deutsch-jüdische Westemigration mehrheitlich den Aufbau des jungen Staates und dessen Entwicklung angesichts internationaler Krisen und des Kalten Kriegs, so auch die nach New York emigrierte Berliner Kunsthistorikerin Julie Braun-Vogelstein. Im Jahre 1936 aus Deutschland in die USA geflohen, zählte sie dort bald zu den „ A r g o n a u t e n von Long Island", einem hochkarätigen Kreis deutsch-jüdischer Intellektueller, die „seit 1933 das intellektuelle Leben Amerikas zwischen East und West Coast mitbestimmten. " 4 1 Eine enge Freundschaft entwickelte sich vor allem zu Hannah Arendt und ihrem Mann Heinrich Blücher. 42 Wie Selma Stern war BraunVogelstein Vorstandsmitglied des Leo-Baeck-Instituts und primär an der Erinnerung und Bewahrung des deutschen Judentums interessiert, beobachtete jedoch kritischer und schärfer als Stern die Entwicklungen des Landes. Dies geht aus einem Briefwechsel der Jahre 1967 bis 1971 hervor, den die damals 84jährige mit dem dreißig Jahre jüngeren Historiker und Kibbuznik Jisrael Neumark führte. 43 Mit ihm teilte sie die Herkunft aus rabbinischem Elternhaus und die Sympathie für sozialistische Ideale. Der als Ernst Neumark in Duisburg geborene überzeugte Zionist lebte seit 1934 in Palästina, als Mitbegründer des Kibbuz Hasorea im Oberen Galiläa. Anlass für die Korrespondenz war die 1966 erschienene Autobiographie Braun-Vogelsteins - ein Zeitbild der Berliner Sozialistenkreise um Heinrich und Lily Braun. Unter den faszinierten 38
Ihre Nichte Suzanne lebte inzwischen dort (Stern an Margarete Horovicz am 15. Mai 1945, Sammlung Saltiel), aber auch andere Verwandte, Freunde und ehemalige Kollegen. Dies geht aus einem Brief Sterns an Picard am 7. April 1957 hervor; Picard Collection, LBI New York. 39
Stern an Willy Andreas am 30. November 1962, Stern-Täubler Collection, LBI New York.
40
„Politisch" meint hier nicht die professionelle Analyse im Stil einer Hannah Arendt, sondern den privaten Blick auf politische Strukturen und Ereignisse. 41
Claussen.
42
Vgl. Braun-Vogelstein, S. 400.
43
Das Original des Briefwechsels befindet sich im Archiv des Leo-Baeck-Institute, New York.
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Lesern befand sich auch Jisrael Neumark, der sich mit einem ersten, emotionalen Schreiben unmittelbar an die Verfasserin wandte. Seine Janpost" wurde zum Ausgangspunkt für eine vierjährige Korrespondenz zwischen Leser und Autorin. Im Mittelpunkt dieser Korrespondenz, die in eine der politisch schwierigsten Phasen Israels fiel, steht die Welt des Kibbuz. 44 Braun-Vogelstein kannte diese Welt aus eigener Anschauung während zweier Besuche 1959 und 1967. 45 Ihr Bild vom Kibbuz ist das einer sozialen Utopie, deren bloße Existenz bereits der Verwirklichung eines Teilziels nahe kommt. Dieses Leben im Kibbuz könne sie überzeugen, schreibt sie vorsichtig 46 mit der Einschränkung: „ Wenn nur Israels Sicherheit nicht weiterhin gefährdet wäre oder würde! " 47 Die Problematik des Zusammenlebens zwischen Juden und Arabern sei ihr nicht fremd, 48 doch verbinde sie diese mit der Hoffnung auf eine gemeinsame friedliche Zukunft. Vieles bleibt im Allgemeinen, auch Aphoristischen - zwischen den Schreibenden bedarf es offenkundig keiner größeren Deutlichkeit. Sie wissen sich eins in einem hier gelebten, dort gedachten humanistischen Sozialismus. So teilt sie mit dem bald vertrauten Freund die Sorge um die Zukunft des Kibbuz. Vor allem befurchtet sie, dass der „große kulturelle Beitrag " der deutschen Gründergeneration Gefahr laufe, von der zweiten Generation ignoriert, wenn nicht abgelehnt zu werden. Tagespolitisches Geschehen kommt in ihren Briefen kaum vor. Es müsse darum gehen, das Ziel im Auge zu behalten, das Frieden heiße. Ihre Antwort auf den Spagat zwischen politischem Kampf um friedliche Ideale und dem Kampf um Selbsterhaltung lautete: „ Wenn Israel es vermag, die zweifache Gefahr zu bestehen, dann leistet es der Menschheit einen unermeßlichen Dienst ,