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German Pages 282 [283] Year 2008
Spätmittelalter, Humanismus, Reformation Studies in the Late Middle Ages, Humanism and the Reformation herausgegeben von Berndt Hamm (Erlangen) in Verbindung mit Amy Nelson Burnett (Lincoln, NE), Johannes Helmrath (Berlin) Volker Leppin (Jena), Jürgen Miethke (Heidelberg) Heinz Schilling (Berlin)
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Reformation und Mönchtum Aspekte eines Verhältnisses über Luther hinaus
Herausgegeben von
Athina Lexutt, Volker Mantey und Volkmar Ortmann
Mohr Siebeck
Athina Lexutt ist Professorin für Kirchengeschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Volker Mantey ist Lehrbeauftragter für Kirchengeschichte am Institut für Evangelische Theologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Volkmar Ortmann ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Kirchengeschichte am Institut für Evangelische Theologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen.
ISBN 978-3-16-149638-7 / eISBN 978-3-16-158580-7 unveränderte ebook-Ausgabe 2019 ISSN 1865-2840 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2008 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Großbuchbinderei Josef Spinner in Ottersweier gebunden.
Inhaltsverzeichnis Einleitung...................................................................................................... 001
CHRISTOPH BURGER Leben als Mönch und Leben in der ‚Welt‘ – monastischer Anspruch und reformatorischer Widerspruch...................................................................... 007
ULRICH KÖPF Wurzeln reformatorischen Denkens in der monastischen Theologie Bernhards von Clairvaux.............................................................................. 029
MANFRED SCHULZE Mönchtum oder reformatio? Jakob Wimpfeling und der andere Weg zur Reformation.................................................................................................. 057
VOLKER LEPPIN Humanismus und Mönchtum. Überlegungen zu ihrer Bedeutung für ein Verständnis der Wittenberger Reformation...................................... 079
BERNDT HAMM Naher Zorn und nahe Gnade. Luthers frühe Klosterjahre als Beginn seiner reformatorischen Neuorientierung..................................................... 103
MARC VAN WIJNKOOP LÜTHI Wolfgang Musculus und das Mönchtum...................................................... 145
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Inhaltsverzeichnis
HERMAN J. SELDERHUIS Luther totus noster est. The reception of Luther’s thought at the Heidelberg theological faculty 1583–1622................................................... 173
ATHINA LEXUTT „Der Mönch braucht keine Gelehrsamkeit“. Luther zwischen Theologie und Religion in der Beurteilung Johann Salomo Semlers. Ein Beitrag zur Rezeption des Themas „Reformation und Mönchtum“ im 18. Jahrhundert...................................... 189
VOLKER MANTEY Das Verständnis der Reformation als Epoche bei Ferdinand Christian Baur – nebst einem Ausblick auf das Verhältnis von Reformation und Mönchtum..................................................................................................... 213
VOLKMAR ORTMANN Luther und das Mönchtum als Thema der Lutherforschung im 20. Jahrhundert............................................................................................. 227
CHRISTOPH JOEST Die Entstehung von Kommunitäten in den Kirchen der Reformation......... 241
SASKIA SCHULTHEIS Bibliographie ............................................................................................... 265
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren..................................................... 275
Einleitung 2. Juli 1505. Es gewittert. Hagel und Sturm peitschen über die Felder. Blitze zucken über den wolkenschweren Himmel und tauchen die Felder für Sekunden in ein gespenstisches Licht. Mitten darin: Ein Mann in Todesangst. Hilflos ist er den Gewalten ausgeliefert, keine Scheune, keine Hütte ist in der Nähe, in der er Zuflucht suchen könnte. Er kämpft an gegen den schneidenden Wind und den scharfen Regen, der so dicht ist, dass er kaum die Hand vor Augen sieht. Seine Füße finden nur schwer Halt auf dem immer sumpfiger werdenden Weg, das Atmen fällt ihm schwer. Ein Blitz schlägt in seiner unmittelbaren Nähe ein. Der junge Mann stürzt zu Boden. Soll sein Leben so schnell zu Ende sein? Sein Leben, das er so fröhlich und genussreich zu gestalten weiß? Ein Leben, das einen so verheißungsvollen Lauf nimmt, an der Universität? Eine große Karriere als Jurist steht ihm vielleicht bevor. Hat er noch eine Zukunft? Und was, wenn er seinem Gott in der nächsten Minute gegenüber steht? Was hat er vorzuweisen? Ist er vorbereitet auf diese Begegnung? In diesem Moment äußerster Bedrängnis klammert sich der Mann an den letzten Ausweg: an Gott, bzw. an die, die ihm im Augenblick näher sind: die Heiligen. Er fasst einen unwiderruflichen Entschluss und betet, fleht, schreit: „Hilf Du, heilige Anna, ich will ein Mönch werden.“ Sein Gebet scheint erhört zu werden, er kommt ungeschoren aus dem Gewitter. Und er macht wenige Tage später Ernst. Gegen den ausdrücklichen Willen seines Vaters, zur Verwunderung seiner Kommilitonen bittet er am 17. Juli um Aufnahme in das Augustiner-Eremitenkloster in Erfurt. Ob es sich wirklich so zugetragen hat, darüber kann trefflich diskutiert werden. Indes, es handelt sich um eine Geschichte, ohne die keine Biographie Martin Luthers geschrieben werden kann und darf. Das Gewitter-Erlebnis bei Stotternheim auf der Rückreise von seinem Elternhaus in Mansfeld nach Erfurt hat immer wieder Anlass zu Forschungen, Hypothesen, Spekulationen und nicht zuletzt zu zahlreichen künstlerischen Umsetzungen geboten. Seine Dramatik ist nahezu unvergleichlich, und das Ereignis ist sicherlich vor allem deshalb so faszinierend, weil es ohne diesen Zwischenfall vielleicht nie eine Reformation gegeben hätte, die von Luthers Namen geprägt wurde.
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Einleitung
Martin Luther – bzw. damals noch nicht gräzisiert: Martin Luder – wird Mönch. Und auf welchen Zeitpunkt auch immer man seinen reformatorischen Durchbruch datiert, so ist doch dies in allen Theorien unstrittig: Es wird noch einige Jahre dauern, bis aus dem Mönch der Reformator wird, der aufgrund exegetischer Einsichten das theologische Weltbild umstürzt. Diese Jahre als Mönch nun sind für Luthers persönliche und theologische Entwicklung ganz entscheidende Jahre gewesen. Monastische Lebensweise und monastisches Denken haben ihn maßgeblich geprägt und Spuren hinterlassen, die auch nach dem reformatorischen Durchbruch noch nachzuweisen sind. Was bedeutet es, dass Martin Luther Mönch gewesen ist? Wie gestalteten sich mönchisches Leben und mönchische Theologie in der Zeit und an dem Ort, in der und an dem Luther Mönch war? Was rezipierte Luther an monastischer Denkungsart und wogegen grenzte er sich ab? War Luther ein „typischer“ Mönch? Was waren die genauen Beweggründe, Mönch zu werden, und welchen Einfluss haben diese Gründe für seine Gestaltung des monastischen Alltags wie seiner sich entwickelnden Theologie? Diese und benachbarte Fragen wurden von der Lutherforschung immer wieder gestellt, vor allem dann, wenn es darum ging, das genuin Reformatorische der Theologie Luthers zu eruieren. Die Fragen und ihre Antworten waren von erheblichem Gewicht für Luthers Profil und für ein darauf fußendes protestantisches Profil. So ist es nicht mehr als recht gewesen, sich 2005, im Jubiläumsjahr, 500 Jahre nach Luthers Klostereintritt, einige dieser Fragen erneut zu stellen und durch weitere Fragestellungen zu ergänzen. Denn das Verhältnis von Mönchtum und Reformation ist keineswegs eines, das sich auf die Person Luthers allein konzentrieren darf, ebensowenig auf die Epoche der Reformation. Viel zu wenig hat man sich bisher in der Forschung damit beschäftigt, wo neben und außer Luther dieses Verhältnis Bedeutung gehabt hatte für Gang und Gestalt der Reformation – und zwar auch für die reformatorische Bewegung nichtlutherischer Art – und für das Selbstverständnis des Protestantismus in den Jahrhunderten nach der Reformation. Gab es etwa monastische Einflüsse in der reformierten Tradition? Und was bedeutete es für die Lutherrenaissance, dass Luther Mönch gewesen ist? Diesen und anderen Fragen widmete sich ein Symposion, das vom 12. bis 14. April 2005 in der Benediktinerabtei St. Matthias in Trier zu Ehren des Lutherforschers Karl-Heinz zur Mühlen stattfand, der in jenem Jahr seinen 70. Geburtstag feierte. Auf diesem Symposion stellten namhafte Spätmittelalterund Reformationshistoriker ihre neuesten Forschungsergebnisse vor. Dabei galt es, den Bogen von der mittelalterlich-monastischen Tradition bis ins 20. Jahrhundert zu spannen, um für das noch relativ unentdeckte Forschungsfeld Reformation-Mönchtum Impulse zu sammeln. Die besondere Atmosphäre des Klosters, die Teilnahme am Alltag der Mönche und das angeregte Gespräch mit ihnen bereicherte diese wissenschaftlichen Auseinandersetzungen um die
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nötigen Konkretionen. Das Thema Luthers wurde auf ganz eigene Weise lebendig. Diese Impulse weiterzugeben, die Forschung anzuregen und das Gespräch über das Thema lebendig zu halten ist nun die Aufgabe des vorliegenden Bandes. Dazu wurden die Vorträge des Symposiums um drei Beiträge ergänzt, die zusätzliche wichtige Aspekte darbieten. Insgesamt wird ein Kaleidoskop an Themen geboten, das genug Anregungen zu weiteren Untersuchungen auffächert. Den Auftakt bildet ein Beitrag zur Frage, ob und in welcher Weise sich das Mönchtum als christliche „Elite“ verstand bzw. verstanden wurde. Christoph Burger untersucht die mittelalterliche Vorstellung von der via securior und ihre fundamentale Kritik durch die Reformation. Schon die Ergebnisse dieser Untersuchung verdeutlichen, wie wenig singulär Luthers Anfragen an das Mönchtum und wie theologisch bedeutsam sie sind. Die positive Rezeption monastischer Theologie, wie sie insbesondere durch Bernhard von Clairvaux präsentiert wird, weist dagegen Ulrich Köpf nach. Nicht nur, aber doch besonders im Denken Luthers haben verschiedene Elemente monastischer Theologie ihre bedeutsamen Spuren hinterlassen, etwa im Blick auf das Interesse am religiösen Subjekt, im Erfahrungsbegriff, in der Christologie, in der Konzentration auf das Wort. Von dort aus bezeichnet Köpf – hier nicht zum ersten Mal – Luther als zweiten großen monastischen Theologen neben Bernhard. Die Kritik Jakob Wimpfelings am Mönchtum und besonders an ihrem Anspruch, den universitären Wissenschaftsbetrieb maßgeblich zu beherrschen, untersucht Manfred Schulze. Wimpfeling sieht im Mönchtum ein Hindernis der notwendigen kirchlichen Reformen, unter anderem deshalb, weil es eine nicht kontrollierbare Parallelorganisation darstellt. Der Humanist hat das Interesse, die scholastische Augustinrezeption zu überwinden, den Kirchenvater auf der Basis der Quellen neu zu entdecken als Mann der Kirche und eben nicht als Mönch. Dem Verhältnis von Humanismus und Reformation widmet sich dann der Aufsatz von Volker Leppin. Er konstatiert das Zusammentreffen monastischer und humanistischer Kritik, Methode und Reformbereitschaft an der Wittenberger Universität und rückt damit das in der Forschung vorherrschende Bild zurecht, als sei die oberdeutsche Reformation humanistisch, die Wittenberger jedoch allein durch die via moderna beeinflusst gewesen. Luther selbst erzeigt sich von daher als jemand, der monastische Spiritualität und humanistische Grundsätze in seinem Denken zu vereinen weiß und von diesen Wurzeln aus neue Wege beschreitet. Die frühen Klosterjahre Luthers stehen im Mittelpunkt der Betrachtung Berndt Hamms. Ziel ist es, das die Forschung schon zu lange beherrschende Problem der so genannten reformatorischen Wende als historisch unsachgemäß zu entlarven. Dabei hilfreich ist die Konzentration auf das bei Luther in dieser Form schon früh neu gefüllte Verständnis der tentatio, das seine Erfurter Klosterzeit bestimmt, und auf die Entwicklung, die Begriff und inhaltliche Füllung neh-
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men. Mit dem Beitrag Marc von Wijnkoop Lüthis wird der Blick von Luther weg gelenkt auf die reformierte Seite. Er untersucht das Verhältnis des vor allem in Augsburg, Straßburg und Bern tätigen Wolfgang Musculus zum Mönchtum und zeigt die tiefe Ambivalenz, ja gar die bunte Vielfalt in diesem Verhältnis auf. Der erst recht spät aus dem Orden ausgetretene Benediktiner Musculus bleibt seiner monastischen Herkunft in vielen Punkten treu, erkennt und benennt mit evangelischem Scharfsinn jedoch zugleich die Grenzen dieser Lebensform und des damit verbundenen Anspruchs. Den Faden des „reformierten Typus“ des Verhältnisses von Reformation und Mönchtum spinnt Herman J. Selderhuis weiter, wenn er nach der Lutherrezeption im Heidelberger Universitätsbetrieb fragt. Die Mönche von 1518, die der Heidelberger Disputation beiwohnten, wurden zu den Reformern der späteren Jahre, die der Überzeugung waren, Luthers Lehre auch weiterhin zu vertreten. Die Heidelberger Theologie erweist sich im Rekurs auf die Heilige Schrift als im besten Sinne irenisch und ökumenisch. Welche Probleme die monastische Herkunft Luthers der Aufklärungstheologie machte, eruiert Athina Lexutt in ihrem Beitrag zu Johann Salomo Semlers Deutung des Lutherschen Spruchs „Oratio, meditatio, tentatio faciunt theologum“. Sich in den Bahnen allgemein üblicher Mönchtumskritik bewegend, dient diese Auseinandersetzung mit den Aussagen Luthers Semler dazu, auf die in seinen Augen so notwendige Unterscheidung von wissenschaftlicher Theologie und Religion zu insistieren. Den Bogen ins 19. Jahrhundert schlägt sodann Volker Mantey, der für das Verständnis der Reformation als Epoche bei Ferdinand Christian Baur auch dessen Auffassung vom Mönchtum untersucht. Dabei stellt sich heraus, dass in der Spätmittelalterdeutung Baurs das Mönchtum im Gegensatz zur Scholastik keine herausragende Rolle spielt, genauso wenig die Tatsache, dass ein Großteil der Scholastiker aus dem monastischen Umfeld stammt, oder die Zeit Luthers im Kloster. Volkmar Ortmann gibt einen Überblick über den Perspektivenwechsel in der Lutherforschung des 20. Jahrhunderts. Nachdem lange Zeit die Gegenüberstellung von Luther und Mönchtum die leitende Betrachtungsweise war, rückte zunehmend Luther als Mönch ins Zentrum der Forschung und eröffnete für die Lutherforschung ebenso wie für das Verständnis von Luthers Theologie einen neuen Horizont. Der letzte Beitrag schließlich knüpft an diesen Perspektivenwechsel hinsichtlich des Verhältnisses von Reformation und Mönchtum an und untersucht, wie sich die monastische Lebensweise trotz aller theologischen Einwände im Protestantismus dennoch Raum geschaffen hat. Christoph Joest bietet einen Überblick vom 19. bis zum späten 20. Jahrhundert, von Wichern und Löhe bis hin zu den zahlreichen kleineren Wohngruppen und geistlichen Gemeinschaften wie dem Nehemiahof in Ludwigsfelde, bevor er die grundsätzliche Frage beantwortet, ob evangelische Lehre und monastische Lebensform kompatibel sind. Den Abschluss des Bandes bildet eine Bibliographie, von Saskia Schultheis erstellt, die den wag-
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halsigen Versuch unternimmt, die Literatur zusammenzutragen, die sich zentral oder am Rande mit dem Thema dieses Tagungsbandes beschäftigt. Dass dort wenig Struktur zu herrschen scheint und viele Lücken klaffen, liegt an der Sache und verdeutlicht, wie notwendig eine Aufarbeitung des Gegenstandes ist, wozu sich dieser Band als kleine Anregung versteht. Zuletzt ist vielfältig zu danken. Zuerst und vor allem den Autoren, welche die Tagung und diesen Band gestaltet und so viel Geduld bewiesen haben, als sich die Herausgabe aus mannigfachen Gründen verzögerte. Wir danken ebenfalls denjenigen, die das Zustandekommen dieses Buches ermöglicht haben: den Herausgebern der Reihe „Spätmittelalter und Reformation“; dem Verlag Mohr Siebeck für alle Unterstützung, die notwendig ist von den ersten Plänen bis zur Fertigstellung; schließlich Herrn Christian Obermayer, der die mühevolle Arbeit der Formatierung trotz und neben seinem Examen in bewundernswerter Geduld auf sich genommen hat. Last but not least danken wir den Brüdern der Benediktinerabtei St. Matthias in Trier, nicht nur für ihre außerordentliche Gastfreundschaft, sondern auch für ihr lebendiges Beispiel wahrhafter monastischer Spiritualität, die im Alltag der Moderne innehalten lässt und den Blick öffnet für das, worauf es ankommt.
Gießen, im Mai 2008
Athina Lexutt, Volker Mantey, Volkmar Ortmann
Christoph Burger
Leben als Mönch und Leben in der ‚Welt‘ – monastischer Anspruch und reformatorischer Widerspruch 1. Mönche als Elite innerhalb der christlichen Kirche Wenn Gruppen von Menschen sich innerhalb einer Großorganisation zusammenschließen und besondere Anforderungen an die eigene Lebensführung stellen, dann erheben sie dadurch unbewusst oder bewusst den Anspruch, innerhalb der Organisation eine Elite darzustellen. Es liegt dann nahe, dass die Mitglieder solcher Gruppen alle die, die sich nicht für ihre Lebensführung entscheiden, als lediglich durchschnittliche oder gar als unzureichende Mitglieder der Großorganisation verstehen. Als Mitglieder der Elite können sie ja auf die Durchschnittlichen herabsehen. Es liegt nahe, dass sie das auch wirklich tun. Umgekehrt liegt es vor der Hand, dass die Angehörigen der Mehrzahl einer Großorganisation, in der sich eine Elite herausbildet, deren Mitgliedern Bewunderung entgegenbringen. Freilich können sie dann auch daran zu zweifeln beginnen, ob sie selbst auch nur den Anforderungen genügen, die an sie als an einfache Mitglieder der Organisation gestellt werden dürfen. Solcher Selbstzweifel kann allerdings dann in Abwehr umschlagen, wenn die Mehrzahl der Mitglieder den Eindruck gewinnt, dass Angehörige der Elite selbst hinter den Anforderungen zurückbleiben, die sie stellen. Reformer, die gegen eine derartige Differenzierung in ‚Elite‘ und ‚Durchschnittliche‘ zu den Ursprüngen der Großorganisation zurücklenken wollen, in denen es diesen Unterschied ihrer Ansicht nach noch nicht gegeben habe, die eine solche Elitebildung kritisieren und ablehnen, kann man auch dann als Innovatoren betrachten, wenn sie selbst sich ganz und gar nicht als solche betrachten. Stellt ihre Forderung, zu den Anfängen zurückzukehren, doch gegenüber der geschichtlich gewachsenen Entwicklung der Großorganisation eine Innovation dar. Solche Einsichten der Gesellschaftswissenschaften helfen auch manche Phänomene der christlichen Kirchengeschichte zu erklären.1 Denen, die eine 1
Vgl. LAWRENCE STONE: The past and the present, Boston/London/Henley 1981, S. 5–21, zu dem wesentlichen Beitrag, den die Gesellschaftswissenschaften seit etwa 1870 zur Theoriebildung in den historischen Disziplinen geleistet haben. – Zum Begriff ‚Elite‘ vgl. etwa die
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Christoph Burger
Lebensform wählten, die als Verwirklichung christlicher Ideale anerkannt war, konnte die Weise, in der die Mehrzahl der Christen ihr Christsein gestaltete, leicht als allzu gewöhnlich erscheinen. Umgekehrt konnten ‚Normalchristen‘ auf die Lebensweise und auf den damit verbundenen Anspruch derer, die entschiedener Christen sein wollen, mit Bewunderung reagieren. Genügten diese freilich dem angestrebten und verkündigten Ideal selbst nicht, dann konnten die ‚Normalchristen‘ sich über solches Versagen auch entrüsten. Immer von neuem wurde im Laufe der Kirchengeschichte die Frage gestellt, ob schon das ‚normale‘ Leben eines Christen in der ‚Welt‘ dem Willen Gottes entspreche. ‚Welt‘ war dabei nicht neutral zu verstehen als die Erde, auf der Menschen sich vorfinden, sondern als der ‚widergöttliche Kosmos‘, wie der Apostel Paulus und der Evangelist Johannes es wiederholt formuliert haben.2 Der ‚widergöttliche Kosmos‘ galt Christen immer wieder als derartig gefährlich, dass sie sich seiner Machtsphäre radikal entziehen wollten. Manche wählten die Lebensform von Einsiedlern. Andere traten einer klösterlichen Gemeinschaft bei. Schon im zweiten Jahrhundert nahmen Asketen, die auf das Leben in der ‚Welt‘ verzichteten, in der Kirche beziehungsweise in ihrer Gemeinde den hervorragenden Platz ein, der zuvor Geistbegabten zuerkannt worden war.3 Wer sich als Christ dafür entschied, Eremit oder Mönch zu werden, ging einen besonderen Weg.4 Wer diesen Weg wählte, sagte damit, sei es nun ohne oder mit Absicht, auch schon etwas über das Christsein anderer Christen aus. Das galt schon von den Anfängen des christlichen Mönchtums an.5 Die bloße Existenz eines Sonderweges stellte ja die Suffizienz der ‚normalen‘ Gestaltung christlichen Lebens in Frage. Die Lebensweise von Eremiten und Mönchen konnte bei anderen Christen Zweifel an der Zulänglichkeit der eigenen Weise, Christ zu sein, entstehen lassen. Wer in die Einöde hinauszog, um als Beiträge s. v. von RICHARD MÜNCH (soziologisch), ANSGAR JÖDICKE (religionswissenschaftlich) und EILERT HERMS (ethisch), in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Auflage, Band 2, Tübingen 1999, Sp. 1224–1226. 2 Vgl. RUDOLF BULTMANN: Theologie des Neuen Testaments (1. Aufl. Tübingen 1958), 5. Aufl. Tübingen 1965, zur Sichtweise des Apostels Paulus: „Der ‚kosmos‘ als die Sphäre der irdischen Lebensbedingungen wird zur Macht über den Menschen ...“ (S. 257), und zur Sichtweise des Evangelisten Johannes: „Das Wesen des ‚kosmos‘ ist also Finsternis ...“ (S. 367). 3 Vgl. BERNHARD LOHSE: Mönchtum und Reformation. Luthers Auseinandersetzung mit dem Mönchsideal des Mittelalters, Göttingen 1963 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 12), S. 24. 4 Im Rahmen dieses Artikels kann ich auf den Unterscheid zwischen Mönchen der kontemplativen Orden und Bettelmönchen (Mendikanten) nicht eingehen. Ebensowenig will ich hier die weiblichen Religiosen gesondert behandeln. 5 Bei Johannes Cassianus (360–430/35) etwa „begegnen allein die Mönche als diejenigen, die die Vollkommenheit anstreben und gegebenenfalls auch erreichen“: Lohse (wie Anm. 3), S. 94.
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Asket Christi gegen Dämonen zu kämpfen, oder wer in einer mönchischen Gemeinschaft lebte und Gelübde ablegte, der machte ja durch die Entbehrungen, die er auf sich nahm, gewollt oder ungewollt anderen Christen klar, dass er eine besondere Form christlicher Lebensgestaltung verwirklichte. Manche Christen hatten nicht die Kraft zu einer so radikal asketischen Lebensweise, waren aber davon überzeugt, dass sie Gott wohlgefälliger sei. Andere hatten zu dem Zeitpunkt, zu dem sie ihre eigene Lebensform als ungenügend zu betrachten begannen, bereits in einer Weise über ihr Leben verfügt, die den Weg in die Einöde oder in ein Kloster unmöglich machte, beispielsweise durch eine Eheschließung. Solche Christen konnten dann Anschluss suchen an die Klöster, in denen sie intensive Gottesnähe voraussetzten. Sie konnten im Spätmittelalter beispielsweise Mitglieder eines Drittordens oder einer Bruderschaft werden, die sich um einen Mendikantenkonvent scharte. Eremiten, Eremitengemeinschaften, Orden und Kongregationen kann man unter anderem auch als elitäre Gruppen innerhalb einer Großorganisation betrachten, wie es eine Kirche nun einmal auch ist. Mit solchen Gruppen kann man verschieden umgehen. Bewunderung, verbunden mit Gunsterweisen, ist eine der Möglichkeiten. Man kann derartige Eliten aber auch aus der Großorganisation ausschließen. Auf diese Weise hat die christliche Kirche des Abendlandes etwa gegenüber den Waldensern reagiert. Man kann sie auch stigmatisieren und schrittweise zu einer akzeptierten Lebensform zwingen. So wurden die Beginengemeinschaften behandelt. Eine weitere Möglichkeit ist die, die entstehende Elite gleich von Anfang an zu integrieren und gerade dadurch auch anzupassen. So ging die römische Kurie beispielsweise mit der Bewegung des Franziskus von Assisi um. Ob sie die Mitglieder der Elite nun als vortreffliche Mitglieder begünstigten, ausschlossen, in eine akzeptierte Lebensform zwangen oder integrierten, die Leiter der Großorganisation verschafften sich und der Mehrheit der Mitglieder eben durch deren Einstufung als außerordentlich ein gutes Gewissen dafür, ungefähr so weiterzuleben wie bisher. Die Reformatoren des 16. Jahrhunderts haben die Ansprüche der Mönche, innerhalb der Christenheit eine Elite darzustellen, entschieden zurückgewiesen. Sie behaupteten, sie wollten lediglich zur alten Form christlichen Lebens in der Zeit der Frühen Kirche zurücklenken. In ihrer Zeit bedeutete ihre Kritik an den in Jahrhunderten gewachsenen Lebensformen des Mönchtums dennoch eine Innovation. Ich will nun zunächst kurz skizzieren, in welchen Gestalten der Anspruch von Mönchen auf eine höhere Stufe der Vollkommenheit christlicher Daseinsgestaltung auftreten konnte.
Christoph Burger
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2. Ansprüche von Mönchen auf höhere Vollkommenheit 2.1. Auf der Grundlage von Gottes Barmherzigkeit muss der Christ sich bemühen Alles menschliche Bemühen galt als angewiesen auf die Barmherzigkeit Gottvaters, Christi und Marias. Doch die verstanden sich sozusagen von selbst und brauchten gerade deswegen nicht besonders hervorgehoben zu werden. Diese Selbstverständlichkeit konnte zu einer Schwerpunktsetzung führen, die einen modernen Leser erstaunt. So sprach etwa der Erfurter Professor der Theologie aus dem Orden der Augustinereremiten Johannes von Paltz (ca. 1445–1511) in seinem Handbuch seelsorgerlicher Theologie ‚Coelifodina‘ im Jahre 1502 davon, was den Sünder in Todesnot trösten könne. Im modernen Druck nimmt seine Darstellung 235 Seiten ein. Er unterschied mehrere Weisen, auf die Gott tröste. Der Darstellung der „unermeßlichen Güte Gottes“ widmete er nur eine Seite, derjenigen der „unaussprechlichen Milde Christi“ zwei und der Schilderung der „mütterlichen Liebe der allerseligsten Jungfrau Maria“ dreieinhalb Seiten.6 Ausführlich brachte er dagegen zur Sprache, was strittig war und seiner Meinung nach der Empfehlung bedurfte: die Freundlichkeit der Heiligen, die Fruchtbarkeit der Sakramente und die Bedeutung der Ablässe, ganz besonders des Jubiläumsablasses. So sehr er auch die Ablässe empfahl, die Mitgliedschaft in einer Bruderschaft erschien ihm denn doch noch einmal besser und fruchtbringender.7 Knapp zwei Jahre nach dem umfangreichen Handbuch ‚Coelifodina‘ konnte Paltz ein gleich umfangreiches ‚Supplementum Coelifodinae‘ im Druck erscheinen lassen, in dem er unter anderem ausführlich den Nutzen des Klosterlebens pries: dem, der ins Kloster eintritt, winkt vollkommener Erlass aller Sünden, ein reinerer Lebenswandel als in der ‚Welt‘ und mehr Heilsgewissheit in der Todesstunde.8 Den modernen Leser befremdet es, dass Paltz Inhalte, die theologisch zweifellos minder wichtig waren, so viel breiter darstellte als deren Grundlage, Gottes Güte. Paltz wäre zwar nicht einmal auf die Idee gekommen, kirchliche Gnadenmittel mit der Güte Gottes selbst auf eine Ebene zu stellen. Dennoch bleiben dem, der sein Handbuch liest, seine ausführlichen Aussagen zu den strittigen Fragen stärker im Gedächtnis als die knappen Aussagen zu der von ihm vorausgesetzten Grundlage. Und Paltz schreibt immerhin, Gott erweise seine 6
Vgl. JOHANNES VON PALTZ OESA: Coelifodina (Johannes von Paltz, Werke 2, edd. Christoph Burger und Friedhelm Stasch, Berlin/New York 1986: Spätmittelalter und Reformation, Band 2), S. 229–235. 7 Vgl. dazu ausführlicher unten bei Anm. 28. 8 Vgl. JOHANNES VON PALTZ OESA: Supplementum Coelifodinae (Johannes von Paltz, Werke 2, edd. Berndt Hamm, Berlin/New York 1986: Spätmittelalter und Reformation, Band 3), S. 115, 1–131, 21.
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Gnade in der Regel eher vermittelt durch seine Kirche als unmittelbar.9 Das kann einen modernen Protestanten immerhin nachdenklich machen. Ein moderner Leser kann sich immerhin die Frage stellen, ob ein Christ des 15. oder 16. Jahrhunderts die Barmherzigkeit Gottvaters und die Milde Christi als wirklich tröstlich empfand, wenn sie ihm nur so kurz und gleichsam selbstverständlich dargelegt wurden. Wurde doch oft genug eine Konzeption breit entfaltet, in der das Leben eines Christen auf Erden als Kampf und als bloßes Durchgangsstadium gezeichnet wurde, als eine Zeit, in der es gilt, Verdienste zu erwerben, sich möglichst wenige Unterlassungen und Vergehen zuschulden kommen zu lassen und sich auf diese Weise dafür zu qualifizieren, im Endgericht in die ewige Seligkeit aufgenommen zu werden.10 Seelsorger und akademische Theologen strebten danach, bei ihren Lesern und Hörern zu erreichen, dass diese ihr alltägliches Leben danach ausrichteten, wie sie hoffen durften, die himmlische Herrlichkeit zu erreichen und wie sie fürchten mussten, zu ewiger Verdammnis verurteilt zu werden. Die im täglichen Leben vorausgesetzten Werte, beispielsweise die Allgegenwart des Geldes,11 sollten durch die Erinnerung an die Ewigkeit, die dem kurzen Erdenleben unausweichlich folgen würde, relativiert und in Frage gestellt werden.12 Das Sakrament der Buβe erhielt einen zentralen Ort in der seelsorgerlichen Theologie. 9
Vgl. ebd. S. 264, Zeilen 6–9: „dominus deus est magis misericors et liberalior per sacerdotes quam per se ipsum loquendo non quantum ad naturam suam, sed quantum ad effectum et exhibitionem, quia plura beneficia exhibet mediantibus sacerdotibus quam sine ipsis …“ Den Zusammenhang dieser Aussage erläutert BERNDT HAMM: Frömmigkeitstheologie am Anfang des 16. Jahrhunderts. Studien zu Johannes von Paltz und seinem Umkreis, Tübingen 1982 (BHTh 65), S. 261. 10 Vgl. dazu BERNDT HAMM: Die ‚nahe Gnade‘ – innovative Züge der spätmittelalterlichen Theologie und Frömmigkeit, in: ‚Herbst des Mittelalters‘? Fragen zur Bewertung des 14. und 15. Jahrhunderts, hg. von Jan A. Aertsen und Martin Pickavé, Berlin/New York 2004, S. 541–557, hierin besonders den Abschnitt: III. Die Alternative zur nahen Gnade: das mühsam zu erringende Heil, S. 545–547. 11 Man denke beispielsweise nur an den Text des Liedes, das die Herrschaft des Geldes beschreibt, aus den Carmina Burana: „Manus ferens munera / pium facit impium; / nummus iungit federa, / nummus dat consilium; / nummus lenit aspera, / nummus sedat prelium …“ Es soll etwa 1170 entstanden sein (leicht erreichbar beispielsweise in der elektronischen ‚Bibliotheca Augustana‘). JACQUES LE GOFF: Kaufleute und Bankiers im Mittelalter, Frankfurt/New York 1993, S. 81, zitiert einen Florentiner Kaufmann mit der Aussage: „Deine Hilfe, dein Schutz, deine Ehre, dein Gewinn ist das Geld.“ Vgl auch BERNDT HAMM: Den Himmel kaufen. Heilskommerzielle Perspektiven des 14. bis 16. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für Biblische Theologie 21: Gott und Geld (2006), S. 239–275. 12 Vgl. NOTGER SLENCZKA: Der endgültige Schrecken. Das Jüngste Gericht und die Angst in der Religion des Mittelalters, in: Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung, Band 12, Berlin 2007, S. 97–112: hier: S. 99. Slenczka macht an Texten des Raimund von Penaforte deutlich, dass ein Beichtvater Gottes Wohltaten und Christi Liebe im Beichtgespräch in den Vordergrund stehen musste, obwohl ein Büßer dazu verpflichtet war, ihm detailliert seine Vergehen aufzuzählen (S. 103).
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Spätmittelalterliche Theologen gingen zwar stets von Gottes umfassender Liebe aus. Furchtreue (attritio) empfahlen sie lediglich als Zwischenstufe zur echten Reue aus Gottesliebe heraus (contritio).13 Aber sie stellten doch auch immer wieder die Frage: Genügt, was ein Christ tut, um vor Christi Richterstuhl bestehen zu können? Ist die Buße echt?14 Theologen wie beispielsweise Ludolf von Sachsen und nach ihm Johannes von Paltz setzten voraus, bei den allermeisten Christen werde die Bilanz zwischen guten und schlechten Taten und Unterlassungen nicht so positiv sein, dass sie ohne langen Aufenthalt im Läuterungsfeuer in den Himmel gelangen könnten.15 Dann lag es natürlich nahe, diejenige Lebensform herauszustreichen, die so viel Distanz zur gottfeindlichen ‚Welt‘ hält wie möglich, die monastische Existenz. Ein Leben im Kloster machte ein buβfertiges Leben einfacher. 2.2. Das Verhältnis von Taufe, Buße und Gelübde zueinander ‚Wahrhaft Christ werden heißt Mönch werden‘, lautete der Anspruch, den Mönche implizit durch die Wahl dieser Lebensform oder auch explizit in Schriften formulierten. Den Eintritt in einen Orden bezeichneten sie als ‚Bekehrung‘. Damit relativierten sie natürlich implizit den Wert der Taufe als der Initiation jedes Christen. Einige für die Entwicklung des Selbstverständnisses von Mönchen auf der Schwelle vom Spätmittelalter zur Reformation wirkungsreiche Aussagen sollen hier in Erinnerung gerufen werden. Die Taufe hatte seit der Regierungszeit des Kaisers Theodosius16 den Charakter einer bewussten und während der Christenverfolgungen sogar riskanten Entschei13
Vgl. SLENCZKA (wie Anm. 2), S. 112: „Auf die Erlösung vom Schrecken – insbesondere von der Hölle des Gewissens – zielt das Bußinstitut. Es weckt die Hoffnung, dass nicht der Schrecken und die Angst die endgültige Wirklichkeit sein werden.“ 14 Vgl. BERNDT HAMM: Von der Gottesliebe des Mittelalters zum Glauben Luthers. Ein Beitrag zur Bußgeschichte, in: Lutherjahrbuch 65 (1998), S. 19–44; hier: S. 38: „Typisch spätmittelalterlich ist die Frage nach der ausreichenden Buße: welche Art und welches Quantum an Reue, Beichte, Satisfaktionsleistung bzw. Ablaßerwerb ist notwendig und ‚genugsam‘ für die Tilgung von Sündenschuld und ewiger wie zeitlicher Sündenstrafe?“ 15 Vgl. dazu REINHARD SCHWARZ: Die spätmittelalterliche Vorstellung vom richtenden Christus – ein Ausdruck religiöser Mentalität, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 32, Stuttgart 1981, S. 526–553, sowie SVEN GROSSE: Der Richter als Erbarmer. Ein eschatologisches Motiv bei Bernhard von Clairvaux, im Dies irae und bei Bonaventura, in: Theologische Quartalschrift 185, Donauwörth 2005, S. 52–73, hier besonders S. 56–58 zu den vier Gruppen von Menschen beim Endgericht. Sehr anschaulich dargestellt ist die spätmittelalterliche Gerichtserwartung in dem Beitrag von PETER JEZLER: Jenseitsmodelle und Jenseitsvorsorge – eine Einführung, in: DERS. (Hg.): „Himmel, Hölle Fegefeuer. Das Jenseits im Mittelalter“, München (11994), 21994, S. 13–26. 16 Genau genommen geht es um die juristische Interpretation einer Vorschrift des Theodosius, ein christlicher Bürger seines Reiches habe die nizänische Trinitätslehre zu akzeptieren, in der Folgezeit, vgl. dazu WOLF-DIETER HAUSCHILD: Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Band 1, Gütersloh 1995, Paragraph 3, 13.1.4. (S. 148).
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dung eingebüßt. Hieronymus formulierte das wirkungsreiche Wort von der Buße als der ‚zweiten Planke nach dem Schiffbruch‘.17 Dadurch relativierte er natürlich die Bedeutung der Taufe. In der Folgezeit entwickelte sich die Buße zu einem Sakrament von zentraler Bedeutung.18 Der monastische Theologe Bernhard von Clairvaux sah den Vorrang von Mönchen darin, dass sie im Unterschied zu einfachen Christen aus eigenem Antrieb aktiv nach Gott suchen. Christen, die in der ‚Welt‘ leben, lassen sich dagegen ihrerseits bloß passiv von Gott suchen, meinte er.19 Damit war der Anspruch formuliert, die Lebensform der Mönche sei die einer Elite innerhalb der Christenheit. Einen Menschen, der die ‚Welt‘ verlassen und in ein Kloster eintreten will, darf nicht einmal die eigene Mutter daran hindern, sagte Bernhard.20 Den Ruf des Himmels stellte im Spätmittelalter auch Johannes von Paltz mit einem Zitat aus den Vitae patrum dem Widerstand der leiblichen Mutter gegenüber. Den Wunsch Mönch zu werden, bezeichnete er in diesem Zusammenhang als ‚Bekehrung‘. Ein Mann wird Mönch, obwohl ihn seine Mutter wegen seines Entschlusses ausschilt. Denn beim Jüngsten Gericht werde er die Bestürzung Christi und seiner Engel schlechter ertragen können als jetzt die Schelte seiner Mutter.21 Der Dominikaner Martin Gruneweg (1562–nach 1615) schrieb in seiner volkssprachlichen Autobiographie, schon der Paulusschüler Dionysius Areopagita habe die Mönche einen höheren und vornehmeren Stand unter den Christen genannt.22 Derartige Kernaussagen waren geeignet, das Selbstbewusstsein von Mönchen und ihr Vertrauen in die Heilsrelevanz ihrer Lebensform zu stärken. 2.3. Gelübde als überpflichtmäßige Leistung Der Anspruch, Mönche hätten eine höhere, Gott wohlgefälligere Lebensweise gewählt als andere Christen, verband sich oft mit der Behauptung, die ‚Evan17
HIERONYMUS: Epistola 130, 9 (Ad Demetriadem) (PL 22, 1115 = Vallarsi 986; CSEL 56, 189): „Verum nos ignoremus poenitentiam, ne facile peccemus. Illa quasi secunda post naufragium miseris tabula sit: in virgine integra servetur navis.“ 18 Zur Entwicklung des Bußwesens vgl. MARTIN OHST: Pflichtbeichte. Untersuchungen zum Bußwesen im Hohen und Späten Mittelalter, Tübingen 1995 (Beiträge zur historischen Theologie 89). 19 Vgl. Bernhard von Clairvaux O. Cist.: Sermones de diversis 37, 2: „Generatio quaerentium Dominum.“ Zit. bei LOHSE: Mönchtum und Reformation (wie Anm. 3), S. 118, Anm. 35 [von S. 117]. 20 Vgl. Bernhard von Clairvaux O. Cist.: Epistola 104, 3: „desere potius ipsam propter ipsam.“ Zit bei LOHSE: Mönchtum und Reformation (wie Anm. 3), S. 118, Anm. 40. 21 Vgl. JOHANNES VON PALTZ OESA: De adventu domini ad iudicium (ed. Christoph Burger, in: Johannes von Paltz, Werke III: Opuscula, edd. Christoph Burger u.a., Berlin/New York 1989: Spätmittelalter und Reformation, Bd. 4, S. 390–408), hier: S. 395, Z. 13–17. 22 MARTIN GRUNEWEG OP: Autobiographische Aufzeichnungen, herausgegeben durch Almut Bues, Präsentation in Krakau im April 2008, bei Anm. 2820.
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gelischen Räte‘ oder Ratschläge, die consilia evangelica, stünden über den Geboten. Es konnte dann heißen, die Gebote Gottes zu halten, wie sie im Dekalog und im Doppelgebot der Liebe niedergelegt seien, dazu seien alle Christen verpflichtet. Über den Geboten aber stünden die consilia evangelica. Man werde dann ein vollkommener Christ, wenn man sich freiwillig auferlege, auch sie zu befolgen. Das täten Mönche, wenn sie Gelübde ablegten. So behauptete beispielsweise der Dominikaner Thomas von Aquin, Mönche hätten einen Vorrang gegenüber den Weltgeistlichen, weil sie durch ihre Gelübde eine dauerhafte Verpflichtung auf sich nähmen, die consilia evangelica zu befolgen. Diese Selbstverpflichtung gehe über das hinaus, was Gott fordere. Insofern könnten Mönche Gott verdienstliche Leistungen anbieten.23 Nicht nur die Christen in der ‚Welt‘ konnten am Vollkommenheitsanspruch der Mönche Anstoß nehmen. Auch Weltgeistliche setzten sich damit auseinander. Sie hielten den Verfechtern des Vorrangs der Mönche entgegen, es gäbe keine Empfehlungen Gottes, die höher stünden als Dekalog und Bergpredigt. Ein Christ könne nicht etwa Gott das Befolgen der Gelübde als überpflichtmäßige Leistung anbieten. Die consilia evangelica seien bloß Hilfen für Schwache, die auf diese Weise auf dem rechten Pfad gehalten werden müssten. So argumentierte beispielsweise der Pariser Hochschullehrer der Theologie Jean Gerson (1363–1429), ein Weltgeistlicher. Er behauptete, Mönche suchten nur die eigene Vollkommenheit. Bischöfe dagegen und deren Helfer in der Seelsorge, die Pfarrgeistlichen, vervollkommneten auch andere Christen und stünden insofern höher im Rang.24 Der Streit zwischen Mendikanten einerseits, Weltgeistlichen andererseits präfigurierte den Streit zwischen Mendikanten und Reformatoren des 16. Jahrhunderts. Im Spätmittelalter vertraten Bettelmönche wiederholt den Anspruch, eine vollkommenere Form christlicher Daseinsgestaltung zu leben als Weltgeistliche und Laien. Zwei Argumente, die dafür angeführt worden sind, werden im Folgenden kurz dargestellt. Eines lautet, das Leben im Konvent stelle im Vergleich zum Leben in der gottfeindlichen Welt einen Weg dar, auf dem man als Christ sicherer hoffen dürfe, selig zu werden. Ferner wurde der Anspruch erhoben, Mönche stünden in einer Schlachtreihe der auf Erden kämpfenden Kirche, mehr noch, sie seien in der alt und hinfällig gewordenen Welt Gottes ‚neue Miliz‘. Beide Ansprüche relativieren die Existenzform des Christenmenschen, der keine Sonderleistungen aufweisen kann. 23
THOMAS VON AQUIN: Summa theologiae II–II, q 184 art 8 ad 5 (ed. Marietti II–II Sp. 805b). 24 JEAN GERSON: De consiliis evangelicis et statu perfectionis (DERS.: Œuvres complètes, ed. P. Glorieux, Bd. 3, Paris etc. 1962, S. 24): „status curatorum est status perfectionis exercendae, religionis vero status magis est acquirendae.“ Vgl. CHRISTOPH BURGER: Aedificatio, Fructus, Utilitas. Johannes Gerson als Professor der Theologie und Kanzler der Universität Paris, Tübingen 1986 (Beiträge zur historischen Theologie, Bd. 70), S. 178–183.
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2.4. Das Leben im Kloster als Weg, der sicherer zum Heil führt In zahlreichen Quellen erhoben Mönche den Anspruch, das Leben im Kloster sei ein Weg, der sicherer zum ewigen Seelenheil führe, eine via securior, als ein Leben als Christ in der gottfeindlichen Welt. Ich führe einige Beispiele für diese Behauptung an. Ein spätmittelalterlicher Liedtext setzt wirkliche Abkehr von den Gefahren der ‚Welt‘ mit dem Eintritt ins Kloster gleich. Er spricht davon, dass die warnenden Worte eines Lehrers einen jungen Mann zur Einkehr gebracht hätten. Ein Lehrer hatte ihm vorgehalten, das irdische Leben laufe aufs Sterben zu. Auch die Leiber der lebensfrohesten Menschen fräßen am Ende die Würmer. Der junge Mann will sich aufgrund dieser Warnung von der vergänglichen weltlichen Freude abkehren hin zur dauerhaften Freude, zur Ausrichtung aufs ewige Seelenheil. Für den Verfasser einer der Textfassungen des Liedtextes genügt es nicht, dass der junge Mann sich hat warnen lassen und sein Leben ändern will. In der letzten Strophe wird vielmehr dem eben bekehrten jungen Mann in den Mund gelegt: „Was soll ich nun beginnen? Wenn ich einen grauen Rock anziehe, dann bin ich aller Welt Gespött!“ Sofort trat er ins Kloster ein. Amen.25
Um als Mönch sicher sein zu können, dass seine Umkehr von Dauer sein wird, nimmt der neu bekehrte junge Mann es in Kauf, dass er für seine Entscheidung verspottet werden wird. Durch eine massive Strafandrohung sichert der Augustinereremit Johannes von Paltz 1487 in einer Synodalansprache den Vorrang der via securior im Bettelordenskonvent. Er zitiert zustimmend eine Erzählung aus dem ‚Speculum historiale‘ des Vinzenz von Beauvais. Darin warnt ein König seinen Bruder, der es gewagt hatte, Bettelmönche gering zu schätzen. Sie seien trotz des 25
‚Wie laut sang der Wächter auf der Zinne‘, Textfassung der Handschrift Österreichische Nationalbibliothek 12.875, Strophe 10 (edd. E. Bruning e.a., Monumenta Musica Neerlandica VII, S. 122). Hier in eigener Übersetzung aus dem Mittelniederländischen. Helmut Tervooren und Martina Klug gehen davon aus, dass diese nun in Wien verwahrte Handschrift wohl aus einem kontemplativen Kloster in Roermond stammt, das Kaiser Joseph II. aufgehoben hatte (Ein neu entdeckter Adventszyklus aus dem niederrheinischen Kloster Gaesdonk. Beschreibung, Edition und Kommentar, in: Queeste. Tijdschrift over middeleeuwse letterkunde, Jahrgang 9, Nummer 1, 2002, S. 38–66, hier: S. 38, Anm. 3). Der ‚graue Rock‘ deutet wohl darauf hin, dass der junge Mann im Liedtext in einen Franziskanerkonvent eintreten will. Zum Kontext vgl. CHRISTOPH BURGER: Auf dem Wege ins himmlische Vaterland. Ein neu entdeckter Zyklus von Liedtexten aus dem niederrheinischen Chorherrenstift Gaesdonck, in: Heaven on earth / Himmel auf Erden, hg. von Rudolf Suntrup und Jan R. Veenstra, Frankfurt/ Main 2008 (Medieval to Early Modern Culture/ Kultureller Wandel vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit, Bd. 12).
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abgerissenen Aufzuges, in dem sie aufträten, Sendboten Gottes.26 Wer sie verachte, der ziehe sich das ewige Verderben zu. Zustimmend führt Paltz Abschnitte aus der Gründungslegende des Kartäuserordens an, in der es heißt, der vornehme Magister Bruno sei „auf heilsame Weise erschrocken und voller Reue“ gewesen, als ein hochangesehener Pariser Hochschullehrer auf der Leichenbahre bekannt habe, er sei auf ewig verdammt. Bruno und seine Gefährten hätten, um einem gleichen Schicksal zu entgehen, den schmalen Pfad gewählt, der zum ewigen Leben führe, und hätten daraufhin die Grande Chartreuse gegründet.27 Und in seiner ‚Coelifodina‘ weist er 1502 darauf hin, dass die Aufnahme in die Bruderschaft (confraternitas) eines Bettelordenskonvents denn doch noch einmal besser und fruchtbringender sei als selbst der Ablass.28 Wer Mitglied einer Bruderschaft wird, dessen Geist wird so erleuchtet, dass er die Wahrheit erkennen wird. Die Mitgliedschaft in einer Bruderschaft erwirbt Gnade Gottes, aufrechte Zerknirschung über die Sünde und Hinwendung des Willens zu Gott. Sie vermehrt die empfangene Gnade Gottes. Sie bewahrt geistlich, körperlich und ökonomisch vor Verarmung, Verzweiflung und vor Feinden. Sie befreit von Schwäche und von Unfruchtbarkeit. Sie verschafft Genugtuung, und zwar selbst für Verstorbene. Die ‚Welt‘ wird bei dieser Empfehlung des Lebens im Konvent als des Weges, der sicherer zum Heil führt, als sehr bedrohlich erfahren. In den zitierten Texten wird das Leben in der als gottfeindlich qualifizierten ‚Welt‘ als für das Seelenheil bedrohlich geschildert. Zugleich wird das Leben im Konvent als sicherer empfohlen. Gottgefälliges Leben lässt sich laut diesen Texten am sichersten in Kloster oder Bettelordenskonvent verwirklichen. Als besonders gefährliches Einfallstor der ‚Welt‘ im negativ qualifizierten Sinn ins Leben eines Christen galt die Sexualität. Die Priorin des Dominikanerinnenklosters ‚St. Nikolaus in undis‘ in Straßburg sagte 1522 zu einem vierzehnjährigen Mädchen, dessen Vater es – noch vor der Profess – wieder aus dem Konvent holen will: „Ich wollte lieber zusehen, wie du in ein Grab gelegt wirst, als dass ich nun sehen muss, dass du in die ‚Welt‘ gehst.“29
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PALTZ: De adventu domini ad iudicium (wie Anm. 21), S. 396, 25: „praecones dei mei“. Der Aufzug der Mönche wird beschrieben auf S. 396, Z. 7–8. 27 PALTZ: ebd., S. 393, 12–395, 5. Paltz zitiert die Vita Brunonis in Auszügen (PL 152, 483A–486B). Innerhalb des Zitats wird mit der Aussage über den schmalen Weg auf Matthäus 7, 13–14 angespielt. 28 Vgl. PALTZ: Coelifodina (wie Anm. 6), S. 381, 1–2: „Quomodo confraternitas sit melior et fructuosior indulgentia.“ Die Darstellung beginnt bereits auf S. 377 und reicht bis S. 397, 30. 29 „Ich wolt dich aber lieber sehen in ein grab legen, denn das ich dich müß sehen in die welt gon.“ Ursula von Mörßmünster, Priorin von St. Nikolaus in undis, Bericht über ein Ereignis am 22. Juni 1522. Ediert von KATHERINE G. BRADY und THOMAS A. BRADY, JR. In: Peter A. Dykema und Heiko A. Oberman (edd.): Anticlericalism in Late Medieval and Early
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Der Sonderweg der monastischen Existenz gewann dadurch besondere Anziehungskraft, dass er der zu sein beanspruchte, auf dem man hoffen durfte, sicherer aus der gefährlichen ‚Welt‘ in die himmlische Herrlichkeit zu gelangen. 2.5. Der Anspruch von Mönchen, sie seien die Kerntruppe der auf Erden streitenden Kirche Von der Kirche auf Erden im Unterschied zur triumphierenden himmlischen Kirche als von der auf Erden streitenden Kirche, der ecclesia militans, zu sprechen, war geläufig. Deswegen sprachen denn auch sowohl Mitglieder kontemplativer Orden wie solche der Bettelorden von einer ‚Schlachtreihe‘ der Christen, in der sie stünden. Bei einer von sächsischen Franziskanern veranstalteten Disputation wurde diese Selbstbezeichnung dadurch noch gesteigert, dass sie die Mitglieder des eigenen Ordens als eine ‚neue Miliz‘ bezeichneten. Norddeutsche Benediktinerinnen wurden nach der Profess als Bräute Christi gekrönt. Zur Liturgie der Nonnenkrönung gehörte es, dass der Bischof, der diese Krönung vorzunehmen hatte, an einer Stelle der Liturgie mit Worten des Hohen Liedes sang: „Wer ist sie, die hervorbricht ... wie eine geordnete Schlachtreihe?“30 Etwa 1439/1440 wurde die Kirche des Wiener Karmelitenkonvents mit einer Darstellung Marias und der vier lateinischen Kirchenväter Ambrosius, Augustinus, Hieronymus und Gregor I. geschmückt. Spruchbänder erläutern die Darstellung. Eines davon bezeichnet den Orden der Karmeliten als Schlachtreihe, die im Kampfe steht, und formuliert ein Stoßgebet an Maria: „Lehrerin der Bildung Gottes, steh’ unserer Schlachtreihe bei!“31 Der Kölner Karmelit Nikolaus Blanckaert bezeichnete sich 1551 in einer Schrift, die sich gegen Johannes Calvin wendete, als ‚Bürger des Christenrei-
Modern Europe, Leiden etc. 1993 (Studies in Medieval and Reformation Thought 51), S. 210–212, hier: S. 211. 30 Vgl. EVA SCHLOTHEUBER: Klostereintritt und Bildung. Die Lebenswelt der Nonnen im späten Mittelalter, Tübingen 2004 (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 24), S.170. Der liturgische Gesang zitiert Hoheslied 6, 9 (Vulgata): „Quae est ista, quae progreditur ... ut ... castrorum acies ordinata?“ 31 Doctrix disciplinae dei nostre assis aciei! Die Darstellung ist abgebildet bei Franz-Bernard Lickteig: The German Carmelites at the medieval universities, Rom 1981 (Textus et studia historica carmelitana 13), Abbildung nach S. 432. Vgl. dazu CHRISTOPH BURGER: Der Kölner Karmelit Nikolaus Blanckaert verteidigt die Verehrung der Reliquien gegen Calvin (1551), in: L. Grane, A. Schindler und M. Wriedt (Hgg.): Auctoritas Patrum II. Neue Beiträge zur Rezeption der Kirchenväter im 15. und 16. Jahrhundert, Mainz 1998 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abteilung Abendländische Religionsgeschichte. Beiheft 44), S. 27–49, hier: S. 42, Anm. 67.
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ches‘.32 Mitten unter den Bürgern dieses christlichen Reiches fechte er sicher.33 In ausgesprochen militärischen Worten sprach er von der Schlachtreihe, in der er kämpfe.34 Sprechen diese drei Texte von ‚Schlachtreihen‘ innerhalb der auf Erden streitenden Kirche, so geht der vierte einen entscheidenden Schritt weiter durch den Anspruch, der hier erhoben wird, Vorhut der auf Erden streitenden Kirche auf deren Weg hin zur himmlischen Seligkeit zu sein. Der hohe Anspruch stand in diesem Fall in erheblichem Kontrast zur angefochtenen Situation derer, die ihn erhoben. Denn wie der ganze Franziskanerorden, so spaltete sich im Spätmittelalter auch die franziskanische Ordensprovinz Saxonia in Konvente von Angehörigen der Obödienz, die für sich in Anspruch nahmen, die Regel streng zu befolgen, und Konvente der minder strengen Konventualen. Sächsische Franziskaner, die diese Spaltung unerträglich fanden und zur Einheit des Ordens zurücklenken wollten, versuchten im Jahre 1519, im Gebiet ihrer Provinz die Einheit des Ordens wieder herzustellen. Um dieses Ziel zu erreichen, veranstalteten sie ein Provinzialkapitel und hielten eine Disputation. Die Franziskaner luden Mitglieder der Wittenberger theologischen Fakultät ein, darüber mit ihnen zu disputieren. In den Thesen, die sie für diese Disputation verfassten, sprachen sie über ihren Orden als über eine neue Miliz (nova militia), die Gott gegeben habe, um die alt und damit hinfällig gewordene Erde noch einmal zu bessern.35 Franziskus sei der Fähnrich dieser neuen Miliz gewesen. Die erste Disputationsthese lautete: „Gott in seiner Güte beschloß voller Gnade, als die Welt greisenhaft wurde, seiner kämpfenden
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ALEXANDER CANDIDUS (Nikolaus Blanckaert) O. Carm.: Widmungsbrief der ersten von zwei zusammen gebundenen Schriftchen (mit dem Titel: Iudicium) an den Abt des Zisterzienserklosters Camp, Johannes von Hüls: „Non arbitratus sum ego officium esse ciuis Christianae Reipublicae ...“ (Epistula dedicatoria, A3v/A4r), vgl. auch CHRISTOPH BURGER: Ist, wer den rechten Zungenschlag beherrscht, auch schon ein Humanist? Nikolaus Blanckaert (Alexander Candidus) O. Carm. († 1555), in: Fokke Akkerman, Arjo Vanderjagt, A. van der Laan (Hgg.): Northern humanism in European context, 1469–1625: from the ‚Adwert Academy‘ to Ubbo Emmius, Leiden 1999 (Brill’s studies in intellectual history, vol. 94), S. 63–81, hier: S. 76, Anm. 58. 33 NIKOLAUS BLANCKAERT, ebd.: „inter medios ciues Christianae Reipublicae securus pugno“. (A4v). Ebd. S. 76, Anm. 57. 34 Vgl. CHRISTOPH BURGER: Der Kölner Karmelit ... (wie Anm. 31), S. 44, bei Anm. 78. 35 Vgl. GERHARD HAMMER: Militia Franciscana seu militia Christi. Das neugefundene Protokoll einer Disputation der sächsischen Franziskaner mit Vertretern der Wittenberger theologischen Fakultät am 3. und 4. Oktober 1519, in: Archiv für Reformationsgeschichte 69, 1978, S. 51–81, und 70, 1979, S.59–105. Hier: 69, 1978, S. 65: „Gratiose decrevit divina benignitas senescente mundo novam quandam ecclesiae suae militantis militiam demonstrare.“ In nochmals verbesserter Form sind Hammers Einleitung und Edition des Texts abgedruckt in: Dr. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Band 59, Weimar 1983 (Einleitung: S. 606– 678), Text: S. 678–697.
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Kirche eine neue Miliz zu zeigen.“36 Die Wittenberger Theologen nutzten die Chance, die Franziskaner anzugreifen. Denn wenn es einer ‚nova militia‘ bedarf, die neue Hoffnung erweckt, dann muss es ja auch eine ‚vetus militia‘ geben, die ihrer Aufgabe nicht gerecht geworden ist. Deswegen, lautet der Vorwuf der Wittenberger, liegt im Anspruch dieser Mendikanten zugleich der Vorwurf an Weltgeistliche und Christen, die in der gottfeindlichen ‚Welt‘ leben, sie seien ihrer Aufgabe nicht gewachsen gewesen. Wenn Franziskus in der Thesenreihe der Franziskaner als der ‚Fahnenträger‘ dieser neuen Miliz bezeichnet wird, 37 dann müssen die Offiziere der ‚vetus militia‘ innerhalb der ‚ecclesia militans‘ außerstande gewesen sein, ihre Aufgabe befriedigend zu erfüllen.38 Nur im letzten der vier angeführten Texte wird ausdrücklich der Anspruch erhoben, eine ‚neue Miliz‘ zu sein. Nur dieser enthält implicite die Aussage, die Franziskaner hätten die Aufgabe, in der hinfällig gewordenen Welt die Stoßtruppe der Kirche zu sein. Die drei anderen beschränken sich auf den Anspruch, in einer Schlachtreihe der auf Erden kämpfenden Kirche zu stehen.
3. Der fundamentale Widerspruch Luthers und einiger seiner Anhänger gegen den Anspruch, Mönche seien eine Elite innerhalb der Christenheit 3.1. Der Widerspruch Luthers Schon vor Beginn der lutherischen Reformation verloren kontemplative Orden und Bettelorden an gesellschaftlichem Ansehen. Der Zustrom von Novizen, besonders aus vornehmen Familien, nahm ab. Der im Spätmittelalter weit verbreitete Antiklerikalismus wandte sich auch, ja sogar ganz besonders, gegen Mönche und Nonnen. Viele Klöster und Konvente gerieten in finanzielle Probleme.39 Luther und seine Anhänger aber stellten die Ansprüche der Mön36
Franziskanerdisputation 1519 (WA 59, 678, 6–7). Franziskanerdisputation 1519 (WA 59, 681, Z. 34 und 35): „Ad quam vexilliferum et antesignanum divum Franciscum elegit, per quam [sic!] vitam passionemque Jesu voluit renovare.“ 38 Besonders herausgestellt hatte die Vortrefflichkeit des Franziskus Bartholomäus de Rinonico von Pisa († um 1401) in seinem ‚Liber conformitatum vitae beati Francisci ad vitam domini Iesu‘. Vgl. dazu innerhalb der Einleitung von Hammer den Abschnitt: Die Thesen der Franziskanerdisputation und ihre Quellen (WA 59, hier: S. 664 und 665). 39 Vgl. etwa FRANCIS RAPP: Die Mendikanten und die Straßburger Gesellschaft am Ende des Mittelalters, in: Stellung und Wirksamkeit der Bettelorden in der städtischen Gesellschaft, hg. von Kaspar Elm, Berlin 1981 (Berliner Historische Studien. Band 3. Ordensstudien II), S. 85–102. Die Vielfalt der Kritik an Klerikern und Mönchen in Spätmittelalter und Reformation zeigen beispielsweise die Beiträge in dem Sammelband: Anticlericalism … (wie Anm. 29). 37
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che und Mendikanten radikaler in Frage, als das im Spätmittelalter geschehen war. Sie tadelten nicht bloß Missstände, sondern griffen den Sonderweg der monastischen Existenz als den einer Elite innerhalb der Christenheit grundsätzlich an. Ihre Infragestellung mönchischer Ansprüche entsprang der ausschließlichen Orientierung auf den einen Mittler Christus hin, der alle anderen Mittler zwischen Gott und den Christen überflüssig mache. Sein Kreuzestod schließe jeden Anspruch auf Verdienst, der vor Gott gelten könne, aus. Luther betonte die fortdauernde Geltung der Taufe, die auch durch Übertretung der Gebote Gottes nicht außer Kraft gesetzt werde, und relativierte so die Bedeutung des Bußsakraments. Der Anspruch, den er erhob, nur die Heilige Schrift gelten lassen zu wollen, relativierte die gebräuchliche Berufung auf die Tradition. Wo sich die lutherische Reformation durchsetzen konnte, gerieten die Ansprüche der Mönche, innerhalb der Christenheit eine Elite darzustellen, enorm unter Druck. Von nun an ließen sich alle vorhandenen Vorbehalte und Beschwerden gegen sie einem umfassenden alternativen Gesamtkonzept zuordnen.40 Nach reformatorischer Lehre sollte dem Angebot göttlicher Gnade in Christus auf der Seite der Glaubenden die dankbare Annahme entsprechen, die in der Taufe stattfand.41 In seiner umfassenden Auseinandersetzung mit den Mönchsgelübden aus dem Jahre 1521 ‚De votis monasticis‘ wandte sich Martin Luther in sehr grundsätzlicher Weise gegen den Anspruch, die monastische Lebensweise sei besonders vollkommen. Er sprach den Gelübden jede Begründung aus der Heiligen Schrift ab.42 Bündelnd resümierte er: 40
Vgl. dazu BERNDT HAMM: Von der spätmittelalterlichen reformatio zur Reformation: der Prozeß normativer Zentrierung von Religion und Gesellschaft in Deutschland, in: Archiv für Reformationsgeschichte 84, 1993, S. 7–82, hier S. 8: „Unter ‚normativer Zentrierung‘ verstehe ich die Ausrichtung auf eine bestimmende und maßgebende, grundlegend orientierende, regulierende und legitimierende Mitte hin.“ Vgl. zu diesem Vorgang auch von dems.: Reformation als normative Zentrierung von Religion und Gesellschaft, in: Jahrbuch für Biblische Theologie 7, Neukirchen 1992, S. 241–279, sowie: Normative Zentrierung im 15. und 16. Jahrhundert. Beobachtungen zu Religiosität, Theologie und Ikonologie. In: Zeitschrift für Historische Forschung 26, 1999, S. 163–202. 41 Vgl. WERNER JETTER: Die Taufe beim jungen Luther. Eine Untersuchung über das Werden der reformatorischen Sakraments- und Taufanschauung, Tübingen 1954 (Beiträge zur historischen Theologie, Bd. 18), S. 317: „Luther versteht die Einmaligkeit der Taufe neu: sie meint nicht den einmaligen Vorgang, sondern seine einmalige Qualität.“ 42 Vgl. LUTHER: De votis monasticis, Teilüberschrift: „Daß die Gelübde nicht auf Gottes Wort sich gründen, vielmehr Gottes Wort widersprechen.“ Luthers Schrift wird hier zitiert nach: Martin Luther: Freiheit und Lebensgestaltung. Ausgewählte Texte, hg. von Karl-Heinz zur Mühlen, Göttingen 1983. Die dort auf den Seiten 78–215 gebotene Übersetzung ist mit kleinen Anpassungen an den modernen Sprachgebrauch übernommen aus: Luthers Werke, hg. von G. A. Buchwald und G. Kawerau, Ergänzungsband 1, hg. von Otto Scheel, Berlin 1905, S. 199–376. Die Teilüberschrift steht auf S. 84. Manche zitierte Stellen werden auch im lateinischen Original abgedruckt: „Primum, vota non niti verbo dei, immo adversari verbo dei.“ (WA 8, 578, 4–5).
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„Diese und ähnliche Aussprüche der Schrift ... zwingen uns gewißlich zu verdammen, was ... ohne, außer oder über Christus hinaus einhergeht, mags auch gleich durch Engel vom Himmel gegeben und durch gewaltige Wunder bestätigt sein.“43
Gegen die geläufige Deutung, der Dekalog sei das Gebot Gottes für alle Menschen und die Bergpredigt eine Ethik für eine Elite, stellt Luther die Interpretation, in der Taufe verpflichte sich jeder Christ auch auf die Bergpredigt. Von einer Ethik für gewöhnliche Christen und einer Elite-Ethik für Mönche zu reden widerspreche den Aussagen der Heiligen Schrift. Es zeugt nach seiner Ansicht von einer unermesslichen Verblendung, wenn Mönche behaupten, sie lebten „über Christus hinaus ein höheres und vollkommeneres Leben.“44 Luthers Einschätzung des Franziskus wechselt in dieser Schrift innerhalb weniger Zeilen. Zunächst nimmt er ihn gegen die Ansprüche zeitgenössischer Franziskaner in Anspruch. Er behauptet, Franziskus habe gewollt, dass seine Brüder allein nach dem Evangelium lebten, und im Evangelium stehe eben nichts davon, dass ein Christ auf sexuelle Betätigung verzichten müsse.45 Doch nimmt er diese scheinbare Zustimmung zur Intention des Ordensgründers gleich wieder zurück und tadelt, Franziskus selbst habe durch seine Regel eben doch zu einer Sondervorschrift gemacht, was Christus von allen Christen erwarte: „Doch leider ließ auch der heilige Mann entweder durch die Menge derer, die in der Welt das Evangelium verachten, oder durch die irrige Bemühung um die päpstliche Bestätigung und Genehmigung sich [auf die Weise] gefangen nehmen, daß er das allen Gläubigen gemeinsame Evangelium zu einer besonderen Regel für wenige machte und, was Christus als Gemeingut angesehen wissen wollte, zu einem Sondergut ...“46
Es geht Luther freilich auch gar nicht um Franziskus, sondern um die Ansprüche zeitgenössischer Franziskaner auf elitäre Vollkommenheit. Scharf tadelt 43
LUTHER: De votis monasticis, deutsch: S. 85; lateinisch: „Haec et similia oracula scripturae … certe cogunt damnare … quod vel citra vel praeter vel ultra Christum incedit, etiam si per angelos de coelo traditum, si per miracula ingentia confirmatum esset.“ (WA 8, 579, 1– 4). 44 LUTHER ebd., deutsch: S. 86. Bei der Franziskanerdisputation, an der er 1519 teilgenommen hatte, hatte Nicasius Claii, Teilnehmer an der Disputation als Mitglied der Wittenberger theologischen Fakultät, gesagt: „Niemals verschwand der Glaube an Christus so vollständig, daß er von Franziskus hätte erneuert werden müssen.“ („Fides vero Christi numquam adhuc defecit penitus, ut a Francisco renovaretur ...“; WA 59, 682, Z. 16–17). 45 Vgl. LUTHER: De votis monasticis (wie Anm. 42), deutsch: S. 86; lateinisch: WA 8, 579, 26–34. 46 Vgl. LUTHER ebd., deutsch: S. 87; lateinisch: „Falsus tamen est vir sanctus vel multitudine contemnentium Euangelium in mundo, vel operatione erronea Papisticae confirmationis et approbationis captus, ut commune Euangelium cunctis fidelibus faceret singularem regulam paucorum, et quod catholicum esse Christus voluit, traheret in schismaticum.“ (WA 8, 579, 38–580, 1).
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er denn auch die Aussage: „Die Regel der Minoritenbrüder ist das Evangelium“, weil sie implicite aussage, allein die Franziskaner seien Christen.47 Demnach hat Franziskus also nach Luthers Auffassung doch nicht gewollt, dass seine Brüder allein nach dem Evangelium lebten, wie Luther es versteht. Die Franziskaner verweigern Gott den Glauben,48 indem sie den Anspruch erheben, sie befolgten die Evangelischen Räte und nicht bloß die Gebote.49 Sie machen das Evangelium zum Gesetz.50 Was sie Räte nennen, sind Gebote Gottes. In der Bergpredigt und andernorts hat Christus nicht Räte erteilt, sondern gelehrt, was zu tun sei.51 Er hat sich nicht etwa darauf beschränkt, Ratschläge zu erteilen. Aus einem Ratschlag kann kein Gebot werden.52 Für alle Christen gibt es nur den einen gemeinsamen Weg.53 Wenig später kommt Luther auf diese Frage zurück und lehnt es scharf ab, dass die Mönche sich aus der Vielzahl der Anordnungen Christi lediglich Gehorsam, Armut und Keuschheit als angebliche ‚Evangelische Räte‘ Christi herausgesucht hätten.54 Die Unterscheidung zwischen einem Stand der Vollkommenheit und einem Stand der Unvollkommenheit lehnt Luther denn auch rundheraus ab: „Der andere Grund ihres Unglaubens ist, daß sie das christliche Leben in den Stand der Vollkommenheit und Unvollkommenheit zerteilen.“55 Wirklich vollkom-
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Vgl. LUTHER ebd., deutsch: S. 87; lateinisch: „Quid enim est dicere: ‚Regula fratrum Minorum est Euangelium‘, quam statuere, solos fratres Minores esse Christianos?“ (WA 8, 580, 13–15). 48 Vgl. LUTHER ebd., deutsch: S. 88: „zwei Hauptgründe ihres Glaubens oder vielmehr ihres Unglaubens ...“; lateinisch: „Sed hic incidunt duo eorum principia fidei seu potius perfidiae tractanda …“ (WA 8, 580, 21). Vgl auch ebd., deutsch: S. 94: „es müssen die den Glauben austilgen, die sich auf Gelübde und Werke verlassen, ... denn wenn sie sich fürchten, sobald sie sie übertreten haben, müssen sie hoffen, wenn sie sie halten.“; lateinisch: „Quia fieri non potest (uti dicemus), quin fidem extinguant, qui votis et operibus confidunt. Confidunt autem, qui necessaria ea ducunt, dum enim timent illis omissis, necesse est, ut sperent eisdem servatis.“ (WA 8, 584, 32–35). 49 Vgl. LUTHER ebd., deutsch: S. 88. 50 Vgl. LUTHER ebd., deutsch: S. 88: „Aber nun wissen sie nicht, was das Evangelium ist, weil sie ein Gesetz daraus machen, so verstehen sie auch diese Worte des Paulus gar nicht.“; lateinisch: „Sed sicut ignorant, quid sit Euangelium, dum legem ex ipso faciunt, ita has voces Pauli prorsus non capiunt.“ (WA 8, 580, 38–39). 51 Vgl. LUTHER ebd., deutsch: S. 89. 52 LUTHER ebd., deutsch: S. 93: „Denn unmöglich kann ein Rat des Evangeliums zu einem Gebot werden ...“; lateinisch: „Quia impossibile est, ut consilium Euangelii fiat praeceptum …“ (WA 8, 584, 7–8). 53 LUTHER ebd., deutsch: S. 92: „alle, die sie gelobt haben, sollen auf den gemeinsamen Weg der Christen zurückkehren …“. 54 Vgl. LUTHER ebd., deutsch: S. 96. 55 Vgl. LUTHER ebd., deutsch: S. 93; lateinisch: „Alterum principium perfidiae illorum: quod vitam Christianam partiuntur in statum perfectionis et imperfectionis.“ (WA 8, 584, 23– 24).
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men lebt nur der, der in heißer Liebe allen dient.56 Es ist der Teufel, der behauptet, man könne etwas geloben, das nicht alle Christen bereits in ihrer Taufe gelobt haben.57 In seiner Schrift ‚Vom ehelichen Leben‘ tritt Luther 1522 der Behauptung entgegen, die Sexualität sei eine der großen Gefahren, die einem Christen in der ‚Welt‘ drohten. An dieser Stelle sei an die oben angeführte Aussage der Straßburger Äbtissin erinnert, die ihre Postulantin lieber im Grabe als in der ‚Welt‘ gesehen hätte. Luther vertritt die Ansicht, es gäbe zwar ganz besondere Christen, die von Natur aus in der Lage wären, eine Ehe einzugehen, also zeugungsfähig seien, die aber um des Himmelreiches willen ehelos blieben. Aber solche Menschen seien derartig selten, dass sie nicht einmal ein Promille der Christen ausmachten.58 Ein Mensch kann nach Luthers Meinung nicht enthaltsam leben, wenn er nicht von Gott selbst eine spezielle Gnadengabe erhalten hat.59 Freilich darf ein moderner Leser nicht die eigenen Ansprüche an Ehe als eine alle Bereiche menschlicher Existenz umfassende Lebensgemeinschaft zugrunde legen, wie sie erst seit der Romantik erhoben worden sind. Feiert Luther doch die Ehe in erster Linie als eine gottgegebene Ordnung gegen Hurerei und Unkeuschheit.60 Von einer geistigen Gemeinsamkeit der Eheleute ist in dieser Schrift nur da die Rede, wo Luther davon spricht, dass ein Ehepartner den anderen zum christlichen Glauben führen könne. Luther tritt begeistert für das eheliche Leben ein, weil es seiner Überzeugung nach gottgewollt ist. Er formuliert ein Gebet, das ein Ehemann beten solle, um dafür zu danken, dass er im gottgewollten Stand der Ehe leben dürfe.61 Sind doch Väter und Mütter als Apostel, Bischöfe und Pfarrer ihrer Kinder zu betrachten.62 Wenn sie sich auf ihre Keuschheit und ihren monastischen Stand verlassen, dann sind Mönche und Nonnen nach Luthers Überzeugung es nicht wert, ein getauftes Kind zu wiegen und zu versorgen, selbst dann nicht, wenn eine Hure dieses Kind zur Welt gebracht hätte.63 Es gelte zu erkennen, dass Gott Menschen wie eine Mutter in Güte pflegt.64 Im Unterschied zu der Kritik daran, dass Angehörige monastischer Gemeinschaften hinter den Idealen zurückblieben, mit denen sie den Anspruch 56
Vgl. LUTHER ebd., deutsch: S. 94. Vgl. LUTHER ebd., deutsch: S. 95–96. 58 Vgl. LUTHER: Vom ehelichen Leben. Hg. und übersetzt von Oswald Bayer. InselAusgabe, Band III, Frankfurt 1982, S. 166–199; hier: S. 171. Der lateinische Text: WA 10 II (Einleitung: S. 267–275), S. 275–304. Die aus dieser Schrift angeführten Stellen werden nur in der Übersetzung geboten. 59 Vgl. ebd., S. 195. 60 Vgl. ebd., S. 194. 61 Vgl. ebd., S. 189–190. 62 Vgl. ebd., S. 196. 63 Vgl. ebd., S. 191. 64 Vgl. ebd., S. 193. 57
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erhoben, innerhalb der Christenheit eine Elite besonders entschiedener Nachfolger Christi zu sein, stellt Luther den Sonderweg monastischer Existenz als solchen in Frage. Er bestreitet, dass ein Christ die Evangelischen Räte freiwillig durch Gelübde zur Verpflichtung für sich selbst machen und dadurch vor Gott Verdienst erwerben könne. 3.2. Protest von Anhängern Luthers gegen elitäre Ansprüche der Mönche Die Hinwendung von Allgemeinhistorikern zur Erforschung und Darstellung der Geschichte breiter Bevölkerungsgruppen65 hat dazu geführt, dass neben den Schriften der hervorragenden Reformatoren des 16. Jahrhunderts in zunehmendem Maße auch deren Einfluss auf minder bekannte Menschen und die Rolle von Multiplikatoren berücksichtigt worden ist und wird. Auch an dieser Stelle sollen einige Beispiele dafür angeführt werden, wie im Einflussbereich Luthers Kritik am Anspruch der Mönche darauf formuliert worden ist, sie stellten innerhalb der Christenheit eine Elite dar. Wiederholt tauchte die Aussage auf, besser als der Aufenthalt im Kloster sei das ‚gemein christlich Leben‘. So argumentierte beispielsweise Landgraf Philipp von Hessen in einem Schreiben, in dem er dem ehemaligen Kartäuser Johannes Lening eine Abfindung zuwies, um dessen Lebensunterhalt zu sichern, Lening habe sich für ein ‚gemein christlich Leben‘ entschieden: „den standt der vermeinten geistlichkeit zu verlassen, sich in ein erbare [sic] gottseliges und gemein christlich leben zu begeben geursacht worden ist.“66 Im Jahre 1519 kam es zu einem Streitgespräch im sächsischen Jüterbog. Ausgelöst hatte die Kontroverse der Jüterboger Prediger Franz Günther. Diskussionsgegner der dortigen Franziskaner waren der Augustinerprior Konrad Helt und ein namentlich nicht bekannter Wittenberger Augustiner, der ihn begleitete. Dieser unbekannte Augustiner hielt den Franziskanern entgegen, es gebe überhaupt keine consilia evangelica, sondern alles, was im Evangelium stehe, sei den Christen geboten. Gott fordere die Befolgung des ganzen Evangeliums und höchste Vollkommenheit von jedem Christen (und nicht etwa nur von Bettelmönchen).67 Damit widersprach er dem Anspruch, wenn ein Men65
Vgl. etwa STONE: The past and the present (wie Anm. 1), S. 14: „The most influential social science to turn to history to test its theories and expand its data base was demography …“ Dieser Text wurde 1981 publiziert. 66 JOHANNES SCHILLING: Gewesene Mönche. Lebensgeschichten in der Reformation. München 1990, S. 25. CORNELIS AUGUSTIJN hat den Landgrafen Philipp als einen ‚fürstlichen Theologen‘ bezeichnet: Ein fürstlicher Theologe. Landgraf Philipp von Hessen über Juden in einer christlichen Gesellschaft, in: Reformiertes Erbe. Festschrift für Gottfried W. Locher zu seinem 80. Geburtstag, hg. von Heiko A. Oberman, Ernst Saxer u. a., Bd. 2, Zürich 1992, S. 1–11. 67 Vgl. Quellen zu Thomas Müntzer, bearbeitet von WIELAND HELD (†) und SIEGFRIED HOYER, Leipzig 2004 (Thomas-Müntzer-Ausgabe, Bd. 3), S. 40, 28 bis S. 42, 4 (die lateinischen Texte stehen auf den Seiten mit geraden Zahlen).
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dikant freiwillig die consilia evangelica dadurch für sich verpflichtend mache, dass er Gelübde ablege, erwerbe er dadurch Verdienst. Die Gelübde fügen dem, was einem Christen durch die Taufe bereits zur Pflicht gemacht ist, nichts hinzu. Die Überraschung der Franziskaner wird aus ihrem Bericht an ihren kirchlichen Oberen deutlich. Das gesamte Paradigma, mit dem sie als Mönche erzogen worden sind, wird ja hier in Frage gestellt. Auf diese radikale Reduktion der Heilsvermittlung konnten sie nicht vorbereitet sein. Im gleichen Jahr 1519 trat bei der Franziskanerdisputation in Jüterbog als erster Gesprächspartner der Gastgeber Philipp Melanchthon gegen die sächsischen Mendikanten in die Schranken. War es doch üblich, dass ein neues und als solches noch relativ unerfahrenes Mitglied der Körperschaft Theologische Fakultät der Universität Wittenberg als erstes disputierte. Sollte der junge Kollege scheitern, dann konnten zur Not die erprobten Professoren, die nach ihm disputierten, die Scharte noch auswetzen. Melanchthon stellte dem oben referierten Anspruch der Franziskaner, ihr Orden sei die neue Miliz Gottes in einer greisenhaft gewordenen Welt, die Aussage entgegen: „Wir haben eine einzigartige Miliz, der wir durch die Taufe selbst zugerechnet werden. Deshalb frage ich, auf welche Weise diese eure neue franziskanische Miliz sich von Christi Miliz unterscheidet.“68 Der ehemalige Franziskaner Johannes Schwan sprach im Februar 1523 in einer Flugschrift, in der er seinem Vater seinen Austritt aus dem Kloster erklären wollte, recht deutlich Luther nach: Glaube ist „lebendige zuuersicht im hertzen / auff die zusage gottes ...“. Wo dieser Glaube ist, werden gute Werke nicht ausbleiben: So wenig Feuer sein kann, ohne Wärme und Licht auszustrahlen, so wenig bleibt Glaube ohne gute Werke.69 Als er ins Kloster eingetreten sei, habe er gemeint, die Kraft seiner Taufe sei dahin.70 In einer zweiten Schrift agitierte Schwan gegen Ansprüche der Mendikanten. Außerhalb der Heiligen Schrift, schreibt er, gibt es keine verbindlichen Zeugnisse für Gottes Willen.71 Schwan war 20 Jahre lang Franziskaner gewesen und zu dem Zeitpunkt, zu dem er seine Schriften verfasst, etwa 38 Jahre alt. In den angeführten Aussagen von Anhängern Luthers begegnen keine Argumente, die gegenüber denen, die er bereits formuliert hatte, inhaltlich Neues brächten. Luthers Reden vom allgemeinen Priestertum aller Getauften wird 68
Franziskanerdisputation 1519 (WA 59, S. 680, 2–4). Zum Verständnis der Gelübde als eines Selbst-Opfers vgl. CORNELIS AUGUSTIJN: Luthers intrede in het klooster, Kampen 1968, S. 20 (mit dem Hinweis auf eine Predigt Luthers vom 5. Juni 1535 über Psalm 110, WA 41, 200, 13–19). In der Erstfassung seiner ‚Loci communes‘ von 1521 behandelt Melanchthon die Mönchsgelübde nach dem Abschnitt über die ‚Ratschläge‘ (3. De lege. De monachorum votis: 93–107; ed. Pöhlmann, Gütersloh 1993, S. 124–130). 69 SCHILLING ebd. (wie Anm. 66), S. 11. 70 SCHILLING ebd. (wie Anm. 66), S. 12. 71 SCHILLING ebd. (wie Anm. 66), S. 14.
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lediglich angeeignet und vertreten. Auf dieser Grundlage wird der Anspruch zurückgewiesen, es sei eine Leistung, die man Gott vorweisen könne, wenn man sich durch Gelübde die Befolgung der Evangelischen Räte freiwillig zur Pflicht mache.
4. Die Bildung einer christlichen Elite in den lutherischen Landeskirchen Die ‚normative Zentrierung‘ der Reformation des 16. Jahrhunderts72 hat zu einem neuen Paradigma für die Definition der Beziehung zwischen Gott und Menschen geführt. Im Konflikt mit dem historisch gewachsenen Anspruch der hierarchisch verfassten Kirche auf die Mittlerrolle hin zum Mittler Jesus Christus wurde entschlossen auf ihn als auf den einzigen Mittler hingewiesen. Die Taufe wurde zum dankbaren ‚Ja‘ zu Gottes Heilsangebot erklärt, über die hinaus es keine weitere Stufe vollkommenen Christseins geben könne. Für einen Stand besonders ernsthafter Christen, für eine christliche Elite, war im Prinzip in diesem Konzept kein Raum mehr. Das bedeutete aber nicht, dass die Mitglieder reformatorischer Kirchen auf die Dauer der Versuchung widerstanden hätten, führende Persönlichkeiten eben doch besonders zu ehren. Es fällt ins Auge, dass Luther73 und andere Reformatoren trotz der zentralen Bedeutung, die die Lehre von der Rechtfertigung des Gottlosen in der lutherischen Tradition erhielt, in kürzester Zeit in die Rolle protestantischer Heiliger einrückten. Lucas Cranach der Jüngere stellte beispielsweise bereits die Wittenberger Reformatoren als Apostel beim Letzten Abendmahl dar. Nicht nur die Reformatoren selbst, sondern auch die Amtsträger wurden innerhalb der Gemeinden reformatorischer Kirchen sehr bald eben doch wieder Leitfiguren. Die Auslegung der Bibel auf der Grundlage der hebräischen und griechischen Originaltexte erforderte ja ein akademisches Studium. Für die Auseinandersetzung mit Andersdenkenden bedurften die Gemeinden geschulter Wortführer, die aufgrund gediegener Kenntnis der Theologiegeschichte die reformatorische Botschaft mit Argumenten verteidigen konnten. Auch der Wunsch der Obrigkeiten, Ansprechpartner zu haben, die sie zur Verantwortung ziehen und zur Disziplinierung der Untertanen einsetzen 72
Vgl. dazu die oben in Anm. 40 genannten Arbeiten von BERNDT HAMM. „Bei Luther stoßen wir sonnenklar auf den Konflikt zwischen dem Konzept von Heiligkeit, wie es durch die Kirche definiert wird, und der Wahrnehmung von Heiligkeit von unten her – einen Konflikt, der durch die westlichen Kirchen gewöhnlich verschleiert wird, sei es nun dadurch, dass sie als den einzigen Maßstab der Heiligkeit die kirchliche Autorität anerkennen, sei es dadurch, dass sie erklären, jede Form der Anerkennung sei Gottes Monopol.“ WILLEM FRIJHOFF: Heiligen, idolen, iconen. [Antrittsvorlesung, gehalten am 28. Mai 1998], Nijmegen 1998, S. 38. Im Original niederländisch. 73
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konnten, hob die Geistlichen aus den Gemeinden heraus. Schließlich führte der Wunsch der einfachen Christen selbst, andere Christen zu verehren, die ihr christliches Leben auf besondere Weise gestalteten, auf die Dauer dazu, dass eben doch eine – nun eben reformatorische – Gruppe von ‚Fähnrichen‘ und eine ‚neue Miliz‘ entstand. Die gesellschaftliche Realität holte auch die reformatorischen Kirchen ein. Der Historiker Frijhoff plädiert denn auch für einen weiten Begriff von Heiligkeit: „Große Männer nehmen eine Ausnahmestellung ein. Sie verkörpern die leuchtenden Werte, die eine Gruppe sich bleibend vor Augen stellen will.“74
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FRIJHOFF: Heiligen, idolen, iconen (wie Anm. 73), S. 7. Im Original niederländisch.
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Wurzeln reformatorischen Denkens in der monastischen Theologie Bernhards von Clairvaux 1. Anmerkungen zur Forschungsgeschichte Dass die Reformation und insbesondere Martin Luther ihre kirchlichen und theologischen Wurzeln im Mittelalter hatten, ist eine Einsicht, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts zunehmend durchgesetzt hat. Karl Holl, der am Anfang der neueren Lutherforschung steht, hatte in der Auseinandersetzung mit Ernst Troeltsch besonders das Neue an Luther und seiner Reformation hervorgehoben. Bezeichnend ist die Formulierung seines bekannten Buches von 1919: „Der Neubau der Sittlichkeit“.1 In der Überarbeitung einer anderen berühmten, erstmals 1917 erschienen Abhandlung kommt er gar zu dem resignierten Ergebnis: „Die durch Troeltsch wieder neu angeregte Frage über das Verhältnis Luthers zum Mittelalter ist – das dürfen die Erörterungen der letzten Jahre hinreichend gezeigt haben – ‚wissenschaftlich‘ überhaupt nicht auszumachen, weil dabei die persönliche Stellungnahme des Forschers zu den letzten Fragen unvermeidlich mit hereinspielt.“2
Die Problematik der von Troeltsch angestoßenen Diskussion über Luthers Stellung zwischen Mittelalter und Neuzeit ist später im Einflussbereich Holls wiederholt erörtert worden, wenn auch ohne explizite Auseinandersetzung mit seinem Anliegen.3 Auf die grundsätzlichen Fragen einer kirchen-, theologieoder gar geistesgeschichtlichen Einordnung Luthers und der Reformation kann ich hier nicht näher eingehen. Bevor sie weniger anfechtbar als von Troeltsch und Holl beantwortet werden können, ist historische Einzelarbeit auf vielen Gebieten nötig. 1
Wieder abgedruckt in KARL HOLL: Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte I Luther, Tübingen 71948, S. 155–287. 2 KARL HOLL: Was verstand Luther unter Religion?, in: ders., Gesammelte Aufsätze (wie Anm. 1), S. 1–110, hier S. 109 Anm. 1. 3 Vgl. HANNS RÜCKERT: Die geistesgeschichtliche Einordnung der Reformation (1955), in: ders., Vorträge und Aufsätze zur historischen Theologie, Tübingen 1972, S. 52–70; GERHARD EBELING: Luther und der Anbruch der Neuzeit (1972), in: ders., Wort und Glaube III, Tübingen 1975, S. 29–59.
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Das haben – neben anderen – bereits einige unmittelbare Schüler Holls gesehen und entschlossen die Frage nach Luthers mittelalterlichem Hintergrund aufgegriffen. Emanuel Hirsch plante schon in jungen Jahren eine großangelegte „historisch-genetische Darstellung der Theologie Luthers und von da her eine gleichartige Darstellung der reformatorischen Theologie überhaupt in der Zeit bis zu Luthers und Melanchthons Tode“.4 Von diesem Projekt sind erst spät Teile einer „geplanten großen Monographie über Gewissen und heiliger Geist bei Luther“5 erschienen: „Drei Kapitel zu Luthers Lehre vom Gewissen“, von denen das erste „Die Luther überkommenen Aussagen über das Gewissen“ behandelt.6 Sein Schüler Erich Vogelsang, der begonnen hatte, die Christologie Luthers vor ihrem mittelalterlichen Hintergrund aufzuarbeiten, ist im Zweiten Weltkrieg gefallen. Hirsch selbst war nicht in der Lage, die Arbeit fortzuführen. Doch der einige Jahre jüngere Holl-Schüler Hanns Rückert griff in Tübingen nach dem Krieg erneut die Frage nach mittelalterlichen Voraussetzungen Luthers auf, und zwar als Präsident der Kommission für die Herausgabe der Weimarer Lutherausgabe, die sich 1950 als „freie wissenschaftliche Gesellschaft“ konstituiert hatte. Den Anlass dazu bot der Beschluss, ein altes Projekt wieder aufzunehmen, das schon 1930 von der WAKommission ins Auge gefasst worden war: die Neuausgabe der in den Bänden 3 und 4 nur unzulänglich veröffentlichten ersten Psalmenvorlesung. Man entschied sich dafür, der Neuedition einen ausführlichen Traditionsapparat beizugeben. Wie Hanns Rückert berichtet, wurde der Nachweis der Traditionen, aus denen Luther in seiner ersten Vorlesung als Wittenberger Theologieprofessor geschöpft hatte, auf ein kleines Team von Spezialisten verteilt: Für Augustinus und Cassiodor war Adolf Hamel zuständig, für „das ausgedehnteste und schwierigste Gebiet“, das der mittelalterlichen Schriftauslegung, Gerhard Ebeling, für Faber Stapulensis Fritz Hahn, für Anklänge an die Liturgie Leonhard Fendt, für Bezüge zum Corpus Iuris Canonici Johannes Heckel und für die scholastische Tradition Hanns Rückert zusammen mit seinem Schüler Reinhard Schwarz. Außerdem steuerte ein weiterer Kollege „einige Zitate aus der mystischen Literatur bei“.7 Von monastischen Überlieferungen ist in dieser ausführlichen Aufzählung von Traditionen nicht die Rede; sie wurden vermutlich unter die mittelalterliche Auslegung oder unter die Scholastik subsumiert. Bernhard Lohse hat dann in einem umfassenden Vergleich von Werken Luthers bis 1521 mit dem Mönchsideal der Alten Kirche und des Mittelalters gezeigt, wie lange der Re4
EMANUEL HIRSCH: Lutherstudien I, Gütersloh 1954, S. 7. Ebd. S. 8. 6 Ebd. S. 11–108. 7 HANNS RÜCKERT: Vorwort zur 1. Lieferung der Neuedition der 1. Psalmenvorlesung; WA 55 I/1, 1. Lieferung 1963, S. 7*. 5
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formator trotz fortschreitender Kritik noch an diesem Ideal festgehalten hat.8 Dabei hat er sich freilich auf den Aspekt des monastischen Lebensideals beschränkt. In wesentlich tiefere Dimensionen führte Reinhard Schwarz hinein, wenn er im Blick auf Lohses Ausführungen über Luthers erste Psalmenvorlesung bemerkte: „Das ausdrückliche Urteil über die monastischen Ideale enthüllt jedoch noch nicht in der ganzen Breite und Tiefe die Verbundenheit mit dem monastischen Selbstverständnis und der monastischen Theologie. Es bleibt noch zu fragen, ob gewisse theologische Strukturen der 1. Psalmenvorlesung eine monastische Mentalität und Theologie widerspiegeln.“9
Schwarz zeigt hier den Einfluß monastischer Gedanken vor allem an der ersten Psalmenvorlesung, aber auch darüber hinaus in der Reformation (Melanchthon, Calvin), und nimmt bereits den Begriff der „monastischen Theologie“ positiv auf, in dem auch ich einen Schlüsselbegriff für die theologiegeschichtliche Einordnung Luthers sehe. Der Nachfolger Hanns Rückerts in Tübingen, Heiko A. Oberman, hat wieder auf eine andere, ältere Fragestellung zurückgegriffen, die auf Wurzeln reformatorischer Theologie in Luthers eigenem Orden abzielt. Er ging von der Annahme aus, der Orden der Augustinereremiten habe eine eigene Richtung der Schultheologie entwickelt, die im Zusammenhang mit einer spätmittelalterlichen Augustin-Renaissance gestanden habe und auch in Erfurt und Wittenberg vertreten worden sei.10 Die Erwähnung einer „via Gregorii“ neben einer „via Thome“ und einer „via Scoti“ in den Statuten der Wittenberger Artistenfakultät von 150811 lenkte den Blick auf den großen Augustinertheologen Gregor von Rimini. Die Formulierung der Statuten bildete einen der Pfeiler, die Obermans Konstruktion einer theologischen Traditionslinie („Via Gregorii“) vom vermuteten „Spätaugustinismus“ im Augustinerorden bis zu Luther tragen sollten. Freilich hat er sich als viel zu schwach erwiesen, um die Beweislast zu tragen, die ihm aufgebürdet wurde. Zum einen ist die „via Gregorii“ der Statuten, wenn sie denn überhaupt ernsthaft geplant war, bei den 8
BERNHARD LOHSE: Mönchtum und Reformation. Luthers Auseinandersetzung mit dem Mönchsideal des Mittelalters, Göttingen 1963 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 12). 9 REINHARD SCHWARZ: Vorgeschichte der reformatorischen Bußtheologie, Berlin 1968 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 41), S. 9. 10 Grundlegend HEIKO A. OBERMAN: Headwaters of the Reformation: Initia Lutheri – Initia Reformationis (1974), in: ders., The Dawn of the Reformation. Essays in Late Medieval and Early Reformation Thought, Edinburgh 1986, S. 39-83, bes. S. 65–80. 11 Urkundenbuch der Universität Wittenberg. Teil 1 (1502–1611), hg. von Walter Friedensburg, Magdeburg 1926 (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und des Freistaates Anhalt N.R. 3), S. 56 (Nr. 26): „indifferenter profiteatur via Thome, Scoti, Gregorii“, dazu S. 53 über die Wahl des Dekans: „quicumque ille fuerit [...], Thome, Scotho sive Gregorio mancipatus“.
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Artisten nie verwirklicht worden. Noch weniger hat es eine Schulrichtung dieses Namens an der Wittenberger Theologischen Fakultät gegeben. Schließlich hat Luther Gregor von Rimini erst im Zusammenhang mit der Leipziger Disputation 1519 erwähnt.12 Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass Luther seine Augustin-Kenntnisse oder gar Einsichten, die für seine reformatorische Theologie wegweisend wurden, dem Ordenstheologen Gregor von Rimini verdankt hätte. Der Reformator sagt sogar einmal ausdrücklich, er sei nicht durch seinen Orden zu Augustin hingeführt worden.13 Damit ist die Suche nach einer Prägung der Theologie Luthers durch eine spezifische Theologie seines Ordens fragwürdig geworden. Luthers Beeinflussung durch Augustin lässt sich viel einleuchtender aus dem direkten Studium des Kirchenvaters unter dem Einfluss des Humanismus erklären.14 Doch ganz abgesehen von der Frage nach etwaigen philosophischen und theologischen Einflüssen bleibt die Tatsache, dass Luther von seinem Eintritt als Postulant ins Erfurter Schwarze Kloster im Juli 1505 bis zur endgültigen Trennung vom Ordensstand durch seine Heirat im Juni 1525 volle zwei Jahrzehnte als Augustinereremit gelebt hat: zunächst annäherungsweise, seit der Profess (1506) in strenger Observanz, seit dem Wartburgaufenthalt 1521 zunehmend innerlich und seit Oktober 1524 auch äußerlich sichtbar von der bisherigen Lebensform distanziert. Das Wittenberger Augustinereremitenkloster hat er freilich nicht mehr verlassen, da es der Kurfürst nach dem Auszug aller übrigen bisherigen Bewohner ihm und seiner Familie als Wohnung geschenkt hat. Die Zeit, in der Luther das Leben eines Mönchs führte, umfasste genau das mittlere Drittel seines Lebens, in dem sich seine Theologie formte und in dem sich sein Bruch mit der Römischen Kirche vollzog. Die lange Phase seiner monastischen Existenz kann also gar nicht spurlos an Luthers Denken vorübergegangen sein. Das betrifft nicht nur die von der Forschung schon immer beachteten „Klosterkämpfe“, Luthers Bemühungen um ein im Sinne des monastischen Ideals korrektes Leben, seine Anfechtungen, sein „Ringen um einen gnädigen Gott“ und ähnliches. Vor mehr als zwanzig Jah12
Zum Thema von freiem Willen und Gnade, bei Gregor II Sent. dist. 26-28: WA 2, S. 344,20f.; 394,33; 395,8f. 12 u.ö. 13 An Spalatin, 19. Oktober 1516 (WA.B 1, S. 70,19–21): „Non quod professionis meae studio ad b. Augustinum probandum trahar, qui apud me, antequam in libros eius incidissem, ne tantillum quidem favoris habuit.“ 14 Vgl. bes. BERNHARD LOHSE: Die Bedeutung Augustins für den jungen Luther (1965), in: ders., Evangelium in der Geschichte. Studien zu Luther und der Reformation, Göttingen 1988, S. 11–30; LEIF GRANE: Modus loquendi theologicus. Luthers Kampf um die Erneuerung der Theologie (1515–1518), Leiden 1975 (Acta Theologica Danica 12); HELMAR JUNGHANS: Der junge Luther und die Humanisten, Göttingen 1985, bes. S. 123–141; ALBRECHT BEUTEL: Luther, in: Augustin Handbuch, hg. von Volker Henning Drecoll, Tübingen 2007, S. 615–622.
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ren habe ich die Frage gestellt, welche Bedeutung das Leben als Mönch mit all seinen Implikationen eigentlich für Luthers religiöse und theologische Entwicklung hatte.15 Dabei dachte ich nicht nur an die Übernahme spezifischer Ordenstraditionen, sondern an die Wirkungen konkreter Erfahrungen des monastischen Lebens auf sein Denken: etwa die Widerspiegelung der monastischen conversio in seinem späteren Selbstverständnis; die Bedeutung des von ihm erlebten klösterlichen Gottesdienstes, des regelmäßigen Stundengebets und der gebräuchlichen Andachtsübungen für sein Verständnis von Gottesdienst im Allgemeinen und von Liturgie im Besonderen; seine Auffassung von worthafter und sakramentaler Existenz und sein Verhältnis zur Bibel; die Einflüsse eines Lebens in freiwilliger Armut und in klösterlicher Gemeinschaft bis hin zur jahrelangen Mitarbeit in der lokalen und regionalen Ordensleitung auf sein Verständnis einer christlichen Gemeinde, der kirchlichen Ämter und Amtshandlungen, der sozialen und wirtschaftlichen Probleme – kurz den Niederschlag der gesamten im Laufe von zwei Jahrzehnten gemachten Erfahrungen monastischen Lebens in Luthers Theologie. Diese Fragen sind bis heute unbeantwortet, und ich muss gestehen, dass ich sie selbst auch nicht eingehender weiterverfolgt habe. Das Problem tritt übrigens keineswegs nur an Luther zu Tage. Er war ja nicht der einzige Mönch, wenn auch der bedeutendste, der sich im Fortgang des reformatorischen Geschehens von seiner monastischen Lebensform abgewandt hat und aus seiner bisherigen Gemeinschaft ausgetreten ist. Johannes Schilling hat unter dem Titel „Gewesene Mönche“ drei Lebensgeschichten aus Hessen dargestellt – mit reichem Ertrag, aber freilich ohne die von mir gestellten Fragen zu erörtern.16 Es wäre wichtig, bei Luther wie bei möglichst vielen anderen „gewesenen Mönchen“ konkrete Wirkungen ihres Mönchseins in ihrem reformatorischen Denken und Wirken aufzuspüren. Dass allgemein monastische Grundhaltungen Luther zu einer praxisrelevanten theologischen Theoriebildung auf wichtigen Gebieten außerhalb des Mönchtums angeregt haben, mögen zwei Beispiele zeigen: Mit Luthers 95 Thesen vom 31. Oktober 1517 beginnt seine epochemachende Ausweitung monastischer Ideale auf alle Christen. Die ersten beiden Thesen lauten: „Als unser Herr und Lehrer Jesus Christus sagte: Tut Buße usw. [Mt. 4,17], wollte er damit bewirken, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sei. Dieses Wort kann nicht im Sinne
15
ULRICH KÖPF: Martin Luther als Mönch, in: Luther 55 (1984), S. 66–84; leicht erweitert: Martin Luthers Lebensgang als Mönch, in: Kloster Amelungsborn 1135–1985, hg. von Gerhard Ruhbach / Kurt Schmidt-Clausen, Amelungsborn 1985, S. 187–208. 16 JOHANNES SCHILLING: Gewesene Mönche. Lebensgeschichten in der Reformation, München 1990 (Schriften des Historischen Kollegs. Vorträge 26).
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der sakramentalen Buße (das heißt [im Sinne einer Buße] mit Beichte und Genugtuung, die durch den Dienst der Priester vollzogen wird) verstanden werden.“17
Damit behauptet Luther, Jesu Aufforderung zur Buße habe nicht das überkommene Sakrament der Buße begründet, sondern ziele auf eine das gesamte Verhalten aller Gläubigen leitende Bußgesinnung, die sich allerdings auch im äußeren Leben kundtun solle. Hier überträgt er also das Ideal einer nichtsakramentalen Bußgesinnung, die seit den Anfängen des altkirchlichen Mönchtums als Inbegriff monastischen Lebens gegolten hatte, auf das christliche Leben im Ganzen.18 Er hat damit der protestantischen Frömmigkeit auf Dauer eine Färbung verliehen, die sie lange Zeit gekennzeichnet hat und die ihr bis zum heutigen Tag immer wieder zum Vorwurf gemacht wird.19 Eine ähnliche Ausweitung und Übertragung einer monastischen Grundüberzeugung ins allgemein Christliche hat Luther mit der traditionellen Vorstellung von einer besonderen Berufung („vocatio“ oder „professio“) der Mönche vorgenommen,20 die er ursprünglich selbst mit seinem Entschluss zum Klostereintritt als Reaktion auf den Blitzschlag bei Stotternheim verbunden hatte.21 Den Gedanken der Berufung eines bestimmten, durch seine „geistliche“ Qualifizierung hervorgehobenen Standes innerhalb der Christenheit wandte er zu der Überzeugung, dass jeder Christ seinen besonderen Beruf, d.h. die Berufung zu einer dem eigenen Stand, Geschlecht und Alter eigentümlichen Aufgabe habe.22 Mit besonderem Nachdruck betonte der Re17
MARTIN LUTHER: Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Weimar 1883ff. (im folgenden abgekürzt: WA) 1, S. 233–238, hier S. 233,10–17: „1 Dominus et magister noster Iesus Christus dicendo ‚Penitentiam agite &c.‘ omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit. 2 Quod verbum de penitentia sacramentali (id est confessionis et satisfactionis, que sacerdotum ministerio celebratur) non potest intelligi. 3 Non tamen solam intendit interiorem, immo interior nulla est, nisi foris operetur varias carnis mortificationes. 4 Manet itaque pena, donec manet odium sui (id est penitentia vera intus), scilicet usque ad introitum regni celorum.“ – Die obige und alle folgenden Übersetzungen aus dem Lateinischen stammen von mir. 18 REINHARD SCHWARZ: Vorgeschichte der reformatorischen Bußtheologie (wie Anm. 9). 19 Vgl. z.B. WOLFHART PANNENBERG: Protestantische Bußfrömmigkeit, in: ders., Christliche Spiritualität, Göttingen 1986, S. 5–25. 20 Dazu grundlegend KARL HOLL: Die Geschichte des Worts Beruf (1924), in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte III: Der Westen, Tübingen 1928, S. 189–219. 21 De votis monasticis 1521; WA 8, S. 573,30f.: „Memini enim nimis praesente memoria, cum [...] ego de coelo terroribus me vocatum assererem [...].“ 22 Z.B. Kirchenpostille 1522; WA 10 I/1, S. 306,17f.: „Unangesehen aller heyligen exempell unnd leben soll eyn iglicher wartten, was yhm befolhen ist, unnd warnhemen seynis beruffis“; S. 308,6–9: „Szo mochstu sprechen: Wie aber, wenn ich nit beruffen bynn, was soll ich denne thun? Anttwortt: wie ists muglich, das du nit beruffen seyest? du wirst yhe ynn eynem stand seyn, du bist yhe eyn ehlich man odder weyb odder kind odder tochter odder knecht odder magt.“; S. 308,17–20: „Ja, weyl man auß der weyß kommen ist, solch befelh und beruff tzu achten, ßo geht man hynn und bettet roßenkrentz und thutt dergleychen, die
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formator dabei eine dem monastisch-asketischen Ideal gerade entgegengesetzte Berufung zur Ehe.23 Immer aber wirkte der Ernst des monastischen Berufungsideals in Luthers Berufsgedanken fort und blieb dadurch auch in der Geschichte des Protestantismus lebendig. Im Folgenden werde ich von der Bedeutung monastischer und ordensspezifischer Traditionen in ihrer ganzen Breite absehen und mich auf einige Elemente der monastischen Theologie des Mittelalters beschränken. Den Begriff der monastischen Theologie („Théologie monastique“) verdanken wir dem französischen Benediktiner Jean Leclercq.24 Mit Leclercq verstehe ich darunter nicht, wie in der neueren Literatur gelegentlich zu lesen ist,25 eine Theologie des klösterlichen Lebens oder Ordenslebens (also eine „Théologie de la vie monastique“), wie sie etwa in spätmittelalterlichen Traktaten De vita monastica, in Kommentaren zur Benediktsregel, in Abhandlungen über den klösterlichen Fleischgenuß und in ähnlichen praxisbezogenen Texten entwickelt wird. Monastische Theologie ist vielmehr eine solche, die zwar als Theologie von Mönchen für Mönche ursprünglich ihren Sitz im Leben im Kloster hat und zunächst auch im monastischen Leben das eigentlich christliche Leben sieht, die aber bei ihrer Reflexion auf die monastische Existenz zu grundsätzlichen Einsichten in das religiöse Leben und Erleben des Christen im Allgemeinen vorstößt. Es ist nicht so sehr eine für das Wirken nach außen bestimmte (etwa didaktische, polemische oder apologetische) oder eine auf die monastische Lebenspraxis bezogene, sondern eine primär nach innen gewandte, existentielle Reflexion. Die frühe Vollendung dieses selbständigen Typus mittelalterlicher Theologie, der sich gleichzeitig mit der frühscholastischen Theologie des 12. Jahrhunderts und in einem gewissen Gegensatz zu ihr ausnichts tzu dem beruff dienen, unnd denckt niemandt, das er seynes stands warnhem.“; S. 309,14f.: „Sihe, wie nu niemand on befelh und beruff ist, ßo ist auch niemand on werck, ßo er recht thun will.“ 23 Z.B. in der späten Genesisvorlesung 1535–45; WA 42, S. 263,19–21: „[Noah] Paret tamen Deo vocanti ad coniugium, quanquam posset sine uxore coelebs et castus vivere“; S. 281,11f.: „[Noah] paret Deo vocanti ad coniugium et credit Deo futurum, ut, etiam si totus mundus pereat, tamen ipse servetur cum suis liberis“. 24 ULRICH KÖPF: Monastische und scholastische Theologie, in: Bernhard von Clairvaux und der Beginn der Moderne, hg. von Dieter R. Bauer / Gotthard Fuchs, Innsbruck / Wien 1996, S. 96–135; ders., Monastische Theologie im 15. Jahrhundert, Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 11 (1992), S. 117–135; ders., Art. Monastische Theologie, in: LThK3 7, 1998, Sp. 389–390; ders., Art. Monastische Theologie, in: RGG4 5, 2002, Sp. 1409–1410. 25 Vgl. etwa BERNDT HAMM: Theologie und Frömmigkeit im ausgehenden Mittelalter, in: Geschichte der Evangelischen Kirche in Bayern, hg. von Gerhard Müller / Horst Weigelt / Wolfgang Zorn, Bd. II, St. Ottilien 2002, S. 159–211, hier S. 169: „Sie ist eine ordensorientierte Theologie für Mönche und Nonnen, die auf die besonderen Bedingungen der klösterlichen Existenz, auf ihre spezifischen Probleme und Chancen eingeht und damit Vorstellungen der geistlichen Intensivierung, observanten Regularisierung und krisenresistenten Sicherung des Ordenslebens verbindet.“
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gebildet hat, stellt das Werk Bernhards von Clairvaux dar.26 Nachdem die von Bernhard geprägte genuin monastische Theologie im 13. und noch stärker im 14. Jahrhundert neben der Scholastik der Universitätstheologen zurückgetreten war, mit wichtigen Elementen freilich auch Spuren in der scholastischen Theologie (besonders bei Bonaventura) hinterlassen hatte, lebte sie im ausgehenden Mittelalter an verschiedenen Stellen wieder auf. Bernhard von Clairvaux gehörte mit seinen echten und mit den vielen ihm zugeschriebenen Werken zu den im Spätmittelalter am häufigsten zitierten mittelalterlichen Autoren.27 Dass sich diese monastische Theologie von ihrem ursprünglichen Sitz im monastischen Leben ablösen ließ und seit dem 12. Jahrhundert teilweise schon von ihm abgelöst hatte, war die sachliche Voraussetzung dafür, dass Luther und andere Reformatoren wichtige Elemente aus ihr in ihre eigene Theologie übernehmen konnten und sie auch dann beibehielten, als im Einflussbereich des Protestantismus das klösterliche Leben weitgehend zum Erliegen gekommen war.
2. Zur Bernhard-Rezeption der Reformatoren Aus der Reformationszeit ist vor allem die Rezeption Bernhards durch Martin Luther, Andreas Bodenstein von Karlstadt und Johannes Calvin gründlich untersucht worden. Allerdings ließ sich bisher nur für einen dieser drei Reformatoren die benutzte Bernhard-Ausgabe mit Sicherheit nachweisen. Bei einer Analyse der Randbemerkungen, die Luthers Wittenberger Kollege Karlstadt in seine Ausgabe von Predigten Johannes Taulers eingetragen hat, ist Hans-Peter Hasse auf zahlreiche Bernhard-Zitate gestoßen.28 Die Verweise auf Bernhard sind an einigen Stellen so genau bezeichnet, dass sich daraus Karlstadts Vorlage ermitteln ließ: eine Pariser Ausgabe Bernhards von 1513.29 Die Zahl der von Karlstadt im Wesentlichen von 1517 bis 1519 in sein Exemplar eingetragenen Zitate ist rezeptionsgeschichtlich höchst aufschlußreich: 26
ULRICH KÖPF: Bernhard von Clairvaux. Monastische Theologie, in: Theologen des Mittelalters, hg. von Ulrich Köpf, Darmstadt 2002, S. 79–95. 27 ULRICH KÖPF: Die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Bernhards von Clairvaux. Forschungsstand und Forschungsaufgaben, in: Bernhard von Clairvaux. Rezeption und Wirkung im Mittelalter und in der Neuzeit, hg. von Kaspar Elm, Wiesbaden 1994 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 6), S. 5–65. 28 HANS-PETER HASSE: Karlstadt und Tauler. Untersuchungen zur Kreuzestheologie, Gütersloh 1993 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 58), S. 76–84. 29 Ebd. S. 77 Anm. 8. Es handelt sich um folgende Ausgabe: Melliflui deuotique doctoris Sancti Bernardi abbatis Clareuallensis Cisterciensis ordinis. Opus preclarum suos complectens sermones de tempore: de sanctis et super cantica canticorum, Paris: Jehan Petit, 1513 (LEOPOLD JANAUSCHEK, Bibliographia Bernardina, Wien 1891 [Xenia Bernardina 4], S. 98f. Nr. 379).
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nach Augustinus mit 118 Verweisen werden dreiundvierzigmal Bernhard, zweiundzwanzigmal Ambrosius und fünfmal Gregor der Große genannt.30 Ähnlich ist die Häufigkeitsfolge der von Luther in seinen Schriften zitierten Autoren, über die man sich aus dem Register zur Weimarer Lutherausgabe einen ersten Eindruck verschaffen kann31. Bei weitem am häufigsten zitiert Luther die Kirchenlehrer Augustinus und Hieronymus (letzteren vor allem als Übersetzer und Ausleger der Bibel). Darauf folgt – mit weitem Abstand, aber an erster Stelle unter den mittelalterlichen Autoren – Bernhard von Clairvaux. Leider ist bisher noch keine Bernhard-Ausgabe mit Randbemerkungen Luthers gefunden worden, an der seine Bernhard-Lektüre so augenfällig aufgewiesen werden könnte, wie das heute für Augustinus und Hieronymus, Anselm von Canterbury und Petrus Lombardus, Bonaventura und Wilhelm von Ockham, Johannes Tauler und andere Autoren möglich ist32. Dass die von Luther benutzte Ausgabe noch nicht gefunden wurde, gibt allerdings keinen Anlass, an seiner Bernhard-Lektüre zu zweifeln; denn auch von anderen Werken, die der Reformator mit Sicherheit gründlich gelesen hat, lassen sich die von ihm benutzten Ausgaben nicht mehr vorweisen.33 Andererseits sind aus dem Erfurter Augustinereremitenkloster, in dem Luther seine ersten Jahre als Mönch verbrachte, mehrere Bände mit Schriften Bernhards erhalten,34 und
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Ebd. S. 76. Personen- und Zitatenregister zur Abteilung Schriften Band 1–60; WA 63, 1987. 32 Die bis 1893 bekannten Randbemerkungen Luthers, sämtlich aus Beständen der Zwikkauer Ratsschulbibliothek, sind in WA 9, S. 1–115, abgedruckt. Eine wesentlich vermehrte Ausgabe aller bekannten Randbemerkungen aus der Erfurter Zeit bereitet Jun Matsuura für das Archiv zur Weimarer Ausgabe (AWA) vor. Vgl. vorerst JUN MATSUURA: Restbestände aus der Bibliothek des Erfurter Augustinerklosters zu Luthers Zeit und bisher unbekannte eigenhändige Notizen Luthers. Ein Bericht, in: Lutheriana. Zum 500. Geburtstag Martin Luthers von den Mitarbeitern der Weimarer Ausgabe, hg. von Gerhard Hammer / Karl-Heinz zur Mühlen, Köln / Wien 1984 (AWA 5), S. 315–332; ders., Luthers Notizen zu Occam (um 1510/11). Eine vorläufige Edition, Jahrbuch der Japanischen Gesellschaft für Lutherforschung 1 (1994/95), S. 86–144; ders., Zu Luthers Anfängen in Erfurt. Neue Quellen und Erkenntnisse, in: Sprache, Literatur und Kommunikation im kulturellen Wandel. Festschrift für Eijiro Iwasaki anläßlich seines 75. Geburtstags hg. von Tozo Hayakawa u.a., Tokyo 1997, S. 337–390. Zum institutionellen Rahmen vgl. jetzt auch KATHRIN PAASCH: Die Bibliothek der Augustiner-Eremiten in Erfurt, Augustiniana 48 (1998), S. 345–393. Eine durch Martin Brecht und Christian Peters besorgte Edition der umfangreichen Randbemerkungen Luthers zu Hieronymus ist vor einigen Jahren erschienen: Annotierungen zu den Werken des Hieronymus, Köln / Weimar / Wien 2000 (AWA 8). 33 So z.B. von Augustins antipelagianischer Schrift De spiritu et littera, die in der Ausbildung der reformatorischen Theologie Luthers eine wichtige Rolle spielte (vgl. WA 54, S. 186,15ff.). 34 Sermones de tempore et de sanctis et de diversis, Sermones super cantica canticorum und De consideratione. Vgl. JUN MATSUURA: Restbestände (wie Anm. 32), hier: S. 318. 324. 31
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auch in Wittenberg waren mit Sicherheit Bernhard-Ausgaben vorhanden.35 Vor allem aber sind – weit über die lückenhaften Nachweise in der Weimarer Ausgabe und das darauf beruhende Personenregister hinaus – in den letzten Jahrzehnten bei Luther weit über 500 Zitate aus Bernhard ermittelt worden.36 Luther hat sich auch Hinweise auf Bernhard in Werken anderer Autoren notiert.37 Gewiss kann er manches Wort Bernhards anderen mittelalterlichen Autoren wie Bonaventura und Johannes Gerson oder Anthologien (Flores Bernardi) entnommen haben. Angesichts der vielen und teilweise umfangreichen nachgewiesenen Bernhardzitate halte ich es jedoch für unbezweifelbar, dass Luther Bernhard nicht nur aus zweiter Hand oder gar – wie Bernhard Lohse meint38 – aus der klösterlichen Tischlesung kannte, sondern dass er mehrere Schriften (mit Sicherheit zumindest De consideratione39), die ganze Reihe der Sermones super Cantica Canticorum und viele andere Predigten durchgearbeitet hat. Das wohl umfangreichste Bernhard-Zitat Luthers findet sich in seiner Römerbriefvorlesung von 1515/16; es stammt aus Bernhards erster Predigt zu Mariae Verkündigung und bezieht sich auf das Zeugnis des Heiligen Geistes. Luther gibt den Fundort genau an, schreibt den Text fast wörtlich ab und ergänzt ihn durch vier Zwischenbemerkungen.40 Neben den 326; FRANZ POSSET: Saint Bernard of Clairvaux in the Devotion, Theology, and Art of the Sixteenth Century, Lutheran Quarterly 11 (1997), S. 308–352, hier S. 311. 35 Ein Katalog der Wittenberger Universitätsbibliothek von 1536 weist eine Werkausgabe (Opera) von 1515 und ein Florilegium (Floretus) von 1510 auf; vgl. SACHIKO KUSUKAWA: A Wittenberg Library Catalogue of 1536, Cambridge 1995 (Libri Pertinentes 3), S. 30f. (Nr. 191, 199). 36 Auf diesem Gebiet haben sich besonders zwei katholische Lutherforscher verdient gemacht: THEO BELL: Divus Bernhardus. Bernhard von Clairvaux in Martin Luthers Schriften, Mainz 1993 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte 148), dazu ULRICH KÖPF: Bernhard von Clairvaux im Werk Martin Luthers. Bemerkungen zur neueren Forschung, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 18 (1999), S. 225–233; und FRANZ POSSET: Pater Bernhardus. Martin Luther and Bernard of Clairvaux, Kalamazoo, Mich. / Spencer, Mass. 1999 (Cistercian Studies Series 168). Beide Autoren haben auch zahlreiche wichtige Detailstudien zum Thema vorgelegt. 37 Vgl. etwa die beiden Einträge auf der Innenseite des vorderen Einbanddeckels der von ihm benutzten Ausgabe von Anselms von Canterbury Opuscula (WA 9, S. 107,20–33). 38 BERNHARD LOHSE: Luther und Bernhard von Clairvaux, in: Bernhard von Clairvaux, hg. von Kaspar Elm (wie Anm. 27), S. 271–301, hier S. 284. 39 Dazu neuerdings THEO BELL: ‚De consideratione‘ van Bernard van Clairvaux in de optiek van Martin Luther, Cîteaux 49 (1998), S. 235–257. 40 Scholion zu Röm 8,16; WA 56, S. 369,26–370,23. Hier schreibt Luther: „Quod testimonium istud sit ipsa fiducia cordis in Deum, preclarissime ostendit B. Bernardus, plenus eodem spiritu, sermone de annunciatione 1. dicens: [...].“ Im Folgenden zitiert er aus Kapitel 1 und 3 der Predigt Bernhards In annuntiatione dominica 1 (Bernhard von Clairvaux: Sämtliche Werke lateinisch / deutsch, hg. von Gerhard B. Winkler, 10 Bände, Innsbruck 1990–1999 [im Folgenden abgekürzt: SW], Bd. 8, S. 96,9–13; 98,19–100,5). Vgl. die Analyse und Interpretation des Zitats bei Bell, Divus Bernhardus (wie Anm. 36), S. 91–99.
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ausdrücklichen Zitaten gibt es zahlreiche, zum Teil sehr gewichtige Bezugnahmen auf Bernhard, die nicht als solche gekennzeichnet sind, deshalb auch nicht in der Weimarer Ausgabe vermerkt sind und nur dem auffallen, der das Werk des Zisterziensers kennt.41 Im Übrigen hat der Reformator den Abt von Clairvaux unter allen mittelalterlichen Theologen offenkundig am höchsten geschätzt. Schon in seiner ersten Psalmenvorlesung nennt er ihn als Autorität auf dem Gebiet der Schriftauslegung,42 und noch in seiner letzten Vorlesung, der großen GenesisVorlesung, bekennt er, er ziehe Bernhard allen anderen Vertretern des Mönchtums vor.43 Er hält ihn für den frömmsten aller Mönche und allein für wert, „Pater Bernhardus“ genannt zu werden.44 Offenbar hat Bernhard den Reformator von seinen theologischen Anfängen bis in seine Spätzeit begleitet und, wie sich zeigen wird, in wichtigen Gedanken beeinflusst. Es führt in die Irre, mit Lohse davon auszugehen, er sei Luther „vermutlich wohl ausschließlich als geistlicher Lehrer begegnet“.45 Diese Annahme bedeutet einen Rückfall in das ältere Bernhard-Bild, das in dem Abt von Clairvaux nur einen – wenn auch hervorragenden und einflussreichen – Erbauungsschriftsteller sieht. Richtig ist es dagegen, mit Reinhard Schwarz das Erbe des monastischen Theologen Bernhard bei Luther aufzusuchen.46 41
Auch Bells Ergänzungen und Korrekturen zum Personen- und Zitatenregister WA 63 sind keineswegs vollständig. 42 WA 55 I, S. 301: „Vnde ex isto versu discimus, Quod, licet potentiam et sapientiam Dei possimus videre sine gustu bonitatis, tamen bonitatem eius recte videre et credere nullus potest, nisi qui prius eam aliquo modo expertus sit et gustauerit. Si quis animam Bernhardi haberet, hic versum istum bene caperet.“ 43 WA 42, S. 453,40–454,1: „Fateor sane non defuisse sua dona Francisco, Dominico, Bernhardo et aliis, qui primi instituisse collegia monachorum dicuntur: ac antefero omnibus Bernhardum: habuit enim religionis optimam cognitionem: sicut ostendunt eius scripta […].“ 44 33. Predigt über Joh. 3 vom 14. September 1538; WA 47, S. 109,19–23: „wen Munche haben sollen selig werden, so haben sie mussen wider zum Creutze Christi kriechenn. Also hat auch S. Bernhard gethan, welchen ich fur den aller fromsten Munch halte und allen andern Munchen, auch S. Dominico, furziehen, und er ist auch allein werd, das man ihnen Pater Bernhardus nenne und den man mit vleiss ansehe.“ 45 LOHSE, Luther und Bernhard von Clairvaux (wie Anm. 38), S. 284. 46 REINHARD SCHWARZ: Luthers unveräußerte Erbschaft an der monastischen Theologie, in: Kloster Amelungsborn (wie Anm. 15), S. 209–231. Vgl. hier bes. S. 210: „Ich möchte dreierlei behaupten: 1. Luther ist mit Traditionen der monastischen Theologie bekannt geworden. – 2. Luther empfing im Entstehungsprozeß seiner Theologie starke Impulse daraus, daß er im Duktus der monastischen Theologie und doch sehr selbständig die Erfahrungen des geistlichen Lebens durchdachte; er tat das auf dem Wege der Schriftauslegung, und gerade das entsprach der Denkart der monastischen Theologie. – 3. Luther hat noch in seiner reformatorischen Theologie ein Erbe der monastischen Theologie bewahrt; allerdings ist dieses Erbe so angeeignet, daß es umgeschmolzen ist zu etwas Neuem. Es muß aufgespürt werden hinter der heftigen Kritik, die Luther im Namen des Evangeliums am mönchischen Leben übt.“
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Schließlich ist aus dem reformierten Bereich die Bernhard-Rezeption Johannes Calvins näher untersucht worden. Vor allem der englische Theologe Anthony N. S. Lane hat sich seit mehr als zwanzig Jahren mit diesem Thema befasst und ihm verschiedene Aufsätze gewidmet, in denen er etwa hundert Zitate nachweist.47 Die von Calvin benutzte Bernhard-Ausgabe ist bisher ebenfalls nicht bekannt. In seinen sorgfältigen Analysen der Texte kam Lane aber zunehmend zu dem Ergebnis, der Genfer Reformator habe mit wenigen Ausnahmen aus einer Gesamtausgabe der Werke Bernhards geschöpft.48
3. Elemente reformatorischen Denkens In einem dritten und letzten Schritt werde ich mich auf einige wichtige Inhalte konzentrieren, mit denen die monastische Theologie vor allem im Denken Luthers fortwirkt.49 3.1. Das Interesse am religiösen Subjekt Die entschiedene und aufmerksame Hinwendung zum religiösen Subjekt ist ein gemeinsamer Grundzug monastischer und reformatorischer Theologie. Sie begegnet im 12. Jahrhundert übrigens gleichzeitig bei Bernhard und bei seinem großen Gegenspieler Petrus Abaelard, der zwar als bedeutender philosophischer und theologischer Lehrer an verschiedenen Schulen einer der Begründer der Scholastik war, als Mönch aber zugleich auch an monastischen
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Gesammelt in ANTHONY N. S. LANE: Calvin and Bernard of Clairvaux, Princeton 1996 (Studies in Reformed Theology and History, NS 1), und ders., John Calvin. Student of the Church Fathers, Edinburgh 1999, bes. S. 87–150. Vgl. daneben auch die stärker inhaltlich ausgerichtete Studie von DENNIS E. TAMBURELLO: Union with Christ. John Calvin and the Mysticism of St. Bernard, Louisville, Kentucky, 1994. 48 Vgl. LANE in der Vorbemerkung zum Wiederabdruck des Aufsatzes „Calvin’s Sources of Bernard of Clairvaux“ von 1976 in seiner Aufsatzsammlung „John Calvin. Student of the Church Fathers“ von 1999, S. 115. 49 Ich nehme dabei eigene ältere Arbeiten auf: ULRICH KÖPF: Monastische Traditionen bei Martin Luther, in: Luther – zwischen den Zeiten. Eine Jenaer Ringvorlesung, hg. von Christoph Markschies / Michael Trowitzsch, Tübingen 1999, S. 17–35; ders., Zwei große monastische Theologen: Bernhard von Clairvaux und Martin Luther, in: Religionsunterricht an höheren Schulen 42 (1999) S. 355–361; ders., Wirkungen der zisterziensischen Spiritualität und Theologie im Protestantismus, in: Unter Beobachtung der heiligen Regel. Zisterziensische Spiritualität und Kultur im baden-württembergischen Franken, hg. von Dieter R. Bauer, Stuttgart 2002 (Forschungen aus Württembergisch Franken 48), S. 59–71; ders., Mönchtum, in: Luther-Handbuch, hg. von Albrecht Beutel, Tübingen 2005, S. 50–57; besonders aber: ders., Zisterziensererbe im Protestantismus, in: Cistercienser Chronik 114 (2007), S. 311– 327.
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Traditionen und monastischen Problemen teilhatte.50 Abaelards großes Interesse am Subjekt zeigt sich besonders deutlich in seiner Ethik, in der er von der Beachtung der Handlungen und ihrer Wirkungen im äußeren Werk zur Würdigung der Absicht (des „propositum intentionis“) und der inneren Beweggründe wegführt: Gott beurteilt nicht das Ergebnis des Handelns, sondern die Gesinnung des Handelnden.51 Bernhards Interesse am Subjekt ist dem Abaelards ganz nahe verwandt. Es richtet sich aber noch über die Motivation menschlichen Handelns hinaus auf die gesamte Situation des Menschen vor Gott. In der Aufnahme und vertiefenden Fortführung einer vorchristlich-antiken und altkirchlichen Argumentationsstruktur verbindet er die Selbsterkenntnis (das „Erkenne dich selbst“ des Delphischen Orakels und des Philosophen Sokrates) unlöslich mit der Gotteserkenntnis.52 Am eingehendsten erklärt und begründet er den Zusammenhang beider Erkenntnisbewegungen in den miteinander zusammenhängenden Hoheliedpredigten 34–38: „Die Seele soll zu allererst sich selbst erkennen; denn das fordert sowohl die Nützlichkeit als auch die Ordnung. [...] Solange ich auf mich schaue, verweilt mein Auge in Bitterkeit. Wenn ich aber aufblicke und meine Augen zu der Hilfe erhebe, die vom göttlichen Erbarmen herkommt, mildert der erfreuliche Anblick Gottes sogleich die Bitterkeit des Blickes auf mich selbst.“53
Aus der Selbsterkenntnis gehen Gottesfurcht und Demut als Voraussetzungen des Heils hervor. Gott gibt sich auf heilbringende Weise zu erkennen, wenn sich der Mensch zuerst in seiner Zwangslage erfährt und darauf zu seinem
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Vgl. JEAN LECLERCQ: ‚Ad ipsam sophiam Christum‘. Le témoignage monastique d’Abélard, in: Revue d’ascétique et de mystique 46 (1970), S. 161–181; THOMAS J. RENNA: Abelard versus Bernard: An event in monastic history, in: Cîteaux 27 (1976), S. 189–202; REINHOLD RIEGER: Petrus Abaelard. Theologie im Widerstreit, in: Theologen des Mittelalters, hg. von Ulrich Köpf, Darmstadt 2002, S. 61–78. 51 Vgl. Peter Abaelard’s Ethics, ed. D. E. LUSCOMBE, Oxford 1971, z.B. S. 40,9–11: „Deus uero solus qui non tam quae fiunt, quam quo animo fiant adtendit, ueraciter in intentione nostra reatum pensat et uero iudicio culpam examinat.“; S. 44,26–30: „Solum quippe animum in remuneratione boni uel mali, non effecta operum, Deus adtendit, ne quid de culpa uel de bona uoluntate nostra proueniat pensat, sed ipsum animum in proposito suae intentionis, non in effectu exterioris operis, diiudicat.“ 52 PIERRE COURCELLE: „Connais-toi toi-même“ de Socrate à Saint Bernard, Paris 1974/75. 53 Super Cantica Canticorum 36,5f.; SW 5, S. 568,1f. 24–26: „Volo proinde animam primo omnium scire seipsam, quod id postulet ratio et utilitatis et ordinis. […] Ego quamdiu in me respicio, in amaritudine moratur oculus meus. Si autem suspexero et levavero oculos ad divinae miserationis auxilium, temperabit mox amaram visionem mei laeta visio Dei.“
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Herrn um Hilfe ruft. So wird die Selbsterkenntnis der entscheidende Schritt zur Gotteserkenntnis.54 Diese Beziehung von Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis spielt auch im Denken der großen Reformatoren eine zentrale Rolle.55 So betont Luther schon in seiner ersten Psalmenvorlesung zu Ps. 17(18),11 (wohl noch 1513), niemand gelange zur Gotteserkenntnis, der nicht zuvor gedemütigt worden und zur Selbsterkenntnis hinabgestiegen sei.56 In der zweiten Psalmenvorlesung (1519–1521) beruft er sich für diese Einsicht sogar ausdrücklich auf Bernhard.57 Aber es kann nicht bezweifelt werden, dass bereits seine Aussage in der ersten Psalmenvorlesung die Lektüre von Bernhards Hoheliedpredigten voraussetzt. Auch in seinem Verständnis der Demütigung greift er offenbar eine Formulierung Bernhards auf. Dieser hatte in seiner Schrift De gradibus humilitatis et superbiae, einer eindringlichen Interpretation des 7. Kapitels der Benediktsregel, die Demut als jene Tugend definiert, durch die der Mensch in wahrhaftigster Selbsterkenntnis sich selbst wertlos wird.58 Luther beschreibt das Urteil, das der Mensch in einem inneren Akt über sich selbst fällt und das die Voraussetzung der Rechtfertigung aus Glauben bildet,59 als „vilificatio“, d.h. als eine solche Demütigung, in der sich der Mensch selbst seiner Wertlosigkeit bewusst wird.60 Mit den Begriffen der theologischen Wissenschaftstheorie formuliert Luther schließlich in der Auslegung von Psalm 51 (1532) seine berühmte Aussage über den Gegenstand der Theologie (das „subiectum theologiae“): Die Theologie umgreife Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis
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Zum Zusammenhang vgl. ULRICH KÖPF: Einleitung [zu Bernhards Sermones super Cantica canticorum], in SW 5, S. 27–47, hier S. 39f. 55 Vgl. GERHARD EBELING: Cognitio Dei et hominis, in: ders., Lutherstudien I, Tübingen 1971, S. 221–272. 56 Scholion WA 55 II, S. 137,8–1: „Quia ‚nemo ascendit in cęlum, nisi qui descendit‘, i.e. nemo peruenit ad diuinitatis cognitionem, nisi qui prius humiliatus fuerit et in sui cognitionem descenderit, simul enim ibi et Dei cognitionem inuenit.“ 57 Operationes in Psalmos 1519-1521 zu Ps. 18,13; WA 5, S. 508,21–26: „Hoc est revelatio et cognitio Dei, qua cognoscitur eius misericordia, tam dulcis est, ut prior tumultus verbi legalis amplius non contristet. Sicut enim (ut Bernhardus ait) Cognitio sui sine cognitione dei desperationem, ita cognitio dei sine cognitione sui praesumptionem operatur, si modo cognitio dei dicenda est, quae sine sui cognitione est, cum speculativa tantum sit necessario.“ 58 De gradibus humilitatis et superbiae I,2; SW 2, S. 46,21f.: „Humilitatis vero talis potest esse definitio: humilitas est virtus, qua homo verissima sui cognitione sibi ipse vilescit.“ 59 WA 55 II, S. 321,313–315: „Quia nemo per fidem Iustificatur nisi prius per humilitatem sese iniustum confiteatur. Hec autem est humilitas.“ 60 WA 55 II, S. 205,7–9: „Igitur Iudicium Est nihil aliud nisi vilificatio sui seu humiliatio ex corde et agnitio sui, quia sit vere peccator et indignus omnium.“ Ähnlich ebd. S. 435,56– 60: „Et in hanc notam Scriptura vtitur isto vocabulo >Iudicium