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German Pages [309] Year 2021
Geist und 4 Geisteswissenschaft Jörg Noller Georg Sans (Hg.)
Luther und Erasmus über Freiheit Rezeption und Relevanz eines gelehrten Streits
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495823668
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Jörg Noller / Georg Sans (Hg.) Luther und Erasmus über Freiheit
VERLAG KARL ALBER
A
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Geist und 4 Geisteswissenschaft Herausgegeben von Hans Joas (Berlin) Martin Mulsow (Erfurt) Jörg Noller (München) Birgit Recki (Hamburg) Thomas Zwenger (München) Wissenschaftlicher Beirat: Karl Ameriks (Notre Dame), Myriam Bienenstock (Tours), Thomas Buchheim (München), Christoph Demmerling (Jena), Faustino Fabbianelli (Parma), Markus Gabriel (Bonn), Anton Friedrich Koch (Heidelberg), Isabelle Mandrella (München), Michael Quante (Münster), Pirmin Stekeler-Weithofer (Leipzig), Violetta L. Waibel (Wien), Paul Ziche (Utrecht), Günter Zöller (München)
Band 4 Die Reihe bietet ein offenes Forum für Monographien, Tagungsbände und Editionen von Texten, welche Fragen nach den spezifischen Gegenständen, Bedingungen und Möglichkeiten der Geisteswissenschaften zum Thema haben. Im Zentrum steht der Begriff des Geistes, der kritisch auf sein hermeneutisches und systematisches Potential hin befragt werden soll. Die Reihe will insofern zur Selbstbestimmung und Selbstbesinnung der Geisteswissenschaften beitragen. Dabei wird bewusst eine Verbindung von philosophischen Themen mit angrenzenden Bereichen wie Ideen-, Begriffsgeschichte sowie Soziologie, Kulturwissenschaft und Theologie angestrebt.
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Jörg Noller / Georg Sans (Hg.)
Luther und Erasmus über Freiheit Rezeption und Relevanz eines gelehrten Streits
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495823668 .
Jörg Noller / Georg Sans (Eds.) Luther and Erasmus on Freedom Reception and Relevance of a Scholarly Dispute From a theological-philosophical perspective, the contributions in this anthology are devoted to the historical reception and systematic relevance of the controversy over freedom between Martin Luther and Erasmus of Rotterdam. At the systematic centre lies their respective freedom-theoretical understanding of man, his epistemic and voluntative faculties and his metaphysical place within creation, especially his relationship to God. From a historical perspective, the reception of Luther’s concept of freedom by Leibniz, Kant, Hegel, Schelling and in analytical philosophy will be examined.
The Editors: Jörg Noller studied at the Universities of Tübingen and Munich. From 2011–2012 he was a visiting researcher at the Universities of Notre Dame and Chicago. He did his doctorate on the autonomy problem proceeding from Kant and is currently working on his habilitation on »personal life forms«. Georg Sans studied philosophy and Catholic theology in Frankfurt Sankt Georgen and Rome. In 2006 he was appointed Professor of the History of 19th- and 20th-Century Philosophy at the Pontifical University of Gregoriana. Since 2014 he has held the Eugen Biser Chair for Philosophy of Religion and Subjectivity at the Munich School of Philosophy.
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Jörg Noller / Georg Sans (Hg.) Luther und Erasmus über Freiheit Rezeption und Relevanz eines gelehrten Streits Die Beiträge des Sammelbandes widmen sich aus theologisch-philosophischer Perspektive der historischen Rezeption und der systematischen Relevanz des Freiheitsstreits zwischen Martin Luther und Erasmus von Rotterdam. Im systematischen Zentrum steht das jeweilige freiheitstheoretische Verständnis des Menschen, seiner epistemischen und voluntativen Vermögen und seines metaphysischen Ortes innerhalb der Schöpfung, besonders sein Verhältnis zu Gott. Aus historischer Perspektive wird die Rezeption von Luthers Freiheitsbegriff durch Leibniz, Kant, Hegel, Schelling und in der analytischen Philosophie untersucht.
Die Herausgeber: Jörg Noller studierte an den Universitäten Tübingen und München. Von 2011–2012 war er Gastforscher an den Universitäten Notre Dame und Chicago. Er promovierte über das Autonomieproblem im Ausgang von Kant und arbeitet zurzeit an seiner Habilitation zum Thema »personale Lebensformen«. Georg Sans SJ studierte Philosophie und katholische Theologie in Frankfurt Sankt Georgen und Rom. 2006 wurde er zum Professor für Geschichte der Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts an der Päpstlichen Universität Gregoriana berufen. Seit 2014 hat er den Eugen-Biser-Stiftungslehrstuhl für Religions- und Subjektphilosophie an der Hochschule für Philosophie München inne.
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg/München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49025-9 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82366-8
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Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg Noller / Georg Sans SJ
I.
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Luther und Erasmus
Freiheit in der Reformation: Erasmus und Luther im paradigmatischen Streit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Volker Gerhardt
13
Contra liberum arbitrium pro libertate Christiana. Zu Luthers Kontroverse mit Erasmus . . . . . . . . . . . . . Gunther Wenz
37
Extreme Theologie. Luthers Angriff auf die Willenstheorie und den Gottesgedanken des Erasmus . . . . . . . . . . . . . . . Christine Axt-Piscalar
46
Einige Unterschiede zwischen Erasmus und Luther . . . . . . . Matthias Flothow
75
Domina Ratio. Luther und Erasmus über Philosophie und Vernunft Jörg Noller
112
II. Luther und die Folgen Luthers Werk und Leibniz’ Beitrag . . . . . . . . . . . . . . . Friedrich Hermanni
133
7 https://doi.org/10.5771/9783495823668 .
Inhalt
Kant, Erasmus und Luther über Freiheit und Glauben. Eine kritische Verhältnisbestimmung . . . . . . . . . . . . . . Birgit Recki
150
Freiheit und Verantwortung. Schellings Rezeption von Luthers De servo arbitrio in der Freiheitsschrift . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Frisch
182
Willkür und Wille bei Luther und Hegel . . . . . . . . . . . . Georg Sans SJ
195
›Reformation‹ aus jüdischer Sicht – Der Fall Hermann Cohens . Amit Kravitz
215
Luthers späte Auswirkungen: Der analytische Molinismus. Ein Anlass zur Reflexion über Fähigkeiten und Grenzen der analytischen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ruben Schneider Luther und die analytisch-philosophische Freiheitsdebatte Frank Dettinger
234
. . . 268
Christliche Freiheit und Wahlfreiheit . . . . . . . . . . . . . . Wolfhart Pannenberg
292
Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . .
305
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Einleitung Jörg Noller / Georg Sans SJ
Der vorliegende Sammelband, der aus einer gleichnamigen Münchner Tagung hervorgegangen ist, 1 widmet sich aus theologisch-philosophischer Perspektive der Rezeption und systematischen Relevanz des Freiheitsstreits zwischen Martin Luther und Erasmus von Rotterdam. Im Zentrum steht das jeweilige freiheitstheoretische Verständnis des Menschen, seiner epistemischen und voluntativen Vermögen und seines metaphysischen Ortes innerhalb der Schöpfung, besonders sein Verhältnis zu Gott. Der Band zerfällt in zwei Teile. Der erste Teil befasst sich explizit mit dem Streit über die menschliche Freiheit, wie er zwischen Luther und Erasmus ausgetragen wurde. Die Beiträge von Volker Gerhardt und Gunter Wenz perspektivieren die Kontroverse aus unterschiedlichen Richtungen. Während Volker Gerhardt besonders die Einsichten des »Weltbürgers Erasmus« gegenüber Luther hervorhebt, betont Gunter Wenz Luthers Kritik an einer schrankenlosen Willkür, die sich als Grund von Selbst und Welt missversteht. Christine AxtPiscalar fokussiert in ihrem Beitrag auf die existenzielle Dimension des Streits und unterscheidet dabei die »extreme Theologie« Luthers von der »gemäßigten Variante« Erasmus’. Matthias Flothow erörtert die Form der Auseinandersetzung zwischen Luther und Erasmus und reflektiert auf die Struktur ihrer Rhetorik. Der Beitrag von Jörg Noller liest Luther und Erasmus vor dem Hintergrund ihres Verständnisses von Vernunft und bezieht dieses auf ihren jeweiligen Freiheitsbegriff. Der zweite Teil des Bandes widmet sich der philosophischen Rezeption, die in der Folge den Freiheitsstreit zwischen Luther und Erasmus aufgegriffen und weiter vertieft hat. Dabei werden systemaDie Tagung fand am 24. und 25. November 2017 an der Hochschule für Philosophie München statt. Das Tagungsprogramm und weitere Informationen finden sich unter www.luther-erasmus.de.
1
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Jörg Noller / Georg Sans SJ
tische Nähen und Berührungspunkte zur nachlutherischen philosophischen Tradition herausgestellt. Der Beitrag von Friedrich Hermanni versucht zu zeigen, wie man Luthers Lehre vom unfreien Willen aufrecht erhalten kann, ohne die Verantwortung des Menschen und die Gerechtigkeit Gottes aufgeben zu müssen. Birgit Recki untersucht, in welchem Verhältnis Kant zu Luther steht und inwiefern sich in Kants Werk Spuren von Luthers Theologie finden. Thomas Frisch widmet sich Schellings Rezeption von Luthers De servo arbitrio in seinen Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit aus dem Jahr 1809. Georg Sans SJ stellt Luthers Bestimmung der Begriffe der Willkür und des Willens Hegels Theorie des freien Willens gegenüber. Amit Kravitz behandelt Hermann Cohens Interpretation des Verhältnisses von Judentum und Reformation und reflektiert dabei auf das Verhältnis von Ethik und Religion. Der Beitrag von Ruben Schneider befasst sich mit der spätscholastisch-molinistischen Antwort auf Luther und rekurriert dazu auf die Rolle des göttlichen Vorherwissens in der modernen analytischen Religionsphilosophie. Frank Dettinger argumentiert dafür, dass sich die analytisch-philosophische Freiheitsdebatte mit Luther in eine fruchtbare Verbindung bringen lässt, insofern sie um ein kompatibilistisches Freiheitsverständnis kreist. Ein Aufsatz Wolfhart Pannenbergs über das Verhältnis von christlicher Freiheit und Wahlfreiheit beschließt den vorliegenden Band. Die Herausgeber hoffen, dass die Beiträge dazu anregen, philosophische und theologische Fragestellungen nicht isoliert zu betrachten, sondern in ein systematisches Verhältnis zu bringen. Zugleich möchten sie dafür plädieren, historische Gestalten und Klassiker der Theologie und Philosophie immer wieder aufs Neue auf ihre Relevanz und Aktualität hin zu befragen, anstatt sie in ein Museum vergangener Geistesgeschichte zu stellen.
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I. Luther und Erasmus
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Freiheit in der Reformation Erasmus und Luther im paradigmatischen Streit Volker Gerhardt
1.
Jubiläum mit klaffender Lücke
Die Feiern zur Erinnerung an den Beginn der Reformation füllten 2017 die Terminkalender der diensthabenden evangelischen Würdenträger über ein ganzes Jahr. Doch schon im April konnte man von hochrangigen Amtsinhabern hören, eigentlich sei schon alles zum wiederholten Mal gesagt. Das war einen Monat vor dem Reformations-Kirchentag in Berlin, auf den weitere fünf Monate einer sich verdichtenden Reihe von Tagungen, Konferenzen und öffentlichen Debatten folgten, bevor dann Ende Oktober 2017 mit großem Programm der Jahrestag des Thesenanschlags in Wittenberg gefeiert werden konnte. Doch so ausladend und vielfältig das Angebot an Themen, historischen Analysen und kritischen Reflexionen auch war: Ein Thema fehlte, das wie wenig andere direkt mit dem historischen Verlauf der Reformation und ihrer Begründung verbunden ist und zugleich den an Aktualität und Relevanz interessierten Organisatoren von vorrangiger Wichtigkeit hätte sein müssen. Ein Thema überdies, das bis heute das theologische und säkulare Selbstverständnis der Reformation im Innersten betrifft. Dennoch sollte davon nicht die Rede sein – und dies offenbar mit voller Absicht! Zumindest geht das aus der Tatsache hervor, dass den Organisatoren im Vorfeld die ausdrückliche Bitte, das Thema nicht zu vergessen, vorgetragen worden ist. Gemeint ist das Thema der Freiheit. Dass es im offiziellen Programm des Reformationsjahrs vielleicht als zu speziell, zu akademisch oder rein historisch verworfen worden ist, ist wenig wahrscheinlich. Denn es war gerade einmal 10 Jahre her, dass die EKD das 21. Jahrhundert als das »Jahrhundert der Freiheit« ausgerufen hatte. Der Ratsvorsitzende Bischof Huber hatte erst 2007 dem Land mit »Leuchttürmen der Freiheit« eine neue Orientierung geben wollen, und im kirchenoffiziellen »Impulspapier« Kirche der Freiheit war ein 13 https://doi.org/10.5771/9783495823668 .
Volker Gerhardt
»Mentalitätswechsel« gefordert worden, der jeden Menschen erfahren und erleben lassen sollte, »was es heißt, aus der Freiheit des Glaubens zu leben«. 1 Niemand kann annehmen, die mit diesem beachtlichen Vorsatz verbundene Frage sei in den zurückliegenden zehn Jahren abschließend beantwortet worden. Nun könnte man sagen, beim 500-jährigen Jubiläum sollte es primär um den Reformator und sein historisches Wirken und nicht um die public relations einer Kirche gehen, die gesellschaftlich Einfluss nehmen will, und dies umso mehr, als ihr die Mitglieder abhandenkommen. Doch auch wer die vorausgehende kirchengeschichtliche Freiheitsreklame gar nicht mehr in Erinnerung hatte, konnte bereits als Zeitungsleser wissen, dass die Freiheit nicht nur mit der Wiederkehr des Populismus, sondern auch durch die Sensationsmeldungen aus der Hirnphysiologie zu einem Debattenthema geworden war. Also blieb im offiziellen Programm des Reformationsjahres ein blinder Fleck.
2.
Das hirnphysiologische Missverständnis der Freiheit
Was in der Philosophie seit der Antike wiederholt kontrovers diskutiert wird und mit Kant einer, wie es zumindest den Kantianern erscheint, beachtenswerten Lösung zugeführt worden ist, wurde in den letzten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts durch die Experimente des amerikanischen Psychologen Benjamin Libet bereichert, die zu dem Ergebnis geführt hatten, das Gehirn treffe seine »Entscheidung« schon mehrere Millisekunden vor dem Augenblick, in welchem sie dem Probanden bewusst wird. Daraus wurde geschlossen, das Gehirn habe seinen Entschluss gefasst, bevor der Mensch ihn zu seinem Willen erklären kann. Also gebe es die Freiheit des Willens gar nicht, auf die sich der Mensch so viel zugutehält. 2 Trotz des eklatanten Kategorienfehlers, in dem das Gehirn mit dem Selbstbewusstsein eines handelnden Individuums gleichgesetzt wird, war damit die alte Debatte über Kausalität versus Freiheit neu »Impulspapier« der EKD Kirche der Freiheit – vorgestellt im Januar 2007. Eröffnungsvortrag vom damaligen Präses der EKD, Wolfgang Huber, beim »Zukunftskongress« der Evangelischen Kirche in Wittenberg. – Zur Vorgeschichte der Freiheitsdebatte vor dem Reformationsjubiläum siehe ausführlich: Linde (2019). 2 Die Debatte ist dokumentiert in: Geyer (2004). Dort findet sich auch ein Aufsatz von Libet: Libet (2004). 1
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Freiheit in der Reformation
entfacht, und prominente Physiologen wie Wolf Singer boten sich bereits für eine Revision des Strafrechts an. Die sei unausweichlich, 3 weil immer noch von der Annahme einer individuellen Zurechnung von Straftaten zu angeblichen Straftätern ausgegangen werde; doch diese Annahme sei durch die Libet-Experimente des Jahres 1979 definitiv widerlegt. Wie könne man denn einen Menschen für das bestrafen, was sein Gehirn verbrochen hat? Davon ist inzwischen kaum noch die Rede. 4 Wie es scheint, hat es sich nunmehr auch bei Biologen, Physiologen und Psychologen herumgesprochen, dass ein Lebenswissenschaftler, der die Freiheit in Frage stellt, die Eigenständigkeit seines eigenen Forschungsbereichs zur Disposition stellt: Unter Freiheit hat man nämlich auch die spontane Selbstbewegung eines lebendigen Wesens zu verstehen, die man bei der Beschreibung eines jeden Lebensvorgangs unterstellen muss. Denn die Spontaneität, die man in jedem organischen Vorgang als gegeben ansieht, ist die elementare Form dessen, was in der Spontaneität des menschlichen Handels als Freiheit erfahren wird. 5 Wem dieses bereits in den Prozessen des Lebens wirksame Freiheitspotenzial nicht hinreichend human und personalisiert erscheint, der kann sich auch darauf beschränken, die Freiheit im Verhältnis der Menschen zu einander zu suchen. Und dort ist sie, nach einer geläufigen Definition von Jean Bodin, dann zu finden, wenn ein Mensch handelt, ohne dazu durch den Willen eines anderen gezwungen zu sein. 6 An diesem Tatbestand ist schwerlich zu zweifeln, es sei denn, die Menschen würden gezwungen, diesen Zweifel zu äußern. Das könnte verhindern, dass von Freiheit gesprochen wird. Denn Freiheit gibt es solange, wie es auch nur einen Menschen gibt, der sie bei seinen Mitmenschen durch Zwang zu unterdrücken versucht.
So forderte er, gewiss nach seiner eigenen Prämisse, von seinem Gehirn bereits vor der Äußerung dazu genötigt. 4 Obgleich es inzwischen eine Bestätigung der Resultate geben soll: Kühn / Brass (2009). 5 So ist es seit Lukrez überliefert und von Kant sowohl in seinem Begriff des Lebens wie auch in den unmittelbar erscheinenden Leistungen von Verstand und Vernunft begriffen worden. 6 Zu den beiden Konzeptionen der Freiheit siehe Gerhardt (2007). Prägnanter in Gerhardt (2019). 3
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Volker Gerhardt
3.
Thesenanschlag aus freiem Entschluss
In den Augen eines modernen Betrachters hat Martin Luther mit der durch ihn in Gang gesetzten und dann auch, gegen eigene Zweifel, mit äußerster Entschlossenheit ins Werk gesetzten Reformation ein singuläres Beispiel für die Freiheit eines Menschen gegeben. Von niemandem genötigt, aus persönlichen Erfahrungen erwachsen sowie kraft eigener Einsicht hat er seine Thesen gegen den Ablass an die Wittenberger Schlosskirche geschlagen, um Einspruch gegen einen kirchenpolitischen Wildwuchs zu erheben. Mit seiner Kritik stand Luther gewiss nicht allein. Vielen war der von zweithöchster Stelle gebilligte Ablass-Handel mit dem haltlosen Versprechen eines Freikaufs der Seelen ein Ärgernis. Jedem theologisch gebildeten Zeitgenossen dürfte klar gewesen sein, wie fragwürdig das Geschäft mit dem angeblichen Sündenerlass war. Und nicht erst heute ist bekannt, dass sich vielfach Widerstand gegen die hinter dem Handel stehende Finanzpolitik der Kurie regte. In Italien (und davon dürfte Luther spätestens bei seinem Rombesuch in den Jahren 1510/11 erfahren haben) gab es Bemühungen, der Willkür der päpstlichen Herrschaft ein Ende zu setzen. 7 Andererseits war vielen bewusst, dass der Finanzbedarf für den Ausbau der heiligen Stadt die üblichen Haushaltsmittel der Kirche um ein Mehrfaches übertraf – von den Aufwendung zur Sicherung der politischen Macht des Vatikans, ihrer institutionellen Selbstdarstellung und dem persönlichen Luxus ganz zu schweigen. Die politischen Ambitionen und die bis heute in ihrer kulturellen Bedeutung unbestrittenen Leistungen der römischen Kirche haben auf den Augustinermönch im Eremiten-Kloster in Erfurt nicht den geringsten Eindruck gemacht. Er war so frei, sich dafür in seiner mitteldeutschen Kirchenprovinz nicht zu interessieren. Das änderte sich auch 1513 mit seinem Wechsel auf die Professur in Wittenberg nicht. Seine Herkunft aus einem weitgehend ländlichen Milieu, das von Ackerbau und schwerer Bergarbeit im Mansfelder Land geprägt war, setzte andere Prioritäten. Gegen das Verbot seines Vaters hatte er sein Jura-Studium aufgegeben und sich für ein klösterliches Leben in einem der Mitmenschlichkeit besonders verpflichteten Orden entschieden. Aus eigenem Entschluss hatte er seinen Abschied von der weltlichen Laufbahn genommen und ließ auch 7
Vgl. Schilling (2012).
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Freiheit in der Reformation
keine Sympathien für den feudalen Stand der Kirchenfürsten erkennen. Nehmen wir die Inbrunst seiner auf persönliches Erleben gegründeten Frömmigkeit hinzu, war er gewiss für seinen Einspruch gegen die Ablasspraxis disponiert. Seine auch die Ordensbrüder beeindruckende Gelehrsamkeit machte ihn sicher, dass es nicht die geringste theologische Rechtfertigung für den vermeintlichen Freikauf von der Sünde gab. Also hatte er gute Gründe für den Widerstand. Und da er ihn ganz allein, ohne vorherigen Beschluss seiner Bruderschaft, und, soweit wir wissen, ohne tätige Mitwirkung von Helfern öffentlich wirksam machte, durfte er sicher sein, in eigener Verantwortung zu handeln. Der Thesenanschlag war somit Ausdruck einer ganz persönlich in Anspruch genommenen Freiheit. So wurde sie nicht nur von ihm selbst und seinen Anhängern, sondern auch von seinen Kritikern verstanden. Und Luther hat sie in dieser individuellen Zurechnung auch zu keiner Zeit in Zweifel gezogen. Im Gegenteil: Er hat sich Zeit seines Lebens zu ihr bekannt. Es war seine persönliche Entscheidung, die 95 Thesen anzuschlagen. Er handelte im eigenen Namen, folgte keinem Gebot eines Oberen und versuchte auch später zu keiner Zeit, seine Verantwortung für den individuellen Schritt auf andere abzuwälzen. Die Gelegenheit dazu hätte sich vier Jahre später auf dem Wormser Reichstag geboten. Doch ausgerechnet hier in Distanz zu seiner persönlichen Entscheidung zu gehen, wäre ihm und seinen Anhängern gewiss als Schwäche und als Verrat an seinem Glauben erschienen. Sein sprichwörtlich gewordenes: »Hier stehe ich, und kann nicht anders«, zu dem er sich bekannt hat (selbst wenn er es nicht wörtlich gesagt haben sollte), ist zum Fanal seiner persönlichen Standhaftigkeit geworden. Die Freiheit, die Luther auch vor dem Kaiser und den versammelten Reichsfürsten auf sich nahm, wurde zum Kernsatz der Reformation. In ihm gewann das neue Bekenntnis die Form existenzieller Entschlossenheit.
4.
Rückversicherung durch die Macht Gottes
Es liegt uns fern, Luthers Verhalten primär psychologisch verstehen zu wollen. Aber man darf nicht unterschätzen, was es in jener Zeit für einen auf den unteren Sprossen der Hierarchie stehenden Mönch bedeutete, dem Kaiser zu widersprechen. Und in dieser Position, über17 https://doi.org/10.5771/9783495823668 .
Volker Gerhardt
dies als durch den Bann verstoßenes Glied der Kirche, auch den Papst öffentlich herauszufordern, war keine Kleinigkeit. Da lag es nahe, sich durch die Berufung auf eine höhere Macht aufzuwerten. Das kann auch bei Luther nicht ausgeschlossen werden, wenn er sich in seiner Antwort auf die Bannbulle Leos X. darauf beruft, im Namen Gottes zu handeln. Mögen die weltlichen und die kirchlichen Mächte auch noch so hoch gerüstet sein: Luther kann auf seinen durch Gottes Wort gedeckten Auftrag verweisen. Wenn er dies tut, liegt darin seine entscheidende Legitimation. Es ist die »Schrift« (scriptura), also der im Alten wie im Neuen Testament verzeichnete Wille Gottes, der seinen Widerstand gegen die höchste Autorität der kirchlich verfassten Christenheit, der ihn zum Einspruch nötigt – und nicht sein eigener »freier Wille«, der aus vielen Motiven entspringen kann. Um aber diesem Gehorsam gegenüber Gott Nachdruck zu verleihen, wertet er die Instanz seines eigen freien Willens als »billigen Eigenwillen« ab: Ich wollte, so schreibt er 1520, »das Wörtlein ›frei Wille‹ wäre nie erfunden, es steht auch nicht in der Schrift, und hieße billiger Eigenwille, der kein nütze ist«. 8 So schreibt er es in seiner eigenen Übersetzung der in Latein verfassten Assertio, die er im November 1520 nach Rom geschickt hatte. Es ist, so meine ich, offenkundig, dass er mit der Abwertung des eigenen Willens der eigenen Position den Charakter einer historisch versicherten theologischen Notwendigkeit gibt. Gleichwohl dürfte ausgeschlossen sein, dass sich Luther als Person hinter dem exponierten Überlieferungszusammenhang versteckt. Er lässt keine Neigung erkennen, von seiner Verantwortlichkeit ablenken zu wollen. Vielmehr steht er als Person uneingeschränkt zu seinem Einspruch gegen den Papst und gegen die Praxis der Kurie. Und dennoch ist es ihm wichtig, mit provozierender Deutlichkeit den Verdacht von sich zu weisen, sein eigener freier Willen könne den Ausschlag gegeben haben. Der Grund dafür ist nicht in psychologischen oder politischen Erwägungen zu suchen. Angesichts der Wucht und Beharrlichkeit, mit der Luther den »freien Willen« verwirft, kann es nur eine theologische Begründung für seine Haltung geben. Sie wird im 36. Artikel seiner Entgegnung auf den Kirchenbann extemporiert: Luther schreibt im Leitgedanken: »Der freie Wille, nach dem Fall Adä, oder nach der gethanen Sünde, ist ein eitler Name;
8
Ankunft der Bannbulle in Deutschland, 1521, 36. Art., WA 15, Sp. 1559.
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Freiheit in der Reformation
und wenn er thut das Seine, so sündigt er tödlich.« 9 Mit dem zweifachen »er« im zweiten Teil der thetischen Aussage ist der »freie Wille« gemeint: Nach dem Sündenfall im Garten Eden bleibt alles weitere Wollen des Menschen sündhaft. Um es deutlicher zu sagen: Auf dem »freien Willen« liegt der Fluch Gottes, dem der Mensch unter keinen Bedingungen aus eigener Freiheit, schon gar nicht durch den Eigensinn seines Wollens, entkommen kann. Zur Begründung beruft sich Luther auf Paulus: »Alles, was nicht aus dem Glauben ist, das ist Sünde.« (Röm 14,25); weitere PaulusStellen sowie Aussagen der Apostel Matthäus und Petrus und Worte aus dem 2. Buch Mose werden zum Beleg herangezogen. Auch Augustinus wird mit einem Satz zitiert, der für Luthers Verständnis des freien Willens noch bedeutsam werden soll: »Der freie Wille, ohne Gottes Gnade, taugt nichts, denn zu sündigen.« 10 Und welche Stoßrichtung das in der Entgegnung auf den Bannspruch hat, wird unmittelbar danach ausgesprochen: »Was sagst du hie, Papst? Ist das frei, was nirgend zu taugt, denn zum Bösen?« Nach Luthers Urteil natürlich nur zum Bösen, wodurch dem Heiligen Vater, der an der Spitze der Kirche steht, keine andere Stellung als die des obersten Bösewichts zukommen kann. Das Ungeheuerliche dieser Auszeichnung mag durch die angeführten Belege aus der Schrift gemildert werden. Außerdem trifft der Vorwurf jeden, der seinen eigenen Willen so wichtig nimmt, dass er glaubt, er könne sich von der auf ihm lastenden Schuld jemals befreien. Niemand, auch Luther selber nicht, kann für sich in Anspruch nehmen, allgemein durch seinen christlichen Glauben so versichert zu sein, dass er gegen eine Sünde gefeit ist. Alles, was immer er – auch im vermeintlich besten Glauben – tut, ist des Teufels. Es gibt keinen menschlichen Willen, der sich davor bewahren könnte. Keine noch so gut gemeinte und wohl begründete Handlung entkommt dem Verdikt der Sündhaftigkeit. Und da es davon keine Ausnahme gibt, ist jedes menschliche Wollen zum Bösen verurteilt; folglich kann es auch nicht »frei« genannt werden. Immerhin gibt der von Augustinus gemachte Gnaden-Vorbehalt einen entscheidenden Wink.
WA 15, Spalte 1559 (nach seiner eigenen Übersetzung; »Adä« ist der ins Deutsche transponierte Genitiv von »Adam«). 10 WA 15, Spalte 1559, nach Augustinus, De Spiritu, c. 4. 9
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Volker Gerhardt
5.
Die »Freiheit eines Christenmenschen«
Zunächst aber muss man sagen, dass Luther selbst keine Ausnahme zulässt. Das belegt die bereits im selben Jahr geschriebene, höchst bedeutsame und mit Sorgfalt angelegte Abhandlung Von der Freiheit eines Christenmenschen. Hier ist von der Freiheit die Rede, die ein Christ in seinem Glauben erlangen kann und die ihn in seiner geistigen Verfassung derart erfüllt, dass sie gar keines speziellen, auf ein einzelnes Werk oder eine singuläre Tat ausgerichteten Willens bedarf. So ist es Luther möglich, den inkriminierten Begriff des »freien Willens« zu vermeiden, und dennoch in emphatischer Weise nicht nur von der Freiheit im »Glauben«, sondern auch von der Freiheit in der »Absicht« und in der »Zucht« sowie im »Dienst« an seinesgleichen zu sprechen. 11 Die Möglichkeit zu einer differenzierenden Rede eröffnet sich Luther durch einen effektvollen thetischen Kontrast; er selbst spricht von zwei »widerständigen Reden«, die beide als wahr gelten sollen und die er damit für vereinbar hält: Erstens: »Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan.« Und zweitens: »Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.« 12 Um diese Doppelthese verständlich zu machen, erinnert Luther einleitend daran, dass »jeder Christenmensch von zweierlei Natur ist, geistlicher und leiblicher«: »Nach der Seele wird er ein geistlicher, neuer, innerlicher Mensch genannt, nach dem Fleisch und Blut wird er ein leiblicher, alter und äußerlicher Mensch genannt.« Und der Autor fügt hinzu: »um dieses Unterschiedes willen werden von ihm in der [biblischen] Schrift Sätze gesagt, die stracks widereinander sind, wie ich jetzt gesagt habe von der Freiheit und Dienstbarkeit«. 13 Um seinen Lesern deutlich zu machen, dass Freiheit und Dienstbarkeit gleichwohl nicht in Widerspruch zueinander stehen, muss Luther eine subtile Unterscheidung treffen, die moralisch höchst bedeutsam ist, aber im alltäglichen Handeln, erst recht im politischen
Luther (1982a), 252 ff. – Unter »Zucht« können wir heute auch »Disziplin« oder »Selbstdisziplin« verstehen. Bei der »Absicht« stellt sich wie von selbst der »gute Wille« ein. »Dienst« ist das, was im Geist der Mitmenschlichkeit geschieht. 12 Luther (1982a), 239. 13 Luther (1982a), 239. 11
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Freiheit in der Reformation
Leben, schwer zu wahren ist. Sie mag für den gläubigen »Christenmenschen« gelten (und sollte hier auch verbindlich sein); aber im Kontext des bürgerlichen Daseins, der Rechtsprechung und des politischen Umgangs der Parteien sowie der Staaten miteinander kann sie, wenn überhaupt, nur schwer zur Anwendung kommen. Das ist die Schwierigkeit, die wir nicht erst heute mit Luthers Ansicht von der Freiheit eines Christenmenschen haben. Schon Erasmus von Rotterdam hat das Problem nicht nur mit eindringender Schärfe gesehen, sondern er hat Luther, mit allem Verständnis für dessen theologische Einsicht, eine Interpretationshilfe angeboten, die Luther leider ausschlug. Umso mehr hätte seine Kritik an Luther auch im Jahr des Reformationsgedenkens interessieren müssen. – Doch versuchen wir zunächst, Luthers Position zu verstehen, ehe wir die Einwände von Erasmus prüfen und uns Luthers Abwehr in Erinnerung rufen. Vielleicht fällt es danach leichter, die Verdrängung dieses Streits im Jubiläumsjahr der Reformation zu begreifen. Die Subtilität der Lutherschen Unterscheidung zeigt sich auf den letzten Seiten seiner kleinen Schrift: Hat er in den ersten achtzehn Abschnitten noch einmal die Position dargelegt, die es ihm verbietet, mit Blick auf das äußere Handeln von einem freien Willen zu sprechen, führt er in den letzten zwölf Punkten vor, worin die wahre Freiheit eines Christenmenschen besteht: Nicht in einer – wie auch immer vollzogenen – weltlichen Leistung, sondern allein in der zuversichtlichen Haltung des Glaubens an einen den Menschen zugewandten Gott. Die Freiheit liegt nicht in dem, was einer in der Welt zuwege bringt, nicht in dem, was er erreicht oder verhindert, sondern allein in der gläubigen Gesinnung, in der er es tut. Diese Unterscheidung erlaubt es Luther, nicht nur von der Freiheit im Glauben, sondern auch, wie bereits gesagt, von der in der »Zucht«, in der »Absicht« oder auch im »Dienst« an seinem Mitmenschen zu sprechen. 14 Entscheidend ist die Einstellung, in der eine oder einer tätig ist. In ihr kommt es auf die personale Überzeugung an und nicht auf die erzielte Wirkung; auch nicht auf die erbrachten Opfer oder die geltend gemachten guten Gründe, sondern allein auf die Selbstlosigkeit, in der man in seinem Tun auf den Segen Gottes vertraut. Es ist, wie es im bereits angeführten Wort des Augustinus heißt: »Der freie Wille, ohne Gottes Gnade, taugt nichts, denn zu sün14
Luther (1982a), 252 ff.
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Volker Gerhardt
digen.« 15 Jetzt formuliert es Luther positiv: »so ist es klar, dass allein der Glaube aus lauterer Gnade, durch Christus und sein Wort, die Person genügend fromm und selig macht und dass kein Werk, kein Gebot einem Christen zur Seligkeit not tut«. Und wie großzügig der Reformator hier nicht nur mit allen äußeren, sondern auch mit allen vorgegebenen historischen und sozialen Bedingungen umgeht, zeigt der Zusatz: Der gläubige Mensch solle »von allen Geboten frei« sein und »aus lauterer Freiheit alles umsonst [!]« tun, damit er in allem, was er tut, nicht Gefahr läuft, darin »seinen Nutzen oder seine Seligkeit« zu suchen. 16 Alles hängt hier an der Konzentration auf den einzelnen Menschen, genauer an seinem Verhältnis zu sich selbst – oder an dem, was man seit Kant auch in terminologischer Präzision »Gesinnung« nennt. Zu ihr hat nur der einzelne Mensch in seinem Selbstverständnis Zugang. Daher darf es nicht wundern, dass der von Cicero in die philosophische Debatte eingeführte und in der Diskussion über die Dreifaltigkeit Gottes theologisch profilierte Begriff der Person zur freiheitstheoretischen Fundamentalkategorie avanciert: »… wer gute Werke tun will, der muss nicht bei den Werken anfangen, sondern bei der Person, die die Werke tun soll.« Im vorletzten Abschnitt kommt Luther erneut auf die kardinale Bedeutung der Selbstbeziehung im Glauben zu sprechen und sagt, der Mensch müsse »vor allen Dingen in [!] die Person sehen, wie die fromm wird.« 17 So ähnlich kann man es später auch in Kants kritischer Ethik lesen. Nur dass die Besonderheit bei Luther in dem, wodurch sich die Person, die sich das Verdienst einer guten Tat zuschreiben will, allein in ihrem Glauben liegt: Die Person ist, wie Luther eingangs gesagt hat, der »geistliche, neue, innerliche Mensch«. 18 »Die Person macht niemand gut als allein der Glaube, und niemand macht sie böse als allein der Unglaube.« 19 Hier haben wir den reinsten Ausdruck für Luthers glaubensund gnadentheologischen Rigorismus, der allein schon wegen seiner Folgen in der Ethik der nachfolgenden Jahrhunderte von eminenter Bedeutung ist. Wer ihn aber in einer auf das Bekenntnis gegründeten
15 16 17 18 19
Luther (1982a), nach Augustinus, De Spiritu, c. 4. Luther (1982a), 255. Luther (1982a), 257. Luther (1982a), 239. Luther (1982a), 256.
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Freiheit in der Reformation
Theologie übergeht, in einer Theologie also, die bereits durch das Glaubensbekenntnis auf Gesinnung verpflichtet und auf die innerlich prüfende Instanz des Gewissens gegründet ist, der hat auch keine Verwendung für das ganz auf das Selbstverhältnis der Person gegründete Freiheitsverständnis des Reformators. Wer die Freiheit nur in den öffentlich wirksamen Handlungen zu schätzen vermag, der sollte sich auf den innovativen Theologen Martin Luther am besten erst gar nicht beziehen. Vielleicht ist das ja auch der Grund, weshalb die weitestgehend propagandistisch auf einer »öffentlichen Theologie« beruhende Kirchentagsregie über Luthers ganz auf die Innerlichkeit der gläubigen Person gerichtete Freiheitstheorie erst gar nicht reden wollte.
6.
Versuch einer säkularen Ergänzung
Erasmus von Rotterdam ist ein bis heute unterschätzter großer Denker. Man lobt ihn zwar als maßgebenden Humanisten und schätzt ihn als Vermittler zwischen Antike und Neuzeit. Aber seine originären Beiträge zur Theorie des Friedens, der Politik und der Bildung werden, wenn überhaupt, nur beiläufig erwähnt. 20 Doch dass er als Editor und Kommentator des Neuen Testaments eine wesentliche Voraussetzung für Luthers Übersetzung geschaffen hatte, ist bekannt. Hinzu kommt, dass Erasmus auch nach dem Bruch mit Luther in der Runde der Wittenberger Erneuerer – mit der Stimme Melanchthons – anwesend war. Das historisch-philologische Wissen aus dem Freiburger und Baseler Hintergrund wusste Luther offenbar weiterhin zu schätzen. Freilich konnte Luther noch nicht wissen, dass Erasmus einmal als weit über ihr Zeitalter hinausdenkender Humanist gelten würde. Als dieser bedeutendste Humanist der frühen Neuzeit war er, was Ich wiederhole auch hier mein an derselben Stelle geäußertes Unverständnis, dass selbst gelehrte und geschätzte Historiker des politischen Denkens nicht zur Kenntnis nehmen, dass in der Institutio christiani principis, der 1515 geschriebenen und alsbald publizierten Erziehungsschrift für den späteren Kaiser Karl V. (und den späteren österreichischen Erbherzog Ferdinand) eine vom Geist der Republikanismus erfüllte politische Staatstheorie entworfen wird, die weit über die häufig genannten wegbereitenden Texte von Dante, Marsilius von Padua, Wilhelm von Occam und Machiavelli hinausgeht und in ihrer Betonung des Vorrangs der sozialen Gerechtigkeit bereits sozialstaatliche Elemente aufweist. Siehe Gerhardt (2019b). 20
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leider heute fast vergessen ist, auch als Freiheitstheoretiker wirksam: Seine bis ans Ende des 18. Jahrhunderts reichende literarische Präsenz gewährt ihm Einfluss auf die sich mit Montaigne rasch ausweitende Moralistik, auf die Nähe und Abgrenzung zur Antike suchende Theorie der Geschichte, auf das seit der Mitte des 16. Jahrhunderts sprunghaft ansteigende Interesse an Politik- und Naturrechtslehren sowie auf die dem Buchdruck, der Belebung der Wissenschaften und dem rasch wachsenden Bedarf an institutionellen technischen Leistungen folgende Theorie der Erziehung. Schon vor diesem Hintergrund ist es nicht wahrscheinlich, dass dieser humanistische Erneuerer sich damit begnügt, lediglich eine auf Luthers Freiheitsauffassung bezogene Kritik vorzulegen. Dagegen spricht bereits die Vorgeschichte ihres gemeinsamen Ungenügens an der Kurie. Schon vier Jahre vor dem Thesenanschlag hatte Erasmus eine schonungslose Kritik an Papst Julius II. niedergeschrieben, die seit 1514 in Basel kursierte und Anfang 1517 dort auch erstmals veröffentlicht wurde. 21 Luthers reformatorische Bemühungen fanden daher seine Sympathie. Doch da er in seinen wissenschaftlichen Vorhaben auf die Unterstützung durch die Kurie angewiesen war, hielt er sich zurück. Nach dem Kirchenbann und der Reichsacht gegen Luther sah er sich genötigt auf Distanz zu gehen – dies wohl auch, weil er unabsehbare politische Konflikte kommen sah. Doch darüber ist Erasmus nicht, wie Luther es wohl empfand, zu dessen Feind geworden. Die 1524 erschienene Abhandlung De libero arbitrio 22 hätte viel kürzer werden können, wenn es nur um eine Widerlegung der Ansichten Luthers gegangen wäre. Erasmus erhebt kritische Einwände, die Luther anderthalb Jahre später zu seiner erbitterten Antwort herausfordern; aber in der ausführlich dargelegten Sache geht es Erasmus um eine historisch und systematisch begründete Freiheitstheorie, die auch Platz für die von Luther als alleingültig Erasmus von Rotterdam (1517). Der satirische Text wurde vermutlich kurz nach dem Tod des Papstes 1513 geschrieben und kursierte ab 1514 als Text des Erasmus in Basel, bevor er Anfang 1517 auch anonym im Druck erschien. Um sich die Wertschätzung des Nachfolgers auf dem Heiligen Stuhl, Leo X., der das Patronat über die Neuedition des Neuen Testaments übernommen hatte, zu erhalten, legte Erasmus Wert darauf, die seinen Zeitgenossen bekannte Autorschaft zu verleugnen. – Ich betone das, um die oben hervorgehobene namentliche Verantwortung Luthers für seine Kritik an der Kurie in ihrer freiheitstheoretischen Bedeutung zu unterstreichen (s. o. Punkt 3). 22 Erasmus, De libero arbitrio diatribe sive collatio (Unterredung über den freien Willen) (1524). In: Erasmus (1968). 21
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Freiheit in der Reformation
angesehene Rechtfertigung der Freiheit aus dem Glauben an die Botschaft Jesu lässt. Die Schrift des Erasmus bietet eine Fülle von Einsichten, von denen mit Blick auf die Meinungsverschiedenheit zwischen ihm und Luther nur drei hervorzuheben sind. An erster Stelle steht Luthers Berufung auf die biblische Schrift, der er in seiner Entgegnung auf den päpstlichen Bann Vorrang gegeben hat. Für den Reformator folgt das aus seinem Grundsatz sola scriptura, den Erasmus sowohl für das Alte wie für das Neue Testament respektiert. Nur kommt er in seiner, man möchte sagen: umfassenden Prüfung zu dem Ergebnis, dass es in der bei weitem größeren Zahl der Fälle, niemals bloß um ein Handeln aus dem Wissen von, in dem Vertrauen auf oder im Glauben an die Gegenwart oder Gnade Gottes geht, sondern dass in dieser Gewissheit ein Spielraum für das menschliche Handeln bleibt, in dem sich der Mensch selbst entschieden (oder zu entscheiden) hat. Und im Treffen dieser Entscheidung, nicht aber in der Gewissheit von der göttlichen Ferne oder Gegenwart, liegt die Freiheit des Menschen! Nach Erasmus bezieht sich Luther lediglich auf eine Prämisse des Handelns, nicht aber auf die im Handeln zum Ausdruck kommende Entscheidung insgesamt. Damit verfehlt er nicht nur den mit dem Begriff der Entscheidung bezeichneten Tatbestand. Auch das, was die Propheten, Exegeten, Evangelisten und Apostel der Bibel unter der freien Entscheidung der Menschen verstehen, ist, nach Erasmus, nicht das, wovon Luther spricht. Diesem textkritisch ermittelten und an immer neuen Beispielen ausgeführten historischen Befund geht Erasmus systematisch nach. Das führt zu dem an zweiter Stelle hervorzuhebenden Punkt: Erasmus legt dar, dass alles, was dem Menschen von Gott verheißen, geboten, an Gütern und Fähigkeiten gewährt oder an Strafen angedroht wird, einen eigenen Willen des Menschen voraussetzt. Wo immer Gutes von Bösem, Gerechtes und Ungerechtes unterschieden werden müssen, wann immer vom Menschen etwas verlangt wird, muss er die Fähigkeit haben, das auch von sich aus zu tun. Das muss nicht bedeuten, dass er diese Fähigkeiten aus eigener Kraft erfunden, erschaffen oder erworben hat; er kann vielmehr in allem, was zu seinem Leib und zur Seele gehört, ja, bis in die Verfassung seines Geistes hinein, ein Geschöpf Gottes sein. Doch wie immer er auch zu seinen Fähigkeiten und Vermögen gelangen mag: Im Augenblick des Anspruchs, den Gott an ihn stellt, muss er in der Lage sein, auf ihn so 25 https://doi.org/10.5771/9783495823668 .
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zu reagieren, dass ein (göttliches, aber eben auch menschliches) Urteil über ihn möglich ist. Das heißt für Erasmus nichts anderes, als dass der so von Gott herausgeforderte Mensch einen Willen haben muss, um sich für oder gegen den an ihn gestellten (oder auch von ihm selbst für sich selbst übernommenen) Anspruch zu stellen. Ein so verfasster Wille aber wäre sinnlos, wenn er sich nicht von sich aus entscheiden könnte. Also bedarf es des »freien Willens«, um überhaupt von einem tätigen Menschen sprechen zu können. Folglich gehört der Wille notwendig zum eigenen Tun eines Menschen. Er ist, nach heutiger Terminologie, ein funktionaler Bestandteil des menschlichen Handelns; und weil zu ihm die Fähigkeit gehört, sich für oder gegen etwas zu stellen, hat die Freiheit als ein notwendiger Bestandteil des Willens zu gelten. Eigene Tätigkeit, eigener Wille und die Fähigkeit, dazu Stellung zu beziehen, bilden somit eine Einheit. Also kommt man gar nicht umhin, dem Menschen mit seiner Fähigkeit, etwas von sich aus zu tun, auch einen Willen zuzuschreiben, von dem man gar nicht sprechen könnte, wenn ihm nicht die Option entweder für das eine oder für das andere (oder für Enthaltung) zugestanden wird. Dieses Wollen muss in allen Fällen menschlicher Zuständigkeit angenommen werden. Hier hat er seine eigene Freiheit, so umfassend die gottgegebenen Bedingungen auch sein mögen, die ihm sein Dasein, sein Tun und seine Entscheidung möglich machen. Streicht man den Willen, so wird der Mensch zum bloßen Material, das alles mit sich machen lässt, wie der Ton in der Hand des Töpfers. 23 Was Gott aber mit dem Menschen tut, vor allem in dem, was er ihm durch seinen Sohn bedeuten und sagen lässt, ist an ein Wesen gerichtet, das selbst entscheidet, wie es mit der Botschaft umgeht. Folglich sieht Erasmus in der Preisgabe des zu Entscheidungen fähigen Willens, dem man die Freiheit schon deshalb zusprechen muss, weil er anders gar nicht in seiner Fähigkeit, so oder so zu wollen, erkannt werden könnte, den zentralen Fehler Luthers. Der Reformator übersieht, dass, wo ein Wille ist, eine Alternative dazu gehört, die ihn herausfordert und der er sich stellen kann, sofern er überhaupt einen Willen hat. Der dritte und Erasmus offenbar besonders wichtige Punkt liegt in seiner Erwartung, Luther könne seinen Fehler korrigieren, ohne 23
De libero arbitrio, IV 11 (Erasmus 1968, 177).
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Freiheit in der Reformation
die Überzeugung vom Vorrang der Gnade aufgeben zu müssen. De libero arbitrio ist von Anfang bis Ende von der Beteuerung durchzogen, dass dem Menschen gar nichts bliebe, hätte er die Gnade Gottes nicht. Sie bietet dem Menschen alles, was ihm in seinem Dasein äußerlich wie innerlich zur Verfügung steht. Alles, was der Mensch tut, stamme »insgesamt von Gott als dem Urheber« und alles sei für den Menschen so eingerichtet, »dass er sein Streben mit der Gnade Gottes vereinigen« könne (cum dei gratia coniungere). 24 Doch eben diese grundlegende Bedingung der Gnade setzt voraus, dass sie vom Menschen als die Bedingung seines bewussten Daseins angenommen wird. Gnade zeigt sich im »Bestand« eines Menschen, in der »Hilfe«, die er benötigt, oder in der »Unterstützung«, die er jeweils bekommt. Sie bedeuten aber nur dann etwas, wenn sie auch als subsidium begriffen werden. Und hierbei gilt: »Man sagt doch nur dann, dass einer einem anderen helfe, wenn dieser selber etwas tut.« 25
7.
De servo arbitrio – der dienstbare Wille
Luther reagiert, nach einem für ihn unverhältnismäßig langen Schweigen, mit einem frontalen Angriff auf die Person des Erasmus. Er behandelt ihn nunmehr als seinen Gegner, der ihn durch eine irreführende Textauslegung und vorgeschobene Argumente ins Unrecht setzten will. Also sieht sich Luther genötigt, die Aufrichtigkeit, ja selbst die Kirchenfrömmigkeit des Humanisten in Zweifel zu ziehen. Was für ein delikater Vorwurf das in der Lage ist, in der sich beide – allein durch ihre sie verbindende Kritik an der Kurie – befinden, braucht man niemandem zu erklären. Doch Luther, das muss man ihm in seiner Empörung zugutehalten, hat das Gemeinsame nicht vergessen. Das gibt der verbindliche, beinahe freundlich klingende Beschluss seines Buches zu erkennen: »Mit dieser Arbeit«, so spricht er Erasmus auf dessen Diatribe über die Willensfreiheit an, »hast du auch mir große Dienste getan, sodass ich bekenne, Dir viel Dank zu schulden.« 26 Er rühmt Erasmus dafür, dass er mit dem Freiheitsthema »die Sache selbst aufgegriffen« hat, ja 24 25 26
De libero arbitrio, III c.12 (Erasmus 1968, 155). De libero arbitrio, III, c.12 (Erasmus 1968, 157). Luther (2016), 339 ff.
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sogar »den Nerv der Sache« gesehen und es vermieden habe, ihn mit den Fragen der Papsttums, dem Ablass oder dem Fegefeuer zu behelligen. Nach über dreihundert Seiten fortlaufender Verwerfung des freien Willens kommt dieses Zugeständnis überraschend. Aber man versteht das Lob, wenn man bedenkt, dass Erasmus Luther die Gelegenheit geboten hat, in aller Ausführlichkeit die uneingeschränkte heilsgeschichtliche Stellung der Gnade zu exponieren. Am Ende des Buches folgt noch eine aufschlussreiche Bemerkung zum Unterschied im Naturell und in der Methode zwischen ihm und Erasmus: Während Erasmus, wie er ja selbst gesagt habe, »nichts fest behauptet, sondern nur Ansichten verglichen hat«, 27 habe er, Luther, in seinem Buch »nicht Ansichten verglichen, sondern fest behauptet« – und er behaupte sie weiterhin. 28 Das kommentiert er mit der Bemerkung, so wie Erasmus könne »niemand« schreiben, »der die Sache von Grund auf durchschaut und recht versteht«. Und um den Unterschied in aller Schärfe deutlich zu machen, setzt Luther das abschließende Geständnis, er wolle »niemand anderem das Urteil überlassen«, und er »rate allen, dass sie Gehorsam leisten«. 29 Wenn das kein Bekenntnis zur Freiheit in der eigenen Selbsteinschätzung ist, dann ist es zumindest ein Appell an die Freiheit der anderen, seinem Rat zu folgen. Das wahrhaft Große der Abhandlung Luthers liegt in ihrer Konzentration auf die biblischen Texte. Indirekt soll damit deutlich werden, dass die Gelehrsamkeit, mit der sich Erasmus auch auf die sich in der Auslegung der Schrift, wie Luther meint, häufig irrenden Philosophen und Kirchenväter bezieht, nur Missverständnisse erzeugt; Luther hingegen legt Wert darauf, in der »Sache«, um die es ihm selber einzig geht, nur das Wort Gottes auszulegen. Tatsächlich kann er mit überwältigender Eindringlichkeit seine Auffassung illustrieren, dass die »Welt« gar nichts ist, wenn Gott sie nicht im »Licht seiner Herrlichkeit« erleuchtet, wenn er die Menschen nicht an seinem »Geist« teilhaben lässt und sie durch seine Erasmus (1968), 340. An der von Luther angeführten Stelle sagt Erasmus ausdrücklich, er stehe »mit Überzeugung (ex animo faveo) auf seiten einer wirklichen evangelischen Freiheit. Und die von Luther zitierte, für die Frühgeschichte der sich im 20. Jhdt. ausdrücklich so nennenden »Diskurstheorie« nicht unerhebliche Stelle lautet: Er, Erasmus, spreche nicht als Richter (persona iudicis), sondern in der Rolle eines Diskussionsteilnehmers (persona disputationis) (Erasmus 1968, 192/3). 28 Luther (2016), 341. 29 Luther (2016), 341. 27
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Freiheit in der Reformation
»Gnade« erlöst. In der Vielzahl der Belege und in der Beharrlichkeit ihrer Deutung ist Luthers Erwiderung ein singuläres Dokument seiner gläubigen Hingabe an das Wort Gottes und des Vertrauens auf die im Leben und Sterben des Gottessohns verheißene Gnade. Ihr gegenüber wird alles, was der Menschen tut und denkt, was seine Vernunft ihm rät oder was er willentlich anstrebt, bedeutungslos. Wäre Luther noch der Augustinermönch, der sich aus der Welt zurückgezogen hat, um auf die Erlösung zu hoffen, könnte das Buch zumindest persönlich überzeugend genannt werden. So aber bleibt die Frage offen, wie der Autor sein eigenes Auftreten in der Welt, sein nie verleugnetes eigenes Wollen, seine gegen stärkste Widerstände durchgehaltenen Bemühungen für eine Erneuerung der Kirche, schließlich den sich selbst nicht schonenden Kampf für ein besseres Verständnis der Heiligen Schrift eigentlich versteht? Offen bleibt damit auch das Verständnis der Freiheit aus der Binnenperspektive der Person, wie Luther sie noch in der Schrift über die Freiheit eines Christenmenschen hervorgehoben hatte. Nun scheint auch diese Sicht auf den »inneren Menschen« keinen eigenen Handlungsspielraum freizugeben. Denn sogar dort, wo Gott der Vater »selbst inwendig spricht«, muss er schon selbst »lehren und ziehen«, um die Person auf die Seite des Glaubens zu holen. »Niemand kann«, so heißt es im Anschluss an Joh. 6, 44, »ja, niemand kann kommen«, der dem Menschen die Kraft verleiht, aus eigener Einsicht und eigenem Entschluss, auf seine Erlösung zuzugehen: »Eine solche Kraft, durch die der Mensch irgendetwas auf Christus hin versuchen könnte […], gibt es nicht.« 30 Ausdrücklich gegen Augustinus und Erasmus betont Luther, dass es Gott selbst sein muss, der »inwendig zieht«. Und dass er damit Erfolg haben kann, liegt nicht am einzelnen mit Vernunft und Willen begabten Menschen, sondern am »Geist Gottes«, der die Gottesfürchtigen durch sich selbst bewegt – und nicht etwa dadurch, dass er ihnen Wege und Ziel vor Augen führt, sondern dadurch, dass er sie direkt leitet: Die Gottesfürchtigen »leben durch den Geist und sind von ihm getrieben und folgen, wohin Gott will.« Es ist also ausdrücklich nicht der Wille des Menschen, sondern der göttliche Wille, dem Christus den Charakter des »lieblichen Ziehens« verleihen kann. 31
30 31
Luther (2016), 330. Luther (2016), 330.
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Luther stellt sich somit selbst als von Gott Getriebenen und Gezogenen dar. Keine Frage, dass man das in sich selbst erfahren und vielleicht auch beschreiben kann. Aber sich vor seinesgleichen so darzustellen und dennoch die eigenen Schriften namentlich zu kennzeichnen oder es zuzulassen, mit dem Satz: »Hier stehe ich und kann nicht anders« zitiert zu werden, das lässt sich so schwerlich verständlich machen. In der Gerichtssprache der Luther-Zeit kommt die Rede von der »Verantwortung« auf, die jeder im Fall einer Anklage zu bestätigen oder abzuweisen hat. Soweit wir wissen, war Luther davon überzeugt, dass es Verantwortlichkeiten der fraglichen Art gegeben hat und folglich mit guten Gründen Schuld- oder Freisprüche erfolgen konnten. Muss man als gläubiger Christ mit verschiedenen Zungen sprechen – je nach dem Standpunkt, den man zur Welt einnimmt? Die Frage stelle ich nur, um deutlich zu machen, dass Luthers Radikalkritik am freien Willen viele Fragen offenlässt. Und so darf man nicht zu viel von der Aufklärung über einzelne Elemente der Deutung des Willens erwarten. Auch das Problem, wie denn die Dienstbarkeit des Willens als menschliches Vermögen verstanden werden kann, und ob nicht wenigstens der wahre Glaube als ein Akt der Freiheit des Menschen verstanden werden kann, scheinen angesichts der Übermacht Gottes und der abgründigen Schwäche des Menschen nicht ins Gewicht zu fallen. Das ist deshalb so bedauerlich, weil Luther in der Nachfolge Christi nichts stärker auszeichnet als seinen eigenen Glauben, den Glauben eines einzelnen Menschen. Und wenn dieser einzelne Mensch darin schon keine eigene Entscheidung auf Grund einer eigenen Einsicht erkennen will, wie soll es anderen gelingen, darin auch nur ein Beispiel zu sehen, wenn ihnen nicht die Freiheit zugestanden wird, dem zu folgen?
8.
Die vertane Chance
Dass Erasmus in De libero arbitrio Luther weit entgegenzukommen sucht, ist offenkundig. Doch der Reformator sieht nur die kritischen Einwände und reagiert verletzt und in höchstem Maße verletzend. Es ist nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn Luther die von Erasmus ausgetreckte Hand erkannt und ergriffen hätte! Im Verein mit dem weltläufigen Humanisten hätte der Reformator seinen auf das Innere seiner Person gegründeten Rigorismus 30 https://doi.org/10.5771/9783495823668 .
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durchaus beibehalten können; man muss auch keinen Einspruch erheben, wenn er ihn bei seinen Anhängern verpflichtend zu machen sucht – solange er die nicht ausschließt, die Wert darauf legen, dass ihr Glauben ihrer eigenen Einsicht nicht widerspricht. 32 Nur mit Blick auf das allgemeine gesellschaftliche Handeln seiner Mitmenschen hätte Luther die Anerkennung praktischer Freiheit bei allen Personen akzeptieren müssen, die seine Schriften, Predigten, Katechismen und Lieder erreichen sollen. »Mission«, ohne die Voraussetzung der Freiheit ihrer Adressaten, widerspricht sich selbst. Sollte es tatsächlich gegenüber Gottes Gebot nicht angemessen erscheinen, von Freiheit zu sprechen, wäre sie gleichwohl allen anderen, die das anders sehen, zuzugestehen – selbst um den Preis, dass man sie »Sünder« nennt. Sollte dies ein Anhänger Luthers nicht zugeben können, spräche er allen Anders- oder Nichtgläubigen die Freiheit ab. Luthers Freiheitslehre, die ihm als Person die reine Glaubensgesinnung abverlangt – eine Gesinnung, die sich selbst den Glaubensbrüdern und Glaubensschwestern nur »ansinnen« und weder einnoch aufzwingen lässt – hätte somit ohne den äußeren Zwang, der die Jahrhunderte nach der Reformation bestimmt hat, zu der Pluralität von Glaubensformen geführt, die Lutheranern, wenn ich richtig sehe, heute als selbstverständlich gilt. So wäre es möglich gewesen, schon in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts die unerhörte Innovation kenntlich zu machen, die mit Luthers Priorisierung des individuellen Glaubens von Anfang an verbunden war – eines Glaubens, den zwar jeder haben sollte, von dem der Außenstehende aber ohnehin nicht sicher sagen kann, ob er Herz und Sinn der Gläubigen erfüllt. Genau genommen ist das die Neuerung, die bereits mit der Botschaft Jesu in die Welt gekommen ist, und die Luther mit sicherem Gespür als den Geist der christlichen Lehre erkannt hat. Zu diesem Geist gehört von Anfang an, dass sich die Freiheit auch theologisch nicht an die Prämisse des einen bestimmten Glaubens binden lässt. Wohl aber ist dem gläubigen Anhänger der christlichen Botschaft der
In Gerhardt (2016) habe ich zu begründen versucht, warum beide zusammengehören und sich insbesondere dort ergänzen, wo die Grenzen des jeweils anderen Vermögens erreicht sind. Es ist vornehmlich die christliche Botschaft, die eine Verbindung zwischen eigener Einsicht und Glauben unterstellt und darauf ihre – nicht umsonst so genannte – Lehre gründet.
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Volker Gerhardt
Weg eröffnet, an seiner personalen Form der Freiheit festzuhalten, ohne genötigt zu sein, andere Formen des Lebens und des Glaubens, sofern sie friedfertig sind, zu verwerfen.
9.
Falsche Zurückhaltung
Man kann nicht sagen, ob Erasmus selbst diese weitreichenden interreligiösen und interkulturellen Konsequenzen seiner Freiheitslehre gesehen hat. In seiner Friedensschrift wie auch in seiner Regierungslehre hält er – zu seiner Zeit und mit Blick auf Europa noch realistisch – am Christentum als dem allgemeinen Ordnungsrahmen fest. Aber für sich persönlich hat er, ungeachtet seines christlichen Glaubens, bereits auf eine territorial-politische Zuordnung verzichtet. Aus einem 1522 an Zwingli, der ihm die Stadtbürgerschaft in Zürich angeboten hatte, gerichteten Schreiben wissen wir, dass er am liebsten weder Stadt- noch Staatsbürger, sondern einfach »Weltbürger« wäre. 33 In dem von Kant 1795 vorgetragenen Entwurf Zum ewigen Frieden ist diese Prämisse ebenso aufgehoben wie in seiner zehn Jahre zuvor entwickelten kritischen Ethik. Diese Ethik bringt in ihrer Zuspitzung allein auf den über alle äußeren Bedingungen hinausgehenden Handlungszweck des Individuums, also des Einzelnen, der in seiner Person die Menschheit umfasst, den von Cicero und Erasmus vertretenen Humanismus auf den Punkt. 34 Zugleich nimmt sie Luthers Konzentration auf den »innerlichen Menschen« 35 auf und zeigt, wie sie, freilich ohne jede religiöse Bindung (!), allgemein begründet werden kann. Die Pointe des kategorischen Imperativs ist, dass er dadurch auch die Freiheit des Glaubens gewährt, der Kant später seine vom Geist der Nächstenliebe erfüllte Religionsschrift widmet. Davon ist Luther weit entfernt, wie seine unversöhnliche Antwort auf Erasmus zeigt. Schon im unglücklichen Titel De servo arbi»Ich wünsche Weltbürger zu sein, allen zu gehören, oder besser noch Nichtbürger bei allen zu sein.« An anderer Stelle: »Ich möchte Weltbürger sein, überall zu Hause und, was noch entscheidender ist, überall unterwegs.« In den für den Herzog von Cleve 1534 geschriebenen Apophthegmata heißt es: Cives enim mundi sumus omnes (Denn wir sind alle Bürger der Welt). (Die Hinweise verdanke ich Mag. Johannes Kaup, ORF) 34 Dazu Gerhardt (2019b). 35 Luther (1982a), 251. 33
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trio zeigt er, dass er die systematische These des Humanisten entweder nicht verstehen will oder nicht verstanden hat. Denn Erasmus hatte gezeigt, dass der eigenständige Wille einer Person notwendig mit der Freiheit verbunden ist – auch wenn der Glaube mit der Überzeugung einhergeht, dass der Mensch alles seinem Schöpfer verdankt; denn allein für die Anerkennung der Größe, der Güte und der Gnade Gottes bedarf es einer eigenen Einsicht und eines darauf gegründeten Verhaltens. 36 Menschlicher Glaube, wenn er denn überhaupt etwas bedeuten soll, ist – nicht anders als der Unglaube – auf Freiheit gegründet. Luther hat auf die Entgegnung durch Erasmus nicht mehr reagiert. Für ihn war die Schlacht geschlagen. Er hatte mit größter Ausführlichkeit gezeigt, dass Freiheit einem Zweifel an der Gnade Gottes gleichkommt und daher dem rechten Glauben widerspricht. Jeder, der nicht im rechten Glauben lebt, der jüdisch, römisch-katholisch oder einfach ungläubig ist (oder bleibt), hat nach Luther als unfrei zu gelten. Selbst wenn die Anhänger Luthers das auch nach 500 Jahren noch ebenso sehen sollten, hätten sie den Streit zwischen Erasmus und Luther zumindest zum Gegenstand ihrer ehrenden Erinnerung machen können. Und wenn der erklärte Anspruch, Luther im Jubiläumsjahr auch kritisch zu betrachten, ernst gemeint gewesen sein sollte, haben die Verantwortlichen sowohl historisch wie auch zeitgeschichtlich etwas versäumt. Man muss nicht lange spekulieren, warum sich die politischen Repräsentanten des zeitgenössischen Protestantismus nicht gern an Luthers Beschränkung der Freiheit allein auf seinen eigenen Glauben erinnern lassen: Sie sind de facto allesamt zu Anhängern des Erasmus geworden, der die Freiheit aller Christen und letztlich aller Menschen zu erweisen suchte. Daraus ist, wie wir wissen, längst ein Grund- und Menschenrecht geworden, das sich niemand gern durch Luther in Zweifel ziehen lässt. Doch Luther hatte etwas anderes im Sinn: Er wollte die Freiheit des Christenmenschen an einen Glauben binden, der erst durch das »Wenn der Mensch von sich aus nichts tut (quod si nihil agit homo), gibt es für Verdienst und Schuld keinen Platz. Wo es für Verdienst und Schuld keinen Platz gibt, dort ist auch kein Platz für Strafen und Belohnungen.« (De libero arbitrio, IIIa, Erasmus 1968, 114/115) Und so kann auch der Mensch die Gnade Gottes (divina gratia) nur erfahren, sofern er einen eigenen Willen hat, den er mit der Hilfe durch die göttliche Gnade (cum auxilio divina gratiae) verbinden kann (Erasmus 1968, 120/121).
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Opfer Christi möglich geworden ist. Luther selbst hatte darin die Kraft und die Stärke seines Handelns gewonnen. Und er hatte zu zeigen versucht, dass auch in Zeiten schwerer Anfechtung, die singuläre Kraft des christlichen Glaubens aus der Ermutigung kommt, die das Leben und Sterben Jesu Christi ermöglicht. Ich bin mit Luther der Überzeugung, dass diese Ermutigung nur im Vertrauen auf das Unerhörte der christlichen Botschaft gewonnen werden kann. Luther steht der urchristlichen Heilserwartung näher und verstärkt eine Hoffnung, die aus keiner historischen oder systematischen Analyse der Freiheit gewonnen werden kann. Angesichts des persönlichen Heils und der Erlösung der Seele von der eigenen Schuld – kann man als Individuum getrost auf die Freiheit verzichten. 37 Das aber nur in der Stunde des Todes, in der auch das Zureden eines Geistlichen nicht mehr hilft. In dieser existenziellen Situation des Sterbens wird die Freiheit sekundär. Dann zählt allein die Hoffnung auf die Gnade Gottes. Ich verstehe es gut, wenn man sich dieses äußersten Trostes durch den Glauben an den Sinn des von Christus erbrachten Opfers erinnert. Dieser Sinn steht im Zentrum der Botschaft, aus der die Reformation als politisches Ereignis ihr Selbstverständnis gewonnen hat. Aber in diesem geschichtlichen Ereignis, an das man sich noch nach 500 Jahren erinnert, geht es nicht allein um die innere Erleuchtung, auch wenn sie im Zentrum des neuen Glaubens stehen mag. Es geht vielmehr um eine Kettenreaktion historischer Ereignisse, die, selbst wenn sie zwangsläufig auf einander gefolgt sein mögen, nicht ohne die Freiheit der Akteure gedacht werden kann. Diese Freiheit hat auch Luther in Anspruch genommen, etwa wenn er sich, gegen das ausdrückliche Verbot seines Landesherrn, von der Wartburg nach Wittenberg begab und dort zu predigen begann. Sein ganzes Leben als Reformator ist ein exemplarischer Fall fortgesetzter Freiheiten, die er in seinen Schriften auch mit vielfältigen Argumenten zu begründen versucht. Wer sollte ihn auch zum Verlassen des Klosters, zur Heirat oder zur Antwort an Erasmus gezwungen haben? Gesetzt also, die Organisatoren der Erinnerung an die Reformation wollten auch an das historische Geschehen von 500 Jahren erLuther hat diese Lage in der Eröffnung seiner ersten Predigt nach Invocavit eindrucksvoll beschrieben: »Wir sind allesamt zu dem Tod gefordert, und keiner wird für den andern sterben, sondern jeder in eigener Person für sich mit dem Tod kämpfen. In die Ohren können wir ihm wohl schreien, aber jeder muß für sich geschickt sein in der Zeit des Todes.« (Luther 1982b, 271)
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Freiheit in der Reformation
innern, dann haben sie sich mit dem Verzicht auf die Erinnerung an den Freiheitsdisput zwischen Erasmus und Luther viel entgehen lassen. Das gilt insbesondere für jene, denen die sogenannte »öffentliche Theologie« ein Anliegen ist. Deren appellative Ausrichtung ist auf nichts so sehr gerichtet wie auf die Präsenz im öffentlichen Raum. Der besteht, nicht zuletzt durch Luthers entschlossenes Tun, nicht nur aus Menschen einer einzigen Konfession. Es finden sich überdies auch immer mehr nicht-gläubige Menschen darin ein. Will man nun angesichts der Differenz der vielen Glaubensrichtungen sowie eines manifesten Desinteresses an religiösen Fragen mehr als nur Bildungsarbeit leisten, sondern gelegentlich auch jemanden vom Glück des Glaubens überzeugen, muss man ihm vor allem die Freiheit zugestehen, zu seiner eigenen Entscheidung zu finden. Mit Luther kommt man da, so habe ich zu zeigen versucht, nicht weit, wohl aber mit den Einsichten des Weltbürgers Erasmus. Und da dessen Position, wie ich meine, den Glauben Luthers – bei denen, die von diesem Glauben ja bereits erfüllt sind – nicht ausschließt, könnte das Versäumnis der öffentlichen Theologie im Jubiläumsjahr der Reformation nicht größer sein. Und die Freiheit dazu hätte die Theologie gehabt – auch nach Luthers eigenen Worten: Den Glauben, so sagt er in der zuletzt erwähnten Predigt, muss man »allzeit« in seinem Herzen haben; aber das Bekennen »vor jedermann« ist »frei«. 38
Literaturverzeichnis Erasmus von Rotterdam (1517), Dialogus, Iulius exclus e coelis (Julius vor der verschlossenen Himmelstür. Ein Dialog), Basel. – (1968): »De libero arbitrio diatribe sive collatio (Unterredung über den freien Willen) (1524)«, in: Ausgewählte Schriften in acht Bänden, hg. v. Werner Welzig, Bd. 4, Darmstadt, 1–195. – (2016): Vom unfreien Willen (De servo arbitrio, 1525), bearb. v. Joachim Schmitsdorf, Hans-Werner Deppe u. Larissa Eliasch, Oerlinghausen. Gerhardt, Volker (2007): »Leben ist das größere Problem. Philosophische Annäherung an eine Naturgeschichte der Freiheit«, in: Jan-Christoph Heilinger (Hg.): Naturgeschichte der Freiheit, Humanprojekt 1, Berlin/ New York, 457– 479. – (2016): Glauben und Wissen. Ein notwendiger Zusammenhang, Stuttgart.
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Volker Gerhardt – (2019a): »Freiheit als Bedingung des Glaubens«, in: Streit um die Freiheit. Philosophische und theologische Perspektiven, hg. von Klaus von Stosch / Saskia Wendel/Martin Breul / Aaron Langenfeld, Paderborn, 149–160. – (2019b): Humanität. Über den Geist der Menschheit, München. Geyer, Christian (Hg.) (2004): Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, Suhrkamp. Kühn, Simone / Brass, Marcel (2009): »Retrospective construction of the judgement of free choice«, in: Consciousness and Cognition 18 (1), 12–21. Libet, Benjamin (2004): »Haben wir einen freien Willen?«, in: Christian Geyer (Hg): Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, Frankfurt/M., 268–289. Linde, Gesche (2019): »›Kirche der Freiheit‹. Die kirchenpolitische Vereinnahmung des Freiheitsbegriffs im Impulspapier der EKD aus dem Jahre 2006«, in: Streit um die Freiheit. Philosophische und theologische Perspektiven, hg. von Klaus von Stosch / Saskia Wendel / Martin Breul / Aaron Langenfeld, Paderborn, 467–495. Luther, Martin (1982a), »Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520)«, in: Ausgewählte Schriften, hg. von Karin Bornkamm u. Gerhard Ebeling, Bd. 1, Frankfurt/M., 238–263. – (1982b): »Acht Sermone D. Martin Luthers, von ihm gepredigt zu Wittenberg in der Fastenzeit 9.–16. März 1522, Sonntag Invocavit«, in: Ausgewählte Schriften, hg. von Karin Bornkamm u. Gerhard Ebeling, Bd. 1, Frankfurt/M. Schilling, Heinz (2012, 20143 ): Martin Luther. Ein Rebell in der Zeit des Umbruchs, München.
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Contra liberum arbitrium pro libertate Christiana Zu Luthers Kontroverse mit Erasmus 1 Gunther Wenz
»Christianus homo omnium dominus est liberrimus, nulli subjectus. Christianus homo omnium servus est officiosissimus, omnibus subjectus.« (WA 7, 49, 22–25) »Eyn Christen mensch ist eyn freyer herr über alle ding und niemandt unterthan. Eyn Christen mensch ist eyn dienstpar knecht aller ding und ydermann unterthan« (WA 7, 21, 1– 4; beide Texte bei L. gesperrt). Mit diesen Sätzen eröffnete Martin Luther seinen Traktat »De libertate Christiana« (vgl. WA 7, 49–73), »Von der Freiheit eines Christenmenschen« (vgl. WA 7, 20–38) aus dem Jahr 1520. Die Maxime lautet: Domini sumus! (Röm 14,8; vgl. etwa WA B 7, 83 Nr. 2125, 16–19) Wir sind Herren, weil wir des Herren sind. In der Beziehung zu Christus ist der Gegensatz von Herrschaft und Knechtschaft aufgehoben. Freiheit und Dienstbarkeit des Christen bilden entsprechend einen zwar differenzierten, aber doch einigen Zusammenhang. Der Christenmensch sucht und findet den Grund seiner Freiheit nicht in der Welt, auch nicht unmittelbar in sich selbst, sondern in Gott und in Gott allein. Darum ist er frei von aller Welt einschließlich seiner selbst als einer weltgegebenen Größe sowie fähig und bereit zur Dienstbarkeit dem Mitmenschen und aller Kreatur gegenüber. Er wird seinen Nächsten lieben wie sich selbst, weil er sich von Gott, dem Schöpfer und Erhalter von Selbst und Welt, geliebt und als Kind seines himmlischen Vaters weiß, der ihn in allem äußeren Übel, das ihn betrifft, ja selbst unter den Bedingungen innerer Verkehrung seiner kreatürlichen Bestimmung, in der Schuld der Sünde, nicht verlässt. So verheißt es in der Kraft des göttlichen Geistes das Evangelium Jesu Christi, des für uns gekreuzigten und auferstandenen
Erweiterte Fassung eines Kurzvortrags anlässlich eines Streitgesprächs mit Volker Gerhardt im Rahmen eines Kolloquiums zum Thema der Willensfreiheit in der Münchener Hochschule für Philosophie am 24./25. 11. 2017.
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Gunther Wenz
Heilands. Im Vertrauen auf ihn können uns Tod und Hölle nicht schrecken. »Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?« (1. Kor 15,55) Wie der Apostel Paulus sagt: »Ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.« (Röm 8,38) Aus dieser in Gott gegründeten und durch seine Offenbarung in Jesus Christus durch Wort und Sakrament im Heiligen Geist erschlossene Gewissheit lebt evangelischer, lebt der christliche Glaube. Sie ist in der reformatorischen Rechtfertigungslehre bündig umschrieben worden, nicht um die Kirche zu spalten, sondern um sie in Theorie und Praxis von innen heraus zu reformieren. Die ursprüngliche Einsicht der Reformation hat sich in Luthers Schrift von 1520 über die christliche Freiheit früh schon klassischen Ausdruck verschafft. Trotz Tod und Teufel, Übel und Bosheit, Krankheit, Grab und höllischer Abgründe darf der Mensch darauf vertrauen, um Christi willen von Gott gratis, sola gratia, aus bedingungsloser und unbedingter Gnadenliebe angenommen zu sein. Der Sorge ums eigene Seelenheil durch Glauben von Grund auf ledig, ist der Christenmensch frei zu fürsorglichen Werken der Liebe sich selbst und anderen gegenüber. Aus dieser ursprünglichen Einsicht heraus argumentiert »De libertate Christiana«, und diese Einsicht steht auch hinter der Streitschrift »De servo arbitrio« (WA 18, 600–787) von 1525, mit der Luther gegen den Humanistenfürsten Erasmus von Rotterdam und dessen Verständnis von der Freiheit des Willens (De libero arbitrio diatribe sive collatio, 1524) polemisiert. Luthers antierasmische These vom geknechteten und unfreien Willen bildet keinen Widerspruch zur Rede von der Freiheit eines Christenmenschen, sondern ergibt sich im Gegenteil konsequent aus ihr. Die Frage, ob der Wille etwas vermag in den Dingen, die sich auf das ewige Heil beziehen (Ia 8: »pertinent ad aeternam salutem«), hatte Erasmus zunächst als überflüssige Spekulation abgetan, dann aber doch bejaht, wobei er den freien Willen explizit als eine Kraft aufgefasst haben wollte, durch die sich der Mensch dem zuwenden, was zum ewigen Heil führt, oder sich davon abkehren könnte (Ib 10: »liberum arbitrium hoc loco sentimus vim humanae voluntatis, qua se possit homo applicare ad ea, quae perducunt ad aeternam salutem, aut ab iisdem avertere«). Luther ließ sich diese Auffassung ebenso 38 https://doi.org/10.5771/9783495823668 .
Contra liberum arbitrium pro libertate Christiana
wenig gefallen wie das Bestreben des Erasmus, einen vermeintlich goldenen theologischen Mittelweg zu beschreiten und der göttlichen Gnade in Heilsangelegenheiten sehr viel und dem menschlichen Willensvermögen nur ein ganz klein wenig zuzuschreiben: »Nec patimur neque recipimus mediocritatem illam« (WA 18, 755, 27). Das liberum arbitrium vermöge in Bezug auf das ewige Heil nicht nur nicht viel, sondern gar nichts, da die Gnade Gottes alles in allem wirke. Mit seiner These einer Allwirksamkeit und vollkommenen Suffizienz der göttlichen Gnade und seiner Abweisung des erasmischen Versuchs, in soteriologischer Hinsicht ein maßvolles Urteil zu suchen (IV, 1: »aliquam sententiae moderationem querere«), fand Luther beim Humanistenfürsten kein Gehör, weil sie gemäß dessen Auffassung christliche praxis pietatis und ihre Moral völlig zu unterminieren schien. Wenn behauptet werde, dass Gottes Gnade alles tue, müsse die verbindliche Forderung guter Werke den Menschen gegenüber zwangsläufig Schaden nehmen. Er, Erasmus, könne nicht sehen, auf welche Weise sich die Frage der Gottesgerechtigkeit lösen lasse, wenn die Freiheit des Willens (IV, 7: »libertas arbitrii«) untergraben bzw. ganz beseitigt werde und die Rechtfertigung des Menschen ohne seine Mitwirkung am Guten allein der göttlichen Barmherzigkeit anheimgestellt werde. Zwar gebe er mit weiten Teilen der scholastischen Tradition zu, dass der Anfang des Prozesses gottmenschlicher Versöhnung gänzlich der Gnade zuzuschreiben sei und dass diese im Verlauf des Heilsvorganges stets die »causa principalis« (IV, 8) bleibe. Als Zweitursache aber seien der Wille und seine Mitwirkung am Heilsprozess unentbehrlich, weil dieser ansonsten zu keinem heiligen Ende führe. Zwar vermöge der menschliche Wille ohne Gnade nichts; aber diese sei nicht anders als nur zusammen und in Kooperation mit ihm wirksam. Luther lehnte das additive Modell gottmenschlicher Versöhnung, das dem erasmischen Kooperationsgedanken zugrunde lag, entschieden ab, nicht ohne zugleich einige terminologische Klarstellungen vorzunehmen. Wollen heißt, auf etwas aus zu sein. Auch der Trieb ist auf etwas aus, aber auf, wie sein Name sagt, triebhafte, nicht auf willentliche Weise. Was Wille heißt, ist also vom bloßen Naturtrieb zwar möglicherweise nicht strikt zu trennen, aber doch sorgsam zu unterscheiden. Luther hat diese Unterscheidung in wünschenswerter Klarheit vollzogen. Ihm einen naturkausalen Determinismus zu unterstellen, läuft auf ein eklatantes Missverständnis hinaus. Die These, dass alles in Gottes Vermögen gestellt sei, dessen Wirken 39 https://doi.org/10.5771/9783495823668 .
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Selbst und Welt begründe und erhalte, schließt menschliche Spontaneität keineswegs aus und hat mitnichten die Annahme zur Folge, menschliches Denken und Tun geschehe im Grunde in willenloser Zwangsläufigkeit. Wie über Bewusstsein und Verstand, so verfügt der Mensch nach Luther auch über einen Willen, der bewusste und verständige Entscheidungen zwischen bestehenden Alternativen zu treffen vermag, jedenfalls dann, wenn diese endlicher Natur sind. In Bezug auf endliche Zwecke und Handlungsziele leugnet der Reformator ein liberum arbitrium nicht nur nicht, sondern setzt es als zur menschlichen Geschöpflichkeit gehörig ebenso voraus wie den Unterschied des Menschengeschöpfs von der extrahumanen Kreatur: »neque enim pro anseribus (ut dicitur) coelum creavit.« (WA 18, 636, 21 f.) In Bezug auf Gott hingegen wird ein wählender Wille des Menschen in Abrede gestellt, ja mehr noch: Luther behauptet, dass das Insistieren auf einem liberum arbitrium, auf einem wählenden Willen arbiträrer Entscheidungsfreiheit Gott gegenüber grundverkehrt, ja der Abgrund aller Verkehrtheit, die Ursünde selbst sei, welche schiere Willkür im Denken und Handeln zur zwangsläufigen Folge habe. Unser alltäglicher Gebrauch des Willkürbegriffs ist, wenn man so will, von Willkür nicht frei und jedenfalls uneindeutig. Gelegentlich und nicht von ungefähr verwenden wir ihn, wenn wir etwas bezeichnen wollen, was nach unserem Urteil nicht mit Notwendigkeit, sondern eher zufällig geschieht. Wir sprechen von Willkürlichkeit aber auch und vor allem dann, wenn wir einen Gedanken oder eine Tat als unbegründet und grundlos bezeichnen. Es ist uns mithin von Hause aus keineswegs fremd, den Begriff des Willens nicht nur von demjenigen des Unwillkürlichen, sondern auch vom Willkürbegriff zu unterscheiden und einen willkürlichen Willensentschluss, so entschieden er auch sein mag, als unvernünftig, ja als vernunftwidrig zu bezeichnen. Ein Wille bedarf also offenbar, um recht zu sein und Rechtes wirken zu können, eines Grundes und der Begründung. Was aber ist der Grund nicht nur des jeweils Gewollten, sondern des Willens überhaupt, nämlich des Willens selbst? Just so lautet die Schlüsselfrage von Luthers Schrift, die er als Theologe beantwortet, ohne dass diese Antwort philosophisch unbedeutsam wäre; jedenfalls will sie auch von der Philosophie ernst genommen und bedacht sein. Grund des Willens und seiner Freiheit, die mit Willkür und arbiträrem Entscheidungsvermögen vorweg gleichzusetzen schon aus terminologischen Gründen willkürlich, ja abwegig wäre, kann nach 40 https://doi.org/10.5771/9783495823668 .
Contra liberum arbitrium pro libertate Christiana
Luther nichts in der Welt, ja nicht einmal die Summe alles Weltlichen sein, wenn sie sich denn realiter ziehen ließe. Aus keinem Seienden und keinem Seinszusammenhang heraus kann die menschliche Willensfreiheit begründet werden. Sie reduktionistisch zu einem Epiphänomen vorgegebener Sachverhalte erklären zu wollen, ist nach Luther irrig und irreführend. Von nichts in der Welt ist der Mensch, solange er Mensch ist, gänzlich abhängig, keinem und niemandem gegenüber je völlig unfrei. Indes ist seine Freiheit und die seines Willens in der Welt auch nie vollkommen frei, sondern stets in unterschiedlichen und wechselnden Gemengelagen mit Abhängigkeiten verbunden. Um ein elementares Beispiel zu geben: Die schiere Faktizität unseres Daseins stand nie und wird nie zur Disposition unseres Willens und der Freiheit seiner Entscheidungen stehen. Wir hatten prinzipiell nicht die Wahl, auf die Welt zu kommen oder es bleiben zu lassen. Wir sind alternativlos da, ob wir wollen oder nicht. Selbst für den Fall, den Gott verhüten möge, dass wir unserem Dasein willentlich ein vorzeitiges Ende setzten, wäre doch die Faktizität desselben nicht rückgängig gemacht. Heißt das, dass unsere Existenz letzten Endes und von Anfang an determiniert und naturkausal vorherbestimmt ist? Mitnichten: Wir können uns ja frei und willentlich verhalten und zwar auch zu uns selbst. Behauptet ist allerdings, dass sich unsere Willensfreiheit in Bezug auf die Welt und auf uns selbst stets als relativ, nie als absolut darstellt. Aber strebt unser Wille nicht gerade nach einer unbedingten Freiheit? Ja, so ist es, und es wäre wider die Natur des Menschen, dies zu leugnen. Der vernunft- und willensbegabte Mensch ist darauf angelegt, auf Unbedingtes aus zu sein. Wo aber findet er den unbedingten Grund seiner selbst und seiner Welt, nach dem er strebt, um wahrhaft frei zu sein? Luthers Antwort: In Gott und in Gott allein. Nur in und durch Gott ist der Mensch frei und zwar unbedingt. Sucht er den Grund seiner Freiheit hingegen in etwas Weltlichem, oder, weil er ihn dort im Ernst nicht zu finden vermag, unmittelbar in sich, um seiner Freiheit die Gestalt vermittlungsloser Selbstbegründung und Selbstbehauptung zu geben, dann verkehrt sich diese in sich, um zur Unfreiheit, ja zu einer in sich widrigen Willkür zu werden, die – dem Abgrund ihrer selbst verfallen – alles ins Nichts zu reißen droht. Was ist Sünde? Luther antwortet: Selbstverkehrte Freiheit eines Willens, der sich unmittelbar in sich selbst zu gründen sucht und damit zu einer Willkür entartet, die zwangsläufig fatale Konsequenzen für sich und alle Kreatur zeitigt. Der Wille unmittelbarer Selbst41 https://doi.org/10.5771/9783495823668 .
Gunther Wenz
begründung und Selbstbehauptung, der Freiheit vermittlungslos für sich selbst reklamiert, ist der ebenso gott- wie menschenwidrige, der böse Wille, dessen Bosheit das übelste aller Übel ist. Ihn sieht Martin Luther bereits dort wirksam, wo der Mensch Gott gegenüber ein liberum arbitrium beansprucht und sich in Bezug auf den fundierenden und erhaltenden Grund von Selbst und Welt in ein Verhältnis der Wahl setzt, die zur vermeintlichen Disposition seiner Entscheidung steht. Aus dieser Überzeugung erklärt sich die schneidende Schärfe seiner Polemik gegenüber Erasmus. Sie muss und soll in ihrem gelegentlich grobianischen Stil nicht beibehalten werden; der sachliche Anspruch aber, der hinter ihr steht, darf nicht preisgegeben werden. Der Reformator, noch einmal, stellt ein menschliches liberum arbitrium nicht abstrakt, wohl aber im konkreten Hinblick auf das Gottesverhältnis des Menschen in Abrede, weil die menschliche Behauptung eines arbiträren Wahlvermögens Gott gegenüber gemäß seiner Überzeugung als gottlos bzw. als ein Indiz kreatürlicher Selbstvergottung beurteilt werden muss. Im theologischen Kontext sollte daher die Rede von menschlicher Willensfreiheit entweder ganz aufgegeben oder präzise so verwendet werden, dass dem Menschen ein freies Willensvermögen nicht im Blick auf eine ihm übergeordnete, sondern nur im Blick auf eine ihm untergeordnete Sache zugestanden werde (WA 18, 638, 6: »non respectu superioris, sed tantum inferioris … rei«). In Bezug auf das Heil vor Gott vermöge der menschliche Wille schlechterdings nichts, und wenn er in dieser Hinsicht etwas zu vermögen beanspruche, gerate ihm dies zum Unheil und nicht zum Heil. Mit der Titelthese von Luthers Schrift ist nicht die Annahme verbunden, Gottes Gnade wirke auf den Menschen wie der Keil auf den Klotz. Eine menschliche Empfangsfähigkeit für die Gnade oder, wie die Scholastiker es nennen, eine dispositive Qualität oder eine passive Eignung (WA 18, 636, 19 f.: »seu ut Sophistae loquntur dispositivam qualitatem et passivam aptitudinem«) lehrt auch Luther, ohne dass dadurch die Reinheit, das mere passive menschlichen Gnadenempfangs auch nur im Geringsten eingeschränkt würde. Kommt doch der Mensch im Gnadengeschehen gerade dadurch zu sich und zur Realität seiner Freiheit, dass er in der Unmittelbarkeit seiner selbst und seines Autonomiestrebens entnommen ist. Recht geredet ist es demnach, wenn die Kraft des freien Willensvermögens als eine solche bezeichnet wird, durch die der Mensch in der Lage ist, durch den Geist hingerissen und mit der Gnade Gottes erfüllt zu werden 42 https://doi.org/10.5771/9783495823668 .
Contra liberum arbitrium pro libertate Christiana
(WA 18, 636, 17: »qua homo aptus est rapi spiritu et imbui gratia Dei«). Dergestalt vom Geist der Gnade hingerissen und erfüllt, tut der menschliche Wille willig und liebend gern, was Gott will. Wird der menschliche Wille vom Teufel geritten und von diesem zu unmittelbarer Selbstbestimmung verführt, verkehrt er sich und seine gottgegebene Freiheit, um den Abgrund des Bösen zu verfallen und Übles zu wirken. Nimmt ihn dagegen Gottes Geist in Besitz, dann ist er von seinem selbstverkehrten Streben befreit zur königlichen Freiheit (WA 18, 635, 16: »regia libertas«) der Knechte Gottes, die als Knechte Herren sind, weil der Herr selbst um ihretwillen zum Knecht geworden ist. Man lese oder – besser noch – singe, um dies zu verstehen, das Weihnachtslied »Lobt Gott, ihr Christen alle gleich« (EG 27) von Nikolaus Herman, dessen fünfte Strophe im Anschluss an Luther besagt: »Er wird ein Knecht und ich ein Herr; das mag ein Wechsel sein!« Contra liberum arbitrium pro libertate Christiana: Ohne die Gnade Gottes ist das liberum arbitrium überhaupt nicht frei, sondern im Gegenteil ganz vom Bösen gefangen, das es knechtet (WA 18, 636, 5 f.: »liberum arbitrium sine gratia Dei prorsus non liberum, sed immutabiliter captivum et servum esse mali, cum non possit vertere se solo ad bonum«). Allein aus sich heraus kann sich der menschliche Wille nicht zum Guten bekehren; er verkehrt sich vielmehr bei diesem Unterfangen immer mehr, um der Bodenlosigkeit seines eigenen Abgrunds zu verfallen. Aus ihm herauszuhelfen und den menschlichen Willen von sich zu sich selbst zu befreien, vermag nur die Gnade Gottes, wie sie in Jesus Christus kraft des Heiligen Geistes gegeben ist und jedem geschenkt wird, der sie sich gefallen und sola gratia geschenkt sein lässt. Die Heilsgewissheit des Glaubens gründet nicht unmittelbar im Glaubenden selbst, sondern ist diesem kraft des Geistes des Evangeliums, das Jesus Christus in Person ist, durch Wort und Sakrament vermittelt, auf die er zeitlebens angewiesen bleibt, um nicht wieder in heillose Ungewissheit zurückzufallen. Certitudo ist in diesem Sinne von securitas sorgsam zu unterscheiden. Obwohl sie des göttlichen Heils vorbehaltlos gewiss sein darf, bleibt die certitudo in Bezug auf Selbst und Welt mit mancherlei Unwissen und Ungewissheiten verbunden. Darauf verweist Luthers Rezeption der traditionellen Unterscheidung der Lehre von den drei Lichtern, des lumen naturae, des lumen gratiae und des lumen gloriae gegen Schluss seiner Schrift (vgl. WA 18, 785, 26 ff.). Nicht nur im Lichte der Natur, auch im 43 https://doi.org/10.5771/9783495823668 .
Gunther Wenz
Lichte der Gnade bleibt manches bewegende Problem ungelöst. Erst im Lichte der Herrlichkeit wird Gott dasjenige, was in Bezug auf Selbst und Welt, aber auch in Bezug auf ihn und seine Gottheit noch verborgen ist, definitiv offenbaren und in allem, was ist, als er selbst in Erscheinung treten. Bis dorthin aber gilt der Grundsatz: »Quae supra nos, nihil ad nos.« (WA 18, 685, 6 f.) 2 Anders und mit dem Apostel zu reden: »Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit« bzw., wie Luther 2. Kor 12,9 übersetzt, »ist in den Schwachen mächtig«. Die in »De servo arbitrio« entwickelte willenstheologische Grundthese ist in einigen ihrer Aspekte gewiss auch philosophisch vertretbar, obgleich die Offenbarung Gottes in Jesus Christus, von welcher das Christentum und die christliche Theologie im Innersten leben, über alle philosophische Vernunft hinausweist, sofern von der Christusoffenbarung her Versöhnung auf Glauben hin auch demjenigen zugesprochen wird, der seine Freiheit auf grundverkehrte Weise begründet und seinen Willen zu einer Willkür verkehrt hat, die Gott zuwider ist und seinem gerechten Willen sowie aller Vernunft widerspricht. Luthers Schriften »Von der Freiheit eines Christenmenschen« und »De servo arbitrio« kommen vom Evangelium der Rechtfertigung des Sünders aus Gnade um Christi willen durch Glauben her und wollen zuletzt auf nichts anderes hinweisen als auf dieses Evangelium. In diesem Sinne – und um noch einmal mit den Worten des Apostels zu sprechen: »Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.« (Phil 4,7) 3 Vgl. Jüngel (1980), 231 f.: »nur indem der Mensch sich dem offenbaren Gott zuwendet, verehrt er den verborgenen Gott. Das Geheimnis des verborgenen Gottes respektiert der Mensch also, indem er es sich nichts angehen läßt. So und nicht anders. Läßt man es sich dennoch etwas angehen, dann bekommt man es statt mit Gott mit dem Teufel zu tun.« 3 Hilfreich für die theologische Urteilsbildung kann ein Vergleich mit der willenstheologischen Position sein, die Maximus Confessor im monenergetisch-monotheletischen Streit innerhalb der Christologie des 7. Jahrhunderts bezog. Zwar plädierte er entschieden für einen zur menschlichen Wesensnatur Jesu Christi gehörigen Willen samt einer eigendynamischen Wirktätigkeit. Doch unterschied er zwischen einem natürlichen Streben nach dem, was der Wesensbestimmung des Menschen entspricht, und einem sog. gnomischen Willen, der – arbiträr verfasst – durch Veränderlichkeit und Ambivalenz des Wollens gekennzeichnet sei. Ein liberum arbitrium dieser Art schloss Maximus in Bezug auf die menschliche Natur Jesu Christi aus, weil diese in all ihren Wirkvollzügen bestimmungsgemäß mit dem Willen Gottes konform sei. Der 2
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Contra liberum arbitrium pro libertate Christiana
Literaturverzeichnis Jüngel, Eberhard (1980): »Quae supra nos, nihil ad nos. Eine Kurzformel der Lehre vom verborgenen Gott – im Anschluss an Luther interpretiert«, in: Ernst Jüngel: Entsprechungen: Gott – Wahrheit – Mensch. Theologische Erörterungen, München, 202–251. Ohme, Heinz (2015): »Die Bedeutung der Geschichtstheologie im monenergetisch-monotheletischen Streit des 7. Jahrhunderts«, in: ZThK 112, 27–61. Wenz, Gunther (1992): »Luthers Streit mit Erasmus als Anfrage an protestantische Identität«, in: Friedrich Wilhelm Graf / Klaus Tanner: Protestantische Identität heute, Gütersloh, 135–160. – (2000): »›Dass der freie Wille nichts sei.‹ Luthers Streit mit Erasmus von Rotterdam«, in: Gunther Wenz: Lutherische Identität. Studien zum Erbe der Wittenberger Reformation, Bd. 1, Hamburg, 77–126. – (2015): Versöhnung. Soteriologische Fallstudien, Göttingen.
Mensch Jesus Christus verfügt über einen eigenen Willen, ohne dass dieser je eigenwillig entschieden und gehandelt hätte. – Zur Verbindung der Kontroverse mit der Religionspolitik des Römisch-Byzantinischen Reiches vgl. Ohme (2015); zum sachlichen Gehalt vgl. Wenz (2015), 116 ff. Ausführlich dargelegt ist die in diesem Artikel skizzierte Argumentation in meinem Beitrag: Wenz (2000); ferner: Wenz (1992).
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Extreme Theologie Luthers Angriff auf die Willenstheorie und den Gottesgedanken des Erasmus Christine Axt-Piscalar
I.
Die theologische und existenzielle Relevanz des Streits
1.
Die existenzielle Bedeutung der Lehre vom unfreien Willen und von Gottes steter Allwirksamkeit
Im Streit Martin Luthers mit Erasmus von Rotterdam geht es für Luther um den Dreh- und Angelpunkt 1 christlicher Theologie. Luther hat in einem Selbstzeugnis seine beiden Katechismen und de servo arbitrio als diejenigen seiner Schriften bezeichnet, die es allein wert seien, als sein Testamentum in Sachen christlicher Theologie bewahrt zu werden. 2 Man wird gut daran tun, diesen Interpretationshinweis ernst zu nehmen. Er stellt vor die radikale theologische Herausforderung, die mit Luthers de servo arbitrio gedanklich einhergeht. Indem Luther die Katechismen und de servo arbitrio zusammen als sein theologisches Vermächtnis versteht, macht er zugleich deutlich, dass es in de servo arbitrio nicht nur um eine theologisch gelehrte Widerlegung des großen Humanistenführers in einer für Luther zentralen theologischen Streitfrage geht. Wie die Katechismen die elementaren Grundgehalte des christlichen Glaubens in ihrer existenziellen Bedeutung für den Glaubensvollzug – für die existenzbestimmende Aneignung im Glauben – zur Entfaltung bringen, 3 so DSA, 659: »Dann lobe und preise ich dich auch deswegen außerordentlich, dass du als einziger von allen die Sache selbst angegangen bist, das heißt: den Inbegriff der Verhandlung […]. Nur du allein hast den Dreh- und Angelpunkt der Dinge gesehen und den Hauptpunkt selbst angegriffen«. Vgl. auch DSA, 347. Hier leitet Luther seine Argumentation gegen den freien Willen so ein, dass darin der Dreh- und Angelpunkt der Angelegenheiten liege. 2 WA 8, 99,7 f. (Nr. 3262). 3 Vgl. zu Charakter und Inhalt der Katechismen: Axt-Piscalar (2015a) sowie (2015b). Dass und inwiefern der Katechismus in seiner Gattung die theologischen Grundaussagen von de servo arbitrio aufgreift und umsetzt, ließe sich im Einzelnen zeigen. 1
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Extreme Theologie
ist für Luther auch die Streitfrage, die in de servo arbitrio ausgetragen wird, keine solche, die nur den reflektierenden Theologen bzw. Humanisten angeht, mithin auf einer bloß theoretischen Ebene angesiedelt ist, die den Glaubenden – das heißt seine Selbst- und Welterfahrung – nicht unmittelbar betrifft. Die von Erasmus verfolgte Argumentationsstrategie, die anstehenden Fragen in ihrem Gewicht für den Glaubensvollzug zu relativieren, weist Luther entschieden zurück. Für ihn geht es in de servo arbitrio um eine Frage, welche die Glaubensgewissheit und die Hoffnung des Glaubens angeht und die insofern zu den Grundaussagen christlicher Theologie gehört. Deshalb gibt Luther diesbezüglich nicht nach. Deshalb attackiert er Erasmus aufs Schärfste, sowohl im Blick auf dessen inhaltliche Argumentation für den freien Willen als auch hinsichtlich seiner Einstellung, eine gemäßigte und gelehrte Zurückhaltung sei in der verhandelten Sache der adäquate intellektuelle Habitus. Für das angemessene Verständnis von de servo arbitrio ist die Bedeutung, die Luther seiner Argumentation für den Glauben zumisst, entscheidend. Luther bringt damit die – auch philosophisch überzeugende – Auffassung zum Zug, dass Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis zusammengehören. Ist Glaube als derjenige Vollzug zu begreifen, der sich im Horizont eines bestimmten Gottesverständnisses für die Selbst- und Welterfahrung des Menschen eröffnet – und darin liegt der Fokus der gesamten Theologie Luthers –, dann sind seine Ausführungen in de servo arbitrio daraufhin zu lesen, welche Perspektive der Selbst- und Welterfahrung im Horizont des entfalteten Gottesgedankens sie eröffnen. Dabei geht es selbstredend nicht um diese oder jene Erfahrung, die wir mit uns selbst und der uns umgebenden Welt machen. Es geht Luther – und dies hängt unmittelbar mit dem Gedanken von Gott als Einheit gebendem Grund und Sinnziel der Welt zusammen – um eine Perspektive, welche die Selbst- und Welterfahrung des Einzelnen im Ganzen seines Lebens und auf das Ganze seines Lebens hin durchsichtig zu machen und zu tragen vermag. Von daher wird deutlich, dass in de servo arbitrio die Eschatologie als Fluchtpunkt von Luthers Argumentation zentral ist. Denn die Eschatologie entfaltet den Gedanken, dass Gottes eschatologischer Selbsterweis seine Barmherzigkeit und Gerechtigkeit und Allmacht ans Licht bringen wird, wobei es insbesondere die Gerechtigkeit ist, die angesichts von Übel und Bösem in der Welt im eschatologischen 47 https://doi.org/10.5771/9783495823668 .
Christine Axt-Piscalar
Selbsterweis Gottes auf dem Spiel steht. »[W]as glaubst du, wird geschehen, wenn das Licht des Wortes und des Glaubens weichen und die Sache selbst und die göttliche Majestät durch sich selbst offenbar wird? […] [D]as Licht der Herrlichkeit […] wird zeigen, dass Gott, dessen Urteil eben noch von einer unbegreiflichen Gerechtigkeit war, dann von einer ganz und gar gerechten und ganz offenkundigen Gerechtigkeit ist.« 4
2.
Die Vernunft des Glaubens
Dies ist eine theologische Perspektive. Und Luther macht sie als eine solche geltend. Gleichwohl verknüpft er mit seiner Argumentation in de servo arbitrio zugleich den Anspruch, die Vernunft des Glaubens, die höher als alle menschliche Vernunft, indes nicht unvernünftig ist, zur Geltung zu bringen. Auch in dieser Hinsicht ist Luthers Anspruch für de servo arbitrio ernst zu nehmen. Dies gilt im Blick auf seine Willenstheorie, von der Luther der Überzeugung ist, dass sie im Vergleich mit der des Erasmus die höherstufigere ist. Und es gilt auch im Blick auf den Gedanken der steten Allwirksamkeit Gottes, den Luther in de servo arbitrio entfaltet, indem er betont, dass, wenn wirklich Gott gedacht wird, er als alles bestimmende Wirklichkeit gedacht werden muss; ansonsten bleibe man hinter dem Anspruch des Gottesgedankens zurück. »Auch [Herrin] Vernunft und die ›Diatribe‹ gestehen zu, dass Gott alles in allem wirkt und ohne ihn nichts geschieht noch wirksam ist. Denn er ist allmächtig und das gehört zu seiner Allmacht.« 5 Diese Implikation des Gottesgedankens macht Luther zugleich als etwas geltend, das jedem Menschen unmittelbar evident ist. »Denn alle Menschen finden diesen Gedanken in ihren Herzen geschrieben und erkennen ihn an und billigen ihn (wenn auch unwillig), wenn sie hören, dass er behandelt wird. Zunächst, dass Gott allmächtig ist, nicht nur dem Vermögen, sondern auch dem Wirken nach …, sonst würde er ein lächerlicher Gott sein.« 6 Beides sind Positionen Luthers, die man selbstredend bestreiten kann. Allerdings fordern sie zu einer Bestreitung auf hohem Niveau heraus, indem Luther den Streitpunkt auf die Frage nach der an4 5 6
DSA, 655–657. DSA, 463. DSA, 489.
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gemessenen Verhältnisbestimmung von absoluter Freiheit Gottes und endlicher Freiheit des Menschen hin zuspitzt. Luther ist nicht der Meinung – auch dies ist vorweg noch festzuhalten –, dass mit der »Meisterfrage«, so Albrecht Ritschl, nach der Verhältnisbestimmung von absoluter und endlicher Freiheit bereits die Grundfrage der Gotteslehre und damit auch die Grundfrage der Selbst- und Welterkenntnis des Menschen geklärt sind. Die theologisch wie existenziell eigentlich zentrale Frage ist die, wie angesichts von Übel und Bösem in der Welt Gottes Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und stete Wirksamkeit in allem zusammengedacht werden können, ohne eines der besagten Attribute Gottes aufzugeben. Und schließlich sei auch dies noch betont: Luther ist nicht der Auffassung, dass die Vernunft von sich aus den Grundaussagen des Glaubens und der christlichen Gotteslehre zustimmen und sie reflektierend einzuholen vermag. Seine Argumentation in de servo arbitrio läuft im Kern vielmehr auf den Nachweis hinaus, dass und inwiefern die Vernunft sowie der natürliche Wille gar nicht anders können, als an den Grundannahmen des Glaubens Anstoß zu nehmen, wenn und indem sie ihren eigenen Prämissen folgen. Luther spricht in diesem Zusammenhang von den ›Paradoxa‹ des Glaubens und der christlichen Gotteslehre, die nur im Glauben ergriffen werden können. Paradoxa, an denen die Vernunft und der natürliche Wille Anstoß nehmen, ja Anstoß nehmen müssen. 7 Zu ihnen gehören insbesondere die Kreuzestheologie, die Lehre vom Deus absconditus sowie die Auffassung vom unfreien Willen.
3.
Deus revelatus und Deus absconditus
Luthers These, dass es das freie Willensvermögen des endlichen Willens nicht gibt bzw. seine These von der dem endlichen Willen unvorgreiflichen radikalen Unfreiheit des menschlichen Willens – seiner Gefangenschaft in sich selbst – sowie die in de servo arbitrio damit verknüpften Aussagen über die stete Allwirksamkeit Gottes – die semper actuositas Gottes – gehören, so betont Luther mehrfach, unDieser Grundzug von Luthers Argumentation kann in diesem Zusammenhang nicht weiter dargelegt werden. Ich bin versucht, ihn mit Kants Denken in Antinomien zu vergleichen.
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auflöslich zusammen. Sie bilden das Gegenstück zu Luthers Christologie und Rechtfertigungslehre sowie der von diesen her entwickelten Gotteslehre – der Lehre vom offenbaren Gott (Deus revelatus) – und können nur im Zusammenhang mit diesen gelesen, recht begriffen und im Glauben existenziell angeeignet werden. Dies ist eine theologisch und hermeneutisch grundlegende Einsicht, die für die Interpretation von de servo arbitrio zum Zuge zu bringen ist, um Einseitigkeiten in der Rezeption zu vermeiden. Wir können die Implikationen für die Gotteslehre in unserem Zusammenhang nicht genauer ausführen. Der Fokus sei jedoch angedeutet. Es geht im Kern um die Verhältnisbestimmung von Deus revelatus und Deus absconditus: einerseits der Gotteserfahrung und dem Gottesgedanken, die sich auf der Grundlage der Offenbarung Gottes in Jesus Christus eröffnen; und andererseits derjenigen Gotteserfahrung, die es mit dem verborgenen Gott, seinem »fremden Werk« zu tun bekommt, welches wiederum mit dem Gedanken der steten Wirksamkeit Gottes in allem verknüpft ist. In Jesus Christus hat Gott sein Wesen als Liebe definitiv offenbart. Dies ist die Grundbestimmung Gottes. Darauf verlässt der Glaube sich, und dies entfaltet die Theologie als Grundbestimmung christlicher Gotteslehre. Zugleich jedoch ist, nicht nur aus theoretischen Gründen einer angemessenen Bestimmung des Gottesgedankens als alles bestimmender Wirklichkeit, sondern vor allem aus Gründen biblischer Gotteslehre sowie aus Gründen gelebter Gotteserfahrung, an Gottes steter Allwirksamkeit festzuhalten. Für Luther ist letztere – Gottes stete Allwirksamkeit – ein Erfordernis biblischer Lehre von Gott: Der Hüter Israels schläft und schlummert nicht (vgl. Ps 121,4). Und es bildet zudem eine unveräußerliche Grundannahme des Glaubens, der darauf vertraut, dass Gott die Welt nicht sich selbst überlässt, sondern sich als ihrer mächtig erweist – sei es in diesem, sei es in einem zukünftigen Leben. Dass dies angesichts von Übel und Bösem in der Welt fraglich ist, abgrundtief fraglich ist, bildet eine Erfahrung, die gerade der Glaube in extremis durchlebt, indem auch diese Erfahrung als Erfahrung Gottes erlebt wird. Der Glaube, dem der in Jesus Christus offenbare Gott als Liebe gewiss geworden ist, bringt dieses Vertrauen und diese Gewissheit gegen den Gott auf, wie er sich in seinem fremden Werk als der verborgene an ihm und der Welt erweist: »Verbirg dein Angesicht nicht vor mir« (Ps 27,9 u. ö.). Für Luther vollzieht sich in diesem Gott gegen Gott Aufbringen die höchste Form des Glaubens, indem 50 https://doi.org/10.5771/9783495823668 .
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dieser sich gegen den verborgenen Gott an den offenbaren Gott hält und auf ihn vertraut. Wir sind hier an den Punkt gelangt, der außer in der Bibel und der in ihr bezeugten Gotteserfahrung 8 von kaum einem Theologen so eindringlich theologisch durchdacht und existenziell durchlebt worden ist wie von Luther; allenfalls Kierkegaard wäre noch zu nennen. Es ist derselbe Gott, der sich auf zweifache Weise zu erfahren gibt und erfahren wird. Luther mahnt eindringlich, sich im Leben und im Sterben an den offenbaren Gott zu halten, der sich in Jesus Christus definitiv als Liebe bestimmt hat. Und er legt die Theologie darauf fest, ihre Aussagen über Gott von der Selbstauslegung Gottes in Jesus Christus her zu entfalten, einer Selbstauslegung, die sich im Leben Jesu und durch Kreuz und Auferstehung hindurch vollzogen hat. Luther hebt jedoch zugleich die Aussage von Gottes steter Allwirksamkeit nicht auf, sondern macht sie als solche geltend, die in der theologischen Reflexion nicht aufgegeben werden kann, ohne den Gottesgedanken zu tangieren; und er macht sie als solche geltend, die eine Dimension der Glaubenserfahrung einholt, welche in diesem Leben niemals aufgehoben ist: dass Gott sich als der Verborgene, als der in seinem fremden Werk in allem Wirksame und darin abgründig Verborgene zu erfahren gibt. Die Härte dieser Auffassung liegt nicht eigentlich auf einer theoretischen, metaphysischen Ebene, vor die sich die Vernunft gestellt sieht, die sie reflexiv bearbeitet und ggf. als nicht überzeugend zurückweist. Die Härte dieser Auffassung tut sich im Eigentlichen dem Glaubenden auf, indem er an dem Gott festhält und auf ihn vertraut, der sein Angesicht verbirgt. »Wider allen Schein gestellet«, 9 mit dem Vgl. den Psalter, Hiob, die Gotteserfahrung Jesu im Garten Gethsemane (Mk 14, 32–42; Mt 26,36–46) und die letzten Worte Jesu am Kreuz nach Mk 15,34; Mt 27,45. 9 »Großer Katechismus. Auslegung zum ersten Gebot.«, in: BLSK, 570. Hier schildert Luther die Erfahrung der Glaubenden wie folgt: Ihnen scheint Gott sich zu entziehen, indem »die Gott und nicht dem Mammon [i. e. dem Geld bzw. den Gütern dieser Welt] trauen, Kümmer und Not leiden und der Teufel sich wider sie sperret und wehret, daß sie kein Geld, Gunst und Ehre, dazu kaum Leben behalten. Wiederumb, die dem Mammon dienen, haben Gewalt, Gunst, Ehre und Gut und alle Gemach fur der Welt.« Und fährt dann fort: »Wider solchen Schein gestellet« hält der Glaubende an Gott fest, dessen Worte »nicht liegen noch triegen, sondern wahr werden müssen.« Wir können ergänzen, sei es in diesem Leben oder in einem zukünftigen. Die existenzielle Grunderfahrung, die hier angesprochen ist, stellt sich ganz ähnlich für Kant auf dem Boden vernünftiger Durchklärung der ethischen Existenz des Menschen. Die Aporie, dass demjenigen, der sich an das Gute hält, Böses und Übel 8
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die Welt und der in ihr verborgen wirkende Gott ihn konfrontiert, und in den Differenzerfahrungen des eigenen Lebens, in denen Gottes Angesicht verborgen ist, hält der Glaubende – kontrafaktisch – an Gott fest. Die Alternative hieße, auch darauf reflektiert Luther, dass der Mensch den Mächten und Gewalten der Welt und sich selber überlassen wäre. Dies kann der Glaubende und kann kein Mensch wollen, so ist Luther überzeugt. Die ausgeführten Prolegomena wurden vorweggeschickt, um den theologischen Rahmen deutlich zu machen, in den die Ausführungen Luthers in de servo arbitrio einzustellen sind, wenn sie ihrer Grundintention nach verstanden werden sollen. Wir wenden uns nun Luthers Willenstheorie und seinem Angriff auf Erasmus im engeren Sinne zu.
II.
Streit im Gegensatz
Die Thesen von der unvorgreiflichen 10 radikalen Unfreiheit des natürlichen Willens und der steten Allwirksamkeit Gottes sowie der unauflösliche Zusammenhang, den Luther zwischen beidem behauptet, scheiden die Geister in radikaler Weise. Luther inszeniert den Streit zwischen sich und Erasmus als einen paradigmatischen Streit, nämlich als einen Streit zwischen einem am widerfährt, kann Kant – auf dem Boden vernunftethischer Reflexion – nicht stehen lassen. Deswegen postuliert er Gott, der für den Ausgleich von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit einsteht, sei es in diesem oder einem zukünftigen Leben. Dazu vgl. Axt-Piscalar (2006). Da im Folgenden mehrfach auf Kant Bezug genommen wird, sei vorweggeschickt: Die Verfasserin weiß um die fundamentale Metaphysikkritik Kants und auch um die Debatte, die in der Zunft insbesondere über den Stellenwert der Religionsschrift in Kants Werk geführt wird. Erste Prämisse der Interpretation im Blick auf letztere hat m. E. zu sein, dass auch der Kant der Religionsschrift den Boden seiner Kritiken nicht verlässt. Genau dann aber fallen – gerade der Theologin – die ethischen Probleme besonders auf, die Kant in der Religionsschrift bearbeitet, genauer, es fällt auf, dass und wie er sie im Ausgriff auf religiöse Theoreme bearbeitet, stärker noch formuliert: meint bearbeiten zu müssen. 10 Unvorgreiflich wird die Unfreiheit des Willens hier genannt, weil sie dem Willen nicht zur freien Disposition steht. Der Wille des natürlichen Menschen findet sich vor in einer Bestimmtheit seiner Grundrichtung, zu der er nicht im Verhältnis der freien Wahl steht.
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Evangelium ausgerichteten Theologen und den alten und neuen katholischen Scholastikern, welcher Provenienz auch immer. Er inszeniert ihn als einen paradigmatischen Streit zwischen einem am Evangelium ausgerichteten Theologen und dem philosophischen Humanismus der Verstandesreflexion, für die Erasmus exemplarisch steht. Mit Bedacht sei hier von Verstandesreflexion der Freiheit gesprochen, für die Erasmus steht, um sie zu unterscheiden von der Vernunftreflexion auf die Freiheit – wofür allen voran Kant und Schelling, nicht zu vergessen: Kierkegaard, anzuführen sind, die u. E. allesamt als Theoretiker der Krise der Freiheit, der Ambivalenz der Freiheit, der Ohnmacht der Freiheit zu begreifen sind. 11 In dieser Interpretationsperspektive – als Theoretiker der Krise und Ambivalenz der Freiheit – hat die Verfasserin sie für eine evangelische Sündenlehre fruchtbar zu machen gesucht. 12 Luther inszeniert diesen Streit zudem als einen solchen zwischen dem Glauben einerseits, der natürlichen Vernunft und dem natürlichen Willen andererseits, indem er zeigt, dass und inwiefern Vernunft und Wille des natürlichen Menschen Anstoß nehmen an den ›Paradoxa‹ des Glaubens, ja, dass sie gar nicht anders können, als daran Anstoß zu nehmen. 13 Die Neuzeit einlinig unter dem Vorzeichen eines emphatischen Freiheitsbegriffs zu begreifen, halte ich zumindest für einseitig, wenn nicht gar für verfehlt. Mit Kant (!), so meine ich, hebt mit der Reflexion auf das Freiheitsvermögen im Sinne der Selbstbestimmung zugleich die Reflexion auf die damit unweigerlich einhergehende Ambivalenz der Freiheit ein. Dies ist gegenüber einer theologischen Kritik am emphatischen Freiheitsbegriff der Neuzeit ebenso wie gegenüber entsprechenden philosophischen Deutungsversuchen, die dafür allenfalls Fichte und Nietzsche reklamieren können, festzuhalten. Vgl. dazu konzeptionell meine Habilitationsschrift: Axt-Piscalar (1996); bei den dort verhandelten theologischen Denkern stehen die philosophischen Konzeptionen von Kant, Schelling und Hegel im Hintergrund. Vgl. ferner: AxtPiscalar (2000); (2013a); (2015c). 12 Vgl. die Literaturhinweise unter Anm. 11 sowie ferner: Axt-Piscalar (2009). 13 Luther hinterfragt zumindest die gemeinphilosophische Überzeugung, wonach die Vernunft ohne weiteres aus sich selbst heraus das Gute zu erkennen vermag. Ganz dezidiert jedoch weist er die Auffassung zurück, wonach die Vernunft durch Einsicht in das Gute den Willen zum Wollen und Vollbringen des Guten zu bestimmen vermag. Der Wille ist in seiner Grundrichtung, in der er sich vorfindet, durch die Vernunft, so Luther, gerade nicht so ohne weiteres zu bestimmen und zu ändern. Dass der Wille dies und jenes wollen kann, ist damit nicht bestritten. Bestritten ist, dass der Wille die Grundrichtung seines Wollens durch Selbstbestimmung zu ändern vermag. Die Grundrichtung, in welcher der empirische Wille sich vorfindet, und die allen seinen Vollzügen, diese bestimmend, zugrunde liegt, ist böse, und es ist – mit Kant zu sprechen, auf dessen Lehre vom radikalen Bösen in der menschlichen Natur hier 11
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Und Luther inszeniert diesen Streit im Ganzen als einen solchen des radikalen Gegensatzes zueinander. Von der Feststellung eines radikalen Gegensatzes sind in der Folge dann auch die Theologen innerhalb der evangelischen Zunft betroffen, die Luthers Auffassung von der Radikalität der Unfreiheit des Willens und seiner Konzeption der steten Allwirksamkeit Gottes sowie dem systematischen Zusammenhang der Grundaussagen seiner Argumentation nicht gefolgt sind. Dies ist bereits beim späten Melanchthon der Fall, der dem freien Willensvermögen dann doch eine gewisse mitwirkende Bedeutung bei der Heilsaneignung meint zumessen zu sollen. 14 Dies ist dann vor allem im Neuprotestantismus nur beiherspielend, indes mit Tiefsinn, verwiesen sei – nicht einzusehen, wie aus einem in seinem Grund verderbten Willen durch diesen selbst, also durch Selbstbestimmung, ein guter Wille werden können soll. Dies hält Kant zumindest als die eine Seite der Aporie fest, vor die sich die praktische Vernunft durch die Faktizität des bösen Willens gestellt sieht. »Wenn der Mensch aber im Grunde seiner Maximen verderbt ist, wie ist es möglich, daß er durch eigene Kräfte diese Revolution zu Stande bringe, und von sich selbst ein guter Mensch werde?« (RibV, B 54) Von einer erforderlichen »Revolution der Denkungsart«, nicht bloß einer Reform derselben, spricht Kant, weil der Grund aller Maximen als verderbt anzusehen und mithin nicht einzusehen ist, wie aus einem verderbten Grund durch Selbstbestimmung ein guter Grund aller Maximen werden können soll. »Dieses Böse ist radikal, weil es den Grund aller Maximen verdirbt; zugleich auch, als natürlicher Hang, durch menschliche Kräfte nicht zu vertilgen, weil dieses nur durch gute Maximen geschehen könnte, welches, wenn der oberste subjektive Grund aller Maximen als verderbt vorausgesetzt wird, nicht statt finden kann« (RibV, B 35). Nun soll gar nicht bestritten werden, dass die andere Seite der Aporie lautet: »gleichwohl muß er zu überwiegen möglich sein, weil er in dem Menschen als frei handelndem Wesen angetroffen wird.« (RibV, B 35) Kant stellt dies jedoch als eine (unauflösliche?) Aporie heraus und führt sie durch die ganze Religionsschrift mit, was zumindest darauf hinzudeuten scheint, dass er sie nicht so ohne weiteres nach der Seite der dem Willen möglichen Selbstbestimmung zum Guten aufzulösen geneigt ist. Was dies für die Argumentation der Religionsschrift bedeutet, mehr noch, was dies für den Anspruch der christlichen Religion als Religion bedeutet, kann hier nicht weiterverfolgt, soll jedoch als Frageperspektive genannt sein. Vgl. dazu Axt-Piscalar (2006). Je nachdem, wie man diesbezüglich urteilt, fällt auch das Urteil über Kant als Theoretiker der Freiheit aus. Ich bin der Überzeugung, dass Kant mit der transzendentalen Freiheit zugleich die grundlegende Ambivalenz der Freiheit thematisiert; und bin auch der Überzeugung, dass er mit der Lehre vom radikalen Bösen in der menschlichen Natur nicht bloß gleichsam altersbedingt Relikte seiner religiösen Sozialisation aufarbeitet oder sie zensurbedingt bedient, sondern den Anspruch der christlichen Religion theoretisch ernst nimmt – und zwar gerade auch für die philosophische Reflexion der Freiheit. 14 Die Konkordienformel, jene Lehrgestalt des lutherischen Protestantismus, die auf
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bei A. Ritschl, E. Troeltsch, A. v. Harnack und der ihnen folgenden liberalen Theologie der Gegenwart der Fall.
III. Die humanistische und liberal-theologische Auffassung vom Willen Exemplarisch für eine ermäßigte Lehre vom unfreien Willen sei Albrecht Ritschl angeführt, auch weil seine Auffassung eine moderate, unanstößige, vor der Hand unmittelbar einleuchtende Vorstellung vom menschlichen Willen darstellt, die ihrer vermeintlichen Evidenz wegen auf wohlwollende Zustimmung rechnen darf. In seiner berüchtigten direkten Art hat Ritschl an Luthers Lehre vom unfreien Willen kritisiert, das Phänomen der Sündhaftigkeit des menschlichen Willens so zu behandeln, dass es sich zum Ziel, Verdienste des Menschen vor Gott auszuschließen, »gerade so zweckmäßig wie ein Feldstein zur Tötung einer Mücke« verhalte 15 ; damit nicht nur unverhältnismäßige Mittel zur Bekämpfung einsetze, sondern auch das Phänomen selber überdimensioniert in Anschlag bringe. Der Wille, so Ritschl, ist in seiner empirischen Entwicklung – mithin als eine werdende Größe – zu betrachten, in der er sich durch Selbstzuziehung einen bösen Charakter und mit Unterstützung der Gnade einen guten Charakter ausbildet. Anfänglich ist der menschliche Wille im Guten instabil, da ihm eine vollkommene Erkenntnis des Guten noch abgehe, insofern sei er anfällig für Affektionen durch das von außen auf ihn einwirkende Böse – etwa des familiären und gesellschaftlichen Zusammenhangs –, was im Ganzen die ›Situiertdie innerevangelischen Auseinandersetzungen reagiert und die rechtgläubigen Bestimmungen festhält für den Umgang mit aufgetretenen Differenzen in der Lehre, weist die – Melanchthon’sche – Auffassung zurück, »der Mensch habe noch etwas Guts an ihm, auch in geistlichen Sachen als nämblich Fähigkeit, Geschicklichkeit, Tüchtigkeit oder Vermögen, in geistlichen Sachen etwas anzufahen, zu wirken oder mitzuwirken.« (BSLK, 773). Diese Abgrenzung bezieht sich explizit nur auf das Willensvermögen in geistlichen Sachen. Zugleich wird mit Confessio Augustana Art. XVIII gelehrt, dass der »Mensch etlichermaß ein freien Willen hat, äußerlich ehrbar zu leben und zu wählen unter denen Dingen, so die Vernunft begreift« (BSLK, 73). Ob die Unterscheidung des Vernunft- und Willensvermögens in geistlichen und weltlichen Dingen überzeugend ist oder die Verderbtheit von Vernunft und Willen nicht doch auch auf die weltlichen Dinge durchschlägt, ist in der evangelischen Theologie strittig. Vgl. dazu die knappen Bemerkungen unter Anm. 45. 15 Ritschl (1883), 316.
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heit des Willens‹ ausmache. Der situierte Wille lässt sich jedoch prinzipiell durch sittliche Überbildung formen. Dafür sei – bei aller Sündhaftigkeit, die graduell mehr oder weniger gesteigert im Menschen vorkomme –, ein Maß an Willensfreiheit, so Ritschl, »auch noch in den Verstocktesten« anzunehmen. 16 Kurzum: Luthers Auffassung von der gänzlichen Verderbtheit des natürlichen Willens hält Ritschl für völlig überzogen. Zwar gebe es eine gewisse Neigung des natürlichen Willens zum Bösen, und es sei durchaus so, dass diese Neigung sich durch Gewohnheit verstärke und sich zu einem Hang ausbilde. Die Freiheit des Willens werde dadurch aber mitnichten gänzlich ausgelöscht. Hinzukomme – und dies trifft die oben genannte Unterscheidung und Zuordnung von Deus revelatus und Deus absconditus –, dass Luther den Gottesgedanken, den er aus der Offenbarung in Christus gewinnt und als Liebe und Erbarmen bestimmt, nicht hinreichend konsequent zum Zuge bringe, zumindest nicht so zum Zuge bringe, dass die Rede vom allwirksamen Deus absconditus durch sie gleichsam absorbiert werde und der Wille Gottes eindeutig und einzig auf seine Selbstbestimmung als Liebe festgelegt werde. 17
IV. Die Pointe von Luthers Interpretation der Willenstheorie des Erasmus: Der Angriff auf das Paradigma ursprünglicher Selbstbestimmung Luther dankt Erasmus ausdrücklich dafür, dass Erasmus mit seiner Schrift vom freien Willen auf den Dreh- und Angelpunkt theologischer Verständigung zugesteuert sei. Dies freilich so, dass Erasmus über die Tiefendimension dessen, was er sagt, indem er, Erasmus,
Vgl. Ritschl (2002), §§ 34–40. Dieser Kritikpunkt Ritschls an Luthers Lehre vom Deus revelatus und Deus absconditus ist von besonderem Gewicht und ein in der evangelischen Theologie lebhaft diskutierter. Vor allem Karl Barth hat ihn gegen Luthers vermeintliche Lehre von zwei einander entgegensetzten Willen in Gott zur Geltung gebracht und demgegenüber die Eindeutigkeit des Deus revelatus als Liebe stark gemacht. Mit ähnlich scharfer Kritik, gleichwohl ausgewogener, argumentiert in dieser Frage E. Jüngel, insofern er sieht und als berechtigtes theologisches Interesse festhält, was Luther mit den Aussagen zum Deus absconditus einholen möchte: dass Gott die Welt nicht sich selbst überlässt sowie die Erfahrung der Verborgenheit Gottes in seinem fremden Werk angesichts von Übel und Bösem in der Welt. Vgl. Jüngel (1980) und (1990).
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sagt, was er sagt, noch der eigentlichen Aufklärung bedarf. 18 Darin, diese Tiefendimension des von Erasmus Behaupteten aufzudecken, liegt das energische Movens von Luthers Argumentation. Dies zu zeigen, ist die eigentliche Pointe der hier vorgelegten Interpretation von Luthers Angriff auf Erasmus. Denn Luthers Kritik an Erasmus – was dessen Willenstheorie angeht – hat eine spezifische Zuspitzung, die Luther in eine gleichsam vorweggenommene Auseinandersetzung mit dem neuzeitlichen Willens-Paradigma, dem Paradigma ursprünglicher Selbstbestimmung, bringt. Die Pointe von Luthers Interpretation der Erasmischen Willenstheorie liegt unseres Erachtens darin, dass er deren Implikation – die Annahme einer ursprünglichen, von sich selbst anhebenden, durch sich selbst bestimmten Selbstbestimmung des Willens – freilegt. Dies ist die These der hier vorgelegten Interpretation von Luthers Kritik an Erasmus, auf deren Grundlage dann auch die Verbindung zu den neuzeitlichen und gegenwärtigen Freiheitsdebatten gezogen werden kann.
1.
Das liberum arbitrium als Indifferenzvermögen?
Freilich, Luther setzt an bei der Definition des Erasmus, das liberum arbitrium sei ein Vermögen, wählen zu können zwischen etwas und aufgrund von vernünftiger Abwägung sich für das eine »zu entscheiden« bzw. ihm »zuzustimmen« und das andere zu lassen. Dies gelte nach Erasmus prinzipiell für den Willen, sowohl im Blick auf das Angebot der Gnade als auch im Blick auf die Verlockungen des Bösen. 19 Bekanntlich entfaltet Erasmus diese Argumentation im Interesse an einer Ethik der christlichen (humanen) Lebensführung im Ausgang vom Verständnis des göttlichen Gesetzes als einem dem Menschen zum Leben gegebenen und unter der Maßgabe »du kannst, Vgl. DSA, 355, wo Luther herausstreicht, dass Erasmus »völlig unbedacht und verächtlich darüber [schreibe, die Verf.in], ohne blassen Schimmer, was du sagst oder was du behauptest«, und dies dahingehend zuspitzt: »Du sagst weniger, billigst aber gleichzeitig dem freien Willensvermögen mehr zu als alle anderen«. 19 DSA, 345, wo Luther den Anfang der Diatribe wiedergibt: »Du definierst das freie Willensvermögen folgendermaßen: ›Weiter verstehen wir unter freiem Willensvermögen an dieser Stelle die Kraft des menschlichen Willens, mit der sich der Mensch dem, was ihn zum ewigen Heil führt, zuwenden oder sich abwenden kann.‹« 18
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denn du sollst«. 20 Der gerechte Gott, so meint Erasmus, hat dem Menschen das Gesetz zur Erfüllung eines gottwohlgefälligen, humanen Lebens gegeben, und er würde es dem Menschen nicht gegeben haben, wenn dieser es nicht auch erfüllen könnte; andernfalls sei er kein gerechter Gott, sondern ein willkürlicher Tyrann; und andernfalls sei eine sittlich-religiöse Lebensführung, ausgerichtet am Guten, nicht zu begründen und schon gar nicht zu motivieren; ebenso falle die Möglichkeit der Verantwortungszuschreibung für das Tun des Bösen dahin, wenn für das Sollen nicht auch das Können vorausgesetzt werden könne. Luther attackiert Erasmus in diesem Punkt, indem er offenlegt, dass Erasmus mit demselben Modell von auf vernünftiger Abwägung beruhender Wahlfreiheit, die »zustimmt« oder »sich entscheidet für«, auch mit dem Gnadenangebot umgeht – was, nebenbei bemerkt, die Gnade vergegenständlicht und das Verhältnis von Gnade und zustimmendem Empfänger der Gnade als ein gegenständliches Relationsverhältnis vorstellt; und dies wiederum entspricht nach Luther der »Verhältnisbestimmung« von Gnade und Glauben sowie dem Charakter der Gnade nicht. Denn die Gnade ist nicht bloßes Objekt der Zustimmung, sondern konstituierender und tragender Grund der Möglichkeit des Vollzugs ihrer Aneignung. Dies sei jedoch nur nebenbei erwähnt. Es spielt allerdings durchaus hinein in die Frage
So höhnt Luther: »Wenn du wirklich glaubst, o Herrin Vernunft, dass diese Folgerungen feststehen: ›Wenn du wolltest, also kannst du frei‹ […]« (DSA, 377); vgl. DSA, 379: »Denn jene Folgerung ist nicht zuzulassen ›Wenn du wolltest, also wirst du können‹.« Es gehört demgegenüber zu einem zentralen Gedanken Luthers, dass er die Erasmische Vorstellung vom Gesetz, der zufolge es in seiner imperativischen Form – als Sollen – das Können des Willens voraussetzt, zurückweist. Für Luther dient das Gesetz nicht dazu, aus ihm auf die prinzipielle Fähigkeit des Menschen zum Tun desselben als Voraussetzung zu schließen – du kannst, denn du sollst! –, sondern dazu, die grundlegende Unfähigkeit des Willens, das Gesollte zu tun, aufzudecken. Dadurch ist das Gesetz auf das Evangelium bezogen. »Deshalb werden die Worte des Gesetzes gesagt: nicht, dass sie eine Stärke des Willens bestätigten, sondern dass sie die blinde Vernunft erleuchteten, wodurch sie sieht, wie nichtig ihr eigenes Licht ist und wie nichtig die Stärke des Willens ist. […] Der ganze Sinn und die ganze Stärke des Gesetzes liegt einzig darin, Erkenntnis, und zwar Erkenntnis nur der Sünde, zu verleihen, nicht aber darin, irgendeine Stärke zu zeigen oder zu verleihen.« (DSA, 385) Vgl. ferner DSA, 391. Erasmus hingegen, so interpretiert Luther, setzt voraus, dass »das freie Willensvermögen das, was gesagt und vorgeschrieben wird, aus sich allein heraus vermag« (DSA, 389), so, als ob »sofort, wenn etwas befohlen ist, es auch notwendig getan oder zu tun möglich ist« (DSA, 385). 20
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der angemessenen Verhältnisbestimmung von absoluter Freiheit Gottes und endlichem Willen. Die Auffassung einer bloßen Wahlfreiheit ist, so Luther weiter, zudem eine Unterbestimmung dessen, was Erasmus mit seiner Behauptung einer Wahlfreiheit faktisch in Anschlag zu bringen meint. Denn, um diese behaupten zu können, geht Erasmus, so Luther, von einem Indifferenzvermögen aus, 21 einem durch nichts bestimmten Vermögen des Willens, von dem der Wille anhebt und auf das der Wille offenbar auch immer wieder zurückkommen kann. »Aber hier träumt vielleicht die ›Diatribe‹ sich etwas zurecht: Es sei zwischen diesen beiden – das Gute wollen zu können und das Gute nicht wollen zu können – ein Neutrales gegeben. Und das soll sein: ein absolutes Wollen, das weder einen Bezug zum Guten noch zum Bösen hat.« 22 So versteht Luther die Position des Erasmus. Die Beantwortung der Frage, ob sie dieser entspricht und am Erasmischen Text entsprechend nachgewiesen werden kann, lassen wir für unseren Zusammenhang außen vor. Luther jedenfalls interpretiert die Position des Erasmus in dieser Zuspitzung. Und dadurch nimmt er gleichsam die neuzeitliche Willenstheorie mit ihrer Vorstellung von einer ursprünglichen Selbstbestimmung des Willens vorweg. Darauf zielen unsere Ausführungen. Die Annahme eines solchen Indifferenzvermögens ist für Luther in mehrfacher Hinsicht nicht überzeugend bzw. hochproblematisch. Zum einen ist ein dem Guten gegenüber indifferentes Vermögen kein gutes, vielmehr bereits ein böses Vermögen. Gegenüber dem Guten kann es nur die Entschiedenheit im Guten geben. 23 Ein Vermögen, sich dem Guten gegenüber in der Indifferenz zu halten, ist daher per se kein gutes, sondern ein bereits böses Willensvermögen. Im Blick auf das Gute kommt es auf jene Entschiedenheit im und zum Guten Vgl. DSA, 349: »Wir wollen uns also vorstellen, jene Kraft sei in gewisser Hinsicht ein Mittelding zwischen dem Willen selbst und seiner Handlung, durch die der Wille selbst die Handlung des Wollens und Nichtwollens hervorbringt und durch die also die Handlung des Wollens und Nichtwollens hervorgebracht wird.« 22 DSA, 363. Hier sei eigens die Formulierung im lateinischen Text wiedergegeben, wo Luther von einem »purum et merum velle« spricht, das Erasmus voraussetze. 23 Vgl. DSA, 365: »Weiter ist das eine bloße dialektische Erfindung, es gebe im Menschen ein neutrales und schlichtes Wollen, und diejenigen, die das als Wahrheit behaupten, können es nicht beweisen. […] Es verhält sich aber vielmehr so, wie Christus sagt: ›Wer nicht mit mir ist, ist gegen mich‹. Er sagt nicht: ›Wer nicht mit mir ist, ist auch nicht gegen mich‹, sondern neutral.« 21
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an, die – philosophisch gesprochen – als Übereinstimmung von Freiheit und Notwendigkeit zu denken ist. Die Annahme eines vermeintlichen Indifferenzvermögens, das gleichsam als ein ruhendes neutrales Vermögen gedacht wird, unterbietet, so Luther, zudem eine angemessene Willenstheorie: Denn der Wille ist Wille, indem er will, also indem er in Vollzug ist; und er ist laut Luther ständig in Vollzug, niemals ruhend. Die Vorstellung eines ruhenden Vermögens der Indifferenz ist ein unterstufiger Willensbegriff, ja gar kein Begriff von Willen, der nach Luthers Auffassung eben Wille ist, indem er will. »Was ist eine unwirksame Kraft anderes als gar keine Kraft? Daher: Zu sagen, es gebe ein freies Willensvermögen und es habe zwar Kraft, aber eine unwirksame, das ist […] ein Widerspruch in sich selbst.« 24 Und als ein solcher in Vollzug seiender Wille findet sich der Wille immer schon vor. Ist die Vorstellung des Willens als eines ruhenden Vermögens selbstwidersprüchlich, so ist die Vorstellung ursprünglicher Selbstbestimmung in Widerstreit mit der kreatürlich-abhängigen Existenz des Menschen. Ein ursprüngliches Von-sich-selbst-Anfangen und Sich-allein-durch-sich-selbst-Bestimmen kann für den endlichen, geschöpflichen Willen nicht gedacht und zugegeben werden. Zugleich geht Luther davon aus, dass eine ursprüngliche, durch nichts außer durch sich selbst bestimmte Selbstbestimmung – eine schöpferische Selbstbestimmung ex nihilo – im Vollsinn den Begriff des freien Willens ausmacht. Damit ist gesagt, dass ein in diesem Sinn freier Wille nur Gott beigelegt werden kann. Deshalb sagt Luther, dass der freie Wille – in genau dieser Bestimmung – allein ein göttlicher Name sei. »Jetzt folgt, dass das freie Willensvermögen vollständig ein göttlicher Titel ist und niemandem zustehen kann als allein der göttlichen Majestät«. 25 Dies leitet zum nächsten und zentralen Aspekt von Luthers Kritik an Erasmus über.
2.
Luthers Zuspitzung: Die faktische Voraussetzung ursprünglicher Selbstbestimmung bei Erasmus
Die eigentliche Pointe von Luthers Kritik an Erasmus läuft somit auf den Nachweis hinaus, dass Erasmus eine Auffassung vom freien Wil24 25
DSA, 293. DSA, 295.
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len vertritt bzw. unbewusst voraussetzt bzw. für seine Behauptungen voraussetzen muss, der zufolge der Wille sich aus einer gänzlichen Unbestimmtheit heraus selber zu bestimmen vermag; mithin aus sich selbst heraus sich selbst ursprünglich zu bestimmen vermag, und zwar sowohl gegenüber dem Guten als auch gegenüber dem Bösen. Diese Vorstellung, die Erasmus faktisch zugrunde lege, ist, so Luther, eine ungeheuerliche Neuerung, die kein Pelagianer vor Erasmus und auch kein Scholastiker neben ihm je so behauptet habe. Hierdurch »übertrifft er [i. e. Erasmus, die Verf.in] auch noch die Philosophen. Bei denen ist nämlich noch nicht ausgemacht, ob etwas sich selbst bewegen kann. […] Bei Erasmus aber bewegt sich das freie Willensvermögen nicht nur aus eigener Kraft. Darüber hinaus wendet es sich sogar dem zu, was ewig, das heißt, ihm unbegreiflich ist – damit bietet Erasmus eine ganz neue und nie gehörte Bestimmung des freien Willensvermögens und lässt Philosophen, Pelagianer, Sophisten und alle weit hinter sich.« 26 In der Folge hebt Luther dieses »aus eigener Kraft« penetrant als die Meinung des Erasmus hervor. Erasmus billige dem Willensvermögen zu, »aus eigener Kraft […] sich sowohl zum Guten hin als auch von ihm abzuwenden«. Und Luther weiter: »Du denkst gar nicht daran, wie viel du ihm mit diesem Fürwort ›sich‹ oder ›sich selbst‹ zubilligst, wenn du sagst, es könne sich hinwenden«. 27 Die Vorstellung eines ursprünglichen, von sich selbst anfangenden, sich selbst Bestimmens des Willens, die für die Behauptung eines Indifferenzvermögens, wie es Erasmus vertritt, faktisch zu veranschlagen ist, verwirft Luther als eine Vorstellung, die mit dem Gottesgedanken schlechterdings nicht in Übereinstimmung gebracht werden kann, ja ihm geradewegs widerspricht. Sie widerspricht dem Gottesgedanken, insofern mit einem ursprünglich durch sich selbst anfangenden und sich selbst bestimmenden Vermögen ein schlechthinniges Außerhalb Gottes, ein Außerhalb der Allwirksamkeit Gottes, behauptet wird. 28 Und dies kann Luther – DSA, 353. In diesem Zusammenhang fällt dann auch Luthers Kritik, dass damit die Gnade im Grunde genommen nur als äußerliche Hilfe und nicht als Konstitutionsgrund christlicher Freiheit begriffen werde. »Ebenso verdrängen sie [i. e. die Gegner, die Verf.in] die Wiedergeburt und die Erneuerung des Geistes und dichten ihm gleichsam äußerlich jene fremde Hilfe an.« DSA, 357. 27 DSA, 355. 28 Von dieser Seite her wird erneut deutlich, dass die Lehre vom unfreien Willen und 26
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um des Gottesgedankens willen 29 – nicht zugeben. Die stete Allwirksamkeit Gottes – die semper actuositas Dei – gehört zur Gottheit Gottes. Sie kann, so Luther, nicht aufgegeben, sie kann nicht zurückgenommen, sie kann auch nicht momentan ausgesetzt werden: sonst gäbe Gott seine Gottheit auf. »Allmacht Gottes aber nenne ich nicht die Macht, mit der er vieles nicht tut, was er kann, sondern jene wirksame, mit der er machtvoll alles in allem tut. Auf diese Weise nennt die Schrift ihn allmächtig.« 30 Ein Gott, der seine wirksame Gegenwart in allem, was geschieht, aufgäbe, wäre ein lächerliches Etwas, ein, wie Luther höhnt, schlafender und schnarchender Gott, der den Weltenlauf sich selbst überlässt; ein Gott, der, so Luthers Spott, während der Weltenlauf seinen Gang nimmt, sich mal eben zum Gastmahl nach Äthiopien verabschiedet, 31 will heißen: seine bei sich selbst bleibende Selbstgenügsamkeit genießt und interesselos die Welt Welt sein lässt. »Einen solchen Gott, nämlich der schläft und zulässt, […] zeichnet uns auch Aristoteles. Und [Herrin] Vernunft kann nicht anders über ihn urteilen, als es hier die ›Diatribe‹ [des Erasmus, die Verf.in] tut. So wie sie nämlich schnarcht und die göttlichen Angelegenheiten verachtet, so urteilt sie auch von Gott: als ob er schnarcht«. 32 Ein solcher Gottesgedanke ist alles andere, bloß kein Gottesgedanke, so Luther. Es ist weder ein Gottesgedanke, welcher der Vernunft standhält, insofern diese Gott als alles bestimmende Wirklichkeit zu denken hat, will sie dem mit dem Gottesgedanken implizierten Anspruch gedanklich nachkommen. Und schon gar nicht hält er dem theologischen Gottesgedanken stand. »Der Hüter Israels schläft und schlummert nicht« (Ps 121,4). Die dynamische stete Allwirksamkeit – nicht Alleinwirksamkeit! 33 – Gottes, durch die Gott allem gegenwärtig ist und in seiner wirksamen Dynamik alles bestimmt, kann, wenn man dem biblischen Gottesgedanken anhängt, nicht ermäßigt werdie Allwirksamkeit Gottes zusammenhängen. Luther wirft Erasmus folglich vor, den endlichen Willen zu einem göttlichen zu erklären. Vgl. DSA, 353: »Denn was kann irgendwo unterhalb, oberhalb, innerhalb, außerhalb von Wort und Werk Gottes sein? Doch nur Gott selbst. Was aber bleibt hier für die Gnade und den Heiligen Geist? Das heißt nicht anderes, als dem freien Willensvermögen Göttlichkeit zuzubilligen.« 29 Siehe dazu oben S. 48 sowie S. 49–52. 30 DSA, 487. 31 Vgl. DSA, 457; hier fällt zugleich zweimal die Formulierung, die Folge dieser Auffassung sei: dass Gott Heil und Unheil der Welt »den Menschen überlässt«. 32 DSA, 457. 33 Siehe unten S. 68 f.
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den. Und es ist, so Luther weiter, eine schlechterdings unabdingbare Annahme 34 der Glaubenszuversicht, dass Gott die Welt nicht sich selbst überlässt.
3.
Keine gänzliche Selbständigkeit der Welt
Luther erteilt insofern im Vorhinein all jenen Konzeptionen gegenwärtiger Theologie und Philosophie eine Absage, die Gott als den in der Welt allgegenwärtig Handelnden verabschieden zugunsten der Auffassung einer gänzlichen Entäußerung Gottes an die Versöhnungsvollzüge durch die Menschen bzw. die Menschheit; wie es etwa bei Hans Jonas im Zuge der Reflexion auf den Gottesgedanken nach Auschwitz 35 und in Teilen der linken Bultmannschule, so bei Herbert Braun und Dorothee Sölle, der Fall ist; und wie es als Konsequenz auch in der Fluchtlinie von Falk Wagners späten Reflexionen liegt, in denen Wagner aus dem, wie er meint, Scheitern des Gottesgedankens diese Konsequenz zieht. 36 Gott aus der Welt zu verabschieden, ist für Luther eine Zumutung an den Wahrheitsanspruch des biblischen Gottesgedankens; und es ist ebenso eine Zumutung für das religiöse Bewusstsein, das gerade im Vertrauen auf den biblischen Gott die Differenzerfahrungen des Lebens zu bewältigen versucht. Luther insistiert mit der ihm eigenen Penetranz darauf: An der Aussage, dass Gott in allem wirkt, muss der Theologie und dem Glauben schlechthin gelegen sein. Den Lauf der Welt nicht vom allgegenwärtigen Handeln Gottes her, sondern als einen Gott gegenüber gänzlich autonomen Handlungs- und Ereigniszusammenhang zu Das eigentliche Fundament der Gotteslehre liegt hingegen in der Offenbarung Gottes in Jesus Christus und damit in der Bestimmung Gottes als Liebe. 35 Jonas (1998). 36 Falk Wagners Theo-logie sei eigens erwähnt, weil er auf der Grundlage der Hegel’schen Philosophie eine vernunft-logische Entfaltung des Gedankens des Absoluten anstrebt mit dem Ziel, das selbständige Andere aus dem Absoluten begründen zu können. Dafür reformuliert er die christliche Kreuzestheologie und Trinitätslehre, in der er – mit Recht – den Gedanken unmittelbarer Selbstbestimmung des Absoluten aufgehoben sieht. Der späte Wagner überführt diese Konzeption freilich in die u. E. problematische, weil einseitige Auffassung der Realisierung dessen, was ›Gott‹ meint, durch die Anerkennungsvollzüge endlicher Subjekte (und Institutionen). Zu letzterem vgl. Wagner (2014). Zu Wagners Programm einer Theorie des Absoluten vgl. auch Axt-Piscalar (2015d) sowie die dort gegebenen Verweise auf die entsprechenden Texte Wagners. Vgl. nun auch die Dissertation Schnurrenberger (2017). 34
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denken, verletzt den Gottesgedanken und macht Gott zu einem mehr oder weniger ohnmächtigen Zuschauer. Die Radikalität, mit der Luther auf diesem Gedanken insistiert, und die Radikalität der damit gesetzten Implikationen gehören zweifellos zu dem Herausforderndsten an Luthers Konzeption in de servo arbitrio. Das weiß Luther selbst. Er stellt die Theologie und Philosophie indes bleibend vor die Frage, ob es nicht unveräußerlich zum Gottesgedanken gehört, Gottes stete Allwirksamkeit und Allgegenwart zu denken. Dieser Gottesgedanke ist theologisch angemessen nur erfasst, wenn er nicht isoliert, sondern aufgrund der Selbstbestimmung Gottes als Liebe in seiner Offenbarung am Kreuz gedacht und zugleich in die eschatologische Perspektive gerückt wird. Das fremde Werk seiner allwirksamen Gegenwart, in der die Liebe Gottes verborgen ist, lässt sich begreifen und existenziell aushalten nur im Glauben und der Vernunft des Glaubens, indem der Glaube auf die Selbstbestimmung der Liebe Gottes in Jesus Christus vertraut und auf den alles erhellenden Erweis seiner Liebe und seiner Gerechtigkeit im Eschaton hofft und ausgerichtet ist. Wir betonen noch einmal: Ein schlechthinniges Außerhalb der göttlichen Allwirksamkeit kann es für Luther nicht geben. Dass er gleichwohl das Geschöpf vom Schöpfer unterscheidet und auf der Basis geschöpflicher Unterschiedenheit von Schöpfer und Geschöpf auch von einem cooperari des Geschöpfs im Vollzugsgeschehen der Allwirksamkeit Gottes spricht, ist zugleich festgehalten. Damit ist eine relative Selbständigkeit des Geschöpfs anerkannt 37 und Luthers
In diesen Zusammenhang gehören Luthers Aussagen, dass der Wille nicht gezwungen wird; ein gezwungener Wille ist ein Widerspruch in sich selbst. Vgl. DSA, 289 f. In diesen Zusammenhang gehören zudem Luthers Aussagen, dass Gott im Menschen wirkt, indes nicht ohne ihn, »dass er nicht in uns wirkt ohne uns«; dies gilt sowohl im Blick auf den bösen Willen, insofern er als solcher überhaupt nur ist, indem er von Gott erhalten wird, und es gilt auch im Blick auf den im Geist erneuerten Willen. Gott wirkt »nicht … ohne uns, die er eben dazu geschaffen und errettet hat, dass er in uns wirke und wir mit ihm zusammenwirken.« DSA, 573; vgl. insgesamt 571–575. In diesen Zusammenhang gehört auch Luthers Replik, er wisse, dass der Himmel nicht für die Gänse gemacht sei, dass mithin eine passive Rezeptivität des Menschen für die Gnade anzunehmen ist. Vgl. DSA, 293: »Diese Kraft nämlich, das heißt, die Befähigung oder wie die Sophisten sagen: eine dispositive Qualität oder passive Eignung, bekennen auch wir. Dass diese nicht den Bäumen und den Tieren beigelegt ist – wen gibt es, der das nicht wüsste? Denn Gott hat, wie man sagt, den Himmel nicht für Gänse geschaffen.«
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Konzeption der steten Allwirksamkeit Gottes von einer pantheistischen Auffassung unterschieden.
V.
Die Aktualität von Luthers Kardinalfrage in der gegenwärtigen theologischen Debatte um die Freiheit bzw. Unfreiheit des Willens
1.
Das Insistieren auf der formell unbedingten Freiheit
Warum haben wir auf diesem Punkt, dem Punkt der Annahme eines Vermögens des Willens, sich auf ursprüngliche Weise aus sich selbst heraus selbst bestimmen zu können, insistiert? Nun, zum einen, weil mit Luthers Kritik darauf zu reflektieren ist, dass überall dort, wo von »freier Zustimmung zu« bzw. »freier Entscheidung zu« ein solches Vermögen explizit behauptet bzw. faktisch unausgesprochen mitgeführt wird. Im zeitgenössischen theologischen Kontext wird dies gnadentheologisch insbesondere von Thomas Pröpper und seinen Schülern zur Geltung gebracht, und zwar genau in besagtem Duktus: dass es eine freie Zustimmung zur Gnade geben können muss, wenn das Subjekt im Glauben personhaft dabei sein können soll und nicht – wie es dann schroff gegen die lutherische Rechtfertigungslehre heißen kann – als Subjekt ausgeschaltet wird. Die Betonung des Momentes der freien Zustimmung zur Gnade im Gnadengeschehen sei, so wird hier des Weiteren argumentiert, spezifische Aussage des Trienter Konzils zur Sache und habe Grundaussage jeder ordentlichen genuin katholischen Gnadenlehre zu sein, die – nebenbei bemerkt – durch die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre nicht verwässert werden dürfe. Im Geltendmachen des Momentes freier Zustimmung zur Gnade oder zum Bösen liege gerade auch das modernekompatible Moment katholischer Gnadenlehre gegenüber einer an der lutherischen Radikalverderbtheit des Willens orientierten und den Glauben als mere passive, durch rein hinnehmende Passivität, konstituiert begreifenden lutherischen Theologie. Dieses Argument für die freie Zustimmung im Prozess der Gnadenaneignung speist sich wiederum aus der Argumentation für die transzendentale Freiheit, wie sie vor allem von Hermann Krings und dann von Thomas Pröpper unter Aufnahme der Fichte’schen Frei65 https://doi.org/10.5771/9783495823668 .
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heitstheorie als unabdingbar für das Selbst- und Freiheitsverständnis des modernen Menschen entfaltet wurde. Dabei verweist etwa Georg Essen 38 als Pröpper-Schüler auch auf die Tradition des Molinismus, 39 die es in der katholischen Kirche nachdrücklich zu beherzigen gelte. Jedenfalls müsse die »Ursprünglichkeit seiner, des Menschen, wählenden Freiheit« im Sinne transzendentaler Freiheit festgehalten werden. Und für Molina wird geltend gemacht: »Molina beharrte jedenfalls auf der auch für Gott unhintergehbaren Unbedingtheit der Freiheit im Glaubensakt«. 40 Damit ist Molina, so Georg Essen weiter, »wohl der erste katholische Theologe, der das neuzeitliche Bewusstsein von der formell unbedingten Freiheit innertheologisch zur Geltung brachte. Kraft des formell freien Willens des Menschen sind die humanen Akte des Glaubens freie Handlungen!« 41 Ich möchte meinen, dass Luther dies bereits gegenüber Erasmus als die von diesem vorausgesetzte Auffassung freigelegt und entsprechend kritisiert hat. Die katholische Gnadenlehre, sofern sie von einer freien Zustimmung zur Gnade spricht, scheint – darauf macht die Pröpper-Schule aufmerksam – einen durch unbedingte Freiheit bestimmten Akt vorauszusetzen, voraussetzen zu müssen. Wir nehmen dies als paradigmatisches Statement, das in der katholischen Gnaden- und Freiheitslehre mitgeführt wird, geradezu als ein Proprium derselben behauptet werden kann und in der Folge dann auch gegen Luthers Auffassung von der radikalen Unfreiheit des Willens und dem mere passive konstituierten Glauben zum Zuge gebracht wird. 42 Selbstredend gibt es auch evangelische Konzeptionen, vor allem neuprotestantischer Provenienz, die ähnlich sprechen. Es geht uns um den Grundgedanken, der hier geltend gemacht wird: dass es der freien Zustimmung zur Gnade bedarf, damit der Mensch »personal beteiligt« ist am Gnadengeschehen und verantwortbar beteiligt ist am Bösen; und dass, wenn man den freien Zustimmungsakt auf die BeEssen (2013) Dieser Verweis auf G. Essens Rückgriff auf Molina ist hier aufgenommen, weil es im Rahmen der Tagung auch um das Anliegen des Molinismus ging. 40 Essen (2013), 15. 41 Essen (2013), 15 f. 42 In die Debatte um die lutherische Lehre von der Unfreiheit des Willens hat sich auch Karl-Heinz Menke eingebracht und mit Verve für die formell unbedingte Freiheit des menschlichen Willens argumentiert. Vgl. Menke (2009). Demgegenüber hat der Freiburger katholische Dogmatiker Helmut Hoping Luthers Bestimmung des peccatum originale in einer ausgewogenen Interpretation gewürdigt. Vgl. Hoping (2017). 38 39
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dingung seiner Möglichkeit hin bedenkt, ein Moment unbedingter ursprünglicher Freiheit – im transzendentalen Sinne – zu behaupten sei. Damit haben wir bereits einen Strang der kritischen Rezeption von Luthers de servo arbitrio in der Gegenwart angezeigt, der gegen Luther die Unbedingtheit formeller Freiheit sowohl im Vollzug der personalen Gnadenaneignung als auch in der Zustimmung zum Bösen behauptet und dafür den Rückgriff auf die Konzeption eines transzendentalen Freiheitsvermögens in Anspruch nimmt. Nun hat Luther Gründe dafür, nicht so zu sprechen. Ein Grund ist bereits genannt worden. Er betrifft die Frage der Allwirksamkeit und Allgegenwart Gottes, von der nichts absolut ausgenommen werden kann. Mit einem Vermögen unbedingter Freiheit wird aber ein solches angenommen, das der Bestimmtheit durch anderes, näherhin der Bestimmtheit durch die göttliche Allwirksamkeit, entzogen ist.
2.
Die situierte Freiheit
Der zweite Grund liegt darin, dass Luther die Abstraktheit des Willensvermögens, wie es Erasmus sich vorstellt, kritisiert und dagegen geltend macht, wie der Wille des natürlichen Menschen sich faktisch vorfindet: nämlich in der konkreten Bestimmtheit seiner Grundrichtung, die all sein Wollen bestimmt. Der Wille des Menschen ist durch die Situiertheit des Menschen in der Welt, mithin durch sein Sosein, bestimmt und insofern gerade nicht unbestimmt frei. In dieser Situiertheit findet der Wille sich vor. Sie ist ihm unvorgreiflich. Und da die dem Willen unvorgreifliche Situiertheit des Willens sich ergibt durch das In-der-Welt-Sein des (leibgebundenen) Menschen und der Zusammenhang des Weltgeschehens wiederum ein durch die göttliche Allwirksamkeit bestimmter ist, ist die Situiertheit des menschlichen Willens in seinem Sosein von der göttlichen Allwirksamkeit nicht ausgenommen, sondern durch diese unweigerlich mitbestimmt. Es gibt eine Rezeptionslinie, die de servo arbitrio so interpretiert und den Gedanken der Situiertheit des Willens für die Frage der Unfreiheit des Willens entsprechend zum Zuge bringt (F. Schleiermacher, E. Hirsch, J. Iwand, E. Herms, F. Hermanni). Auf katholischer Seite wäre hier an Piet Schoonenbergs Konzeption »situierter Freiheit« zu denken; ähnlich auch Karl Rahner, der von der »Situationsbedingtheit der kreatürlichen Freiheit« spricht. Auf katholischer Seite wird diese Auffassung dann aber meist so vertreten, dass zu67 https://doi.org/10.5771/9783495823668 .
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gleich ein Moment der möglichen Distanznahme zur Situiertheit des Willens für die Freiheit des Menschen reklamiert wird, womit erneut das oben beschriebene Grundmoment – das der Entscheidung, das der Zustimmung durch formelle Freiheit – mitgeführt wird. Bei den besagten evangelischen Theologen ist dies nicht der Fall. Hier wird die Situiertheit als Bestimmtheit des Willens begriffen, die für den Willen unvorgreiflich ist; der er mithin unterliegt und von der er sich nicht noch einmal durch sich selbst – im Rückgriff auf ein formell unbedingtes Freiheitsvermögen – zu distanzieren vermag. 43 Und dieses Sosein der Willensbestimmtheit wird als Manifestation der steten Allwirksamkeit Gottes begriffen, insofern das Sosein des Willens Ausdruck des In-der-Welt-Seins des Subjekts ist und die Welt als der Wirkzusammenhang göttlicher Allwirksamkeit – nicht Alleinwirksamkeit! – zu begreifen ist. Hier ist erneut zu unterstreichen, dass der Gedanke der Allwirksamkeit Gottes bei Luther ein cooperari des Menschen einschließt, 44 freilich ein solches cooperari, in welchem der Mensch in der Bestimmtheit seines Willens nicht in der Weise Herr über den Willen ist, dass er dessen Grundrichtung ändern könnte. Im Gegenteil, der natürliche Wille potenziert in diesem cooperari seine Grundrichtung Damit taucht die Frage der Zurechenbarkeit von Verantwortung auf, die in der Konzeption, welche mit dem unbedingten Moment der Freiheit arbeitet, vorgeblich am einfachsten zu klären ist. Denn hier ist der Mensch verantwortlich, weil er zustimmen und sich abwenden kann und weil er sich aus sich selbst heraus zu einem bestimmten Wollen bestimmt. In den Konzeptionen einer situierten Freiheit wird hingegen so argumentiert, dass der Charakter der Person die Zuschreibung der Verantwortung für ihre Handlung ermöglicht. Demgegenüber führe die vermeintliche Unbedingtheit des Willens ein Moment der Willkür mit sich, das die Zuschreibung von Verantwortung eher vereitle, als sie zu ermöglichen. Vgl. die Argumentation von Hermanni (2004), bes. 183 ff., mit entsprechenden Verweisen auf die diesbezügliche Argumentation von Leibniz und Hume. Wir können in diesem Zusammenhang nicht weiter auf eine eigenständige Begründung von Verantwortungszuschreibung unter der Bedingung radikaler Unfreiheit des Willens eingehen. Deutlich ist jedoch, dass diese auf anderem Weg anzustrengen ist, als über das Paradigma formell unbedingter Freiheit. Die Konzeptionen situierter Freiheit sind zur Erfassung der Unfreiheit des Willens u. E. unzureichend. Luther geht es um eine strukturelle Verkehrung des Willens in seinem Vollzug. Dies ist etwas anderes als eine bloß situierte Bestimmtheit, so sehr diese in die konkrete Bestimmtheit des Willens hineinspielt. Im Sinne einer strukturellen Verkehrung endlicher Freiheit versteht und interpretiert die Verf.in das peccatum originale. Dazu vgl. insgesamt die diesbezüglichen Veröffentlichungen und bes. Ohnmächtige Freiheit; siehe die Literaturhinweise oben unter Anm. 11 und 12. 44 Siehe oben Anm. 37. 43
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und versteigt sich so mit Willen in seiner Unfreiheit. Die Grundrichtung seines Willens ist durch Selbstbezüglichkeit bestimmt – durch die »liebe Selbstliebe«, wie Kant sagt; durch den amor sui, wie Luther und Augustin sagen; in dieser selbstbezüglichen Grundrichtung greift der Wille auf alles aus, was Strebeziel seines Wollens ist. 45
3.
In sich strukturell verkehrte Freiheit
Es ist wichtig zu sehen, dass es Luther um die Grundrichtung des Willens geht, die all seinem konkreten Wollen zugrunde liegt und es bestimmt. 46 Der Wille des Menschen findet sich in einer Grundrichtung vor, die er nicht durch sich selbst und aus sich selbst heraus zu ändern vermag. Darin manifestiert sich seine Unfreiheit, die ein Gefangensein in sich selbst durch sich selbst darstellt. Luther nimmt für sich in Anspruch, damit eine reflektiertere Willenstheorie zu vertreten als Erasmus, dessen Willenstheorie aus Luthers Sicht – gerade auch theoretisch – unterstufig ist. Dies macht Luther insbesondere im Blick auf die Vorstellung des Willens als eines ruhenden Vermögens geltend, das seiner Auffassung nach einen Widerspruch zum Begriff des Willens darstellt. Luther nimmt zudem in Anspruch, dass seine Auffassung vom unfreien Willen die empirische Erfahrung 47 des Subjekts einholt, das sich seiner Meinung nach nicht als Herr im eigenen Haus erfährt. An dieser Stelle ist als auf einen weiteren Rezeptionsstrang von de servo arbitrio noch auf solche evangelische Theologen hinzuweisen, welche die Handlungsfreiheit »in inferioribus«, also in den weltlichen Dingen, starkmachen und die Radikalität der Unfreiheit des Willens nur für das Verhältnis des Willens zu Gott und in Dingen des Heils behaupten. Diese können sich vor allem auf zwei Stellen in de servo arbitrio berufen. Vgl. DSA, 297 und 371. Die Frage ist, ob diese Interpretation, die eine Willensfreiheit in weltlichen Dingen behauptet, vor dem Hintergrund der Luther’schen Willenstheorie überzeugt. Der Verf.in scheint dies fraglich. 46 Kantisch gesprochen, geht es um den Grund aller Maximen. Der Hinweis auf Kant liegt auch deshalb nahe, weil Luther, wie dann auch Kant, in der Folge so argumentiert, dass, wenn der Wille in seiner Grundrichtung verkehrt ist, nicht einzusehen sei, wie er durch sich selbst ein anderer werden können soll. Genau dies kann er nach Luther eben nicht. 47 Mehrfach fordert Luther Erasmus mit Verve dazu auf, die unbestreitbare Erfahrung, die der Mensch mit sich und seinem Willen macht, zu beachten, um den Anspruch für seine Willenstheorie zu unterstreichen. Um nicht nur Luther für die strukturelle Unfreiheit des Willens anzuführen, sei hier aus der katholischen Tradition Augustins Beschreibung der Selbsterfahrung des natürlichen Willens zitiert. »Der 45
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Diese Gefangenschaft des Willens, die Luther für den natürlichen Willen des Menschen beschreibt, ist eine solche, die eine strukturelle Verkehrung des Willens in sich selbst meint. Es ist eine Gefangenschaft des Willens in sich selbst durch sich selbst. Der Wille ist und wird nicht erst dadurch böse, dass er etwas Böses anstrebt. In einer solchen Auffassung vom bösen Willen sieht Luther erneut ein unterstufiges Verständnis von dem, was hier gedacht werden muss, wenn man den unfreien Willen, wie er sich vorfindet, angemessen erfassen will. Der Wille wird nicht erst durch ein von ihm angestrebtes böses Objekt zu einem bösen Willen. Der Wille des natürlichen Menschen ist in sich, d. h. in seiner strukturellen Bestimmtheit verkehrt. So jedenfalls meint Luther. Es geht ihm mithin weder bloß um einzelne böse Taten, Gedanken und Worte; und es geht ihm auch nicht bloß um ein disharmonisches Verhältnis zwischen Sinnlichkeit und Vernunft, dem durch vernunftbestimmten Willensentschluss beizukommen wäre. Der Wille ist vielmehr in sich verderbt, darum nicht indifferent und schon gar nicht frei, sondern gefangen in sich selbst durch sich selbst, so dass er sich gerade nicht durch sich selbst in seinem Grund anders zu bestimmen vermag. Als niemals müßiger, sondern immer in Vollzug seiender, und als ein solcher, der in sich – in seiner Grundrichtung – verkehrt ist, bestimmt er alles konkrete Wollen des natürlichen Menschen. Der Wille ist, mit Kant zu sprechen, radikal – an seiner Wurzel – böse. 48
Geist befiehlt sich selber, und da wird Widerstand geleistet«, und zwar nicht ein Widerstand, der von außen kommend den Willen zum Widerstand anregt. Vielmehr ist der Wille in sich selbst widerständig gegen die Selbstbestimmung durch sich selbst. »Der Geist befielt, der Geist soll wollen; der aber ist kein anderer und tut’s doch nicht. […] Er befielt, […] er soll wollen, und könnte nicht befehlen, wenn er’s nicht wollte, und tut doch nicht, was er befielt«. So ist der Wille in sich selbst verfangen. Augustin erfährt sich als »gefesselt […] nicht durch fremdes Band, sondern durch das Eisenband meines Willens«. (Augustin, Bekenntnisse, MPL, Bd. 32, 758 f. und 198) Vgl. dazu die knappen Ausführungen in: Axt-Piscalar (2013b), 55 ff. 48 Von daher ist in der Tat eine ›Revolution der Denkungsart‹ (vgl. Anm. 13), eine Erneuerung der Grundrichtung des Willens, eine Neukonstitution des Willens in seinem Grund, vonnöten, damit ein verderbter Wille zu einem guten Willen werden kann. Im Sinne einer solchen Konstitution des guten Willens denkt Luther die Gnade.
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4.
Willentlich und mit Willen wollen, indes nicht aus Freiheit wollen
Dass die Grundrichtung des Willens verkehrt ist und diese Grundrichtung all seine konkreten Vollzüge bestimmt, schließt nun gerade nicht aus, dass der Wille Verschiedenes wollen kann; dass er also in dem, was er konkret will, nicht schon festgelegt ist. Dass der Wille Verschiedenes wollen kann, bedeutet nun aber nicht, dass er ein in sich freier Wille ist. Denn in allem Wollen, welcher Art auch immer, ist es die Grundrichtung, die in seinem Wollen bestimmend ist. Anders ausgedrückt: Der Wille gibt allem konkreten Wollen die Bestimmtheit der Selbstbezüglichkeit. Insofern bestreitet Luther nicht, dass der Wille Verschiedenes wollen kann, und muss dies auf der Grundlage seiner Konzeption radikaler Unfreiheit des Willens auch nicht bestreiten. Denn dass der Wille Verschiedenes wollen kann, heißt nicht, dass er nicht in sich selbst, also seiner Grundrichtung nach, verkehrt ist und diese Verkehrung der Grundrichtung in allem konkreten Wollen durchschlägt. 49 Dass der Wille in allem mit Willen dabei ist, mithin nicht gezwungen ist – denn ein gezwungener Wille ist für Luther gar kein Wille 50 –, reicht für Luther wiederum hin, dass das Subjekt für sein Wollen verantwortlich ist und ihm Schuld zugemessen wird. Jedenfalls ist Luther weit entfernt von der Vorstellung, dass nur unter Annahme eines formell unbedingten Freiheitsvermögens die Zurechenbarkeit der Handlung an das Subjekt möglich ist. Indem es mein Wille ist, den ich willentlich vollziehe, gehört dieser Wille zu mir und ist mir als Person auch zuzurechnen.
VI. Epilog Am Ende seiner Schrift de servo arbitrio beteuert Luther, er für seinen Teil würde ein freies Willensvermögen gar nicht wollen können. Ihm sei die Kraft, mit Zuversicht zu leben und die DifferenzerfahrunAuch hier legt sich erneut ein Vergleich zu Kant nahe: Der oberste Grund aller Maximen bestimmt durch seine Bestimmtheit alle Maximen, die durchaus unterschiedlich sein können. 50 Vgl. DSA, 291, wo Luther festhält: »Und das [Böses tun, die Verf.in] tun wir willentlich und liebend gern, nach der Natur des Willens. Der wäre kein Wille, würde er gezwungen. Denn Zwang ist sozusagen eher Nichtwille.« 49
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gen des Lebens, von denen er wahrhaft bis zum Abgrund gebeutelt war, zu bewältigen, aus dem Vertrauen auf den in Jesus Christus offenbaren Gott und in Ehrfurcht vor dem fremden Werk seiner verborgenen Allwirksamkeit sowie aus der eschatologischen Hoffnung auf den Selbsterweis des barmherzigen, allmächtigen und gerechten Gottes erwachsen. 51 Es ist eine Aussage, die im Glauben gemacht wird. Sie ist in dem Glauben gemacht, der des offenbaren Gottes und seiner Liebe, wie er sie in Jesus Christus gezeigt hat, gewiss ist und der es in extremis mit dem Deus absconditus, seinem fremden Werk, zu tun bekommt – doch kontrafaktisch zu dieser Erfahrung an Gott als dem Barmherzigen, Allmächtigen und Gerechten festhält. Wenn man davon ausgeht, dass der Glaube und die Vernunft des Glaubens sich an den Differenzerfahrungen des Lebens zu bewähren haben, dann gehört Luthers Konzeption in de servo arbitrio fraglos zu denen, die der Abgründe menschlicher Existenzerfahrung inne sind, sie in ihrer Abgründigkeit in den Horizont des christlichen Gottesgedankens stellen, sie nicht vorschnell auflösen – und darin hat sie ihre existenzielle und durchaus auch gedankliche Relevanz und Überzeugungskraft. Dies sei noch einmal anders gesagt: Negativitätserfahrungen theologisch und existenziell bewältigen zu können, ohne den Gottesgedanken preiszugeben, ja sie nur unter der Annahme des christlichen Gottesgedankens ernst zu nehmen und versöhnen zu können, das ist der Anspruch, den Luther für de servo arbitrio geltend macht. Wenn man überhaupt ein solches Paradigma anlegen möchte, dann wird man gerade dieser Konzeption, die sich an den abgründigen Negativitätserfahrungen theologisch abarbeitet, nicht absprechen können, nahe an der Erfahrung zu sein, die zu einem Signum der Moderne, zumindest im 20. Jahrhundert, geworden ist. Extreme
DSA, 651: »[I]ch würde nicht wollen, dass mir ein freies Willensvermögen gegeben wird oder irgendetwas in meiner Hand belassen würde, wodurch ich nach dem Heil streben könnte. […] Denn mein Gewissen wäre, und wenn ich auch ewig lebte und wirkte, niemals gewiss und sicher, wie viel es tun muss, damit Gott Genüge getan wäre. […] Aber weil jetzt Gott mein Heil meinem Willensvermögen entzogen und in seines aufgenommen und zugesagt hat, mich nicht durch mein Werk und mein Laufen, sondern durch seine Gnade und seine Barmherzigkeit zu retten, bin ich sicher und gewiss, dass er treu ist; er wird mich nicht belügen. Ferner ist er mächtig und groß, so dass keine Dämonen, keine widrigen Umstände ihn werden niederzwingen oder mich ihm entreißen können. ›Niemand‹, sagt er, ›wird sie aus meiner Hand entreißen, weil der Vater, der gegeben hat, größer ist als alles.‹«
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Theologie ist dies zweifellos und alles andere als die gemäßigte Variante, die Erasmus uns zu denken gibt.
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Einige Unterschiede zwischen Erasmus und Luther Matthias Flothow
»Über den Abgrund Pascals hat er sich nie gebeugt« (S. Zweig) 1
1.
Erasmus und Luther als Verbündete und Gegner
Die Auseinandersetzung zwischen Erasmus und Luther kann gelesen werden als eine Klärung des Verhältnisses zwischen Humanismus und Reformation. Hier findet eine geistesgeschichtliche Weichenstellung statt, die bis heute Auswirkungen hat. 2 Zunächst sahen Erasmus und Luther in der Hierarchie und der Frömmigkeitspraxis der römischen Kirche und in der scholastischen Theologie Kräfte, von denen sie sich abwandten. Dass Luther und Erasmus damit gemeinsame Gegner gegenüberstanden, konnte jedoch keinen von ihnen darüber hinwegtäuschen, dass sie mit ihrer Kritik unterschiedliche Akzente setzten und vor allem, dass sie ihre Kritik aneinander und an der religiösen und scholastischen Tradition von unterschiedlichen Grundannahmen aus vorbrachten. Wollte man Typen von Religiosität ausmachen, hier stehen sich zwei Prototypen gegenüber. Das zeigt sich im Reden vor und über Gott, das zeigt sich im Reden vom Menschen, seiner Fundamentalbestimmung. Dieser unterschiedliche Zweig (1934), 10 und 45: »Seiner (= des Erasmus) Überzeugung nach wären beinahe alle Konflikte zwischen Menschen und Völkern durch gegenseitige Nachgiebigkeit gewaltlos zu schlichten, weil alle doch in der Domäne des Menschlichen liegen; fast jeder Widerstreit könnte vergleichsweise ausgetragen werden, überspannten nicht immer die Treiber und Übertreiber den kriegerischen Bogen. Das Weite lockte ihn aus sich heraus, aber die Tiefe zog ihn nicht an: über den »Abgrund« Pascals hat er sich nie gebeugt, er kannte nicht die seelischen Durchschütterungen eines Luther, Loyola oder Dostojewski … Alles Übertreibliche musste seiner vernünftlerischen Art fremd bleiben.« Vgl. Dla IV,15 und zu Pascal s. Bühler (2008). Mit Dla wird des Erasmus Schrift De libero arbitrio abgekürzt. S. Literaturverzeichnis. 2 Einer für viele: Voegelin (2005). 1
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Zugang auf Gott, den Menschen und die Welt hat auch seine unterschiedliche Form, seine unterschiedliche Rhetorik, seine Eigenheiten, in denen sich die Standpunkte artikulieren. Um solche »äußerlichen« Eigenheiten, um beiläufige Beobachtungen zu der Diskussion soll es im Folgenden gehen. Ab 1516 findet sich Kritik Luthers an Erasmus in vielerlei Äußerungen. Fehlender theologischer Tiefgang ist der Vorwurf seitens Luthers an Erasmus, 3 mangelnde Friedfertigkeit und Förderung eines Amoralismus ist der Vorwurf des Erasmus an Luther. Der Vorwurf Luthers taucht in Briefen an Luthers Freund Spalatin auf. Öffentlich wird er nicht. Luther wäre wohl auch 1525 lieber gewesen, diese Auseinandersetzung zu diesem Zeitpunkt dahingestellt sein zu lassen. War er doch in diesem Jahr mit vielerlei Herausforderungen befasst und waren doch die Humanisten in mancher Hinsicht Verbündete. Verbündete waren sie vor allem in der Bewegung des Rückgangs zu den Quellen, um einen möglichst genauen Text der Bibel vorliegen zu haben. Das beflügelt die Arbeit der Erasmus 4 und ist ebenso für Luther von großer Bedeutung. 5 Verbündete waren sie darin, dass sie das Volk einbezogen und die herkömmliche hierarchische Gliederung der Gesellschaft in Frage stellten. Allerdings sind schon die Motive dafür unterschiedlich. Erasmus hat im Blick Erziehung, Bildung, Sprachfähigkeit, die zu entwickeln ein menschliches Anliegen ist und die zu einem gehobenen Menschsein und in diesem Zug zu einer Orientierung am Beispiel Christi führen wird. Luther dagegen sieht den Glauben jedes Menschen als Anliegen, der nicht durch andere Personen oder Institutionen ersetzt werden kann, sondern das Herz eines jeden erfassen muss. In der Sprache des Erasmus-Forschers Manfred Hoffmann: »Auch für Erasmus gilt also Luthers exegetischer Grundsatz: ›Was Christum treibet‹, nur wird der himmelweite Unterschied zwischen den beiden dann deutlich, wenn man weiter fragt, was ›Christus‹ hier und dort bedeutet. Für Erasmus ist ›Christus‹ die im affectus des Wortes und des Menschen greifbare Harmonie über der Varietät, die der der Natur letztlich zugrundeliegenden harmonischen Ordnung entspricht. Für Zunächst geht es um eine Übersetzung in der Bibelausgabe des Erasmus. Zu den Zeitumständen siehe Kaufmann (2007). 4 Durchaus mit dem Risiko, dass er damit den Vulgata-Text angreift, was ihm auch katholisch-kirchlicherseits vorgehalten wird. 5 Luther nimmt diese Orientierung explizit »in fonte ipso« (Disputatio de homine, These 17) auf. Er benutzt gerne (und kritisch) Textausgaben des Erasmus. 3
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Einige Unterschiede zwischen Erasmus und Luther
Luther die viva vox evangelii, das befreiende, rechtfertigende Wort Gottes in der Verkündigung, das den Menschen von außen her trifft und ihm eine neue Existenz schenkt.« 6 Diese unterschiedliche Sicht wirkt sich in nahezu allen Bereichen des Lebens und Denkens aus. Vor allem enthält sie ein anthropologisches Element der optimistischen Bildung bei Erasmus, ein theologisches Fundament der IchKonstitution ›extra se‹ zu Freiheit und Selbstgewissheit bei Luther. Sowohl für Luther wie auch für Erasmus war die Auseinandersetzung 1524/25 nicht naheliegend oder gewünscht. Luther wie Erasmus betonen, dass sie zu ihren Schriften gedrängt wurden. 7 Das ist historisch nachvollziehbar. Der Sache nach ist es eine Auseinandersetzung, die Luther nötigt, über Grundlagen seiner Theologie Rechenschaft abzulegen. Es ist nicht nur Floskel, wenn Luther Erasmus bestätigt, »nur du allein hast den Dreh- und Angelpunkt der Dinge gesehen und den Hauptpunkt selbst angegriffen«. 8 Bezeichnender Weise erklärt Luther Jahre später diese Schrift De servo arbitrio und seine beiden Katechismen für seine erhaltenswerten Werke. 9
2.
Die Renaissance der Rhetorik
Die Auseinandersetzung fällt in eine Zeit, in der mit der Antike auch die Rhetorik eine Renaissance feiert. Diese Entwicklung findet längst vor der Reformation etwa bei Petrarca schon ihren Anfang. Auch Erasmus ist mit seinen philologischen Arbeiten an diesem Aufschwung beteiligt. Neben Melanchthon verfasst er ebenso viel gebrauchte Schriften zur Rhetorik. 10 Die rhetorische Seite ist dabei Hoffmann (1972), 61. Zur Vorgeschichte der Schriften s. Zickendraht (1909) sowie Lesowsky (1969), VII– XIX. 8 Dsa 787. Mit Dsa wird im Folgenden Luthers Schrift De servo arbitrio abgekürzt. S. Literaturverzeichnis. 9 WAB 8; 99,7 f. 10 Die imitatio Ciceronis soll in vielen Bereichen fruchtbar werden. So in der Sammlung von Sprichwörtern (Adagia, Parisiis/Paris 1500), auch in »Anleitung zum Briefschreiben« (De conscribendis epistulis, Basilia/Basel 1522) oder in »Der Ciceronianer oder der beste Redestil« (Ciceronianus sive de optimo genere oratorum, Basilia/Basel 1528). Dass die Nachahmung Ciceros aus christlicher Sicht nicht unproblematisch ist, da die Anwendung rhetorischer Erkenntnismittel zu einer skeptischen Haltung in Glaubensfragen führt, diskutiert Erasmus selbst in De imitatione (»Über die Nachahmung«). 6 7
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nicht nur eine die Sache schmückende Redeweise, 11 sondern betrifft auch die anderen Grundfunktionen des docere (Belehrens) und movere (Bewegens). Schon in der Wahl der Mittel zeigt sich auch eine damit vorgegebene Richtung der Argumentation: Diatribe, collatio, die Orientierung an der Mitte, die dichotomisch vorgetragene Gegenposition sind nicht belanglose Zufälligkeiten. Die Wahl der Mittel weist auf eine Fassung der Position, die dem Inhalt und der Situation entspricht und in die Vorentscheidungen einfließen. Die Mittel sagen etwas aus über die Ziele und vor allem über (manchmal auch präreflexive) Grundentscheidungen der Verfasser. Die Verfasser stellen sich mit der Form ihrer Schriften in bestimmte Traditionen, benutzen scheinbare Selbstverständlichkeiten, beziehen Positionen und verfolgen Ziele. 12 Mit dem Focus auf der Rhetorik und den Mitteln der Auseinandersetzung soll dabei im Folgenden die diskursive Auseinandersetzung nicht unterlaufen, sondern eher plastischer werden. 13 Die breite Besinnung auf die rhetorische Tradition Mitte des 20. Jahrhunderts hat dazu geführt, 14 bei Luther die Eingebundenheit in die rhetorische Diskussion stärker zu beachten. 15 Die Berücksichtigung der Rhetorik kann nicht nur die Dynamik konturieren, die in der Auseinandersetzung liegt. 16 Sie gibt auch der Abwendung von So sehr das schmückende Element (delectare) zur Rhetorik gehört, geht die Diskussion insbesondere auf die Zuordnung von Dialektik und Rhetorik, von Klärung von Sache und Persuasion, von docere und movere. Eine eingehende Diskussion dieses Verhältnisses und was die Berücksichtigung austrägt, findet sich bei Maaser (1998). 12 Diese Sprachgebundenheit reflektiert Bader (1985). Baders kunstvolle Dialektik kann in dem vorliegenden Format nicht weiterverfolgt werden. 13 Für Luther steht die Res (der rechte Glaube) den Worten voraus, wie aus seinem Ausspruch zu erkennen ist: »Res et verba Philippus, verba sine re Erasmus, res sine verbis Lutherus, nec res nec verba Carolostadius« (WA.TR 3,460,39 f. [Nr. 3619]) (Glaube und rechte Worte: Philipp [gemeint ist Philipp Melanchthon], Worte ohne Glaube: Erasmus, Glaube ohne Worte: Luther, weder Glaube noch Worte: Karlstadt). 14 Andrea Grün-Oesterreich / Peter L. Oesterreich (1999), 25–41; Birgit Stolt (1970). Eine Bibliographie zum Thema »Luther und die Rhetorik« in: Linguistica biblica 3 (1973), 39–44. 15 Bemerkenswert ist, dass Luther zwischenzeitlich Quintilian (neben Cicero eine Urquelle der Rhetorik in der Renaissance) als seine Lieblingslektüre angibt, s. Dockhorn (1973), 22. 16 Dabei ist der Vorbehalt zu machen, dass das rhetorische Persuadere (Überzeugen) noch nicht das »in die Herzen treiben« bewirkt. Zum Gelingen des Redens gehört der Beistand des Heiligen Geistes, »der es In die hertzen saget, das wir wissen, das es In der warheit so ist und nicht anderst […] und der mensch so weyt kompt, das ers fulet, das es also sey, und gar kein zweivel dran habe, es sey gewisslich also«. (WA 45 (1911; 11
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Einige Unterschiede zwischen Erasmus und Luther
aristotelischer Ontologie Gesicht und Stimme. 17 Eine Darstellung von Luthers Blick auf Gott, Mensch und Welt wird spröde, erreicht das Herz nicht, wenn sie auf das performative Element Verzicht leistet. Deshalb gibt es viele Zeugnisse Luthers, dass er sich um richtige, adäquate Redeweise müht. 18 Zu Luthers Theologie gehört das performative Element hinzu, das sich noch nicht neuzeitlichen wissenschaftlich-diskursiven Standards angeglichen hat, bei denen leicht die existentielle Seite seiner Theologie unterbestimmt bleibt. 19 Andererseits genießt der Denkansatz des Erasmus bis heute Anerkennung. Er will ernst genommen werden in seiner humanisierenden Intention (Eintracht!), in seinem Wunsch nach dem Echten (Zu den Quellen!), der eine gewisse Neutralität der Auseinandersetzung erwartet, der Höflichkeit und Zurückstellung des Engagements einfordert, der aber auch befragt werden darf auf seine Überzeugungskraft und seine anthropologische Tiefenschärfe. Wer heute die beiden Schriften De libero arbitrio und De servo arbitrio zur Hand nimmt, wird sich vor einem Durcheinander an ad hoc-Argumentationen wiederfinden. Eine Zugangsmöglichkeit ist, synoptisch eine Ordnung der sich aufeinander beziehenden Abschnitte herzustellen. 20 Damit entsteht dann eine engere Verknüpfung der Schriften, in der auch schnell zu merken ist, dass es um weit mehr als nur um den topos »freier Wille« 21 und Einzelargumente ND 1964) 22, 14–18). Hier stößt für Luther die Rhetorik an ihre Grenze. Darin unterscheidet sich seine reformatorische Denkart von der humanistischen. Siehe Stolt (2001). 17 Siehe Seeberg (1929), 112, wo Seeberg den Gegensatz von substantiellem und personalem Denken heranzieht, auch S. 100 und 111. 18 Ein Lutherzitat ist »dialectica docet, rhetorica movet« (Die Dialektik lehrt, die Rhetorik bewegt). S. Stolt (1970), Grün-Oesterreich, Andrea / Oesterreich, Peter L. (1999). 19 Ein Schicksal, das Luthers Theologie schon unter seinen Freunden zuteil wird. Umgekehrt kennt Luther den verschleiernden Gebrauch von Rhetorik, dem gegenüber die Sache (Rerum cardo et caussae caput) selbstverständlich den Vorrang hat. Dsa 720: Jetzt ist kein Raum für solche rhetorischen Figuren. Das Herz und Haupt der Sache wird hier gesucht. (Non est nunc locus huic schemati. Rerum cardo et caussae caput hic petitur.) 20 Schumacher (1988), 93–94 versucht mit einer Zuordnungstabelle der einzelnen Argumentationspunkte zwischen Dla und Dsa eine Übersicht herzustellen. Allerdings zeigt gerade diese (durchaus hilfreiche) Zusammenstellung auch, dass es in Dsa offenbar noch um mehr geht, als nur um eine direkte Erwiderung auf Erasmus. 21 Noch dazu machen Interpreten darauf aufmerksam, dass die Übersetzung von arbitrium geknüpft ist an ein Vorverständnis dessen, was hier verhandelt wird: Wille,
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geht. Vorzügliche diskursive Zugänge zu den Schriften liegen von verschiedenen Interpreten vor. 22 Diese Zugänge ordnen das Gefüge der vielen traktierten Quisquilien, die Erasmus mit seiner Diatribe Luther auf den Schreibtisch geschüttet hat und die dieser abarbeitet, in eine systematisch-einheitliche Gesamtanschauung, so dass in der Fülle der Einzelargumente schließlich sogar eine Fundamentaltheologie Luthers erkennbar werden kann. 23 Dagegen ist unser Anliegen hier eher auf randständiges Material gerichtet, das sozusagen bei der Lektüre angefallen ist und das – so die Hoffnung – dem Leser/der Leserin zu einer gewissen Lebendigkeit (movet) der Lektüre helfen kann, wenn er/sie hier Angeführtes im Text von Erasmus und Luther findet.
3.
Assertio
Die Schrift des Erasmus nimmt das zentrale Thema auf, die Assertio. Erasmus nimmt allerdings das Thema in einer Weise auf, in der gerade eine persönliche Stellungnahme vermieden wird. Dafür verwendet er rhetorische Elemente, die gleichzeitig sein Engagement (bezüglich einer eigenen Positionierung gegenüber den Reformatoren) und seine gewünschte Distanz (gegenüber einer theologischen Positionierung) zeigen. Für Luther sind »assertiones« elementar und unverzichtbar für Christsein 24 und er wirft Erasmus, wenn er meint, auf Assertiones bei einer Sache des Glaubens verzichten zu können, eine Verdunkelungsstrategie vor. Erasmus nimmt Bezug auf die Schrift Luthers »Assertio omnium articulorum Martini Lutheri per bullam Willensvermögen? Die gängige Übersetzung von »arbitrium« als »Wille« oder »Willensvermögen« verunklart, dass das arbitrium zwar für das Wollen wesentlich, aber nicht einfach mit ihm identisch ist. Für den genauen Nachvollzug von Luthers Sicht der Sache käme es gerade darauf an, die Komplexität der konstitutiven Momente dessen, was »Wille« (»voluntas«) genannt wird, in den Blick zu bekommen. Nur so kann an der Sache (am Phänomen) selbst eingesehen werden, dass und inwiefern die Behauptung einer Passivität des Wollens keine contradictio in adjecto, sondern die genaue Erfassung der Realität ist. Herms (2011), 65. 22 Ich nenne in Auswahl Iwand (1954), Seeberg (1929) 62–106, Wenz (2000), Herms (2011), Axt-Piscalar oben, S. 46–74. 23 Herms (2000), 50. 24 Dsa 603–604,5: Die Möglichkeit eines freien Willens zu bestreiten, bezieht sich nicht auf zweifelhafte oder unnütze und nicht notwendige Angelegenheiten. Im Umgang mit solchen Dingen einen freien Willen anzunehmen, scheint trivial.
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Einige Unterschiede zwischen Erasmus und Luther
Leonis X. novissimam damnatorum« von 1520, 25 in der Luther seine in der Papstbulle verurteilten Sätze verteidigt. In diesem Zusammenhang ist »assertio« eine »Wahrheitsbekräftigung« im Sinn von: »Ich bleibe dabei!« Assertio meint: »beständig anhängen, bekräftigen, bekennen, beachten und unerschütterlich ausharren«. 26 Die Kritik des Erasmus daran ist, dass eine solche Haltung den Blick verstellt. Eine solche Wahrheitsbekräftigungs-Haltung wirkt wie die Liebe eines Jünglings, dem in seiner Liebe zu einem Mädchen alles, was er sieht, zu einem Bild seiner Liebe wird oder besser, sie wirkt so, dass für jemand, der so kämpfend auftritt, alles, was zufällig zur Hand ist, ob ein Humpen oder ein Teller, sich in ein Geschoß verwandelt. 27 Ein nüchternes Bedenken, Vergleichen, Überlegen ist damit beschwert. Deshalb ist Erasmus kein Freund von festen Behauptungen (»non delector assertionibus«), sondern er ist »leicht geneigt«, sich auf die Seite der Skeptiker zu schlagen. 28 Dazu ist des Erasmus Selbstbild und Hintergrundkonzept das eines friedenstiftenden Redners, der sich nicht hineinziehen lassen will in heftige Auseinandersetzungen. Es entspricht skeptischer Weltsicht, dass die Bewegung der Seele dadurch in glücklich-ruhiges Fahrwasser gelenkt wird, dass Abstand gehalten wird von den Klippen und Untiefen der Auseinandersetzungen. Die Sache wird seitdem verhandelt. Das ist deshalb bemerkenswert, weil die Argumentation des Erasmus auch darauf angelegt ist, eine einfache und klare Entscheidung des Lesers herbeizuführen. Der Aufbau von Dla ist so angelegt, dass am Schluss das Urteil vom Leser getroffen werden kann. Und nach der Rhetorik von Erasmus kann das Urteil nur so ausfallen: Gnade ja, Eigentätigkeit ja. Ein Weg zwischen den Polen – irgendwo weit auf der Seite der Gnade – ist das gewünschte Ergebnis. 29 Nun konnte die Angelegenheit 30 offensichtlich Dla Ia 1, gemeint ist Luthers Schrift von 1520 »Assertio omnium ariculorum M. Lutheri per bullam Leonis X. novissimam damnatorum«. 26 Dsa 603,14 ff.: constanter adherere, affirmare, confiteri, tueri atque invictum perseverare. 27 Dla Ia 4. 28 Dla Ia 4. 29 Dla IV 16: »Warum, wird man sagen, wird dem freien Willen etwas zugestanden? Damit es etwas gibt, was den Gottlosen mit Recht angerechnet wird, die sich freiwillig der Gnade Gottes versagt haben, damit der Vorwurf der Grausamkeit und Ungerechtigkeit von Gott abgewendet werde, damit von uns die Verzweiflung abgewendet werde, und die Sorglosigkeit abgewendet werde, damit wir zum Bemühen angespornt werden.« 30 Dla IV 17. 25
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weder seinerzeit so klar von Erasmus zu einem »Ergebnis« geführt werden – das zeigt die Antwort Luthers – noch ist bis heute ein Konsens darüber hergestellt worden. 31
4.
Diatribe
Seine eigene Schrift bezeichnet Erasmus als Diatribe in Form einer collatio. 32 Die Wahl der Gattung Diatribe ist nach ciceronischem Vorbild dafür gut, eine Diskussionsfrage (hier: das Problem des freien Willens) gesprächsweise im Pro und Contra zu diskutieren. 33 Eine Diatribe signalisiert konziliante Gesprächsbereitschaft, gerechtes, ausgewogenes Eingehen auf die widerstreitenden Positionen. Erasmus sagt, dass eine Diatribe eine Zusammenkunft und Diskussion von Philosophen ist 34 und dass die Griechen eine scholastische Disputation »Diatribe« nennen. 35 Luther vermerkt die darin liegende Distanzierung des Verfassers vom Inhalt kritisch: »Außerdem tust du nichts in diesem ganzen Büchlein, das du eben deshalb eher ›Diatribe‹ als ›Apophasis‹ oder anders hast bezeichnen wollen, als wolltest du alles als Zusammenstellung, nichts als abschließendes Urteil schreiben.« 36 Eine mögliche andere Form der Erörterung wäre diese Apophasis (Untersuchung) gewesen, die aber einer affirmatio (Entscheidung) bedarf, die Erasmus jedoch meidet – wie Luther erläutert: Du bist »ziemlich hartnäckig darauf bedacht, dass du dich überall glatt und geschmeidig durchlavierst. Ja, vorsichtiger noch als Odysseus glaubst du zwischen Scylla und Charybdis zu segeln. Du willst nicht die Wahrheit bezeugen und willst doch wiederum als jemand angesehen werden, der genau dies tut.« Luther spricht damit ein altes Grundproblem der skeptischen Enthaltsamkeit an, das sich bei ErasSiehe Behnk (1982). Man mag das auch als Hinweis verstehen, dass »die Sache« keine vergangene ist, sondern nach wie vor virulent ist, trotz mancher Versuche von Anfang an, sie – gerade auch mit den rhetorischen Mitteln des Erasmus – für obsolet zu erklären. 32 Zur Sorgfalt, mit der Erasmus seine Schriften betitelt, s. Hoffmann (1972), 29. 33 Ausführlicher in: Hoffmann (1985), 107. 34 »Dicuntur congressus et disputationes philosophorum diatribe Graecis.« (LB VI 944 D). 35 Scholasticas disputationes Graeci appellant diatribas. LB VI 495 F. Bedenkt man die gewohnheitsgemäße Distanzierung des Erasmus von »scholastischen« Erörterungen, so liegt schon in der Benennung eine Abwertung der ganzen Sache. 36 Dsa 660,1 ff. 31
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mus wiederfindet, nämlich dass er seinen Standpunkt vertritt, dass er Aussagen über (für den Glauben) Notwendiges macht, dass er Auslegungen von Bibelstellen für so und nicht anders erklärt.
5.
Collatio
Collatio (Sammlung, Zusammenstellung) ist das zweite Schlüsselwort der Form der gesamten Schrift. Der Aufbau der Schrift Dla 37 ist überschaubar: 1. Kapitel: Dla Ia: Erste Vorrede: Wahrheit im Verhältnis zum erkennenden und handelnden Subjekt. 38 Dla Ib: Zweite Vorrede: Die Frage nach einem objektiven Kriterium der Wahrheit. 2. Kapitel: Beweise für den freien Willen. Dla II. 3. Kapitel: Scheinbare Beweise gegen den freien Willen. Dla III. 4. Kapitel: Zusammenstellung des Sachverhalts und Aufforderung an den Leser, jetzt selbst ein Urteil zu fällen. Dla IV. Das Verfahren der Collatio ist die Methode, Meinungen zu sammeln und Positionen nebeneinander zu stellen, 39 um Ähnlichkeiten herauszuarbeiten (Kapitel 2 und 3) und – das ist das Ziel – die im Vergleich erkannten Widersprüche zu einem Ausgleich und Ergebnis zu bringen. Das Ende der Vorrede kündigt den Hauptteil an: Die Wahrheit wird siegen, welche vielleicht aus der Zusammenstellung der Schriftstellen (ex collatione scripturarum, Dla Ib 10) hervorspringen wird wie Feuer aus dem Zusammenstoß von Kieselsteinen. Und auch die Weise, in der das geschieht wird beschrieben: Höflich, ohne Schmähungen wird eher Material zusammengestellt als diskutiert. 40 Das IV. Kapitel beschließt die collatio mit »Bis jetzt haben wir Stellen aus der Hl. Schrift zusammengetragen« (contulimus, Dla IV 1). Hier folgt auch ein Credo, das Mäßigung als Grundhaltung begründen Nach Schumacher (1988). Die Angaben über den Inhalt der Abschnitte könnten auch in anderen Termini als den von Schumacher gebrauchten angegeben werden. Diese Angaben sind ein Beispiel der Rückführung (historisch gesehen: der Weiterführung) der Argumentation des Erasmus in ein philosophisches Koordinatensystem des 19. Jh. 38 Von diesem Prooemium sagt Luther, dass es schon fast die ganze Sache enthält. Dsa 638. 39 Dla Ia 3,4: … hac collusione scripturarum et argumentorum fiat evidentior veritas (Dass durch diesen Kampf der Schriftstellen und Beweise die Wahrheit einsichtiger werde). Auch: Dla Ib 10,36. 40 Conferenti verius quam disputanti, Dla 1b9. Ähnlich schon Dla Ia 3. 37
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soll: Weil der Hl. Geist, auf dessen Veranlassung diese Bibelstellen entstanden sind, sich selbst nicht widersprechen kann, sind wir gezwungen, ob wir wollen oder nicht, ein maßvolles Urteil (sententiae moderationem) zu suchen.« 41 Im Schlusssatz von Dla nimmt Erasmus nochmals den Begriff auf (jetzt in Majuskeln): CONTULI, penes alios esto judicium (IV 17): Ich habe zusammengetragen, anderen steht das Urteil zu. 42 Die Replik von Luther – ebenfalls mit dem Mittel der Majuskel arbeitend und an gleicher Stelle, nämlich in den Schlusssätzen angeführt – nimmt auf diese Grundentscheidung zum Verfahren Bezug: »Ego vero hoc libro NON CONTULI, SED ASSERUI, ET ASSERO, ac penes nullum volo esse judicium, sed omnibus suadeo, ut praestent obsequium.« 43 Erasmus ist formbewusst und Collatio ist nicht ohne Vorgeschichte, der nachzugehen für die humanistische Entdeckerfreude selbstverständlich ist, um umgekehrt mit der Anwendung von historischen Formen dem Leser einen kleinen Wink auf die eigene Position als Literat geben zu können. »Collatio« definiert Cassiodor Mitte des 6. Jh. als »Hoc schema dicitur syndyasmos, quod Latine interpretatur collatio sive coniunctio; fit autem ex comparatione contrariorum, quando aut personae aut causae, sive in contrarium, sive in simile, comparantur.« 44 Es geht also um den Vergleich von verschiedenen Personen oder Sachen, sei es in ihrem Gegensatz oder ihrer Ähnlichkeit. Als Form und Titelbestandteil kommt collatio im 4. und 5. Jh. häufig vor. 45 Erasmus hatte schon 1523 die Absicht, mit Luther Dla IV 1. Das schließliche iudicium, das selbständige Urteil, gehört für Erasmus zum Ideal philologischer und rhetorischer Bildung (Erasmus, De ratione studii, s. Walter (1991), 101). Bereits in der antiken Tradition (Quintilian) war das iudicium der Endpunkt und die Zusammenfassung einer Texterfassung. S. Lausberg (2 1973), § 1143 f. Erasmus verwendet »expendere« für die Tätigkeit, die dem Leser zukommt (Dla Ib 2; IV 17). 43 Dsa 787: Ich aber habe in diesem Buch nicht [Meinungen] zusammengestellt, sondern die Wahrheit bezeugt, und ich bezeuge die Wahrheit. Und ich will keinem das Urteil überlassen [wie Erasmus das will], sondern ich rate allen an, Gehorsam zu leisten. 44 Cassiodorus, Expositio in Psalterium, Migne PL 70,438,B zu Psalm 62,12: Dieses Schema wird syndiasmos genannt, auf Lateinisch collatio oder conjunctio. Es geschieht durch Vergleich von Entgegenstehendem, sei es von Personen oder Sachen, die nach Gleichheit oder nach Gegensatz verglichen werden. 45 Collationes des Johannes Cassianus, Collatio cum Maximo Arianorum episcopo von Augustinus, desselben Breviculus collationis cum Donatisti usw. Siehe: Steinmann (2012), 55. 41 42
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Einige Unterschiede zwischen Erasmus und Luther
eine Auseinandersetzung im Stil einer collatio zu führen. 46 Dabei wird der Stil der collatio beschrieben: »Res peragetur inter duos absque conuiciis, nulla contentione, nullo fuco, tantum nude simplex et rusticana veritas proponetur, tanta aequitate tantaque moderatione, ut maius periculum videatur ne mihi succenseat pars diversa, videlicet lenitatem meam interpretans collusionem.« 47 Auch der Schlusssatz mit der Aufforderung an den Leser, jetzt zu entscheiden, setzt voraus, dass die Argumente für und gegen gleichwertig – ohne verzerrendes Engagement – vorgetragen wurden. Collatio ist ein Verfahren der Rhetorik. Ein Redner muss decorum und aptum (Angemessenheit) berücksichtigen. Und er muss das Geflecht von Beziehungen beachten, das er sich im Vorgang der Collatio erarbeitet. Collatio ist die sachliche Vorarbeit, um zu klären, mit was man es zu tun hat. Womit hat De libero arbitrio zu tun? Die beiden Parteien stehen einander gegenüber: Pars, quae statuit liberum arbitrium 48 steht isti novi evangelii praecones 49 gegenüber. Gemeinsam ist ihnen – so Erasmus – die Achtung und Verehrung der Heiligen Schrift. Um den Sinn der Schrift geht der Kampf (pugna). 50 Dabei kann sich die Partei des liberum arbitrium auf die Auslegung der alten Rechtgläubigen (veterum orthodoxorum interpretatio) berufen, auf die gemeinsame Überzeugung vieler Jahrhunderte, auf eine Menge höchst gelehrter Männer mit bewundernswerter Kenntnis der Heiligen Schrift, empfohlen durch die Frömmigkeit ihres Lebens, einige davon Blutzeugen für ihre Schriftauslegung, Griechen wie Lateiner, auch die Überzeugung von Universitäten, Konzilien und Päpste. 51 Die Anhänger des servum arbitrium dagegen sind – wie Erasmus hämisch feststellt – eigentlich nur 3 und einer Bader (1985), 44–49. EE I, S. 34,30–35,1: Die Sache wird dargestellt zwischen Zweien ohne Streit, ohne Leidenschaft, ohne Feuer, nur bloß einfach und schmucklos wird die Wahrheit vorgestellt, mit solchem Gleichmut und solcher Mäßigung, dass ziemlich große Gefahr besteht, eine Gegenpartei ist zornig auf mich, weil sie meine Milde nämlich als geheimes Einverständnis deutet. 48 Die Partei (…), welche den freien Willen behauptet. Dla Ib 3, auch Dla Ib 5. 49 Gewisse Herolde des neuen Evangeliums. Dla Ib 3. 50 Dla Ib 3. 51 Dla Ib 2, Ib 3. Die eindrucksvolle Liste (deren Reihung noch der Klärung bedarf): Apud Graecos Origenes, Basilius, Chrysostomus, Cyrillus, Johannes Damascenus, Theophylactus; apud Latinos Tertullianus, Cyprianus, Arnobius, Hilarius, Ambrosius, Hieronymus, Augustinus, ne recenseam interim (um nicht inzwischen aufzuzählen) Thomas, Scotos, Durandos, Capreolos, Gabrieles, Aegidios, Gregorios, Alexandros. 46 47
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davon (Mani) wurde vom ganzen Erdkreis ausgepfiffen, ein anderer (Valla) hat bei Theologen kein großes Gewicht. 52 Bleibt nur Wiclif. Eigentlich ist das servum arbitrium, bei Licht betrachtet, eine Privatmeinung eines oder zweier Gelehrter. 53 Sind so die Disputanten (auch ihrem Gewicht nach) benannt, geht der Blick auf die Argumentation. Dabei sieht Erasmus vor dem Einstieg in die collatio ein Problem voraus 54 . Der Ertrag eines einfachen Zusammenstellens von vermeintlich einschlägigen Bibelstellen wird problematisiert. 55 Tritt die Partei der Traditionalisten mit ihrem Gewicht an Gelehrsamkeit und Geschichte gegen die neuen Propheten auf, so erhält sie zur Antwort: Es sind nur Menschen. 56 Tritt die Gegenpartei auf mit der Behauptung, die Schrift ist klar und man bedarf keiner weiteren Quelle, dann stellt sich die Frage, warum die Schrift erst jetzt klar ist und warum sie sich den Vätern nicht eröffnet hat. 57 Dabei sieht Erasmus nicht, dass eine Entscheidung in dieser Frage nicht durch eine Aufzählung von Standpunkten erreicht werden kann, sondern nur durch eine Diskussion der Sache, dass also sein Vorgehen zu keinem Ergebnis führen kann. 58
Dies Argument ist deshalb bemerkenswert, weil Erasmus begeisterter Anhänger des Lorenzo Valla war. Diesen hat er geschätzt als Erneuerer der klassischen Philologie, ihm verdankt er seine philologische Grundausrichtung an Quintilian, die Einsicht in die Bedeutung der Rhetorik, gibt dessen »Elegantiae linguae latinae« heraus. S. Walter (1991), 15 f. 53 Dla Ib 2. 54 Und diese Voraussicht ist eine der vielen Verzweigungen, die auf Nebenschauplätze führen, sowohl von Erasmus als auch von Luther in die Diskussion eingebracht. 55 Dass sich hier das gesamte Problem der lutherischen bzw. humanistischen Bibelhermeneutik auftut, kann nicht weiterverfolgt werden. Dazu: Leonhardt (2003), 143– 278. 56 Sed homines erant (Dla Ib 5, auch Ib 7). 57 Dla Ib 4. 58 Seeberg (1929), 64: »So sehr Erasmus die gegen Luther behandelten Probleme vom Boden der scholastischen loci aus bestimmt, so sehr wird ihm das dogmatische und religiöse Problem unter den Händen immer wieder zum historischen, das nicht in der Freiheit des Geistes, sondern in der Darlegung der Ansichten der Väter und – Historismus und Autoritätsglaube gehören noch eng zusammen – der Lehre der katholischen Kirche erörtert werden muss.«. 52
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Einige Unterschiede zwischen Erasmus und Luther
6.
Streben, was sonst?
Erasmus spricht vom »Versuch, sich zu bessern« 59 , vom Streben und der Gnade, die dem Strebenden bereitet ist. 60 »Klarer zeigt auch Zacharias sowohl das Streben als auch die Gnade an, die für den, der strebt, bereit ist: Bekehrt euch zu mir – Spruch des Herrn der Heerscharen –, so werde auch ich mich wieder zu euch kehren, spricht der Herr« (Sach 1,3). Luther widerspricht der Auslegung des Sacharja-Wortes des Erasmus. »Mit einer neuen Grammatik bezeichnet sie (sc. die Diatribe) mit jenem ›sich bekehren‹ das, was mit ›sich bemühen‹ gemeint ist, so dass der Sinn von ›Bekehrt euch zu mir‹ der sei: ›Bemüht euch, euch zu bekehren‹, und von ›Ich werde mich zu euch bekehren‹ : ›Ich werde mich bemühen, mich zu euch zu bekehren‹, so dass sie sogar Gott einmal ein Bemühen zuschreibt, vielleicht, um ihm selbst, der sich bemüht, eine Gnade zu bereiten.« 61 Im Bemühen liegt für Luther ein Grundfehler, denn es ist nicht geklärt, wieviel Bemühen genügt in den Dingen, die sich auf das ewige Heil beziehen und wieviel dagegen das Geschehenlassen der Gnade ausmacht. So kommt es einerseits bei Erasmus zu der Aussage, dass es christliche Gottesfurcht ist, sich aus aller Kraft anzustrengen. Andererseits gehört für Erasmus zur Gestalt des Christlichen dazu, dass niemand an der Vergebung Gottes zweifeln soll, der von Natur aus grundgütig ist. Diese disparate Beschreibung des Christlichen kritisiert Luther, es seien Worte ohne Christus, ohne Geist, kälter als selbst das Eis. 62 Letztlich scheitert ein Bemühen an der einfachen Ausgangssituation, dass ein unbestreitbarer Kernsatz des Glaubens ist: Liebe Gott, liebe den Herrn. 63 Dieser lässt sich nicht relativieren in:
Dla IIa 16: conatum ad meliora. Dla IIa 15: Zacharias et arbitrii liberi conatum indicat et gratiam conanti paratam. 61 Dsa 682. Hier zitiert auch als Illustration des lebendigen Tons, in dem argumentiert wird. Die Assoziation mit dem, der immer strebend sich bemüht, ist zutreffend und gehört zur Wirkungsgeschichte. 62 Alles verhandelt unter Dsa 611 f. 63 Dsa 681. Dass die Auseinandersetzung auch um das Verständnis der Schrift unter den beiden Aspekten Gesetz und Evangeliums geführt wird, sei erwähnt. Hier geht es nur um die Frage: Reicht nicht das Bemühen aus? 59 60
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Bemühe dich, Gott zu lieben. Vielmehr muss geklärt werden, welchen Platz das Gesetz gegenüber dem Glauben hat. 64
7.
»Non asserro« als Standpunkt
Für einen »Moderator« wirkt in dem vergleichenden Verfahren der collatio eine assertio wie ein Foul gegen die Regel. Erasmus ist »non delector assertionibus«, kein Freund von Assertionen, weil diese sein Programm des unparteiischen Mittlers desavouieren. Auf erster Ebene drückt Erasmus damit sein Missfallen gegenüber Luthers Schrift (Assertio omnium articulorum, s. o.) aus. Da Erasmus mit Assertio auch Luthers Captivitas Babylonica rügt, wird aus assertionibus ein Abstraktplural im Sinn von: Ich habe keine Freude an so etwas wie einer assertio. Das ist die Bedeutung, die auch im Zusammenhang von Dla Ia 6 naheliegt: Ich habe eine Vorliebe für Disputationen im Rahmen der Höflichkeit, Abneigung gegen starrköpfigen Streit und – sieht man von den echauffierten Tönen ab 65 – habe etwas gegen Positionalität. Die Auseinandersetzung um die reale Möglichkeit, ohne assertiones gedanklich und lebenspraktisch auszukommen, begleitet die Diskussion der Skepsis von Anfang an. Die Urteilsenthaltsamkeit (Epoché) scheint der einzige Weg zu sein, sich nicht in einen unauflöslichen Widerspruch zu manövrieren zwischen der Verweigerung von Assertionen mit der Begründung in der unvermeidlichen Form einer erneuten Assertio. 66 Es wäre nicht nur eine erneute Assertio, sondern – auf das Thema De servo arbitrio hin betrachtet – direkt ein Argument für die Position Luthers, der die Unmöglichkeit eines neutralen Standpunktes gegenüber der Willensfrage behauptet. 67 Entsprechend ist das Selbstverständnis des Erasmus nicht das eines Richters, 68 sondern eines Gesprächspartners und allenfalls MoWas in Dsa 680 f. vorgenommen wird, aber hier nicht weiterverfolgt wird, weil das »Bemühen« Thema ist. 65 Dazu unten unter »Der Ton«. 66 In der Perspektive der Skepsis interpretiert Leonhardt (2003), 143–175. 67 Was Luther in Dsa 674,6 ff. erläutert: Diatribe somniat hominem esse integrum et sanum, qualis est aspectu humano in rebus suis (Die »Diatribe« erträumt sich einen unversehrten und gesunden Menschen, wie er das für den menschlichen Blick in seinen Dingen ist). 68 Dla Ia 6; IV 17. 64
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derators. Wer das rechte Augenmaß bewahren will, braucht Distanz, Zurückhaltung, den skeptischen Blick, die Epoché, den Vorbehalt. 69 Moderator will er sein – ist doch der göttliche Vater, an den er glaubt, (so Erasmus in einer Auslegung zum Vaterunser) 70 wesentlich auch ein Moderator: »Schöpfer, Erhalter und Moderator aller Dinge im Himmel und auf Erden.« 71
8.
Quantifizierung
Erasmus zählt die Bundesgenossen auf, die seine Meinung unterstützen. Seine Aufzählung endet mit einem 21:1. Auch die Masse der Bibelstellen, die seine Auffassung stützen, ist nach des Erasmus Ansicht erdrückend. 72 Nachdem sich Erasmus auf den Boden einer quantifizierenden Vorgehensweise 73 durch collatio begeben hat, erfolgen seine Vermittlungsvorschläge auch in dieser Denkweise: »nonnihil« für den freien Willen, »plurimum« für die Gnade. 74 Beinahe nichts (»pene nihil« 75 ), eine Winzigkeit (»perpusillum« 76 ), ein minimum 77 Huizinga (1993), 165: Erasmus sei »ein Meister des Vorbehalts«. LB V, 1219A. 71 Es sei – um diesem Gedankengang Fahrt zu geben – daran erinnert, dass die Grundsünde des Menschen – nach Luther – darin besteht, dass der Mensch sich an die Stelle Gottes setzt. Zur Auseinandersetzung mit der Skepsis, auch für die Einbettung der Kontroverse Luther-Erasmus in den Kontext einer bis heute unabgeschlossenen Auseinandersetzung siehe Dietz (2013). 72 Auch in anderem Sinn in Luthers Sicht: »Dennoch will ich, um die Menge zu vernichten, mit der man mich vernichten wollte, fortfahren, einiges aufzuzählen«, und dann folgt eine Auseinandersetzung mit einzelnen Bibelstellen. Dsa 680. 73 Man könnte auch sagen: in veräußerlichter Vorgehensweise durch Abstraktion der Aussagen von ihrem jeweiligen existenziellen Zusammenhang und ihrem geschichtlichen Bedeutungshorizont, was eine Voraussetzung von »collatio« ist. Dsa 719,8 ff. 74 Dla IV 16. 75 Dla IIa 12. 76 Dla IV 7; Dla IV 8. Erasmus hat eine Vorliebe für Diminutive, s. Chomarat (1981) Bd. 1,253 mit Anm. 130. Diminutive gehören für ihn zur elegantia des Redens. (Im Unterschied dazu liebt Luther Diminutive um seine persönliche Beziehung zu unterstreichen. Ein Diminutiv ist für Luther eine Koseform: »Lenichen« (für seine Tochter Magdalena); »ist zu mal ein fein pselmichen, habs seer lieb« zu Psalm 56, »mein gebetlin«, ein »Versichen«, »gute textichen«, ein »fein kurtz dingechen«; »Liebchen« an sein Frau Katharina; »Dein Liebchen« als Briefunterschrift an Katharina; die »Epistola ad Galatas ist mein epistelcha, der ich mir vertrawt hab. Ist mein Keth von Bor« (WA.TR l,69,18 f. [Nr. 146])). S. Stolt (1989), 301. 77 Dla IIIc 1; Dla IV 11. 69 70
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an freier Mitwirkung bei der Gnade: 78 Diese Aufrechnung meint damit argumentativen Druck für das Ergebnis aufbauen zu können: Damit müssten die streitenden Parteien doch einverstanden sein!
9.
Mitte als Orientierung
Erasmus legt seine Argumentationen auf einen dynamischen Grund. Das dynamische Moment tritt in der Form einer Dreiteilung auf. Das betrifft eine dramatische Entwicklung (protasis, epitasis, catastrophe), einen Auslegungsgang (unde orsus, qua pergat, quo evadat spriritus) oder den Fortschritt (progressus) zwischen Anfang und Ende auf dem Heils- und Tugendweg. Der Mitte, und zwar nicht der statischen Mitte, sondern der Situation zwischen den Außenposten kommt damit für den Menschen eine entscheidende Bedeutung zu. Erasmus’ Modell (seine Hermeneutik) ist dreigliedrig mit den Teilen »Geist – Seele – Fleisch« hinsichtlich der Anthropologie, 79 mit »Anfang – Fortschritt – Vollendung« hinsichtlich der Geschichtsauffassung, 80 mit »Heiliger Literatur – guter Literatur und Philosophie – Natur« hinsichtlich des Wissenschaftsverständnisses. Sein Vorgehen in der DiaZu den quantifizierenden Formulierungen s. Brandt (1992), 25: »Quantifizierende Formulierungen … genügen nicht. Generell ist Skepsis angebracht gegenüber Versuchen, Sätze über Gottes Gnade und solche über die Beteiligung des Menschen aussagenlogisch (mit Konjunktion, Adjunktion oder Implikation) zu verknüpfen.« Siehe auch Track (1986), 85 mit Anm. 36, der vor der synergistischen Gefahr warnt, wo in quantifizierenden Formulierungen über Gottes und menschliches Wirken zum Glauben gesprochen wird. 79 Dla IIIb 4. Diese Dreigliedrigkeit sieht Erasmus auch in entsprechenden sozialen Stufen in seinem pyramidalen Gesellschaftsmodell. Die geistlichen Menschen stehen Christus am nächsten, die fleischlichen Menschen stehen dem tierischen Kreis am nächsten. Mitte sind die seelischen Menschen, die sich nach unten und oben bewegen können. Entsprechend ist das christliche Gemeinwesen triadisch aufgebaut mit dem Aufstieg vom gemeinen Volk über principes und Magistrat bis hinauf zu den Theologen, die auch wieder dreigeteilt sind in Priester, Prälaten, Papst. Wer auf der untersten Stufe seiner Klasse lebt, ist in der Nähe der nächstunteren Gruppe – beim Volk wären das die Tiere. Plastisch wird das auch darin, dass vermöge seines Amtes der schlechteste Priester immer noch über dem besten Fürsten steht. Erasmus war in dieser Hinsicht kein Aufklärer der Gleichheit, sondern an diesem Punkt durchaus mittelalterlich. Im Hintergrund der Dreierordnung stehen die drei Hierarchien des Dionysius. Diese trichotomische Anthropologie findet sich schon früh in der griech. Philosophie, z. B. in der Einordnung des Menschen zwischen Tier und Gott. Zur Vorliebe des Erasmus für triadische Strukturen: Hoffmann (1972), 64 ff. 80 Dla IV 8. 78
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tribe entspricht dieser Dreiteiligkeit, indem (nach den Vorreden) erst die beiden Außenpositionen markiert werden, während zwischen diesen Markierungen die Mitte ihre Position findet, zumindest sucht. 81 In der Orientierung an der Position diesseits der Außenpositionen liegt sowohl die anthropologische Pointe des Erasmus als auch die theologische Pointe. »Weil Uranfang und Endziel jenseits der Wirklichkeit (sic!) liegen, richtet Erasmus sein Interesse ungleich stärker auf diesen Mittelbereich des menschlichen Handelns, so stark in der Tat, dass es hier fast absolut erscheint.« 82 Schöpfungstheologie und Erlösungstheologie werden vermittelt durch die praktische Betonung der Angleichung des Lehrers und Beispiels Christi an die jeweilige Situation des Menschen. Schöpfungsordnung (Naturgesetz) und Erlösungsordnung (Gesetz des Geistes) sollen durch den Menschen (Gesetz Christi) in der Imitation wieder zusammengebracht werden. Der Handelnde handelt also in Imitation Christi. 83 Und der Handelnde handelt restaurativ. Es geht um die Wiederherstellung der Urordnung durch die allmähliche Umkehrung ihrer Perversion, angefangen im Menschen selbst, indem durch die Bildung in seiner Seele die Idealordnung des göttlichen Gesetzes und die Meinungswelt in eine harmonische Entsprechung gebracht werden. Dann kommt es zu Anwendung auf die äußere Umwelt des Textes, der Natur, der Mitmenschen, der Gesellschaft, der Kirche, der Geschichte. Damit ist noch vor der Entfaltung der Christologie eine (assertive) Entscheidung getroffen. 84 Im Sinne einer moralisch-praktisch ausgerichteten imitatio-Frömmigkeit, deren Grund und Ziel die pietas humana ist, fragt Erasmus nach der ursprünglichen und reinen Wahrheit, der Wahrheit eines Christus … simplex ac purus. Er findet sie in der Bergpredigt, in Gleichnissen und seinem Lebensbeispiel. Das Evangelium wird zur »nova lex«, eine Anweisung zur einzig adäquaten Erziehung des Menschengeschlechts im Geist des Liebe. 85 Ausführlich zu dem Terminus der »umkämpften Mitte« s. Reinhuber (2000), 31– 62. 82 Hoffmann (1972), 194. 83 Hoffmann (1972), 192. Luther hält eine Nachahmung Christi für unmöglich und besteht dagegen auf einer Nachfolge Christi. 84 Man kann darin, nämlich in der anders abkünftigen Herkunft der Grundentscheidung, nach der jetzt an den theologischen Inhalt herangegangen wird, einen entscheidenden Punkt der Auseinandersetzung sehen. 85 Man hört die spätere Entwicklung heraus, in der – dann unter Wegfall der Außenposten (die in dieser Aufstellung und Sichtweise ja in der Tat als ferne einstmalige 81
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Jesus ist darin Lehrer und Paradigma vollendeter Humanität, auch für die Gegenwart. 86 Was sich in der Schrift mit Jesu humaner Lehre nicht in Einklang bringen lässt, sich also der sittlichen Vernunft und dem durch sie bestimmten freien Willen entzieht, soll in seiner Dunkelheit stehengelassen, nicht aber mit theologischem Gewicht versehen werden. 87 Inkarnation und Handlung der Christen finden dieselbe Begründung. Modern gesprochen: Dem Menschen soll in seiner Selbstverwirklichung auf das Ideal Christus hin so geholfen werden, dass der Prozess der Vervollkommnung organisch stattfinden kann. Vervollkommnung, also die Wiederherstellung der Urordnung durch allmähliche Umkehrung ihrer Perversion, 88 beginnt bei dem einzelnen Menschen, und zwar mittels Bildung. 89 Wird die Situation des Menschen so beschrieben, dann ist der Rahmen mit Schöpfung und Erlösung nicht verlassen. Allerdings sieht Erasmus in alledem (trotz Fall) den Menschen als potentiell heil und integer. 90 Luther dagegen sieht den Menschen gefangen in seinem Selbstbezug und in seiner Selbstbehauptung, die biblisch mit der Sündenfallgeschichte beschrieben wird: Selbst sein wollen wie Gott. Deshalb lehnt Luther einen Mittelweg als untauglich ab. »Wir dulden und nehmen jenen Mittelweg nicht an, den sie (sc. die »Diatribe«) uns in, wie ich glaube, guter Absicht rät, nämlich, dass wir dem freien Willensvermögen ein ganz klein wenig zugestehen sollen, damit so leichter die widerstreitenden Schriften und die vorgenannten Unbequemlichkeiten aufgehoben werden. Denn durch den Mittelweg ist Schöpfung und ferne einstmalige Vollendung bedeutungsleer bleiben) – der Optimismus der Erziehung des Menschengeschlechts sich meldet. 86 Walter (1991), 253 f. 87 Behnk (1982), 183 ff. 88 Wobei Erasmus stillschweigend davon ausgeht, dass diese Perversion bei aller Veränderung des Daseins nicht fundamental die guten Fähigkeiten des Menschen beschädigt oder gar getilgt hat. Dies trennt ihn prinzipiell von Luther und stellt die grundsätzliche (im Sinne von fundamental) Erlösungsbedürftigkeit des Menschen in Frage. 89 Daraus erklärt sich die von Voegelin fast karikaturartige Feststellung der praktischen Ahnungslosigkeit des Erasmus, dass dieser in seinem Fürstenspiegel vom idealen Fürsten keine politische Handlungskompetenz verlangt, sondern eine Bildung, in der er (unter Einschluss der Kenntnis der drei Sprachen Hebräisch, Griechisch und Latein) eigentlich so werden sollte – wie Erasmus. Aber auch ohne eine solche Zuspitzung ist die Position des Erasmus im Grunde optimistisch restaurativ, im Rückblick auf sein gesamtes Werk tragisch restaurativ. 90 Dla IIIb 4.
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der Sache überhaupt nicht geholfen und nicht irgendein Fortschritt erzielt.« 91 Die Gegensätze zwischen Urstand und Gegenwart sowie zwischen Gegenwart und Vollendung werden von Erasmus nicht als in die Gegenwart wirkende Dynamik gedacht. Würde die Dynamik auch die Gegenwart mit umfassen, wäre ein einfacher Ausgleich und eine Anpassung nicht möglich, weil keine Entwicklung herzustellen wäre, innerhalb der die eigene Position ihren Stand finden kann. (Abgesehen von der dann noch nicht gestellten Frage, wo und vor allem wie man dabei seine eigene Position bestimmt). Die Gegensätze dürfen also nur als graduell ungleich verstanden werden. Eine zumindest minimale positive Verbindung und Analogie von Anfang und Ende müssen erhalten bleiben. 92 Luther sieht dagegen den Menschen vor allem in einer Unterscheidungssituation, in antithetischer Spannung zwischen Gegensätzen. 93 »Wo also und woher soll jenes Mittlere oder Neutrale kommen, nämlich die Kraft des freien Willensvermögens, die nicht Christus, das heißt, Weg, Wahrheit und Leben ist, und doch auch nicht Irrtum, Lüge und Tod sein darf? Alles, was von Christus und der Gnade gesagt wird, wird im Gegenüber ausgesagt, es wird folglich gegensätzlichen Aussagen gegenübergestellt. Nämlich: Außerhalb Christi existiert nichts als Satan, außerhalb der Gnade nichts als Zorn, außerhalb des Lichts nichts als Finsternis, außerhalb des Weges nichts als Irrtum, außerhalb der Wahrheit nichts als Lüge, außerhalb des Lebens nichts als Tod«. 94 Der richtige Vollzug des Unterscheidens war für Luther das Kennzeichen rechter, biblischer Theologie. Seinen Ursprung hat dieser modus loquendi (diese Weise zu reden) in der Bibel. Die Fundamentalunterscheidung ist ihm die zwischen Gesetz und Evangelium. In der Fassung von Gesetz und Evangelium als Gebot und Verheißung erkannte Luther die beiden Erscheinungsweisen des Wortes Gottes. Schlechterdings die gesamte Bibel und alle theologiDsa 755. Die Vernunft ist dabei zwar verdunkelt und dem Angriff durch die »fleischlichtierischen Leidenschaften unterhalb der Brust« ausgesetzt. Aber sie ist »verpflichtet (!), so wie für den Menschen als Ganzen auch für sich selbst auf der Wacht zu sein; sie muss gesund (!) sein und nur auf das Ehrbare schauen.« (S. Hoffmann (1972), 104–106, [Rufzeichen M. F.]). 93 Dsa 782 zu Joh 16,8 f. 94 Dsa 779. 91 92
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sche Erkenntnis haben ihren Angelpunkt in der rechten Erkenntnis von Gesetz und Evangelium. 95 Antithetisch ist dabei nicht dualistisch. Es geht um die Wahrnehmung des gespannten Beieinanders. In Gesetz und Evangelium als Gebot und Verheißung erkennt Luther die Begegnungsweisen des Wortes Gottes. Ihnen entspricht seitens des Menschen tätiger Gehorsam bzw. Versagen einerseits und andererseits unbedingte, schenkende Zusage, als Glaube und im Glauben zu empfangen. 96 Die elementare Funktion der Unterscheidung für Luthers Theologie ist offensichtlich. 97 Für eine solche Theologie und innerhalb dieser Theologie ist für die Frage nach der Freiheit des Willens in Bezug auf das, was oberhalb des Menschen ist, eine collatio untauglich. 98 Sie ist nur tauglich als Mittel im Bereich des Humanum, im Bereich coram mundo (gegenüber der Welt). 99 Auf der Ebene menschlicher Qualität und Akte, also auf der Ebene distanzierter Beschreibung menschlicher Vorgänge besteht ein nahezu zwangsläufiger Sog zu einem quantifizierenden Vergleichen. 100 Luther bestreitet, dass ein solches Vorgehen für die Dinge »oberhalb von uns« möglich ist. Die theologische Aussage über den Menschen ist nicht eine, die additiv zu anderen anthropologischen Erkenntnissen hinzukommt, seien es Aussagen moralischer, psychologischer oder soziologischer Art. Das Unterscheiden in Dsa macht auch vor Gott nicht Halt. Sogar von Gott ist nur im Modus des Unterscheidens zu reden. Sein wesenseigenes und sein scheinbar fremdes Werk werden unterschieden wie auch darin Gott selbst als offenbarer und verborgener. 101 Dies Letztere führt allerdings, um der Pene universa scriptura totiusque Theologiae cognition pendet in recta cognition legis et Euangelii (WA 7, 502,34 f.). 96 S. Beutel (2007) und Ebeling (2015). 97 Iwand (1966, 122 f.) nimmt die von E. Seeberg beschriebene Wandlung von substantiellem Denken zu personalem Denken auf und benennt feste Formeln meist paradoxaler Prägung, die die Wendepunkte fixieren und ein bleibendes Gerüst von Luthers theologischem Denken bilden: »Simul justus et peccator; peccator in re, iustus in spe; remissio non est ablatio peccati; lex praecipit, Evangelium offert; non iusta operando iusti efficimur, sed iusti essendo iusta operamur.« In Dsa 768: Bei Gott bleibt nichts Mittleres übrig zwischen Gerechtigkeit und Sünde. 98 Behnk nennt es »Entweder-Oder«-Ansatz und diskutiert die Forschungslage, Behnk (1982), 116–133. 99 Dsa 779, auch 768. 100 Ebeling (2015), 96 f. 101 Eine Rückführung dieser Unterscheidung auf nominalistische Unterscheidungen der potentia Dei geht fehl, denn Gott regiert in seiner Allmacht unbegreiflich, ist aber 95
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eigenen Situation gerecht zu bleiben, von der erörternden Redeweise weg in die Sprache des Bekenntnisses. Beispiel für die unterschiedliche Grundsicht, die sich in der Wahl der Bilder ausdrückt, ist einerseits Luthers Bild vom Menschen als Reittier, 102 das entweder von dem oder von dem geritten wird: »Wenn Gott darauf sitzt, will und geht es, wohin Gott will, … Wenn Satan darauf sitzt, will (!) und geht es, wohin Satan will.« Andererseits wählt Erasmus das Bild von Scylla und Charybdis, zwischen denen man möglichst wenig beschädigt hindurchgelangen muss. Eine dichotomische und folgenreiche Sicht hat Erasmus allerdings bei der Unterscheidung von Theologen und Volk. In Dla ist es die Unterscheidung zwischen dem, was in der Öffentlichkeit verhandelt werden soll, und dem, was für einfaches Volk unzuträglich ist. 103 Dass Luther bei dieser Trennung nicht mitgeht, liegt in der unvertretbaren Eigenständigkeit, die jeder Mensch in seinem Glauben hat und im Größeren in seiner Theologie des Priestertums aller Gläubigen. 104
10. Der Weg Spätestens mit dem Blick auf den »Weg« wird deutlich, dass sich hier ein Blick auf die Denkform des Erasmus eröffnet, der über das rhetorische Instrumentarium hinausweist. Steht doch in Frage, ob »Weg« ein angemessener Ausdruck ist für den Inhalt, der mit ihm bezeichnet werden soll. Erasmus verwendet »Weg« in einem pragmatisch-pädagogischen Zusammenhang, den er von der scholastischen Logik abgrenzt. In der »Ratio« erläutert er unter »via« und »methodus« sein Vorgehen: Es ist eine große Aufgabe, die Herzen der Menschen für das Studium der Theologie zu entflammen, aber es bedarf eines vollkommeneren Meisters, den Weg und die Methode (viam ac methodum) dieses himmlischen Studiums zu vermitteln. 105 Dabei gibt es noch unbegreiflicher in seiner Liebe, die sich in die Ohnmacht hingibt. Ebeling (2015), 105 f. 102 Dsa 635. 103 Hyperaspistes 359–388. S. Kehlen (1976), 231 ff. 104 Dsa 653. Dieses Motiv wird ausgeführt bei Mehlhausen (1999), 454 f. 105 Erasmus: Ratio verae theologiae, 1529, in: Desiderius Erasmus Roterodamo … 177, 15–27. 15: »Magnum quidem est ad theologiae studium animos hominum inflammare, sed absolutioris artificis est huiusce caelestis studii viam ac methodum tradere.« Das Folgende ausführlich in: Walter (1991), 96 f.
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Zugangswege, Irrwege, Umwege. Wer einen abkürzenden Weg weiß, spart Zeit, Arbeit und Kosten (labore sumptuque). In Dla sind Stücke eingearbeitet, die diesseits allen nicht-assertorischen Redens Standpunkte des Erasmus sind. Wenn »nach meinem Urteil« (Ergo meo quidem judicio) ein Abschnitt beginnt, so nimmt Erasmus hier Stellung. Wenn der Abschnitt dann nochmals darauf hinweist, dass es sich um sein Urteil handelt (»das festzuhalten, sage ich, wäre meinem Urteil nach zur christlichen Frömmigkeit ausreichend« 106 ) und Erasmus mitten im Abschnitt noch Bezug auf seinen Glauben nimmt (»im übrigen wollen wir glauben«), so ist hier des Erasmus eigene Überzeugung zu finden. 107 »Wenn wir uns auf dem Weg der Frömmigkeit (in via pietatis) befinden, sollen wir mutig nach dem Besseren streben, indem wir vergessen, was hinter uns liegt; wenn wir in Sünden verstrickt sind, sollen wir uns mit allen Kräften herauszuarbeiten suchen; sollen wir das Heilmittel der Buße suchen und die Barmherzigkeit Gottes auf jede Weise zu erlangen trachten, ohne die der menschliche Wille noch seine Strebungen Erfolg haben.« Der Weg geht damit vom Ungebildeten zum Gebildeten. Aber zeigt Erasmus damit nicht einen Weg, den er selbst noch nicht übersehen kann? Erasmus wünscht, das in Abrede stellen zu können, und wenn nicht, was hindert ihn, jene Seeleute nachzuahmen, die nach einem Schiffbruch anderen durch Aufzeigen der Gefahrenpunkte helfen, bzw. jene Merkurstatuen nachzuahmen, die an Wegkreuzungen dem Wanderer das Ziel anzeigen, zu dem sie selbst niemals kommen werden, oder, um es mit Horaz zu sagen, als Wetzstein zu dienen, der das Eisen schärft, ohne selbst schneiden zu können. 108 Die Denkform »Weg« lässt eine Orientierung auf das Ziel hin entstehen, auch wenn das Ziel nicht erreichbar ist. Was ist das Ziel des Erasmus? Eine gebildete Person, die Hebräisch, Griechisch, Lateinisch kann, friedliebend ist und so gut ausgestattet und fortgebildet ist, dass das Ziel in den Blick kommt? 109 Eine Zurückführung der Dla Ia 8: »Haec, inquam, tenere meo judicio satis erat ad Christianam pietatem.«. S. Mehlhausen (1999) hat diesem Textstück Dla Ia 8 eine ausführliche Exegese gewidmet mit dem Ergebnis, dass Luther nach der Glaubensgewissheit fragt, Erasmus dagegen fragt nach dem katechetischen Minimum. 108 Winkler (1967), VIII f. 109 Eben ein Mensch wie Erasmus selbst. Beachtlich ist das »heiße Bemühn«, das sich hier zeigt, ebenso wie die Einführung von »methodus« in einer Weise, die in den folgenden Jahrhunderten Karriere machen wird. 106 107
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Ordnung auf ihren ursprünglichen Zustand? Die Restauration der Weltordnung? Ein wieder erreichter Urzustand, so dass Körper und Seele in ihrer ursprünglichen Reinheit erblühen? 110 Wird das Ziel nicht mehr fassbar, hat die Metapher des Wegs die banalisierende Tendenz, selbstbezüglich zu werden und schon das bloße Unterwegssein zu affirmieren. Jede Denkform hat gewisse Stärken, aus denen sich ihre Anwendbarkeit herleitet. Sie macht vor anderen Problemen Halt, bekommt sie nicht in den Blick und fasst sie nicht an, weil Einschränkungen einer Denkform nicht einfach im Blickfeld sind. Luther widerspricht Erasmus vehement. In dessen Beschreibung des Wesens des Christentums (forma Christianismi) fehlt jeder Bezug auf Christus. 111 Jeder beliebige Jude oder Heide kann so reden. Bei dieser Beschreibung bleibt kein Gott, kein Christus, kein Evangelium, kein Glaube, nicht einmal etwas vom Judentum, viel weniger vom Christentum übrig. 112 Ja, Christus wird genannt der Weg, die Wahrheit und das Leben – und das durch ein Gegenüber, so dass alles, was nicht Christus ist, auch nicht Weg ist, sondern Irrtum; nicht Wahrheit, sondern Lüge; nicht Leben, sondern Tod. 113 Woher soll also eine Mittelposition, ein Sich-abmühen kommen? Alles was von Christus und der Gnade gesagt wird, wird im Gegenüber ausgesagt, es wird folglich gegensätzlichen Aussagen gegenübergestellt. Demgegenüber ist kein freier Wille als Mittelding zu behaupten, der noch dazu das Vornehmste und Höchste im gesamten Menschengeschlecht genannt werden soll.
11. Worte von Erasmus: Moderatio, re-, simplicitas Lieblingswörter zeigen immer etwas über Sprache und Wendung in der Sprache an, die charakteristisch sind für den Sprecher. Hier kann 110 Dies alles Formulierungen des Erasmus in verschiedenen Schriften, s. Hoffmann (1972), 211–220. 111 Dsa 609,18 f. 112 Dsa 610,17–19. Erasmus verteidigt sich damit, dass es eine katechetische Elementarisierung geben müsse für das einfache Volk (Hyperaspistes 425–431). Gerade dieser Reduktion, in der nicht mehr die Grundlage zu finden ist, widerspricht Luther. Dass daneben eine Auseinandersetzung stattfindet über das Verhältnis zwischen Menschenwort, Wort Gottes und Gott (Dsa 685, 14–17) sei hier nicht weiter verfolgt. 113 Dsa 779.
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es nur um wenige Beobachtungen gehen. Ein genauerer Blick auf die Wortverwendung führt schnell in die Interpretation der Anschauungen, die hier in extenso nicht beabsichtigt ist. Ebenso kann eine vorlaufende und nachfolgende Wortgeschichte hier nicht verfolgt werden, obwohl gerade bei den auffallenden Worten eine Interpretation für das Verständnis schnell ertragreich wäre. Moderatio ist ein Grundwort des Erasmus, das sich sowohl auf die Haltung des Diskutanten, als auch auf die Vorgehensweise bezieht. So geht es um eine moderata disputatio (Ia 2: maßvolle Erörterung), um ein maßvolles Urteil (IV 1), bei Paradoxa ist Erasmus für Mäßigung (IV 6), bei der Bibelauslegung geht es um ein gemäßigtes Urteil (IV 17: moderandam sententiam), Beichten mäßigt (! Ia 9), wenn Jünglinge Mädchen »über die Maße« lieben, so dass sie ihre Sinne nicht mehr beherrschen, dann tun sie das immoderatus (Ia 4). Maßhalten kann zu einem guten Werk führen (IV 16). Und ins Geistliche gewendet leistet die Gnade als moderatrix und Helferin Beistand (IIIc 12) und der Heilige Geist »lenkt und leitet« (moderatur et temperat). Auffallend ist die häufige Verwendung des Präfixes ›re-‹. 114 Dahinter steht ein Exitus-Reditus-Schema, das oben bei der Frage nach dem Ziel des Weges schon berührt war. Simplicitas 115 ist ein vielfältig eingesetztes Wort des Erasmus: Es geht um einfachen Gehorsam, dass der Geist einem Niedrigen und Ungebildeten offenbart, was er vielen Gelehrten nicht geoffenbart hat, da ja Christus ausdrücklich deshalb dem Vater Dank sagt, weil er, was er den Weisen und Klugen verborgen habe, d. h. den Schriftgelehrten, Pharisäern und Philosophen, den Kleinen, d. h. den Einfältigen (simplicibus) und in den Augen der Welt Dummen geoffenbart habe. 116 Ach, würden doch einige der reformatorischen Streiter die Aufrichtigkeit und Einfachheit (simplicitatem) der Sitten der Apostel aufweisen, die uns, die wir etwas langsam von Begriff sind, an Stelle von Wundern als Aufweis ihrer Geisterfülltheit dienen könnten! 117 Ich maße mir weder Lehre noch Heiligkeit an noch vertraue ich meinem Geistbesitz, dennoch möchte ich mit schlichtem Fleiß (simplici
114 Restituere, reddere, referre, re-(in)staurare, resipiscere, remittere, renovare, respicere, respondere, revocare usw. S. Hoffmann (1972), 79. 115 Zu Simplicite s. Chomarat (1981), 559–562. 116 Dla Ib 5 mit Bezug auf Mt 11,25. 117 Dla Ib 6, paraphrasiert.
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sedulitate) vorbringen, was meinen Geist bewegt. 118 Simplex wird auch im Sinne von »wörtlich« IIIa 14, buchstäblich IIIa 17 verwendet. Besonders in Verbindung mit Gehorsam (Einfach gehorsam sein IIIc 9, IIIc 12, IV 2). Somit verbinden sich mit »einfach« sehr verschiedene Bezüge, aber immer in einer positiven Konnotation. Gegenstück zur Einfachheit sind scholastische Spitzfindigkeiten (»was die Sophisten zu schwatzen pflegen«), in denen die Unterscheidung der Personen der Trinität, die Vereinigung der göttlichen und menschlichen Natur in Christus, die Sünde, die niemals vergeben werden kann, diskutiert werden. Diese Geheimnisse verehren wir in mystischem Schweigen (in mystico silentio veneremur). »Es ist frömmer, diese Dinge als Geheimnisse anzubeten, statt sie zu diskutieren«. Der Grund ist, dass diese Fragen schon oft untersucht worden sind, sie haben Streit und Verwirrung hervorgerufen, es war zum Nachteil für die Eintracht. Klar erkennbar sind die Vorschriften für ein gutes Leben. 119
12. Luthers Rede: immo, Relationalschlüsse, Bilder Das Wort Immo (in der Form »imo«) kommt in Dsa 82 mal vor. Das Wort kann einfach eine Zuspitzung sein. Es kann von Luther auch eingesetzt sein, um die Aufmerksamkeit des Hörers »auf Gottes Wirken ›sub contrario‹ zu lenken. »Immo« ist dann rhetorische Figur der ›theologia crucis‹ geworden.« 120 Drei verschiedene Anwendungsgebiete von »immo« lassen sich unterscheiden: 1. Als rhetorische Figur wirkt »immo« als Ausdruck von Erleben und als Einladung zum Miterleben. Die hier angelegte Verbindung von ›affectus‹ und ›intellectus‹ ist ein Merkmal wahrer Theologen und genuiner Theologie (germana theologia) mit programmatischer Spitze gegen Wissen ohne Weisheit (1 Kor 1,23). »Immo« ist dann Ausdrucksmittel der lebendigen Rede, um innere Ergriffenheit durch veränderte Tonhöhe zu übertragen. Am nächsten kommt dem die Übersetzung: »Ja, wahrhaftig«.
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Dla Ib 9. Alle Zitate aus Dla Ia 9. Oberman (1984).
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»Imo« steht auch für die Enthüllung der verborgenen Wirkursache. Die Dinge werden auf ihre richtige Ursache hin angesehen. Das nächstliegende deutsche Äquivalent ist das herausfordernde ›Ja, richtig betrachtet‹. Ein Beispiel in Dsa 747, wo Luther auf den Einwand des Erasmus, über den Ausgang der Dinge nicht nachzudenken (Dla Ia 9), reagiert mit Imo: »ja, deswegen vor allem muss gewirkt werden, …«. Zu denken wäre an eine Übersetzung wie: »Ja, richtig betrachtet muss vor allem gewirkt werden.«, um den grundsätzlichen Unterschied der Sichtweisen, für den imo hier steht, auszudrücken. So taucht imo an zentralen Stellen auf. Erasmus möchte keine Assertionen. Die Antwort Luthers: »Denn so ist ein Christ nicht gesinnt, dass er keinen Gefallen hat an Wahrheitsbezeugungen. Vielmehr (imo) muss er sich an Wahrheitsbezeugungen erfreuen – oder er ist kein Christ.« 121 Kurz sei eine dritte Verwendung angeführt. In der Rechtfertigungslehre erhält »immo« die besondere Funktion, den Rechtsstreit zwischen Gott und Mensch, den Kampf zwischen den Bereichen ›coram hominibus‹ und ›coram Deo‹ zu markieren. Zur Illustration diene ein Satz, der dem modus loquendi Luthers nachgebildet ist: Homo, immo creatura. Die blinde Philosophie sieht den Menschen nur in seiner Vorfindlichkeit. Aus der Perspektive Gottes und des Glaubens aber erweist sich der Mensch als Geschöpf. 122 Dockhorn weist auf die häufige Verwendung von Ausdrücken aus der Klasse der Relationalschlüsse hin: tot-quot; tantum-quantum; toties-quoties. 123 Luther hat eine Freude daran, von Erasmus verwendete Bilder aufzunehmen und weiterzuführen. 124 Ob Erasmus von Blitz und Donner 125 schreibt, von der Höhle bei Korykos, 126 von Scylla und Charybdis, 127 Luther nimmt die Bilder dankbar auf und wendet sie an, bildet sie um und spielt mit ihnen. Dieses rhetorische Mittel be-
Dsa 603. Dsa 677,3: Wahrlich also sind wir am Scheideweg, aber nur ein Weg steht offen, imo: Keiner steht offen. Durch das Gesetz aber wird gezeigt, wie freilich der eine Weg zum Guten unmöglich ist, wenn Gott nicht den Geist schenkt. 123 Dockhorn (1973), 34. 124 Stolt (2001), 680. 125 Dla IV 16 – Dsa 699, 763. 126 Dla Ia 7 – Dsa 607, 631, 684, 718. 127 Dla IV 16 – Dsa 602, 613, 770. 121 122
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lebt und gibt auch die Möglichkeit, bei Verwendung des gleichen Bildes in umgewendeter Richtung »Gegentreffer« zu setzen. In die gleiche Methodik gehört die Verwendung des Sprichworts »Quae supra nos, nihil ad nos«. 128 Luther fasst damit die Meinung des Erasmus zusammen, dass er anscheinend um des Friedens willen sich nicht damit befassen will, was einer glaubt. 129 Hier in Dsa 605,20 ist das Sprichwort offensichtlich pejorativ verwendet. Erasmus wird vorgeworfen, einen philosophischen Sachverhalt mit einem theologischen zu verwechseln. Das Verstehen der Wahrheit des Glaubens als etwas, was »über uns ist«, soll nicht sinnvoll sein. Im Gegensatz zu dieser Verwendung taucht das Sprichwort überraschend nochmals auf. In Dsa 685 verwendet Luther es unter: »Hier hat wahrlich jenes Wort Geltung: ›Was über uns ist, geht uns nichts an.‹« Jetzt steht es im Zusammenhang mit Luthers Unterscheidung zwischen verborgenem und offenbaren Gott. Hier hat das Sprichwort – dem Leser sicher noch im Ohr – unvermittelt eine positive Bedeutung in theologischem Zusammenhang.
13. Der Ton Immer wieder hat der Ton der Auseinandersetzung eine Berücksichtigung gefunden. Nicht einmalig ist die Meinung, dass sich mit der Ablehnung des Tons auch die Diskussion schon erübrigt hat. Gemeint ist der provozierende, larmoyante, grobe oder beleidigte Umgangston untereinander. Wie können gebildete Menschen, sagt der heutige bürgerliche Anstand, in dieser Weise miteinander umgehen? Der Humanismus hat nicht nur Auswirkungen auf die Sicht der Welt (das Buch der Welt als Zeichen Gottes), auf die Haltung zu Autoritäten, die Suche nach Quellen der Antike und deren Wiederbelebung. Er hat auch ein anderes Verständnis des gebildeten Menschen zur Folge. Der Intellektuelle als Literat wird geboren, der sich zunehmend unabhängig von seinen Mäzenen macht. Als Verfasser, Herausgeber, als Drucker, als Mensch mit intellektuellem Anspruch tritt er (ermöglicht durch die Wertschätzung antiker Texte und die Entwicklung eines Buchmarkts) selbständig und selbstbewusst auf. Zu dieser neuen Stellung gehört auch ein entsprechender Habitus. Im Sinne Ciceros 128 129
Was uns übersteigt, geht uns nichts an. Jüngel (1980), 203–205.
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ist eloquentia nicht nur Technik, sondern eine Lebenshaltung. Petrarca reklamiert für sich beispielgebend das Attribut eines »vir bonus dicendi peritus« (aufrechter, redegewandter Mann). 130 So geht die Intention des Erasmus zunächst gegen den Barbarismus der Umgangssprachen. Auch wenn er wünscht, die breite Masse könnte die Bibel in ihrer Muttersprache lesen, sprach er aus ästhetischen und moralischen Gründen verächtlich vom niedrigen Volk. 131 Das Urteil des Erasmus über ungehobelte Redeweise entspringt seinem Wunsch, ein gereinigtes, elegantes Cicero-Latein als lebende Kosmopolitensprache der Elite seines Zeitalters zu hören und dann als Standeskennzeichen zu sehen. Diese Sprachkritik ist eingebettet in die Entfaltung einer neuen Lebenshaltung. Der Literat etabliert sich neben Klerus und politischer Macht als neuer Stand. Der Ton der Auseinandersetzung ist in seiner Bedeutung für Erasmus unübersehbar und bestimmt die inhaltliche und rhetorische Frage mit. Er bezeichnet sich selbst als einen, »der höflich und ohne Schmähungen eher Material zusammenstellt als streitet«. 132 So beschäftigen sich die ersten 25 Seiten 133 der Unterredung Hyperaspistes mit der Klage über den rauen Ton. Sieht man genauer hin, so gibt es durchaus gegenseitige »Hiebe«. 134 Aber es fügt sich in die Haltung des »non assero« (keine Verbindlichkeit der Behauptung), dass für Erasmus entsprechend seiner (vorgeblichen) Distanz zu dem Inhalt entsprechend sein Habitus an Gewicht gewinnt. Umgekehrt sagt Luther von sich selbst, dass er »Nunquam mihi melius procedit orare, prae-dicare, scribere, quam cum irascor.« (Ich kann nie besser beten, predigen, schreiben, als wenn ich erzürnt bin.) »Ira enim erfrischt mir mein gantz geblut, acuit ingenium, propellit tentationes.« (Denn der Zorn […] schärft meinen Verstand, vertreibt die Anfechtungen). 135 Dies ist auch zu sehen als Unterstreichung der Authentizität der Person und der Rolle der Rhetorik für Luther (und in anderer Weise für Erasmus), wie sie uns heute fern gerückt ist.
Alfred Noe, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, 4, 1998, 1–80. Hoffmann (1985), 94 ff. 132 Dla Ib 9. 133 Hyperaspistes S. 201 bis 251. 134 Oskar Joh. Mehl (1960) hat sie zusammengetragen. In dieser Bestandsaufnahme zeigt sich, dass sich die Kontrahenten gegenseitig nichts schenken. 135 Stolt (2001), 688. 130 131
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14. Luthers Reaktion Luthers Schrift hat vier Teile: 1. Exordium (Entgegnung auf die beiden Vorreden des Erasmus und Definition) 136 , 2. Confutatio (Widerlegung der Schriftbeweise für den freien Willen) 137 , 3. Defensio (Verteidigung der Bibeltexte gegen den freien Willen) 138 , 4. Pugna (Kampf für die Gnade Gottes mit den Kampftruppen Johannes’ und Paulus’) 139 . Die ersten drei Teile beziehen sich direkt auf Erasmus und die Gliederung von Dla. 140 Der 4. Punkt ist nicht mehr Reaktion auf die collatio, sondern eigene Position. Dsa lässt sich auch zweiteilig lesen in einem Teil der Reaktion auf die Schrift des Erasmus (Widerlegung) und einem Teil der Statuierung der eigenen Position (Assertion). Gerade in den Abschnitten über assertio taucht das Wort »Kampf« besonders häufig auf. Von der Vorgehensweise her ist Assertio der Kampf! 141 Die eigene Position wird angekündigt als hervorgehend aus einem dynamischen Geschehen.
15. Pugna gegen den Skeptiker Das ist eine nur auf den ersten Blick klare Situation der Auseinandersetzung. Bei der Auseinandersetzung um das Thema »de servo arbitrio« ist es allerdings eine zwiespältige Situation. Denn Luther ist nicht an unnützen Dogmen interessiert. 142 Die stehen in dieser Auseinandersetzung nicht zur Diskussion. Da macht jeder Christ Gebrauch von einem skeptischen Herangehen. Es geht um Gott, Heil, den ganzen Menschen, um die Dogmen Christi. 143 Aber fällt nicht auch jede der Positionen Luthers unter diesen Vorbehalt, wieder nur beliebig-frei geäußerter menschlicher Standpunkt zu sein? Damit Sein Plan in Dsa 661,25–28. Hier auch die rhetorischen Termini. Ab Dsa 666,12 ff. 138 Ab Dsa 699,24 ff. 139 Ab Dsa 756,24 ff. 140 Dsa 610,22 f. und dann 756,23. 141 Reinhuber (2000), 13. 142 Hoc si dicis de inutilibus et neutris dogmatibus, Quid novi affers? (Wenn du so etwas über unnütze und gleichgültige Lehrstücke sagst – was bringst du Neues? Dsa 604,23 ff.). 143 Dsa 604,9, auch als dogmata Dei (642,33) und dogmata scripturae (631,28.33) bezeichnet. 136 137
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wäre zunächst auch Luther in dem skeptischen Netz gefangen, in dem es keine Wahrheit, sondern nur Moderation der Meinungen gibt. Seine Verteidigung des unfreien Willensvermögens wäre unter der Hand ein Erweis des freien Willens, weil in dieser Form des Denkens in Assertionen alles, auch das Dogma des servum arbitrium zum Unernst von menschlichen Dogmen wird. 144 An diesem Punkt bestreitet Luther, dass es einen Wechselwillen (vertibile arbitrium) gibt, in dem die Situation des Menschen vor Gott in der Schwebe bleibt. Die Unterscheidung zwischen einem Willen an sich (merum velle) und einem davon getrennten Akt wird bestritten, als ob es vor (jenseits) des Aktes ein Institut »Wille« gibt, das von dem Akt unabhängig und frei, ohne velle oder nolle, ohne amare oder odisse 145 ist, ut qua voluntas ipsa actionem volendi et nolendi elicitur. 146 Der Ort der Entscheidung, der Platz des freien Willens ist ein fingierter Platz, an dem der Mensch, wie er wirklich ist, der von Gott gesuchte und geliebte Mensch, nie steht. Der Halbtote, der unter die Räuber gefallen war und von dem Samariter gespeist und gerettet wurde, hatte nicht die Möglichkeit, sich zu seinem Retter »zu verhalten«. Dem Lazarus, der im Grabe lag und den Ruf vernahm: Komm heraus, blieb nicht die Freiheit der Wahl. 147 Erasmus wollte diesem Netz entrinnen, konnte es aber nur durch eine neue, versteckte assertio, die nun ganz auf eine weitere Begründung verzichtet, aber nach Verständigung suchend beteuert: »ich kann doch wirklich behaupten, dass ich in der Auseinandersetzung jene Gewissenhaftigkeit beobachtet habe …«, der gesagt hat, »was Christus ist (quid Christus sit)« und der »friedliebend« und traditionsorientiert sein will. 148 Seine von ihm unterschätzte Assertio liegt in der festen Überzeugung, prinzipiell keine Assertionen (und deren Möglichkeit) anzunehmen. Sein Standpunkt nährt sich aus anderen, dem Gedankenfeld des verselbständigten Humanismus entstammenden Überzeugungen: Gewissenhaftigkeit, Strebsamkeit, Friedensliebe, Tradition. Der Rückgriff auf diese allgemeinen ÜberBader (1985), 190. Dsa 664: »wollen und nicht wollen, lieben und hassen«. 146 Dsa 663: »Durch die der Wille selbst die Handlung des Wollens und Nichtwollens hervorbringt.« 147 Iwand (1959), 257 f. 148 Dla IV 17: »deretwegen der christliche Erdkreis von Kämpfen erschüttert ist«; »welchen Geist so viele christliche Lehrer und Völker gehabt haben, nun schon seit dreizehn Jahrhunderten, die das nicht erkannt haben«. 144 145
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zeugungen hilft Erasmus, als Person selbst stets in der Reserve zu bleiben. 149 Neben den theologischen Unterschieden 150 trennte die Kontrahenten vor allem ihr geistig-menschlicher Grundansatz. Erasmus sieht den Frieden, Luther die Wahrheit der Christenheit in Gefahr: Du zeigst offen an, »dass du diesen Frieden und die Ruhe des Fleisches wohl als weit wichtiger einstufst als den Glauben, als das Gewissen, als das Heil, als das Wort Gottes, als die Ehre Christi, als Gott selbst.« 151 Die Stellung des Erasmus dazu: »Aber was wird aus der Wahrheit, wenn die Menschen in einen Religionskrieg gestürzt werden? Concordia, concordia, concordia!« 152 Luther bekämpft alle Restriktionen, die Erasmus sich mit seinem Satz »non delector assertionibus« im Namen von Friedlichkeit aufgeladen hat. Und seine Kritik ist sowohl inhaltlicher Art, dass Erasmus in lebenswichtigen Dingen eine Redeweise hat wie ein Finanzverwalter bei einer Klage um gefundenes Geld. 153 Einer solchen Redeweise merkt man auch nicht mehr an, wie bedeutungsvoll die Sache ist, ernst, notwendig, dass es um Ewigkeit geht. Neben der Redeweise greift Luther auch die Vorentscheidung des Erasmus an. Wenn ihm so wichtig ist, die Friedlichkeit zu bewahren, dann stellt er sich gegen eine beunruhigende Bewegung, die für Luther (mit Hinweis auf Bibelworte) notwendig vom Evangelium ausgeht und unvermeidlich ist. Luther spricht Erasmus darauf an, dass er in vielen Büchern über den Verlust von Frieden und Eintracht klagt. Aber auf dem Weg des Erasmus (nicht-assertorische Redeweise, Gesetz der Friedlichkeit, Sachbeschränkung, elitäre Adressatenunterscheidung) ist hier kein Erfolg zu finden, denn das Problem und seine Lösung liegen tiefer. »Diese Gichtkrankheit lacht über deine heilenden Hände.« 154 Hoffmann (1985), 58. Dazu ausführlich: Kohls (1972). 151 Dsa 625 152 Vgl. Epp., ed. Allen, Bd. 4, 1000, S. 28, Zeile 45–46; Bd. 5, 1342, S. 227. Hoffmann (1985) fasst (S. 63) die Philosophia Christi des Erasmus so zusammen: Erasmus ist »weit davon entfernt …, den Sinn der Sakramente in Frage stellen zu wollen. Aber das kirchliche Handeln hat in seinen theologischen Aussagen doch kein zentrales Gewicht. Das Programm der Philosophia Christi lehnt das, was die Kirche tut, nirgends ab; es kann ihm sogar, recht verstehen, eine gewisse Bedeutung zuschreiben. Aber es lässt sich doch nicht übersehen, dass im ganzen hier die Dogmatik durch die Ethik verdrängt worden ist.« 153 Dsa 625. 154 Dsa 627. 149 150
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Anders gesagt, argumentiert Erasmus philosophisch-ethisch, während Luther auf der Berechtigung von theologischer Argumentation besteht, richtiger auf einem vorrangigen Gottes-, Selbst- und Weltverständnis besteht.
16. Confessio Eine Confessio (Bekenntnis) durchstößt die Distanz zwischen dem Gesprochenen und der Person. Erasmus hat mit der Form der Collatio diese Unterscheidung von Person und Sache zur Methode erklärt. Seine »Definition« des freien Willens stellt er unter den Vorbehalt (hoc loco), 155 seine Argumente bringt er vor, als ob hier eine Objektivität möglich sei, die unabhängig von der Person hergestellt wird. Diese von Erasmus hergestellte Grundsituation nimmt Luther auf. Es ist die Unfähigkeit zur Authentizität, die einem skeptischen Verfahren eignet. 156 »Du bist darauf bedacht, dass du dich überall glatt und geschmeidig durchlavierst«. 157 Luther bescheinigt Erasmus, die wichtige Frage gestellt zu haben, aber er zweifelt an des Erasmus Kompetenz, die Frage in skeptischrhetorischer Manier adäquat behandeln zu können. Nun geht Luther einerseits auf Erasmus ein und diskutiert dessen Argumente. Er weist seinem Gegner Widersprüche und Ungereimtheiten nach. Das füllt einen Großteil von Dsa. 158 Aber er relativiert diesen Gang der Diskussion selbst und rechnet damit, dass die eigentliche Sache auf diesem Weg noch nicht erreicht werden kann, weil sich die Einsicht (ratio) gegen die eigentliche Sache wehrt, weil sie »Gottes und des Guten unkundig ist, das heißt, blind in der Kenntnis der Gottesfurcht.« 159 155 Boyle (1984), 64 ff. Dass es sich hier nur um einen »opener« handelt, der als Position des Erasmus missverstanden wurde, geht am Problem vorbei. Zum einen gibt es in Dla keinen Rückbezug auf diesen »opener«, in dem der angeblich vorläufige Anriss des Problems zu einer Definition weitergeführt wird. Zum anderen nimmt Luther insofern diese Aussage mit Recht als die Meinung des Erasmus auf, weil die Auseinandersetzung gerade darum geht, ob man in theologischen Dingen nicht-bestimmt agieren kann. Luther kritisiert in Erasmus ja nicht den Theologen, der sich irrt, sondern den Rhetoriker, der als solcher Theologe sein will (Dietz (2013), 370). 156 Leonhardt (2003), 310. 157 Dsa 601. 158 Angefangen mit Dsa 601 bis Dsa 757. 159 Dsa 762,4: ignara Dei et boni, hoc est caeca in cognitione pietatis. Auch Dsa 659,17–660.
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Woher kommt diese Zurückstellung der Vernunft, die doch – nach Luthers eigenen Worten – unter die »hervorragendsten Dinge« gerechnet wird? 160 Die Vernunft nimmt daran Anstoß, dass, wenn von Gott geredet wird, dann von seiner Allmacht die Rede ist (sonst wäre es ein lächerlicher Gott). Dass er nur – wenn er denn Gott ist – als allmächtig und allwissend gedacht werden kann. Wenn es so ist, dann kommt die Behauptung einer eigenen Freiheit der Leugnung Gottes gleich. Aber die »Herrin Vernunft« behilft sich anders. Sie will einen Ausgleich zwischen ihren und Gottes Ansichten und Urteilen herstellen – und das von einem (irrealen) Standpunkt aus, der über beidem eingenommen wird: Sie fordert, »dass Gott nach menschlichem Recht handle und das tue, was ihnen selbst richtig erscheint. Oder er solle aufhören, Gott zu sein. Nichts nützen ihm (Gott) die Geheimnisse seiner Majestät. Er soll Rechenschaft ablegen, warum er Gott ist oder warum er will und tut, was keinen Anschein von Gerechtigkeit hat. … Weichen soll die Majestät, die Schöpferin von allem, der einen Hefe (feci), ihrem Geschöpf«. 161 Erasmus’ Ausgangssituation wird in Frage gestellt. Die »Diatribe« gaukelt einen Menschen vor, der alles kann. 162 Dabei ist der Mensch sich selbst entfremdet und kann dies nicht erkennen. »Er glaubt, er sei frei, selig, erlöst, mächtig, gesund, lebendig.« 163 Wer also eine Anthropologie vertritt, die ihr Fundament in der Freiheitsidee hat, versucht zwei Glaubensstandpunkte, die einander diametral gegenüberstehen, in einem System unterzubringen, er vermenschlicht Gott und vergöttlicht den Menschen. 164 Hier bekommt das Bekenntnis seinen Platz. Gerade die Freiheitsidee ist der Glaube des natürlichen Menschen und, – das ist die Pointe – dass der Mensch nicht anders kann als an seine Freiheit glauben, das gerade ist seine Unfreiheit. Aber ist der Mensch imstande, von sich aus den Glauben an die Freiheit preiszugeben? Hat er damit nicht doch – durch die Hintertüre – einen freien Willen? Der Ansatzpunkt kann nur dieser Glaube an seine Freiheit sein. Luther wird das auslegen als »Gesetz«, in dem der Mensch angesprochen wird auf eine Wirklichkeit, die den Menschen auf das ansieht, was er sein soll, auf Aufgabe, Norm, Postulat einerDsa 762,4: quae est praestantissimarum rerum. Dsa 729,15. 162 Dsa 674: Die Diatribe erträumt sich einen unversehrten und gesunden Menschen, wie er das für den menschlichen Blick in seinen Dingen ist. 163 Dsa 679,25. 164 Iwand (1959), 36. 160 161
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seits, andererseits – ohne Relativierung von Idee und Empirie, von Wollen und Tun – auf seine Tat. 165
17. Abgrund Pierre Bühler 166 interpretiert eine Pensée von Pascal: »Welches Trugbild ist denn der Mensch? Welches noch nie dagewesene Etwas, welches Monstrum, welches Chaos, welcher Hort von Widersprüchen, welches Wunderding? Ein Richter über alle Dinge, ein schwacher Erdenwurm, ein Hüter der Wahrheit, eine Kloake der Ungewissheit und des Irrtums, Ruhm und Abschaum des Weltalls.« Pascal nimmt den Streit zwischen Natur und Vernunft auf. Er versucht, theologisch zu erläutern, warum sich der Mensch in so großer Widersprüchlichkeit erfährt zwischen einer verlorenen Vollkommenheit (die Erasmus bewegt) und einer erlittenen Verderbnis, mit der sich Trug und Unglück über die Menschen breitmacht (die Erasmus noch nicht sieht). Auch wenn Pascal Bezüge zu anderen abgelehnt hat, so hört man hier ein Echo auf die reformatorische Auffassung, dass der »schuldige und verlorene Mensch und der rechtfertigende oder rettende Gott« das Subjekt der Theologie sind. Für Pascal ist das Geheimnis der Sünde die paradoxe Möglichkeit, die Unbegreiflichkeit des Menschen zu begreifen, obschon gerade diese Lehre der menschlichen Vernunft als radikal unbegreiflich erscheint: Nichts ist uns mehr zuwider als diese Lehre. Diese Sünde ist der Abgrund, der den Menschen zum unbegreiflichen Monstrum von Größe und Elend werden lässt. Und wie Büchner sagte: Es schwindelt einem, wenn man hinabsieht …
Literaturverzeichnis Quellen: Erasmus von Rotterdam: DE LIBERO ARBITRIO DIATRIBE SIVE COLLATIO PER DESIDERIUM ERASMUM ROTERODAMUM, in: Erasmus von Rotterdam. Ausgewählte 165 Zur Interpretation verweise ich auf den Beitrag von Christine Axt-Piscalar in diesem Band, S. 46–74. 166 Bühler (2008).
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Einige Unterschiede zwischen Erasmus und Luther Schriften. Vierter Band, hg. v. Werner Welzig, Darmstadt 1969, 1–195. Zitiert als »Dla«. DESIDERII ERASMI HYPERASPISTES DIATRIBAE ADVERSUS SERVUM ARBITRIUM MARTINI LUTHERI. LIBER PRIMUS, in: Erasmus von Rotterdam. Ausgewählte Schriften. Vierter Band, hg. v. Werner Welzig, Darmstadt 1969, 200–675. Zitiert als »Hyperaspistes«. Opera omnia, recognovit Ioannes Ciericus, 10 vol.; Leyde, 1703–1706, repr. Georg Olms, Hildesheim, 1961. Zitiert als »LB«. Martin Luther: Luther, Martin (1520): »Assertio omnium ariculorum M. Lutheri per bullam Leonis X. novissimam damnatorum 1520«, in: WA 7,94–151. DE SERVO ARBITRIO (1525), in: WA 18, 600–787. (Übersetzungen nach Athina Lexutt, in: LDStA Bd. 1. Der Mensch vor Gott, hg. Wilfried Härle, 2 2016, 219–661.). Zitiert als »Dsa«.
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Domina Ratio Luther und Erasmus über Philosophie und Vernunft Jörg Noller
1.
Einleitung
Thema meines Beitrags ist die Frage, welche Rolle die menschliche Freiheit und Vernunft bei Luther und Erasmus spielen. 1 Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten, da in beider Werk theologische und philosophische Fragestellungen aufs Engste verknüpft sind. Dementsprechend gliedert sich mein Beitrag. Ich werde zuerst die Auseinandersetzung der beiden Denker über die Freiheit des Willens darstellen. In diesem Kontext wende ich mich Luthers Kritik der Vernunft als einem autonomen Vermögen des Menschen zu. Ich werde dafür argumentieren, dass Luthers Kritik des freien Willens eine Entsprechung in seiner Kritik der sich selbst setzenden, absoluten und autonomen Vernunft hat. Luthers Kritik des Willens und der Vernunft ist jedoch nicht so sehr als eine anthropologische Neubestimmung menschlicher Seelenvermögen zu verstehen. Vielmehr geht es darin um die Subjektivität des Menschen im wörtlichen Sinne: um seine Bedingtheit angesichts eines ihn umgreifenden schöpfungstheologischen Kontextes. Es stellt sich allerdings die Frage, ob überhaupt ein systematischphilosophischer Gehalt in Luthers Werk enthalten ist. Wie Oswald Bayer treffend bemerkt hat, steht Luther aus philosophischer Perspektive in dem schlechten Ruf, ein Verächter der Vernunft zu sein, die er als »Herrin« (domina) bezeichnet und an manchen Stellen gar als »Hure« (meretrix) 2 diffamiert: »Diese Fama ist schuld daran, dass sich seit Jahrzehnten kaum ein Philosoph für ihn interessiert – ganz
Ich zitiere Luthers Werke im Folgenden nach der lateinisch-deutschen Studienausgabe (LDStA) unter Angabe des Jahrs der Erstveröffentlichung sowie nach der Weimarer Ausgabe (WA). 2 Zu Luthers verschiedenen Charakterisierungen der Vernunft als »Hure« vgl. Kaufmann (2012), 483 ff. 1
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Domina Ratio
im Unterschied zu der großen Aufmerksamkeit, die einem Augustinus, Thomas, Schleiermacher oder Kierkegaard von philosophischer Seite zuteil wird.« 3 Ziel meines Beitrags ist es insofern, Luthers Polemik gegenüber der Vernunft als eine Kritik der Vernunft zu rekonstruieren, um diese auf systematische Argumente hin zu untersuchen. Dabei steht vor allem seine Schrift Vom unfreien Willensvermögen (De servo arbitrio) (1525) im Zentrum, welche wie kaum eine andere im Ruf steht, un-, ja, gar anti-philosophisch zu sein. Um Luthers Begriff der Philosophie gegenüber dem der Theologie zu profilieren, wende ich mich abschließend seinen Ausführungen in seiner Disputation Über den Menschen (De homine) (1536) zu. Ich werde dafür argumentieren, dass Luther Philosophie und Theologie nicht gegeneinander ausspielt, sondern vielmehr in ein Ordnungsgefüge bringt. Diese Verhältnisbestimmung von Philosophie und Theologie korrespondiert mit seinen Verhältnisbestimmungen des freien Willens und der menschlichen Vernunft.
2.
Erasmus und Luther über Willensfreiheit
2.1 Versöhnte Freiheit Der Streit zwischen Luther und Erasmus über die Freiheit des Willens ist auch ein Streit darüber, welche Rolle der Vernunft zukommt. Luther hatte in drei Schriften – seiner Disputationsfrage über die Kräfte und den Willen des Menschen ohne Gnade von 1516, seiner Heidelberger Disputation von 1518 und seiner Wahrheitsbekräftigung von 1520 – die menschliche Willensfreiheit entschieden in Frage gestellt. 4 So schreibt er, dass das freie Willensvermögen postlapsarisch »ein bloßer Name (solus titulus)» 5 sei. »Der Wille ohne die Gnade sündigt, ist also nicht frei«, konstatiert Luther; er »ist nicht frei, sondern dient als Knecht, freilich nicht wider Willen.« 6 Diese Infragestellung menschlicher Willensfreiheit sollte nicht folgenlos bleiben. So bezog sich Erasmus von Rotterdam in seiner
Bayer (2003), 146. Zur Vorgeschichte des Streits zwischen Luther und Erasmus vgl. auch Wenz (1992), 137 f. 5 Luther (1518), 2; WA 1, 354. 6 Luther (1516), 9; WA 1, 148. 3 4
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Schrift De libero arbitrio von 1524 direkt auf Luthers Wahrheitsbekräftigung von 1520 und bemerkte gleich zu Beginn, dass die Frage nach der Freiheit des Willens dort »heftiger gestellt (vehementius exagitata)» 7 worden sei als bei den anderen Denkern seiner Zeit. Es ist aufschlussreich, dass Erasmus Luther selbst in eine Reihe mit Philosophen stellt, wenn es um die Bestimmung des freien Willensvermögens geht. Diese Bestimmung der Willensfreiheit ist ein überaus heikles Unterfangen, welches seinen kritischen Weg zwischen verschiedenen philosophischen und theologischen Positionen hindurch navigieren muss. Erasmus schreibt in seiner Schrift De libero arbitrio: Pelagius scheint dem freien Willen mehr als nötig zuzuschreiben, Scotus schreibt ihm reichlich viel zu. Luther verstümmelte ihn zunächst nur, indem er ihm den rechten Arm abschnitt, und dann nicht einmal damit zufrieden, brachte er den freien Willen um und beseitigte ihn völlig. Ich billige die Meinung jener, die dem freien Willen einiges zuschreiben, aber der Gnade das meiste. Denn weder hätte man die Scylla der Anmaßung so meiden müssen, daß man sich gegen die Charybdis der Verzweiflung oder der Sorglosigkeit treiben ließ, noch hätte man ein verrenktes Glied auf die Weise heilen dürfen, daß man es in die entgegengesetzte Richtung verrenkte, sondern man hätte es an seinen Platz zurückbringen müssen, noch hätte man mit dem Feind vorne so kämpfen dürfen, daß man aus Mangel an Vorsicht von hinten verwundet wurde. 8
Erasmus möchte in seiner Schrift nun einen heiklen Zwischenweg zwischen Pelagianismus auf der einen, und Freiheitsskeptizismus auf der anderen Seite beschreiten. Es geht ihm konkret darum, das Prinzip menschlicher Zurechenbarkeit mit denjenigen zu versöhnen, »die nicht gelten lassen, daß der Mensch etwas Gutes habe, das er nicht Gott verdankte«. 9 Angesichts verschiedener Stellen in der Bibel, die bezüglich der Freiheit des Willens unterschiedliche Interpretationen zulassen, geht es ihm darum, »ein maßvolles Urteil zu suchen«. 10 Erasmus vertritt damit einen Freiheitskompatibilismus, der durch seinen theologischen Kontext von kompatibilistischen Ansätzen in der Philosophie freilich streng zu unterscheiden ist. Er betrifft nicht
7 8 9 10
Erasmus (1524), 3. Erasmus (1524), 189 f. Erasmus (1524), 173. Erasmus (1524), 157.
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so sehr die Frage nach der Vereinbarkeit von Freiheit und Prädetermination, sondern von Freiheit und Gnade. Erasmus entwickelt ausgehend vom Faktum der menschlichen Sünde ein Argument, um die Freiheit des Willens auch in einem theologischen Kontext zu bekräftigen. Dieses Argument besitzt die Form einer reductio ad absurdum: Gesetzt den Fall, wir hätten keinen freien Willen, so folgt daraus, dass uns unsere Sünden nicht zugerechnet werden können. Unsere Sünden sind aber wirklich. Also muss die These der Unfreiheit des Willens falsch, er mithin frei sein. 11 Durch unsere Sünden ist unsere Freiheit nicht »ausgelöscht« worden, sondern sie hat nur »zu hinken begonnen«. 12 Im Rahmen seines kompatibilistischen Freiheitsprojekts versucht Erasmus, den freien Willen nun so zu bestimmen, dass unser »Vertrauen auf unsere Verdienste und die übrigen Nachteile, die Luther vermeidet, und zugleich […] die Vorteile, die Luther bewundert, nicht verlorengingen.« 13 Dazu unterscheidet Erasmus zwischen verschiedenen Phasen und Momenten der freien Willensentscheidung, nämlich »Anfang, Fortschritt und Vollendung«. 14 Während Anfang und Vollendung der freien Handlung allein von der Gnade Gottes abhängen, ist der freie Wille am mittleren Teil des Handlungsprozesses beteiligt, jedoch so, dass er als Zweitursache mit der Erstursache, der Gnade, interferiert. Erasmus spricht diesbezüglich von einer »Mischung der Ursachen«, 15 die so gestaltet ist, dass die Zweitursache von der Erstursache abhängig ist, ohne selbst wirkungslos zu sein. Er vergleicht dieses Bedingungsgefüge von Wille und Gnade mit einem durch Licht sehenden Auge: Das Auge des Menschen sieht, auch wenn es gesund ist, in der Finsternis nichts, und wenn es erblindet ist, nicht einmal im Licht; so vermag der Wille, auch wenn er frei ist, doch nichts, wenn die Gnade sich zurückzieht, und der, der gesunde Augen hat, kann diese doch, auch wenn Licht hereinfällt, schließen, so daß er nicht sieht, er kann auch die Augen abwenden, so daß er aufhört zu sehen, was er hätte sehen können. 16
11 12 13 14 15 16
Vgl. Erasmus (1524), 47. Erasmus (1524), 49. Erasmus (1524), 171. Erasmus (1524), 171. Erasmus (1524), 173. Erasmus (1524), 173.
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Die Erstursache der Gnade stellt damit eine Art Rahmenbedingung oder Feld dar, auf dem erst die Zweitursache des freien menschlichen Willens wirklich werden kann. Trotz dieser Kontextabhängigkeit besitzt der menschliche Wille ein Vermögen, das er in ihm nicht verfügbaren Situationen aktualisieren kann, so dass ihm zumindest »ganz wenig« (minimum) eigene, ursächliche Leistung zugeschrieben werden kann. Erasmus wendet sich damit gegen solche Ansichten, die jegliche Ursächlichkeit des Willens bestreiten, ihn als ein bloß passives »Werkzeug des Heiligen Geistes« verstehen und allein der Gnade Wirkung zusprechen. 17 Die menschliche Vernunft, so erwägt Erasmus, ist durch die Sünde nicht gänzlich »ausgelöscht worden«; vielmehr ist sie nur »verdunkelt« worden. 18 Der freie Wille bedarf – um im Gleichnis zu bleiben – des Lichts der Gnade, um wieder aufgeklärt, d. h. sehend zu werden.
2.2 Bedingte Freiheit Luthers Entgegnung auf Erasmus ist bezüglich ihrer Schärfe nicht zu unterschätzen. Er schreibt nämlich in seiner Schrift Vom unfreien Willensvermögen, direkt auf Erasmus Bezug nehmend: Du hast mich in meiner Ansicht weit sicherer gemacht, weil ich sehe, dass der Prozess zu Gunsten des freien Willensvermögens von einem solch bedeutenden Geist unter Aufbietung aller Kräfte geführt wird und so gar nichts dabei herauskommt, dass es schlechter dasteht als zuvor. Das ist ein einleuchtender Beweis: Das freie Willensvermögen ist ein reines Lügengebilde, wie jenes Beispiel der Frau im Evangelium zeigt, der es, je mehr sie von Ärzten kuriert wird, umso schlechter geht. 19
Erasmus übertreffe in seiner Bestimmung des freien Willensvermögens, so Luther, »auch noch die Philosophen«: Bei denen ist nämlich noch nicht ausgemacht, ob etwas sich selbst bewegen kann. An dieser Stelle unterscheiden sich in jedem Punkt der Philosophie die Platoniker und die Peripatetiker. Bei Erasmus aber bewegt sich das freie Willensvermögen nicht nur aus eigener Kraft. Darüber hinaus wendet es sich sogar dem zu, was ewig, das heißt, ihm unbegreiflich ist – damit bietet Erasmus eine ganz neue und nie gehörte Bestimmung des freien Willens17 18 19
Erasmus (1524), 177. Erasmus (1524), 177. Luther (1525), 225; WA 18, 602.
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vermögens und lässt Philosophen, Pelagianer, Sophisten und alle weit hinter sich. 20
Dagegen steht für Luther die Unfreiheit des Willens unerschütterlich fest. Denn es gilt, dass Gott nichts zufällig vorherweiß, sondern dass er alles mit umwandelbarem, ewigem und unfehlbarem Willen vorhersieht, beschließt und ausführt. Durch diesen Blitzschlag (fulmen) wird der freie Wille vollständig zur Strecke gebracht und vernichtet. Diejenigen, die das freie Willensvermögen als Wahrheit behaupten wollen, müssen daher eben diesen Blitzschlag leugnen oder verheimlichen oder auf eine andere Art und Weise von sich schaffen. 21
Dies führt Luther dahin, die Anwendung des liberum arbitrium auf die menschliche Existenz als einen schweren Kategorienfehler abzuweisen: »Wir tun alles aus Notwendigkeit, nichts aus freiem Willensvermögen (Nos omnia necessitate, nihil arbitrio libero facere).« 22 Hier stellt sich freilich die Frage, wie Luthers Begriff von Notwendigkeit zu verstehen ist. Dass Luther diese Notwendigkeit nicht absolut, sondern nur relativ versteht – im Sinne einer bedingten Freiheit –, wird anhand des unmittelbar darauf folgenden Satzes deutlich: »Denn die Kraft des freien Willensvermögens ist nichts und tut nichts und vermag nichts Gutes, wenn die Gnade fehlt [Hervorh. J. N.].« 23 Luther möchte damit ausdrücken, dass nicht die Freiheit des Menschen an erster Stelle steht – seine Willkür und seine eigenen Motive –, sondern die Gnade, das heißt der theologische Rahmen, innerhalb dessen erst Freiheit stattfinden kann. 24 Luther geht es nicht so sehr um eine Bestreitung der menschlichen Freiheit, sondern um die Offenlegung ihrer theologischen Bedingungen, so dass man von einer transzendentaltheologischen Kritik der menschlichen Vernunft Luther (1525), 353; WA 18, 665. Luther (1525), 251; WA 18, 615. 22 Luther (1525), 293; WA 18, 636. 23 Luther (1525), 293 f.; WA 18, 636. 24 Vgl. zum Problem der Vereinbarkeit von Freiheit und Gnade bei Luther auch Hermanni (2007), 28: »[W]enn der Sünder allein durch die Gnade Gottes gerechtfertigt werden kann, besitzt er keine Freiheit an seiner Rechtfertigung auch nur mitzuwirken. Wenn die Befreiung aus Sünde und Verlorenheit ausschließlich vom barmherzigen Willen Gottes abhängt, muss der Mensch ganz und gar unfähig sein, sich selbst zu befreien oder zu seiner Befreiung beizutragen. Die Lehre von der Unfreiheit des menschlichen Willens ist für Luther unverzichtbar, weil sie die anthropologische Entsprechung des ›sola gratia‹ ist.« 20 21
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sprechen kann. Und daran zeigt sich auch seine Kritik der Philosophie: Wer Freiheit nur unter dem Gesichtspunkt des Akteurs und seiner Vermögen – dem Willen und der Vernunft – betrachtet, der blendet ihre Rahmenbedingungen aus, hat nur einen verkürzten Begriff von Freiheit. Luther betont deswegen, dass der Begriff des freien Willensvermögens »vollständig ein göttlicher Titel ist und niemandem zustehen kann als allein der göttlichen Majestät«. 25 Absolute Entscheidungsgewalt im Sinne des liberum arbitrium, das keinen Bedingungskontext außer sich hat, sondern mit seiner Bedingung zusammenfällt, ist nach Luther nur für Gott möglich. Es wäre demnach ein Kategorienfehler, ein solches Vermögen auf die menschliche Kraft (humana virtus) zu übertragen. Luther wirft Erasmus vor, in seiner Schrift über das freie Willensvermögen einen performativen Widerspruch zu begehen. Indem Erasmus auf philosophische Weise über die Freiheit des Willens spricht, widerlegt er sich dadurch nicht nur auf der Ebene des verhandelten Gegenstandes, sondern auch auf der Ebene des Verhandelns selbst: »Wie die ,Diatribe‹ im Sprechen beschaffen ist, so das freie Willensvermögen im Tun […]: Wenn sie verteidigt, verdammt sie, und wenn sie verdammt, verteidigt sie. Also ist sie doppelt töricht, wo sie weise erscheinen will.« 26 Luthers Kritik des freien Willensvermögens lässt sich nun so verstehen, dass er einen bestimmten Sinn von Freiheit – die reine Beliebigkeit – in Frage stellt. Die deutsche Sprache hat dafür ein Wort – Willkürlichkeit. Der Begriff der Willkür ist doppeldeutig und aus philosophischer und theologischer Sicht überaus problematisch. Obwohl sich das Wort »Willkür« etymologisch als »Wahl des Willens« übersetzen lässt 27 und damit gerade die individuelle Entscheidungsfreiheit des Menschen bezeichnet, hat es in der neueren Philosophie eine Bedeutungsverschlechterung erfahren. 28 Es ist wohl nicht übertrieben, wenn man festhält, »dass die Willkür dem philosophischen Luther (1525), 295; WA 18, 636, Luther (1525), 365; WA 18, 670. 27 Es setzt sich zusammen aus »Wille« und »Kür«, althochdeutsch für »Überlegung, Prüfung, Wahl« (vgl. auch das Verb »kiesen«: »erproben«, »wählen«) und bedeutet ursprünglich soviel wie »Wahl nach eigenem Willen«. Das englische Wort »to choose« ist damit verwandt. Vgl. Seebold (2011), 490, 550, 989. 28 Die griechische und die lateinische Entsprechung, ἐξουσία bzw. arbitrium, besitzen zwar auch die Bedeutung des grundlosen Wollens, lassen sich jedoch wegen ihrer semantischen Bandbreite, die auch das begründete und überlegte Wollen einschließt, nicht auf die pejorative Bedeutung von »Willkür« reduzieren. Vgl. Redaktion HWPh (2004), 809. 25 26
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Blick seit jeher verdächtig erschien« 29 und daher »eine eigentümliche Ambivalenz« 30 besitzt. Das Wort »willkürlich« und »arbiträr« kann nun geradezu synonym zu »wahllos« verstanden werden, so dass sich seine ursprüngliche Bedeutung ins genaue Gegenteil verkehrt hat. 31 Wer willkürlich handelt, der handelt im schlechten Sinne des Wortes ›arbiträr‹, also ›beliebig‹ und ›ohne tieferen Sinn‹. Nur an der Bedeutung des Wortes »unwillkürlich« erkennen wir ex negativo, dass das völlige Fehlen von Willkür eine bewusste Kontrolle einer bestimmten Handlung auszuschließen scheint. Luther möchte also menschliche Freiheit nicht im Sinne von Grundlosigkeit verstehen, oder gar von etwas, das seinen Grund in sich selbst hat – auch das wäre nach Luther bloße, weil theologisch unfundierte, Willkür. Vielmehr muss der Grund der menschlichen Freiheit in Gott liegen. Damit ist aber nun nicht impliziert, dass der Mensch darin unfrei wäre. Vielmehr können wir Luthers Kritik so verstehen, dass der Mensch in seiner Freiheit immer Subjekt Gottes ist, sich seine Freiheit nur als ein Gottesverhältnis angemessen verstehen lässt, das der Mensch in seiner Freiheit eingehen muss, damit sie nicht im schlechten Sinne willkürlich wird. Ein solches relationales und bedingtes Freiheitsverständnis zeigt sich anhand von Luthers Verständnis menschlicher Subjektivität. Subjektivität als Sub-jektivität ist nach Luther Verbindlichkeit, im Gegensatz zur bloßen Beliebigkeit, aber auch im Gegensatz zur reinen logisch-metaphysischen Notwendigkeit. Als solche Subjektivität verdankt sich Freiheit der Gnade. Luthers Diffamierung der Vernunft als »Hure« lässt sich vor diesem Hintergrund so verstehen, dass er die Willkürlichkeit der Vernunft drastisch vor Augen führen möchte. Da sie ihren Grund nicht in sich selbst hat, ist sie prinzipiell verführbar und verführend zugleich. Die Möglichkeit einer absoluten Selbstbestimmung der Vernunft, als causa sui, ist nach Luther kategorisch ausgeschlossen. 32 Freiheit ist nach Luther also durchaus eine Form von Subjektivität, aber eben von Unterworfenheit, von Sub-jektivität und gerade nicht Rebentisch / Setton (2011), 9. Rebentisch / Setton (2011), 7. 31 Vgl. den Eintrag »willkürlich« in Dudenredaktion (Hg.) (2010), 1086. 32 Vgl. dazu auch Galen Strawsons (1994, 5) »Basic Argument«: »(1) Nothing can be causa sui – nothing can be the cause of itself. (2) In order to be truly morally responsible for one’s actions one would have to be causa sui, at least in certain crucial mental respects. (3) Therefore nothing can be truly morally responsible.« Zum Verhältnis von Luther und Strawson vgl. ausführlich Dettinger (2015). 29 30
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von Souveränität und Selbstverwirklichung, wie es das philosophische Verständnis von Willens- und Wahlfreiheit impliziert. Wir müssen uns deshalb nach Luther, um wirkliche Freiheit zu verstehen, von der alltagssprachlichen Bedeutung dieser »so ruhmreichen Vokabel« (vocabulum tam gloriosum) 33 frei machen. Luther geht aber nicht so weit, die Freiheit des Menschen schlechthin zu bestreiten. Vielmehr versteht er Freiheit in einem kritischen Sinn, indem er zwischen zwei Ebenen ihrer Verwirklichung unterscheidet. Luther vertritt nämlich die These, »dass dem Menschen ein freies Willensvermögen nicht im Blick auf eine ihm übergeordnete, sondern nur im Blick auf eine ihm untergeordnete Sache zugestanden werde (homini arbitrium liberum non respectu superioris, sed tantum inferioris se rei concedatui).« 34 Dieser ›inferiore‹ Bereich seiner Freiheit betrifft das »Recht« (ius) »im Blick auf sein Vermögen und seinen Besitz«, also die weltliche Ordnung, die in keinerlei Bezug zum theologischen Heil steht. Hingegen gilt, dass wir »gegenüber Gott und in den Dingen, die sich auf Heil oder Verdammung beziehen« nach Luther nur »ein Gefangener, ein Unterworfener und ein Knecht entweder des Willens Gottes oder des Willens Satans« sind. 35 Luthers Verständnis von bedingter Freiheit entspricht auch seinem Verständnis des Menschen als einem Bedingten – einem Subjekt. Er bringt sein Verständnis von Freiheit als Subjektivität und Bedingtheit in folgendem drastischen Vergleich deutlich auf den Punkt: So ist der menschliche Wille in die Mitte gestellt, wie ein Zugtier. Wenn Gott darauf sitzt, will und geht es, wohin Gott will, wie der Psalm sage »Ich bin gemacht wie ein Lasttier und ich bin immer mit dir.« Wenn Satan darauf sitzt, will und geht es, wohin Satan will. Und es liegt nicht an seinem Willensvermögen, zu einem von beiden Reitern zu laufen oder ihn zu suchen. Vielmehr streiten die Reiter selbst darum, es in Besitz zu nehmen und in Besitz zu behalten. 36
Der Mensch ist nach Luther ein Subjekt im wörtlichen Sinne, er ist Sub-jekt, also Unterworfener Gottes. Dies spiegelt sich in Luthers Metaphorik des Menschen, der als ein »armes, zerbrechliches, kleines
33 34 35 36
Luther (1525), 195; WA 18, 637. Luther (1525), 297; WA 18, 638. Luther (1525), 297; WA 18, 638. Luther (1525), 291; WA 18, 635.
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Gefäß (fragile vasculum)» 37 Gottes präsentiert wird, das »zu seiner Ehre und zu seinem Ruhm« 38 gereichen soll. Entscheidend ist daran nun, dass der Mensch kein bloßes Objekt oder bloßer Spielball ist. Er geht als Subjekt immer eine Relation zu dem ein, unter dessen Herrschaft er steht. In seiner Freiheitsschrift findet sich eine zentrale Unterscheidung, die Luthers Begriff von Subjektivität weiter differenzieren hilft. Luther unterscheidet zwischen einem »geistlichen, inneren und neuen Menschen« auf der einen Seite und einem »fleischlichen, äußeren und alten Menschen« auf der anderen. 39 In dieser Lebensform des Menschen zeigt sich nach Luther eine besondere Dialektik: »Der Christ ist ein ganz und gar freier Herr über alles und keinem untertan. Der Christ ist ein ganz und gar dienender Knecht aller und allen untertan.« 40 Dies zeigt, dass Luther Freiheit und Subjektivität nicht gegeneinander ausspielt, sondern auseinander heraus begreift. Freiheit und Subjektivität schließen sich nur dann aus, wenn sich das Subjekt gegenüber Gott und seinen Mitmenschen verschließt, sich selbst zum unvermittelbaren Gegenstand, zum Ob-jekt macht. Innerlichkeit ist nur durch Äußerlichkeit zu haben. Luther expliziert dieses Verhältnis von Subjektivität und Freiheit durch seinen Begriff der Liebe: »Liebe aber ist von ihrem Wesen her dienstbereit und gegenüber dem, was man liebt, willfährig«. 41 Der Mensch lebt insofern »nicht für sich allein in diesem seinem sterblichen Leib, um in ihm zu wirken, sondern er lebt auch für alle Menschen auf der Erde, ja, er lebt nur für die anderen und nicht für sich.« 42
3.
Luthers Kritik der Vernunft
Luthers Kritik der Vernunft (ratio) ist trotz aller Polemik keinesfalls irrationalistisch. Sie ist vielmehr eine Zurechtweisung ihrer Ansprüche, die aus Gründen erfolgt, die im Zusammenhang weiterführender theologischer Überlegungen und Argumentationen stehen, so dass
37 38 39 40 41 42
Luther (1525), 225; WA 18, 602. Luther (1525), 661; WA 18, 787. Luther (1520), 121; WA 7, 50. Luther (1520, 121; WA 7, 49. Luther (1520), 121; WA 7, 50. Luther (1520), 161; WA 7, 64.
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man in einem bestimmten Sinne durchaus von einer ›Aufklärung‹ der Vernunft sprechen kann. 43 Diese Aufklärung ist so zu verstehen, dass ihre Bezüge und Bedingungen transparent gemacht werden, die Vernunft als Subjekt, als Bedingtes, deutlich wird. Luther kritisiert also nicht die Vernunft im Sinne der Rationalität als solcher, sondern nur eine bestimmte Haltung und Position der Vernunft, die sich analog zum freien Willensvermögen verstehen lässt und in einer scheinbaren – volitionalen und rationalen – Selbstherrschaft und Selbstgenügsamkeit ihren Grund hat. Wir können demnach wie im Falle des freien Willensvermögens einen Begriff von Vernunft unterscheiden, der übergeordnete Dinge betrifft (respectu superioris), und wir können davon einen solchen Begriff unterscheiden, der die untergeordneten, weltlichen und rechtlichen Dinge betrifft (respectu inferioris). Um Luthers Kritik der Vernunft angemessen zu verstehen, ist es wichtig, seine verschiedenen Bezeichnungen dieses Vermögens zu unterscheiden. Es ist auffällig, dass Luther die Vernunft selbst personifiziert, wenn er ihr Verständnis der Bibel kritisiert: Dies sind die Argumente von [Herrin] Menschenvernunft (Ratio humana), die solche Weisheiten von sich zu geben pflegt. […] [S]ie interpretiert die Schriften Gottes mit Folgerungen und Syllogismen und treibt sie, wohin sie will. Das werden wir gerne und mit Vertrauen tun, weil wir ja wissen, dass sie nur Dummes und Absurdes schwatzt, besonders dann, wenn sie in heiligen Dingen ihre Weisheit zu zeigen beginnt 44 .
Luther kritisiert in dieser Passage die Vernunft aus mehreren Gründen: Sie verlässt ihre eigentliche Domäne der weltlichen Dinge, wenn sie über göttliche Dinge spricht. Und wie das freie Willensvermögen wird sie im schlechten Sinne beliebig (›willkürlich‹), wenn sie sich mit heiligen Dingen befasst, die ihr eigentlich unbegreiflich sind. Der Fehler der Vernunft besteht darin, dass sie »aus etwas Partikularem etwas Allgemeines macht.« 45 Die Vernunft generalisiert unrechtmäßig, sie konstruiert sich eine scheinhafte Ordnung, innerhalb derer sie absolute Geltung besitzt, und sie verstrickt sich darin: »So wird
43 Vgl. Dieter (2014), 723: »Luthers theologische Kritik der Vernunft will deren Kompetenzbereich von der Selbstoffenbarung Gottes her begrenzen und sie über sich – über die sündige Verfasstheit des Menschen, zu der auch sie gehört – aufklären.« 44 Luther (1525), 373; WA 18, 673. 45 Luther (1525), 373 f.; WA 18, 673.
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die Vernunft durch die Folgerungen und Worte ihrer eigenen Weisheit gefangen, so dass sie nicht weiß, was oder worüber sie redet.« 46 Diese fehlerhafte Tendenz der Vernunft, sich in einer Illusion zu verlieren und sich selbst zu täuschen, was nach Luther die Sünde ausmacht, 47 sollte Immanuel Kant später mit Blick auf den »Hang zum Bösen« als »Dialektik« und als »Vernünfteln« bezeichnen. Denn die Vernunft ist auch bei Kant durch und durch problematisch, weshalb sie einer Kritik bedarf. Kant unterscheidet in seiner Kritik der reinen Vernunft zwischen »Vernunftschlüssen« und »vernünftelnden» 48 Schlüssen. Letztere stellen ein rationales Hybrid dar, »weil sie doch nicht erdichtet, oder zufällig entstanden, sondern aus der Natur der Vernunft entsprungen sind«. Solche vernünftelnde Schlüsse sind, wie Kant weiter ausführt, »Sophisticationen nicht der Menschen, sondern der reinen Vernunft selbst, von denen selbst der Weiseste unter allen Menschen sich nicht losmachen und vielleicht zwar nach vieler Bemühung den Irrthum verhüten, den Schein aber, der ihn unaufhörlich zwackt und äfft, niemals völlig los werden kann.« 49 »Vernünfteln« bedeutet also ganz allgemein einen Hang der Vernunft, eine falsche Ordnung zu generieren, die die kritischen Grenzen der Erkenntnis überschreitet. Indem die Vernunft vernünftelt, erzeugt sie einen transzendentalen Schein und bedarf gerade daher einer Kritik, die in der Beschränkung ihres Geltungsbereiches liegt, der durch die Verfasstheit der transzendentalen Erkenntnisbedingungen des endlichen Subjekts vorgegeben ist. Wie Kant in der Kritik der reinen Vernunft weiter ausführt, besteht der logische Schein »in der bloßen Nachahmung der Vernunftform«. Dabei gilt, dass die Vernunft »subjektiv als ein menschliches Erkenntnisvermögen betrachtet« wird, so dass hier nur ein Schein von Objektivität erzeugt wird. 50 Kant charakterisiert diesen Schein als Phänomen einer »natürlichen und unvermeidlichen Illusion […], die selbst auf subjektiven Grundsätzen
Luther (1525), 377; WA 18, 674. Vgl. zum Verhältnis von Vernunft und Sünde bei Luther: Dieter (2014), 722: »Worauf der Sünder aus ist, kommt in seiner Vernunft zum Ausdruck und zum Bewusstsein; in ihren Vorstellungen und Gedanken artikuliert sich, dass und wie er sich Gott verweigert und in allem sich selbst sucht. Darum verbindet Luther – für viele schockierend – Vernunft und Sünde.« 48 Kant, KrV, B 397. 49 Kant, KrV, B 397. 50 Kant, KrV, B 353. 46 47
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beruht und sie als objektive unterschiebt«. 51 Zugleich betont er, dass die Disposition dieses Scheins der Vernunft strukturell immanent ist, und nicht nur in einem individuellen Unvermögen besteht: »Es gibt also eine natürliche und unvermeidliche Dialektik der reinen Vernunft, nicht eine, in die sich etwa ein Stümper durch Mangel an Kenntnissen selbst verwickelt, oder die irgend ein Sophist, um vernünftige Leute zu verwirren, künstlich ersonnen hat, sondern die der menschlichen Vernunft unhintertreiblich anhängt«. 52 Die Dialektik der Vernunft und ihr Hang zum Erzeugen von Schein betrifft insofern prinzipiell alle endlichen Erkenntnissubjekte, ebenso wie der Hang zum Bösen alle Freiheitssubjekte betrifft. In der Vorrede der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft bemerkt Kant zu diesem allgemeinen Hang der Vernunft weiter: Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in der Gattung ihrer Erkenntnisse: dass sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft. 53
Das Vernünfteln tritt also gerade da auf, wo die allgemeine reine Vernunft mit ihrer Tendenz zu Fragen nach dem Ersten und Letzten mit der Endlichkeit des Erkenntnissubjekts und seinen transzendentalen Einschränkungen konfligiert, und ihre innere Tendenz zum Unbedingten und Allgemeinen durch eben diese sie kontrastierende Endlichkeit und Individualität scheinhaft kompensiert wird. Kant spricht davon, dass die Vernunft gerade dort vernünftelnd problematisch wird, wo sie die möglichen Gegenstände der Erfahrung – oder mit Luther gesprochen: die Gegenstände respectu inferioris – überschreitet. Kant spricht davon, dass er »das Wissen aufheben« musste, »um zum Glauben Platz zu bekommen«. 54 Ganz analog kann man von Luther sprechen: Er musste die Vernunft beschränken, um für die Gnade Platz zu bekommen. Die Beschränkung der Vernunft ist aber wie bei Kant keine Form von Irrationalismus, sondern vielmehr eine Neubestimmung und -Situierung in einem zuvor unberücksichtigten Kontext.
51 52 53 54
Kant, KrV, B 354. Kant, KrV, B 54. Kant, KrV, A 7. Kant, KrV, B XXX.
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4.
Zur Rolle der Philosophie bei Luther
In seiner Disputatio De Homine von 1536 hat Luther sein Verständnis der Rolle der Vernunft weiter dargelegt. Dort grenzt er die Philosophie explizit von der Theologie ab. Dies geschieht, indem er auf die Stellung des Menschen und seiner Vernunft reflektiert. Die Philosophie, verstanden als »die menschliche Weisheit«, so Luther gleich in der ersten These, definiere den Menschen als »vernunftbegabtes, sinnenhaftes, körperliches [mit den Tieren zusammengehöriges] Lebewesen (animal rationale, sensitivum, corporeum)«. 55 Doch definiere sie dabei nicht den ganzen Menschen, sondern nur den »sterblichen«, nämlich den »dieses [irdischen] Lebens«. 56 Die Philosophie betrachtet nach Luther den Menschen also nur von seiner endlichen Seite her und lässt seine Bezüge zu Gott außer Acht. Mit dieser auf die Endlichkeit des Menschen gegründeten philosophischen Perspektive korrespondiert die Rolle der Vernunft. Bezogen auf das irdische Leben ist sie »die Hauptsache« und »das Beste und etwas Göttliches«. 57 Dies zeigt sich konkret daran, dass sie »Erfinderin und Lenkerin aller [freien] Künste, der Medizin, der Rechtswissenschaft und alles dessen, was in diesem Leben an Weisheit, Macht, Tüchtigkeit und Ruhm von Menschen besessen wird« ist. 58 Die Vernunft konstituiert den »wesentliche[n] Unterschied« zum bloßen Tier (animal), so dass der Mensch als vernünftiges Lebewesen im aristotelischen Sinne verstanden wird (animal rationale; zoon logon echon). Diese Sonderstellung des Menschen, die er seiner Vernunft verdankt, lässt sich nach Luther auch theologisch herleiten. Luther bezieht sich dabei auf den Herrschaftsauftrag im ersten Buch Mose: »[F]üllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht.« (Gen 1,28). Der Mensch herrscht durch seine Vernunft über die Erde, doch setzt sich diese Vernunft nicht selbst, sondern sie ist durch Gott nur eingesetzt. Auf diese Einsetzung hebt Luther immer wieder ab, wenn er davon spricht, dass sie im irdischen Leben nur die Rolle einer Verwalterin spiele. Diese Rolle hat die Vernunft nach Luther auch noch nach dem Fall Adams im postlapsari55 56 57 58
Luther (1536), 665; WA 39/1, 175. Luther (1536), 665; WA 39/1, 175. Luther (1536), 665; WA 39/1, 175. Luther (1536), 665; WA 39/1, 175.
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schen Bereich inne. Die Vernunft ist sich nun aber nicht unmittelbar, gewissermaßen a priori, ihrer »Majestät« bewusst. Sie kann ihre Wirkungsweise nicht »aus den Ursachen« erkennen, sondern nur »aus den Wirkungen« indirekt – gewissermaßen a posteriori – erschließen. 59 Die Vernunft ist also ontologisch und epistemisch nicht Herrin (domina) ihrer selbst. Sie setzt sich nicht, sondern wird gesetzt und erkennt erst im Nachhinein die Gründe der Welt. Es ist ihr der Sinn für das Ganze verschlossen. Luther unterscheidet hier zwischen einer Wirkursache (causa efficiens) und einer Zweckursache (causa finalis). Für die Vernunft besteht die Zweckursache ihrer Existenz allein im »Frieden dieses Lebens«. Sie übersieht also, dass auch ein Interesse am jenseitigen Leben notwendig ist. Ferner kann sie nicht Gott als Schöpfer als Ursache erkennen. Ihr bleibt die erste Ursache verschlossen. Luther schließt daraus, dass die Philosophie von der menschlichen Wirklichkeit, die nicht nur ein diesseitiges, sondern auch ein jenseitiges Leben betrifft, »beinahe nichts« weiß. 60 Aristoteles gilt dabei für Luther als derjenige Philosoph, der zwar den Menschen philosophisch richtig als animal rationale definiert hat, jedoch gilt ebenso nach Luther, dass er »vom Menschen in theologischer Hinsicht nichts weiß«. 61 Er bestimmt den Menschen nur unter dem Gesichtspunkt seiner Vernunft, und nicht innerhalb eines heilsgeschichtlichen Kontextes sowie der Schöpfung, innerhalb der er und seine Vernunft (ein)gesetzt sind. In Abgrenzung zur Philosophie, deren Gegenstandsbereich das diesseitige Leben umfasst und deren Erkenntnisse über den Menschen daher »dürftig« und »nicht greifbar« sind, insofern dieser »allzu stofflich« gefasst wird, vermag es nach Luther die Theologie, »den ganzen und vollständigen Menschen« 62 zu definieren. Der Mensch ist theologisch als »Gottes Geschöpf« bestimmt, und er ist durch eine christologisch-eschatologische Geschichtlichkeit charakterisiert, die seine prä- und postlapsarische Existenz reflektiert. Diese Geschichtlichkeit des Menschen vermag nach Luther die Vernunft nicht zu begreifen. Mehr noch: Insofern sie diese Dimension nicht begreifen kann, steht sie ex negativo, wie Luther sagt, »unter der Macht des
59 60 61 62
Luther (1536), 665; WA 39/1, 175. Luther (1536), 665; WA 39/1, 175. Luther (1536), 667; WA 39/1, 176. Luther (1536), 667; WA 39/1, 176.
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Teufels«. 63 Hier schlägt Luther den Bogen zurück zur Frage nach der Freiheit des Willens. Denn wer den Menschen nicht geschichtlich, d. h. theologisch versteht, sondern nur statisch, als animal rationale, der glaubt, er könne aus eigener Kraft Gottes Gnade erlangen, da seine Vernunft »inbrünstig das Beste erstrebe«. Ebenso bestreitet Luther aus dieser Perspektive »das freie Willensvermögens der rechten Vorschrift und des guten Willens« und das Vermögen »zwischen Gut und Böse oder Leben und Tod usw. zu wählen«. 64
5.
Schlussbetrachtung
Es hat sich herausgestellt, dass sowohl Luther als auch Erasmus ein kompatibilistisches Freiheitsprojekt vertreten: Weder wollen sie den menschlichen Willen unabhängig von der Gnade Gottes handeln lassen, noch wollen sie den Menschen als ein bloßes Objekt verstehen, das in keinerlei Beziehung zu Gott steht. Während Erasmus dies auf der Ebene der Gnade selbst versucht, indem er das Vermögen des freien Willens mit einem Auge vergleicht, dem von Außen Licht gespendet werden muss, um sehen zu können, bemüht sich Luther, dieses durch die Unterscheidung von zwei Bereichen – der Theologie und der Philosophie – zu erreichen. Zentral ist dabei seine Auffassung der menschlichen Vernunft, an deren Kritik sich sein Kompatibilismus besonders gut ablesen lässt. Während wir im Bereich der weltlichen Domäne der Vernunft sehr wohl frei zu nennen sind, so sind wir dort abhängig und bedingt, wo wir uns als situierte, geschichtliche Wesen verstehen müssen, die ihren Grund nicht in sich selbst haben, deren Leben nicht nur Ursachen, sondern Sinn und Zweck kennt – einen Zweck, der die eigene Existenz begründet, umfasst und zugleich übersteigt. Luthers transzendentaltheologische Freiheits- und Vernunftkritik ist daher nicht als eine Degradierung oder Diffamierung des freien und vernünftigen Menschen zu verstehen, sondern als eine ›Relativierung‹ im wörtlichen Sinne: eine theologisch-philosophische Verhältnisbestimmung.
63 64
Luther (1536), 667; WA 39/1, 176. Luther (1536), 667; WA 39/1, 176.
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Literaturverzeichnis Quellen: Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung (2016), Lutherbibel revidiert 2017, Stuttgart. Erasmus von Rotterdam (1524): De libero arbitrio DIATRIBE sive collatio / Gespräch oder Unterredung über den freien Willen, übers. v. Winfried Lesowsky, in: Ausgewählte Schriften, 4. Band, hg. v. Werner Welzig, Darmstadt 1969, 1–195. Kant, Immanuel (1781 / 1787): Kritik der reinen Vernunft (KrV), hg. v. Jens Timmermann, Hamburg1998. Luther, Martin (1516): Quaestio de Viribus et Voluntate Hominis sine Gratia Disputata / Disputationsfrage über die Kräfte und den Willen des Menschen ohne Gnade, in: Lateinisch-deutsche Studienausgabe (LDStA), Band 1: Der Mensch vor Gott, unter Mitarbeit von Michael Beyer hg. und eingeleitet v. Wilfried Härle, Leipzig 2006, 2–17. – (1518): Disputatio Heidelbergae habita / Heidelberger Disputation, in: Lateinisch-deutsche Studienausgabe (LDStA), Bd. 2: Christusglaube und Rechtfertigung, hg. v. Johannes Schilling, Leipzig 2006, 35–69. – (1520a): Assertio omnium articulorum Martini Lutheri per Bullam Leonis X. novissimam damnatorum / Wahrheitsbekräftigung aller Artikel Martin Luthers, die von der Jüngsten Bulle Leos X. verdammt worden sind), in: Lateinisch-deutsche Studienausgabe (LDStA), Band 1: Der Mensch vor Gott, unter Mitarbeit von Michael Beyer hg. und eingeleitet v. Wilfried Härle, Leipzig 2006, 71–217. – (1520b): Tractatus de libertate christiana / Abhandlung über die christliche Freiheit, in: Lateinisch-deutsche Studienausgabe (LDStA), Bd. 2: Christusglaube und Rechtfertigung, hg. v. Johannes Schilling, Leipzig 2006, 120–185. – (1525): De servo arbitrio / Vom unfreien Willensvermögen, in: Lateinischdeutsche Studienausgabe (LDStA), Band 1: Der Mensch vor Gott, unter Mitarbeit von Michael Beyer hg. und eingeleitet v. Wilfried Härle, Leipzig 2006, 664–669. – (1536): Disputatio D. Martini Lutheri De Homine / Disputation D. Martin Luthers über den Menschen, in: Lateinisch-deutsche Studienausgabe (LDStA), Band 1: Der Mensch vor Gott, unter Mitarbeit von Michael Beyer hg. und eingeleitet v. Wilfried Härle, Leipzig 2006, 664–669.
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II. Luther und die Folgen
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Luthers Werk und Leibniz’ Beitrag Friedrich Hermanni
Die Lehre vom unfreien Willen, die Luther in seiner Schrift De servo arbitrio (1525) 1 entwickelt hat, scheint die evangelische Theologie in eine prekäre Lage zu bringen. Einerseits ist diese Lehre untrennbar mit der Rechtfertigungslehre verknüpft. Denn wenn der Sünder allein durch die Gnade Gottes gerechtfertigt werden kann, besitzt er keine Freiheit an seiner Rechtfertigung auch nur mitzuwirken. Die Lehre von der Unfreiheit des menschlichen Willens ist für Luther unverzichtbar, weil sie die anthropologische Entsprechung des »sola gratia« ist. Nun scheint die Lehre vom unfreien Willen aber andererseits zu Konsequenzen zu führen, die auch für die evangelische Theologie nur schwer annehmbar sind. Wenn der Mensch nichts tun kann, um die göttliche Gnade zu erlangen, und wenn er ohne diese Gnade der Sünde nicht entrinnen kann, dann scheint er für seine Sünde nicht verantwortlich zu sein. Zudem scheint Gott ungerecht zu sein, wenn man wie Luther annimmt, dass er die nicht begnadeten Menschen für Sünden, die sie nicht vermeiden können, mit ewiger Verdammnis bestraft. Um diesen Konsequenzen zu entgehen, hat man häufig mit Luther gebrochen und dem Menschen die Freiheit zugeschrieben, das allgemeine Gnadenangebot Gottes annehmen oder ablehnen zu können. 2 Um der Alleinwirksamkeit der göttlichen Gnade willen ist es einerseits erforderlich, Luthers Lehre vom unfreien Willen uneingeschränkt nachzusprechen. Andererseits wird man der Forderung nur dann nachkommen können, wenn sich die ernsten Schwierigkeiten, die sich aus dieser Lehre zu ergeben scheinen, theologisch bewältigen lassen. Im dritten Teil meiner Überlegungen werde ich deshalb unter Luthers De servo arbitrio wird zitiert nach WA 18. Bei der Übersetzung ins Deutsche folge ich in der Regel dem Band Luther (1975). 2 Vgl. Melanchthon (1978), 263 ff.; Melanchthon (1953), 592 ff. 1
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Bezug auf Leibniz einen Vorschlag machen, wie man an Luthers Lehre vom unfreien Willen festhalten kann, ohne die Verantwortung des Menschen und die Gerechtigkeit Gottes in Zweifel ziehen zu müssen. Zuvor aber muß diese Lehre selbst dargelegt werden. Im ersten Teil werde ich Luthers Verständnis vom Wesen des menschlichen Willens behandeln. Der zweite Teil wird die umstrittene Frage beantworten, ob und in welchem Sinne Luther einen theologischen Determinismus vertritt.
I.
Das Wesen des menschlichen Willens
Luther charakterisiert den menschlichen Willen durch drei Merkmale, nämlich durch seine Entschiedenheit, seine Unveränderlichkeit und seine Spontaneität.
1.
Die Entschiedenheit des menschlichen Willens
Nach Luther ist der menschliche Wille immer schon ein tätiger, auf einen letzten Zweck gerichteter Wille. Er besitzt keine der Grundrichtung seiner Tätigkeit vorhergehende Kraft, durch die er über diese Grundrichtung entscheiden könnte. Zwar kann er zwischen einzelnen Gegenständen und den darauf gerichteten Tätigkeiten wählen, aber mit allem, was er wählt, bezweckt er etwas, in Bezug auf das er keine Wahl hat. Dieser letzte Zweck, für den der Mensch in einer allen seinen Entscheidungen zugrundeliegenden Weise entschieden ist, ist entweder Gott oder das eigene Ich. Luther vergleicht den menschlichen Willen deshalb mit einem Lasttier, das entweder von Gott oder vom Satan geritten wird. Nach dem Sündenfall und vor dem Empfang des göttlichen Geistes ist der menschliche Wille nach Luther ein Lasttier, dessen Marschrichtung vom Satan bestimmt wird. Denn er ist bei allem, was er im Einzelnen will, unwillkürlich durch die Abkehr von Gott, den Unglauben, und durch die Eigenliebe, den amor sui, bestimmt.
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Luthers Werk und Leibniz’ Beitrag
2.
Die Unveränderlichkeit des menschlichen Willens
Nach Luther ist der nachadamitische Mensch in allen seinen Bemühungen, auch in seiner Religion und seiner Sittlichkeit, unweigerlich auf sich selbst, nicht auf Gott und das Gute gerichtet. Seinem Willen fehlt die Macht, diese Grundrichtung des Wollens zu verändern, die allen einzelnen Willensakten zugrunde liegt. Von der Selbstsucht, die ihn unwillkürlich bestimmt, kann der Wille nur dadurch befreit werden, dass Gott seinen Geist verleiht. Wenn das geschieht, ist der menschliche Wille wiederum in einer allen seinen Entscheidungen zugrundeliegenden Weise entschieden – nun freilich für das Gute. Weder der Wille des gottverlassenen noch der des geisterfüllten Menschen ist fähig, die Gesamtorientierung seiner Tätigkeit zu verändern. In dieser Unfähigkeit, sich selbst zu wandeln, die Luther als »necessitas immutabilitatis« 3 bezeichnet, besteht die Unfreiheit des menschlichen Willens. Wohlgemerkt: Auch der vom göttlichen Geist bestimmte Wille ist formal ein unfreier Wille, wenngleich Luther, seinen eigenen Sprachgebrauch korrigierend, die unwandelbare Entschiedenheit für das Gute eine »königliche Freiheit (regia libertas)« 4 nennt. Der menschliche Wille hat die Fähigkeit, die Grundrichtung seines Strebens aus eigener Kraft zu verändern, nicht etwa verloren, er hat sie nach Luther vielmehr nie besessen. 5 Für die unüberbietbare Radikalität, mit der Luther die Freiheit des menschlichen Willens bestreitet, sind seine Bemerkungen über den Fall Adams aufschlussreich. Der Sündenfall geschah nicht deshalb, weil der Wille Adams von seiner Freiheit Gebrauch machte, sich vom Guten zum Bösen zu wenden, sondern weil Gott dem ersten Menschen seinen Geist entzog und ihn sich selbst überließ. Ohne den göttlichen Geist aber konnte der menschliche Wille das Gute nicht mehr wollen 6 und musste daher das Gebot übertreten. 7 Der Wille des ursprünglichen, des gefallenen und des erlösten Menschen ist nach Luther ein unfreier Wille. Hans Joachim Iwand bemerkt daher zu Recht: »Die Unfreiheit des Willens ist der Index
3 4 5 6 7
WA 18, 634, 30 f. WA 18, 635, 16. Vgl. WA 18, 636, 27–637, 3; 637, 17–20; 662, 5; 786, 6 f. Vgl. WA 18, 675, 25–39; 708, 22 f.; 710, 1–3; 712, 29–31. Vgl. WA 18, 675, 31–34.
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seiner Geschöpflichkeit – nicht etwa der Ausdruck seiner Schwachheit oder gar Unterdrücktheit.« 8
3.
Die Spontaneität des Willens
Der gottverlassene Mensch kann das Gute nicht wollen, und der geisterfüllte kann nichts anderes wollen als das Gute. Gleichwohl wird der menschliche Wille weder im einen noch im anderen Fall zum Wollen gezwungen. Zwar will der Gottlose notwendigerweise das Böse, aber er will es stets bereitwillig und aus eigenem Antrieb, nicht etwa widerwillig, »als würde er mit Gewalt bei der Kehle fortgeschleppt […].« 9 Entsprechend will der vom Geist Gottes erfüllte Mensch unweigerlich das Gute. Aber er will es wiederum aus reiner Bereitwilligkeit und aus eignem Antrieb, nicht gezwungen, so daß er durch nichts Gegenteiliges in etwas anderes gewandelt werden und nicht einmal durch die Pforten der Hölle überwunden und gezwungen werden kann […]. 10
In Anknüpfung an die Scholastik unterscheidet Luther zwischen zwei Formen von Notwendigkeit. 11 Die erste Form ist die bereits erwähnte necessitas immutabilitatis (Notwendigkeit der Unveränderlichkeit), die in der Unfähigkeit des Willens besteht, die Grundrichtung seines Wollens aus eigener Kraft zu ändern. Diese Notwendigkeit, die jeden kreatürlichen Willen kennzeichnet und ihn zu einem unfreien macht, darf nicht mit der necessitas coactionis (Notwendigkeit des Zwangs) verwechselt werden, der kein Wille unterworfen ist, weil sie der Natur des Willens widerspricht. Der menschliche Wille kann nichts anderes wollen, als er will, aber das, was er will, will er stets bereitwillig, nie erzwungenermaßen. Die Vorstellung, der Wille könne zum Wollen gezwungen werden, ist abwegig, weil sie einen Widerspruch enthält. Denn da ohne einen widerstrebenden Willen von Zwang gar keine Rede sein kann, wäre ein Wille, der gezwungen würde, etwas zu wollen, in Bezug auf ein und dasselbe zugleich willig und unwillig. Iwand (1975), 260. WA 18, 634, 23 f. 10 WA 18, 634, 38 ff. 11 Vgl. WA 18, 634 f.; 693, 31; 720, 31–721, 4; 747, 22 f. sowie den in WA 18, 616, Anmerkung 1 dargebotenen Luthertext, den Leibniz in § 280 seiner Théodicée erwähnt (vgl. Leibniz [1968a], 314). 8 9
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Luthers Werk und Leibniz’ Beitrag
Etwas zu wollen heißt folglich nichts anderes, als es freiwillig zu wollen. Nur das Handeln, nicht das Wollen ist ein möglicher Gegenstand von Zwang. Gezwungen wird jemand, wenn er aufgrund innerer oder äußerer Gewalt nicht tun kann, was er will, oder tun muss, was er nicht will. Zweifellos wird der Mensch zuweilen gezwungen, anders zu handeln, als er will, zumeist aber handelt er durchaus freiwillig. Dies wird auch von Luther nicht in Frage gestellt. Seine Lehre vom unfreien Willen bestreitet nicht, dass der Wille des Menschen in der Regel die Macht besitzt, sein Handeln zu bestimmen. Sie behauptet vielmehr, der menschliche Wille sei seiner selbst nicht mächtig, weil er in Bezug auf die Grundrichtung seines Wollens willenlos sei.
II.
Freiheit und Determinismus
Wer mit Luthers Theologie vertraut ist, wird in der bisherigen Darstellung den Hinweis vermisst haben, dass der Mensch auch nach Luther in bestimmter Hinsicht ein liberum arbitrium besitzt. »Wir wissen, daß der Mensch zum Herren über das, was niedriger ist als er, eingesetzt ist; ihm gegenüber hat er Recht und freien Willen, so daß jenes gehorcht und tut, was er selbst will und denkt.« 12 Luther unterscheidet zwischen der Unfreiheit des Menschen Gott gegenüber und seiner Freiheit den Dingen gegenüber. Worin seine Unfreiheit besteht, haben wir gesehen: Der von Gott abgewandte Wille hat nicht die Macht, sich Gott zuzuwenden, und der auf Gott hingewandte Wille kann sich nicht von Gott abwenden. Der menschliche Wille ist unfrei, insofern die Grundrichtung seines Wollens kein möglicher Gegenstand seiner Wahl ist. Die Freiheit des Menschen den Dingen gegenüber besteht nun darin, dass er innerhalb der Grundrichtung seines Wollens Wahlmöglichkeiten hat. Er kann diesen oder jenen Beruf ergreifen, sein Geld so oder so verwenden und vieles andere mehr. Die Fähigkeit, Alternativen abzuwägen und zwischen ihnen zu wählen, unterscheidet den Menschen vom Tier und begründet seine geschöpfliche Sonderstellung. 13 Trotz dieser Wahlfreiheit, die der Mensch in Bezug auf einzelne Gegenstände und die darauf gerichteten Tätigkeiten besitzt, hat er aber hinsichtlich seines 12 13
WA 18, 781, 8–10. Vgl. WA 18, 780, 5–7.
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Heils und Unheils keine Wahl. Denn was auch immer er wählt, ändert nichts an seiner sittlichen Gesinnung, die allen seinen Wahlakten zugrunde liegt. »Gegen Gott sündigt der Gottlose« daher, »sei es, daß er ißt, sei es, daß er trinkt oder irgendetwas tut, weil er die Schöpfung Gottes mit beständiger Gottlosigkeit und Undankbarkeit mißbraucht noch von Herzen Gott in irgendeinem Augenblick die Ehre gibt.« 14 Die Willensfreiheit, die Luther dem Menschen zuschreibt, darf nun nicht als Vermögen verstanden werden, grundlose Entscheidungen zu treffen. Für die Entscheidung eines Menschen gibt es nach Luther vielmehr stets einen zureichenden Grund, nämlich seinen Charakter und seine Motive, die ihrerseits im Willen Gottes gründen. Zwar kann der Mensch beispielsweise über den Gebrauch seines Geldes frei entscheiden, aber »auch eben das wird«, wie Luther einschränkend bemerkt, »durch den freien Willen Gottes allein gelenkt, wohin auch immer es ihm gefallen mag.« 15 Die Frage, ob Luther einen Determinismus vertritt, ist in der Lutherforschung kontrovers beantwortet worden. 16 Gewiss ist Luther kein Determinist, wenn Determinismus heißen soll, dass alles einem »kausalmechanischen Zusammenhang« untersteht, »der menschliche Spontaneität ausschließt und nur willenlose Zwangsläufigkeit zuläßt […].« 17 Dieser Begriff von Determinismus ist freilich wenig sinnvoll, wenn man bedenkt, dass viele Autoren, die üblicherweise als Deterministen gelten oder die sich selbst als solche bezeichnen, die Spontaneität menschlichen Wollens und Handelns keineswegs bestreiten. Ich schlage stattdessen vor, unter Determinismus die Annahme zu verstehen, dass nichts ohne zureichenden Grund geschieht. In diesem Sinne aber vertritt Luther zweifellos einen Determinismus, und zwar einen theologischen. Denn für ihn ist der Wille Gottes der letzte Grund für alle Ereignisse, auch für die freien Entscheidungen des Menschen. Dieser theologische Determinismus lässt sich am besten auf dem Hintergrund von Laurentius Vallas brillantem Dialog De libero arbitrio (Louvain 1483) erläutern, den zu loben Luther Zeit seines Lebens nicht müde wird. 18 Zu Beginn des Dialoges wird Laurentius Valla von WA 18, 768, 23–26. WA 18, 638, 8 f. 16 Vgl. den Literaturüberblick bei McSorley (1967), 242–244. 17 Wenz (1992), 142. 18 Vgl. WA 1, 109 (Nr. 259); WA 2, 107 (Nr. 1470); WA 5, 333 (Nr. 5729); vgl. WA 18, 640, 8. 14 15
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seinem Gesprächspartner Antonius Glarea gebeten, ihm zu erläutern, wie sich das Vorherwissen Gottes mit der Indifferenzfreiheit des menschlichen Willens vertrage. Dies sei ihm nämlich aus folgendem Grunde unverständlich: Wenn Gott die menschlichen Entscheidungen vorhersieht, steht schon vor diesen Entscheidungen fest, wie sie ausfallen werden. Dann aber hat der Mensch offenbar keine Möglichkeit, sich anders zu entscheiden. Folglich scheint das Vorherwissen Gottes die Freiheit des menschlichen Willens auszuschließen. Nun kann dem Menschen sein Handeln aber gar nicht zugerechnet werden, wenn er keine Willensfreiheit besitzt. Daher ist es ungerecht, dass Gott dennoch die einen ihrer guten Taten wegen lobt, die anderen ihrer bösen Taten wegen anklagt. Antonius steht vor folgendem Dilemma: »Er [Gott] scheint entweder das Zukünftige nicht vorherzusehen, wenn wir einen freien Willen haben, oder nicht gerecht zu sein, wenn wir ihn nicht haben.« 19 Um Antonius aus dieser Klemme zu helfen, versucht Laurentius Valla nachzuweisen, dass menschliche Entscheidungen keineswegs durch das Vorherwissen Gottes prädeterminiert werden. Gott sieht beispielsweise voraus, dass Judas zum Verräter werden wird. Aber nicht deshalb, weil Gott es voraussieht, wird Judas den Herrn verraten, sondern weil er ihn verraten wird, sieht Gott es voraus. Valla greift auf die übliche, schon von Origenes entwickelte Lösung zurück, dass das göttliche Vorherwissen menschlicher Entscheidungen nicht deren Grund und daher mit der Indeterminiertheit dieser Entscheidungen sehr wohl vereinbar ist. 20 Zur Illustration dieser Lösung erzählt er eine Geschichte. Sie handelt von Sextus Tarquinius, der nach römischer Sage Lucretia entehrte und deshalb aus Rom vertrieben wurde. Als noch junger und unschuldiger Mann sei dieser Sextus, so erzählt Valla, nach Delphi gekommen, um Apoll, der alles Zukünftige vorausweiß, nach seinem Schicksal zu befragen. Apoll habe ihm daraufhin die düstere Zukunft prophezeit, die ihn unabänderlich erwartete. Auf die Bitte des Sextus, dieses Orakel zurückzunehmen und ihm ein erfreulicheres Schicksal vorherzusagen, habe Apoll geantwortet: Das zu tun liegt nicht in meiner Hand. Ich kenne die Schicksale, aber ich setze sie nicht fest. Ich kann Glück und Unglück verkünden, aber nicht ändern. […] Klage, wenn du willst, Jupiter an, klage die Parzen an, klage 19 20
Valla (1987), Zeile 226 ff. (S. 78), Übersetzung: F. H. Vgl. Valla (1987), Zeilen 248–263, 408–413 (S. 80, 82, 98).
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Fortuna an, von denen die Ursache der Ereignisse herabsteigt. Bei ihnen liegt die Macht über die Schicksale und der Wille, bei mir das reine Vorherwissen und Vorhersagen. 21
Sextus kann Apoll keinen Vorwurf machen, weder für das Verbrechen, das er begehen, noch für die Strafe, die er erhalten wird. Denn er wird nicht zum Verbrecher werden, weil Apoll es voraussieht, sondern Apoll sieht es voraus, weil er zum Verbrecher werden wird. Daher ist Sextus für sein künftiges Verbrechen selbst verantwortlich und verdient die Strafe, die Apoll prophezeit. »Da dem so ist«, resümiert Valla, »ist zweifellos Deiner Frage Genüge getan, die Dich, wie Du sagtest, beunruhigt und verwirrt.« 22 Hocherfreut bedankt sich Antonius bei Valla für diese Lösung. Er freut sich freilich zu früh. Denn zwar ist es richtig, so erklärt ihm Valla, dass das Vorherwissen Apolls nicht der Grund für die künftigen Entscheidungen des Sextus ist. Gleichwohl müssen diese Entscheidungen, damit Apoll sie mit Gewissheit voraussehen kann, feststehen, ehe sie getroffen werden. Vorher feststehen können sie aber nur dann, wenn sie vorherbestimmt sind. Das untrügliche Vorherwissen Gottes prädeterminiert zwar nicht die künftigen menschlichen Entscheidungen, aber es setzt voraus, dass sie anderweitig prädeterminiert sind, nämlich durch den Willen Gottes. Sextus mag daher kein Recht haben, Apoll, den Vertreter des göttlichen Vorherwissens anzuklagen, er scheint aber sehr wohl berechtigt zu sein, dem Jupiter Vorwürfe zu machen, der für die Macht und den Willen Gottes steht. Wenn Jupiter mir einen schlechten und unverbesserlichen Charakter gegeben hat, so könnte er sagen, so dass »ich nicht anders als schlecht handeln kann, warum verurteilt mich Jupiter für sein Verbrechen? Warum straft er mich, der ich schuldlos bin? Alles, was ich tue, tue ich nicht aus freiem Willen, sondern aus Notwendigkeit. Wie kann ich seinem Willen und seiner Macht widerstehen?« 23 Valla ist damit am Ziel seiner Argumentation. Die Geschichte von Apoll und Jupiter soll nicht den vorchristlichen Polytheismus erneuern, sondern dient ausschließlich dem methodischen Zweck, die Weisheit Gottes und die Macht seines Willens, die sachlich nicht zu trennen sind, dennoch getrennt zu betrachten. 24 Dadurch zeigt 21 22 23 24
Valla (1987), Zeilen 471–479 (S. 104, 106), Übersetzung: F. H. Valla (1987), Zeilen 512 f. (S. 108), Übersetzung: F. H. Valla (1987), Zeilen 571–575 (S. 116), Übersetzung: F. H. Vgl. Valla (1987), Zeilen 577–582 (S. 116).
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sich, dass die menschliche Indifferenzfreiheit nicht durch das Vorherwissen Gottes ausgeschlossen wird. Sie wird aber durch die Vorherbestimmung des göttlichen Willens in Frage gestellt, ohne die ein untrügliches Vorauswissen gar nicht möglich wäre. Die Konsequenzen liegen auf der Hand. Mit der Infragestellung der menschlichen Indifferenzfreiheit wird, wie es scheint, zugleich fraglich, ob der Mensch für seine Sünde verantwortlich ist und von Gott zu Recht beschuldigt wird. Beides lässt sich nach Valla nicht mehr begreifen, muss aber trotzdem geglaubt werden. Derjenige, der sich wie Sextus mit Berufung auf den unwiderstehlichen Willen Gottes von seiner Schuld freispricht und Gott der Ungerechtigkeit bezichtigt, ist mit Paulus zurechtzuweisen: »Wer bist du denn, daß du als Mensch mit Gott rechten willst?« 25 Die von Valla entwickelte Argumentation findet Luthers uneingeschränkte Zustimmung. Wie Valla geht er davon aus, dass Gott alles Zukünftige mit Sicherheit vorherweiß. Denn »selbst die natürliche Vernunft wird gezwungen zu bekennen, […] daß jener ein lächerlicher Gott wäre, oder richtiger ein Götze, welcher das Zukünftige ungewiß voraussieht, oder durch die Ereignisse getäuscht werden kann […].« 26 Nun müssen aber die menschlichen Entscheidungen, wenn Gott sie mit Gewissheit vorhersieht, bereits feststehen, ehe sie gefällt werden. Sie können daher nicht anders ausfallen und mithin nicht in einem indeterministischen Sinne frei sein. Wenn Gott vorhergewußt hat, daß Judas ein Verräter sein werde, wurde notwendigerweise Judas ein Verräter, und es lag nicht in der Hand des Judas oder irgendeines Geschöpfes, anders zu handeln oder den Willen zu ändern, wenn er das auch mit Willen, nicht gezwungen getan hat; sondern jenes zu wollen, war das Werk Gottes, das er durch seine Allmacht in Bewegung setzte, so wie auch alles andere. 27
Erasmus hat dem widersprochen. Er glaubt, der theologische Determinismus lasse sich vermeiden, ohne das untrügliche Vorauswissen Gottes zu bestreiten. Für diesen Irrtum beruft er sich ausgerechnet auf Valla. Da Judas nicht deshalb zum Verräter werde, weil Gott es voraussieht, sondern umgekehrt, habe es trotz des göttlichen Vorherwissens in der Hand des Judas gelegen, den Herrn nicht zu verraten. Hätte er sich dazu entschlossen, dann hätte Gott eben dies vorher25 26 27
Röm. 9, 20; vgl. Valla (1987), Zeilen 647 f. (S. 124). WA 18, 718, 16–18. WA 18, 715, 18–716, 1, Übersetzung: F. H.
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gesehen. 28 Erasmus hat den von Valla dargelegten Zusammenhang zwischen dem sicheren Vorauswissen Gottes und seinem Willen und seiner Macht offenkundig nicht begriffen. Denn auch wenn die Entscheidung des Judas nicht durch das Vorauswissen Gottes prädeterminiert ist, muss sie dennoch, um mit Gewissheit vorhergesehen zu werden, prädeterminiert sein. Anders als Erasmus ist sich Luther über diesen Zusammenhang völlig im Klaren. Was Gott vorhersieht, trifft nach Luther deshalb unfehlbar ein, weil es durch den Willen Gottes vorherbestimmt ist und durch seine Allmacht verwirklicht wird. 29 Aus dem untrüglichen göttlichen Vorauswissen menschlicher Entscheidungen schließt er daher zu Recht, dass der Mensch keine indeterministisch verstandene Freiheit besitzt. 30 Luther vertritt einen theologischen Determinismus, demzufolge alle Ereignisse und alle menschlichen Entscheidungen durch den Willen Gottes vorherbestimmt sind und von Gott deshalb mit Gewissheit vorhergesehen werden. Nun behauptet er aber zugleich, dass der Mensch gegenüber dem, was niedriger ist als er, einen freien Willen besitzt. Wie passt beides zusammen? Hat sich Luther in einen Widerspruch verstrickt, wie Otto Hermann Pesch glaubt? 31 Oder soll man mit Gerhard Ebeling annehmen, die menschliche Freiheit den Dingen gegenüber sei für Luther nur ein Schein, der sich auflöst, sobald der Wille Gottes in Betracht gezogen wird? 32 Oder ist vielleicht die entgegengesetzte, von Harry J. McSorley vorgeschlagene Interpretation zutreffend: Will Luther gar keinen theologischen Determinismus vertreten und hat sich nur missverständlich ausgedrückt? 33 Alle diese Deutungen gehen meines Erachtens in die Irre, weil sie fälschlicherweise voraussetzen, die Willensfreiheit, die Luther dem Menschen in gewisser Hinsicht zuschreibt, bestehe in dem Vermögen, Entscheidungen ohne zureichenden Grund zu treffen. Das ist nicht der Fall! Nach Luther ist der Mensch insofern frei, als er bezogen auf einzelne Gegenstände und Tätigkeiten Alternativen erwägen und zwischen ihnen entscheiden kann, während er in Bezug auf seine Gesinnung keine Wahl hat. Gleichwohl gibt es für jede Entscheidung, die ein 28 29 30 31 32 33
Vgl. Erasmus (1995), III a 5 und III a 9 (S. 96, 102, 104). Vgl. WA 18, 716, 11–24; 719, 24–30; 720, 35–721, 9. Vgl. WA 18, 714, 16–21. Vgl. Pesch (1963), 232–234. Vgl. Ebeling (1964), 251 f. Vgl. McSorley (1967), 244 und 288 ff.
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Mensch trifft, einen zureichenden Grund, nämlich seinen Charakter und seine jeweiligen Motive, die ihrerseits im Willen Gottes gründen. Dass dies Luthers Meinung ist, wird an seiner Deutung der Verstockung Pharaos klar. 34
III. Die Verantwortung des Menschen und das Gutsein Gottes Luthers Lehre von der menschlichen Unfreiheit und der göttlichen Vorherbestimmung steht vor denselben Schwierigkeiten, mit denen sich auch Valla konfrontiert sah. Aus ihr scheint erstens zu folgen, dass niemand für sein Wollen und Handeln verantwortlich ist. Denn wenn der Mensch seine sittliche Gesinnung aus eigener Kraft nicht ändern kann und wenn alle seine Entscheidungen vorherbestimmt sind, dann scheint ihm weder Gutes noch Böses zugerechnet werden zu können. Mit der Zurechnungsfähigkeit des Menschen wird aber, und darin besteht die zweite Schwierigkeit, zugleich die Güte und Gerechtigkeit Gottes fraglich. Denn wenn der Mensch das Gute aus eigener Kraft nicht wollen kann, dann scheint es ungerecht zu sein, dass Gott ihm dennoch seine Sünden zum Vorwurf macht. 35 Zudem bestraft der Lutherische Gott die allermeisten Menschen mit ewiger Verdammnis, obgleich sie ihre Sünden nicht vermeiden und daher, wie es scheint, keine Strafe, schon gar keine ewige verdienen. 36 Er scheint deshalb ein grausamer Tyrann zu sein, der sich an den Qualen Unschuldiger erfreut. Erasmus hat das Problem durch einen drastischen Vergleich illustriert: [Jeder würde] den Herrn als grausam und ungerecht beurteilen, der einen Sklaven mit Peitschen schlüge, weil er einen zu wenig schlanken Körper habe oder eine zu lange Nase oder eine sonstwie zu wenig feine Gestalt. Würde dieser nicht mit Recht unter den Hieben des Herrn murren: ›Warum strafst du mich für das, was nicht in meiner Hand ist?‹ Und das würde er mit noch größerem Recht sagen, wenn es der Herr in der Hand hätte, den Körperfehler an seinem Sklaven zu ändern, wie es Gott in der Hand hat, unseren Willen zu ändern […]. 37
34 35 36 37
Vgl. WA 18, 710, 10–714, 37. Vgl. z. B. WA 18, 686, 10; 689, 10 f.; 707, 32–35. Vgl. z. B. WA 18, 731, 11 ff.; 784, 1–9. Erasmus (1995), IV 5 (S. 166, Übersetzung ebd., 167).
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Ebenso wenig wie Valla ist Luther in der Lage, die Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des Menschen und an der Güte und Gerechtigkeit Gottes auszuräumen, die sich aus seiner Lehre von der menschlichen Unfreiheit und der göttlichen Vorherbestimmung zu ergeben scheinen. Nun ist er aber auch nicht bereit, die Lehre vom unfreien Willen fallenzulassen, denn sie ist das anthropologische Korrelat der Rechtfertigungslehre. Erasmus hat dagegen die umgekehrte Konsequenz gezogen, und darin sind ihm viele evangelische Theologen gefolgt: Dem Menschen muss ein gewisses Maß an Willensfreiheit zugeschrieben werden, damit dem Sünder seine Sünde angerechnet und Gott von dem Vorwurf der Ungerechtigkeit und Grausamkeit entlastet werden kann. 38 Steht man demnach vor der Alternative, entweder Luthers Lehre vom unfreien Willen und seinen theologischen Determinismus oder die Denkbarkeit menschlicher Verantwortung und göttlicher Güte und Gerechtigkeit aufgeben zu müssen? Ich meine nicht! Diese Alternative stellt sich nur dann, wenn man annimmt, dem Menschen sei sein Handeln nur dann zurechenbar, wenn er die Freiheit besitzt, Entscheidungen ohne zureichenden Grund zu treffen. 39 Dieser Annahme zufolge ist die Zurechenbarkeit und Strafwürdigkeit von Handlungen also durch eine indeterministisch verstandene Freiheit bedingt. Demgegenüber gehe ich mit Leibniz, Hume und einer Reihe von analytischen Philosophen davon aus, dass die indeterministische Beschaffenheit einer Handlung deren Zurechenbarkeit keineswegs gewährleistet. Denn jemand ist für sein Handeln offenbar nur dann verantwortlich, wenn er durch seine Charaktereigenschaften und Überzeugungen zum Handeln bestimmt wird. Andernfalls könnte dieses Handeln nämlich gar nicht im strikten Sinne als sein Handeln gelten. Die Verbindung zwischen dem Charakter einer Person und ihren Handlungen, durch die diese Handlungen zurechenbar sind, kommt aber durch ein liberum arbitrium indifferentiae gar nicht zustande. Zu Recht bemerkt Leibniz: […] wenn man auf die Handlung durch eine absolut indifferente Bewegung verfällt und nicht infolge ihrer guten oder schlechten Beschaffenheit, wäre das nicht ebensogut, als wenn man aus blindem Zufall oder durch das Los Vgl. Erasmus (1995), IV 16 (Schluss) sowie I a 8, I a 10, IV 4 f. u. a. (S. 190, 10–13; 12, 4–11; 18, 16–19; 164, 8–166, 22 u. a.) 39 Vgl. Erasmus (1995), II a 7 und II a 18 (Schluss) (S. 46, 12–21 und 72, 11–15). 38
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darauf verfiele? Warum rühmt man sich dann noch einer guten Handlung, warum macht man sich eine schlechte Handlung zum Vorwurf, wenn man eigentlich dem Schicksal oder dem Lose danken oder es anklagen müßte? Ich meine, man ist mehr zu loben, wenn man die Handlung seinen guten Eigenschaften verdankt, und man ist um so strafbarer, je mehr man durch seine schlechten Eigenschaften dazu disponiert worden ist. 40
Verantwortung für Handlungen setzt nicht Indifferenzfreiheit, sondern Freiheit im Sinne vernünftiger Selbstbestimmung voraus. Nicht wenn Handeln ohne zureichenden Grund erfolgt, ist es zurechenbar, sondern wenn es durch spontane, dem Handelnden innewohnende Gründe, nämlich durch seinen Charakter und durch seine Motive, determiniert ist. Nun ist allerdings meine Annahme, die Zurechenbarkeit von Handlungen sei durch eine mit dem Determinismus verträgliche Freiheit gewährleistet, zwei Einwänden ausgesetzt. Der erste Einwand beruft sich darauf, dass jemand offenkundig nur dann für sein Handeln verantwortlich ist, wenn er auch anders hätte handeln können. Muss man daraus nicht schließen, dass Verantwortung doch eine mit dem Determinismus unverträgliche Freiheit voraussetzt? Keineswegs! Auch von Deterministen wie Leibniz und jenen analytischen Philosophen, die Hume folgen, wird anerkannt, dass jemand die Möglichkeit gehabt haben muss, anders zu handeln, um für sein Handeln verantwortlich zu sein. Sie versuchen deshalb zu zeigen, dass auch für den determiniert Handelnden in einem gewissen Sinne alternative Handlungsmöglichkeiten bestanden, zwischen denen er wählen konnte. Leibniz führt diesen Nachweis durch die Unterscheidung zwischen logischer und hypothetischer Notwendigkeit. Das logisch Notwendige ist an sich selbst betrachtet notwendig, denn es ist das, dessen Gegenteil aufgrund eines Widerspruchs unmöglich ist. Das hypothetisch Notwendige oder Determinierte dagegen ist nur durch vorausliegende Gründe oder Ursachen notwendig, an sich betrachtet aber ist es kontingent, weil sein Gegenteil widerspruchsfrei und in diesem Sinne möglich ist. So ist es beispielsweise nicht unbedingt notwendig, dass Judas zum Verräter wurde. Denn anzunehmen, er habe den Herrn nicht verraten, ist zwar falsch, aber offenkundig nicht widersprüchlich. Bei determinierten Handlungen besteht deshalb durchaus die logische Möglichkeit, anders zu handeln oder das Handeln zu unterlassen. Diese logische Möglichkeit wird auch von 40
Leibniz (1968b), § 19 (S. 467), vgl. Hermanni (2002).
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Luther ausdrücklich anerkannt. Denn an sich notwendig ist für Luther allein Gott, während alles andere nicht an sich, sondern nur aufgrund des göttlichen Willens notwendig ist. 41 Judas hätte daher durchaus anders handeln können, wenn er anders gewollt hätte, und er hätte anders wollen können, wenn er ein anderer, nämlich ein vom göttlichen Geist bestimmter Mensch gewesen wäre. Nun ist allerdings gegen meine Annahme noch ein weiterer, zweiter Einwand denkbar. Für die Zurechenbarkeit von Handlungen scheint es zwar notwendig, aber nicht hinreichend zu sein, dass sie durch den Charakter und die Motive des Handelnden determiniert sind, und zwar aus folgendem Grund. Wenn eine Person ihren Charakter weder wählen noch aus eigener Kraft ändern kann, wie Luther annimmt, dann scheint sie für die durch diesen Charakter bestimmten Handlungen nicht verantwortlich zu sein. Muss jemand seinen sittlichen Charakter nicht selber wählen und ändern können, damit ihm die Handlungen, die aus diesem Charakter entspringen, zugerechnet werden können? Dies jedenfalls hat die klassische deutsche Philosophie von Kant über Schelling bis Schopenhauer behauptet. Wenn sie darin Recht hätte, könnte der Sünder aus gutem Grund seine Schuld bestreiten. »Ich bin für meine Sünden deshalb nicht verantwortlich«, könnte er sagen, »weil diese Sünden meinem bösen Charakter entspringen, den ich weder gewählt habe noch ändern kann.« Solche Exkulpationsversuche misslingen meines Erachtens, weil sie auf einer falschen Voraussetzung beruhen. Um für seine Handlungen verantwortlich zu sein, muss der Mensch keineswegs sein handlungsbestimmendes Wesen wählen oder ändern können. Dies zeigt sich, wenn man die subjektive Unhintergehbarkeit des eigenen Selbst bedenkt. Gemeint ist folgendes: Ich kann mein eigenes Selbst, das in meinen Handlungen zum Ausdruck kommt, nicht als etwas von mir Unterscheidbares betrachten, das auch ganz anders sein könnte und auf das ich gleichsam schicksalhaft festgelegt wäre. Denn diese Betrachtung geht von der widersprüchlichen Fiktion aus, ich könnte ein anderer sein und doch ich selbst bleiben. Würde jemand, um sein Handeln zu entschuldigen, darüber klagen, dass ihm kein guter Charakter gegeben worden sei, so wäre dies ähnlich absurd, als würde sich ein Quadrat darüber beschweren, dass es nicht die Eigenschaften eines Kreises habe. Der theologische Determinismus, den 41
Vgl. WA 18, 616, 13–617, 20; 722, 1–29.
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Luther im Anschluss an Valla entwickelt, und seine Lehre vom unfreien Willen widerstreiten daher nicht der Denkbarkeit menschlicher Verantwortung und göttlicher Güte und Gerechtigkeit. Eben dies ist auch die Leibnizsche Ansicht. Um sie zu illustrieren, hat Leibniz den Dialog Vallas weitergeführt. Nach seinem Gespräch mit Apoll habe sich Sextus, so erzählt Leibniz, von Delphi nach Dodona begeben und dem Jupiter für das Verbrechen, das er begehen, und für die Strafe, die er erhalten wird, Vorwürfe gemacht: »Warum hast du mich verdammt, großer Gott, böse und unglücklich zu sein? Ändere mein Los und mein Herz, oder gib dein Unrecht zu.« 42 Jupiter weist seine Klage mit der Begründung ab, Sextus habe sein Unglück allein seinem schlechten Willen zuzuschreiben. Der Hohepriester Theodorus, der das Gespräch mit anhört, ist mit dieser Auskunft nicht zufrieden und wendet folgendes ein: Zwar frevelt Sextus freiwillig, aber Jupiter hat ihn mit einem bösen Willen erschaffen, und es hängt von Jupiter ab, ihm einen anderen Willen zu verleihen. Aufgrund dieses Einwands schickt Jupiter Theodorus nach Athen zu seiner Tochter, der Göttin Pallas, die ihn über alles aufklären soll. Im Tempel der Pallas Athene sieht Theodorus im Traum den Palast der Schicksalsbestimmungen, in den Jupiter vor der Weltschöpfung hineingeblickt hat. In jedem Zimmer dieses Palastes wird wie in einer Theatervorstellung ein möglicher Verlauf der Welt dargestellt. Wenn Theodorus verlangt, etwas möge der Fall sein, kann er in einem der Palastzimmer diejenige mögliche Welt erblicken, in der sich das Verlangte ereignet. Sind die Bedingungen des Falls nicht hinreichend präzise benannt, dann gibt es viele mögliche Welten, die das Ereignis enthalten, aber dessen Umstände und Folgen variieren lassen. So finden sich in einigen möglichen Welten Sextusse, die dem Sextus der wirklichen Welt ähneln, in denen Sextus aber ein anderes Schicksal hat. In einer Welt nimmt Sextus Abstand von seinem bösen Entschluß, reist nach Korinth, findet dort einen Schatz und wird ein reicher und angesehener Mann. In einem anderen Zimmer wird eine Welt dargestellt, in der Sextus ebenfalls dem Jupiter gehorcht, nach Thrazien geht, die Tochter des Königs heiratet und dessen Nachfolger wird. Der Palast der Schicksalsbestimmungen hat die Form einer Pyramide. Je höher ein Zimmer gelegen ist, desto schöner ist die Welt, die in ihm repräsentiert wird. Als Theodorus in das oberste Zimmer
42
Leibniz (1968a), § 413 (S. 407).
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eintritt, gerät er außer sich vor Freude. »Jetzt sind wir in der wirklichen Welt«, erklärt ihm Pallas Athene. Hier ist Sextus wie er in Wirklichkeit ist und wie er in Wirklichkeit sein wird. […] Wie du siehst, geht er nach Rom, bringt alles in Unordnung, schändet das Weib seines Freundes. […] Hätte jetzt Jupiter einen glücklichen Sextus nach Korinth oder als König nach Thrazien versetzt, dann wäre dies nicht mehr die wirkliche Welt. Und dennoch mußte er diese Welt erwählen; denn sie übertrifft alle anderen an Vollkommenheit und bildet die Spitze der Pyramide: im anderen Falle hätte Jupiter seiner Weisheit entsagen müssen und mich, seine Tochter, verbannt. Du siehst, mein Vater hat den Sextus keineswegs böse erschaffen; er war es seit aller Ewigkeit und er war es immer aus freien Stücken: er hat ihm nur Existenz gewährt, die seine Weisheit der Welt, in der er einbegriffen ist, nicht verweigern konnte: er hat ihn aus der Region der Möglichkeiten in die Region des wirklichen Seins versetzt. 43
Nach dieser Erklärung der Pallas Athene erwacht Theodorus, dankt der Göttin und lässt ihrem Vater Jupiter Gerechtigkeit widerfahren. Mit dieser Allegorie, die die Grundannahmen seiner Metaphysik enthält, hat Leibniz eine gedankliche Möglichkeit eröffnet, an Luthers Lehre vom unfreien Willen und seiner Rechtfertigungslehre festzuhalten, ohne die Verantwortung des Menschen und die Güte Gottes in Zweifel ziehen zu müssen. Dafür wäre ihm Luther vielleicht dankbar gewesen. Denn daran, dass der gute und gerechte Gott die Sünder anklagt, obgleich sie ihre Sünde nicht vermeiden und sich daraus nicht befreien können, hat Luther, wie er bekennt, »mehr als einmal […] Anstoß genommen, und zwar bis an den Abgrund und die Hölle der Verzweiflung […].« 44
Literaturverzeichnis Quellen: WA 1 = D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Tischreden, 1. Band, Weimar 1912. WA 2 = D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Tischreden, 2. Band, Weimar 1913.
43 44
Leibniz (1968a), § 416 (S. 410 f.). WA 18, 719, 9 f.
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Luthers Werk und Leibniz’ Beitrag WA 5 = D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Tischreden, 5. Band, Weimar 1919. WA 18= D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), 18. Band, unveränderter Abdruck der Ausgabe Weimar 1908, Graz 1964. Erasmus von Rotterdam (1995): De libero arbitrio, in: Erasmus von Rotterdam: Ausgewählte Schriften, acht Bände, lat. und dt., hg. v. Werner Welzig, Bd. 4, Sonderausgabe Darmstadt. Leibniz, Gottfried Wilhelm (1968a): Die Theodizee, übers. v. Artur Buchenau, einführender Essay von Morris Stockhammer, Hamburg (2. Aufl.). – (1968b): Bemerkungen über das vor kurzem in England veröffentlichte Buch über den Ursprung des Übels, in: Gottfried Wilhelm Leibniz: Die Theodizee, übers. v. Artur Buchenau, einführender Essay von Morris Stockhammer, Hamburg (2. Aufl.). Luther, Martin (1975): Daß der freie Wille nichts sei. Antwort D. Martin Luthers an Erasmus von Rotterdam, übers. v. Bruno Jordahn, München (3. Aufl.). Melanchthon, Philipp (1953): Loci praecipui theologici von 1559, in: Melanchthons Werke in Auswahl, II. Band, 2. Teil, hg. v. Hans Engelland, Gütersloh. – (1978): Loci praecipui theologici von 1559, in: Melanchthons Werke in Auswahl, hg. v. Robert Stupperich, II. Band, 1. Teil, bearb. v. Hans Engelland, fortgeführt v. Robert Stupperich, Gütersloh (2. Aufl.). Valla, Laurentius (1987): De libero arbitrio – Über den freien Willen, lat.-dt., hg., übers. u. eingel. v. Eckhard Keßler, München.
Sonstige Forschungsliteratur: Ebeling, Gerhard (1964): Luther. Einführung in sein Denken, Tübingen. Hermanni, Friedrich (2002): »Leibniz’ Freiheits- und Weltbegriff«, in: Leibniz und die Gegenwart, hg. von Friedrich Hermanni und Herbert Breger, München, 67–87. Iwand, Hans Joachim (1975): »Theologische Einführung«, in: Martin Luther: Daß der freie Wille nichts sei. Antwort D. Martin Luthers an Erasmus von Rotterdam, übers. v. Bruno Jordahn, München (3. Aufl.), 253–264. McSorley, Harry J. (1967): Luthers Lehre vom unfreien Willen nach seiner Hauptschrift De Servo Arbitrio im Lichte der biblischen und kirchlichen Tradition, München. Pesch, Otto Hermann (1963), »Freiheitsbegriff und Freiheitslehre bei Thomas von Aquin und Luther«, in: Catholica 17, 197–244. Wenz, Gunther (1992): »Luthers Streit mit Erasmus als Anfrage an protestantische Identität«, in: Protestantische Identität heute, hg. v. Friedrich Wilhelm Graf und Klaus Tanner, Gütersloh, 135–160.
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Kant, Erasmus und Luther über Freiheit und Glauben Eine kritische Verhältnisbestimmung Birgit Recki
Das Jubiläumsjahr, das mit dem Reformationstag 2016 begonnen hatte und mit dem landesweit als Feiertag bestimmten 31. Oktober 2017 zu Ende gegangen war, hat uns mit seiner unübersehbaren, aber absehbaren Flut von Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt, von Zeitungsartikeln, Zeitschriftenessays, Fernsehsendungen und Radiofeatures, Tagungen, Workshops, Podiumsgesprächen, literarischen Texten viel Neues und Interessantes über Martin Luther und die Reformation gebracht – manches davon in seiner rituellen Redundanz geradezu bis zum Überdruss. Luther und die Auswirkungen, die sein Anstoß zu einer Erneuerung und Läuterung der christlichen Kirche gezeitigt hat, wurden in den interdisziplinären Bemühungen der Geistes- und Kulturwissenschaften in jeder nur denkbaren Richtung zum Thema – er wurde historisch, soziologisch, politologisch, sprachwissenschaftlich, literaturwissenschaftlich und literarisch und nicht zuletzt auch theologisch ausgewertet, problematisiert, kontextualisiert, aktualisiert – und dabei, wie es seit Freud offenbar gar nicht mehr ausbleiben kann, immer auch, immer wieder zum Gegenstand psychologisierender Deutungen gemacht. Gerade dort, wo man in die Lage kam, die Stringenz seines Argumentierens oder überhaupt seiner Position in Frage zu stellen oder seine wüsten Unsachlichkeiten zu thematisieren, bekam man häufig und im Gestus ultimativer Erklärung die Antwort zu hören: Luther war ein Getriebener. Das Thema indessen, das zu diesem Urteil mehr Anlass bietet als alle anderen – und das man angehen muss, wenn man nicht nur das Wirken des Reformators, sondern auch sein Denken theologisch und philosophisch ernst nimmt, kam bei alldem notorisch zu kurz: der Streit zwischen Luther und Erasmus von Rotterdam über die Freiheit des Willens, der in Form einer gelehrten Disputation in zwei ausführlichen Abhandlungen 1524/25 ausgetragen wurde. Luther als Protagonist einer mutatis mutandis bis heute aktuellen und dabei hochbrisanten Debatte, der Debatte über Freiheit und Notwendigkeit, 150 https://doi.org/10.5771/9783495823668 .
Kant, Erasmus und Luther über Freiheit und Glauben
Luther als Denker hat für die verantwortlichen Organisatoren des Lutherjahres 2016/17 offenbar keine Rolle gespielt. 1 »Ich wünschte, dass sie (meine Schriften) alle verschlungen würden. Denn ich erkenne keins als mein rechtes Werk an, außer etwa das ›Vom unfreien Willen‹ und den Katechismus«. 2 So lautet Luthers eigenes Urteil. Geht man davon aus, dass diese Selbsteinschätzung in der Evangelischen Theologie rezipiert ist, drängt sich die Frage auf, wieso im Reformationsjubiläum 2016/17 und in der vorangegangenen Reformations-Dekade von der epochalen Kontroverse, die Luther und Erasmus von Rotterdam in den Jahren von 1520 bis 1524 ausgetragen haben, so gut wie nichts zu hören war. Man mag auf die Idee kommen, dass den zuständigen Personen zwar Luthers Selbsteinschätzung bekannt ist, nicht aber die – so umfangreiche wie diffizile – Schrift De servo arbitrio und die Position, die darin vorgetragen wird. Das wäre bestürzend. Die gegenteilige Vermutung aber droht unversehens ebenso bestürzend auszufallen: dass die zuständigen Personen die Schrift und die Position kennen und gerade deshalb lieber damit hinterm Berg halten – weil den zeitgenössischen Protagonisten in der Evangelischen Kirche nur allzu klar ist, dass ihnen die verbliebenen Christenmenschen von heute in großer Zahl abhandenkämen, wenn ihnen bewusst würde, was der Reformator in Bezug auf die Willensfreiheit vertreten hat. 3 Meine Internet-Recherche hat für das Reformationsjahr den Befund von ganzen 11 Vorkommnissen zu diesem Thema ergeben. Der artifizielle Ausdruck »Vorkommnisse« mag hier als Genus proximum für Medienereignisse von so unterschiedlichem Format fungieren wie den Zeitungsartikel, die Radio- und die Fernsehsendung, den Einzelvortrag, die Podiumsdiskussion und die wissenschaftliche Konferenz. In allen Modi der Thematisierung, die überhaupt zu Gebote stehen – 11 Fälle, von denen zudem zwei genaugenommen bereits außerhalb des Jubiläumsjahres liegen, nämlich mein eigener Vortrag »Martin Luther und Erasmus von Rotterdam streiten über die Freiheit des Willens« (11. November 2017) im Rahmen der von Werner Frick veranstalteten Freiburger Ringvorlesung und die im vorliegenden Aufsatzband dokumentierte Konferenz an der Münchner Hochschule für Philosophie, die am 24. und 25. November 2017 stattfand. 2 Kurt Aland: Luther Deutsch, Band X, 262, zit. nach Martin Luther (1525), 8. 3 In diese Richtung geht auch die Überlegung von Gesche Linde in ihrer kritischen Auseinandersetzung mit dem Impulspapier der EKD »Kirche der Freiheit« (2006), in dem sie im wesentlichen eine (inkonsistente, vor allem um die Kompatibilität des reformatorischen mit dem modernen Freiheitsverständnis wenig bekümmerte) Marketing-Strategie der Evangelischen Kirche erkennt und auch bemerkenswert findet, »dass auf die Kontroverse Luthers mit Erasmus nicht Bezug genommen wird: dies möglicherweise unter dem Eindruck, dass Luthers Position, derzufolge jedes mensch1
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Birgit Recki
Vor diesem Hintergrund ist es nicht allein sinnvoll, die große Kontroverse zwischen Martin Luther und Erasmus von Rotterdam noch einmal zu vergegenwärtigen; es ist auch von gleichermaßen systematischem wie historischem Interesse, in welchem Verhältnis eigentlich Kant zu Luther steht, ob und in welchem Maße sich Spuren von Luthers Theologie bei Immanuel Kant finden, dem wir einen der grundlegenden und maßgeblichen Beiträge zu Begriff und Theorie der menschlichen Freiheit verdanken – zumal man den Eindruck haben darf, dass es in der Evangelischen Theologie ein gewisses Vertrauen in den Protestanten Kant gibt, verknüpft mit der Erwartung, von Kant her die Luther’sche Position auch philosophisch gerechtfertigt zu finden. Das Vor-Urteil, mit dem man sich der Frage nach dem Verhältnis von Kant und Luther (nach dem Einfluss von Luther auf Kant wie auch nach der systematischen Nähe von dessen Denken zum Reformator) annähert, dieses Vorurteil kann, wenn man vom Leben Kants und von Luthers Wirkung einen minimalen Vorbegriff hat, nur ein einziges sein: Für den Vernunftkritiker, der eine strenge pietistische Erziehung durch eine tugendreiche Mutter erfahren hatte, muss Luther eine große Rolle gespielt haben. Man wird diese Intuition noch darin bestärkt finden, wie wichtig für den Alleszermalmer Kant in dem Anspruch, durch seine Erkenntniskritik mit den Hirngespinsten der traditionellen Metaphysik aufzuräumen, das Glauben ist: »Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen«, resümiert Kant das, was er in der programmatischen Absicht, die Metaphysik auf den sicheren Gang einer Wissenschaft zu bringen, in seiner Kritik der reinen Vernunft unternommen hat. 4 So wichtig dabei die methodische Sicherung der empirischen Erkenntnis für sich allein auch schon ist – wenn sie in der Analyse ihrer beiden Quellen in Anschauung und Begriff, d. h. im regelmäßigen Zusammenwirken von Einbildungskraft und Verstand als gesichert angesehen werden darf, bleibt der größere Teil dessen, was sich Kant als Kritik der Vernunft vorgenommen hat, noch zu leisten: den Status auch derjenigen Modi des Erkennens und des Denkens zu sichern, die über das Empirische hinausgehen. Wieviel Platz er im Zuge der methodischen Unterscheidungen seiner Verliche Wollen von Gott (bzw. vom Teufel) gelenkt ist und auch der Erfolg des Handelns sich dem direkten Wirken des alleinig freien Gottes verdankt, in ihrer Radikalität einem heutigen Publikum als kaum noch vermittelbar erscheint.« (Linde 2019, 485) 4 AA III, 19 (B XXX).
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Kant, Erasmus und Luther über Freiheit und Glauben
nunftkritik für den Glauben tatsächlich bekommen hat, zeigt sich nach dem radikalen Verdikt in der Kritik der reinen Vernunft über jeder Form von Gottesbeweisen an der großen Sorgfalt, die er in der Kritik der praktischen Vernunft im Rahmen seiner Lehre vom höchsten Gut auf die Unverzichtbarkeit der Artikel eines reinen praktischen Vernunftglaubens verwendet: Unter dem gerechtfertigten Primat der praktischen vor der theoretischen Vernunft weist Kant die Ideen von Gott und unsterblicher Seele als notwendige Postulate der reinen praktischen Vernunft aus und konkretisiert damit den Umfang dessen, was er einen praktischen Vernunftglauben nennt. Hier mag man Luthers Rechtfertigungslehre assoziieren: sola fide. Der Mensch ist demnach vor Gott nicht durch seine Werke, sondern nur durch den Glauben gerechtfertigt – ein Gedanke der Luther’schen Theologie, dem man seine Funktion im Kontext der radikalen Kritik an den weltlich-allzuweltlichen Praktiken der römischen Kirche im frühen 16. Jahrhundert unschwer anmerkt. Luther zufolge ist der Mensch vor Gott nur durch den Glauben gerechtfertigt, der seinerseits als eine Gnadengabe Gottes zu begreifen sei; Kant zufolge lässt sich jedenfalls nur durch den Glauben die Hoffnung aufrechterhalten, des höchsten Gutes in seiner realistisch komponierten Struktur aus Glückswürdigkeit und Glückseligkeit teilhaftig zu werden – und nur so auch ist es angesichts der notorisch ungerechten Disproportion von Tugendanstrengung und Glück in der realen Welt für den handelnden Menschen möglich, sich die praktische Zuversicht zu bewahren, die er für das unbeirrte Festhalten an einer moralischen Lebensführung braucht. Eine gewisse Inkompatibilität der systematischen Anlage dieses Gedankens mit der Position Luthers macht sich allerdings schon hier bemerkbar – sowohl darin, dass Kant in seiner Komposition des höchsten Gutes so zweifelsfrei dem mitnichten in der Tugend bereits abgedeckten Glücksanspruch des Individuums Geltung zu verschaffen sucht; 5 als auch darin, dass Kant in völlig unlutherischer Nachsicht und Milde überhaupt ein Argument in Betracht zieht, mit dem sich einer dem »Defaitism« hingeben könnte. Sollte in Kant doch nicht so viel Luther stecken, wie man grosso modo vermutet? Hat man indessen im Blick, wie penetrant in Luthers Denken jene drei Dualismen wirken, die er umstandslos aufeinander abbildet – Geist und Leib, Gut und Böse, Gott und Satan –, dann drängt sich eine weitere Assoziation auf: Könnte es nicht sein, dass es in Kants 5
Siehe Recki (2016).
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Birgit Recki
offenkundiger Tendenz zu Dualismen: in seiner Konzeption zweier Welten, des mundus sensibilis und des mundus intelligibilis, und in seinem Begriff des Menschen als eines sinnlich-vernünftigen Wesens keineswegs bloß das Cartesische Erbe der Zwei-Substanzen-Lehre ist, sondern dass es immer auch Luthers Dualismen sind, die da nachwirken? Die damit unterstellte Prägung durch das wirkmächtige Beispiel einer mit Dualismen arbeitenden Theologie würde sich so verstanden selbst bis in Kants kritische Standards der Erkenntnis auswirken. Und wie wir wissen, ist die dualistische Anlage empirischer Erkenntnis, die sich nach Kant aus zwei Quellen speisen muss: aus Anschauung und Begriff, der Einsicht in die Verfassung eines endlichen Vernunftwesens mit seinem intellectus ektypus geschuldet, den Kant rein konzeptuell auf die unendliche Kapazität eines intellectus archetypus bezieht, um die Einsicht in die Endlichkeit und Beschränkung des menschlichen Verstandes deutlich zu machen. So gibt es in Kants Denken eine ganze Reihe von Elementen, die sich als Spuren Luthers lesen lassen. Sieht man sich die Sache genauer an, dann hat man guten Grund froh zu sein, dass der Kopf rund ist, damit das Denken die Richtung wechseln kann. Die These des folgenden Beitrags lautet denn auch, dass Kant in jeder systematisch relevanten Hinsicht: ethisch, metaphysisch (auch theologisch) und religionsphilosophisch, Anti-Luther ist. Das Verhältnis von Luther und Kant sei im Folgenden in drei Schritten dargelegt: in der Rekapitulation der Kontroverse über den freien Willen zwischen Luther und Erasmus (I); in der Erinnerung an Kants Position zur Frage der Willensfreiheit (II); in der kurzen ergänzenden Erörterung einiger für die Fragestellung relevanter Dimensionen der Kantischen Religionsphilosophie, in welche die Freiheitstheorie eingebettet ist (III). Im Zentrum des Vergleichs und der Abgrenzung steht der Befund, dass Kant in der Frage, die Luther und Erasmus von Rotterdam 1524 auszutragen versuchen, ohne jeden Zweifel systematisch auf der Seite des Erasmus steht.
I.
Luther und Erasmus streiten über den freien Willen
Die eigentliche Debatte i. e. S., in der der große (inzwischen darf man sagen:) katholische Humanist, der sich zu dieser Zeit aber auch schon für moderate Reformen der Kirche ausgesprochen hatte, und der große Reformator über die Freiheit des Willens streiten, findet statt 154 https://doi.org/10.5771/9783495823668 .
Kant, Erasmus und Luther über Freiheit und Glauben
im Jahr 1524, sieben Jahre nach dem Thesen-Anschlag. Der Streit hat eine Vorgeschichte. Luther und Erasmus standen seit 1519 im Briefwechsel miteinander. Das Jahr 1520 hatte eine rapide Dramatisierung der Verhältnisse zwischen Luther und der römischen Kirche gebracht. Seine Schrift Über die Freiheit eines Christenmenschen hatte Luther noch dem Papst Leo X. gewidmet, dessen Banndrohungsbulle aber im selben Jahr 1520 mit der Assertio beantwortet, der Wahrheitsbekräftigung aller Artikel Martin Luthers, die von der jüngsten Bulle Leos X. verdammt worden sind. In dieser Antwort auf die Bulle des Papstes vertritt er in einigen Abschnitten die Auffassung, dass der freie Wille des Menschen eine Illusion, ein irreführender leerer Begriff wäre und dass alles, was der Mensch tut, sich nur durch die Notwendigkeit erklären ließe, die durch Gottes Gnade oder Ungnade gesetzt sei. Dagegen richtet 1524 Erasmus seine Ausführungen, auf die wiederum Luther mit einer ausführlichen Bestreitung antwortet, die dann 1525 veröffentlicht werden sollte. Die Diatribe des Erasmus, das Gespräch oder die Unterredung über den freien Willen De libero arbitrio und das Antwortpamphlet Martin Luthers De servo arbitrio bilden im engeren Sinne die Debatte über den freien oder unfreien Willen. Erasmus behauptet die Freiheit des Willens, und er bemüht sich dabei, die Vereinbarkeit dieser Annahme mit der theologischen Lehre von der Abhängigkeit des Menschen als Geschöpf Gottes plausibel zu machen, indem er in einer differenzierten Gnadenlehre die Vorstellung von der Mitwirkung des Menschen an dem einräumt, was letztlich in Gottes Allmacht steht. Er vertritt damit eine Position, die wir heute mit Blick auf die Freiheitsdebatten seit der frühen Moderne und bis in unsere Tage als Kompatibilismus bezeichnen: Vereinbarkeitslehre. Es gab deren manche, schon bevor der Terminus in den Debatten unserer Zeit geprägt wurde, und es hat sich in der zeitgenössischen Auseinandersetzung durchgesetzt, den Ausdruck auch rückwirkend zu verwenden. Der Kompatibilist vertritt die Auffassung, dass die Notwendigkeit des Handelns – Determination welcher Provenienz auch immer – und Willensfreiheit sich nicht grundsätzlich ausschließen, sondern zusammenbestehen können. 6 Im Gedanken des Erasmus, dass die göttliche Vorherbestimmung es durchaus verträgt, dass der Mensch einen freien Willen habe, wirkt der frühe Augustinus fort, der in seiner Schrift De libero arbitrio (388–395) 6
Siehe Recki (2009), Kap. 1 und 2.
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den Gedanken vertreten hatte, dass Gott dem Menschen den freien Willen und damit die Verantwortung für seine guten und bösen Taten gegeben habe, gerade damit der Mensch sich bewähren könne, und dass nichts daran gegen die Allmacht Gottes spreche: Gott hat es offenbar so gewollt, und er greift durch die Vorsehung nicht etwa ein in das, was der Mensch mittels seines freien Willens tut, – er weiß es nur im Voraus. Luther bestreitet in seiner Erwiderung auf Erasmus die Freiheit des Willens und betont dagegen die völlige Abhängigkeit der menschlichen Entscheidungen vom Willen Gottes. In seinem Gedanken wirkt ebenfalls Augustinus nach; aber: der späte Augustinus mit seiner Prädestinationslehre in der Schrift De civitate Dei (426), der zufolge der Mensch von Gott erwählt oder verworfen werde, ohne auf diese Entscheidung selbst durch seine Taten und Werke irgend Einfluss nehmen zu können. Es ist bemerkenswert, wie diese Prädestinationslehre, die als das Gnadenloseste gelten darf, was unter dem Begriff einer göttlichen Gnade überhaupt gedacht werden kann, dem Aufbegehren des Mönchs, dem die Perversion der Werkgerechtigkeit im zeitgenössischen Ablasshandel der Römischen Kirche ein Pfahl im Geiste war, als theologisches Instrument seiner protestantischen Kritik zupass kommen musste. Soweit die Zusammenfassung der polarisierten Positionen. Von Protestanten hört man in der Diskussion über diese Debatte häufig die Formel: Luther und Erasmus reden aneinander vorbei. Damit kann vieles gemeint sein. Mit Sicherheit trägt zu dem Eindruck, dass die beiden Kontrahenten in der Verwendung desselben Terminus (liberum arbitrium) nicht denselben Begriff meinen und sich somit auf inkommensurablen Ebenen bewegen, die Verzerrung der Dimensionen bei, die Luther von Anfang an durch die Überdetermination von Erasmus’ Bestimmung des freien Willens betreibt. Erasmus spricht von einem Willensvermögen des Menschen, sich dem zuzuwenden oder davon abzuwenden, was zum Heil führt. Da er kein Anhänger der Augustinus-Luther’schen Gnadenwahllehre ist, sondern davon ausgeht, dass unser Handeln etwas dazu beiträgt, dass wir Gnade finden (also das Heil erlangen), meint er damit natürlich alle möglichen menschlichen Handlungen. Luther nimmt dagegen von vornherein eine Engführung vor, indem er – unter fragloser Annahme seiner Gnadenwahllehre – sich unter dem, was zum Heil führt, allein die Entscheidungsdomäne Gottes vorstellt. Seine wiederholte Deklaration: in dem, was nur Gott entscheiden kann (nämlich: wer der Gnade teilhaftig wird und wer nicht), habe der Mensch keine 156 https://doi.org/10.5771/9783495823668 .
Kant, Erasmus und Luther über Freiheit und Glauben
Befugnis, trägt von daher per se den Zug der Insinuation einer an Ketzerei grenzenden Anmaßung. Wenn der freie Wille dieses von Erasmus bestimmte Willensvermögen ist, sich dem zuzuwenden oder davon abzuwenden, was zum Heil führt, dann kann er auf der Folie der Luther’schen Gnadenwahllehre und des mit ihr verknüpften Rigorismus der Bestreitung menschlicher Handlungskompetenz nur geleugnet werden. Der Geltungsanspruch der These des Einen wie der des Anderen ist freilich mit dem Aufweis des derart zugrundeliegenden Dissenses noch nicht erledigt. Es gilt immer noch zu prüfen, ob das, was der Eine wie der Andere vertritt, die Chance hat, überzeugend zu sein. Wie argumentieren die beiden Streitenden? Wie begründen sie ihre Thesen? Dies sei hier in aller gebotenen Kürze vorgestellt – so dass die leitenden Intuitionen, die Motive, die Argumentationsabsichten kenntlich werden. 1. Nach Erasmus’ Auffassung verfügt der Mensch über den freien Willen. Er hat ihn von Gott, »der den freien Willen geschaffen und wiederhergestellt hat«. Erasmus begreift den freien Willen als »Kraft des Wollens«, mit deren Hilfe wir »erwählen« oder ablehnen, 7 uns zwischen Gut und Böse entscheiden und uns so je nach unseren Entscheidungen dem zukehren oder von dem abwenden, was zum Heil führt. 8 Er legt dabei Wert auf den vernünftigen Charakter des Willens, er betont, dass er »aus einem Verstandesurteil« entstehe. 9 Erasmus entwickelt seine philosophische Position in einer reflektierten Hermeneutik, einer weit über den Streitanlass hinaus richtungweisenden Methode: generell im philologischen Bezug auf die Bibel als unbezweifelte Autorität, die man beim Wort nehmen darf und muss – im Einzelnen durch begriffsanalytische Erörterungen dessen, was da an Formulierungen begegnet. Er insistiert dabei auf Konsequenz im logischen, semantischen und pragmatischen Verständnis der Sprache, die das Wort Gottes in der Heiligen Schrift annimmt. Er führt – nacheinander aus dem Alten und dem Neuen Testament – eine Fülle von Stellen an, in denen vom Sollen, vom Sündigen, vom Wählen und Verfehlen des Guten und Richtigen, von Aufforderungen Gottes an den Menschen, von Geboten, Verboten, Lob und Tadel des Gottes, von der Befolgung eines Befehls 7 8 9
Erasmus (1524), 41. Erasmus (1524), 37. Erasmus (1524), 63.
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oder eines Gesetzes, von der Anrechnung der Taten eines Menschen durch Gott, von Lohn und Strafe die Rede ist. Indem er generell die logische und semantische Konsequenz im Gebrauch der geläufigen Handlungsbegriffe einfordert, argumentiert Erasmus aus dem Selbstverständnis des denkenden und handelnden Menschen – denn diese Schriftstellen artikulieren das normative Selbstverständnis der Menschen. Erasmus’ Methode besteht in jedem dieser Fälle darin, die Formulierungen beim Wort zu nehmen und derart die Konsequenz ihrer Begriffe explizit zu machen. Das grundsätzliche Argument lautet: Es wäre widersinnig, derartige Ausdrücke (wie die soeben aufgezählten) zu verwenden, Aufforderungen zum Handeln ergehen zu lassen und Werturteile darüber zu fällen, wie es in der Schrift in einem fort geschieht; es wäre widersinnig, wenn feststünde, dass der Mensch, an den sie sich richten, nicht imstande wäre, ihnen zu genügen. All die appellativen, die evaluativen und die normativen Sätze, die Sprechakte wie »Versprechen, Drohungen, Vorhaltungen, Vorwürfe, Beschwörungen, Segenssprüche und Verfluchungen«, wie sie der Gott des Alten Testaments ergehen lässt und die nur auf der Folie der Zuweisung von Schuld und Verdienst überhaupt verständlich sind – sie wären »sinnlos«, wenn die in ihnen geltend gemachte Implikation nicht gelten sollte. 10 Diese Implikation ist allemal die des freien Willens. Denn es wird in allen diesen sprachlichen Ausdrücken direkt die Fähigkeit zur Unterscheidung, zur Wahl, zur Entscheidung unterstellt. Es wäre widersinnig, Handlungen zuzurechnen, wenn der Mensch ein unzurechnungsfähiges Wesen wäre. Damit aber ist die Freiheit des Willens vorausgesetzt. So geht grundsätzlich, wenn auch nicht in ähnlich extensiven Untersuchungen der biblischen Sprache, sondern im knappen Verweis auf die Gepflogenheiten des Sprechens, schon gut Tausend Jahre früher Augustinus vor, wo er darauf hinweist, dass man die Menschen weder loben noch tadeln noch ermahnen dürfte, wenn »die Bewegung, womit der Wille sich hierhin oder dahin wendet, nicht freiwillig und in unsere Macht gegeben« wäre. 11 Erasmus setzt mit seiner begriffsanalytischen Methode an bei einem »Sollen« (11 f.) und bei »Vorschriften für ein gutes Leben« (15). Er macht aufmerksam auf die Begriffe von »Sünde«, »Hoffnung«, »wählen« (59–63), »trennen«, »sich abwenden« (65); »mei10 11
Erasmus (1524), 67. Augustinus (388–395), 225.
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den«, »tun«, »trachten nach«, »Umkehr«, »Eifer«, »Versuch, sich zu bessern« (67); den Junktor »wenn« (»Wie schlecht verträgt sich die Konjunktion ›wenn‹ mit reiner Notwendigkeit«, 75); »Aufforderung« (77); »Streben«, »Versuch«, »Fleiß« (79); »Gerechtigkeit«; »Strafwürdigkeit«: Aus der Verwendung all dieser Begriffe zieht Erasmus die systematische Konsequenz. Einen ersten Höhepunkt der Argumentation bildet die Stelle, an der er den die Bibel lesenden Menschen sich in wörtlicher Rede an das göttliche Gegenüber nach Luthers Konzeption wenden lässt: »Weil solche Ausdrücke überall begegnen, muß da nicht dem Leser sofort einfallen: Was versprichst du unter einer Bedingung, was einzig an deinem Willen gelegen ist? Was machst du Vorhaltungen, während du alles, was von mir Gutes oder Böses getan wird, in mir bewirkst, mag ich wollen oder nicht? Was machst du Vorwürfe, während es nicht an mir liegt zu bewahren, was du wünschst, noch auch das Böse auszuschließen, das du in mich hineinlegst? Was beschwörst du, während alles von dir abhängt und das Geschehen sich nach deinem Willen vollzieht? Was segnest du, wie wenn ich meine Pflicht getan hätte, während es dein Werk ist, was immer geschehen ist? […] Es gibt nämlich Leute, die leugnen, daß der Mensch, mag er auch noch so sehr durch das Geschenk des Glaubens und der Liebe gerechtfertigt sein, irgend ein Gebot Gottes erfüllen kann, sondern daß alle guten Werke, da sie ja im Fleische geschehen, zur Verdammnis führen würden, wenn nicht Gott sie wegen des Verdienstes des Glaubens durch seine Barmherzigkeit verziehe.« 12
Das geht ganz eindeutig gegen Luther, und was Erasmus ihm hier in expressiver Rollenprosa vorhält, ist die Verantwortungslosigkeit, mit der er seinen Gott der Blamage dessen aussetzt, was wir in der zeitgenössischen Philosophie einen performativen Selbstwiderspruch nennen: Ein Gott, der den Menschen so anspricht, wie er es in der Bibel tut, ihm aber nicht den freien Willen gegeben hätte, würde anders reden als handeln; er würde seinen Worten durch die seiner Handlungsweise zu entnehmenden Implikationen widersprechen. Einen zweiten Höhepunkt bildet der Satz, der den gesamten vorangegangenen Philologenfleiß in der semantischen Pointe der Rede vom Wollen zusammenfasst: »Mit welcher Frechheit würde gesagt werden: ›Wenn du willst‹ zu einem, der keinen freien Willen besitzt?« 13 – Wiederum der Vorwurf an Luther, der sich nicht klar12 13
Erasmus (1524), 69. Erasmus (1524), 75.
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gemacht hätte, welchen polemischen Zündstoff seine Vorstellungen bergen: Es kann nicht sein, dass Gott frech ist. Wir dürfen keinen Begriff von Gott und seinem Wirken vertreten, der diesen Eindruck begünstigte. Hier hört der zeitgenössische Adressat selbstverständlich die scholastische Prädikatenlehre mit, die sich aus dem Begriff Gottes als des ens perfectissimum, des höchsten und perfekten Wesens ergibt: Diesem Wesen müssen im höchsten Maße alle positiven Eigenschaften zukommen (Allmacht, Allwissenheit Allgüte), Defizite sind ausgeschlossen – da ein Wesen von höchster Perfektion keine Defizite haben kann. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Erasmus hier das eine der vier Luther’schen Glaubensprinzipien, sola scriptura, 14 konsequenter beherzigt als Luther selbst. Erasmus nimmt die Schrift beim Wort. Und er führt gegen den Bestreiter der Willensfreiheit an: Ein Gott, der mit seinen ungezählten Ansprachen an die Menschen in den verschiedensten Formulierungen im Feld der Wahl-, der Entscheidungs- und der Verantwortungsverben sowie der Wertungsprädikate den Menschen so behandelt, dass darin die Voraussetzung der menschlichen Freiheit artikuliert ist, hätte einen performativen Selbstwiderspruch begangen, wenn er den Menschen gar nicht mit Freiheit begabt hätte. Nun aber das zweite, das im engeren Sinne theologische Element der Argumentation: Weit davon entfernt, diesen freien Willen als Autonomie zu denken, legt Erasmus im Gegenteil Wert darauf, ihn einzubinden in das Bedingungsgefüge der göttlichen Allmacht und Vorsehung, indem er eine differenzierte Lehre von den Formen der Gnade vertritt, von welcher der Mensch abhänge und innerhalb derer der freie Wille eine begrenzte Funktion der Mitwirkung habe – eine Funktion allerdings, auf die auch nicht verzichtet werden kann, wenn menschliches Handeln nicht als Automatismus verkannt werden soll. Erasmus versteht unter Gnade die »unverdiente Wohltat« (beneficium gratis datum), und er unterscheidet zwischen drei bzw. vier Formen oder Modi der Gnade: 1. die natürliche Gnade, d. i. der influxus naturalis (auch influentia communis); 2. die besondere Gnade oder auch: anspornende Gnade; 3. die (mit)wirkende Gnade, die »vorantreibt«, d. h. die den Willen wirksam macht; 4. die vollendende Gnade, die bis zum Ziel führt. Erasmus fasst zusammen: Die erste spornt an, die zweite entwickelt, die dritte vollendet – und hat in 14
Solus Jesus; sola gratia; sola fide; sola scriptura.
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dieser Zählung die zunächst als erste genannte natürliche Gnade offenbar nicht mehr mitgezählt. 15 Er spricht von der »Gnade Gottes, die unseren Willen vorantreibt, damit wir vollbringen, was wir wollen« 16 und besteht darauf, dass hier der Ort ist, wo »der Wille zugleich mit der handelnden Gnade wirkt.« 17 Er fügt wiederum begriffsanalytische Richtigstellungen (»Beistand, Hilfe, Beihilfe, Unterstützung«) ein, um dieses Verhältnis zu erläutern und veranschaulicht es durch das Verhältnis zwischen dem Baumeister und dem Arbeiter: »Was der Baumeister für den Arbeiter, das ist die Gnade für unseren Willen.« Auf dieser Basis kommt Erasmus zu dem Schluss: »Wir werden daher den Leuten, die folgendermaßen schließen: Der Mensch vermag etwas nur mit Hilfe der Gnade Gottes, daher gibt es keine guten Werke des Menschen, den, wie mir scheint, wahrscheinlichen Schluß entgegensetzen: Der Mensch ist mit Hilfe der Gnade Gottes zu nichts unfähig, daher können alle Werke des Menschen gut sein.« 18 Diese Abwägung zwischen Abhängigkeit und Freiheit, den »Synergismus von Gnade und Willensfreiheit«, 19 wird Luther ihm in seiner Antwort als Inkonsistenz ankreiden. Und man muss es zugeben: Die scholastische Kleinteiligkeit der Unterscheidung von Gnadenmodi, in deren Abstufung dann die Lücke für die Platzierung des Willensanteils gesucht wird, ist alles andere als überzeugend: tragische Mühe. Es ist die Inkonsistenz des Kompatibilismus, eines allemal artifiziellen Dualismus der Perspektiven, 20 die der Inkompatibilist Luther, der radikale Determinist der göttlichen Vorsehung, hier ahndet. Luther vertritt demgegenüber radikal, aber am Ende auch nicht eben konsequent, die »Monergie der Gnade«. 21 2. Auf diese Position des Erasmus behauptet Luther die Position, die man zu diesem Zeitpunkt schon aus seiner Assertio kennt: dass der freie Wille nichts sei – ein leeres Wort ohne Inhalt. Der Duktus der Erwiderung lässt von Anfang bis Ende keinen Zweifel daran aufErasmus (1524), 52–57. Zwischendurch ist wiederholt von »angenehm machender Gnade« die Rede, die einmal auch als die »höchste Gnade« bezeichnet wird (55; 57). Damit ist offenbar gemeint, dass durch das Vollenden des Unternommenen, also das Gelingen der Absicht, der Mensch Gott angenehm werde. 16 Erasmus (1524), 153. 17 Erasmus (1524), 145. 18 Erasmus (1524), 157. 19 So Welzig: Einleitung in Erasmus (1524), XIII. 20 Siehe die Kritik am Kompatibilismus bei Keil (2007 u. ö.); vgl. auch Falkenburg (2012). 21 Welzig: Einleitung in Erasmus (1524), XVI. 15
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kommen, dass Erasmus mit seiner Methode wie mit seiner Argumentation Luther nicht überzeugt, ja nicht einmal erreicht. Im Hinblick auf die Methode ist dies durchaus erstaunlich – im Hinblick auf die Argumentation war es von Anfang an absehbar. Immerhin dürfen wir von demjenigen, der sich gegen eine ganze Tradition der gelehrten und politischen Weiterungen des christlichen Glaubens mit der Maxime »Sola scriptura« zur Wehr gesetzt hat – es ist nur die Heilige Schrift, der Autorität zugestanden werden darf –, doch erwarten, dass er ernstnimmt, was ihm in akribischer Fülle an Belegstellen aus der Schrift entgegengehalten wird. Doch Luther verwirft in Bausch und Bogen die Textstellen, die Erasmus anführt – und setzt andere dagegen. Dabei geht er argumentationsresistent wie alle Dogmatiker davon aus, dass sein Zugang, hier zur Heiligen Schrift, der einzig wahre ist. Anstatt anzuerkennen, dass auch das in der Bibel steht, was Erasmus zitiert, und dass es zu denken gibt, steht für Luther fest: Es ist der Andere, der durch seine Ignoranz und Verblendung und durch lauter rhetorische Manöver den Schriftsinn verfälscht. Die grundsätzliche Einsicht, dass alles, was wir an einem Text verstehen, durch unser Verständnis hindurch muss – dass es mit anderen Worten keinen interpretationsfreien Zugang zum Text gibt, liegt ihm fern. Gegen des Erasmus Argumentation mit der Rationalität und Konsequenz des Gottes, der aus den Formulierungen der Bibel spreche, also: gegen die Insistenz auf einem konsequenten Gottesbegriff führt Luther die schwere Keule der prinzipiellen menschlichen Unzulänglichkeit auf: Wie kämen wir dazu, dem Gott einen Widerspruch vorzuhalten? Er übersieht im Eifer des Streits, dass der Vorwurf sich ja nicht gegen Gott richtet, sondern gegen ihn als denjenigen, der nicht sieht, dass er es ist, der mit seiner Argumentation einen widersprüchlichen Gott konzipiert. Doch führt das Argument, das er gegen Erasmus anführt, direkt auf ein Element seiner Theologie: Gott übersteigt alles, was die menschliche Kapazität aufbieten kann. Er entzieht sich letztlich unseren Bemühungen, sein Wesen und seine Ratschlüsse zu fassen: Deus absconditus – der prinzipiell verborgene Gott. Es fällt dann allerdings auf, dass Luther mit der Bestimmbarkeit und Unbestimmbarkeit des Gottes so ziemlich nach Bedarf und Willkür umspringt. Anders gesagt: Es ist erstaunlich, was er sich über den als dem Menschen verborgenen Gott bei Bedarf doch auszusagen zutraut. Dass die aus der mittelalterlichen Theologie überlieferten Prädikate von Allwissenheit, Allmacht, Allgüte, dass die Trinitätslehre, 162 https://doi.org/10.5771/9783495823668 .
Kant, Erasmus und Luther über Freiheit und Glauben
dass der Status des Gottessohnes hier kein Problem darstellen müssen, da sich der Begriff des Deus absconditus ja auf der Basis dieser theologischen Bestimmungen darauf richten soll, dass der Mensch nicht zu fassen vermag, was Gott will und warum er es will, ist zugestanden. Doch man kommt alsbald an eine systematisch dichte Stelle, an der sich mit dem Deus absconditus für Luther ein Problem ergibt. Dass Erasmus seinen Gesprächspartner mit seiner kompatibilistischen Argumentation nicht erreicht, war von Anfang an nicht anders zu erwarten. Daran hätte auch ein stärkeres Erklärungsmodell für die Vereinbarkeit von Gottes Allmacht und der Freiheit des menschlichen Willens, als es Erasmus mit seiner wenig plausiblen Mitbestimmungskonzeption vorgelegt hat, nichts ausrichten können. Wieso, das kann bereits ein Blick in die 1520 erschienene Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen klar werden lassen. Hier entwickelt Luther zusammen mit seiner Rechtfertigungslehre, der zufolge der Mensch vor Gott nicht durch seine Werke, sondern nur durch seinen Glauben gerechtfertigt sei, eine Dialektik des Freiheitsbegriffs. In welchem Verhältnis steht die kompromisslose Verwerfung der Willensfreiheit zu dem, was Luther hier vertritt? In der Freiheit eines Christenmenschen geht Luther von zwei Sätzen aus, die »stracks widereinander sind«, also von dem, was man in der Philosophie eine Antinomie nennt: Satz 1 (These) »Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan« und Satz 2 (Antithese) »Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.« 22 Die Auflösung dieser Antinomie gibt er im Rekurs auf die Innen-Außen-Differenz, auf den seit der klassischen Antike vertrauten Leib-Seele- (psycho-physischen) Dualismus, dem Luther die für den Christenmenschen spezifische Fassung gibt: den Gegensatz zwischen dem geistlichen und dem leiblichen Menschen. 23 Der Mensch als fleischliches Wesen ist dienstbarer Knecht, mithin unfrei. Alles Mögliche kann ihn versklaven. Der Mensch als geistliches Wesen, das er allein durch die Bindung an das Wort Gottes, durch den Glauben werden kann, ist dagegen über alles erhaben. Nichts Weltliches kann ihm etwas anhaben. Es ist dieser bei Luther in der Gegenüberstellung von Fleisch und Geist gefasste Leib-Seele-Dualismus, der indessen nicht der einzige 22 23
Luther (1520), Abschnitt 1, 239. Luther (1520), Abschnitte 2 und 3.
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Dualismus ist, den er vertritt, auf den er sich versteift und der auch die Ausweglosigkeit der Diskussion mit Erasmus bedingt. In der Freiheit eines Christenmenschen ist es die Fleischlichkeit, die den Menschen für die Knechtschaft disponiert. In De servo arbitrio heißt es bekräftigend: »Was Fleisch ist, das ist gottlos und unter dem Zorn Gottes und dem Reich Gottes fremd. Wenn es nun dem Reich und Geist Gottes fremd ist, so folgt notwendigerweise, dass es unter dem Reich und dem Geist des Satans ist, da es kein Mittelreich zwischen dem Reich Gottes und dem Reich des Satans gibt, die beide sich gegenseitig und fortwährend bekämpfen. Das ist es, was beweist, dass die höchsten Tugenden an den Heiden, das Vortrefflichste an den Philosophen, das Beste an den Menschen vor der Welt zwar ehrbar und gut genannt wird und so erscheint, aber vor Gott in Wirklichkeit Fleisch ist und dem Reich des Satans dient. Es ist gottlos und lästerlich und vollends böse.« 24
An dieser Stelle wird auch der weitere Dualismus thematisch, der Dualismus zweier Reiche (an dem in der Sache auch nichts gemildert wird, wenn man stattdessen von zwei Welten oder zwei Sphären spricht). Die wohl bekannteste Stelle aus der Schrift über den unfreien Willen lautet so: »So ist der menschliche Wille mittendrein gestellt wie ein Maultier: Wenn Gott ihn reitet, will und geht er, wie Gott will, wie ein Psalm sagt (Ps 73, 22 f.): ›Ich war wie ein Tier vor dir. Dennoch bleibe ich stets an dir …‹ Wenn ihn der Teufel reitet, will und geht er, wie der Teufel will, und er hat nicht die freie Wahl, zu einem der beiden Reiter zu laufen oder ihn zu suchen; sondern die Reiter selbst kämpfen darum, ihn zu erlangen und zu besitzen.« 25 Luther vertritt tatsächlich die manichäistische Vorstellung vom Reich Gottes und dem Reich des Satans, und er verknüpft die beiden Dualismen umstandslos miteinander. Man muss Wert darauf legen, dass diese umstandslose Verknüpfung nicht alternativlos ist. Im psychophysischen Dualismus ist weder metaphysisch noch logisch die ›Verpflichtung‹ auf eine Zwei-Reiche-Lehre enthalten – und umgekehrt; ebenso wenig zieht der psychophysische Dualismus die Konsequenz nach sich, auf den Unterschied oder Gegensatz von Seele und Leib sogleich den Gegensatz von Gut und Böse zu projizieren. Luther tut dies in keiner Weise gezwungenermaßen; aber tatsächlich: Er tut 24 25
Luther (1525), 259. Luther (1524), 66 f.
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es. Er vertritt diese drei Dualismen einsinnig, und er zieht daraus die Konsequenz: Für den Menschen, so wie er ist: als wandelnder Widerspruch aus Fleisch und Geist, kommt in der Welt, so wie sie ist: als aufgeteilt in zwei Reiche, ein Reich des Guten und ein Reich des Bösen, alles Heil nur aus der Gnade Gottes. Und die kann ihm nur zuteil werden, indem er durch den Glauben vor Gott gerechtfertigt ist: sola fide. Der Wille mit seinen Werken vermag hier gar nichts. Noch nicht einmal zum Glauben selbst kann er etwas beitragen; schon der Glaube ist ein Geschenk der Gnade. Wem diese Gnade zuteil wird, der allerdings genießt die Freiheit eines Christenmenschen, die nach Luthers Bestimmung als Erhabenheit des Menschen über die Niedrigkeiten und die Verworfenheit des Fleischlichen zu verstehen ist. An diesem Gedankengang wird soviel deutlich: Luthers Maxime »sola fide« ist in der systematischen Erstreckung erkennbar nicht beschränkt auf die Rechtfertigungslehre, wo sie im markanten Gegensatz zu der Vorstellung steht, der Mensch könnte durch seine Werke etwas für sein Seelenheil ausrichten. Sie bezieht sich nicht nur auf die Frage des Rechtfertigungsgrundes, sondern auch auf die Freiheit – diejenige Freiheit, die Luther als die eines Christenmenschen vorstellt: Auch die Freiheit ist sola fide, allein im Glauben zu haben. Und das ist nicht so gemeint, dass der Glaube hier instrumentell als Mittel zum Zweck begriffen wäre: dass wir durch den Glauben die Freiheit des Willens erreichen könnten; sondern so, dass es bei fortbestehender Unfreiheit des Willens nur eine Art von Freiheit gäbe, und die läge im Glauben. Die Freiheit eines Christenmenschen ist die Freiheit des Glaubens im Sinne eines Genitivus subjectivus: Der Glaube ist die Freiheit. Nur auf dieser Folie versteht man Luther auch richtig, wo er das Verhältnis des Menschen zu seinen Werken im Gleichnis des Baumes und seiner Früchte illustriert: »Ein guter Baum kann nicht schlechte Früchte bringen und ein fauler Baum kann nicht gute Früchte bringen.« 26 Wenn Luther die Position vertritt: an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen, dann gibt er sich gerade nicht damit zufrieden, dass in Analogie zu dem Unterschied zwischen gutem und faulem Baum und deren Früchten ein guter Mensch gute Werke hervorbringe und ein schlechter eben schlechte. Der Satz könnte dann dem Wortlaut nach auch im Sinne einer Position der Werkgerechtigkeit ausgelegt werden. Luther aber trifft diese Unterscheidung von
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Mt 7,18.
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vornherein auf der Folie seiner Lehre von der durch nichts modifizierbaren Gnadenwahl Gottes – so dass nur der ein guter Mensch sein und gute Werke hervorbringen kann, der durch den Glauben vor Gott gerechtfertigt und schon darin seiner Gnade teilhaftig ist. Das aber heißt: Alles ist Glauben. Und schon im Glauben hängt alles an der Gnade. Nichts davon kann der Mensch sich selbst zuschreiben. Hier ist der in Aussicht gestellte Punkt, an dem man nach der Konsequenz im Umgang mit dem Begriff eines Deus absconditus fragen darf: Luthers grundstürzende These, vor Gott sei der Mensch nur durch seinen Glauben, in keiner Weise durch seine Werke gerechtfertigt – woher wollen wir das eigentlich wissen? Hätte man sich damit nicht tatsächlich angemaßt, in die Gründe und Motive eines Deus absconditus hineinzuinterpretieren? – Aus demselben Grund, aus dem diese Rückfrage angebracht ist, darf man übrigens auch festhalten: Die Vorstellung, der Mensch könne keinen freien Willen haben, folgt keineswegs, und schon gar nicht zwangsläufig, aus dem Begriff des Deus absconditus. Alles hängt am Glauben: In diesem Duktus ist die Kampfschrift De servo arbitrio durchweg gehalten – und hier liegt auch der Grund dafür, dass der Leser allerdings den Eindruck haben kann: Luther lässt sich gar nicht auf die Frage nach dem freien Willen ein, sondern macht alles pauschal und ausnahmslos zu einer Frage des Glaubens – selbst um den Preis, dass dabei Sätze fallen, die man als Denkverbot an den Christenmenschen verstehen kann. Die eingangs aufgegriffene Erklärung, Erasmus und Luther redeten aneinander vorbei, ist mithin insofern zu bestätigen, als es Luther nicht um eine unvoreingenommene Untersuchung des Anspruchs auf Willensfreiheit geht, sondern in allem um den Primat des Glaubens, aus dem alles entspringe, was überhaupt zählt – und auf den dem man sich deshalb gefälligst auch zu beschränken hätte. Die ursprüngliche Bedeutung des Glaubensprimates – die ultimative Zurückweisung der Position der Werkgerechtigkeit: dass es nicht die Werke sind, die den Menschen vor Gott rechtfertigen, sondern nur der Glaube, wird derart entgrenzt. Es dürfte schwer fallen, einem der beiden Gesprächspartner aus vollem Herzen Recht zu geben. Während Erasmus in der Verteidigung des freien Willens zwar das Selbstverständnis des verantwortlich handelnden Menschen artikuliert, dessen Freiheit aber in einer allzu spitzfindigen Unterscheidung ansiedeln will, muss sich Luther wohl nach allen eindringlichen Rückfragen zuletzt die beiden eng zu166 https://doi.org/10.5771/9783495823668 .
Kant, Erasmus und Luther über Freiheit und Glauben
sammenhängenden Fragen vorhalten lassen, ob die Vorstellung von einem Gott, der sich vom freien Willen seines Geschöpfes in seiner Machtvollkommenheit irgend beschnitten fände, von einem Gott also, der nicht gönnen kann, dem Konzept eines Deus absconditus gerecht werden kann – und ob sie auf Dauer überzeugend sein dürfte. Die Aktualität der Auseinandersetzung um das Problem der Willensfreiheit überhaupt ist gleichwohl erkennbar – und mit Blick auf die Einsichten, die in unseren zeitgenössischen Debatten zu gewinnen waren, wäre Erasmus indessen der unstrittige Vorzug zuzuerkennen, dass er anders als Luther mit Rücksicht auf das Selbstverständnis des Handelnden argumentiert. Ich komme auf die eingangs aufgeworfene Frage zurück: Was hat man davon zu halten, dass das Lutherjahr 2016/17 so gar nicht zum Anlass genommen wurde für eine Auseinandersetzung mit der Freiheitsdebatte zwischen Luther und Erasmus? Ist dieses auffällige Übergehen eines großen Themas darin begründet, dass man dort, wo die Auseinandersetzung mit dem Gründervater des Protestantismus professionell betrieben wird, dessen Beitrag über den unfreien Willen nicht kennt – oder liegt es umgekehrt gerade daran, dass man ihn kennt? Auch wenn man die erstere der beiden Möglichkeiten nie ganz ausschließen kann – mit meinem Beitrag halte ich explizit für die Option des letzteren der beiden Erklärungsversuche. Die Auffassung, die Luther gegen Erasmus geltend macht: dass der freie Wille nichts sei, ist für den modernen Menschen, auch den modernen Christen nicht anschlussfähig. Das Selbstbewusstsein und das praktische Selbstvertrauen des modernen Menschen sowie das damit einhergehende Bewusstsein der Verantwortung für sein Tun und Lassen verdankt sich keineswegs allein der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, dem mit ihr intensivierten Anspruch auf Selbstbestimmung des Individuums, auf Demokratisierung der Gesellschaft – und der Auseinandersetzung mit den politischen Katastrophen und ökologischen Krisen des 20. Jahrhunderts; es verdankt sich in alledem auch den gesellschaftlichen und kulturellen Errungenschaften in Folge der Reformation. »Eine Religion knickt im entscheidenden geistigen Entwicklungsaugenblick eine Falte in den Geist eines Volkes, die nie mehr auszuglätten ist«, sagt Jacob Burckhardt in seinen Weltgeschichtlichen Betrachtungen. Dass einer mit dem Rücken an der Wand steht und daraus Kraft bezieht: Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir – zeugt ja eben nicht von Determination, sondern ist ein 167 https://doi.org/10.5771/9783495823668 .
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unerschrockenes Beharren auf der Treue zur eigenen Einsicht. 27 Es ist eine der Quellen eines neuzeitlichen und modernen Anspruchs an die Zivilcourage des Einzelnen. Man braucht entschieden Mut und Willensstärke, um sich – nach diesem Modell – nicht einschüchtern zu lassen; die Einsicht, dass die Willensstärke ihre Grundlage wiederum in einem belastbaren Gottvertrauen haben kann, ändert daran gar nichts. Die Auffassung, dass der freie Wille nichts sei, ist für unser Selbstbewusstsein und Problembewusstsein, das sich gerade auch aus dieser historischen Quelle speist, nicht anschlussfähig. Man darf sich, ja eigentlich gilt schon: man kann sich den Protestanten in der modernen Welt nicht vorstellen als einen, der sich in den Fragen seiner Zuständigkeit, seines Engagements, seiner Verantwortlichkeit auch nur einen Spaltbreit das Hintertürchen offenhielte, dass irgendetwas jemals damit erklärt werden könnte, er sei vom Bösen besessen. Luthers Position führt, wie mit dieser Anspielung auf das Bild des Reitpferdes, das entweder von Gott oder vom Satan besessen ist, noch einmal in Erinnerung gerufen wurde, tief hinein in das theologische Problem des Manichäismus, sie führt damit tief hinein mindestens in eine Inkonsistenz, die es notorisch mit sich bringt, dass die Pfarrer mit einigem Grund die Fragen der Konfirmanden fürchten und die man auch nicht loswird, indem man sie als Gegenstand eines rein philosophischen Monitums dem davon abzusetzenden theologischen Verständnis entgegensetzt: Wenn Gott, wie Luther doch mit Paulus vertritt: alles in allem wirkt – wie kann es dann sein, dass es das Reich des Satans gibt? Philosophie und Theologie sind beide theoretische Wissenschaften und stehen gleichermaßen unter methodischen Standards. Luthers Auftritt in der Frage der Willensfreiheit ist dazu angetan, das Verhältnis eines aufgeschlossenen Christenmenschen (und jedes anderen Menschen) zu dem großen Reformator in die Krise zu stürzen oder doch zumindest sehr abzukühlen. Und das auch dann, wenn man die katastrophale Aufführung des Wüterichs Luther gegen den zivilisierten Gelehrten, der aus Erasmus’ Ansprache spricht, zunächst gänzlich außer Acht lässt. Man nehme indessen pars pro toto So ist die geläufige Formel für einen sehr viel differenzierteren Satz kolportiert – und wirksam geworden. Tatsächlich hat Luther gesagt: Da mein Gewissen in den Worten Gottes gefangen ist, kann ich und will nichts widerrufen, weil es gefährlich und unmöglich ist, etwas gegen das Gewissen zu tun. Gott helfe mir. Amen. – Es ist die Berufung auf das Gewissen und Staffelung der Formulierung »kann ich und will nichts«, die das Festhalten an der geläufigen Zitatformel rechtfertigt.
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nur: »Wer den Erasmus zerdrückt, der würget eine Wanze, und diese stinkt noch tot mehr als lebendig.« 28 Muss man hier nicht sagen: Man merkt dem Autor Luther an, dass er an die Freiheit des Willens nicht glaubt? Geht er doch so offensichtlich davon aus, man müsse sich gar nicht erst Mühe geben mit der Selbstdisziplin – und lässt sich gehen. Erasmus dagegen ist ganz sachlich, ruhig, geduldig: der im Ton maßvolle und zivilisierte, urbane Gelehrte. Ein Humanist eben – einer, dem man auch in seiner Aufführung anmerkt, dass er von der Freiheit des Willens überzeugt ist.
II.
Kants Begriff und Theorie der Willensfreiheit
Luther behauptet also gegen Erasmus, dass der freie Wille nichts sei, der Mensch in allem was er vermag, vielmehr allein von der göttlichen Gnade abhänge. Immanuel Kant dagegen gibt sich die erdenklich größte Mühe, den gegenstandskonstitutiven Beweislücken und überhaupt allen methodischen Schwierigkeiten bei der Annahme der Willensfreiheit belastbare Argumente entgegenzusetzen. Im Projekt einer Kritik der Vernunft fängt mit der Argumentation in der Dritten Antinomie und ihrer Auflösung alles damit an, dass Kant, überzeugt davon, der ›lückenlose‹ Kausalnexus des Naturgeschehens wäre mit einer durchgängigen Determination identisch, die Annahme von transzendentaler Freiheit gleichwohl für nötig hält, da sich das kosmologische Erklärungsprogramm der Kausalität nicht durchführen lasse, wenn man dem regressus ad infinitum nicht Einhalt gebietet. 29 Es muss also, damit der Prozess der Kausalität in Gang (oder im Duktus des Erklärungsprogramms zum Abschluss) kommt, als Ursprung des gesamten Naturgeschehens eine »absolute Spontaneität« der Ursache angenommen werden. Wenn man aber dies einmal angenommen hat – so biegt Kant die damit gewonnene Lizenz mit atemberauZitiert nach Zweig (1934), 165. – Auch in der Kontroverse von 1524 ist Luthers verbaler Auftritt von Anfang bis Ende eine einzige wüste Schimpftirade – voller polemischer Abwertungen nicht nur der Position, sondern explizit auch der Person seines Gesprächspartners, voller Beleidigungen, die bis zum Unflätigen gehen, voller Drohungen; insbesondere seine wiederholt geäußerte Anschuldigung, Erasmus verträte blasphemische Vorstellungen und halte es mit den Heiden, hat im institutionellen Erfahrungshorizont der Zeit den Charakter einer unverhohlenen Drohung. 29 Siehe Recki (2016a). 28
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bender Zielstrebigkeit von der unmittelbar aufscheinenden schöpfungstheologischen Pointe sogleich um ins Feld seines spätestens daran erkennbaren prioritären Interesses am praktischen Verständnis des Vernunftwesens –, dann darf man es auch mitten im Geschehen annehmen: Nicht nur am Ursprung des kosmischen Prozesses, sondern inmitten des Weltgeschehens wirkt absolute Spontaneität, transzendentale Freiheit, auf deren Grundlage die praktische – also: die Freiheit des Willens in den Handlungsentscheidungen – beruht. Wir kennen alle das zunächst völlig beliebige, denkbar unverfängliche Beispiel, das Kant in der Dritten Antinomie gibt: wenn ich jetzt von meinem Stuhle aufstehe. 30 Wenn ich jetzt von meinem Stuhl aufstehe, dann ist das ein unvordenklicher, spontaner Akt der Freiheit. Das Auffälligste an diesem Beispiel ist wohl, wie schnell Kant es in der Auflösung der Dritten Antinomie durch das für seine systematische Absicht einschlägige und aufschlussreiche Beispiel ersetzt: wenn einer durch eine boshafte Lüge Verwirrung in die Gesellschaft gebracht hat. 31 In der Tat: Während es in der Dritten Antinomie um Sicherung der Denkmöglichkeit von Freiheit, um die Legitimität des Begründens durch die Annahme einer selbsttätigen Ursache überhaupt geht, geht es in deren Auflösung umgehend um die Legitimität der Urteilsperspektive, aus der wir moralische Bewertungen treffen; die wir einnehmen, wenn wir das Handeln des boshaften Lügners als unmoralisch missbilligen. Wir brauchen den Standpunkt, der aus dem nivellierenden Nexus der wirkenden Ursachen heraus und zu einer Bewertung führen kann, die nicht den Relationen und Relativitäten der Einflüsse zur Disposition gestellt ist. Wir brauchen ihn ebenso sehr wie der Metaphysiker, der angesichts des Naturkontinuums von Ursache und Wirkung wirklich ernst macht mit dem Anspruch zu erklären, woher alles kommt, die Annahme eines Ursprungs braucht. Auf dieser Grundlage und unter Anwendung des transzendentalen Idealismus: der methodischen Differenz zwischen der Erscheinung (phaenomenon) und dem prinzipiell unserer Erkenntnis nicht zugänglichen Ding an sich (noumenon) auf den Menschen als Naturphänomen in der Reihe der Erscheinungen und den Menschen als
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AA III, 312 (B 478). AA III, 375 (B 582).
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Kant, Erasmus und Luther über Freiheit und Glauben
intelligibles Wesen, vertritt Kant fortan die Freiheit des Willens. 32 Der freie Wille ist hier begriffen als die praktische Ausprägung dessen, was Kant transzendentale Freiheit nennt. 33 Und er hält die Freiheit des Willens für vereinbar mit der durchgängigen Determination der Natur, in deren lückenlose Kausalkette der Mensch mit seinem Handeln eingelassen ist. Kant ringt dann geradezu über eine Reihe von Jahren damit, sein Freiheitsverständnis gegen bloße Indifferenzfreiheit (liberum arbitrium indifferentiae) abzugrenzen, da ihm klar ist, dass die indifferente Wahl zwischen Möglichkeiten nach dem Modell von Buridans Esel vom Zufall nicht zu unterscheiden ist – und damit wäre der Freiheitsbegriff gegenstandslos. Freiheit lässt sich (als Konzept wie in der Sache selbst) nur dann verteidigen, wenn dargelegt werden kann, dass sie ihre eigene Gesetzlichkeit hat, die sie gegen den Zufall sichert. Es ist diese Problematisierung, die Kant auf das Sittengesetz bringt. 34 Die eigene Gesetzlichkeit der Freiheit sei die Autonomie, durch die sich der Mensch im Handeln keinem anderen Gesetz unterwirft, als dem, das er sich durch eigene Einsicht selbst gibt. Kant argumentiert hier überhaupt nicht unter Bezug auf theologische Konzeptionen. Doch wenn man die formale Struktur der Determinationsbehauptungen als äquivalent erkennt: bei Kant bildet der Kausalnexus der Natur einen Konnex vollständiger Bestimmtheit – bei Luther das, was er promiscue Notwendigkeit, Vorsehung oder Gnade nennt –, dann kann man sagen: Kants Lösungsvorschlag für die Auflösung der Antinomie zwischen Determinismus und der Behauptung von Willensfreiheit: der Kompatibilismus einer Annahme von transzendentaler Freiheit bei gleichzeitiger Anerkenntnis der Determination enthält auch eine indirekte Antwort auf Luthers Position in De servo arbitrio, 35 und übrigens eine bemerkenswerte Kongruenz mit der Argumentationsstrategie des Erasmus, der im Begriff der Gnade nach einem weichen Modus innerhalb der göttlichen WirkAA III, 364 f. (B 563 f.) AA III, 363 (B 561 f.) 34 Siehe Timmermann (2003); zum Verhältnis von Freiheit und Moralität siehe auch Puls (2016). 35 Man würde die Position Luthers in der Freiheit eines Christenmenschen verkennen, wollte man sie als einen Kompatibilismus begreifen: Zeigt sich im Gang der Argumentation doch, dass das, was er als die Freiheit des Christenmenschen bezeichnet, in der Sache nicht Freiheit des Willens, sondern Glaube durch Gnade sein soll, siehe meine Ausführungen oben. 32 33
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macht sucht, der die menschliche Mitwirkung (ein Kooperationsmodell der Gnade) zulässt. Kant ist damit in der Frage der Willensfreiheit der dezidierte Anti-Luther.
III. Motive einer Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft: Kant als Anti-Luther Diesem Nachdruck auf der Freiheit des Willens im Interesse an der Moralität entspricht bei Kant die durchgängige Betonung, dass es darauf ankommt, was ich tue. »Was soll ich tun?« das ist die Frage, die sich der handelnde Mensch stellt – die Frage, die ein moralisches Problem anzeigt. Zunächst muss man daran die These von der Moraldifferenz allen Handelns betonen. Und da diese Moraldifferenz dem handelnden Subjekt überantwortet ist und zu Gebote steht, hat diese radikale Moralisierung zugleich eine systematische Affinität zu der Position, die wir in der Frage der Rechtfertigungslehren als Werkgerechtigkeit bezeichnen: Es kommt darauf an, was ich tue. Mit der Orientierung am Sittengesetz ist zwar der gute Wille als die moralische Gesinnung ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt; doch ist diese Gesinnung gerade keine Bestimmung der Innerlichkeit, sondern hat sich im Handeln als der Aufbietung aller erforderlichen Mittel zur Realisierung der Zwecksetzungen des Willens zu zeigen. Explizit schärft Kant in der Religionsschrift ein, »daß die wahre Religion nicht im Wissen oder Bekennen dessen, was Gott zu unserer Seligwerdung thue oder gethan habe, sondern in dem, was wir thun müssen, um dessen würdig zu werden, zu setzen sei, welches niemals etwas anders sein kann, als was für sich selbst einen unbezweifelten unbedingten Werth hat.« 36 Diese Charakterisierung dessen, was wir tun müssen, um Gottes Wirkens zu unserer Seligwerdung würdig zu werden, ruft noch einmal den ersten Satz der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten in Erinnerung: »Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.« 37 Es bleibt kein Zweifel daran, dass es auf die Aufführung des guten Willens im Handeln ankommt. Dem entsprechend besteht für Kant die wahre Religion in einer moralischen Lebensfüh36 37
AA VI, 133. AA IV, 393.
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Kant, Erasmus und Luther über Freiheit und Glauben
rung, »in dem was wir tun müssen«, um Gott wohlgefällig zu sein. Und in der Tat ist dies die Position, die Kant in der Religionsschrift durchweg vertritt. Sein Interesse an der Kirche ist unter dieser Vorgabe denn erklärtermaßen auch das Interesse an derjenigen Institution, derer es bedarf, um den Einzelnen in der moralischen Lebensführung zu stützen und zu bestärken. Die Interpreten haben völlig zu Recht darauf hingewiesen: Die Religionsschrift ist die Fortsetzung der Kantischen Ethik mit anderen Mitteln. Schon früh vertritt Kant, wie man seinem Brief an Lavater vom 28. April 1775 entnehmen kann, die Überzeugung, die er in der Anlage der späten Religionsphilosophie durchführen sollte, dass die Botschaft der Bibel auf die moralische Lebensführung ausgehe: »Sie verlangen mein Urtheil über Ihre Abhandlung vom Glauben und dem Gebethe. Wissen Sie auch an wen Sie sich deshalb wenden? An einen, der kein Mittel kennt, was in dem letzten Augenblicke des Lebens Stich hält, als die reineste Aufrichtigkeit in Ansehung der verborgensten Gesinnungen des Herzens und der es mit Hiob vor ein Verbrechen hält Gott zu schmeichlen und innere Bekenntnisse zu thun, welche vielleicht die Furcht erzwungen hat und womit das Gemüth nicht in freyem Glauben zusammenstimmt.« 38
Kant hält im Glauben den »guten Lebenswandel[]« und die »reinigkeit der Gesinnungen« für entscheidend. 39 Eine »Religion der Gunstbewerbung« 40 verwirft er. In der Religionsschrift wird er dafür den Begriff der Afterreligion verwenden. In ungewohnt polemischem Stil argumentiert er gegen den geistigen Ablasshandel durch Gebet und andere Formen der Devotion, die nach seiner Analyse auf einem praktischen Anthropomorphismus der Gottesvorstellung beruhen. Eine spezifisch contra Luther gerichtete Pointe hat diese Kritik der religiösen Rituale darin, dass Kant sie als »frommes Spielwerk und Nichtstuerei« 41 bezeichnet – auch dies in der Negation ein Ausweis seiner Überzeugung, dass es auf das ankommt, was der Mensch tut: auf sein Handeln als Leistung. Was Kant in der Religionsschrift unternimmt, ist die Moralisierung der Religion. Seine eigene mehr oder weniger deutlich aus38 39 40 41
AA X, 176. AA X, 177. Cassirer (1918), 363. AA VI, 172 f.
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gesprochene ›Rechtfertigungslehre‹ lautet nicht sola fide, sondern betont im systematischen Gegensatz zu Luther gerade das, was wir thun müssen und – selbstverständliche Implikation – auch zu tun vermögen. Handlungstheoretisch und ethisch ist Kant also der Überzeugung, dass der Mensch sich mit gutem Grund eines Willens anmaßt, und dass wir uns selbst missverstehen würden, wenn wir nicht annähmen, dass der Wille frei sei, dass es demgemäß auf die Willensentscheidung entsprechend legitimierbaren Grundsätzen des Handelns ankommt, und er ist – um auch den Schopenhauer-Kalauer gleich vorwegzunehmen: nicht nur der Auffassung, dass ich frei bin zu tun, was ich will, sondern auch frei zu wollen, was ich will. 42 In der Tat: Die deliberative Einbettung der Willensentscheidung, die Kant mit seiner Konzeption der Maximenprüfung am Leitfaden des kategorischen Imperativs unterstellt, besagt genau dies: die Modifizierbarkeit des Willens durch die qualifizierten Gedanken, die ich mir in der Perspektive des Handelns machen kann. Verdeutlichen lässt sich dies an einem in mehr als einer Hinsicht aussagekräftiges Beispiel, das Kant in der Kritik der praktischen Vernunft erörtert und mit dem er sich noch gar nicht explizit auf die moralische Bestimmung des Handelns bezieht: »Setzet, daß jemand von seiner wollüstigen Neigung vorgiebt, sie sei, wenn ihm der beliebte Gegenstand und die Gelegenheit dazu vorkämen, für ihn ganz unwiderstehlich: ob, wenn ein Galgen vor dem Hause, da er diese Gelegenheit trifft, aufgerichtet wäre, um ihn sogleich nach genossener Wollust daran zu knüpfen, er alsdann nicht seine Neigung bezwingen würde. Man darf nicht lange rathen, was er antworten würde. Fragt ihn aber, ob, wenn sein Fürst ihm unter Androhung derselben unverzögerten Todesstrafe zumuthete, ein falsches Zeugniß wider einen ehrlichen Mann, den er gerne unter scheinbaren Vorwänden verderben möchte, abzulegen, ob er da, so groß auch seine Liebe zum Leben sein mag, sie wohl zu überwinden für möglich halte. Ob er es thun würde, oder nicht, wird er vielleicht sich nicht getrauen zu versichern; daß es ihm aber möglich sei, muß er ohne Bedenken einräumen. Er urtheilt also, daß er etwas kann, darum weil er sich bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre.« 43
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Siehe ausführlicher Recki (2009), 31–35. AA V, 30.
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An diesem Gedankenexperiment lässt sich manches klären. Im gegenwärtigen Kontext ist es einschlägig für die Einsicht, dass nach Kants Vorstellung die problembewusste Überlegung Einfluss hat auf die Willensbestimmung. Der Willensbildungsprozess ist deliberativ verfasst. Solche Modifizierung des Willensbildungsprozesses darf man aber so zusammenfassen: Ja, ich bin frei zu wollen, was ich will. Die Eingangsthese war: Kant ist in jeder systematisch relevanten Hinsicht – ethisch, metaphysisch (theologisch), religionsphilosophisch – Anti-Luther. Metaphysisch 44 unternimmt Kant nach den dualistischen Anfängen bei einer Zwei-Welten-Lehre (und den gelegentlichen Versuchen, sie durch eine Zwei-Perspektiven-Lehre ontologisch abzumildern) in der dritten Kritik einen kraftvollen Versuch der Überwindung des Dualismus. Er unternimmt ihn in dem spekulativen Gedanken einer zweckmäßigen Natur, mit dem derjenige Rationalitätsmodus in die äußere und auf die ganze Welt projiziert wird, die der denkende und handelnde Mensch von nirgendwo anders her kennt als von der Struktur des eigenen Handelns. 45 Dieser metaphysische Ansatz enthält auch zumindest eine Implikation für eine jede im Rahmen des kantischen Systems vertretbare Theologie: Der Gott, der als Schöpfer dieser zweckmäßigen Natur explizit in den Fokus rückt, ist ein rationaler Gott, exemplarischer Fall dessen, was Wilhelm Weischedel den Gott der Philosophen genannt hat. In der Religionsschrift wird Kant in der Konsequenz der schöpfungstheologischen Implikation der dritten Kritik mit ihrer teleologischen Reflexion den Gott der praktischen Vernunft in drei praktischen Funktionen vorstellen: Schöpfer, Gesetzgeber und Richter. Damit wird indessen eine weitere systematische Dimension des Anti-Luther erkennbar. Von einem Deus absconditus nämlich kann von daher bei Kant keine Rede sein – und wie denn auch? Kant fasst ja wie jeden anderen Gegenstand der Erkenntnis und des Denkens auch die Gottesidee auf der methodischen Basis der Kopernikanischen Wende, und so sollte es nicht überraschen, dass er sich wo immer das Thema einschlägig wird, auch ausdrücklich zugunsten des religiösen Anthropomorphismus ausspricht. In der Religionsschrift heißt es denn auch nicht nur in einer Unter metaphysischem Denken verstehe ich die begriffliche Vorstellung vom Ganzen der Welt unter Einschluss der Stellung des menschlichen Subjekts in ihr. 45 Diese Spekulation führt auch zu einer Erweiterung des Freiheitsbegriffs; siehe Recki (2018). 44
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Sinnvariante, die dieser Anthropomorphismus annehmen kann, dass der »Begriff von der Gottheit nur aus dem Bewußtsein« der moralischen Gesetze entspringe – und aus dem »Vernunftbedürfnisse, eine Macht anzunehmen, welche diesen [den moralischen Gesetzen, B. R.] den ganzen in einer Welt möglichen, zum sittlichen Endzweck zusammenstimmenden Effect verschaffen kann« 46 – ersichtlich eine Reprise der Postulatenlehre im Kontext der Lehre vom höchsten Gut. Es heißt auch in proto-Feuerbachscher Grundsätzlichkeit: »Es klingt zwar bedenklich, ist aber keinesweges verwerflich, zu sagen: daß ein jeder Mensch sich einen Gott mache, ja nach moralischen Begriffen (begleitet mit den unendlich-großen Eigenschaften, die zu dem Vermögen gehören, an der Welt einen jenen angemessenen Gegenstand darzustellen) sich einen solchen selbst machen müsse, um an ihm den, der ihn gemacht hat, zu verehren.« 47 Die Stelle ist eine Fußnote zu einer Reflexion über den unvermeidlichen Anthropomorphismus im Verhältnis zu Gott. »Der Anthropomorphism, der in der theoretischen Vorstellung von Gott und seinem Wesen den Menschen kaum zu vermeiden, übrigens aber doch (wenn er nur nicht auf Pflichtbegriffe einfließt) auch unschuldig genug ist, der ist in Ansehung unsers praktischen Verhältnisses zu seinem Willen und für unsere Moralität selbst höchst gefährlich; denn da machen wir uns einen Gott +), wie wir ihn am leichtesten zu unserem Vortheil gewinnen zu können und der beschwerlichen ununterbrochenen Bemühung, auf das Innerste unsrer moralischen Gesinnung zu wirken, überhoben zu werden glauben.« 48 Wenn der Anthropomorphismus in theoretischer Hinsicht, also wo es um die begriffliche Konzeption unseres Gottesbegriffs, unser Denken über Gott geht, völlig unproblematisch ist – was macht ihn in praktischer Hinsicht (also: den Anthropomorphismus im Handeln und Verhalten) so gefährlich? Was Kant hier inkriminiert, ist abermals die (wie auch immer rituell sublimierte) Annäherung an einen Gott, als ob es sich bei ihm um einen hohen Herrn handele, den man durch Gefälligkeit, Schmeichelei, Liebedienerei günstig und gnädig stimmen könne (Kant zählt auf: Aufopferungen, Feierlichkeiten, öffentliche Spiele, Büßungen, Kasteiungen, Wallfahrten). Das Gefährliche daran ist die Korruption des Gottesverhältnisses, mit der zu46 47 48
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gleich die Korruption unserer moralischen Gesinnung einhergeht: Wir machen es uns zu leicht, indem wir uns dem Gott nach dem gesellschaftlichen Schema der Devotion und Schmeichelei nähern und ihn uns geneigt zu machen suchen. Deshalb ist Kant ein so entschiedener Gegner aller religiösen Rituale und Zeremonien bis hin sogar zum Gebet: er argwöhnt darin unredliche Überredungsversuche. Die Auskunft lautet vielmehr in aller Strenge: »Alles, was außer dem guten Lebenswandel der Mensch noch thun zu können vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden, ist bloßer Religionswahn und Afterdienst Gottes.« 49 Ceterum censeo: Die Religionsschrift ist Fortsetzung der Ethik mit anderen Mitteln. Es fällt dabei gleichermaßen in die ethische wie in die metaphysische Relevanz, dass für Kant die Sinnlichkeit des Menschen etwas an sich Gutes ist. »Natürliche Neigungen sind, an sich selbst betrachtet, gut, d. i. unverwerflich, und es ist nicht allein vergeblich, sondern es wäre auch schädlich und tadelhaft, sie ausrotten zu wollen; man muß sie vielmehr nur bezähmen, damit sie sich untereinander nicht selbst aufreiben, sondern zur Zusammenstimmung in einem Ganzen, Glückseligkeit genannt, gebracht werden können.« 50 Es ist nicht zuletzt diese Einschätzung, in der sich die Vermutung bestätigt findet, dass die Kantischen Dualismen durchweg nicht in die Nähe des Lutherschen Dualismus zwischen dem Reich Gottes und dem Reich des Satans geraten. 51 In Luthers Freiheit eines Christenmenschen ist es in der Polarisierung von Leib und Geist der Glaube als Geistesgnade, auf dem die Freiheit des Christenmenschen, seine Erhabenheit über alle äußeren Anfechtungen, beruht – und die Leiblichkeit, die den Menschen für die Knechtschaft disponiert. 52 Man kann es nicht eindringlich (und nicht oft) genug sagen: Ein solcher Gedanke liegt Kant denkbar fern. Zwar ist Kant seiner eigeAA VI, 170. AA VI, 58. 51 Kant ist in letzter Instanz wohl darin der Anti-Luther, dass er sich in kaum einem relevanten Fall mit einem Ausgangs-Dualismus zufrieden gibt. Das auszeichnende Merkmal des Kantischen Denkens ist gerade nicht, dass er Dualist ist, sondern dass er seinen Dualismus, seine Dualismen als je vorläufiges, unzureichendes Stadium seines metaphysischen Denkens erkennt und zu überwinden sucht; beispielhaft dafür steht die spekulative Vermittlung von Natur und Freiheit in der dritten Kritik; siehe Recki (2001), Kap. II.2 und II.3. 52 Vgl. nochmals Martin Luther (1525), 259. – An dieser Stelle ist mit dem LeibGeist-Dualismus auch der weitere Dualismus thematisch, der Dualismus zweier Reiche (siehe auch 66 f.; siehe die Ausführungen in Abschnitt I). 49 50
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nen terminologischen Einordnung zufolge ein ethischer Rigorist. »Rigorismus« heißt aber bei ihm, er hält zwischen den Prädikaten »gut« und »böse« kein Drittes, Mittleres, Neutrales für denkbar. Jede Handlung ist entweder gut oder böse, und die Gesinnung des Handelnden ist entweder gut oder böse. Doch es gehört zu den Verdiensten der Religionsschrift, diesen Rigorismus explizit an die Gesinnung zu binden, die der Mensch im Handeln aufführt: Das Kriterium für das moralisch Gute liegt keineswegs, wie es ein hartnäckiges Vorurteil über die Kantische Moralkonzeption zu wissen vermeint, in der Unterdrückung einer als böse verworfenen Sinnlichkeit. Da der Mensch zwei oberste und gleichursprüngliche Maximen in seinem Bewusstsein vorfindet: die Maxime der Sinnlichkeit und die Maxime der Sittlichkeit, hängt die Moralität an dem Kriterium, welche der beiden er der je anderen unterordnet. Man mag hier systematische Einwände haben. Wohl kaum aber den, dass diese Polarisierung in die Gefahr jenes Manichäismus geriete, der eines der großen Probleme in Luthers Theologie ausmacht. Denn Kant macht unmissverständlich klar, dass er ebensowenig einen Substanzbegriff des Bösen wie des Guten, sondern für beides einen handlungstheoretischen Begriff vertritt: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es – und auch für die entsprechende Hypostasierung des Bösen zu einem Reich gibt die Anlage des Kantischen Gedankens keine Handhabe. 53 Das Gute wie das Böse sind Prädikate der Gesinnung und der Taten des Handelnden. 54
Kleines polemisches Postskriptum Nicht nur Luther konnte polemisch werden, wo er essentielle Einsichten seiner Theologie ignoriert oder missachtet sah. Auch Kant, dessen Schriften sich grosso modo durch sachlichen, methodischen Der kategorische Imperativ verwendet zwar in einer seiner Formeln die Reichsmetapher, um die universale Vernetzung der sittlichen Gesetzgebung zu illustrieren: »handle nach Maximen eines allgemein gesetzgebenden Gliedes zu einem bloß möglichen Reiche der Zwecke« (AA IV, 439) – doch Kant spricht hier mit Bedacht von einem bloß möglichen Reich der Zwecke, an anderer Stelle von einem gedachten Reich der Zwecke und markiert damit den Status des Gedankenexperiments. Nirgends hat die Rede vom Reich der Zwecke ontologischen Status. 54 Mit einer Unterscheidung, die wir Ernst Cassirer verdanken: nicht Substanzbegriffe, sondern Funktionsbegriffe; siehe Cassirer (1910). 53
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und dabei allemal nüchternen Duktus der rationalen Analyse, Erörterung und Reflexion auszeichnen, konnte zum sarkastischen Ausbund werden, wo er sein Anliegen als Aufklärer gefährdet sah. Dass Kant in der christlichen Erbsündenlehre einen solchen Gefahrenherd für das gesehen hat, was sein Anliegen war: für die Ausübung des Berufes des Menschen, sich seines eigenen Verstandes ohne Behinderung und Manipulation zu bedienen, ist seiner satirischen Polemik zu entnehmen, die zur Pointierung der Differenz, ja der Unvereinbarkeit des kantischen und des Luther’schen Denkens hier abschließend in Erinnerung gerufen sei. Im Rahmen seiner Bemühung um den angemessenen Begriff und Terminus des Bösen in der Religionsschrift äußert Kant das folgende Urteil: Wie nun aber auch der Ursprung des moralischen Bösen im Menschen immer beschaffen sein mag, so ist doch unter allen Vorstellungsarten von der Verbreitung und Fortsetzung desselben durch alle Glieder unserer Gattung und in allen Zeugungen die unschicklichste: es sich als durch Anerbung von den ersten Eltern auf uns gekommen vorzustellen […]* * Die drei sogenannten obern Facultäten (auf hohen Schulen) würden, jede nach ihrer Art, sich diese Vererbung verständlich machen: nämlich, entweder als Erbkrankheit, oder Erbschuld, oder Erbsünde. 1. Die medicinische Facultät würde sich das erbliche Böse etwa wie den Bandwurm vorstellen, von welchem wirklich einige Naturkündiger der Meinung sind, daß, da er sonst weder in einem Elemente außer uns, noch (von derselben Art) in irgend einem andern Thiere angetroffen wird, er schon in den ersten Eltern gewesen seyn müsse. 2. Die Juristenfacultät würde es als die rechtliche Folge der Antretung einer uns von diesen hinterlassenen, aber mit einem schweren Verbrechen belasteten Erbschaft ansehen (denn geboren werden ist nichts anders, als den Gebrauch der Güter der Erde, soferne sie zu unserer Fortdauer unentbehrlich sind, erwerben). Wir müssen also Zahlung leisten (büßen), und werden am Ende doch (durch den Tod) aus diesem Besitze geworfen. Wie recht ist von Rechts wegen! 3. Die theologische Facultät würde dieses Böse als persönliche Theilnehmung unserer ersten Eltern an dem Abfall eines verworfenen Aufrührers ansehen: entweder daß wir (ob zwar jetzt dessen unbewußt) damals selbst mitgewirkt haben; oder nur jetzt, unter seiner (als Fürsten dieser Welt) Herrschaft geboren, uns die Güter derselben mehr, als den Oberbefehl des himmlischen Gebieters gefallen lassen, und nicht Treue genug besitzen, uns davon loszureißen, dafür aber künftig auch sein Loos mit ihm theilen müssen. 55
Dies ist ein Schlaglicht – auf den Autor, den auch im hohen Alter bisweilen noch der Übermut anfällt und der auch darin bekundet, dass 55
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Birgit Recki
er nicht daran denkt, sich die Freiheit seiner Willkür ausreden zu lassen.
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Freiheit und Verantwortung Schellings Rezeption von Luthers De servo arbitrio in der Freiheitsschrift Thomas Frisch
1.
Einleitung
Am 23. Januar 1809 notiert Schelling in sein Tagebuch: »Legi Lutherum de servo arbitrio.«1 Für die Arbeit an seinen Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit hatte er ab Mitte Januar intensiv Leibniz studiert, genauer: den ersten Band der sogenannten Dutens-Ausgabe, 2 und dort zahlreiche Hinweise auf einschlägiges Schrifttum gefunden. Was ihm lesenswert schien, hielt er in zwei kleinen Listen mit den Vermerken »Von der Bibliothek zu begehren« und »Andre Bücher, die verglichen zu werden verdienen« im Tagebuch fest. 3 Nur für einen dieser Titel lässt sich indes belegen, dass Schelling ihn tatsächlich aus der ›Königlichen Hof- und Staatsbibliothek‹ entliehen und gelesen hat: »Lutheri liber de servo arbitrio«. 4 Dass Luthers Werk in der Freiheitsschrift rezipiert wird, war ihren Lesern immer schon bekannt. In jenem Kernabschnitt, der das Lehrstück von der intelligiblen Tat enthält, zitiert Schelling im Haupttext Luthers willenstheoretische Erläuterung des Judasverrats (WA 18, 715) und nennt in der dazugehörigen Fußnote den »Tractat de servo arbitrio« als Quelle (AA I 17, 153; SW VII, 386). Unklar waren dagegen bislang das genaue Ausmaß und die konkreten InhalSchelling (1994), 7. Leibniz (1768). 3 Siehe die Einträge vom 20. und 21. Januar in Schelling (1994), 6 f. Die Listen enthalten insgesamt sieben Titel, wobei De servo arbitrio an erster Stelle genannt wird (in der Liste vom 20.). 4 Schelling (1994), 6. Schelling liest Luther in direktem Anschluss an seine LeibnizLektüre, mit der er am 16. Januar beginnt und die er am 22. Januar abschließt (6 f.). Die Ausleihe aus der weiland Königlichen Hof- und Staatsbibliothek in München wird durch ein zeitgenössisches Ausleihe-Manual (Bayerische Staatsbibliothek, Signatur: A-Reg. D 11) bestätigt (Schulte [1993], 271; das Ausleihdatum 29. 01. 1809 ist möglicherweise auf einen Transkriptionsfehler zurückzuführen). 1 2
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te von Schellings Rezeption. Für die Edition der Freiheitsschrift im Rahmen der vom ›Schelling-Projekt‹ der Bayerischen Akademie der Wissenschaften veranstalteten historisch-kritischen Gesamtausgabe wurde ein Dokument aus dem Berliner Nachlass, welches hierüber näheren Aufschluss gibt, erstmals umfassend ausgewertet. 5 Es handelt sich um ein zwischen 1806 und 1810/11 entstandenes Notizheft, das »Collectanea eigner und fremder Gedanken« betitelt ist und vornehmlich Exzerpte aus von Schelling studierten Texten enthält. 6 Im Zusammenhang mit der Freiheitsschrift finden sich u. a. etwa 30 Seiten Exzerpte aus Leibniz’ Theologica, darunter sämtliche TheodizeeStellen, die in der Freiheitsschrift zitiert werden, sowie etwa drei Seiten mit Auszügen aus Luthers Streitschrift gegen Erasmus, darunter auch die Stelle zum Judasverrat. 7 Damit ist die Beurteilung von Schellings Luther-Rezeption im Frühjahr 1809 auf eine neue Grundlage gestellt. 8 Schon rein quantitativ zeigt sich, dass sie tiefere Spuren im Werk hinterlassen hat, als das eine Zitat vermuten ließe. So steht dieses zwischen zwei wörtlichen Paraphrasen eines früheren Passus von De servo arbitrio. 9 Und noch für zwei weitere Stellen der Freiheitsschrift kann ein Bezug wahrscheinlich gemacht werden. 10 In methodischer Hinsicht fällt auf, dass die Exzerpte größtenteils Textabschnitte wiedergeben, die Luther selbst als ›philosophisch‹ resp. an die Vernunft (ratio) gesprochen kennzeichnet, sei es bloß implizit durch den Gebrauch philosophisch-scholastischer Terminologie, sei es durch explizite Hinweise. Das aussagekräftigste Beispiel dafür ist die Erörterung der Verstockung Pharaos. Es kann kein Zweifel bestehen, dass Luther darin ›philosophische‹ Argumente vortragen will, leitet er sie doch mit folgenden Worten ein: Erschienen 2018 als Band 17 der Reihe I (›Werke‹) und herausgegeben von Christoph Binkelmann, Thomas Buchheim, Thomas Frisch und Vicki Müller-Lüneschloß. 6 BBAW-NL Schelling, Nr. 76. Vgl. den Editorischen Bericht in AA I 17, 59 f. 7 Eine Zwischenüberschrift legt nahe, dass Schelling diese ursprünglich angefertigt hat, um sie mit jenen aus Leibniz zu vergleichen. 8 Frühere Deutungsversuche stammen von Danz (2008) und Hatem (2010). 9 Siehe dazu unten S. 185 f. 10 Schellings These, »daß, wie der Mensch überhaupt beschaffen ist, nicht er selbst, sondern entweder der gute oder der böse Geist in ihm handelt« (AA I 17, 156; SW VII, 389), erinnert stark an Luthers berühmten Vergleich des menschlichen Willens mit einem Lasttier, das entweder von Gott oder von Satan geritten wird (WA 18, 635). Besonders bemerkenswert ist die Ähnlichkeit in der Theodizee, siehe dazu unten S. 187 f. 5
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Vielleicht fragt man, wie von Gott gesagt werden kann, er wirke Böses in uns, wie Verstocken, den Begierden Ausliefern, Verführen und Ähnliches. Man sollte doch mit den Worten Gottes zufrieden sein und einfach glauben, was sie sagen. Denn die Werke Gottes sind ganz unbeschreiblich. Dennoch, um [Herrin] Vernunft, das heißt, der menschlichen Dummheit zu Willen zu sein, wollen wir dumm daherreden und töricht werden und stammelnd versuchen, ob wir sie irgendwie beeindrucken können. (WA 18, 709) 11
Indem Schelling solche im paulinischen Sinne ›törichten‹ Abschnitte herausgreift, entgeht er dem etwas wohlfeilen Vorwurf, eine genuin theologische Schrift philosophisch ausdeuten zu wollen und damit den Sinn des Gesagten von vornherein zu verfehlen. 12
2.
Notwendigkeit und Freiwilligkeit
Wie aber stellt sich Schellings Rezeption konkret dar, oder anders gefragt: Was hat Schelling an Luther philosophisch eigentlich interessiert? Die Antwort liegt in dem bereits erwähnten Zitat, wenn man es nur im Kontext betrachtet sowie auf der Folie der Collectanea. Nachdem Schelling die »Idee« der intelligiblen Tat in einem theoretischabstrakten, »allgemeinen, Sinne« (AA I 17, 153; SW VII, 385) entwickelt hat, behauptet er, es sei »in jedem Menschen ein, mit derselben übereinstimmendes, Gefühl, als sey er, was er ist, von aller Ewigkeit schon gewesen, und keineswegs in der Zeit erst geworden«: Daher, ohnerachtet der unläugbaren Nothwendigkeit aller Handlungen, und obgleich jeder, wenn er auf sich aufmerksam ist, sich gestehen muß, daß er keineswegs zufällig oder willkührlich böse oder gut ist, der Böse z. B. sich doch nichts weniger als gezwungen vorkommt, (weil Zwang nur im Werden, nicht im Seyn empfunden werden kann), sondern seine Handlungen mit Willen, nicht gegen seinen Willen thut. Daß Judas ein Verräther Christi wurde, konnte weder er selbst, noch eine Kreatur ändern, und dennoch verrieth er Christum nicht gezwungen, sondern willig und mit völliger Freyheit. [Dazu Anm.: »So Luther im Tractat de servo arbitrio; mit
Die Übersetzung der Luther-Zitate nach Athina Lexutt in Luther (2006), 219–661. Schelling führt m. E. mustergültig vor, wie sich ein theologischer Text philosophisch lesen lässt, ohne seiner methodischen Form Gewalt anzutun. Zwar stehen in De servo arbitrio ›philosophische‹ Überlegungen stets im Dienste der Schriftauslegung. Das heißt jedoch nicht, dass sie keinen davon unabhängigen argumentativen Gehalt besäßen.
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Recht, wenn er auch die Vereinigung einer solchen unfehlbaren Nothwendigkeit mit der Freyheit der Handlungen nicht auf die rechte Art begriffen.«] Eben so verhält es sich mit dem Guten, daß er nämlich nicht zufällig oder willkührlich gut, und dennoch so wenig gezwungen ist, daß vielmehr kein Zwang, ja selbst die Pforten der Hölle nicht im Stande wären, seine Gesinnung zu überwältigen. (AA I 17, 153; SW VII, 386)
Von dem Zitat einmal abgesehen sind diese Sätze weitgehend Paraphrase eines Abschnitts relativ am Anfang von De servo arbitrio (aus Luthers Entgegnung auf die Einleitung der Diatribe des Erasmus). 13 Luther trifft dort unter Rückgriff auf scholastische Terminologie eine bedeutsame Unterscheidung, deren systematischer Gehalt ihn in die Nähe philosophischer Freiheitstheoretiker wie Harry G. Frankfurt rückt: 14 Wenn […] nicht wir, sondern Gott allein das Heil in uns wirkt, wirken wir vor seinem Werk nichts in heilsamer Weise, ob wir wollen oder nicht. Notwendigerweise, sage ich, nicht gezwungen (Necessario […], non coacte), sondern, wie sie sagen, mit einer Notwendigkeit der Unveränderlichkeit (necessitate immutabilitatis), nicht des Zwangs. Das heißt: Wenn der Mensch ohne Heiligen Geist ist, tut er nicht unter Gewalteinfluss – als ob er am Hals gewürgt und weggerissen würde – gegen seinen Willen Böses – so wie etwa ein Schurke oder Dieb gegen seinen Willen der Strafe zugeführt wird –, sondern aus eigenem Antrieb und freiwillig (sed sponte et libenti voluntate [!]). (WA 18, 634)
Obwohl Luther den freien Willen bekämpfen will, legt er doch größten Wert darauf, die Handlungen eines Menschen nicht als Folge äußeren oder inneren Zwangs darzustellen. Der Theologe ist hier sehr plastisch: Dass alle Handlungen mit Notwendigkeit getan werden, heißt nicht, dass der Handelnde von der necessitas gleichsam gepackt und unter inneren Krämpfen seinen Handlungen zugeführt wird, sondern nur dass diese unabänderlich so und so vollzogen wer-
Modifikationen vonseiten Schellings sind die in Klammern hinzugefügte Erläuterung und die Rede von der unbezwingbaren Gesinnung nach Kant, Religion A106/ B115. Zur Wiedergabe des Zitats siehe unten S. 189, Anm. 23. 14 Frank Dettinger hat in seiner äußerst instruktiven »Untersuchung zum Freiheitsverständnis bei Harry G. Frankfurt, Galen Strawson und Martin Luther«, der ich in meiner Deutung von De servo arbitrio weitgehend folge, Luthers Freiheitsverständnis mithilfe der analytischen Theorien von Harry G. Frankfurt und Galen Strawson rekonstruiert. Vgl. Dettinger (2015), 141–262. Eine bündige Darstellung von Luthers Willensbegriff gibt Hermanni (2004), 167–174. 13
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den. 15 Der Identifikation mit dem eigenen Wollen (und seinen Objekten) tut dies keinen Abbruch, ja sie wird in gewisser Weise sogar verstärkt, wie Luther am Beispiel des ›Heiligen‹ vor Augen führt: Wenn Gott in uns wirkt, will und handelt der Wille (voluntas), der durch den Heiligen Geist verändert und uns sanft eingehaucht worden ist. Er handelt aber wiederum aus reinem Belieben, aus Neigung und aus seinem freien Antrieb, nicht gezwungen (mera lubentia et pronitate ac sponte sua […], non coacte). So kann er durch nichts, was ihm entgegen ist, in etwas anderes verwandelt werden. Nicht einmal durch die Pforten der Hölle wird er besiegt oder gezwungen, sondern er fährt fort, das Gute zu wollen, willig zu tun und zu lieben, so wie er zuvor das Böse wollte, willig tat und liebte. (WA 18, 634 f.; von Schelling vollständig exzerpiert)
Luther konzipiert also einen, wenn auch rudimentären, Begriff von Willensfreiheit, oder wie man vielleicht besser sagen sollte: FreiWilligkeit im Sinne der Identifikation mit dem eigenen Wollen und der Abwesenheit von Zwang. Die systematische Intention dahinter liegt auf der Hand: Würde Luther die These vom unfreien Willen so weit treiben, dass Handlungen nicht einmal mehr zurechenbar sind, geriete seine theologische Rechtfertigungslehre (die zu verteidigen doch sein Ziel ist) in eine gewaltige Schieflage. Denn wenn dem Menschen ›seine‹ Handlungen nicht zugerechnet werden können, ist er auch nicht dafür verantwortlich zu machen. Verantwortlich zu machen wäre vielmehr der, auf dessen Wirken diese Handlungen dann allein zurückzuführen wären. Kurzum: Nicht der Mensch wäre der Rechtfertigung bedürftig, sondern Gott wäre es.
3.
Verantwortung und Theodizee
Kennern älterer und neuerer philosophischer Debatten mag die Leistungsfähigkeit dieser Konzeption freilich als gering erscheinen. Nach dem sogenannten Basic Argument, das von Galen Strawson analytisch re- und ausformuliert wurde, reicht es für die Begründung von Letztverantwortung (›ultimate responsibility‹) keineswegs hin, die Freiwilligkeit der Handlungen zu zeigen. 16 Angewandt auf Luthers Konzeption besagt es etwa Folgendes: Auch wenn die genannten Luther spricht von einer »Notwendigkeit der Unveränderlichkeit« (necessitas immutabilitatis). 16 Vgl. Strawson (1994), bes. 5 ff. 15
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Freiheit und Verantwortung
Kriterien (der Identifikation mit dem eigenen Wollen und der Abwesenheit von Zwang) erfüllt sind, kann man immer noch fragen, ob ein Mensch für das seinen Handlungen zugrunde liegende Wollen selbst verantwortlich ist. Dies ist offensichtlich nur dann der Fall, wenn er sich selbst zu diesem Wollen bestimmt, d. h. wenn er sich für dieses Wollen oder, mit Strawsons Formulierung, dafür, wie er ist, bewusst und ausdrücklich entschieden hat. 17 Eine derartige Entscheidung aber ist schon aus begrifflichen Gründen unmöglich, sodass Verantwortung und Freiheit gewissermaßen auf der Strecke bleiben. 18 Es scheint, als wäre das Argument für Luthers Konzeption desaströs, zumal Luther die handlungsbestimmende voluntas stark mit dem So-Sein einer Person assoziiert. Hätte der Theologe die von Strawson angezielte Problematik schlicht übersehen? In seiner Erörterung der Verstockung Pharaos stellt er weiterführende Überlegungen an, die diese Vermutung nahelegen könnten: Da ja doch Gott alles in allem bewegt und wirkt, bewegt und wirkt er auch notwendigerweise im Satan und im Gottlosen. Er wirkt aber in ihnen so, wie sie sind und wie er sie vorfindet. Das heißt: Weil jene abgewandt sind und böse und fortgerissen werden von jener Wirksamkeit der göttlichen Allmacht (motu illo divinae omnipotentiae), tun sie nichts als Abgewandtes und Böses. Das ist so, wie wenn ein Reiter ein drei- oder zweifüßiges Pferd reitet, dann reitet er es jedenfalls so, wie das Pferd beschaffen ist […] Hier siehst du, dass, wenn Gott in den Bösen und durch die Bösen wirkt, zwar Böses geschieht. Dennoch kann Gott nicht böse handeln, mag er auch Böses durch Böse tun, denn er ist selbst gut und kann nicht böse handeln. (WA 18, 709; von Schelling vollständig exzerpiert)
Luther führt an dieser Stelle eine bemerkenswerte Prämisse ein: Als Schöpfer der Welt garantiert Gott auch die allgemeine Bewegung und ›Dynamik‹ des Weltgeschehens. Dieses In-Gang-Halten und InGang-Bleiben der Welt, ihr motus, ist grundsätzlich ein positiver Effekt der göttlichen Allmacht und auch dann noch als ›gut‹ anzusehen, wenn dadurch ›böse‹ Potentiale aufseiten des Menschen verwirklicht werden. 19 Die Schuld am so realisierten Bösen trägt Luther zufolge Vgl. Strawson (1994), 6: »One must have consciously and explicitly chosen to be the way one is, mentally speaking, in certain respects, and one must have succeeded in bringing it about that one is that way.« 18 Strawson bezieht sich auf den Begriff einer causa sui. 19 Allmacht ist für Luther nicht bloß vermögende, sondern wirkende Macht. Vgl. WA 18, 718: »Allmacht Gottes aber nenne ich nicht die Macht, mit der er vieles nicht tut, was er kann, sondern jene wirksame, mit der er machtvoll alles in allem tut.« 17
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der Mensch, weil es von seiner charakterlichen Beschaffenheit abhänge, ob der an sich neutrale motus bei ihm zum Guten oder Bösen hin ausschlägt. Diese Begründung scheint nun etwas voreilig, kann man doch mit Strawson einwenden, dass der eigene Charakter eben gar nicht zu jemandes Disposition stehe. Man hat hier dreierlei zu bedenken: Erstens stehen Luthers Überlegungen im Dienste der Exegese. Luther möchte das Anstößige aus der biblischen Rede von einer Verstockung des Menschen durch Gott entfernen und in dieser Hinsicht ist sein Argument sogar recht subtil. Zweitens ist es, auch und gerade philosophisch gesehen, oftmals erhellend, ein Problem zunächst auf einer oberflächlicheren Ebene zu behandeln, um tiefer liegende Implikationen nur desto schärfer hervortreten zu lassen. Das Dritte und Wichtigste aber ist, dass Luther sich des Problems durchaus bewusst war. Dies geht aus einem Passus hervor, der Schelling sichtlich beeinflusst hat, auch wenn er nur eine einzelne Wendung daraus notiert. 20 Luther sichert seine Überlegungen gegen einen möglichen Einwand ab, um sie sodann auf die nächste Stufe zu heben: Es bleibt also noch, dass jemand fragen könnte, warum Gott nicht von eben dieser Bewegung der Allmacht ablässt, kraft der der Wille der Gottlosen bewegt wird, sodass er fortfährt, böse zu sein und schlechter zu werden? Es wird geantwortet: Das hieße wünschen, Gott möge um der Gottlosen willen aufhören, Gott zu sein. Denn du wünschst, dass seine Kraft und Wirkung weichen, dass er also aufhört, gut zu sein, damit jene nicht schlechter werden. Aber warum ändert er nicht zugleich die bösen Willen, die er antreibt? Das bezieht sich auf die Geheimnisse seiner Majestät, wo seine Urteile unbegreiflich sind. Und es ist nicht an uns, dies zu erforschen, sondern diese Geheimnisse anzubeten. […] Dasselbe ist denen zu sagen, die fragen, warum er zugelassen hat, dass Adam fiel, und warum er uns alle als mit derselben Sünde Befleckte schafft […]. (WA 18, 712; Hervorhebung von mir) 21 »Deus ipse est regula omnium«. Vgl. WA 18, 712: »Deus est, cuius voluntatis nulla est caussa nec ratio, quae illi ceu regula et mensura praescribatur, cum nihil sit illi aequale aut superius, sed ipsa est regula omnium.« (Übers.: »Gott ist der, dessen Wille keine Ursache noch Grund hat, die ihm als Richtschnur und Maß vorgeschrieben würden. Ihm ist nichts gleich oder überlegen; vielmehr ist er eben die Richtschnur für alles.«) 21 Parallelen zu Schellings Theodizeeversuch in der Freiheitsschrift sind unverkennbar, wie auch Hermanni (2004), 173 Anm. 28 bemerkt. Vgl. bes. AA I 17, 166 ff.; SW VII, 401 ff. 20
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Die Stelle beweist, dass Luther die Frage nach der Letztverantwortung für die moralische Beschaffenheit von Personen im Blick hat – im Blick hat, aber nicht eigentlich beantwortet. Indem er an diesem vorläufigen Endpunkt seiner Argumentation den Deus absconditus ins Feld führt, gibt er zu erkennen, dass er das Problem einer rationalen Auflösung nicht mehr für fähig hält, um es kurzerhand in den Bereich des Glaubens zu verweisen. 22 Das hindert ihn übrigens nicht daran, Judas einige Seiten weiter die volle Verantwortung für seinen Verrat zuzuschreiben, mit der bekannten Begründung, dass er ihn »willentlich und nicht gezwungen« (volendo non coactus) begangen habe, und ausdrücklich hinzufügend, dies Wollen sei das Werk Gottes gewesen, »das er nach seiner Allmacht bewegte wie auch alles andere« (vgl. WA 18, 715 f.).
4.
»die Vereinigung … nicht auf die rechte Art begriffen«: das Urteil Schellings
Luthers nachdrückliches Insistieren auf der Unfreiheit des Willensvermögens und die daraus resultierenden Aporien sind selbstverständlich auch Schelling nicht entgangen, der insgesamt viel stärker Strawsonschen Intuitionen folgt. Daher kann er zwar Luthers Beschreibung der Phänomene voll und ganz zustimmen, der im Hintergrund stehenden Theorie aber nur zum Teil: So Luther im Tractat de servo arbitrio; mit Recht, wenn er auch die Vereinigung einer solchen unfehlbaren Nothwendigkeit mit der Freyheit der Handlungen nicht auf die rechte Art begriffen. (AA I 17, 153 Anm.; SW VII, 386 Anm.)
Die Fußnote zum Judas-Zitat enthält Schellings Urteil über Luthers Freiheitsverständnis im Ganzen. Es bleibt etwas unklar, inwieweit er dieses als eine rudimentäre Theorie kompatibilistisch verstandener Freiheit anerkennt, die sozusagen nur nicht zu Ende gedacht ist. 23 Klar ist jedenfalls, dass er Luthers Konzeption für defizitär hält: Zu Luthers Versuch einer eschatologischen Lösung siehe unten S. 193, Anm. 33. Bemerkenswert ist, dass Schelling Luthers »volendo non coactus« sehr wohlwollend durch »willig und mit völliger Freiheit« wiedergibt (eventuell in Anlehnung an WA 18, 634: »sed sponte et libenti voluntate«). Dabei ist allerdings zu beachten, dass er Zitate gerne ein wenig umformuliert, um sie dem eigenen Gedankengang einzupassen (vgl. auch oben S. 185, Anm. 13). Systematisch gilt nach Schelling ohnehin,
22 23
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Luther hat richtig gesehen, dass die Unabänderlichkeit und sozusagen Robustheit der Einzelhandlungen ihre Freiwilligkeit und Zurechenbarkeit 24 per se nicht aufhebt, ja empirisch sogar als deren Ausdruck erscheinen kann, wie im Falle des ›Heiligen‹. Zu dem höheren Standpunkt, von dem aus Freiheit und Verantwortung positiv begründet werden können, hat er sich jedoch nicht erhoben: zur Synthese von Notwendigkeit und Freiheit im Theorem einer intelligiblen Tat. 25 Der mit Luthers (proto-)kompatibilistischer These gestellte theoretische Anspruch wird folglich nicht eingelöst, denn für Schelling ist vollkommen klar: »Wäre jenes [intelligible] Wesen ein todtes Seyn und in Ansehung des Menschen ein ihm bloß gegebenes; 26 so wäre, da die Handlung aus ihm nur mit Nothwendigkeit folgen kann, die Zurechnungsfähigkeit und alle Freyheit aufgehoben.« (AA I 17, 152; SW VII, 385) In seiner Sicht hat Luther ein gutes Gespür für die ›Notwendigkeit in der Freiheit‹ 27 bewiesen – nicht mehr, aber auch nicht weniger.
dass eine Freiheitstheorie, die die Vereinigung von Notwendigkeit und Freiheit nicht leistet, »in der Hauptsache gar nichts« leistet (AA I 17, 151; SW VII, 383). 24 Der Aspekt der »Zurechnungsfähigkeit« (AA I 17, 154; SW VII, 387) wird im Text direkt an die Lutherparaphrase angeknüpft (unter Rekurs auf Fichte und Kant), wobei er in der Formulierung, dass »jeder, wenn er auf sich aufmerksam ist, sich gestehen muß, daß er keineswegs zufällig oder willkührlich böse oder gut ist« (AA I 17; SW VII, 386), schon anklingt. 25 Hierauf scheint Schelling anzuspielen, wenn er den kritischen Akzent auf die »Vereinigung« legt. Vgl. AA I 17, 152; SW VII, 385: »Hier liegt der Punkt, bei welchem Nothwendigkeit und Freyheit vereinigt werden müssen, wenn sie überhaupt vereinbar sind.« Vgl. ferner AA I 17, 151; SW VII, 383: »Ueberhaupt erst der Idealismus hat die Lehre von der Freyheit in dasjenige Gebiet erhoben, wo sie allein verständlich ist.« 26 Luther verpflichtet sich auf die entscheidende zweite Prämisse. In seiner Konzeption des menschlichen Wesens als lebendigem Willensvollzug (statt »todte[m] Seyn«) liegt dagegen bereits ein Anknüpfungspunkt für Schelling. Auch hier wäre Luther also auf halber Strecke stehen geblieben. 27 Der Ausdruck von Danz (2008). Schelling spricht von einer »höhere[n] Nothwendigkeit, die gleichweit entfernt ist von Zufall, als Zwang oder äußerem Bestimmtwerden, die vielmehr eine innere, aus dem Wesen des Handelnden selbst quellende, Nothwendigkeit ist« (AA I 17, 151; SW VII, 383). Vgl. auch AA I 17, 152; SW VII 385: »Nothwendigkeit und Freyheit stehen in einander«.
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Freiheit und Verantwortung
5.
Systematische Schlussbetrachtung
Bekanntlich hat Schelling in der Freiheitsschrift diese Lücke zu schließen versucht, indem er auf Basis Kantischer und Fichtescher Ansätze eine Theorie intelligibler Selbstbestimmung entwickelt (AA I 17, 150–156; SW VII, 382–389). Wie sind nun Luthers Einlassungen, denen wir hier entlang der Schellingschen Rezeptionspfade gefolgt sind, vor dem Hintergrund solcher ›Letztbegründungsversuche‹ zu beurteilen? Offenbaren sie nicht ein bescheidenes begriffliches Niveau aufseiten Luthers? Oder zwingt dessen Hinweis auf die Unbegreiflichkeit Gottes etwa zu der Einsicht, dass philosophische Bemühungen um Letztbegründung von vornherein zum Scheitern verurteilt sind? Was man m. E. von Luther lernen kann, ist, dass Verantwortung zwei Stufen oder Dimensionen hat, 28 die begrifflich sorgfältig zu unterscheiden und gedanklich auseinanderzuhalten sind. Mit Luther bin ich der Auffassung, dass der Mensch auch dann die volle moralische Verantwortung für sein Handeln trägt, wenn ihm sein Sein ›vorgegeben‹ ist (sei es, wie bei Luther, von Gott oder von woandersher) – solange nur er es ist, der da handelt. Die Frage nach Letztverantwortung ist eine höherstufige Frage nach der metaphysischen Verantwortung für das eigene Sein (und damit Handeln), deren Relevanz für Verantwortung im herkömmlichen moralischen Sinne erst einmal geklärt werden müsste. 29 Jedenfalls ist die Annahme, dass, wenn man die Frage nach Letztverantwortung auch nur zulässt, eine Entscheidung in dieser Frage zugleich ein Urteil über das Vorliegen moralischer Verantwortung wäre, keineswegs selbstverständlich. 30 Eher noch scheint es sich umgekehrt zu verhalten: Je größer die moralische
Vgl. Dettinger (2015), 218–241. Diese Unterscheidung ist nicht so zu verstehen, als wäre moralische Verantwortung auf ein empirisches, metaphysische Verantwortung dagegen auf ein überempirisches Handlungssubjekt bezogen. Es handelt sich vielmehr um die Verantwortung ein und desselben Subjekts einmal in der Perspektive des sittlichen Lebens der Menschen und einmal in der Perspektive des charakterlichen Seins als solchem. Ob dieses Sein empirischer oder überempirischer Natur ist, wäre erst noch zu klären. 30 Das ist die Stoßrichtung der Kritik von John Martin Fischer, der jedoch das Kind mit dem Bade ausschüttet, wenn er die Annahme der prinzipiellen Relevanz letztgültiger Verantwortung als einen Fall von »metaphysical megalomania« abstempelt. Zudem gibt er Strawson in der Hauptsache recht. Vgl. Fischer (2012), 168–173, hier: 171. 28 29
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Verantwortung, desto dringlicher die Frage nach der metaphysischen oder Letztverantwortung. Um dies kurz durch ein Gedankenexperiment zu verdeutlichen: Man stelle sich eine Gerichtsverhandlung vor, bei der der Angeklagte sich auf Strawsons Argument beruft: Weil er für den Charakter, der ihn zu seiner delinquenten Tat getrieben habe, ja letztlich nichts könne, sei er vom Gericht in jedem Fall freizusprechen. 31 Irgendetwas scheint mit dieser Verteidigung ganz und gar nicht in Ordnung zu sein. M. E. liegt das Problem darin, dass der Angeklagte so tut, als läge ein Fall von Zwang vor. Zwang aber vernichtet die Rolle einer Person als Akteur, was hier ganz offensichtlich nicht der Fall ist. Denn der Charakter, auf den der Angeklagte sich wie auf etwas Externes beruft, ist ja nichts anderes als sein eigenes, innerstes Wesen, sprich der Angeklagte selbst. Dass er ihm vorgegeben ist, kann daran nicht das Geringste ändern, da er einen Standpunkt jenseits davon eben gar nicht einzunehmen vermag. Die Berufung auf die Unverfügbarkeit seines ›bösen‹ Charakters mag zwar ein gewisses metaphysisches Mitleid erzeugen, von der moralischen Verantwortung für sein Handeln befreit sie ihn nicht – auch subjektiv nicht. Im Gegenteil: Sie kommt einem veritablen Schuldgeständnis gleich. 32 Diese Überlegungen sind übrigens nicht so zu verstehen, als wäre das Problem der metaphysischen Verantwortung damit vom Tisch. Die These ist nur die, dass es nicht jene fatalen Konsequenzen für moralische Verantwortung hat, die Strawson gerne daraus ableiten möchte. Indem Luther das Problem im Kontext der göttlichen Gerechtigkeit diskutiert, verhandelt er es an dem Ort, wo es einzig und allein hingehört: vor dem Gericht Gottes oder dem Gericht der Ver-
Der institutionelle Kontext ist nicht entscheidend. Man kann sich genauso gut eine außergerichtliche ›Verhandlung‹ denken. 32 Friedrich Hermanni argumentiert ebenfalls mit der Unhintergehbarkeit des eigenen Selbst, allerdings um die Frage nach Letztverantwortung (insofern man sie als Forderung nach Letztbegründung versteht) überhaupt als unstatthaft zurückzuweisen (vgl. Hermanni [2004], 184 ff.). Die Unhintergehbarkeit des eigenen Selbst ist aber gerade der Ausgangspunkt dieser Frage und kein Argument gegen ihre Statthaftigkeit. Wer sich über die Unverfügbarkeit seines ›bösen‹ Charakters beklagt, tut das angesichts einer möglichen ›guten‹ Version seiner selbst (die immer noch dieser Jemand wäre, nur eben gut). Selbst ein Mensch, der so böse wäre, dass eine gute Version seiner selbst schlechthin undenkbar ist, könnte sich immer noch darüber beklagen, dass es ihn gibt und nicht vielmehr nicht gibt. Gefordert wäre eine Art ›ZweiReiche-Lehre‹ der Verantwortung, die diese Verhältnisse systematisch aufklärt. 31
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nunft, je nachdem, ob man es theologisch oder philosophisch wenden möchte. Was also die Unterscheidung zwischen moralischer und metaphysischer Verantwortung betrifft, hat Luther die Problemlage sogar sensibler wahrgenommen als Strawson und auch als Schelling, der die »Zurechnungsfähigkeit« einfach als direktes Korrelat der intelligiblen Tat behandelt (vgl. AA I 17, 152, 153 f.; SW VII, 384 f., 386 f.). Wie aber steht es mit Luthers Hinweis auf den Deus absconditus, seinem faktischen Verzicht, das Problem der Letztverantwortung rational durchsichtig zu machen? Vielleicht haben wir es hier mit einem grundlegenden Unterschied zwischen theologischer und philosophischer Herangehensweise an das Freiheitsthema zu tun: Für den theologischen Freiheitsbegriff (protestantischer Provenienz) scheint es gerade charakteristisch zu sein, dass sich der Mensch in der Frage der Letztverantwortung als Glaubender auf Gott verlässt, um aus diesem gläubigen Sich-Verlassen allererst seine »königliche Freiheit« (WA 18, 635) zu beziehen. Erkauft wird dies mit einem gewissen (wenn auch möglicherweise ›kalkulierten‹) Rationalitätsverzicht. 33 Das philosophische ›Gefühl der Freiheit‹ verlangt dagegen nach Letztbegründung. Ob ein solches Unterfangen Aussicht auf Erfolg haben kann, ist in der Philosophie seit langem umstritten, und es ist hier nicht der Ort, dem weiter nachzugehen. Sollte es möglich sein, menschliche Freiheit so zu denken, dass sowohl der Forderung nach Letztbegründung als auch der Allmacht Gottes Rechnung getragen wird, dann wäre allerdings nicht nur Luther philosophisch, sondern auch Schelling theologisch eine Chance zu geben.
Luther hat die Rationalität des Gottesbegriffs zu retten versucht, indem er die Lösung des Problems ins Jenseits verlegt. Dort würde im lumen gloriae einst klar werden, »dass Gott, dessen Urteil eben noch von einer unbegreiflichen Gerechtigkeit war, dann von einer ganz und gar gerechten und ganz offenkundigen Gerechtigkeit ist« (WA 18, 785). Die Schwierigkeit dabei ist, dass sich unter endlichen Bedingungen nicht einmal denken lässt, wie eine solche Lösung aussehen könnte. Hierin liegt der große Unterschied zur Konzeption eines Leibniz, der sich zu zeigen bemüht, dass die Gerechtigkeit Gottes aufgrund der Begrenztheit unserer empirischen Erkenntnis zwar nicht bewiesen, wohl aber widerspruchsfrei gedacht werden kann.
33
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Willkür und Wille bei Luther und Hegel Georg Sans SJ
Die Auseinandersetzung zwischen Erasmus von Rotterdam und Martin Luther über die Freiheit des menschlichen Willens lässt weder an Scharfsinn noch an polemischer Schärfe zu wünschen übrig. Der Humanist und der Reformator kämpfen mit der Schwierigkeit, die Gedanken der Freiheit des Menschen und der Absolutheit Gottes auf angemessene Weise zu vereinbaren. Um die von Erasmus ungelösten Probleme zu verdeutlichen, beharrt Luther auf seiner erstmals in der Heidelberger Disputation vertretenen These, nach dem Sündenfall sei der freie Wille ein bloßer Name (res est de solo titulo). 1 Luther geht noch einen Schritt weiter und prägt die Formel von dem unfreien oder geknechteten Willen (servum arbitrium). Obwohl Hegel auf den Streit Luthers mit Erasmus nirgends Bezug nimmt, lohnt ein Vergleich mit seiner Theorie der Freiheit des Willens. Dank der begrifflichen Unterscheidung zwischen bloßer Willkür und dem denkenden Willen gelingt Hegel eine von Luther abweichende Erklärung des Verhältnisses der menschlichen Freiheit zum Absoluten. Dabei sieht der Philosoph das protestantische Christentum geradezu als den Wegbereiter der Freiheit nicht nur des religiösen, sondern auch des sittlichen Gewissens an.
1.
Luthers Lehre vom menschlichen Willen
Erasmus versteht unter dem freien Willen (liberum arbitrium) ein Vermögen, »mit dem der Mensch sich dem, was zur ewigen Seligkeit führt, zuwenden oder von ihm abwenden kann« (Dla Ib10). Bei dieser Bestimmung handelt es sich weder um einen philosophischen noch um einen psychologischen, sondern um einen erlösungstheologischen Begriff. Die Freiheit des Willens betrifft diejenigen mensch1
Vgl. Luther (1518), 47.
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Georg Sans SJ
lichen Angelegenheiten, die zum Heil führen. In der Diskussion mit Luther geht es nicht zuerst um die Notwendigkeit des Laufs der Natur oder um unsere inneren Triebe und Neigungen, sondern um die Gnade Gottes. Obwohl Erasmus den Vorrang der Gnade gegenüber dem menschlichen Willen einräumt, hält er zugleich daran fest, dass auf dem Weg zum Heil »sehr wenig« (perpusillum) der Freiheit des Menschen geschuldet sei (Dla IV8). Deshalb schließt er sich der Meinung derjenigen an, die »einiges [nonnihil] dem freien Willen, doch das meiste [plurimum] der Gnade zuschreiben« (Dla IV16). In seiner Erwiderung verspottet Luther die Auffassung des Erasmus, die »Hauptursache« (causa principalis) des ewigen Heils sei die göttliche Gnade, ohne die der menschliche Wille nichts vermöge. »Ich frage Dich nunmehr und bitte um Antwort: wenn die Gnade Gottes fehlt oder von jener so kleinen [modicula] Kraft getrennt wird, was kann sie (die Kraft des freien Willens) selbst tun?« (Dsa 636) Entweder ist der auf sich selbst gestellte Mensch unfähig, das Heil zu erlangen, und die Freiheit des Willens in erlösungstheologischer Hinsicht ohne Belang; oder das ewige Heil hängt von der Mitwirkung des Menschen ab. Im letzteren Fall träfe die Behauptung des Erasmus, die Hauptursache würde »sich selbst genügen« (Dla IV8), nicht zu. Ohne den freien Willen als »Nebenursache« (causa secundaria) kann sich der Mensch nicht dem zuwenden, was zur ewigen Seligkeit führt. Den Kern von Luthers Kritik an der Definition des Erasmus bildet der Vorwurf, der Rotterdamer schreibe dem menschlichen Willen ein Vermögen zu, das allein Gott zukommen könne. Das ewige Heil, dem sich der freie Wille zuwenden soll, übersteige alles menschliche Begreifen und könne deshalb nur im Glauben erfasst werden. Wäre der Wille imstande, das Heil aus eigener Kraft zu wollen, gäbe es nichts für den Menschen Unerreichbares mehr. »Alles kann er wollen, wenn er Gottes Wort und Werk wollen kann« (Dsa 664). Luther untermauert seine Sicht mit einer Anspielung auf den Tod Jesu Christi am Kreuz. Dieser habe vermocht, der Sünde zu widerstehen, alle Übel der Welt zu ertragen und das eigene Verderben auf sich zu nehmen. Insofern sei es eine »göttliche Eigenschaft«, das wollen zu können, was zur ewigen Seligkeit führt. Luther schließt mit der höhnischen Bemerkung: »So hat nach den Pelagianern niemand zutreffender über den freien Willen geschrieben als Erasmus« (Dsa 664). Der Vorwurf an die Adresse des Erasmus lautet demnach, dieser lehre nicht weniger als die Selbsterlösung des Menschen. Die Argumentation Luthers an dieser Stelle ist nicht ganz durch196 https://doi.org/10.5771/9783495823668 .
Willkür und Wille bei Luther und Hegel
sichtig. Auf der einen Seite scheint er die Göttlichkeit des Willens aus dem Vergleich des menschlichen Strebens nach Heil mit dem Erlösungswerk Jesu Christi zu erschließen. Indem Jesus das Werk Gottes wollte, wählte er sein eigenes Verderben. Da nun der Wille, mit dem Jesus das Werk Gottes wollte, göttlich war, ist der Wille, mit dem alle übrigen Menschen nach der ewigen Seligkeit streben, ebenfalls göttlich. Diese Folgerung ist freilich nur unter der Voraussetzung zulässig, dass sein eigenes Verderben zu wollen einen Willen zu etwas Göttlichem macht. Diese Prämisse deutet Luther mit der zitierten Bemerkung an, wer Gottes Wort und Werk wollen könne, der könne alles wollen. In die gleiche Richtung weist die anschließende rhetorische Frage: »Was kann es unterhalb, oberhalb, innerhalb oder außerhalb des Wortes und Werkes Gottes geben, wenn nicht Gott selbst?« (Dsa 664) Aus der versteckten Prämisse lässt sich ein anderes Argument konstruieren, das im Prinzip ohne christologischen Bezug auskommt. Wenn etwas Höheres als das Werk Gottes nicht gewollt werden kann, und wenn ein Wille, der etwas will, über das hinaus nichts Höheres gewollt werden kann, göttlich ist, dann ist ein Wille, der das Werk Gottes will, selbst göttlich. Versteht man die Rede des Erasmus von der Zuwendung des freien Willens zu dem, was zur ewigen Seligkeit führt, mit Luther als ein Wollen des Wortes und Werkes Gottes, ist der menschliche Wille also göttlich. Die Auseinandersetzung Luthers mit der Definition des Erasmus bleibt nicht auf den Vorwurf des Pelagianismus beschränkt. Der Wittenberger unterbreitet zugleich einen Vorschlag, wie der Begriff des freien Willens seines Erachtens verwendet werden sollte. Zwar steht für Luther außer Zweifel, dass der Mensch im Hinblick auf sein ewiges Heil unfrei ist und der Ausdruck ›freier Wille‹ im erlösungstheologischen Sinn nur von Gott gebraucht werden kann. Dennoch eigne dem Menschen ein freies Ermessen in zeitlichen Angelegenheiten. Insbesondere habe er das Recht, seinen Besitz zu gebrauchen, mit ihm nach Belieben zu tun und zu lassen. Daran zeige sich, dass der freie Wille dem Menschen »nicht in Bezug auf die Dinge eingeräumt sei, die höher sind als er, sondern nur in Bezug auf das, was niedriger ist als er [inferioris se rei]« (Dsa 638). Insofern er unter der Herrschaft Gottes steht, ist der Mensch für Luther nicht freier als ein Sklave, der seinem Herrn Gehorsam leistet. Daher könne nicht eigentlich von einem freien, sondern allenfalls von einem »wandelbaren« und »veränderlichen« Willen des Menschen gesprochen werden (Dsa 662). 197 https://doi.org/10.5771/9783495823668 .
Georg Sans SJ
Luther unterscheidet demnach zwischen einem theologischen und einem gleichsam natürlichen Verständnis des menschlichen Willens. Während sich der erste Wille auf Gott und das ewige Heil richtet, bezieht sich der zweite Wille auf die irdischen Dinge. Da die Seligkeit allein von der Gnade Gottes abhängt, ist der menschliche Wille in dem ersten Sinn unfrei. Alles, was geschieht, ist von Gott vorherbestimmt und wird von ihm im Voraus gewusst. Um der größeren Klarheit und besseren Verständlichkeit willen nenne ich den Willen in erlösungstheologischer Hinsicht den Willenvoluntas. Im Blick auf das ewige Heil besteht für Luther ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Freiheit Gottes und der Unfreiheit des Menschen. Je mehr wir unsere Seligkeit der göttlichen Gnade zu verdanken haben, desto geringer wird der Anteil des Menschen. Daraus folgert Luther: »Alles, was wir tun, alles, was geschieht, wenn es uns auch veränderlich und zufällig zu geschehen scheint, geschieht dennoch tatsächlich zwangsnotwendig und unwandelbar, wenn du den Willen [voluntas] Gottes ansiehst.« (Dsa 615) Die Freiheit des Willens ist demnach eine Frage der Perspektive. Was bei erlösungstheologischer Betrachtung als notwendig angesehen werden muss, kann von einem endlichen Standpunkt aus durchaus als »veränderlich« und »zufällig« erscheinen. Die beiden Perspektiven entsprechen der aus dem Mittelalter geläufigen Unterscheidung zwischen dem »Sein der Natur« oder der Schöpfungsordnung einerseits und dem »Sein der Gnade« oder der Erlösungsordnung andererseits. 2 In der ersten Hinsicht räumt Luther ohne Bedenken ein, »dass das freie Willensvermögen [arbitrium] seiner Natur nach etwas tut, wie essen, trinken, zeugen, regieren« (Dsa 752). Weiterhin spricht Luther von der Eingliederung des Menschen in zwei Reiche. In seinem eigenen Reich bewege sich der Mensch »nach seinem Willensvermögen [arbitrium] und Rat [consilium] ohne die Vorschriften und Gebote Gottes, nämlich in den unter ihm liegenden Dingen [in rebus sese inferioribus]« (Dsa 672). Das Recht des Menschen, nach eigenem Gutdünken über seine Besitztümer zu verfügen, wurde bereits erwähnt (vgl. Dsa 638). Wie Luther klarstellt, versteht er unter Freiheit in diesem Zusammenhang die Unabhängigkeit sowohl vom Gesetz des Moses als auch von den Vorschriften der Kirche. 3 Vgl. Thomas von Aquin (1952), 295–304 (I q. 61–62). »Das Evangelium hat uns in der Hand unseres Rates gelassen, dass wir über die Dinge herrschen und sie benutzen, wie wir wollen. Aber Mose und der Papst haben
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Willkür und Wille bei Luther und Hegel
Zur Abgrenzung der Verfügungsgewalt des Menschen in irdischen Angelegenheiten von seiner Unfreiheit im Blick auf das ewige Heil bediene ich mich des Ausdrucks Willearbitrium. Zwischen der These von der Unfreiheit des Willensvoluntas und der These von der Freiheit des Willensarbitrium scheint allerdings ein Widerspruch zu bestehen. Dieser Eindruck wird noch verstärkt, wenn Luther betont, dass auch das freie Ermessen des Menschen in zeitlichen Dingen »durch den freien Willen [libero arbitrio] Gottes allein gelenkt wird, wohin immer es ihm gefällt« (Dsa 638). Wenn hinter allem, was geschieht, letztlich der göttliche Wille steht, ist die Freiheit des menschlichen Willensarbitrium nicht mehr als ein trügerischer Schein. Luther hätte nicht nur Recht gegen Erasmus mit seiner Behauptung der Unfreiheit des menschlichen Willensvoluntas, sondern Luthers eigene Lehre von einem der Natur nach freien oder veränderlichen Willenarbitrium stünde auf tönernen Füßen. Die theologische Betrachtung untergräbt sozusagen die natürliche Sicht des Willens. Das freie Ermessen des menschlichen Willensarbitrium wird eingeschränkt durch die Dekrete Gottes, denen der gläubige Mensch sich unterwirft. Um der Rede Luthers von der innerweltlichen Freiheit dennoch einen philosophischen Sinn zu verleihen, muss der Unterschied zwischen den beiden Arten des Wollens anders gefasst werden. Das soll im Folgenden mithilfe der hegelschen Theorie des freien Willens geschehen.
2.
Hegel über Wille und Willkür
Hegels Theorie des freien Willens fällt in seine Philosophie des subjektiven Geistes. Im Gegensatz zur Philosophie des objektiven Geistes, die es mit den Formen der Vergesellschaftung zu tun hat, und der Philosophie des absoluten Geistes, in der es um die Weisen der Erscheinung des Absoluten geht, handelt die Philosophie des subjektiven Geistes von endlichen Subjekten. 4 Hegels Abhandlung über den Willen ist Teil seiner Psychologie. Ihr voran gehen Erörterungen über die verschiedenen Arten des theoretischen Bewusstseins oder Geistes wie Anschauung, Vorstellung und Denken. Der praktische Geist richuns nicht in diesem Rat gelassen, sondern haben uns durch Gesetze gezwungen und uns vielmehr ihrem eigenen Willensvermögen unterworfen« (Dsa 672). 4 Vgl. dazu Inwood (2007), 524–544; Peperzak (1991), 20–116; Rometsch (2007), 227–252.
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tet sich nicht auf das Erkennen von Gegenständen, sondern zielt auf das Erreichen von Zwecken. Genau wie das Erkennen mit der sinnlichen Empfindung einsetzt und sich erst allmählich zur Allgemeinheit von Begriffen und Urteilen erhebt, so beginnt das Wollen mit der sinnlichen Neigung und entwickelt sich schrittweise zum vernünftigen Begehren. Was Hegels Psychologie für einen Vergleich mit Luther interessant macht, ist die kritische Auseinandersetzung mit den seines Erachtens unzureichenden Auffassungen vom Wesen des freien Willens. Sie verliert auch dann nichts von ihrer Gültigkeit, wenn man der hegelschen Philosophie des Geistes insgesamt distanziert gegenübersteht. Die Überlegungen Hegels kreisen um den Gedanken der Selbstbestimmung. Zwar begehrt der Wille meistens irgendetwas, aber dabei will er – ob ausdrücklich oder nicht – immer auch sich selbst. Im Hintergrund solcher Erwägungen steht unverkennbar die Lehre Kants von der Autonomie der praktischen Vernunft. Allerdings setzt Hegel grundsätzlicher an als Kant und fragt ganz allgemein, was der Gegenstand eines Willens ist, der zunächst sich selbst will. So erklärt sich, dass die Abhandlung über den praktischen Geist mit einer in seinen Augen ganz und gar abstrakten Auffassung des Willens einsetzt. Gemeint ist ein Wille, dem es nur darauf ankommt, dass er das will, was er gerade will – ganz gleich, um was es sich im Einzelnen handelt. Der Wille bestimmt sich selbst dadurch, dass er sich auf jeden beliebigen Inhalt richten kann. Hegel spricht von einem »formellen Willen« und beklagt dessen »abstrakte Bestimmtheit«. 5 In der Rechtsphilosophie erörtert Hegel eine Form des Wollens, dessen »absolute Abstraktion« von jeglichem Inhalt so weit geht, dass es gar nichts Bestimmtes mehr erstrebt. Was auch immer der Wille anstrebte, erschiene ihm als eine unzulässige Einengung seiner Freiheit. Da er alle positiven Bestimmungen ablehnt, vermag sich ein solcher Wille seiner selbst nur dadurch zu vergewissern, dass er etwas anderes vernichtet. Die vermeintliche »Freiheit der Leere« mündet in die »Furie des Zerstörens«. Deren Werk beschreibt Hegel in Anspielung auf die Französische Revolution als den »Fanatismus der Zertrümmerung aller bestehenden gesellschaftlichen Ordnung«, die »Hinwegräumung der einer Ordnung verdächtigen Individuen« und die »Vernichtung jeder sich wieder hervortun wollenden Organisa-
5
Hegel (1830), 466 (§ 469).
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Willkür und Wille bei Luther und Hegel
tion«. 6 Mit dieser Kritik nimmt Hegel ein Motiv wieder auf, das er unter der Überschrift »Die absolute Freiheit und der Schrecken« im sechsten Kapitel der Phänomenologie des Geistes entfaltet hatte. Dort geht er mit der Vorstellung eines »allgemeinen Willens« ins Gericht, als dessen einzige Quelle das isolierte Wollen aller Einzelnen gelten soll. Dahinter steht eine offenkundig verzerrende Lesart der Lehre Rousseaus von der volonté générale. Der allgemeine Wille habe »in dieser seiner letzten Abstraktion nichts Positives«, sondern entpuppe sich als der »reine Schrecken des Negativen«. 7 Abstraktheit besitzt im Vokabular Hegels einen pejorativen Sinn. Das formelle Verständnis des freien Willens bleibt deshalb abstrakt, weil es davon absieht, dass selbst ein Wille, dem es nur auf das eigene Wollen ankommt, trotzdem irgendetwas will. Die Reflexion auf diesen Umstand deckt einen Widerspruch im Begriff des formellen Willens auf. Denn woher stammt dasjenige, was der Wille gerade will? Offenbar nicht aus ihm selbst. Angenommen, ich begehre jetzt etwas zu trinken, verspüre anschließend den Wunsch, ins Kino zu gehen, und nach der Vorstellung will ich ins Bett. Man kann mit Fug und Recht bezweifeln, ob ich alle diese Dinge aus mir selber will. Etwas trinken möchte ich, weil ich Durst empfinde oder weil ich gerade am vollen Kühlschrank vorbeilief; der Gedanke, ins Kino zu gehen, kam mir, als ein guter Freund begeistert von einem Film erzählte; das Bedürfnis zu schlafen befällt mich regelmäßig am Ende eines anstrengenden Tages. So gesehen liegt der Ursprung des Begehrens keineswegs in meinem Willen selbst, sondern der Wille richtet sich auf etwas, das sich dem Geist im jeweiligen Augenblick als erstrebenswert darbietet. Nicht einmal der negative Wille also gewinnt seinen Gegenstand aus ihm selbst. In seiner Zerstörungswut richtet er sich vielmehr gegen alles, was ihm gerade begegnet. In Entsprechung zur sinnlichen Anschauung spricht Hegel von einem »praktischen Gefühl«. Es hat einen »zufälligen und subjektiven Inhalt«, der »aus der Partikularität des Bedürfnisses, des Meinens usf.« herrührt. 8 Solange sich der Mensch von unmittelbaren Trieben und Neigungen leiten lässt, folgt er seinem »natürlichen Willen«. 9 Das praktische Gefühl und der natürliche Wille gleichen dem unteren 6 7 8 9
Hegel (1821), 32 f. (§ 5 mit Anm.). Hegel (1807), 322. Vgl. zu dem Abschnitt insgesamt Houlgate (2009). Hegel (1830), 467 (§ 471). Hegel (1830), 470 (§ 473).
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Begehrungsvermögen der herkömmlichen empirischen Psychologie. 10 Gegen dessen Bezeichnung als ›Wille‹ könnte man einwenden, es fehle das für den Willen charakteristische Moment der Wahl. Zu sagen ›ich will etwas trinken‹ ist nur sinnvoll, wenn ich die Möglichkeit habe, nicht zu trinken oder etwas anderes zu tun als zu trinken. Wer wirklich ins Kino will, zieht den Besuch des Kinos anderen Möglichkeiten vor, seinen Abend zu gestalten. Wer hingegen einfach nur das tut, worauf seine jeweiligen Triebe und Neigungen sich richten, dem schreiben wir keinen freien Willen zu. 11 Der Begriff des Willens im Vollsinn setzt das Vermögen der Entscheidung zwischen mehreren Optionen voraus. Hegel spricht von einem »reflektierenden Willen«. Dieser unterscheide »sich selbst von der Besonderheit der Triebe« und stelle sich »als einfache Subjektivität des Denkens über deren mannigfaltigen Inhalt«. 12 Der reflektierende Wille sei »auf dem Standpunkt, zwischen Neigungen zu wählen«. 13 In der Rechtsphilosophie bezeichnet Hegel ihn auch als »beschließenden« Willen. 14 Ist der Beschluss in das Belieben des Subjekts gestellt, handelt es sich um »Willkür«. 15 Vom Begriff der Willkür bemerkt Hegel, er sei »die gewöhnlichste Vorstellung, die man bei der Freiheit hat«. 16 Baumgarten bediente sich des deutschen Ausdrucks ›Willkür‹ zur Übersetzung des lateinischen arbitrium. 17 Kant zufolge ist die Willkür frei, wenn sie »unabhängig von sinnlichen Antrieben, mithin durch Bewegursachen, welche nur von der Vernunft vorgestellt werden, bestimmt werden kann«. 18 Laut Hegel beinhaltet das Vermögen zur freien Bestimmung des Willens die Fähigkeit zur Reflexion auf das in seinen wechselnden Neigungen mit sich selbst gleich bleibende Subjekt. Der reflektierende oder beschließende Wille ist in dem Sinn frei, dass er zwischen den verschiedenen sich ihm darbietenden Optionen wählen kann, weshalb im Begriff der Willkür laut Hegel »dies beides Siehe dazu die kritischen Bemerkungen in Kant (1788), 22–25. Das gilt insbesondere für Tiere. Sie besitzen lediglich ein arbitrium brutum, das »nicht anders als durch sinnliche Antriebe, d. i. pathologisch, bestimmt werden kann« (Kant [1787], 836 [A 802/B 830]). 12 Hegel (1830), 473 (§ 476). 13 Hegel (1830), 474 (§ 477). 14 Hegel (1821), 37 (§ 12). 15 Hegel (1830), 474 (§ 477). 16 Hegel (1821), 38 (§ 15 Anm.). 17 Vgl. Baumgarten (1757), 134 (§ 712). 18 Kant (1787), 836 (A 802/B 830). 10 11
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enthalten ist, die freie von allem abstrahierende Reflexion und die Abhängigkeit von dem innerlich oder äußerlich gegebenen Inhalt und Stoff«. 19 Hegel befasst sich nicht mit der Frage, was für die Entscheidung des Willens den Ausschlag gibt. In die Lage von Buridans Esel, der zwischen zwei Heuhaufen in der Mitte verhungert, weil beide Haufen genau gleich aussehen und er keinen Anlass findet, sich auf die eine oder die andere Seite zu wenden, kann der reflektierende Wille jedenfalls nicht kommen, denn er fasst seine Beschlüsse in dem Bewusstsein seiner Überlegenheit über die einzelnen natürlichen Neigungen. Sobald der Wille weiß, dass er dem Trieb, nach links zu gehen, genauso folgen oder nicht folgen kann wie dem Trieb, nach rechts zu gehen, kann er auch beschließen, dem Gefühl des Hungers nachzugeben und etwas zu essen, obwohl ihn keine besondere Neigung auf die eine oder die andere Seite zieht. Hegels Bedenken gegen die Freiheit der Willkür betreffen nicht ihre mögliche Unentschiedenheit, sondern die Schwierigkeit, dass es sich bei ihr um eine seines Erachtens unvollkommene Weise der Selbstbestimmung des Willens handelt. Die Willkürfreiheit bleibt den ihr vorgegebenen Optionen unterworfen. Insofern hängt ihr Beschluss vom Zufall ab, und sie entscheidet fremdbestimmt. Soll der Wille wahrhaft frei sein, muss er seinen Inhalt aus sich selbst gewinnen. Kant zufolge gelingt das dem Willen, indem er sich den allgemeinen Gesetzen der Vernunft unterwirft. Für Hegel bleibt ein allgemeines sittliches Gesetz jedoch ebenso abstrakt wie ein Wille, der einfach beliebige Inhalte will. Gleichwohl hält Hegel am kantischen Prinzip der Autonomie fest. Der Wille ist nur dann frei, wenn das von ihm Gewollte vernünftige Allgemeinheit besitzt. So kann Hegel vom freien Willen behaupten, er habe »die Allgemeinheit, sich selbst, als die unendliche Form zu seinem Inhalt, Gegenstand und Zweck«. 20 Was Hegel von Kant trennt, ist die Bestimmung des Allgemeinen der Vernunft. Für Hegel ist das Allgemeine kein Gesetz oder formales Prinzip, sondern ein lebendiges Ganzes, dessen Elemente gemäß einem Begriff zusammenstimmen. Beispiele für solche Allgemeinheiten im Bereich der sittlichen Ordnung sind die Familie und der Staat. Keines von beiden ist eine bloße Zusammenrottung von Individuen. Sowohl in der Familie als auch im Staat gelten bestimmte Regeln und Nor19 20
Hegel (1821), 38 (§ 15). Hegel (1821), 41 (§ 21).
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men, die sie erst zu dem machen, was sie sind. Die Ideen der Familie oder des Staates sind keine abstrakten Vorschriften, sondern Inbegriffe für Weisen des Zusammenlebens, die ein Subjekt wollen kann. Weil dabei Einzelnes und Allgemeines in Einklang gebracht werden müssen, nennt Hegel den praktischen Geist nun den »denkenden Willen«. Erst der denkende Wille ist in Hegels Augen wirklich frei. Im Gegensatz zur Willkür hängt er nicht von zufälligen Inhalten ab, sondern verfügt über das Vermögen »sich den Inhalt zu geben, den er nur als sich denkender haben kann«. 21
3.
Die Selbstbestimmung des Willens
Als das Ergebnis meiner bisherigen Überlegungen lässt sich festhalten: Ähnlich wie Erasmus und Luther unterscheidet Hegel zwischen der freien Willkür (liberum arbitrium) und dem denkenden Willen. Obwohl der letztere systematisch höher angesiedelt ist als die erste, schließt der Begriff des denkenden Willens die freie Willkür als (logische) Voraussetzung mit ein. Wäre es dem denkenden Willen schlechterdings unmöglich, etwas anderes zu beschließen, handelte es sich um keinen freien Willen. Insofern folgt Hegel scheinbar der Position des Erasmus, wonach nicht einmal die Gnade Gottes die Freiheit des menschlichen Willensarbitrium ganz aufheben kann. Anders als in den Schriften des Erasmus und Luthers spielen erlösungstheologische Fragen für Hegels Theorie des Willens allerdings nur eine untergeordnete Rolle. Hegel zufolge vermag sich unser Wille nicht erst dank der besonderen Gnade Gottes auf das Gute zu richten. Was Hegel beschäftigt, ist die vernünftige Selbstbestimmung des Willens. Im Gegensatz zu Erasmus geht es ihm jedoch nicht um die Wahrung eines letzten Rests von Willkür, und sei er auch noch so klein. Vielmehr versucht Hegel, die Unabhängigkeit des Willensvoluntas von allen äußeren Bestimmungsgründen zu erklären. Ähnlich wie Kant betrachtet Hegel die Freiheit des Willensarbitrium als unvollkommen. Von Freiheit im eigentlichen Sinn kann erst die Rede sein, wenn der Willevoluntas seine Zwecke auf sich selbst gestützt bestimmt und verwirklicht. Würde der Wille seine Beschlüsse willkürlich fassen, bewiese er lediglich seine Abhängigkeit von dem, was sich ihm gerade als erstrebenswert darbietet. Ein solcher Wille käme der Art von 21
Hegel (1830), 466 (§ 469).
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Willkürfreiheit nahe, die Luther dem Menschen bezüglich der inferiora, also bezüglich der Dinge zuschreibt, die niedriger sind als er. Die Übereinstimmung Luthers mit Hegel liegt in der Einsicht, dass der Mensch wahrhaft frei wird, wenn er sich einer Norm unterstellt, die seine individuellen Interessen und Neigungen übersteigt. Luther zielt in seiner Polemik gegen Erasmus auf einen Willen, der nicht auf die eigene Unabhängigkeit pocht, sondern sich dem Ratschluss Gottes unterwirft. Dass die Rede von dem unfreien Willen gleichwohl eine einseitige Zuspitzung darstellt, zeigt ein Vergleich mit der wenige Jahre zuvor erschienenen Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen. Luther eröffnet sie mit der paradoxen These: »Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.« 22 Während der Christ dem Glauben an Gott seine Unabhängigkeit von allem Irdischen verdankt, verlangt die Liebe zu Gott zugleich die Dienstbarkeit gegenüber dem Nächsten. Nicht weniger paradox scheint der Gedanke der Selbstbestimmung bei Hegel. Einerseits beinhaltet er die Unabhängigkeit von den zufälligen Neigungen, denen der beschließende Wille unterlag. Andererseits bedeutet Selbstbestimmung für Hegel die freiwillige Übernahme von Normen, die nicht einfach der eigenen Willkür entspringen. Luther sieht zwar die paradoxe Verfassung des freien Willensvoluntas, aber er gelangt nicht über eine widersprüchliche Beschreibung des Phänomens hinaus. So erklären sich die Passagen der Streitschrift gegen Erasmus, in denen der Reformator das menschliche Handeln als – aus der Perspektive Gottes betrachtet – zwingend notwendiges Geschehen kennzeichnet (vgl. Dsa 615) und damit einen durchgängigen Prädeterminismus zu vertreten scheint. Derartige Behauptungen brachten Luther viel Kritik ein. Obwohl die protestantische Theologie einer solchen Extremposition mit guten Gründen nie gefolgt ist, bleibt festzuhalten, dass Luther die begrifflichen Ressourcen fehlen, um die geschilderte Spannung im Verständnis der Freiheit aufzulösen. Der Vergleich mit Hegel erweist sich unter dieser Rücksicht als lehrreich, denn auch das hegelsche Absolute steht in dem Ruf, dass nach seiner Maßgabe nicht Freiheit, sondern vielmehr strenge Notwendigkeit herrscht. Hegel war sich der Schwierigkeit bewusst und versuchte, dem Problem beizukommen, indem er seine 22
Luther (1520), 251.
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Metaphysik des Absoluten um Elemente aus der kantischen Theorie der Subjektivität erweiterte. Lassen wir die exegetische Frage auf sich beruhen, ob es sich bei dem hegelschen Absoluten um Gott handelt oder um ein das Unendliche und das Endliche übergreifendes Ganzes. 23 Für Hegel besteht jedenfalls kein Zweifel, dass das Absolute etwas Selbständiges ist. Wie die Substanz Spinozas, so ist auch das hegelsche Absolute durch nichts anderes als durch sich selbst bedingt und insofern frei. 24 Gemäß seiner programmatischen Überzeugung, dass das Wahre »nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken« sei, 25 verknüpft Hegel die Bezugnahme auf Spinoza mit der Berufung auf Kants Lehre von der synthetischen Einheit der Apperzeption. Das transzendentale Subjekt verbindet eine Vielzahl einzelner Vorstellungen, indem es sie unter allgemeine Begriffe bringt. Hegel fasst die Einsicht Kants dahingehend zusammen, dass das Ich den erkannten Gegenstand »in seine eigene Form [sc. die des Ichs], d. i. in die Allgemeinheit, welche unmittelbar Bestimmtheit, oder Bestimmtheit, welche unmittelbar Allgemeinheit ist, bringt«. 26 Ein solches Allgemeines, dem die Wirklichkeit nicht als etwas Äußerliches gegenübersteht, sondern das zugleich das konkrete Einzelne in sich enthält, heißt im hegelschen Sprachgebrauch ›Begriff‹. In der Wissenschaft der Logik bezweckt der Philosoph, die begriffliche Einheit des Allgemeinen mit dem Einzelnen als »die Wahrheit der Substanz« zu erweisen. 27 Kants Theorie des Selbstbewusstseins kehrt ihrer Form nach in seinem Gedanken der Autonomie des Willens wieder. Kant definiert den vernünftigen Willen als »das Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Prinzipien, zu handeln«. 28 Wer sich nach der allgemeinen Vorstellung der Pflicht selbst bestimmt, der will zum Beispiel jemand sein, der andere nicht belügt. Dass er in konkreten Situationen – obwohl er durchaus lügen könnte – die Wahrheit sagt, beruht auf der allgemeinen Absicht, nach moralischen Grundsätzen Vgl. dazu Sans (2016). »Dasjenige Ding heißt frei, das allein aus der Notwendigkeit seiner Natur heraus existiert und allein von sich her zum Handeln bestimmt wird« (Spinoza [1999], 7 [I def. 7]). 25 Hegel (1807), 18. 26 Hegel (1816), 18. 27 Hegel (1816), 12. 28 Kant (1785), 412. 23 24
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zu handeln. Nicht anders als die Synthesis der Apperzeption fußt die Autonomie des Willens auf der Einheit des Allgemeinen mit dem Einzelnen. Indem der Wille sich selbst nach vernünftigen Prinzipien bestimmt, bringt er eine solche Einheit hervor. Stammen die Prinzipien, nach denen sich jemand verhält, nicht aus ihm selbst, sondern sind durch etwas anderes bedingt, spricht Kant von Heteronomie. Die Fremdbestimmung geschieht entweder gemäß den Gesetzen der Natur, die sich dem Einfluss des Willens entziehen, oder sie erfolgt aufgrund irgendwelcher Neigungen, denen der Wille nachgibt. In beiden Fällen gründet das Prinzip des Handelns nicht im vernünftigen Willen selbst. Der hegelsche Gedanke des Absoluten vereint die Vorstellung von der Substanz Spinozas mit Kants Auffassung vom erkennenden und handelnden Subjekt. Aus dieser Verbindung leitet Hegel die Freiheit des Absoluten ab. Sie ergibt sich nicht allein aus seiner Unbedingtheit, denn frei im Sinn von ›unabhängig‹ ist auch die Substanz Spinozas. Dennoch betrachtet Hegel die absolute Substanz solange als notwendig bestimmt, wie ihre Verfassung nicht als Subjektivität, das heißt der Form des Begriffs entsprechend gedacht wird. Nur das begrifflich Allgemeine ist in Hegels Augen von der Art, dass es – gleich einem Subjekt – sich selbst zum konkreten Einzelnen bestimmt. 29 Entsprechend den oben erwähnten Spielarten vernünftiger Allgemeinheit ist das hegelsche Absolute kein abstrakter oder leerer Gedanke, sondern ein lebendiges Ganzes, das sich entwickelt und selbst verwirklicht. Damit das Absolute nicht als etwas erscheint, dem sein eigenes Wesen zuwiderläuft, darf seine Selbstbestimmung nicht als Willkür aufgefasst werden. Genauso wenig wie die reine praktische Vernunft bei Kant oder der denkende Wille des endlichen Subjekts zeigt sich das Absolute in zufälligen oder beliebigen Beschlüssen. Der Gedanke eines Gottes, der auf scheinbar willkürliche Weise einiges Endliche zum Heil bestimmt und anderes verwirft, wäre Hegel mit Sicherheit als ungereimt vorgekommen. Hinter dem Anliegen, die Souveränität Gottes zu wahren, hätte er vermutlich eine Verwechslung des freien Willens mit bloßer Willkür gesehen. Doch ebenso absonderlich wäre Hegel ein menschliches Bewusstsein vorgekommen, das sich einfach Der Begriff »ist das Freie, weil die an und für sich seiende Identität, welche die Notwendigkeit der Substanz ausmacht, zugleich als aufgehoben oder als Gesetztsein ist« (Hegel [1816], 15).
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gedankenlos in den Willen des Absoluten fügt. In einer Anmerkung zur Rechtsphilosophie stellt Hegel der Freiheit des Willens die Sklaverei gegenüber: »Der Sklave weiß nicht sein Wesen, seine Unendlichkeit, die Freiheit.« 30 Schaut man von hier noch einmal auf Luther zurück, eröffnet sich die folgende Alternative: Entweder leistet der Christ dem Willen Gottes blinde Gefolgschaft; dann besitzt der Mensch einen unfreien Willen. Oder der Christ erblickt im göttlichen Willen eine vernünftige Ordnung; dann ist der scheinbar unfreie Wille des Menschen in Wahrheit frei. Luther verbindet mit der Unfreiheit des Willens bekanntlich die Konnotation der Befangenheit des Menschen im Bösen. Der Wille des Sünders ist vom Teufel buchstäblich besessen wie ein Zugtier, das dem Willen des Reiters Folge leistet, der sich auf seinen Rücken gesetzt hat (vgl. Dsa 635). Da Luther die Metapher des Zugtieres zugleich für den Willen des Gläubigen benutzt, der tut, was Gott will, droht der Christ als ebenso unfrei angesehen zu werden wie der Sünder. Vor einem solchen Trugschluss bewahrt die hegelsche Unterscheidung zwischen dem reflektierenden oder beschließenden Willenarbitrium einerseits und dem denkenden oder vernünftigen Willenvoluntas andererseits. Wenn es gelingt, Luther – gegen den Wortlaut einiger Passagen seiner Texte – eine derartige Unterscheidung zuzuschreiben, lässt sich die Spannung zwischen Unfreiheit und Freiheit des Willens begrifflich auflösen. 31
4.
Die Freiheit des protestantischen Gewissens
Es gibt keine Stelle in Hegels Werk, die eine ausdrückliche Auseinandersetzung mit den Schriften des Erasmus oder Luthers belegen könnte. Der Name Erasmus fällt überhaupt nicht; den Namen Luther erwähnt Hegel zwar öfters, aber zumeist im Zusammenhang mit der Frage nach der Bedeutung des Abendmahls. 32 Deshalb besteht wenig Hegel (1821), 41 (§ 21 Anm.). Luther deutet eine solche Lösung an, wenn er den göttlichen Reiter einen gegenüber dem Satan Stärkeren nennt, dessen Knecht zu sein »eine königliche Freiheit« bedeute (Dsa 635). 32 In der lutherischen Kirche werde »die Hostie als solche erst und nur allein im Genuss, d. i. in der Vernichtung der Äußerlichkeit derselben, und im Glauben, d. i. in dem zugleich freien, seiner selbst gewissen Geist, konsekriert und zum gegenwärtigen Gott erhoben« (Hegel [1830], 533 [§ 552 Anm.]). 30 31
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Grund zu der Annahme, dass sich Hegel jemals mit dem Streit zwischen Luther und Erasmus über den freien Willen befasst hätte. Diesem Befund steht die unbestreitbare Tatsache gegenüber, dass Hegel die Reformation insgesamt als Durchbruch zur Freiheit ansah. In seinen Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte erklärt der Philosoph plakativ, durch das »lutherische Prinzip« sei »die christliche Freiheit wirklich geworden«. 33 In den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie lobt Hegel die Reformation dafür, das »Prinzip des eigenen Denkens« in der Religion und »in Beziehung auf Gott« zur Geltung gebracht zu haben. 34 Wie diese und ähnliche Einlassungen zeigen, macht Hegel keinen Unterschied zwischen den Ansichten einzelner Vertreter oder den aufeinanderfolgenden Phasen der Reformation. Schon deshalb verläuft die Suche nach einer direkten Stellungnahme zum Streit Luthers mit Erasmus bei Hegel ergebnislos. Trotzdem sind seine Darlegungen aus dem Grund aufschlussreich, dass Hegel in Luther einen entschiedenen Verfechter der Freiheit sieht. Die ausführlichste Beschäftigung mit dem Thema Religion und Freiheit findet sich in einer langen Anmerkung am Ende der Philosophie des objektiven Geistes. Die Anmerkung handelt von dem Verhältnis der Religion zum Staat, genauer von der Bedeutung des Christentums für die Entwicklung der modernen Staatsauffassung. Hegel sieht in der politischen Freiheit eine Errungenschaft des Protestantismus. Er erklärt den politischen Fortschritt also mit der Theologie der Reformation. In der Kirche des Mittelalters erblickt Hegel eine veräußerlichte Form der Religion, die den christlichen Glauben einerseits an das sinnlich Erfahrbare knüpfte und andererseits Macht über das gesellschaftliche Leben der Menschen beanspruchte. Die Reformation verhalf der Freiheit zum Durchbruch, indem sie das menschliche Subjekt zum Angelpunkt sowohl des religiösen Glaubens als auch der sittlichen Ordnung machte. »So wird zuletzt das Prinzip des religiösen und des sittlichen Gewissens ein und dasselbe in dem protestantischen Gewissen, – der freie Geist in seiner Vernünftigkeit und Wahrheit sich wissend.« 35 Gott erscheint nicht mehr in sinnlichen Gegenständen oder im äußerlichen Tun, wie es nach dem mittelalterlichen Weltbild des Katholizismus der Fall gewesen 33 34 35
Hegel (1996), 501. Hegel (1986), 61–63. – Vgl. dazu Dierken (1998). Hegel (1830), 541 (§ 552 Anm.).
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sein soll, sondern er offenbart sich als Geist in der Gemeinde der Gläubigen und in der Gemeinschaft der Staatsbürger. Sowohl das individuelle moralische Bewusstsein als auch die gesellschaftliche Ordnung ruhen nach Hegels Ansicht auf der Fähigkeit des Subjekts, sich selbst zu dem zu bestimmen, was allgemein oder vernünftig ist. »Die Sittlichkeit des Staates und die religiöse Geistigkeit des Staates sind sich so die gegenseitigen festen Garantien.« 36 Sehen wir einmal von der Schwierigkeit ab, wie sich Hegels Auffassung zu Luthers Lehre von den zwei Reichen verhält. Fragen wir stattdessen, warum Hegel der Sittlichkeit einen beinahe religiösen Charakter zuspricht. Der erste Grund ist geschichtlicher Art und besitzt eher vordergründige Bedeutung. In Hegels Augen war das protestantische Christentum derjenige Bereich der Lebenswelt, in dem zum ersten Mal die Eigenverantwortung des menschlichen Subjekts zur Geltung gebracht wurde. Noch vor der Politik herrschte in der Religion das Prinzip freier und vernünftiger Selbstbestimmung. Durch die Reformation wurde »die Freiheit in der Kirche gewonnen«. 37 Im politischen Bereich geschah ein vergleichbarer Umbruch erst mit der Französischen Revolution. Doch selbst wenn Hegels Lesart der Geschichte zutreffen sollte, folgt aus der Genese nicht die Geltung eines Gedankens. Hegel braucht deshalb einen weiteren, systematischen Grund, warum die wahre Freiheit religiösen Ursprungs sein soll. Die Antwort scheint mir lauten zu müssen, dass es in der christlichen Religion zu einer für den denkenden Willen paradigmatischen Form der Übereinstimmung des Einzelnen mit dem Allgemeinen kommt. In der Anmerkung zum letzten Paragraphen der Philosophie des subjektiven Geistes erklärt Hegel von der Idee der Freiheit, sie sei »durch das Christentum in die Welt gekommen, nach welchem das Individuum als solches einen unendlichen Wert hat, indem es Gegenstand und Zweck der Liebe Gottes, dazu bestimmt ist, zu Gott als Geist sein absolutes Verhältnis, diesen Geist in sich wohnen zu haben«. Aus der Wesensverwandtschaft des göttlichen Geistes mit dem menschlichen Geist ergibt sich für Hegel die »Gesinnung der Sittlichkeit« des einzelnen Menschen. Die Einwohnung des Geistes Gottes bewirke, dass der Mensch »dann in dieser Sphäre der besonderen Existenz, des gegenwärtigen Empfindens und Wollens wirklich frei 36 37
Hegel (1830), 541 (§ 552 Anm.). Hegel (1996), 501.
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ist«. Er lässt sich nicht von seinen Trieben und Neigungen beherrschen, sondern folgt seiner eigenen, als allgemein erkannten Bestimmung. Dank der sittlichen Gesinnung der Individuen trete der absolute Geist »in die Sphäre der weltlichen Existenz« und bilde sich »als die Substanz des Staats, der Familie usf.« aus. 38 Hegel beschreibt die Entstehung einer sittlichen Ordnung mit theologischen Kategorien. Insbesondere die Rede von der Einwohnung Gottes im Menschen hat ihren Ursprung in der christlichen Gnadenlehre. Allerdings geht für Hegel mit der Gnade Gottes nicht die Unfreiheit, sondern die Freiheit des Menschen einher. Interessanterweise betrachtet er seine eigene Auffassung dennoch als angemessene Lesart nicht nur des Protestantismus. Im dritten, dem Christentum gewidmeten Teil seiner Vorlesungen über die Philosophie der Religion beruft er sich ausdrücklich auf die »lutherische Fassung« als »ohne Zweifel die geistreichste« Auflösung des Gegensatzes zwischen dem endlichen Willen des Menschen einerseits und der Gnade Gottes andererseits. Zugleich kritisiert Hegel den Calvinismus, weil er die Wirkung der Gnade als etwas Äußerliches und Zufälliges vorstelle. Angesichts der göttlichen Gnadenwahl könne auf der Seite des Menschen nur von »Unfreiheit, Willenlosigkeit, einem bloßen Hingeben« die Rede sein. 39 Trotz aller Hochschätzung hält Hegel die von Luther vorgeschlagene Auflösung der Spannung zwischen Freiheit und Gnade für eine »nicht spekulative«. 40 Dagegen sieht er seine eigene Theorie des denkenden Willens offenbar als geeignet an, den Anschein der Unfreiheit des Menschen zu überwinden, der auch die Theologie Luthers durchzieht. Hegels Grundgedanke besagt, wie wir gesehen haben, dass es sich bei der Übereinstimmung des Einzelnen mit dem Allgemeinen um die Form der Selbstbestimmung des Subjekts handelt. Die Formel lässt sich in zwei Richtungen verstehen: Zum einen geht es um den einzelnen Menschen, der seinen Willen gemäß als vernünftig erkannten allgemeinen Normen selbst bestimmt. Zum anderen bezieht sich die Formel auf das Absolute, das sich im sittlichen Gewissen des Einzelnen und in der Ordnung der Gesellschaft verwirklicht. Im Unterschied zu Erasmus oder Luther befasst sich Hegel nicht mit dem Beitrag, den der menschliche Wille zur Erlangung des ewi38 39 40
Hegel (1830), 477 (§ 482 Anm.). Hegel (1984), 93. Hegel (1984), 93.
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gen Heils leisten kann oder leisten muss. Zumal in der Rechtsphilosophie geht es ihm vielmehr um die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen der denkende Wille sich selbst bestimmt. Diese sind verkürzt gesagt dann erfüllt, wenn weder die staatliche noch die kirchliche Obrigkeit dem Einzelnen einfach vorschreiben, was er zu tun oder zu wollen hat. Dennoch wäre eine bloße Freiheit der Willkür im Bereich der weltlichen Angelegenheiten für Hegel entschieden zu wenig. Wie das religiöse Heil die Einwohnung des Absoluten voraussetzt, so verlangt Sittlichkeit die Übereinkunft der Willkür des Einzelnen mit dem Allgemeinen. Beide Male handelt es sich um keine Fremdbestimmung, sondern um Formen der Selbstverwirklichung. Aus der Perspektive des Absoluten betrachtet, geht es um die Erscheinung Gottes in endlichen Gestalten. Aus der Sicht des Menschen ist die Anerkennung von Prinzipien gefordert, die den Einzelnen übersteigen. Geschieht die Anerkennung aus freien Stücken, kann sie als ein Akt der Selbstbestimmung verstanden werden. Die Selbstbestimmung ist nicht auf das Bewusstsein des einzelnen Subjekts beschränkt, sondern findet ihre Fortsetzung in der äußeren Wirklichkeit, wo der denkende Wille eine sittliche Ordnung schaffen soll. Was der Einzelne in der Religion von sich selbst erkennt, nämlich Erscheinung des Absoluten zu sein, das verwirklicht er in der Sphäre des gesellschaftlichen Lebens. Hierin besteht laut Hegel die von der Reformation angestoßene Versöhnung der Religion »mit dem Weltlichen«, bei der »in das Weltliche selbst das Prinzip der Freiheit eingedrungen ist«. 41 Die Herrschaft ein und desselben Prinzips sowohl in der Religion als auch in der Sittlichkeit bedeutet weder die Engführung des religiösen Glaubens auf das sittliche Handeln noch die Herleitung sozialer Normen aus religiösen Dogmen. Religion und Sittlichkeit bleiben voneinander unterschieden. Ob sich Luther mit Hegels Deutung der Freiheit des protestantischen Gewissens zufriedengäbe, bleibt indes fraglich. Die Antwort hängt unter anderem davon ab, ob man Gott die Wahl zuschreibt, zu beschließen, wen er erlösen will und wen nicht. Nähme Luther an, dass Gott seine Entscheidungen aus willkürlichen oder uns unzugänglichen Gründen trifft, hätte er sich weit von Hegels Begriff eines denkenden Willens entfernt. Käme es Luther hingegen vor allem auf die Betonung der Weisheit Gottes an, müsste er wohl einräumen, dass die Rede von der Unfreiheit des menschlichen Willens zwar eine 41
Hegel (1984), 264.
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Willkür und Wille bei Luther und Hegel
gelungene rhetorische Pointe darstellt, dass ein unfreies Geschöpft aber der Weisheit seines Schöpfers am Ende keine allzu große Ehre macht.
Literaturverzeichnis 1.
Quellen
Dla: Erasmus von Rotterdam, De libero arbitrio diatribe sive collatio, [s. l.] 1524. Deutsche Übersetzung: Vom freien Willen, übers. v. Otto Schumacher, Göttingen 1940. Die Zitation erfolgt nach der üblichen Einteilung der Abschnitte durch Johannes von Walter. Dsa: Martin Luther, De servo arbitrio, Wittenberg 1525. Deutsche Übersetzung: Vom unfreien Willen, übers. v. Kurt Aland, in: Luther Deutsch, Bd. 3, Göttingen 1983. Dort ausgelassene Stellen finden sich in: Vom unfreien Willensvermögen, übers. v. Athina Lexutt, in: Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, Bd. 1, Leipzig 2006. Die Zitation erfolgt nach der Paginierung von Martin Luthers Werke, Bd. 18, Weimar 1908.
2.
Sonstige Literatur:
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»Reformation« aus jüdischer Sicht Der Fall Hermann Cohens Amit Kravitz
Mit der Reformation tritt der deutsche Geist in den Mittelpunkt der Weltgeschichte (Hermann Cohen, Deutschtum und Judentum).
1.
Einleitung: Freiheitstheorie und Befreiungspotenzial einer Theorie
Es erübrigt sich zu sagen, dass sich eine einheitliche jüdische Reaktion auf Luthers Denken nicht finden lässt, weder zur Zeit Luthers noch im Laufe der Generationen danach; zumindest vor dem Holocaust, denn was sich danach diesbezüglich ereignete, ist in vielerlei Hinsicht ein neues Kapitel in Luthers Rezeptionsgeschichte: Hier darf man höchstens von einer gewissen allgemeinen jüdischen Hoffnung in Bezug auf das Verhältnis zwischen Judentum und Christentum sprechen, welche durch das Auftauchen der Reformation ausgelöst wurde. Verblüffend ist diese Tatsache an sich freilich nicht; denn erstens, und angesichts der Tatsache, dass das Judentum, aus welchem Grund auch immer, stets von christlichen Theologen eindeutig abgelehnt wurde, erscheint es selbstverständlich, dass jeder Aufruf zu einer grundlegenden Reform innerhalb des Christentums auch Hoffnungen unter Juden weckt. Zweitens schienen Luthers frühere Schriften über das Judentum – bspw. seine 1523 verfasste Schrift Dass Christus ein geborener Jude sei – auf den ersten Blick dieser jüdischen Erwartung entgegenzukommen. Auf den ersten Blick; denn bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass Luther sich in diesen Schriften nicht an wirkliche Juden gewendet hat – die, deren Bewusstsein und Glaube faktisch auch durch Vermittlung einer langen rabbinischen Tradition konstituiert wurde –, sondern eher an erdachte, a-historische Juden, die angeblich in einem unmittelbaren Verhältnis zu deren 215 https://doi.org/10.5771/9783495823668 .
Amit Kravitz
Quellen standen. 1 In dieser Hinsicht ist die Kluft zwischen Luthers früheren – an sich gegenüber Judentum und Juden freundlichen – Schriften und den späteren, hoch problematischen Schriften wie Von den Juden und ihren Lügen aus dem Jahre 1543 letztendlich nicht so groß. 2 Wie dem auch sei: Am Anfang musste die Erscheinung Luthers, wie auch seine ungewöhnliche Begeisterung für die hebräische Sprache und Teile des Alten Testaments, 3 vielversprechende Hoffnungen unter Juden entfesseln. Und da später die deutsche Aufklärung – innerhalb derer die Emanzipation der Juden sich zu realisieren begann – Luther für eine der wichtigsten Quellen ihrer Inspiration hielt, ist es kein Wunder, dass viele prominente jüdische Denker keinen großen Akzent auf Luthers judenfeindliche Schriften legten und ihn vielmehr als Vorläufer der Gewissensfreiheit und Toleranz anzusehen geneigt waren. Ein Vergleich mit Luther diente mitunter sogar als eine Art Kompliment, wie man bspw. in diesem Zitat von Heinrich Heine über Moses Mendelssohn leicht sehen kann: Wie Luther das Papsttum, so stürzte Mendelssohn den Talmud, und zwar in derselben Weise, indem er nämlich die Tradition verwarf, die Bibel für die Quelle der Religion erklärte und den wichtigsten Teil derselben übersetzte. Er zerstörte hiedurch den jüdischen, wie Luther den christlichen Katholizismus. In der Tat, der Talmud ist der Katholizismus der Juden. 4
Cohen schmeichelt Maimonides im Jahre 1915 in seinem Werk Deutschtum und Judentum in ähnlichem Geiste: Maimonides ist das Wahrzeichen des Protestantismus im mittelalterlichen Judentum. Nirgend zwar greif er die Institute der Religion an, aber er sucht überall ihre Gründe zu erspähen; er hält sie daher als der Begründung bedürftig, und daher wohl auch als nur kraft der Begründung lebensfähig und lebenswert. 5
Ich glaube allerdings, dass in derartigen Zitaten auch eine typische und folgenreiche Unterscheidung zwischen dem Inhalt von FreiheitsKaufmann (2015), 63–87. Kaufmann (2015), 106–141. 3 Laut Cohen ist bspw. »Luthers Begeisterung für die Psalmen, die im Einklang steht mit seiner reformatorischen Grundstimmung, und seine nicht genug zu bewundernde Übersetzung derselben die Quelle geworden […], aus der das deutsche Gemüt die Reinheit seiner Liederkraft geschöpft, gestählt und von aller Zweideutigkeit der Erotik befreit hat«; in Cohen (2009), 483 f. 4 Heine (1968), 51. 5 Cohen (2009), 479. 1 2
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»Reformation« aus jüdischer Sicht
theorien zum einen und deren Befreiungspotenzial zum anderen angedeutet wird. (Ich verwende hier den Begriff ›Befreiungspotenzial‹ ganz neutral bzw. ich ziele keineswegs darauf ab, zu urteilen, ob eine gewisse Theorie die Menschen wirklich befreit hat oder sie sich vielleicht getäuscht haben; mir reicht in diesem Zusammenhang, dass viele es so gesehen haben.) Denn zum einen darf man mit vollem Recht Fragen bezüglich der technischen Seite einer Freiheitstheorie – hier derjenigen Luthers 6 – aufwerfen; Fragen wie: Wie ist nach Luther – wenn überhaupt – Determinismus mit Freiheit zu vereinbaren, wie die Eigenschaften Gottes – bspw. seine Allwissenheit – mit dem Zuschreiben der Freiheit einer individuellen Person? In diesem Lichte wird Luthers Freiheitsauffassung z. B. von Schelling in seiner Freiheitsschrift kritisiert. 7 Allein es lässt sich zum anderen auf eine andere Art von Fragen bezüglich ›Luther‹ und ›Freiheit‹ verweisen, z. B.: Kann Luthers Weltanschauung – sein Freiheitsverständnis eingeschlossen – uns auf eine Art befreien, und zwar unabhängig von dem Inhalt seiner Freiheitstheorie? Das Befreiungspotenzial einer gewissen Freiheitstheorie und deren Inhalt decken sich nicht immer und stehen manchmal sogar in einer paradoxalen Spannung. Spinozas Ethik dient eventuell – zumal wenn man deren Rezeptionsgeschichte folgt – als ein modernes Beispiel dafür, und Nietzsches amor fati ist vielleicht ein anderes Beispiel; in beiden Fällen handelt es sich um Theorien der Freiheit, innerhalb derer – zwar auf unterschiedliche Weise – die Freiheit selbst in radikalen Zweifel gezogen wird, und dennoch verfügen sie in den Augen nicht weniger Leser über ein gewisses Befreiungspotenzial. In vielerlei Hinsicht gehört Luthers Denken auch dazu. Deshalb, wenn wir der Frage nach Luthers Freiheitsdenken näherkommen möchten, soll auch der Aspekt des Befreiungspotenzials seines Denkens und nicht nur der des Inhalts seiner Freiheitstheorie behandelt werden. Aber inwiefern genau könnte Luthers Denken seine Leser befreien? Befreiung wovon? Eine triviale Antwort liegt auf der Hand und lässt sich aus dem, was Heine über Mendelssohn oder Cohen über Maimonides sagen, leicht extrahieren: Luther hat seinen Lesern die Möglichkeit gegeben, sich von einer strengen Auslegungstradition zu befreien und sich infolgedessen direkt mit den heiligen Schriften – angeblich jenseits von dogmatischen kirchlichen Vorgaben – 6 7
Luther (1924). Schelling (2011), 58.
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konfrontieren zu können. In dieser Hinsicht kann Luthers Denken als eine Art Modell fungieren, welches sich auch auf andere Religionen – das Judentum bspw. wie wir sahen – anwenden lässt. Es darf jedoch nicht aus dem Blick geraten, dass dieser Schritt Luthers nicht von ungefähr mit dem Übersetzen der heiligen Schriften ins Deutsche – in eine lebendige gesprochene Sprache oder in einen Dialekt – eng verbunden ist. Die angeführte Befreiung von der Last einer langen Auslegungstradition bezieht sich folglich nicht nur auf die Tatsache, dass Luther den unmittelbaren Weg zu den heiligen Quellen durch neue theologische und philosophische Argumentationen ebnete, sondern auch auf die Tatsache, dass dieses Zugänglichmachen prinzipiell erst durch einen Bezug auf eine partikuläre Kultur und Sprache stattfinden konnte. ›Reformation‹ heißt anhand dessen auch, die ›Freiheit‹ gewissermaßen zu konkretisieren, sie auf die Ebene des wirklichen Subjekts – welches stets in eine partikuläre Kultur, Sprache und Lebensform von Grund auf eingebettet ist – zu bringen. Kein Wunder also, dass Luther oft auch als ein spezifisch deutsches Phänomen angesehen wird. Dieser ›Partikularismus‹, der m. E. einen wichtigen Aspekt des Befreiungspotenzials der Reformation darstellt, muss nicht zwangsläufig auf Kosten des ›Universalismus‹ und des Anspruchs auf Allgemeingültigkeit gehen; vielmehr könnte ›Partikularismus‹ derart als die unumgängliche Ebene angesehen werden, welche sich nie vollkommen überwinden lässt und auf der sich die Verwirklichung jeglicher ›Religion‹ abspielt. Und hier komme ich auf den Punkt. Die Reformation hat meiner Meinung nach viele Juden fasziniert – und diese Tatsache ist oft ignoriert worden – auch wegen dieses Aspekts; denn im Judentum beziehen sich bekannterweise und von Grund auf ›Religion‹ und ›Partikularimus‹ aufeinander (sei es der ›Partikularimus‹ einer ›Nation‹, sei es der eines ›Volkes‹ ; diese Unterscheidungen werden mich hier nicht beschäftigen, sondern nur die Tatsache, dass die Juden ihre Religion mit einer Art ›Partikularimus‹ verbinden). Anders gesagt: Im Judentum sind ›Religion‹ und eine Art ›Partikularimus‹ miteinander verwoben und lassen sich voneinander nicht vollkommen abtrennen, eine Tatsache, die übrigens stets zum Vorwurf gegen das Judentum geführt hat, als ob in ihm sich deshalb und im Gegensatz zum Christentum ein Mangel an ›Universalismus‹ zeigte. 8 Viele Juden schienen diese Einbettung von ›Religion‹ und ›Partikularismus‹, die in der Re8
Für Kant bspw. war dies der Grund, warum das Judentum »eigentlich gar keine
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formation existierte – auch wenn es keineswegs mit dem, was im Judentum der Fall ist, vollkommen gleichzusetzen ist –, vage zu spüren. Hermann Cohen – sicherlich eine der bedeutsamsten jüdischen Stimmen des 20. Jahrhunderts – hat diese Tatsache nicht nur gespürt, sondern versucht, sie innerhalb einer systematischen Philosophie begrifflich zu machen. Aus dieser Perspektive, in welcher der ›Partikularismus‹ einer positiven Religion (hier des Judentums) dem ›Universalismus‹, den wir der ›Religion‹ zuzuschreiben neigen, nicht widerspricht, möchte ich auch die Auseinandersetzung Cohens mit der Reformation verdeutlichen. Diese Interpretation hat u. a. zur Folge, dass für Cohen ›Deutschtum‹ – das er explizit mit dem Geist der Reformation identifiziert – und ›Judentum‹ in wesentlicher, »tiefer Verwandtschaft« 9 zueinander stehen. Ziel dieses Beitrags ist es, allein einen gewissen Aspekt von Cohens aufschlussreicher Auseinandersetzung mit Luther ans Licht zu bringen. Ich werde erstens beschreiben, wie Cohen – in erster Linie als Alternative zu Kants Auffassung – die Beziehung zwischen ›Ethik‹ und ›Religion‹ überhaupt versteht. Bereits in dieser Diskussion wird die Verwandtschaft zwischen dem Judentum und der Reformation nach Cohen angedeutet. Zweitens werde ich zeigen, wie Cohen das Verhältnis zwischen dieser ›Religion der Vernunft‹ – die, welche die Lücke in der Ethik ausfüllen soll – und positiven Religionen überhaupt verstanden hat, und anhand dessen werden einige prinzipielle Gemeinsamkeiten, die Cohen zwischen dem Judentum und der Reformation 10 fand, ans Licht gebracht.
2.
Von der ›Ethik‹ zur ›Religion‹ überhaupt bzw. zur ›Religion der Vernunft‹
Die genaue Bedeutung von Cohens Auseinandersetzung mit Luther kann nur als Folge seiner allgemeinen Religionsphilosophie bzw. anhand der Frage, welche essentielle Lücke in der ›Ethik‹ erst durch die ›Religion‹ ausgefüllt wird, verstanden werden. Cohens wichtigste Re-
Religion« ist (RGV, AA VI: 125). Zu Kants Auseinandersetzung mit dem Judentum siehe Kravitz (2018). 9 Cohen (2009), 484. 10 Zu Cohens Auseinandersetzung mit dem Christentum im Allgemeinen siehe bspw. Zank (2000).
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ligionsschrift heißt zwar Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, allein es lässt sich daraus nicht schließen, dass er eine philosophische Angelegenheit – ›Religion der Vernunft‹ – dem Interesse einer positiven Religion bzw. dem Judentum unterwirft. »Die Religion der Vernunft«, schreibt Cohen deutlich, »kann nicht die Religion eines einzelnen Volkes, noch die Ausgeburt eines einzelnen Zeitalters sein«. 11 Cohen verfährt gleich wie Kant, welcher erst philosophisch und unabhängig von jeglicher positiven Religion – das Christentum eingeschlossen – erklärt, warum die Ethik »unumgänglich« 12 zur Religion führt, und erst danach seinen Blick auf die Erfahrung richtet, um zu prüfen, welche positive Religion – die vom Wesen her »das Bewußtsein […] [ihrer] Zufälligkeit [enthält]« 13 – als das beste »Leitmittel« 14 bzw. »Vehikel« 15 dafür fungieren kann. Der Unterschied zwischen Prinzip und Anwendung darf an dieser Stelle nicht vergessen werden; es ist durchaus möglich, Kants Grundgedanken bezüglich der Unumgänglichkeit der ›Religion‹ anzunehmen und im gleichen Atemzug dessen Anwendung auf positive Religionen zurückzuweisen. Die erste Frage ist rein philosophisch und bezieht sich auf die Regel; die zweite bedarf einer gewissen ›Urteilskraft‹ bzw. der Fähigkeit zu urteilen, »ob ein Fall in concreto dahinter gehöre«. 16 Es ist zwar bedenkenswert, dass Religionsphilosophinnen und -philosophen immer wieder dazu tendieren, ihre eigene Religion als die beste Verkörperung des allgemeinen Prinzips zu sehen, aber dies tut nichts zur Sache: Prinzipiell handelt es sich hier um zwei unterschiedliche Angelegenheiten. Die Art und Weise, wie Cohen die Verbindung zwischen ›Religion‹ und ›Ethik‹ aufgreift bzw. wie er die ›Religion‹ überhaupt oder die ›Religion der Vernunft‹ – jenseits von ›Judentum‹, ›Christentum‹ oder welcher positiven Religion auch immer – verdeutlicht, ist am besten nachzuvollziehen, wenn sie mit der Kant’schen Alternative, mit der sich Cohen Zeit seines Lebens befasste, verglichen wird. 17 Cohen (1959), 36. RGV, AA VI: 4. 13 RGV, AA VI: 115. 14 RGV, AA VI: 115. 15 RGV, AA VI: 106. 16 KrV, B: 173. 17 Cohen selbst hat bei Gelegenheit gezeigt, wie aus der Philosophie Kants innere Beziehungen zum Judentum herausgezogen werden können; siehe Cohen (2009b), 309–47. 11 12
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Für Kant lässt sich das Auftauchen der ›Religion‹ nicht psychologisch, gesellschaftlich oder anthropologisch erschöpfend erklären; es wurzelt vielmehr in der Struktur der Endlichkeit an sich bzw. es hat vernünftige Gründe. Kant zufolge wird das Subjekt in der Ethik typischerweise jenseits von jeglicher Individualität behandelt. Kant greift in seiner Ethik nur das ideale Subjekt auf 18 bzw. das Subjekt, solange die Achtung für das moralische Gesetz als eine für sich hinreichende Triebfeder der Willkür 19 dient. Die Ethik schildert, wenn man so will, wie eine gelungene moralische Handlung zu denken ist; warum das wirkliche Subjekt hingegen anders handelt – eine Tatsache, die jeder Blick auf die Erfahrung zu bestätigen scheint –, ist eine andere Angelegenheit. Kant war sich der Kluft zwischen der Forderung der reinen Moralität und der tatsächlichen Handlungen des Subjekts durchaus bewusst; dies zeigt sich m. E. in seiner Bemerkung, dass die moralische Forderung gültig bleibt, auch wenn bisher kein einziges Subjekt jemals dementsprechend handelte. 20 Aber warum äußert Kant den Verdacht, dass es eventuell nie der Fall gewesen sei? Ohne auf die hochinteressante Kant’sche Argumentation diesbezüglich einzugehen, 21 lautet die Antwort: Weil das wirkliche Subjekt, als Gattung betrachtet, 22 sein wirkliches moralisches Leben nicht von einer idealen Mitte zwischen Gut und Böse beginnt, sondern in einem Zustand, in dem es bereits »im Bösen versunken« 23 ist bzw. in einem Zustand, in dem die erste Bestimmung des menschlichen Willens böse ist. Es sei beachtet, dass das Im-Bösen-Versunken-Sein der Gattung beschrieben wird bzw. für alle Individuen gilt, auch für das beste. 24 Das heißt, dass diesbezüglich einzelne Personen noch nicht im Fokus stehen. Auf dieser Ebene gibt es keinen Unterschied zwischen Stalin und Mutter Theresa. Daraus ergibt sich, dass die Individualität im moralischen Leben erst beginnt, nachdem das Böse in jedem »schon Platz genommen hat«. 25 Und aus der Beschreibung des wirklichen
18 19 20 21 22 23 24 25
KpV, AA V: 72. Vgl. RGV, AA VI: 27. GMS, AA IV: 408. Dazu siehe Buchheim (2001), 652–661. RGV, AA VI: 21, 25, 29, 32, 38. RGV, AA VI: 94. Vgl. RGV, AA VI: 30. RGV, AA VI: 57 Fn.
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moralischen Ausgangspunkts des menschlichen Subjekts geht hervor, dass das erste Gute, was es tun kann, um moralisch handeln zu können, nicht schlichtweg ist sich für das Gute zu entscheiden, sondern eher »vom Bösen auszugehen«. 26 Es drängt sich diesbezüglich die Frage auf: »Wie aber?« 27 Und bezüglich dieses Wie kommt der ›Religion‹ in der Philosophie Kants eine besondere Relevanz zu. Denn es scheint der Fall zu sein, dass ausgehend von diesem Im-Bösen-Versunken-Sein einfach jeder Einzelne dem Bösen den Rücken zeigen und sich für das Gute entscheiden soll; allein, Kant setzt hinzu, dass der wirkliche Mensch – der, der im Bösen versunken ist – sich wesentlich auch »unter Menschen« 28 befindet, und deshalb gilt: Es ist nicht einmal nöthig, daß diese schon als im Bösen versunken und als verleitende Beispiele vorausgesetzt werden; es ist genug, daß sie da sind, daß sie ihn umgeben, und daß sie Menschen sind, um einander wechselseitig in ihrer moralischen Anlage zu verderben und sich einander böse zu machen. 29
Bei dieser Beschreibung des Menschen handelt es sich nicht um etwas Zufälliges, sondern vielmehr um ein Kennzeichnen der Endlichkeit. Die Lösung bzw. der Ausweg aus dem Bösen nach Kant wäre, »ein ethisches gemeines Wesen« 30 bzw. »Gesellschaft nach Tugendgesetzen« 31 zu errichten; man darf diese moralische Republik auch Vernunftreligion nennen. Allein, eine weitere Einschränkung, welche in der menschlichen Natur verwurzelt ist, zwingt den Menschen, diese Republik nicht nur auf die Vernunft allein zu gründen: Allein es ist eine besondere Schwäche der menschlichen Natur daran Schuld, daß auf jenen reinen Glauben niemals so viel gerechnet werden kann, als er wohl verdient, nämlich eine Kirche auf ihn allein zu gründen […]. Die Menschen […] sind doch nicht leicht zu überzeugen: daß die standhafte Beflissenheit zu einem moralisch=guten Lebenswandel alles sei, was Gott von Menschen fordert, um ihm wohlgefällige Unterthanen in sei-
26 27 28 29 30 31
RGV, AA VI: 57 Fn. RGV, AA VI: 93. RGV, AA VI: 94. RGV, AA VI: 94. RGV, AA VI: 94. RGV, AA VI: 94.
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nem Reiche zu sein. Sie können sich ihre Verpflichtung nicht wohl anders, als zu irgend einem Dienst denken, den sie Gott zu leisten haben […]. 32
Die Moral führt nämlich »unumgänglich« zu ›Religion‹ überhaupt bzw. zu dem Bedarf, eine moralische Republik zu gründen, allein diese ›Religion überhaupt‹ führt »unumgänglich« zu positiven Religionen, welche auch auf Offenbarung und nicht nur auf der Vernunft bzw. auf der Moral basieren. Am Ende einer langen Kette erweist sich denn auch, dass, angesichts des Ausgangspunkts im Bösen, um wirklich moralisch handeln zu können und die moralische Forderung zu verwirklichen, das Subjekt innerhalb einer positiven Religion – welche davon (Christentum, Judentum etc.) das beste Vehikel dafür ist, wissen wir noch nicht – tätig sein muss. Die Moral führt also »unumgänglich« zu ›Religion‹ nicht in dem Sinne, dass sie sich ohne den Bezug zur ›Religion‹ nicht denken lässt, sondern weil ihre Realisierung – anhand des wirklichen Ansatzpunktes jedes endlichen Subjekts – ohne den Bezug zu Religion nicht stattfinden kann. Wichtig ist letztlich noch hinzuzufügen, dass diese Begründung der reinen moralischen Republik, die anhand der oben erwähnten Schwächen der menschlichen Natur nur durch positive Religion verwirklicht werden kann, sich nicht dadurch ereignet, dass einzelne Subjekte sich dafür versammeln; denn sie befinden sich nach der Kant’schen Beschreibung bereits »in einem schon bestehenden politischen gemeinen Wesen« 33 bzw. in einem Zustand, den Kant »de[n] ethischen Naturzustand« 34 nennt. Um die Vernunftreligion begründen zu können, muss dieser ethische Naturzustand überwunden werden. Der ›Religion‹ kommt daher immer die Aufgabe zu, als Alternative für die politische Ordnung zu dienen. Wie ist nun Cohens Position bezüglich der Verbindung zwischen ›Ethik‹ und ›Religion‹ genau zu verstehen? Wie für Kant lässt sich auch für Cohen der Bedarf nach ›Religion überhaupt‹ nicht aus der Erfahrung ableiten: »Der Umfang fällt hier nicht in das Gebiet der Induktion, sondern er gehört durchaus der Grundlegung an, welche für alle Induktion die Voraussetzung ausbildet.« 35 Das Wesen von ›Religion überhaupt‹ kann nicht bloß durch das 32 33 34 35
RGV, AA VI: 103. RGV, AA VI: 95. RGV, AA VI: 95. Cohen (1959), 13.
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Prüfen und das Vergleichen von existierenden Religionen, denen wir in der Erfahrung begegnen, ans Licht gebracht werden bspw. durch den Versuch, von unterschiedlichen Religionen das Gemeinsame herauszuarbeiten und es darzustellen. Zweitens (und wie bei Kant) abstrahiert die Ethik laut Cohen von Individuen: Die Ethik kommt bei ihrem methodischen Gegensatze zu allem Sinnlichen und allem Empirischen am Menschen zu der gewaltigen Konsequenz, dass sie das Ich des Menschen der Individualität überhaupt zuvörderst entreißt, um diese ihm von einem höheren Gipfelpunkte aus in nicht nur erhöhter, sondern auch geläuterter Form wiederzugeben. Das Ich des Menschen wird in ihr zum Ich der Menschheit […]. Die Ethik kann den Menschen schlechterdings nur als Menschheit erkennen und anerkennen. Auch als Individuum kann er nur der Träger der Menschheit sein. 36
Und drittens setzt Cohen hinzu, dass »der Staat […] das Übergangsglied vom individuellen Menschen zur Menschheit« 37 ist. Das will sagen, dass »auch als Staat […] der Mensch zum Träger der Menschheit« 38 wird, was das Ethische und nicht die Religion kennzeichnet. Der Staat wird also als der ›Ort‹ gesehen, wo »das Abstraktum der Menschheit […] sich in der Geschichte« 39 realisiert. Hier zeigen sich gewisse Ähnlichkeiten mit Kant, auch wenn für Cohen die Aufgabe der ›Religion‹ nicht unbedingt darin besteht, das Politische allmählich zu überwinden. In diesem Verständnis der Ethik als der Bereich, wo, mit Cohen gesprochen, der Mensch nur als Menschheit erkannt und anerkannt wird, wird bereits der Mangel der Ethik bzw. »die Notwendigkeit einer Ergänzung der Ethik durch die Religion« 40 angedeutet. Wie ist dieser Mangel aber genauer zu verstehen? Cohen schreibt: »Liegt es in ihrer Kompetenz [i. e. der Ethik], liegt es in ihrer Methodik, das Du zur Entdeckung zu bringen?« 41 In der Ethik wird der oder die Andere immer als Er bzw. Sie gesehen; das Du dient sozusagen nur als ein anderes Beispiel des Ich. 42 Dass es eventuell eine andere Verhaltensweise zu den Anderen gibt – nicht nur als bloße Träger der Moralität, die sich innerhalb des 36 37 38 39 40 41 42
Cohen (1959), 42 f. Cohen (1959), 43. Cohen (1959), 43. Cohen (1959), 43. Cohen (1959), 46. Cohen (1959), 44. Cohen (1959), 44.
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Politischen bzw. des Staats realisiert –, liegt, vorausgesetzt, dass gezeigt wird, dass es so etwas überhaupt gibt, jenseits des Bereichs der Ethik. Nun soll das Entdeckungsmoment des Du in den Fokus gebracht werden; wann ereignet es sich genau bzw. wann verwandelt sich das Er bzw. Sie in das Du? Gegenüber dem Er/Sie bzw. innerhalb der Ethik ist unser Verhalten »mit einer Neutralität behaftet, die es nur schwer vom Es unterscheidet«. 43 Und wie ist es mit dem Du? Das Du bzw. die Person, soweit sie nicht nur ein »Symbol der Menschheit darstellt«, 44 kommt erst in der Beachtung des (physischen) Leidens des Anderen zum Vorschein. In Cohens Worten: »Gerade durch die Beachtung des Leidens bei dem Anderen verwandelt sich dieser Andere aus dem Er in das Du.« 45 Welche Bedeutung kommt nach Cohen dieser Begegnung zu? Cohen fährt fort: Zu dieser Wendung kommt es an dem Grenzpunkte, an dem die Religion gleichsam aus der Ethik hervortritt. Es ist kein träger Affekt, dem ich mich hingebe, wenn ich das Leid des Anderen beobachte […,] sondern wenn ich es zum Fragezeichnen mache für meine gesamte Orientierung in der sittlichen Welt. […] im Leiden geht mir plötzlich und unaufhaltsam ein grelles Licht auf über die Flecken an der Sonne des Lebens. 46
Das heißt: An diesem Punkt bedarf der Begriff des Menschen dessen, was Cohen ›Erweiterung‹ nennt, und dies ist eben der Grenzpunkt, an dem die ›Religion‹ überhaupt als Ergänzung oder Vervollkommnung der Ethik ins Spiel kommt. Die ›Religion‹ nämlich ist der Bereich, in dessen Horizont das Leiden des wirklichen Subjekts thematisiert wird, denn in Anbetracht des Leidens ist es »der ganze Sinn der Ethik, als der Lehre vom Menschen und vom Menschenwerte, an dem ich verzweifeln muss, wenn dieser Menschenwert sich vorzugsweise im Leiden ausmünzt«. 47 Wirkliche Subjekte – die, welche gebrechlich sind und die uns in der Erfahrung begegnen, sprich: die, welche leiden – wecken den Zweifel, dass die Ethik eventuell unmöglich ist, zwar nicht in dem Sinne, dass das Leiden einen logischen Widerspruch in der mora43 44 45 46 47
Cohen (1959), 46. Cohen (1959), 45. Cohen (1959), 46. Cohen (1959), 48. Cohen (1959), 48.
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lischen Forderung an sich entlarvt, sondern in Bezug auf die wirkliche Möglichkeit, die Ethik anhand des Zustands wirklicher Subjekte zu realisieren. Von der Struktur her ist die Nähe zu Kant markant, denn in Anbetracht wirklicher Subjekte muss auch Kant einen neuen Weg ebnen, um zeigen zu können, dass die Moral wirklich und nicht nur formell möglich ist. Mehr noch: In Anbetracht des Leidens des Anderen wird nicht nur das Du zur Entdeckung gebracht; jetzt braucht auch »das eigene Leiden […] nicht schlechterdings als gleichgültig hingenommen« 48 werden (Cohen positioniert sich in diesem Zusammenhang explizit gegen die Stoa). Und ferner treten mit dem Leiden des Ich […] andere Schäden ans Licht, außer den sinnlichen Unvollkommenheiten. Die sittliche Gebrechlichkeit [bzw. die Sünde 49 ] bedarf jetzt erneuter Prüfung. 50
Die Komponenten, die Cohen bezüglich der Begegnung mit wirklichen Subjekten entfaltet, sind zwar begrifflich voneinander zu trennen, ereignen sich aber sozusagen im selben Atemzug; das physische Leiden bringt nicht nur das Du des Anderen zur Entdeckung, sondern auch das Ich kommt dadurch zum Vorschein, und damit wird die sittliche – und nicht nur die sinnliche – Unvollkommenheit des Ich zum Vorschein gebracht. Damit zielt Cohen keineswegs darauf ab, theoretische Fragen bezüglich des Ursprungs des Bösen aufzuwerfen, um für sie eine Lösung vorzuschlagen, denn in dem Fall ginge »das kaum gewonnene Du […] sofort wieder verloren«. 51 Nun sind wir in der Lage, den Moment, in dem nach Cohen die ›Religion‹ gegenüber der ›Ethik‹ auftritt, zu bestimmen: Diese Entdeckung des Menschen durch die Sünde ist der Quell, auf den alle Entwicklung der Religion zurückgeht. Diese Erkenntnis wird als Selbsterkenntnis gedacht […]. 52 […] So erkannten wir die Menschheit und das Individuum als die Grenzen der Ethik, an denen die Religion mit ihren eigenen Grundlegungen sich erhebt. Am Individuum wird auch der Begriff des Menschen der Religion zugehörig. 53 48 49 50 51 52 53
Cohen (1959), 49. Dazu siehe Korsch (2012), 194–206. Cohen (1959), 49. Cohen (1959), 49. Cohen (1959), 50. Cohen (1959), 64.
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»Reformation« aus jüdischer Sicht
Ebenso wie Kant meint also Cohen, dass das Auftauchen der ›Religion‹ etwas mit wirklichen Subjekten zu tun hat (für Kant sind sie alle im Bösen versunken, für Cohen im Leiden versunken, wenn man so will; wirkliche Subjekte, welche jenseits der Menschheit bzw. als gebrechliche Individuen betrachtet werden). Und für beide hat der wirkliche Zustand des Menschen wichtige Konsequenzen für die reine Ethik, zwar nicht auf der formellen Ebene – die Ethik bleibt als Forderung, die als möglich gedacht werden muss, ohnehin gültig und widerspruchsfrei –, sondern in Bezug auf die echte Möglichkeit, dass die Ethik von dem wirklichen, gebrechlichen Subjekt ausgeführt wird. Mit Cohen gesprochen: Es darf nicht gleichgültig bleiben, ob meine Sittlichkeit und aller Menschen Sittlichkeit nur pflichtmäßiges Streben bleibt, das in sich selbst genugsam wäre, sondern ich muss Anteil an der Frage nehmen, ob das Ideal auch Leben und Wirklichkeit hat. […] die allgemeine Scheidung zwischen Ideal […] und Wirklichkeit lässt den Gedanken in dem Schein des Rechts: dass Sittlichkeit nur Gesetz und Vorschrift sei, nimmermehr aber menschliche Wirklichkeit. Dieser ›faulen Vernunft‹ tritt die Religion entgegen. […] der Unterscheid zwischen Ideal und Wirklichkeit darf nicht in die Schattenwelt verlegt werden […]. 54
Bei Kant handelt es sich allerdings und in erster Linie um ein Argument, in dem gezeigt wird, dass die ganze Gattung im Bösen versunken ist, während bei Cohen der Ausgangspunkt die Entdeckung des Du durch dessen Leiden ist – innerhalb einer Begegnung, die sich nicht auf eine Theorie reduzieren lässt –, die die oben geschilderte Kette auslöst. Sprich: Für Kant wird der Andere erst als Resultat einer moralischen Aufgabe herangezogen bzw. als unumgängliches Mittel, mithilfe dessen die moralische Republik – als notwendige Vorbedingung der Verwirklichung der Moral – errichtet werden muss, während für Cohen die Begegnung mit dem Leiden des Anderen – die sich jenseits jeglicher moralischen ›Aufgabe‹ ereignet – als der Ausgangspunkt 55 von ›Religion‹ überhaupt dient. Dies ändert auch – und das bringt uns dem Thema ›Reformation‹ näher – Cohens Auffassung von Gott; denn Gott wird innerhalb der ›Religion der Vernunft‹ auch zum Du. Sprich: Innerhalb der ›ReliCohen (1959), 51. »Vielleicht verhält es sich umgekehrt, dass erst das Du, die Entdeckung des Du mich selbst auch zum Bewusstsein eines Ichs, zur sittlichen Erkenntnis meines Ichs zu bringen vermöchte«; Cohen (1959), 44.
54 55
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gion‹ ist Gott nicht bloß Gott der Menschheit – bzw. Garant für die Übereinstimmung zwischen Tugend und Belohnung –, sondern er wird, mit Cohen gesprochen, als der Gott des Einzelnen 56 gedacht: »Aber der Gott der Religion ist ja niemals ein theoretischer Begriff, niemals ein Begriff, der lediglich nur das Wissen und die Erkenntnis des Menschen erweitern und lichten soll.« 57 Das Verhältnis zum Gott der ›Religion‹ ist demnach ein ganz anderes als die Rolle, die Gott im Bereich der Ethik spielt; das hat zur Folge, dass Cohen die unmittelbare Beziehung zu Gott – jenseits von jeglicher ›Kirche‹ oder Vermittlung – bevorzugt, denn laut Cohen hat »[i]n Israel […] niemals der Priester eine himmlische Gewalt gehabt, die ihm den Vorzug einer Vermittlung des Menschen mit Gott verliehen hätte« 58 . Und genau diese Eigenschaft findet Cohen in der Reformation: »Nicht die Kirche mit ihren Heilswerken, nicht der Priester, sondern allein die eigene Arbeit des Gewissens muß das religiöse Denken, beides, belasten und befreien.« 59 Auch das Zugänglichmachen und das Näherbringen der heiligen Schriften durch Übersetzungen, die die Reformation nicht von ungefähr kennzeichnet, soll im Lichte dieser Überlegungen verstanden werden; dem Gott als Du ist leichter innerhalb der Reformation näherzukommen. Wir sehen nämlich, wie Cohens allgemeine Auffassung des Verhältnisses zwischen Ethik und Religion ihn in eine Position setzt, in der sich eine prinzipielle Nähe zum Geist der Reformation zeigt.
3.
Positive Religionen oder: Das ›Universale‹ und das ›Partikuläre‹
Bisher haben wir das Thema ›Religion überhaupt‹ und deren Verhältnis zur Ethik in Angriff genommen, und selbst in dieser allgemeinen Beschreibung kam die Tendenz Cohens, die Reformation gegenüber dem Katholizismus zu bevorzugen, zum Vorschein. Allein wie ist nun die Existenz positiver Religionen überhaupt – Judentum, Katholizismus, Reformation – nach Cohen zu verstehen? 56 57 58 59
Cohen (1959), 52. Cohen (1959), 53. Cohen (2009), 496. Cohen (2009), 476.
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Ebenso wie Kant listet Cohen Züge auf, welche die ›Religion‹ überhaupt ausmachen; wie wir bereits sahen, beinhaltet die Liste Cohens zwar andere Momente als die, welche Kant vor Augen führt, 60 aber das Prinzip scheint auf den ersten Blick ähnlich zu sein: Jede positive Religion soll darauf geprüft werden, ob sie als die ›Religion der Vernunft‹ interpretiert werden könnte oder nicht. Aber es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen Kant und Cohen bezüglich der Herangehensweise an positive Religionen, der uns hilft, auch Cohens Auseinandersetzung mit der Reformation besser zu verstehen. Cohen schreibt: [I]ch weiß mich frei von dem Vorurteil der christlichen Theologie […] und […] der christlichen Religionsphilosophie […], sofern sie die Absolutheit des Christentums proklamieren; ich behaupte nicht, daß einzig und allein das Judentum die Religion der Vernunft wäre; ich suche zu begreifen, wie auch andere monotheistische Religionen an der Religion der Vernunft ihren fruchtbaren Anteil haben. 61
Für Kant kann eine Religion nur durch absolute Verneinung einer vorigen das Leitmittel für die Vernunftreligion sein. Das Formelle der Vernunftreligion, welches Kant erarbeitet, ist in dieser Hinsicht der Geschichte unterworfen; die Vernunft kann sich aus prinzipiellen Gründen nicht auf Anhieb ohne Verneinung des Vorhergehenden verwirklichen 62 (diese Struktur im Allgemeinen lässt sich auch bei Kants Nachfolgern, bspw. bei Schelling, entdecken) 63 . Hingegen ist Cohen, wie das obige Zitat bezeugt, gegenüber der Geschichte frei (oder besser: Er denkt die Verwirklichung der Vernunft nicht unter geschichtlichen Zwängen im Sinne von Kant). Das einzige, was ausschließlich als Kennzeichnen des Judentums fungiert, ist dessen Ursprünglichkeit; 64 allein dies, an sich, heißt keineswegs, dass das Judentum ›mehr‹ ›Religion der Vernunft‹ sei als andere Religionen; prinzipiell lässt sich aus jeder Religion die ›Religion der Vernunft‹ schöpfen; partikuläre Züge, die in jeder Religion obwalten, sollen dafür vernünftig interpretiert werden. Einige Beispiele dafür bei Cohen sind: Gott als Du, Einzigkeit anstatt der Einheit Gottes, die Schöpfung des Menschen in der Vernunft, Messianismus, die Reinheit der Menschenseele (was dazu führt, dass es außerhalb der Vernunft keinen sonstigen Mittler zwischen Gott und Mensch gibt), usw. 61 Cohen (1959), 66. 62 Dazu siehe Kravitz (2018). 63 Zu diesem Thema siehe Kravitz (2015), 397–424. 64 Cohen (1959), 66. 60
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Der ›Partikularismus‹ jeglicher positiven Religion widerspricht deshalb dem ›Universalismus‹ der Vernunft nicht. In Bezug auf das Judentum heißt es: »Die Worte ›Höre Israel‹ und ›der Ewige ist Einzig‹ ergänzen einander. Der Geist Israels ist bedingt durch den Gedanken des einzigen Gottes.« 65 Hier zeichnet sich auch die Position Cohens bezüglich des ›Partikularismus‹ ab, welcher sich in der Reformation zeigt; denn das ›Universale‹ – hier der Satz »der Ewige ist Einzig«, welcher Cohen als notwendiger Teil der Religion der Vernunft gilt – beinhaltet nicht unbedingt die Forderung, dass jegliche partikulären Züge (hier etwa das »Höre Israel«) abzuschaffen sind und letztendlich völlig in der ›Religion der Vernunft‹ verschwinden (was ohnehin unmöglich ist, denn die Vernunftsreligion ist ein Ideal), sondern lediglich die Forderung, dass die schon existierenden partikulären Züge durch die Vernunft bedingt sind. Einerlei, ob ihre Folgen im Sinne des Erfinders (Luther) waren oder nicht: 66 Aus der Tatsache, dass mit der Reformation eine christliche Version entstand, die etwas Wesentliches mit dem, was Cohen »Volksgeist« 67 nennt (hier Deutschtum), zu tun hat, folgt nicht, dass diese Version außerhalb des Bereichs der Vernunft ist. Es ist wichtig anzumerken, dass laut Cohen der Begriff ›Volksgeist‹ »nicht in einer Rasseneinheit begründet, sondern objektiv in der Einheit [… einer] religiösen Literatur« 68 . Der Begriff ›Volksgeist‹ stellt eine bedeutsame Gemeinsamkeit von Judentum und Reformation dar. Mehr noch: Wie wir sahen, fängt die ›Religion überhaupt‹ – jenseits von positiven Religionen – als Ergänzung der Ethik da an, wo das Leiden des wirklichen Subjekts zum Vorschein kommt, wo das Er als das Du zur Enthüllung kommt. Darin wird Cohen zufolge angedeutet, dass es einen wesentlichen Zusammenhang »zwischen Religion und Sozialpolitik« 69 gibt. Cohen zielt zwar in erster Linie darauf ab, dieses Kennzeichnen aus dem Geiste des Judentums herauszukristallisieren bzw. die Ungeschiedenheit von Religion und (Sozial-)Politik innerhalb des Judentums im Geiste der Propheten vor Augen zu fühCohen (1959), 55. Siehe Cohen (2009), 475 f.: »Für geschichtlich-religiöses Denken muß es unzweifelhaft sein, daß der geschichtliche Geist des Protestantismus unabhängig ist von dem Verlaufe der Reformation in Wittenberg, geschweige von seinen unmittelbaren Fortsetzungen.« 67 Cohen (1959), 55. 68 Cohen (1959), 62. 69 Cohen (1959), 55. 65 66
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ren; allein dieser Zusammenhang lässt sich bekanntermaßen – wiederum nicht von ungefähr – auch aus den Anfängen der Reformation herausziehen, und es ist kein Zufall, dass das Auftauchen der Reformation auch mit derartigen ›sozialen‹ Hoffnungen verbunden war. Diesbezüglich darf auch nicht vergessen werden, dass die ›Religion‹ nach Cohen starken Bezug zu der Praxis besitzen soll, allein schon in der Tatsache begründet, dass deren Ausgangspunkt wirkliche (leidende) Subjekte sind und nicht nur ideale Subjekte, die bloß als Träger der Ethik dienen. Das starke Moment der Sozialpolitik als das Kennzeichnen des Judentums und der Reformation ist deshalb nicht nur ein Indiz für den Anteil beider Religion an der ›Religion der Vernunft‹, sondern auch für die tiefe Verwandtschaft zwischen beiden Religionen. Zum Schluss möchte ich das Folgende bemerken: Cohens Auseinandersetzung mit der Reformation ist in zweierlei Hinsicht reicher als das, was hier präsentiert wurde. Erstens habe ich wichtige Komponenten, die laut Cohen die tiefe Verwandtschaft zwischen dem Judentum und der Reformation ausmachen, nicht thematisiert. Ein Beispiel dafür ist Cohens Behauptung, dass die »Versittlichung aller menschlichen Berufe, womit in gewissem Sinne eine Säkularisierung des geistlichen Amtes verknüpft war« 70 , diese Verwandtschaft zeigt. Zweitens hätte man Cohens Herangehensweise an die Reformation ganz anders darlegen können; denn Cohen verknüpft die Reformation auch mit dem, was er den deutschen Geist nennt bzw. mit dem Idealismus (»die deutsche Philosophie ist Idealismus« 71 ). Was bedeutet Idealismus hier? Das Sein wird nicht in einer unmittelbaren Gegebenheit angenommen […], sondern es wird als ein allgemeiner Vorwurf, als eine Aufgabe gedacht, welche durch die wissenschaftliche Behandlung zu lösen und zu beweisen ist. Die Idee, als Hypothese gedacht, ist mithin keineswegs die Lösung der Aufgabe, sondern vielmehr nur die genaue Bestimmung der Aufgabe selbst. 72
Cohen sieht diesen Idealismus als das wesentliche Kennzeichnen der deutschen Philosophie. Das wird angedeutet, wenn er sich diesbezüglich des Begriffs ›Gewissen‹ – dem innerhalb der Reformation eine besondere Bedeutung zukommt – bedient: »Der Idealismus ist das 70 71 72
Cohen (2009), 496. Cohen (2009), 471. Cohen (2009), 473.
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Gewissen der Philosophie und der Wissenschaft.« 73 Cohens Verdeutlichung der Reformation – als beispielhaft für die jüdische Rezeption – kann demnach als Verbindung zwischen ›Vernunftreligion‹ und partikulärem Phänomen bzw. positiver Religion verstanden werden. Damit ist freilich das Thema keineswegs erschöpft.
Literaturverzeichnis Die Werke Kants werden nach dem Wortlaut und der Paginierung der Akademie-Ausgabe unter Angabe der jeweiligen Sigle und des jeweiligen Bandes zitiert: Immanuel Kant (1900–): Kant’s gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin: KrV: Kritik der reinen Vernunft KpV: Kritik der praktischen Vernunft GMS: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten RGV: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft Buchheim, Thomas (2001): »Die Universalität des Bösen nach Kants Religionsschrift«, in: Kant und die Berliner Aufklärung, hg. v. Volker Gerhardt, RolfPeter Horstmann und Ralph Schumacher, Berlin / New York, 652–661. Cohen, Hermann (1959): Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Köln. – (2009): »Deutschtum und Judentum. Mit grundlegenden Betrachtungen über Staat und Internationalismus«, in: Werke. Bd. 16: Kleinere Schriften V, Hildesheim / Zürich / New York, 465–560. – (2009b): »Innere Beziehungen der Kant’schen Philosophie zum Judentum«, in: Werke. Bd. 15: Kleinere Schriften IV, Hildesheim / Zürich / New York, 309–47. Heine, Heinrich (1968): Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, in: Werke, Bd. 4, Frankfurt/M. Kaufmann, Thomas (2015): Luthers Juden, Stuttgart. Korsch, Dietrich (2012): »Hermann Cohens Verständnis der Sünde vor dem Hintergrund der reformatorischen Tradition«, in: Religion aus den Quellen der Vernunft. Hermann Cohen und das evangelische Christentum, hg. v. Hans Martin Dober und Matthias Morgenstern, Tübingen, 194–206. Kravitz, Amit (2015): »Eine Religion in der Schwebe – Schellings Deutung des Judentums«, in: Religion und Religionen im Deutschen Idealismus, hg. v. Friedrich Hermanni, Burkhard Nonnenmacher und Friedrike Schick, Tübingen, 397–424.
73
Cohen (2009), 475.
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»Reformation« aus jüdischer Sicht – (2018): »Innerhalb der Zeit, außerhalb der Geschichte. Zu Kants Auseinandersetzung mit dem Judentum in seiner Religionsschrift«, in: Der Begriff des Judentums in der klassischen deutschen Philosophie, hg. v. Amit Kravitz und Jörg Noller, Tübingen, 25–42. Luther, Martin (1924): Vom unfreien Willen, München. Schelling, Friedrich Wilhelm Josef (2011): Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, Hamburg. Zank, Michael (2000): »Inauthentizitätsverdacht und Anspruch auf Authentizität. Reflexionen über Hermann Cohens Auseinandersetzung mit dem Christentum«, in: ›Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums.‹ Tradition und Ursprungsgedanken in Hermann Cohens Spätwerk, hg. v. Helmut Holzhey, Hildesheim, 303–329.
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Luthers späte Auswirkungen: Der analytische Molinismus Ein Anlass zur Reflexion über Fähigkeiten und Grenzen der analytischen Theologie Ruben Schneider
Dieser Beitrag befasst sich nicht direkt mit Luther und Erasmus, sondern möchte einen Ausblick liefern in eine moderne Entwicklung, die sich an die von Luther aufgeworfenen Fragen und ihre spätscholastischen Antworten anschließt: Die Behandlung der Gnadenlehre in der modernen analytischen Religionsphilosophie. Aufgrund der Entwicklungen in der modernen Logik erfuhr insbesondere eine besondere spätscholastische Antwort auf Luther eine beachtenswerte Renaissance: Der Molinismus (nach Luis de Molina SJ, 1535–1600). Ich möchte den sogenannten analytischen Molinismus, der zu den großen Entstehungsereignissen der kontemporären analytischen Religionsphilosophie zählt, skizzenhaft vorstellen und seine Diskussion zum Anlass für eine Metafrage nehmen: Die analytische Religionsphilosophie bzw. Theologie versteht sich in der Regel wie die analytische Metaphysik als »Philosophie innerhalb der Standardlogiken« (Aussagenlogik, Prädikatenlogik, Modallogik): 1 Sätze und Argumente gelten dann als sinnvoll, wenn ihre logische Struktur im Rahmen der Standardlogiken explizit gemacht werden können, kurz: wenn sie zumindest prinzipiell im Rahmen der Standardlogiken formalisierbar sind – ein Paradebeispiel hierfür ist das von Quine etablierte Paradigma der ›Reglementierung‹ nicht-formal formulierter Theorien: Theorien, die sich nicht mittels einer formallogischen Sprache erster Stufe paraphrasieren lassen, sind keine adäquaten Kandidaten für die analytische Philosophie. Sätze der entsprechenden nicht-formalen Theorie müssen als Axiome, Theoreme oder konsistente Formeln in einem formalen System (erster Stufe) auftreten können. 2 So gilt dies beispielsweise für die im Gnadenstreit vorherrschenden »KonsequenJaskolla (2008), 18 f. Die Hinweise auf die eminente Bedeutung und die massiven Folgen dieses Paradigmas der sprachlichen Reglementierung verdanke ich Christina Schneider.
1 2
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Luthers späte Auswirkungen: Der analytische Molinismus
zargumente« gegen den theologischen Kompatibilismus 3 oder für die sogenannte ›Grounding objection‹ gegen den Molinismus, mit der ich mich in diesem Beitrag befassen möchte. Ihre analytische Behandlung ist exemplarisch für eine ›Quine-ianisch reglementierte‹ Debatte. Doch was ist das Verhältnis der modernen Standardlogiken zu historischen Texten und zur klassischen syllogistischen Logik, die im Gegensatz zur modernen extensionalen Logik eine inhaltlich-semantisch bestimmte Termlogik ist? Was ist das generelle Verhältnis von extensionaler Methode und inhaltlicher Philosophie? Diese Fragen finden ihren Kristallationspunkt in der von der analytischen Religionsphilosophie und Theologie vorausgesetzten modernen Mögliche-Welten-Semantik, die eine eminente Rolle in den gegenwärtigen gnadentheoretischen Debatten spielt. Sie hat ihren historischbegrifflichen Ursprung in der Jesuitenscholastik und ihrer Auseinandersetzung mit den von der Reformation aufgeworfenen Fragen. 4
1.
Der nachreformatorische Gnadenstreit: Thomismus und Molinismus
Als Antwort auf die Reformation versuchte das Konzil von Trient in seinem Rechtfertigungsdekret die katholische Lehre zu präzisieren. 5 Im Nachspiel zu diesem Dekret wurde im katholischen Raum insbesondere die gnadentheoretische Frage diskutiert, wie der Übergang von der hinreichenden Gnade (gratia sufficiens) zur wirksamen 3 Konsequenzargumente (Consequence-style Arguments) sind bereits in der Scholastik diskutierte Argumente der Form: Wenn man keine Wahl zu einer Tatsache A hat, und wenn aus A eine weitere Tatsache B folgt, dann hat man auch keine Wahl zur Tatsache B. Formal: N(A), A ! B N(B). Etwa: Wenn man keine Wahl dazu hat, dass Gott die wirksame Gnade zu einer heilsrelevanten Handlung verleiht, und aus der Verleihung der wirksamen Gnade die heilsrelevante Handlung folgt, dann hat man keine Wahl zu der heilsrelevanten Handlung. In Schneider (2016b) habe ich dargelegt, dass es in der modernen Logik für die klassischen Konsequenzargumente keine adäquaten extensionalen Modelle gibt. 4 Dieser Beitrag enthält überarbeitete und veränderte Absätze aus meinen früheren Publikationen (insbesondere der Abschnitt über die Grounding objection. Vgl. Schneider (2016a), Brüntrup/Schneider (2013). 5 Das Folgende ist eine systematische, keine historische Darstellung, daher bediene ich mich bereits Ausdrucksweisen aus dem gegenwärtigen Molinismus. Sie ist eine veränderte Fassung entsprechender Darstellungen in Schneider (2016a). Vgl. zum Folgenden insbesondere Feldner (1890), Schultes (1924), (1925) und Gredt (1936), (1953).
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Gnade (gratia efficax) kohärent zu denken sei. Der Thomismus lehrte im Gefolge von Domingo Bañez, dass es nicht die (wahl-)freie Entscheidung des Geschöpfs sei, welche die hinreichende Gnade zur wirksamen Gnade werden lasse, sondern dass die Gnade aus sich selbst heraus wirksam sei als eine Vorherbewegung (praemotio) des Willens zu heilsrelevanten Akten (gratia ex se et ab intrinseco efficax). Damit sollte die absolute Gratuität der Gnade gewährleistet werden. Ein Determinismus einer natürlichen Vorherbewegung (praemotio physica) sollte dabei dadurch verhindert werden, dass die praemotio nicht als ein auf den Willen äußerlich einwirkender actus, sondern als eine interne actuatio potentiae verstanden wird, als eine Aktuierung und Ermächtigung des potenziellen Willens, aus sich selbst heraus in den Akt überzugehen, d. h. den Übergang von Potenz zu Akt aus sich selbst heraus zu vollziehen (Aktivität in Potenzialität, ein aktiver Mitvollzug im passiven Empfangen zugleich). 6 Wie ist damit die Freiheit gewahrt? Gemäß der alten Unterscheidung kann Freiheit zum einen als Wahlfreiheit verstanden werden und zum anderen als Vollzugsfreiheit: Wahlfreiheit bedeutet, dass das Prinzip der Alternativen Möglichkeiten besteht, d. h. dass der Wille unter gleichen Umständen anders entscheiden und handeln kann. Die Zukunft ist wesentlich offen. Vollzugsfreiheit (oder Wesensfreiheit) hingegen bedeutet, dass der Wille ungehindert seine Entscheidungen und Akte aus sich selbst hervorbringen kann, ohne von außen dazu gezwungen zu werden. Ein vollzugsfreier Wille muss nicht notwendigerweise unter gleichen Umständen anders entscheiden und handeln können, die Zukunft muss daher nicht offen zu sein. Libertarische Freiheitstheoretiker vertreten Vollzugsfreiheit und Wahlfreiheit, während Kompatibilisten lediglich eine Vollzugsfreiheit (Akteurskausalität) vertreten. Der bañezianische Thomismus vertritt nun, dass im simultan aktivierten Mitvollzug durch die praemotio physica zugleich auch der Wille dazu ermächtigt wird, sich der praemotio widersetzen zu können. Vor der Vorherbewegung, im Modus der Potenz, ist der Wille passiv indifferent (indifferentia passiva) zu verschiedenen Aktsetzungen, nach dem Übergang in einen spezifischen Akt ist er aktiv indifferent (indifferentia activa), was bedeutet, dass er im Vollzug dieses Aktes eine potentia ad oppositum besitzt, d. h. die Potenz, den Akt auch wieder zu unterlassen. Freiheit besteht laut den Thomisten in der indifferentia activa, denn würde sie in der indifferentia passiva 6
Vgl. Schultes (1925), 288 und Gredt (1936), 241.
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bestehen, dann würde der Wille beim Übergang zum Akt die Freiheit selbst zerstören. Die Notwendigkeit der Vorherbewegung ist dabei nur eine necessitas sensu composito (de dicto), und keine necessitas sensu diviso (de re). Das Sich-Widersetzen-können ist jedoch nur als Potenz gegeben, die rein faktisch nie aktualisiert wird. 7 Die thomistische Konzeption der Wahlfreiheit unter dem Einfluss der praemotio physica als eine Aktuierung der Potenz, unter gleichen Umständen anders handeln zu können, aber dies faktisch nie zu tun, erscheint den Molinisten nun als nicht ausreichend, um wirklich Wahlfreiheit wahren zu können. Es entstand der Eindruck, dass es sich nur um eine ›kontrafaktische Macht‹ handle, die nicht die tatsächliche Macht ist, unter gleichen, die Prämotion einschließenden Umständen handeln zu können. Mit Molina haben die Molinisten daher einen rein simultanen Konkurs angenommen (concursus simultaneus). Erst- und Zweitursache wirken hierbei nicht wie bei den Thomisten als Totalursachen, sondern als Partialursachen. Im Molinismus wird gelehrt, dass Gott seine Gnade und Mitwirkung anbietet, aber diese angebotene Gnade und Mitwirkung erst durch die eigenständige Entscheidung des Geschöpfs zu einer tatsächlich wirksamen Gnade und tatsächlich vollzogenen Mitwirkung werden. 8 Die Souveränität Gottes über den Verlauf der Geschichte und die Gratuität der Gnade werden hierbei durch eine besondere Form des Göttlichen Wissens gewahrt: Gott weiß, wie jedes freie Geschöpf sich unter allen möglichen Umständen, in die es versetzt würde, frei entscheiden würde. Dieses Wissen ist das sogenannte Mittlere Wissen (scientia media futuribilium), es ist das atemporal-ewige göttliche Wissen um alle prävolitionalen und kontingenten Wahrheiten, das als Untermenge alle kontra- bzw. präfaktischen Konditionale geschöpflicher Freiheit (Counterfactuals of creaturely freedom, im Folgenden: CCF) enthält: (CCF) »Wenn das Individuum P sich in Umständen U befinden würde, dann würde es aus freier Entscheidung Handlung H ausführen«, formal: P(U) ! P(H) oder kurz: U ! H (wobei » !« die kontrafaktische Implikation bezeichnet).
Vgl. Feldner (1890), insbes. 84, 202 f., 220–222, und entspr. Gredt (1953). Vgl. hierzu und zum Folgenden Schneider (2016a), 135–175, und Brüntrup/Schneider (2013).
7 8
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Der Molinismus ist sodann die These, dass Mittleres Wissen existiert. 9 Es ist im Übergang zwischen dem natürlichen und dem freien Wissen Gottes angesiedelt: Das Natürliche Wissen (scientia naturalis) ist das göttliche Wissen um alle notwendigen Wahrheiten und um alle möglichen Weltzustände (statūs), dieses Wissen ist prävolitional (d. h. dem göttlichen Willen entzogen und vorgeordnet). Hierbei spreche ich explizit von ›möglichen Weltzuständen (statūs)‹ und noch nicht von ›möglichen Welten‹ wie die analytische Philosophie, da dies unten genau der zentrale Diskussionspunkt sein wird. Das Freie Wissen (scientia libera) ist das atemporale göttliche Wissen um alle Sachverhalte in der aktualen Welt (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft); dieses Wissen ist postvolitional (dem göttlichen Willensbeschluss, eine bestimmte Welt zu erschaffen, nachgeordnet) und kontingent (da vom Willen Gottes abhängig; es könnte auch anders sein). Das Mittlere Wissen ist wie das natürliche Wissen prävolitional, d. h. die Wahrheitswerte der kontrafaktischen Konditionale sind dem göttlichen Willen entzogen – aber es ist wie das freie Wissen kontingent, da es ein Wissen um kontingente Sachverhalte wie kontrafaktische Konditionale der Freiheit ist. Gott kann jeden möglichen Weltzustand erschaffen, in dem ein freies Geschöpf so handelt, wie Gott es will, aber nicht in jedem möglichen Weltzustand handelt ein Geschöpf so, wie es selbst es will: Gott kann sich gegen den Willen der Geschöpfe nur dadurch durchsetzen, dass er ihren Willen bricht, wodurch die Geschöpfe nicht mehr frei sind. Weltzustände mit freien Geschöpfen kann er nur entsprechend den Vorgaben aus dem Mittleren Wissen erschaffen. Dies bedeutet jedoch nur eine Beschränkung der göttlichen Allmacht durch die Widerspruchsfreiheit, ansonsten ist die göttliche Souveränität dadurch gewahrt, dass das Mittlere Wissen unendlich viele Kombinationsmöglichkeiten und unendlich viele mit dem freien Willen kompatible mögliche Weltzustände enthält. Im Allgemeinen wird der Molinismus als eine libertarische Position klassifiziert, d. h. er behauptet, dass die freien Geschöpfe sowohl vollzugsfrei als auch wahlfrei sind. Vgl. Perszyk/Mares (2011), 96. Streng genommen muss unterschieden werden zwischen klassischem Molinismus und dem kontemporären analytischen Molinismus. Der klassische Molinismus, wie er von Molina und seinen historischen Anhängern verfochten wurde, vertritt ein a-temporales Gottesbild; das Mittlere Wissen ist also ewiges Wissen im Sinne eines a-temporalen Wissens. In der gegenwärtigen analytischen Debatte wird jedoch auch ein »sempiternalist Molinism« vertreten, vgl. Jäger (2013).
9
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2.
Die Logik und Semantik kontrafaktischer Konditionale
Den wohl entscheidensten Beitrag bzw. die entscheidendste Voraussetzung zur Entwicklung des analytischen Molinismus im 20. Jahrhundert bildet die Herausarbeitung der Logik und Semantik der sogenannten subjunctive conditionals (sog. Konjunktiv-Konditionale im Gegensatz zu indicative conditionals) in der modernen mathematischen Logik und analytischen Philosophie. 10 Ein logisches System ist in der modernen Logik stets zusammengesetzt aus einem uninterpretierten syntaktischem Sequenzenkalkül und dazugehörigen semantischen Interpretationen bzw. Modellen. Als die prominentesten Beispiele für logisch-semantische Theorien über subjunctive conditionals gelten die Systeme von Stalnaker (1968, Vgl. Stalnaker 1981) und Lewis (1973). Diese Theorien etablieren zum einen eine logische Syntax für Konditionale, deren Antezedens- und Konsequens-Bedingungen falsch sind (sog. echte counterfactuals, bzw. kontrafaktische Konditionale) und subjunctive conditionals, die wahre Antezedensund Konsequenzbedingungen besitzen und semifactuals (mit falschem Antezedens und wahrem Konsequens). D. h. es handelt sich um aussagen- und prädikatenlogische Kalküle mit zusätzlichen Formregeln und Axiomen für Konditionale und zugehörigen semantischen Interpretationen bzw. Modellen. Die für den analytischen Molinismus wichtigen Konditionale sind hierbei might- und wouldconditionals: »If it were the case that p, then it would be the case that q«, formal: p ! q. »If it were the case that p, then it might be the case that q«, formal: p ◊! q. Im Unterschied zu materialen Konditionalen sind bei der Wahrheitswertbestimmung von subjunctive conditionals weitere Faktoren zu betrachten (da sie nicht weitere Unterformen von strikten Konditionalen sind): Zur Bestimmung der Wahrheitswerte und der dazu nötigen weiteren Faktoren wurde daher die in der Modallogik schon bekannte Mögliche-Welten-Semantik erweitert: Ein kontrafaktisches Konditional p ! q ist in der aktualen Welt wahr genau dann, wenn p in allen möglichen Welten wahr ist, in denen auch q wahr ist, und 10
Vgl. hierzu und zum Folgenden Schneider (2016a), 159–170.
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wenn zusätzlich diese möglichen Welten in einer bestimmte Ähnlichkeitsrelation zur aktualen Welt stehen. Entsprechend der Bestimmung dieser Ähnlichkeitsrelation lassen sich die Semantiken für kontrafaktische Konditionale in drei große Theorieklassen unterteilen: 1. Minimal Change Theories, 2. Small Change Theories, 3. Maximal Change Theories. Minimal Change Theories vertreten die These, dass ein kontrafaktisches Konditional dann und nur dann wahr ist, wenn die entsprechenden möglichen Welten umfassende Ähnlichkeitsrelationen erfüllen (kontrafaktische Konditionale sind in der aktualen Welt wahr, wenn ihre Antezedens- und Konsequensbedingungen in allen Welten wahr sind, die sich nur minimal von der aktualen Welt unterscheiden) – während Maximal Change Theories auf umfassende Ähnlichkeiten von Welten verzichten. Small Change Theories stehen zwischen diesen beiden Theorieklassen. David Lewis führt in seiner Minimal Change Theory anschaulich aus: ›If kangaroos had no tails, they would topple over‹ is true (or false, as the case may be) at our world, quite without regard to those possible worlds where kangaroos walk around on crutches, and stay upright that way. Those worlds are too far away from ours. What is meant by the counterfactual is that, things being pretty much as they are—the scarcity of crutches for kangaroos being pretty much as it actually is, the kangaroos’ inability to use crutches being pretty much as it actually is, and so on—if kangaroos had no tails they would topple over. 11
Lewis drückt dies topologisch durch ein Sphärenmodell (»Ptolemaic astronomy«) aus: 12 Wenn eine Welt w punktförmig als Mittelpunkt konzentrischer ›Sphären‹ (Kreise oder Kugeln) aufgefasst wird, welche alle Welten bestimmter ›Ähnlichkeits-Abstände‹ enthalten, dann gilt: Wenn es eine Sphäre S um w gibt, die eine Welt u enthält, aber nicht die Welt v, dann ist u ›näher‹ an w oder ›ähnlicher‹ zu w als v. Die Wahrheitsbedingung für ein kontrafaktisches Konditional p ! q bedeutet in dieser Topologie dann: p ! q ist wahr, wenn alle zu w nächstähnlichen Welten, in denen p der Fall ist, auch Welten sind, in denen q der Fall ist – oder anders ausgedrückt: Wenn die (Teil-)Menge aller p-Welten in der Sphäre der zu w ähnlichsten Welten eine echte Teilmenge aller q-Welten in dieser Sphäre ist. Wir haben es hier also mit einem extensionalen (d. h. mengentheoretischen) Modell für die Wahrheitsbedingungen von kontrafaktischen Konditionalen zu tun. 11 12
Lewis (1973), 8 f. Vgl. Lewis (1973), 13–19.
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Luthers späte Auswirkungen: Der analytische Molinismus
Damit ist die Grundlage für eine Behandlung des Molinismus unter dem Paradigma einer formallogisch reglementierten Sprache gegeben. Die Entwicklung extensionaler, mengentheoretischer Modelle für die logische Syntax kontrafakischer Konditionale ist ausgesprochen umfangreich und verzweigt geworden, und nicht alle Modellbildungen sind geeignete Modelle für molinistische Theorien, doch in der Regel werden Minimal Change Theories zugrundegelegt, insbesondere das Modell von Lewis bzw. die Lewis-Stalnaker-Semantik. 13 Wie sich die extensionale Modellbildung in den molinistischen Debatten konkret niederschlägt, zeigt sich nun im Folgenden an der Diskussion eines Haupteinwandes gegen den (analytischen) Molinismus.
3.
Haupteinwände gegen den Molinismus: Die »Grounding objection«
3.1 Die logisch-semantische Botanik der Einwände Die Einwände gegen den (analytischen) Molinismus in der gegenwärtigen Debatte unterteilen sich in theoretische und praktische Einwände. Erstere, die theoretischen Einwände, beziehen sich auf die theoretische Kohärenz des Begriffs des Mittleren Wissens und letztere betreffen angewandte theologische Probleme. Nach Perszyk (2013, 755 ff.) sind die theoretischen Einwände gegen die Konzeption des Mittleren Wissens in drei Klassen einteilbar. Ich möchte diese Unterteilung ergänzen durch eine Verfeinerung, welche jenen zentralen Unterschied zwischen formaler Logik als syntaktisches System und dessen semantischen Interpretation, auf den ich unten eingehen möchte, zur Geltung bringt: 14 1. Einwände, die sich zwar im Beweisgang unterscheiden, aber die gemeinsame Konklusion haben, dass es überhaupt keine wahren kontrafaktischen Freiheitskonditionale bzw. CCFs geben kann: (a) Logisch-syntaktische Einwände: Z. B. das »might-problem«. Hierbei handelt es sich um ein Problem rein auf der Ebene der uninterpretierten logischen Syntax, es wird die syntaktische Vereinbarkeit der Interdefinition von might13 14
Für eine Übersicht vgl. Nute/Cross (2002) und Bennett (2006). Vgl. zudem Jensen (2008), 11. vgl. Perzyk/Mares (2011), 97 f.
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Ruben Schneider
2.
3.
und would-conditionals mit dem Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten für CCFs diskutiert. (b) Logisch-semantische Einwände: Z. B. das »tie-problem«. Hierbei handelt es sich um ein Problem auf der Ebene der semantischen Interpretation der logischen Syntax (um ein Problem der Evaluierung der Wahrheitswerte vom CCFs in Minimal Change Theories). Darauf sei hier nicht eingegangen. (c) Semantisch-metaphysische Einwände: i. Die Grounding Objection: Wenn die Wahrheitswerte der CCFs unabhängig vom Willen Gottes sind (prävolitional), aber auch logisch vorgängig zum Schöpfungsakt und damit zur aktualen Existenz freier Geschöpfe sind, woher stammen diese Wahrheitswerte dann? Worin sind sie begründet (grounding)? ii. Das »bringing-about-problem«: Dies ist das Determinismusproblem der scientia media. Bedroht die prävolitionale Wahrheit der CCFs nicht das libertarische Freiheitsverständnis? Kann ein geschaffenes Individuum die freien Aktsetzungen wirklich aus sich selbst hervorbringen (bringing about), wenn die Wahrheitswerte der CCFs bereits von Ewigkeit her feststehen? Einwände, welche die Konklusion teilen, dass es zwar wahre CCFs geben kann, aber nicht vorgängig zum Schöpfungsakt: (a) Logisch-semantische Einwände: Z. B. das Priority Problem. Die Wahrheitswerte der CCFs hängen nach den MinimalChange Theories davon ab, welche Welt die aktuale ist – dies konfligiert mit der These ihrer explanatorischen Priorität und der These, dass die wahren CCFs entscheidungsleitend sind in Gottes Schöpfungsaktivität. Das Priority Problem ist eng verwoben mit der Grounding Objection, aber von dieser verschieden. (b) Semantisch-metaphysische Einwände: Die Frage nach dem ontologischen Status möglicher Welten. Einwände, welche die gemeinsame Konklusion besitzen, dass es zwar vorgängig zum Schöpfungsakt wahre CCFs geben kann, dass jedoch Gott ihre Wahrheitswerte prinzipiell nicht wissen könne (epistemologische Einwände): (a) Gibt es ein Wissen von grounded true CCFs?
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(b) Gibt es ein Wissen von ungrounded true CCFs? Wenn für CCFs das Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten gilt, d. h. (C ! A) v (C ! :A), dann können beide Disjunkte nicht gleichzeitig falsch sein, eines von beiden muss wahr sein. Es folgt: Da ein allwissender Gott per definitionem alle Wahrheiten kennt, kennt er also auch alle wahren CCFs. Diese »veritas-determinata«-Auffassung wurde u. a. von Suárez vertreten. Sie sieht sich jedoch schwerwiegender Kritik ausgesetzt: Bereits Leibniz wandte gegen Suárez ein, dass auch wenn CCFs entweder wahr oder falsch sind, die grundlegende Frage doch darin besteht, woher die CCFs die Bestimmtheit ihrer Wahrheitswerte erhalten. 15 Im Folgenden möchte ich mich mit der Grounding Objection befassen. Die Diskussion dieser Grounding-Einwände mag ein wenig zermürbend sein, aber sie ist exemplarisch für Stil und Herangehensweise der analytischen Religionsphilosophie und führt zum Kern meiner Fragestellung in diesem Beitrag.
3.2 Grounding-Objection(s) 3.2.1 Die Problemstellung: Worin gründet das Mittlere Wissen? In der analytischen Religionsphilosophie wurde ein damit bezeichneter Einwand zuerst von Adams (1977) erhoben. Adams betrachtet das bereits von Molina angeführte 16 biblische Beispiel: 1. »If David stayed in Keilah, Saul would besiege the city.« 2. »If David stayed in Keilah and Saul besieged the city, the men of Keilah would surrender David to Saul.« 17 Da David nicht in Keilah geblieben ist, sind beide Konditionale strikt kontrafaktisch, d. h. sowohl Antezedens als auch Konsequens sind falsch. Adams untersucht sodann die Möglichkeiten, die seiner An-
Vgl. Craig (1988), 212 und Ramelow (1997), 229. Heute vertritt u. a. Jäger (2010), (2015) diese Veritas-determinata-Auffasung. 16 Vgl. Concordia, IV, disp. 49, 9: »Item 1 Reg cap. 23,10–12 consulit David Dominum, num Saul descensurus esset in Ceilam, et respondit Dominus […]. Ecce Deus duo illa futura contingentia quae ab humano arbitrio pendebant agnovit et revelavit Davidi, quae tamen numquam in rerum natura extiterunt aut existent ac proinde neque in aeternitate.« 17 Adams (1977), 110. 15
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sicht nach den Grund der Wahrheit dieser Konditionale liefern könnten, und schließt sie der Reihe nach aus: Weder aktuale Ereignisse (da sie nicht existieren) noch eine notwendige Verknüpfung von Antezedens und Konsequens (da sie die Konditionale ihrer Kontingenz berauben würden) noch Charaktere und Intentionen der beteiligten Individuen noch Wahrscheinlichkeiten können diese Konditionale wahr machen (da die letzteren beiden Möglichkeiten in keiner Weise die Wahrheit der Konditionale enthalten). 18 Die Wahrheit der Konditionale würde einen kontingenten Grund erfordern, der diese Wahrheit enthält (entails), aber ihre Kontingenz nicht aufhebt. Ein solcher Grund ist aber nach Adams unmöglich. 19 Adams (1977) gilt als Intiierung der Debatte über die sogenannte ›Grounding Objection‹. Es lässt sich in der anti-molinistischen Literatur eine ganze Reihe verschiedener Artikulationen der zugrundeliegenden, oft sehr vagen Intuitionen dieses Einwandes ausmachen. Alle Varianten teilen die Intuition, dass es im prävolitionalen Status des göttlichen Wissens noch keine ausreichend charakterisierbare ›Wirklichkeit‹ gibt, welche in irgendeiner Weise der Bezugspunkt dieses Wissens sein könnte. Während in der scientia naturalis die kohärente Verknüpfung von Ideen den hinreichenden Grund für die in ihr ›enthaltenen‹ Wahrheiten zu liefern scheint, und im Status der scientia libera eine bereits erschaffene kontingente ›außergöttliche‹ Wirklichkeit vorliegt (wie auch immer das näher zu verstehen sein mag), die das ›Objekt‹ dieses Wissens darstellt, 20 so scheint die scientia media auf eigenartige Weise in der Luft zu hängen: 1. William L. Craig (2001, 337 f.) spricht davon, dass es nichts gebe, was die CCFs ›wahr macht‹, dass es für sie keinen »ground of truth« gebe. 2. William Hasker (2011, 25–27) behauptet, dass alle wahren kontingenten Propositionen einen »ground in reality« benötigen (was einen sogenannten ›Truthmaker Maximalism‹ darstellt), und dass dieser Grund in der Realität in konkreten ›states‹ oder ›events‹ bestehen müsse, was beim Mittleren Wissen nicht der Fall sein könne, da es logisch vorgängig zur konkreten Welt bestehe.
18 19 20
Vgl. Adams (1977), 110–116; Jensen (2008), 21–25. Vgl. Adams (1977), ebd.; Jensen (2008), 24 f. Vgl. Wierenga (2011), 212.
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3.
Robert Adams (1977, 110) spricht davon, dass es vorgängig zum Schöpfungsakt keine Ereignisse gibt, mit denen die kontrafaktischen Konditionale in Korrespondenz stehen. 4. Thomas P. Flint (1998, 123–125) interpretiert ›truthmaking‹ als ein kausales Verhältnis: Was verursacht die Wahrheitswerte der CCF vorgängig zum Schöpfungsakt? Hasker spricht analog von einem nötigen ›bringing about‹ der Wahrheitswerte der CCF durch konkrete Akteure. 5. W. N. Clarke (2001, 242) schließlich bezieht sich darauf, dass ein noch nicht erschaffener Wille keine Entscheidungen treffen könne und dass es für freie Entscheidungen eines aktualen Individuums der Entscheidung bedarf. Alle fünf Varianten illustrieren also bei genauerem Hinsehen ziemlich unterschiedliche Aspekte der zugrundeliegenden Intuition, die eine ganze Reihe unterschiedlicher (erkenntnis-)metaphysischer Rahmenbedingungen und Annahmen mit sich führen (Truthmaking, konkrete Ereignisse, Korrespondenz, Kausalität, Aktualität). In ihrer 2008 erschienen und vom analytischen Molinisten Thomas Flint betreuten Dissertation über die ›Grounding Objection‹ gibt Jennifer Lynn Jensen eine detaillierte Analyse nahezu aller maßgeblichen Argumente, die in dieser molinistischen Subdebatte mit dem Titel ›Grounding Objection‹ diskutiert werden. Diese Dissertation stellt die gegenwärtig wohl umfassendste Untersuchung zu dem uneinheitlichen Feld dieser Subdebatte dar, und ich möchte den Argumentationsgang von Jensen im Folgenden nachzeichnen. Zunächst extrahiert Jensen die gemeinsame logische Form aller dieser Objektionen. Für Propositionen p gelte: Gp := ›p ist eine Proposition vom Typ G‹, Cp := ›p ist ein wahres CCF‹, dann stellt sich die logische Struktur dieser Argumente dergestalt dar: 21
1. 2. 3.
8p (Gp � y) [Für alle p gilt notwendig: Wenn p vom Typ G ist, dann muss eine Bedingung y gelten.] 8p (Cp � Gp) [Für alle p gilt notwendig: Wenn p ein wahres CCF ist, dann ist p vom Typ G.] 8p (Cp � :y) [Für alle p gilt notwendig notwendig: Wenn p ein wahres CCF ist, dann gilt Bedingung y nicht.]
Vgl. Jensen (2008), 19. Die von Jensen verwendeten formalen Notationen sind hier leicht verändert, wurden mir von Jensen aber als korrekt bestätigt.
21
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4.
8p (:Cp) [Für alle p gilt notwendig, dass p kein wahres CCF ist.]
Satz (1.) stellt ein näher zu spezifizierendes Prinzip dar, das von den ›Grounding Objectors‹ in Anspruch genommen wird und durch welches verschiedene Arten von ›Grounding Objections‹ unterschieden werden können. Jensen unterteilt hierbei zwei Klassen von Objektionen: ›Truthmaker-style Grounding Objections‹ und ›Causal-style Grounding Objections‹, die im Folgenden dargestellt werden. 22 3.2.2 ›Truthmaker-style Grounding Objections‹ Bezüglich der ersten Klasse werden weiterhin zwei verschiedene Versionen von ›Truthmaker-‹ oder ›Grounding-Principles‹, die in den Argumenten von Robert Adams und William Hasker zur Geltung gebracht werden, und ein von David M. Armstrong vorgestelltes Prinzip unterschieden (für Propositionen p gelte: ›Tp‹ := ›p ist eine wahre Proposition‹, ›CCp‹ := ›p ist eine wahre kontingente Proposition‹ und ›tm‹ = ›truth-maker‹): Truthmaker-Grounding Principles: 23 (a) Adams: 8p (Tp � 9v(v occurs ^ (v occurs � p corresponds to v))) (b) Hasker: 8p (CCp � 9s(s obtains ^ (v obtains � s grounds p))) (c) Armstrong: 8p (p � 9tm(tm is actual ^ (tm is actual � tm makes true p))) (a) stellt eine sogenannte ›correspondence truthmaker relation‹ (CTT) dar, (b) ist eine ›grounding relation‹ und (c) ist eine ›truthmaker relation‹ (TM). Im Fall von Haskers ›grounding relation‹ (b) stellt sich die Grounding Objection also wie folgt dar (mit ›Cp‹ := ›p ist ein CCF‹ ; die anderen Fälle laufen analog): 5. 6.
22 23
»8p (CCp � 9s(s obtains ^ (v obtains � s grounds p))) 8p (Cp � CCp)
Vgl. Jensen (2008), 14. Vgl. Jensen (2008), 55 f.
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7. 8.
8p (Cp � :9s(s obtains ^ (v obtains � s grounds p))) 8p (:Cp)« 24
Jensen untersucht nun, ob (a) bis (c) nur verschiedene Namen für ein und dieselbe Relation sind. ›Grounding‹ denotiert eine Relation zwischen wahren Propositionen und Entitäten ›in der Welt‹, und wird oft als eine ›truthmaker relation‹ aufgefasst. Die ›correspondence relation‹ (a) und die ›truthmaker relation‹ (c) sind verschiedene Relationen, die durch verschiedene Theorien expliziert werden. Einwände gegen die Truthmaker Grounding Principles sind daher immer nur Einwände gegen spezifische Theorien. 25 Für die ›Grounding Relation‹ dagegen gibt es keine hinreichend ausgearbeitete Theorie, vielmehr wird diese Relation zumeist durch eine der beiden anderen Relationen interpretiert: Armstrong (1997) expliziert Korrespondenz als Relation zwischen ›truth‹ und ›truthmaker‹ ; Bigelow (1988) identifiziert die correspondence relation und die truthmaker relation. Eine schwächere These als diese völlige Identifizierung wäre Merricks ›Truth supervenes on being‹. 26 Um die These der Identität der truthmaker relation und der correspondence relation zu klären, müssen die zentralen Eigenschaften beider Relationen untersucht werden: Armstrongs truthmaker relation (TM) 8p (p � 9tm(tm is actual ^ (tm is actual � tm makes true p))) ist zunächst und grundlegend •
•
•
24 25 26 27
trans-kategorial (sie verknüpft Propositionen mit Entitäten eines anderen kategorialen Bereichs, nämlich Entitäten ›in der Welt‹), sie ist ontologisch neutral (verschiedenste Kandidaten für truthmaker sind möglich: Konkrete Entitäten, abstrakte Entitäten, Fakten, Sachverhalte, …), und es gilt für sie die These des ›Truthmaker Maximalism‹ : ›Every truth has a truthmaker‹. 27
Jensen (2008), 36. Vgl. Jensen (2008), 57. Vgl. Jensen (2008), 59–61. Vgl. Jensen (2008), 60–64.
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Es ergeben sich vier zentrale Eigenschaften der TM-relation: 28 (1) Die TM-relation ist nicht kausal. Stattdessen wird von einer ›in virtue of‹-relation gesprochen oder von ›y is the reason for x‹. (2) Die TM-relation ist notwendig (Truthmaker Necessitarianism): In jeder möglichen Welt, in der ein truthmaker für eine bestimmte Proposition p aktual ist, ist p wahr. Dies besagt aber kein ›entailment‹, welches nur zwischen Propositionen bestehen kann. Weiterhin gilt: Der TM-Maximalism impliziert den TMNecessitarianism. (3) Die TM-relation ist nicht notwendigerweise eine ›one-to-one relation‹ (eine wahre Proposition kann mehrere truthmaker zugleich haben). (4) Die TM-relation ist asymmetrisch: Der truthmaker macht die Proposition wahr, aber die Proposition macht nicht umgekehrt den truthmaker aktual (der thruthmaker ist der ›ontological ground‹ der Proposition). Durch das ›problem of negative existential propositions‹ wurde die TM-Theory zu Merricks’ These des ›truth supervenes on being‹ (TSB-Theory) modifiziert: Negative Existenzaussagen sind in der aktualen Welt wahr, weil sie keine ›falsemaker‹, die konkret existierende Entitäten sind, besitzen. Diese Theorie basiert auf dem folgenden Prinzip: (TSB) »For any proposition P and any worlds W and V, if P is true in W but not in V, then either something exists in V but not in W (or vice versa) or something has a property in V that it lacks in W (or vice versa).« 29 TSB ist ontologisch neutral, es unterliegt nicht dem TM-Maximalism (nicht jede wahre Proposition braucht einen truthmaker, sondern Wahrheit superveniert auf ›being‹, indem sie entweder einen truthmaker oder keinen falsemaker besitzt), und von den Eigenschaften (1) bis (4) der TM-Relation lassen sich Eigenschaft (1) bis (3) ebenfalls von TSB aussagen, (4) jedoch nicht, denn TSB expliziert eine symmetrische Relation: 30 »It would seem incidentally that not only truth supervenes on being but being supervenes on truth. For if anything that has being did not have being, then something in the world would 28 29 30
Vgl. Jensen (2008), 64–67. Vgl. Jensen (2008), 71. Vgl. Jensen (2008), 72.
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not be true. Supervenience is symmetrical.« 31 Damit verliert TSB die Intuition, die hinter TM steht, dass nämlich truthmaker der ontologische Grund der Wahrheit von Propositionen sind und nicht umgekehrt. 32 Wie stehen nun ›Truthmaking‹ und die klassische Idee der Wahrheit als Korrespondenz zueinander? Die ›Correspondence Relation‹ laute in einer paradigmatischen Version, die sich auf die klassischen Artikulationen von Aristoteles, Moore und Russell stützt, 33 nun folgendermaßen: (CORR) 8p(p iff (9x(x is actual ^ (x is actual to x)))
! p corresponds
(CORR) ist weitgehend ontologisch neutral. Mögliche Kandidaten für den ›truthbearer‹ p sind nach Jensen (2008, 77): Überzeugungen (beliefs), Gedanken (thoughts), Ideen (ideas), Urteile, usw. Mögliche Kandidaten für die ›truthmaker‹ sind nach Jensen Fakten, Sachverhalte, Ereignisse, Objekte, Konfigurationen von Objekten, Mengen, Eigenschaften, Tropes und dergleichen. Die Korrespondenzrelation selbst kann dann intuitiv durch folgende Ausdrücke beschrieben werden: »conformity, congruence, agreement, accordance, copying, picturing, signification, representation, reference, satisfaction«. 34 Jensen gibt sodann eine ›entailment version‹ der Korrespondenzrelation an: (CTT)
8p( (p � (9x(x is actual ^ (x is actual � p corresponds to x)))) ^ ((9x(x is actual ^ (x is actual � p corresponds to x))) � p)) 35
(CTT) ist ebenfalls weitgehend ›ontologically neutral‹. Doch bezüglich der vier zentralen Eigenschaften der TM-Relation gelten für (CTT) ebenfalls die ersten drei: 36 (1) (CTT) ist keine kausale Relation. (2) (CTT) ist eine notwendige Relation.
31 32 33 34 35 36
Armstrong (2004), 8; Vgl. Jensen (2008), 74. Vgl. Jensen (2008), 74. Vgl. Jensen (2008), 75 und 77. Jensen (2008), 77. Vgl. Jensen (2008), 79. Vgl. Jensen (2008), 78–81.
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(3) (CTT) ist nicht notwendigerweise eine Eins-zu-eins-Relation (kann aber eine solche Relation sein, wenn die Korrespondenz als Isomorphismus aufgefasst wird) 37 . Jedoch Eigenschaft (4) gilt für (CTT) nicht mehr: (CTT) ist symmetrisch. Es gibt unendlich viel mehr Instanzen der Korrespondenzrelation (CTT) als der Truthmaker-Relation (TM), so dass sich eine Symmetrie herstellen lässt. Es ist gerade die Asymmetrie, welche die Truthmaker-Relation zu einer beliebten Relation der Grounding Objection macht. 38 Weiterhin führten Einwände gegen die TM-Relation zur TSB-Relation, welche erlaubt, dass eine Proposition aufgrund des Fehlens von ›falsemakern‹ wahr ist. Die zentrale Idee hinter (TSB) ist, dass jeder Unterschied auf Ebene existenter Entitäten ›in der Welt‹ auch einen Unterschied darin macht, welche Propositionen wahr sind – und vice versa. 39 (CTT) erlaubt, dass 8p (p � (9x(x is actual ^ (x is actual � p corresponds to x)))). Doch TSB dagegen negiert, dass 8p (p � (9x(x is actual ^ (x is actual � p supervenes on x)))), da es, wie Trenton Merricks herausstellte, für die Wahrheit einer Proposition eben keiner positiv aktual existenten Entität bedarf, sondern auch das Fehlen eines ›falsemakers‹ hinreicht. Damit ist insgesamt erwiesen, dass (CTT) und (TM) nicht identisch sein können. Korrespondenz ist also nicht dasselbe wie ›Truthmaking‹. 40 Sowohl (CTT) als auch (TM) besagen, dass es eine notwendige Verknüpfung zwischen Existenz ›in der Welt‹ und Wahrheit gibt. Auf dieser Basis wird gegen die Theorie des mittleren Wissens bzw. den Molinismus pauschal eingewandt, dass es eben keine existierenden Entitäten geben kann, welche in Relation zu einem Konditional stehen können, das kontingent ist und dessen Antezedens falsch ist. Dennoch ist es unerlässlich zu beachten, dass die verwendeten Relationen und die sie begründenden Theorien nicht immer dieselben, was auch bedeutet, dass man es mit verschiedenen Grounding Objections zu tun hat, und dass weder ein Beweis für noch eine Ableh-
37 38 39 40
Vgl. Jensen (2008), 80 f. Vgl. Jensen (2008), 81. Vgl. Jensen (2008), 83 f. Vgl. Jensen (2008), 84.
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nung der einen Grounding Objection auch ein Beweis für bzw. eine Ablehnung der anderen Grounding Objection ist. 41 Wenn die Molinistin einer ›Truthmaker-style Grounding Objection‹, die mit dem Prinzip (TM) arbeitet, begegnen will, muss er also die Frage beantworten können, was unter diesem Prinzip als Truthmaker für CCFs fungieren kann. Wie eingangs bereits wiedergegeben, kann es nach Adams keinen Truthmaker geben, der die Wahrheit des entsprechenden CCF garantiert und die Kontingenz des CCF nicht aufhebt. Ausgeschlossen sind nämlich sowohl aktuale Ereignisse, als auch eine notwendige Verknüpfung von Antezedens und Konsequens, der Charakter des Individuums und Wahrscheinlichkeiten. Jensen (2008, 104 f.) führt als mögliche Kandidaten für Truthmaker jedoch Fakten bezüglich counterfactual properties an, die einem entsprechenden Individuum (bzw. seiner ›individual essence‹) zukommen – derartige Fakten bezüglich kontrafaktischen Eigenschaften sind nicht ausgeschlossen, da (TM) ontologisch neutral ist. Dasselbe kann nun gegen ›Truthmaker-style Grounding Objections‹, die mit Korrespondenzrelationen vom Typ (CORR) oder (CTT) arbeiten, ins Feld geführt werden. Adams spricht im einleitenden Zitat (Grounding III) spezifisch von ›occurrence‹ und ›events‹, jedoch lässt sich sein Truthmaker-Prinzip als eine Korrespondenzrelation deuten: Jede kontingente Proposition muss nach Adams einem Ereignis korrespondieren, und jedes Ereignis steht in einer Eins-zu-einsRelation zu einem Sachverhalt, also muss jede kontingente Proposition (und damit auch jedes kontingente Konditional) einem Sachverhalt korrespondieren. 42 Eine Grounding Objection nach Adams würde damit lauten (mit ›Tp‹ = ›p ist eine wahre Proposition‹, ›Cp‹ = ›p ist ein CCF‹): 43 9. 10. 11. 12.
8p 8p 8p 8p
(Tp � 9v(v occurs and (v occurs � p corresponds to v))) (Cp � Tp) (Cp � :9v(v occurs and (v occurs � p corresponds to v))) (:Cp)
Vgl. Jensen (2008), 86–88. Das Truthmaker-Prinzip (TM) besitzt noch eine Reihe weiterer Probleme, wie das des Präsentismus (was sind die ›actual truthmaker‹ vergangener Ereignisse?) und das negativer Existenzaussagen, die jedoch hier keine Rolle spielen, vgl. Jensen (2008), 94–100. 42 Vgl. Jensen (2008), 112. 43 Vgl. Jensen (2008), 106. 41
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Jensen (2008, 106–110) zeigt, dass (9.) zwar zugestanden werden kann, dass aber aber (11.) falsch ist. Denn auch hier lassen sich counterfactual properties, counterfactual states of affairs oder spezifische counterfactual entities (und Fakten bezüglich dieser) angeben, welche die entsprechende metaphysische Arbeit leisten können, um die Wahrheitswerte der CCFs in diesem Sinne zu begründen. Im Fall der ›Truthmaker-style Grounding Objection‹ von Hasker (Prinzip (b) bzw. (5.) in Haskers Argument) hingegen gilt: (b) bzw. (5.) kann tatsächlich nicht von CFFs saturiert werden. (5.) ist eine Version des Truthmaker Prinzips (TM), mit dem Unterschied, dass es von ›grounding‹ spricht und nicht von ›truthmaking‹. Jedoch wird ›grounding‹ als eine Art des ›truthmaking‹ verstanden, die nur für kontingente Propositionen gilt. (5.) fordert nun als Truthmaker für wahre Propositionen das Bestehen von kategorischen Sachverhalte (categorical states of affairs), auch für kontingente Konditionale: Sie sind gegründet entweder in der Negation des Antezedens oder in der Assertion des Konsequens. 44 Für strikte CCFs hingegen ist das Nichtbestehens des im Antezedens angegebenen Sachverhalts keine Begründung des CCF (da die freie Entscheidung auch anders ausfallen könnte), und der Sachverhalt des Konsequens schlichtweg nicht besteht. Daher besitzen CCFs gemäß (5.) kein ›Grounding‹. 45 Wenn die Molinistin also die Position vertritt, dass CCFs eines ›Grounding‹ bedürfen, dann muss er Prinzip (5.) als ›Grounding Principle‹ ablehnen. Da weder Hasker noch sonst ein Kritiker des Molinismus bisher ein belastbares Argument für (5.) vorgelegt hat, wird dies der Molinistin auch keine besonderen Schwierigkeiten bereiten. Zudem scheint die Restriktion der ontologischen Kandidaten für das ›Grounding‹ auf kategorische Sachverhalte eine petitio principii zu sein, denn niemand wird zur Begründung der Wahrheit von strikt kontrafaktischen Konditionalen nach kategorischen Sachverhalten Ausschau halten. 46 Insgesamt zeigt sich also: ›Truthmaking‹ ist nicht identisch mit Korrespondenz, und ›Grounding‹ ist eine restringierte Unterform von ›Truthmaking‹. Während ›Truthmaker‹-Einwänden mit einer Theorie kontrafaktischer Eigenschaften begegnet werden kann, muss
44 45 46
Vgl. Jensen (2008), 110–113. Vgl. Jensen (2008), 113 f. Vgl. Jensen (2008), 114–117.
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bei ›Grounding‹-Einwänden das vorausgesetzte ›Grounding‹-Prinzip abgelehnt werden. 47 3.2.3 ›Causal-style Grounding Objections‹ und individuelle Essenzen Zwei fundamentale Probleme der Lösungsversuche für ›Truthmakerstyle Grounding Objections‹ sind zum einen, dass die Postulierung von counterfactual properties/entities oder counterfactual states of affairs (und Fakten bezüglich solcher Eigenschaften/Entitäten/Sachverhalte) vielleicht die Wahrheitswerte von CCFs implizieren mag, dies aber keine wirkliche Erklärung (explanation) liefert, warum die CCFs genau so sind, wie sie sind – und zum anderen, dass die kontrafaktischen Entitäten zunächst einfach ad hoc postuliert sind. Das erste dieser beiden Probleme führt zu der zweiten Kategorie von ›Grounding Objections‹ gegen das Mittlere Wissen, nämlich zu den sogenannten ›Causal-style Grounding Objections‹. Sie artikulieren nach Jensen (2008, 118–121) die eigentliche, tiefere Intuition der ›Grounding Objection(s)‹ : Die Frage, warum ein CCF seinen bestimmten Wahrheitswert besitzt, kann nicht ohne Einbezug des Subjekts des CCF (des Individuums, von dem es spricht) beantwortet werden. Mit anderen Worten: Ohne Einbezug des Akteurs und seiner Akteursverursachung ist die Frage nach dem ›Warum‹ der Beschaffenheit eines CCF nicht wirklich beantwortbar. Die so geforderte Explanation soll nun durch sogenannte ›Causal Grounding Principles‹ (CGP) zum Ausdruck gebracht werden: Die Wahrheit eines CCF muss von seinem Subjekt hervorgebracht werden (bringing about) und in seinem freien Akt gegründet sein: »[A]ny proposition that describes a free action needs to be grounded by an action performed by the subject of that proposition.« 48 Andernfalls ist nichts gesagt und zudem der vorausgesetzte libertarische Freiheitsbegriff unterminiert (wer die Wahrheit der ihn betreffenden CCFs nicht hervorbringen kann, der kann nicht frei sein – so die argumentativ zu entfaltende Intuition). Und da das Mittlere Wissen prävolitional ist und es ›noch‹ keine aktualen Individuen gibt, deren freie Akte die Wahrheitswerte der CCFs hervor-
47 48
Vgl. Jensen (2008), 117–119. Jensen (2008), 129.
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bringen können, ist der Molinismus inkohärent – so diese Version der ›Grounding Objection(s)‹. 49 Damit das für libertarische Freiheit konstitutive Prinzip der alternativen Möglichkeiten gelten kann, muss ein aktuales Individuum nach Hasker in der Lage sein, die Wahrheit oder die Falschheit eines es betreffenden CCF C ! A hervorbringen zu können (indem es frei den Akt A exerziert oder nicht). Doch die Wahrheitswerte der CCFs sind festgelegt, logisch vorgängig zur aktualen Existenz des Individuums. Das Individuum kann also den Akt A nicht setzen und damit die Wahrheit des CCF hervorbringen (umgekehrt impliziert die Nichtsetzung des Aktes A noch nicht die Falschheit des CCF). Was bedeutet es nun aber genau, dass ein Akt eines Individuums eine Proposition bzw. ihren Wahrheitswert hervorbringen bzw. verursachen kann? Normalerweise mutet es befremdlich an, dass man Eigenschaften von Propositionen kausal verursachen könne. Hasker analysiert diese Relation folgendermaßen: (BA) If E brings it about that »Q« is true, then E is a token of an event-type T such that [(some token of T occurs) ! Q] and [:(some token of T occurs) ! :Q], and E is the first token of T which occurs. 50 Diese Explikation des ›Bringing About‹ (BA) führt zu Haskers ursprünglicher Version des ›Causal Grounding Principle‹ : (CGP)
8p (Cp � 9a9z(a is the subject of p and (a performs z and z is an event of type T such that (((some token of type T occurs) ! p) and (:(some token of type T occurs) ! :p)))). 51
Haskers ›Causal-style Grounding Objection‹ lautet dann informell so: 52
Vgl. Jensen (2008), 121. Vgl. Hasker (1989), 42; Jensen (2008), 38. Das Erfordernis, dass es das erste Vorkommnis ist, erklärt sich durch folgendes Beispiel: Das Ereignis, beim Bowling sechs Pins umgeschossen zu haben, impliziert die Wahrheit der Proposition »Man hat fünf oder mehr Pins umgeschossen«, aber das Nichtvorkommen dieses Ereignisses enthält nicht die Falschheit dieser Proposition (es hätten auch neun umgeschossene Pins sein können), vgl. Jensen (2008), 38 f. 51 Vgl. Jensen (2008), 122. 52 Vgl. Jensen (2008), 123. 49 50
254 https://doi.org/10.5771/9783495823668 .
Luthers späte Auswirkungen: Der analytische Molinismus
1. 2.
3.
Es gilt das Prinzip (CGP). CCFs erfüllen das Prinzip (CGP) nicht (denn es gibt ›noch‹ kein Subjekt a – oder, im Falle nie instantiierter individueller Essenzen, niemals ein Subjekt a, das Handlung z ausführen könnte). Also gilt für alle Propositionen p, dass sie kein CCFs sind.
Dieses Prinzip (CGP) jedoch sah sich schwerwiegender Kritik ausgesetzt. Es schließt von vornherein die Möglichkeit wahrer CCFs aus und scheint daher eine petitio principii zu begehen. Freddoso argumentierte, dass es eine Parallele gibt zwischen der Diskussion um das Grounding von ›past-‹ und ›future-tense contingent propositions‹ im Präsentismus und CCFs. Würde gelten, dass Propositionen nur in aktualen (und das heißt im Präsentismus: gegenwärtigen) Ereignissen gegründet sein können, besäßen etwa Propositionen über kontingente vergangene Ereignisse kein ›grounding‹. Gemäß dem Vorschlag von Freddoso können derartige Propositionen jedoch in Fakten ihrer ›past-tense-‹ (und ›future-tense‹) ›counterparts‹ gegründet werden. 53 Ebenso kann für ein CCF, etwa c ! z, gesagt werden: »›It would be the case (if c were true) that z‹ is now grounded if ›z is grounded‹ would be the case (if c were true).« 54 Oder, im Jargon der möglichen Welten: »A CCF is grounded now in virtue of the present tense counterpart of the consequent being grounded in the nearest world in which the antecedent of the CCF is true.« 55 Dies führt zu einer modifizierten Version von (GCP) – wobei w die nächst-ähnliche mögliche Welt denotiere, in der das Antezedens der Proposition wahr ist: (CGP*) 8p (Cp � (9w(w is actual � 9a9z(a is the subject of p and (a performs z and z is an event of type T such that (((some token of type T occurs) ! p) and (:(some token of type T occurs) ! :p))))). 56 Prinzip (CGP*) vermeidet eine petitio principii und lässt sich problemlos in Haskers Grounding Objection einfügen, denn im Antezedens der zweiten Implikation ist vorausgesetzt, dass die Welt w aktual wäre. Dies wird Haskers Intuition gerecht, dass nur Handlungen aktuale Individuen CCFs begründen können. Die entscheidende Frage 53 54 55 56
Eine ausführliche Darstellung dieser Argumentation findet sich in Craig (2001). Flint (1998), 133; Jensen (2008), 127 f. Jensen (2008), 130. Vgl. Jensen (2008), 131.
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ist nun, ob CCFs in der Lage sind, diesem modifizierten Prinzip zu genügen oder nicht, d. h. ob Schritt (2.) in Haskers Argument valide ist. Gefragt ist also: Wenn ein Individuum S, bezüglich dessen das Konditional C ! A gelten soll, die Handlung A unterlässt, wäre das Konditional dann falsch? Hasker verneint dies: Die nächst-ähnliche Welt, in der :A gilt, ist für Hasker auch eine Welt, in der :C gilt. ›Counterfactual facts‹ (wie das Bestehen von C ! A) sind nach Hasker entscheidender in der Bestimmung der Ähnlichkeit zwischen Welten als kategorische Fakten (etwa das Bestehen nur des Antezedens C). Haskers legt jedoch kein überzeugendes Argument für seine These der Bestimmung der Ähnlichkeitsrelationen über ›counterfactual facts‹ vor. 57 Die Annahme, dass mögliche Welten auch durch primitive kontrafaktische Eigenschaften bestimmt sind, wird jedoch auch von Flint (1998, 135 f.) vertreten. Denn es stellt sich bei der oben angeführten Mögliche-Welten-Lösung für CCFs die Frage, ob bei genuin freien Handlungen nicht die Welt, in der das entsprechende Individuum z wählt, gleich-ähnlich ist zur aktuellen Welt wie eine mögliche Welt, in der das Individuum :z wählt. Flint beruft sich hierbei ebenfalls auf die Aussage Plantingas (1974, 178), dass »[o]ne measure of similarity between worlds involves the question whether they share their counterfactuals«. Jedoch gilt hier für Flint im Gegensatz zu Hasker, dass nicht-aktuale Handlungen in anderen möglichen Welten die CCFs gründen können. Doch schon Adams wies darauf hin, dass Flints Erklärung im Falle der scientia media nur als nachträgliche Erklärung funktioniert, wenn die Wahrheit des entsprechenden CCF bereits feststeht. 58 Vor dieser Zirkularität hat auch Plantinga selbst gewarnt: »But it does follow that we cannot as a rule discover the truth value of a counter-factual by asking whether its consequent holds in those worlds most similiar to the actual in which its antecedent holds.« 59 Craig (2001, 346) kritisiert Flints These damit, dass es absurd sei, dass rein mögliche Akteure kausale Effekte auf die aktuale Welt haben könnten – Flint liefere lediglich ›truth conditions‹ (was eine rein semantische Angelegenheit ist), nicht aber metaphysische Truthmaker – ein CCF kann ›truth conditions‹ besitzen, ohne Truthmaker zu
57 58 59
Vgl. Jensen (2008), 132–134. Vgl. Adams (1998), 260–265. Plantinga (1974), 178.
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haben. 60 Craig lehnt den Truthmaker Maximalism bezüglich CCFs ab. Nach Craig ist es nicht nötig, dass CCFs Truthmaker besitzen müssen, um wahr zu sein. Doch dies schließt nicht aus, dass sie dennoch Truthmaker haben können – dies müssen allerdings metaphysische ›(counter-)facts‹ oder Entitäten sein, von denen solche (counter-) facts gelten, und die logisch vorgängig zum göttlichen Willensbeschluss bestehen, eine bestimmte Welt zu erschaffen. 61 Jensen (2008, 135–139) diskutiert noch die Version der ›Causalstyle Grounding Objections‹, die von Adams vorgelegt wurde. Sie sei hier nur kurz erwähnt. Adams geht von folgendem (leicht modifizierten) ›Causal Grounding Principle‹ aus, das sowohl für ›tensed propropositions‹ als auch für CCFs Geltung beansprucht: (CGP**) 8p (Fp � 9a9z(a is the subject of p and (a performs z and (a performs z � p))) Auch hier der entscheidende Einwand: Nicht-aktuale Individuen bzw. individuelle Essenzen können keine Akte exerzieren (›performing z‹) und daher keine CCFs begründen. Anders als bei Haskers Prinzip (CGP*) ist es hier prinzipiell nicht möglich, dass CCFs dem Prinzip (CGP**) genügen können. Würde dieses Prinzip Validität beanspruchen können, dann wäre das Mittlere Wissen unbegründet. Doch lassen sich gegen (CGP**) wiederum Einwände aufstellen, die ein ›grounding‹ von past-tense propositions betreffen (dies betrifft ebenso future-tense propositions). Würde (CGP**) gelten, wären auch Aussagen über vergangene Handlungen eines Subjekts nicht begründet. Daher wird eine modifizierte Version auch dieses Prinzips vorgeschlagen: 62 (CGP***) 8p (Fp � (9y(y is x � 9a9z(a is the subject of p and (a performs z and (a performs z � p))))) y stehe hierbei entweder für ein Ereignis in der nächst-ähnlichen möglichen Welt, in der das Antezedens eines CCF wahr ist, und x steht dann für ›actual‹ – oder, im Falle von beispielsweise ›past-tensed propositions‹ kann y für ein vergangenes Ereignis in dieser Welt stehen, und x steht sodann für ›present‹. Damit genügt (CGP***) zwar der Lewis/Stalnaker-Semantik für CCFs, doch wird eine Anti60 61 62
Vgl. Craig (2001), 346. Vgl. Craig (2001), 346 f. Vgl. Jensen (2008), 136 f.
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Molinistin, die eine Adamssche Version der ›Causal-style Grounding Objection‹ vertritt, dieses Prinzip ablehnen. (CGP***) verlangt nicht, dass ein Subjekt vom im Konsequens des CCF beschriebenen Akt ablassen muss, damit das CCF falsch ist. Zudem ließe sich mit (CGP***) die Wahrheit von CCFs in ähnlicher Weise begründen, wie es oben bei (CGP*) durch Flints Erklärung geleistet wurde, nämlich durch ›counter-facts‹ in den nächst-ähnlichen möglichen Welten. 63 Bei aller Problematik dieser Erklärung ist damit diese Version der Grounding Objection keine unmittelbare Widerlegung des Molinismus. Die Auseinandersetzung endet lediglich zunächst in einer Sackgasse: Der Anti-Molinist muss (CGP**) annehmen und (CGP***) ablehnen – die Molinistin muss umgekehrt verfahren. Weitere Klärungen können auch hier erst geleistet werden, wenn auf die EssenceSolution und den Complete Concept Molinism eingegangen wird. Bei dem anti-molinistischen Einwand der Grounding Objection(s) handelt es sich also um eine heterogene Familie von verschiedenen Einwänden, die nicht über einen Kamm geschert und als definitive ›Widerlegung des Molinismus‹ gefeiert werden können. Es kann nicht pauschal von einem ›truthmaker‹-Problem gesprochen werden, als sei das zentrale Problem hierbei, dass die CCFs des Molinismus keine ›truthmaker‹ besäßen. Die Prinzipien, die in den Argumenten der Unterfamilie der ›Truthmaker-style Grounding Objections‹ zur Anwendung kommen, sind nicht identisch und erfordern unterschiedliche Begründungen und Widerlegungen. Auf alle verwendeten Prinzipien hat die Molinistin eine adäquate Antwort: Entweder liegen gewichtige Gründe vor, das verwendete Prinzip abzulehnen, oder CCFs genügen dem entsprechenden Prinzip. Das eigentliche Gewicht der Grounding-Einwände liegt bei der Familie der als ›Causal-style Grounding Objections‹ klassifizierten Argumente. Aber auch sie stellen kein unmittelbares Knock-out-Argument gegen den Molinismus dar. Alles läuft daraus hinaus, ob der Molinismus in der Lage ist, semantisch und metaphysisch zufriedenstellend zu explizieren, was jene prävolitionalen Entitäten und ihre counterfactual properties sind, welche den entsprechenden Causal Grounding Principles genügen können. Ein Versuch, diese prävolitionalen Entitäten zu bestimmen, ist die Theorie molinistischer individueller Essenzen: Gott kontempliert vorgängig zum Schöpfungsakt von Ewigkeit her die individuellen Es63
Vgl. Jensen (2008), 137–139.
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senzen aller möglichen Individuen in allen möglichen Welten, welche alle möglichen und faktischen Entscheidungen der jeweiligen Individuen enthalten. 64 Im Zuge dieser molinistischen Theoriebildung kam konsequenterweise die Idee auf, dass das Mittlere Wissen auf eine absolut vollständige Repräsentation der möglichen Individuen im göttlichen Geist gegründet werden müsse. Einschlägig hierfür ist vorallem der Molinist Hieronymus Fasolus SJ (1568–1639), welcher Molinas Gedanken der göttlichen »supercomprehensio«, d. h. der unendlichen Repräsentationskraft des göttlichen Wesens in Richtung einer vollständigen Kenntnis von individuellen Essenzen weiterdenkt. 65 Auch wenn Leibniz den Begriff des Mittleren Wissen ablehnt, lässt sich dennoch zeigen, dass seine Idee einer »notio completa« (eines vollständigen Begriffs) eines Individuums im Kontext der molinistisch-thomistischen Debatte entstanden ist und eine starke Affinität zur molinistischen Position besitzt. 66 Seine Intuition bezüglich des göttlichen Wissens um zukünftig kontingente Handlungen steht in einer Linie mit den Entwicklungen in der molinistischen Debatte: [Gott] bewahrt unser Sein und bringt es kontinuierlich hervor, und zwar so, dass uns die Gedanken spontan oder frei in derjenigen Ordnung begegnen, die der Begriff unserer individuellen Substanz trägt, in welchem man sie von Ewigkeit her voraussehen konnte (Leibniz, Discours de métaphysique, § 30).
Leibniz führt gelegentlich aus, dass die vollständigen Begriffe eines Individuums als Funktionen (bzw. Reihen) aufgefasst werden müssen. Ein entsprechendes mathematisches Modell für eine analytische Rekonstruktion von »molinistischen vollständigen Begriffen« als Subkonfigurationen möglicher Welten wurde in Brüntrup/Schneider (2011), (2013), (2016) mit dem sogenannten ›Complete Concept Mo-
Vgl. Kvanvig (1986), 122–126. »Mente Molinae […] causa libera […] non potest perfectissimo modo obiective cognosci, nisi simul cognoscantur et omnia, quae sunt in causa, et praeterea omnia quae ex causa vel esse possunt, vel erunt, vel sunt, vel fuerunt, vel essent; nam effectus etiam, atque adeo omnes isti effectus, sunt aliquid causae; ergo qui cognoscit perfectissimo modo causam, eius etiam effectus, quavis ratione ab ea pendentes, cognoscat necesse est […]. Quod autem haec perfectissima cognitio respectu effectuum futurorum esse debeat infinita, patet.« (In primum partem Summae D. Thomae Commentariorum, T.2, Lyon 1629, 269a. Vgl. Knebel (1991), 3; vgl. Brüntrup/Schneider (2011).). 66 Vgl. Hübener (1988), 114; Ramelow (1997), 401–419. 64 65
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linism‹ geliefert. Einige Angelpunkte des Complete Concept Molinism seien hierbei erwähnt: 1. Die vollständigen Begriffe sind keine volldeterminierten, rein aktualistischen Essenzen (Superessentialismus), sondern Ideen im Geiste Gottes, die das gesamte Möglichkeitsspektrum eines Individuums enthalten. Sie sind keine Eigenschaftsbündel, sondern haben eine »transworld-identity«. Es handelt sich um kontrafaktische Individuengeschichten und Weltgeschichten im Geist Gottes, die als Scharen von Funktionen darstellbar sind. 2. Diese Begriffe sind die metaphysischen »truth-maker« der kontrafaktischen Konditionale. 3. Diese Begriffe sind nicht algorithmisch bzw. gesetzesartig. Sie enthalten eine eindeutige »thin red line« des Individuums für jede mögliche Welt, die jedoch nicht deterministisch ist: Für Determinismus ist mehr erforderlich als bloße Eindeutigkeit eines Weltverlaufs – dieser Weltverlauf muss zudem noch einer gesetzesartigen Fortschreibung gehorchen. Gesetzesartigkeit impliziert Eindeutigkeit, jedoch Eindeutigkeit impliziert vice versa nicht Gesetzesartigkeit. 67
4.
Extensionale Semantik und mögliche Welten: Der jesuitische Ursprung der modernen Modallogik
Die obige Diskussion der Grounding-Einwände war prädikatenlogisch sauber reglementiert, ganz entsprechend dem Paradigma von Quine. Nun fragt sich, wie innerhalb dieser Reglementierung die individuellen Essenzen und counterfactual properties expliziert werden können, die zur Abwehr der Einwände nötig sind. Wie gibt die formale Logik den Bereich der theoretischen Möglichkeiten zur Bestimmung dieser Entitäten vor? Dazu sei ein kurzer ganz allgemeiner Blick auf die Architektonik der formalen Logik und ihren Unterschied zur klassischen scholastischen Logik geworfen: Die klassische Logik (Urteilslehre und Syllogistik) ist eine semantisch immer schon bestimmte Sprachlogik, während die moderne formale Logik aus zwei Teilen besteht: (1) Aus einem uninterpretierten syntaktischen Sequenzenkalkül und (2) aus zugehörigen
67
Vgl. Schneider (2009), 130–134.
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mengentheoretischen semantischen Interpretationen und Modellen. Diese beiden Bestandteile seien kurz allgemein skizziert: 68 (1) Als Sequenzenkalkül ist eine Logik nichts weiter als ein syntaktisches Regelwerk, das aus einem Zeichenalphabet und zugehörigen Form- und Sequenzenregeln zur Bildung wohlgeformter Zeichenreihen besteht, denen als solchen keinerlei semantische Bedeutung zukommt, sie sind ›leere Zeichen‹. In der Regel ist dies eine prädikatenlogische Sprache erster Stufe: Dies ist ein Alphabet aus Variablenzeichen, logischen Konnektoren, Quantorenzeichen, Gleichheitszeichen, Organisationszeichen (Klammern) und einer Signatur Σ. Die Signatur besteht aus einer Menge K von Konstantenzeichen, einer Menge R von n-stelligen Relationszeichen und einer Menge F von n-stelligen Funktionszeichen (n � 1): Σ = (K, R, F). Dazu kommen Formregeln, welche festlegen, wie wohlgeformte Σ-Terme und Σ-Ausdrücke gebildet werden, und Ableitungsregeln (Antezedensregel, Oder-Einführung, usw.), welche die Axiome bilden lassen. Mit den Schlussregeln (Modus Ponens, Alleliminierung, usw.) lassen sich dann Theoreme ableiten. Durch die zusätzliche Einführung des λ-Operators wird eine solche elementare prädikatenlogische Sprache erweitert zu einer mengen- oder klassentheoretischen Sprache. Einstellige λ-Terme können in einer semantischen Interpretation als Mengen oder Klassen gelesen werden, 2-stellige λ-Terme als Elementschaftsrelation. Auf der Ebene der Syntax handelt es sich eben jedoch nur um uninterpretierte Zeichenreihen, die nichts bedeuten, solange sie nicht einer Interpretation (mithin Modellen, die den Axiomen gerecht werden) zugeführt werden. 69 (2) Eine semantische Interpretation J = (A, β) besteht aus einer Σ-Struktur A und einer Belegung β. Eine Σ-Struktur A = (A, a) ist gegeben durch Angabe 1. einer Menge A, dem Träger der Struktur und 2. einer Abbildung a, welche durch folgende Zuordnungen definiert ist: 3. a bildet alle Konstantenzeichen ab auf Elemente im Träger A, 4. a bildet alle 1-stelligen Relationszeichen ab auf Teilmengen von A (Prädikate), In der anschließenden Darstellung von Syntax und Modellen folge ich Christina Schneider, Ein Kalkül des natürlichen Schließens – Skizze eines Vorgehens, Typoskript aus dem SS 2017, und Ebbinghaus (1994). 69 Vgl. Pareigis (1969), 178. 68
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5.
a bildet alle n-stelligen Relationszeichen (n > 1) ab auf Teilmengen von An (Relationen), a bildet alle n-stelligen Funktionszeichen ab auf Funktionen von An nach A.
6.
Typische Σ-Strukturen sind mathematische Strukturen wie Gruppen, vollständige arithmetisch angeordnete Körper und Vektorräume über einem Körper K (mit zweisortigem Träger). Die Belegung β ordnet den Variablen Elemente im Träger A zu und sorgt dafür, dass Allquantifikation und Existenzquantifikation interpretiert werden können. Mithilfe einer Σ-Interpretation J lässt sich sodann die Modellbeziehung zwischen einer Menge von Σ-Ausdrücken Φ und zugehörigen Interpretationen explizieren: J |= Φ (»J ist Modell von Φ«), wenn J |= φ für jedes φ in Φ. Es zeigt sich also, dass die Interpretationen und Modelle der formalen Logik rein extensional-mengentheoretisch sind. Prädikate und mehrstellige Relationen werden der nicht-modalen Prädikatenlogik als Teilmengen der Trägermenge oder als Teilmengen des n-fachen kartesischen Produkts der Trägermenge interpretiert. In der modalen Prädikatenlogik wird dies erweitert auf Teilmengen möglicher Welten, hier werden mögliche Welten als Indizes (oder bei der Interpretation als eine weitere Variable) betrachtet, z. B. V(R(a,b),w) = 1 bzw. = 0. Indiziert sind sodann entweder verschiedene Teilmengen möglicher Welten oder deren kartesische Produkte, oder einer Teilmenge werden je nach Index verschiedene Referenten bzw. Extensionen von Prädikaten/Relationen zugeordnet. 70 Eine extensionale semantische Definition des Mittleren Wissens bedeutet unter diesen logischen Voraussetzungen sodann, dass der Inhalt des Mittleren Wissens die Potenzmenge der Menge aller möglichen Welten ist, in denen CCFs gelten. In den Standardsemantiken für Konditionale ist die Bedeutung von Konditionalen die Menge aller möglichen Welten, in welchen sie wahr sind – die aktuale Welt ist sodann ein Element des Durchschnitts all dieser Mengen. Die Grounding Objection ist damit die Frage danach, welche Eigenschaften die aktuale Welt vor ihrer Aktualisierung gehabt haben muss, damit sie ein Element dieses Durchschnitts sein kann. 71 Insbesondere sind counterfactual properties nichts anderes als Mengen bzw. extensionale abstrakte Entitäten. 70 71
Vgl. Schütte (1968), 3–5. Vgl. Perszyk/Mares (2011), 98.
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Man sieht hier, dass die analytische Religionsphilosophie, die sich einer Reglementierung durch die Standardlogiken verschreibt, die klassischen Konzeptionen ›extensionalisieren‹ muss. Dies hat für die Behandlung der klassischen Konzeptionen einerseits den Vorteil, dass ihnen eine ›neue logische Schärfe‹ verliehen werden kann, stellt andererseits aber auch eine enorme Engführung und Reduktion dar. Bei molinistischen individuellen Essenzen beispielsweise handelt es sich um intensionale Entitäten, die nicht vollständig auf Extensionen reduziert werden können. Sie sind zunächst einmal keine bloßen Teilmengen möglicher Welten wie counterfactual properties in der extensionalen Semantik. In Brüntrup/Schneider (2013), (2016) werden die molinistischen vollständigen Begriffe im Anschluss an Leibniz als Funktionen modelliert, was den Vorteil hat, den nicht-gesetzesartigen temporalen Verlauf einer individuellen Essenz darstellen zu können. Doch auch Funktionen sind extensionale Gebilde (als linkstotale und rechtseindeutige zweistellige Relation gemäß der WienerKuratowski-Definition (x,y) = {{x},{x,y}}). Zum anderen hat die extensionale Mögliche-Welten-Semantik aber den Nachteil, dass sie die originalen Intuitionen von Molina und seinen spätscholastischen Nachfolgern nicht adäquat einfangen kann: Für Molina gibt es keine ›möglichen Welten‹ als vollständige Totalitäten bzw. maximal konsistente Konfigurationen möglicher Sachverhalte, sondern nur andere mögliche Teilzustände (statūs) der aktualen Welt. 72 Der Begriff einer möglichen Welt als vollständige, eigene Totalitäten und nicht nur als Variation von Zuständen der aktualen Welt hat sich erst im Laufe der spätscholastischen Debatten in Ansätzen herausgebildet: Der eigentliche Kristallisationspunkt für den Begriff der möglichen Welten […] ist jesuitischen Ursprungs: der aus heilsgeschichtlichen und scientiamedia-Theorien entsprungene Gedanke des Totaldekretes, dessen römische Etablierung Perez zuzurechnen ist, auch wenn er erst bei seinem Schüler Esparza voll entfaltet wird. Am Ende der Entwicklung steht eine ganz selbstverständliche Redeweise von einer unendlichen Zahl klar und distinkt erkannter möglicher Welten im Verstand Gottes – Leibniz brauchte diese Rede nur fortzusetzen. 73
Der Begriff der möglichen Welt setzt also eine ganze Reihe theologischer Vorentscheidungen voraus, unter anderem bezüglich der Frage, ob Gott in einem Totaldekret eine maximale Menge von Sachverhal72 73
Vgl. Ramelow (1997), 57. Ramelow (1997), 430.
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ten als Ganze zur Erschaffung wählt, oder ob er seine Providenz in einem ordo decretorum, einer sukzessiven Abfolge von Dekreten, exerziert. Diese Frage hat enorme Konsequenzen für das TheodizeeProblem, was hier nur angedeutet bleiben kann. 74 Die Rückverbindung zu den ursprünglichen gnadentheoretischen Fragen, die auch Luther umgetrieben haben, liegt auf der Hand. Die Methode der analytischen Religionsphilosophie und Theologie ist in diesem Sinne nicht ›theologisch unschuldig‹ – sie ist insbesondere, so könnte man überspitzt sagen, eine ›Erfindung‹ der Jesuiten.
5.
Schlussbemerkung
Die Reformation brachte in der katholischen Welt eine ganze Epoche an philosophischen und theologischen Theoriebildungen rund um die Frage nach dem richtigen Verhältnis von Gnade und Freiheit hervor. Die prominenteste dieser Theorien, der Molinismus, wurde im 20. Jahrhundert wiederentdeckt auf Basis der Entwicklungen in der modernen formalen Logik, insbesondere der Modallogik mit ihrer Mögliche-Welten-Semantik und der Logik von kontrafaktischen Konditionalen, und diese Wiederentdeckung gehört zu den Entstehungsereignissen der heutigen analytischen Religionsphilosophie. Die Rede von möglichen Welten als eigenen, abgeschlossenen Ganzheiten, als welche sie später zum Bezugspunkt einer Semantik für Modaloperatoren wurden, hat ihre historischen Ursprünge interessanterweise genau im spätscholastischen Molinismus. Die Vorstellung von möglichen Welten als abgeschlossenen Ganzheiten wiederum beruht auf theologischen Vorentscheidungen, die aus Fragestellungen rund um das Thema Gnade und Freiheit resultieren. Dies mag als Hinweis dafür dienen, dass die von Luther aufgeworfenen Probleme historische und systematische Konsequenzen hatten und haben, die weit über innertheologische und konfessionelle Fragen hinausreichen. Ich habe in diesem Beitrag versucht, ein Paradebeispiel der Herangehensweise der analytischen Philosophie an die großen alten Fragen darzustellen, das in sich schon wie eine spätscholastische Abhandlung wirkt. Für die Frage, inwiefern die für die analytische Philosophie paradigmatische Reglementierung der Sprache durch eine extensionale Logik nicht ein Reduktionismus ist, der wesentliche 74
Vgl. Ramelow (1997), 411, 420, 430–434.
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philosophische Probleme unzulässig verkürzt, lohnt sich ein Blick in die Zusammenhänge von analytischer Religionsphilosophie und ihren historischen Gegenstücken.
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Luther und die analytisch-philosophische Freiheitsdebatte Frank Dettinger
1.
Einleitung
Martin Luther und die analytisch-philosophische Freiheitsdebatte lassen sich in Verbindung bringen. Der Titel dieses Aufsatzes kann an Beiträge denken lassen, in denen Philosophen, die in der Regel der vor allem englischsprachigen analytisch-philosophischen Freiheitsdebatte zugerechnet werden, sich direkt oder indirekt auf Äußerungen von Martin Luther zum Thema Freiheit und Unfreiheit beziehen. Was hier jedoch nicht geleistet wird, ist eine übergreifende Darstellung und Auswertung dieser Beiträge. Denkbar wäre die Aufgabe, das, was unter der angelsächsischen analytisch-philosophischen Freiheitsdebatte summiert werden kann, beginnend am Anfang des 20. Jahrhunderts über die Zeit ihrer Etablierung seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, 1 nach Bezügen auf Luther und Luthers Äußerungen zum Freiheitsverständnis – und auch im Speziellen in seiner Auseinandersetzung mit Erasmus von Rotterdam – zu durchkämmen. Stattdessen greife ich zu Beginn ein Beispiel der analytisch-philosophischen Luther-Rezeption heraus, das jedenfalls systematisch in die Richtung führt, die hier eingeschlagen wird: nämlich eine Perspektive auf Luthers Verständnis von Willensfreiheit und auf die Luther-Erasmus-Debatte zu gewinnen anhand einiger Leitperspektiven der analytisch-philosophischen Freiheitsdebatte. Für den amerikanischen Philosophen Harry Frankfurt erweist sich das überlieferte Verhalten Martin Luthers vor dem Reichstag in Worms als bedeutend für sein kompatibilistisches Verständnis von Einen hilfreichen Überblick über die neuere angelsächsische analytisch-philosophische Freiheitsdebatte bieten die Einführungen zu den Sammelbänden sowie die gesammelten Beiträge selbst bei Gary Watson und Robert Kane: Watson (Hg.) (2003); Kane (Hg.) (2002); Kane (Hg.) (2011).
1
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Luther und die analytisch-philosophische Freiheitsdebatte
Willensfreiheit. Frankfurt nimmt in seinem Beitrag »The importance of what we care about« Bezug auf die Szene Luther vor dem Reichstag in Worms. 2 Es darf gesagt sein, dass dieses Beispiel Luther in Worms bei verschiedenen Autoren in der angelsächsischen analytisch-philosophischen Freiheitsdebatte diskutiert wird, so etwa bei Daniel Dennett, Galen Strawson, Richard Double und Robert Kane. 3 Auf die Aufforderung hin, die Forderungen der Reformation zurückzunehmen, soll Luther am 18. April 1521 in Worms bekanntlich geantwortet haben: »Hier stehe ich! Ich kann nicht anders«. Ungeachtet der historischen Validität bringt Frankfurts Verständnis dieser Szene einen wichtigen Aspekt des Frankfurt’schen Verständnisses von Identifikation zum Vorschein. Frankfurt meint hier plausibel machen zu können, dass Zurechenbarkeit für Entscheidungen und Handlungen hinreichend durch eine Identifikation des Handlungssubjekts mit seiner Handlung bzw. Entscheidung begründet werden kann. 4 Einer Person kann das, worum sie sich sorgt, so bedeutsam erscheinen, dass es ihr unmöglich ist, sich einer bestimmten Handlungsweise zu enthalten. 5 Diesen Fall erkennt Frankfurt bei Luther. Das Charakteristische dieser Situation besteht darin, dass die Person sich dabei nicht zur Handlung gezwungen fühlt. Vielmehr erscheint eine alternative Handlung undenkbar. Damit unterscheidet sich dieser Fall Frankfurt zufolge von zwei ähnlichen Arten von Situationen. Zum einen von solchen Situationen, in denen ein Handlungssubjekt feststellt, dass es eine Handlung zu unterlassen unfähig ist, weil es zum Beispiel durch einen inneren Zwang getrieben wird, den es nicht zu überwinden vermag. Und zum anderen von solchen Situationen, in denen es eine Unterlassung verwerfen muss, weil es von Gründen, die es zur Verwerfung der Unterlassung führen, überzeugt ist. In beiden Situationen erlebt das Handlungssubjekt, von außen bzw. von ihm fremd erscheinenden Umständen oder Gründen getrieben zu sein. 6 Frankfurt (1988), 85–88. Dennett (1984), 133; Strawson (2008), 313, Anm. 17; Double (1991), 65; Kane (2002), 408. 4 Vgl. Frankfurt (1988), 85–88. 5 Frankfurt ist bestrebt, ein Konzept über das, worum man sich kümmern soll, stärker im philosophischen Diskurs zu etablieren – es soll neben Erkenntnistheorie (woran man glauben soll) und Ethik (wie man sich verhalten soll) eine eigene Rolle spielen. Vgl. Frankfurt (1988), 80. 6 Vgl. Frankfurt (1988), 86. 2 3
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Frank Dettinger
Ähnlich erscheinen diese Arten von Situationen nach Frankfurt der Situation Luthers dennoch in folgender Weise: Der ersten Art von Situationen ähnelt Luthers Situation darin, dass sich auch Luther durch eine Art unwiderstehlicher Leidenschaft getrieben weiß, sodass nur die Möglichkeit besteht, dieser nötigenden Macht zuzustimmen. Der zweiten Art von Situationen ähnelt Luthers Situation nach Frankfurt darin, dass auch Luther gute Gründe hat, die Unterlassung zu verwerfen. 7 Was Frankfurt als das Entscheidende an der Situation Luthers ausmacht, beschreibt er mit dem Terminus der »volitionalen Nötigung« (»volitional necessity« 8 ). Ohne die detaillierte Beschreibung Frankfurts an dieser Stelle darlegen zu können, wird deutlich, dass in der Rezeption dieser Luther-Szene hier für ein kompatibilistisches Freiheitskonzept argumentiert wird. Ob Luther Frankfurts Deutung seines Verhaltens zustimmen würde, bleibt offen, wobei durch dieses Beispiel Luther mehr oder weniger unfreiwillig mit einem kompatibilistischen Freiheitverständnis in Verbindung gebracht wird. Gerade dieser Frage, ob Luther als Kompatibilist zu verstehen ist, soll im Folgenden nachgegangen werden. Zu fragen ist, ob aufgrund von Luthers Schriften bzw. Äußerungen über sein Verständnis von Willensfreiheit bzw. Willensunfreiheit darauf geschlossen werden kann, dass er davon ausgeht, dass Freiheit und eine – noch nicht definierte – Form des Determinismus vereinbar sind. Um den grundlegenden Gedankengang schon vorweg zu nehmen: Ein erster Blick auf die Auseinandersetzung zwischen Luther und Erasmus von Rotterdam könnte zu folgender These führen: Luther vertritt ein Verständnis von Willensfreiheit, das mit dem Determinismus, der sich aus Gottes Allmacht und Allwirksamkeit ergibt, vereinbar ist, also in analytisch-philosophischer Beschreibung ein kompatibilistisches Freiheitsverständnis. Erasmus dagegen erkennt einen Widerspruch zwischen menschlicher Willensfreiheit und göttlicher Allmacht und Allwirksamkeit und vertritt somit ein inkompatibilistisches Freiheitsverständnis, d. h. ein Freiheitsverständnis, das Freiheit und Determinismus für unvereinbar hält. Es liegt meines Erachtens ein großer Gewinn für das Verständnis der Debatte über Willensfreiheit zwischen Luther und Erasmus, wenn diese Debatte mit Hilfe analytisch-philosophischer Freiheits7 8
Vgl. Frankfurt (1988), 86. Frankfurt (1988), 86, Herv. i. O.
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Luther und die analytisch-philosophische Freiheitsdebatte
systematik rekonstruiert wird, was ich in meiner Dissertationsschrift »Radikale Selbstbestimmung« 9 unternommen habe. Erasmus von Rotterdam scheint mir tatsächlich in dem genannten Verständnis als Vertreter eines inkompatibilistischen Verständnisses von Willensfreiheit, Luther jedoch als Vertreter eines besonderen kompatibilistischen Verständnisses, das sich jedenfalls von einem gewissermaßen klassischen Kompatibilismus, wie ich ihn bei Harry Frankfurt sehe, unterscheidet.
2.
Luthers Verständnis von Willensfreiheit
Um diese Thesen in Grundlinien zu belegen, ist nun zuerst zu beschreiben, wie Luther die Willensfreiheit des Menschen in De servo arbitrio versteht. 10 Dass das Willensvermögen des Menschen nicht frei, sondern unfrei ist, ist gewissermaßen ein durchgängiger Grundton in Luthers Schrift an Erasmus. Es ist erkennbar, dass Luther das Willensvermögen als Kraft eines unabhängigen Selbst beschreibt. Das Selbst soll sich scheinbar ohne zureichenden Grund nach unterschiedlichen Seiten bewegen können. Diese Kraft oder Fähigkeit eines unabhängigen Selbst hält Luther beim Menschen jedoch für unmöglich. In De servo arbitrio wird jedoch wie etwa auch in der Assertio deutlich, dass Luther als allgemein übliches Freiheitsverständnis von einem Freiheitsverständnis im Sinne eines unabhängigen Selbst ausgeht. Dies belegen etwa folgende beiden Zitate: Das Volk meint, mit diesem [sc. mit dem Ausdruck »freies Willensvermögen«] werde die Kraft bezeichnet (wie es sowohl die Kraft als auch die Natur des Wortes bedingen), die sich frei nach beiden Seiten wenden kann, und die Kraft, die niemandem erliegt oder unterworfen ist 11 ; Der Ausdruck ›freies Willensvermögen‹ bezeichnet nach dem Urteil aller, die ihn hören, vor allem das, was es kann und gegenüber Gott ausrichtet, nach Belieben, ohne Bedingung, durch keinen Befehl behindert. Du würDettinger (2015). Der Übersicht halber bezieht sich diese Darstellung allein auf De servo arbitrio. Aufschlussreich erscheinen ebenso Luthers Heidelberger Disputation und Assertio. 11 »[P]opulus putat eam vim significari (sicut et vis et natura vocabuli exigit), quae libere possit in utrunque se vertere, neque ea vis ulli caedat vel subiecta sit« (Luther [WA], 18, 637, 8–10). 9
10
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Frank Dettinger
dest nämlich auch nicht einen Sklaven frei nennen, der unter dem Befehl eines Herrn handelt. Um wie viel weniger bezeichnen wir einen Menschen oder einen Engel in rechter Weise als frei, die gänzlich unter dem Befehl Gottes (von Sünde und Tod ganz zu schweigen) [ihr Leben] so verbringen, dass sie zu keinem Moment aus ihren Kräften bestehen können 12 .
In diesen Zitaten zeigt sich, dass Luther die Erasmus’sche Definition des Willens, der sich unabhängig nach beiden Seiten wenden kann, 13 als allgemein verbreitetes Freiheitsverständnis anerkennt. Dabei spricht Erasmus dem Menschen diese Fähigkeit keineswegs uneingeschränkt zu, sondern er sieht sich selbst in der Tradition von Augustin und Thomas von Aquin, 14 wenn er hinsichtlich dieser Kraft »das meiste auf die Gnade zurück[führen]« möchte, hingegen »auf den freien Willen beinahe nichts, ohne ihn [aber] völlig zu beseitigen«. 15 Der Anteil des freien Willensvermögens soll so klein wie möglich und der Anteil der Gnade so groß wie möglich ausfallen. Die Freiheit soll nur eine »Winzigkeit« bzw. ein »Minimum« 16 betragen. Damit billigt Erasmus »die Meinung jener, die dem freien Willen einiges zuschreiben, aber der Gnade das meiste«. 17 »Quod liberi arbitrii vox omnium aurium iudicio proprie id dicitur, quod potest et facit erga Deum quaecunque libuerit, nulla lege, nullo imperio cohibitum. Neque enim servum dixeris liberum, qui sub imperio domini agit, quanto minus hominem vel angelum recte liberum dicimus, qui sub imperio plenissimo Dei (ut peccatum et mortem taceam) sic degunt, ut ne momento consistere suis viribus possint« (Luther [WA], 18, 662, 7–12). 13 So versteht Erasmus »den freien Willen als eine Kraft des menschlichen Wollens […], durch die sich der Mensch dem zuwenden, was zum ewigen Heil führt, oder sich davon abkehren könnte« – »Porro liberum arbitrium hoc loco sentimus vim humanae voluntatis, qua se possit homo applicare ad ea, quae perducunt ad aeternam salutem, aut ab iisdem avertere.« Erasmus (1969a), 36–37. 14 Vgl. zur – inhaltlich wohl hinterfragbaren – Berufung auf Augustin und Thomas von Aquin: Erasmus (1969b), 197–675, hier: 619; 643. Mit dieser zweiteiligen Schrift Hyperaspistes hat Erasmus wiederum auf Luthers De servo arbitrio enttäuscht geantwortet, ohne dabei inhaltlich neue Akzente im Vergleich zu De libero arbitrio zu setzen. Luther hat auf Hyperaspistes nicht mehr inhaltlich reagiert, sondern in Verunglimpfung des Titels, der wohl als »stark schildbewehrt« abgeleitet von lat. aspistes »schildbewehrt« wiederzugeben ist, Erasmus als »Superviper« beschimpft, abgeleitet von lat. aspis »Natter, Viper«. Vgl. Luther (WA Br), 4, 263, 3–5. Vgl. Wenz (2005), 52–55, hier: 53. 15 Erasmus (1969a), 57. 16 »[P]erpusillum« (Erasmus 1969a, 170; 172), »minimum« (Erasmus 1969a, 136; 176). 17 Erasmus (1969a), 189. – »Mihi placet illorum sententia, qui nonnihil tribuunt libero arbitrio, sed gratiae plurimum« (Erasmus 1969a, 188). 12
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Luther und die analytisch-philosophische Freiheitsdebatte
Es erscheint Luther mit Blick auf Erasmus’ De libero arbitrio aber keinesfalls ausreichend, die freie Kraft des Willensvermögens nur zu behaupten, sondern diese müsste in ihrer Konzeption von Erasmus konsistent dargestellt werden. 18 Die Argumentation Luthers zeigt, dass er diese konsistente Darstellung für menschlich unmöglich erachtet und er sich auf diese Weise auch erklärt, warum Erasmus sie in De libero arbitrio nicht bietet. Das Lehrstück über das freie Willensvermögen ist nach Luther »nichts als leerer Schall und dröhnende Silben«. 19 Neben dieser Argumentationslinie der ausstehenden Erklärung des freien Willensvermögens sieht Luther, dass aufgrund seines Verständnisses des allwirksamen Handelns Gottes kein Raum bleibt für ein freies Willensvermögen. Grundlegend für seine Überlegungen erweist sich seine Vorstellung von Gottes alle Wirklichkeit bestimmender Allwirksamkeit. Mit dem Wirken Gottes bleibt kein Raum für Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst, sondern alles menschliche Entscheiden und Handeln unterliegt einer göttlichen Notwendigkeit – necessitas. 20 Selbst »wenn es die Schrift nicht gäbe«, 21 so Luthers These, ist angesichts der Einsicht in die Allmacht Gottes die Unfreiheit des Willensvermögens nicht zu leugnen. So definiert Luther: »Aber Allmacht Gottes nenne ich nicht jene Macht, durch welche er vieles nicht tut, was er vermag, sondern jene wirksame Macht, durch die er mächtig alles in allem tut, so wie die Schrift ihn als allmächtig bezeichnet«. 22 Vgl. Luther (WA), 18, 644, 20–645, 2. Luther fordert, dass das »Kind beim Namen genannt werden muss«, dass »diese Kraft [sc. des freien Willensvermögens] zu definieren sei« – »nominandus est infans […] definiendum, quae sit illa vis« (Luther [WA], 18, 645, 2 f.). 19 »[E]sse nihil nisi inanem vocem et strepitum syllabarum« (Luther [WA], 18, 647, 25 f.). Erasmus wie auch andere Gelehrte vermögen so »weder eine Gestalt noch eine Bezeichnung aufzeigen« von dem, was unter der Kraft des freien Willensvermögens zu verstehen wäre – »[N]eque speciem nec nomen possunt ostendere« (Luther [WA], 18, 648, 1 f.). 20 »Was auch immer sich von uns aus ereignet, ereignet sich nicht aus freiem Willensvermögen, sondern aus reiner Notwendigkeit« – »quicquid fit a nobis, non arbitrio libero, sed mera necessitate fieri« (Luther [WA], 18, 634, 14 f.) Vgl. entsprechend Luther (WA), 18, 617, 19; 636, 23 f.; 670, 26; 725, 2. 21 »[S]i nulla esset scriptura« (Luther [WA], 18, 719, 22). 22 »Omnipotentiam vero Dei voco non illam potentiam, qua multa non facit quae potest, sed actualem illam, qua potenter omnia facit in omnibus, quo modo scriptura vocat eum omnipotentem« (Luther [WA], 18, 718, 28–31). Vgl. ebenfalls Luther (WA), 18, 732, 26 sowie auch in Luthers Auslegung des Magnificat von 1521, Luther 18
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Frank Dettinger
Gottes Wirken in seinem Ratschluss lässt keine Möglichkeit für ein menschliches freies Willensvermögen. 23 Wäre Gott nicht allmächtig im Sinn von allwirksam und dazu unveränderlich vorherwissend, wäre er nach Luther als lächerlicher Gott (»deus ridiculus« 24 ) zu bezeichnen. Aus diesem Verständnis der Allwirksamkeit Gottes heraus lässt sich nachvollziehen, warum Luther den Mittelweg, den Erasmus durch einen möglichst kleinen Anteil an einem freien Willensvermögen sucht, grundsätzlich ablehnt. Luther wirft Erasmus vor, sich in dieser Debatte scheu zwischen Skylla und Charybdis bewegen zu wollen. 25 Luther bleibt deutlich: (WA), 7, 574, 8–13. Gottes Allmacht zeigt sich dabei nicht allein in seiner Allwirksamkeit, sondern entsprechend auch in seinem unveränderlichen Vorherwissen: »Und auch dies ist für einen Christen besonders notwendig und heilsam zu wissen, dass Gott nichts zufällig vorherweiß, sondern dass er alle Dinge mit unveränderlichem, ewigem und unfehlbarem Willen sowohl vorhersieht als auch beschließt und ausführt. Durch diesen Blitzschlag wird das freie Willensvermögen völlig niedergestreckt und zerrieben« – »Est itaque et hoc imprimis necessarium et salutare Christiano, nosse, quod Deus nihil praescit contingenter, sed quod omnia incommutabili et aeterna infallibilique voluntate et praevidet et proponit et facit. Hoc fulmine sternitur et conteritur penitus liberum arbitrium« (Luther [WA], 18, 615, 12–15). Vgl. ebenso Luther (WA), 18, 619, 1–6; 716, 5–9. 23 Vgl. hierzu auch: »Aber wenn das Vorherwissen und die Allmacht zugestanden werden, folgt natürlich mit unverbrüchlicher Konsequenz, dass wir nicht durch uns selbst gemacht sind und auch nicht leben noch irgendetwas unternehmen, sondern durch seine Allmacht. Da er aber vorherwusste, dass wir so Beschaffene sein werden, und als so Beschaffene uns jetzt macht, bewegt und führt, was, so frage ich, kann erdacht werden, das in uns frei sein würde, auf diese oder jene Weise anders zu geschehen, als er es vorherwusste oder jetzt wirkt? Daher kämpfen das Vorherwissen und die Allmacht Gottes mit unserem freien Willensvermögen diametral entgegengesetzt« – »Concessa autem praescientia et omnipotentia sequitur naturaliter irrefragibili consequentia, Nos [sic!] per nos ipsos non esse factos nec vivere nec agere quicquam sed per illius omnipotentiam. Cum autem tales nos ille ante praescierit futuros talesque nunc faciat, moveat et gubernet, quid potest fingi quaeso, quod in nobis liberum sit, aliter et aliter fieri, quam ille praescierit aut nunc agat? Pugnat itaque ex diametro praescientia et omnipotentia Dei cum nostro libero arbitrio« (Luther [WA], 18, 718, 20–26). Vgl. entsprechend Luther (WA), 18, 786, 3–7. Hier spricht Luther das freie Willensvermögen mit Blick auf das unfehlbare Vorherwissen Gottes schließlich auch Engeln und jeder denkbaren Kreatur ab. 24 Luther (WA), 18, 719, 24 f. Die Lächerlichkeit eines Gottes, der schläft, sieht Luther auch bei Homer beschrieben, wenn dieser fragt, ob Gott vielleicht zum Gastmahl nach Äthiopien aufgebrochen sei. Vgl. Luther (WA), 18, 706, 20 f. 25 Vgl. WA 18, 601, 34; 611, 22 f.; 613, 10 f. Die Aufgabe der Darstellung eines präzise analysierten Zusammenhangs von göttlicher Gnade und menschlicher Freiheit bearbeitet Erasmus zum Unverständnis Luthers nicht. Vgl. im Hinblick auf WA 18,
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Luther und die analytisch-philosophische Freiheitsdebatte
Wir nehmen jenen Mittelweg nicht hin und nehmen ihn nicht an, den sie [sc. die Diatribe] uns, wie ich glaube in guter Gesinnung anrät, nämlich, dass wir dem freien Willensvermögen ein klein wenig einräumen sollen […]. Durch diesen Mittelweg ist für die Angelegenheit nämlich nichts gewonnen, auch nicht irgendein Fortschritt. 26
Luther sucht »das Herz der Dinge und das Haupt der Sache […] und entweder wird hier das freie Willensvermögen ausgelöscht oder es wird im Ganzen den Triumph feiern«. 27 Er entlarvt, dass das geringfügig beschriebene freie Willensvermögen des Erasmus sich in seiner Wirkung – für Erasmus ungewollt – ebenso mächtig erweisen muss wie das vollständig freie Willensvermögen. 28 Als inhaltliches Grundproblem der Diatribe erweist sich nach Luther, dass das von Erasmus geforderte Mittlere, so gering es auch sei, als neutrale Kraft nicht erklärt werden kann: Du, du erdenkst dir, dass der menschliche Wille eine Sache ist, die in die freie Mitte gesetzt und sich selbst überlassen ist. Ohne Schwierigkeiten erdenkst du dir zugleich, es gebe ein Bestreben des Willens nach beiden Seiten, weil du dir erdenkst, dass Gott wie auch der Teufel weit weg sind, als ob sie allein Zuschauer jenes veränderlichen und freien Willens wären. 29 611 Gunther Wenz’ Darstellung der Sicht Luthers: »So erkläre er [sc. Erasmus] einerseits wiederholt, der menschliche Wille wirke etwas in den Dingen, welche die ewige Seligkeit betreffen; andererseits äußere er ebenso die Ansicht, ohne die göttliche Barmherzigkeit vermöge des Menschen Wille nichts. Den unaufhebbaren Widerspruch beider Thesen versuche Erasmus dadurch zu vernebeln, daß er die konsequente Reflexion auf deren Zusammenhang zu unterbinden sucht, um die Menschen darin unwissend zu lassen, was die göttliche Barmherzigkeit und was unser Wille vermöge« (Wenz 1992, 141). 26 »Nec patimur neque recipimus mediocritatem illam, quam nobis consulit bono, ut credo, animo, scilicet ut libero arbitrio perpusillum concedamus […] Nam ista mediocritate nihil est caussae consultum neque quicquam profectum« (Luther [WA], 18, 755, 27–30). 27 »Rerum cardo et caussae caput hic petitur. Et hic vel liberum arbitrium extinguitur, vel in totum triumphabit« (Luther [WA], 18, 721, 25 f.). 28 Vgl. Luther (WA), 18, 696, 2 f.; 696, 15–17. So verstanden wäre das freie Willensvermögen ohne die Gnade letztlich nicht nur zu Geringem, sondern zu allem fähig. Die Diatribe beweist, »wenn sie überhaupt etwas beweist, dass das freie Willensvermögen alle Dinge vermag, wovon sie sich das Gegenteil zu beweisen vorgenommen hat« – »[S]iquid probat, omnia posse liberum arbitrium, cuius contrarium suscepit probandum« (Luther [WA], 18, 733, 1 f.), vgl. ebenfalls Luther (WA), 18, 697, 35 f. 29 »Tu qui fingis voluntatem humanam esse rem in medio libero positam ac sibi relictam, facile simul fingis, esse conatum voluntatis in utram partem, quia tam Deum, quam diabolum fingis longe abesse, veluti solum spectatores mutabilis illius et liberae voluntatis« (Luther [WA], 18, 750, 5–9). So gibt es nach Luther kein unbestimmtes
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Frank Dettinger
Weiter argumentiert Luther gegen die Möglichkeit eines freien Willensvermögens im Sinn eines unabhängigen Selbst durch Hinweis darauf, dass dieses schließlich ein Gottesprädikat ist. Nun folgt, dass das freie Willensvermögen gänzlich eine göttliche Bezeichnung ist und niemandem zukommen kann als allein der göttlichen Majestät. Denn diese kann und tut (wie der Psalm singt): alles, was sie will im Himmel und auf Erden. Wenn dies den Menschen zuerkannt wird, geschieht das nicht mit mehr Recht, als wenn ihnen ebenso die Göttlichkeit selbst zuerkannt werden würde, was das größtmögliche Sakrileg darstellen würde. 30
Der Mensch könnte, wie Luther ausführt, etwa nur dann über ein freies Willensvermögen verfügen, »wenn Gott ihm das seine überlassen würde«. 31 Im Verlauf der Argumentation Luthers gegen das menschliche freie Willensvermögen bezieht er sich an verschiedenen Stellen auf seine These vom göttlichen freien Willensvermögen zurück. 32 Luther deutet die göttliche Freiheit im Sinne eines causa-suiGedankens, also im Sinn der wohl denkbar stärksten Freiheit. Entsprechend hält Luther fest: »So scheint der Wille Gottes, da er ja die Erstursache aller Dinge ist, die geschehen, unserem Willen Notwendigkeit aufzuerlegen«. 33 In Gottes Willen begründet sich nach Luther alles, was existiert und damit auch der menschliche Wille. Dies scheinen die stärksten Argumente Luthers gegen Erasmus’ These eines – wenn auch geringfügigen – liberum arbitriums zu sein. 34 »mittleres Reich zwischen dem Reich Gottes und dem Reich Satans« – »medium regnum inter regnum Dei et regnum Satanae« (Luther [WA], 18, 743, 34). 30 »Sequitur nunc, liberum arbitrium esse plane divinum nomen, nec ulli posse competere quam soli divinae maiestati, Ea enim potest et facit (sicut Psal. canit) Omnia quae vult in coelo et in terra. Quod si hominibus tribuitur, nihilo rectius tribuitur, quam si divinitas quoque ipsa eis tribueretur, quo sacrilegio nullum esse maius possit« (Luther [WA], 18, 636, 27–32). 31 »[S]i Deus illi suum concaederet« (Luther [WA], 18, 637, 33). 32 »Denn wir haben oben dargelegt, dass das freie Willensvermögen niemandem zukommt als allein Gott« – »Nam superius ostendimus, liberum arbitrium nemini nisi soli Deo convenire« (Luther [WA], 18, 662, 5); »Denn wir haben oben gesagt, das freie Willensvermögen sei eine göttliche Bezeichnung und benenne eine göttliche Kraft« – »Diximus enim superius, liberum arbitrium esse divinum nomen ac divinam virtutem significare« (Luther [WA], 18, 664, 15 f.). Vgl. auch Luther (WA), 18, 734, 22–24. 33 »Ita Dei voluntas, quoniam est caussa principalis omnium, quae fiunt, videtur necessitatem nostrae voluntati inducere« (Luther [WA], 18, 716, 22 f.). 34 Vgl. ausführlicher: Dettinger (2015), 165–191.
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Luther und die analytisch-philosophische Freiheitsdebatte
Im Rahmen der Interpretationsstandards der analytisch-philosophischen Freiheitsdebatte könnte es nach den bisherigen Einsichten zwei Möglichkeiten bezüglich Luthers Freiheitsverständnis geben: Entweder leugnet Luther Willensfreiheit grundsätzlich – dann könnte man ihn als Impossibilisten bezeichnen – oder er vertritt eine andere Form von Willensfreiheit, die mit Gottes Allwirksamkeit vereinbar sein könnte. Dann wäre Luther ein Kompatibilist, der Willensfreiheit und Determinismus im Sinne von Gottes Allwirksamkeit für vereinbar hält. In der Tat finden sich in De servo arbitrio zahlreiche Belege, die für diese zweite Alternative sprechen. Denn über den Begriff freies Willensvermögen bzw. liberum arbitrium notiert Luther Folgendes: Wenn wir dieses Wort nicht gänzlich aufgeben wollen, was am sichersten und frömmsten wäre, sollten wir es doch gewissenhaft insofern zu verwenden lehren, dass dem Menschen freies Willensvermögen nicht in Hinsicht auf eine ihm gegenüber oben befindliche, sondern allein in Hinsicht auf eine ihm gegenüber unten befindliche Angelegenheit überlassen ist, das heißt, dass er wisse, dass er in Hinsicht auf seine Fähigkeiten und auf seine Besitztümer ein Recht habe, zu gebrauchen, zu machen, zu unterlassen nach seinem freien Willensvermögen, mag auch dies selbst gelenkt werden allein durch das freie Willensvermögen Gottes, wohin auch immer es ihm gefällt. 35
Luther unterscheidet Freiheit hier in zwei unterschiedlichen Ebenen. Wenn es auch in Hinsicht auf oben liegende Dinge keine Freiheit gibt, so doch gegenüber den unten liegenden Dingen. Einerseits leugnet Luther eine unabhängige Freiheit des Menschen, das heißt eine Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst. Andererseits bezeichnet Luther das, was dem Menschen gegenüber den »unter ihm liegenden Dingen« – »rebus […] inferioribus« 36 – möglich ist, durchaus als Freiheit, »hier regiert er und ist Herr, wie er in der Hand seines Plans gelassen ist«. 37 Luther beschreibt, dass ihm bewusst ist, »dass der »Quod si omnino vocem eam omittere nolumus, quod esset tutissimum et religiosissimum, bona fide tamen eatenus uti doceamus, ut homini arbitrium liberum non respectu superioris, sed tantum inferioris se rei concedatur, hoc est, ut sciat sese in suis facultatibus et possessionibus habere ius utendi, faciendi, omittendi pro libero arbitrio, licet et idipsum regatur solius Dei libero arbitrio, quocunque illi placuerit« (Luther [WA], 18, 638, 4–9). 36 Luther (WA), 18, 672, 10. 37 »Hic regnat et est dominus, ut in manu consilii sui relictus« (Luther [WA], 18, 672, 10 f.). 35
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Mensch als Herr über die ihm gegenüber unten liegenden Angelegenheiten bestellt ist, in welchen er ein Recht und freies Willensvermögen besitzt, sodass jene gehorchen und machen, was er selbst will und beabsichtigt«. 38 Dabei wird jedoch zugleich deutlich, dass die Freiheit im Blick auf die untergeordneten Dinge einer grundsätzlichen Lenkung Gottes unterworfen bleibt. Es gilt: »Nicht dass Gott ihn so verlassen würde, dass er nicht in allen Dingen mit ihm zusammenwirken würde«. 39 Luther konstatiert deutlich, dass Gott die so verstandenen freien Handlungen und Entscheidungen grundsätzlich notwendig bestimmt. Der Mensch erweist sich Luther zufolge als »ein Gefangener, ein Unterlegener und ein Diener entweder des Willens Gottes oder des Willens Satans«. 40 Eindrücklich beschreibt Luther die beiden möglichen Weisen der persönlichen Beschaffenheit des Menschen mit dem weithin bekannten Bild des Reittiers: So ist der menschliche Wille in der Mitte positioniert wie ein Lasttier; wenn Gott sich auf ihm niederlässt, will und geht es, wohin Gott will […]. Wenn Satan sich auf ihm niederlässt, will und geht es, wohin Satan will; und es hängt nicht an seinem Willensvermögen, zu einem von beiden Reitern zu laufen oder ihn aber zu suchen, sondern die Reiter selbst kämpfen darum, es festzuhalten und in Besitz zu behalten. 41
Luther beschreibt, dass sich das Wollen des Menschen in der Hand Satans oder in der Hand Gottes befindet. Satan oder Gott, aber keinesfalls der Mensch selbst, bestimmen die Art und Weise des Wollens eines Handlungssubjekts, das heißt die Grundrichtung seines Wollens bzw. seine persönliche oder charakterliche Beschaffenheit,
»[Q]uod homo dominus est inferioribus se constitutus, in quae habet ius et liberum arbitrium, ut illa obediant et faciant, quae ipse vult et cogitat« (Luther [WA], 18, 781, 8–10). 39 »Non quod Deus illum sic deserat, ut non in omnibus cooperetur« (Luther [WA], 18, 672, 11). 40 »[C]aptivus, subiectus et servus est vel voluntatis Dei vel voluntatis Satanae« (Luther [WA], 18, 638, 11). 41 »Sic humana voluntas in medio posita est, ceu iumentum, si insederit Deus, vult et vadit, quo vult Deus […] Si insederit Satan, vult et vadit, quo vult Satan, nec est in eius arbitrio ad utrum sessorem currere aut eum quaerere, sed ipsi sessores certant ob ipsum obtinendum et possidendum« (Luther [WA], 18, 635, 17–22). 38
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durch welche sich die Gründe und Ursachen seines Wollens erklären lassen. 42 Handelt Gott am Menschen befreiend, so führt dies dazu, so die entscheidende Einsicht Luthers, dass der Mensch inhaltlich qualifiziert als frei, strukturell bzw. formell jedoch weiterhin als unfrei zu bezeichnen ist. Vom schlecht beschaffenen, von Satan bestimmten Menschen ausgehend formuliert Luther: Wenn aber ein Stärkerer über ihn kommt und diesen [sc. Satan] besiegt und uns als seine Beute ergreift, sind wir abermals Dienende und Gefangene durch seinen Geist (was dennoch eine königliche Freiheit ist), so dass wir willig wollen und tun, was er selbst will. 43
In diesem Zitat bringt Luther zum Ausdruck, dass er den Menschen in struktureller Hinsicht als unfrei versteht, unabhängig davon, ob der Mensch durch Satan oder durch Gott bestimmt wird. In Bezug auf seine Beschaffenheit kann der Mensch Luther zufolge nicht frei sein. Jedoch spricht Luther dann in einem inhaltlich qualifizierten Sinn dennoch von der Freiheit des Menschen, wenn Gott derjenige ist, der den Willen des Menschen bestimmt. Dieser Art von Freiheit gibt Luther eine Ehrenbezeichnung, wenn er sie »königliche Freiheit« nennt. Es kann als naheliegend angenommen werden, dass Luther unter der hier als königlich bezeichneten Freiheit auch diejenige Freiheit versteht, die er an anderer Stelle in der gleichnamigen Schrift als Freiheit eines Christenmenschen (De libertate christiana) bezeichnet. 44 Luther kann den Begriff Freiheit in zweierlei Weise gebrauchen: zum einen in Hinsicht auf die grundsätzliche Beschaffenheit eines Handlungssubjekts und zum anderen in Hinsicht auf die Entscheidungen und Handlungen, die entsprechend der Beschaffenheit des Bestimmt zwar Satan den Menschen in seiner sündigen Beschaffenheit, so zeigt sich dabei unmissverständlich, dass Luther den Satan in Abhängigkeit Gottes versteht, sodass Satan und der sündige Mensch auch vergleichbar beschrieben werden können: »Satan und der Mensch, abgefallen und verlassen von Gott, können nicht mehr das Gute wollen, das heißt, die Dinge, die Gott gefallen oder was Gott will, sondern sie sind fortwährend ihren Sehnsüchten zugewandt, sodass sie nur danach verlangen können, was ihnen zugehörig ist« (Luther [WA], 18, 709, 12–15). Vgl. auch Luther (WA), 18, 711, 7–10. 43 »Si autem fortior superveniat et illo victo nos rapiat in spolium suum, rursus per spiritum eius servi et captivi sumus (quae tamen regia libertas est), ut velimus et faciamus lubentes quae ipse velit« (Luther [WA], 18, 635, 14–17). 44 Luther (WA), 7, 49, 5–73, 15. 42
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Handlungssubjekts eindeutig bestimmt sind. Über die erste Art der Freiheit verfügt der Mensch nicht, über die zweite Art hingegen sehr wohl. Nun liegt nicht fern, Luther in der Weise als klassischen Kompatibilisten zu bezeichnen, als klassischer Kompatibilismus nicht mehr bedeuten soll, als dass ein Verständnis von Willensfreiheit mit einer Form des Determinismus – sagen wir im Sinne des Satzes vom zureichenden Grund – vereinbar gesehen wird. Luther erkennt so die Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit – einer Notwendigkeit, die wohl im Sinne eines gewissermaßen schwachen Determinismus interpretiert werden kann. 45 Mit Blick auf die analytisch-philosophische Freiheitsdebatte scheint Luthers Determinismusverständnis etwa in der Nähe der Determinismus-Definition von Galen Strawson gesehen werden zu können, der einen Determinismus in dem Sinne vertritt, dass alles, was existiert, hinreichende Ursachen besitzt. »[A]ll events are caused except one – the so-called ›Big Bang‹«. 46 Betrachten wir das anfangs deutlich gewordene Verständnis der Identifikation von Handlungssubjekt und Entscheidung bei Harry Frankfurt, so kommt Luthers Beschreibung der Freiheit in niederen Dingen diesem Konzept durchaus sehr nahe. Denn ein bedeutsamer, grundlegender Hinweis auf Luthers kompatibilistisches Freiheitsverständnis in De servo arbitrio ergibt sich auch in Luthers ArgumentaVgl. zu Luthers Determinismus auch Hermanni und Leonhardt: Für Hermanni ist dieser in der Allwirksamkeit Gottes begründete Determinismus entsprechend des Satzes vom zureichenden Grund zu verstehen: »Für alles, was geschieht, gibt es einen Grund, warum es überhaupt geschieht und warum es so und nicht anders geschieht. In diesem Sinne aber vertritt Luther zweifellos einen Determinismus, und zwar einen theologischen. Denn für ihn ist der Wille Gottes der zureichende Grund für alle Ereignisse, auch für die freien Entscheidungen des Menschen« (Hermanni 2004, 176). Dieser Sichtweise Hermannis schließt sich auch Rochus Leonhardt an, wenn er in De servo arbitrio zu Recht wahrnimmt, dass sich für Luther das Wirken Gottes zum Heil als ein Sonderfall zum allgemeinen Fall der Allwirksamkeit Gottes verhält: »[G]egen das vielfach verbreitete Bemühen, den Eindruck eines ontologischen oder theologischen Determinismus zu zerstreuen, macht Luther selbst eindeutig klar, dass die von ihm gegen Erasmus eingeschärfte Alleinkompetenz Gottes beim Gnadenhandeln lediglich ein Sonderfall seiner universalen Alleinkompetenz ist« (Leonhardt 2008, 149). Wilfried Härles These, man würde »Luthers Auffassung offensichtlich nicht gerecht […], wenn man ihm einen ontologischen oder theologischen Determinismus unterstellt« (Härle 2005, 273), weist Leonhardt damit zutreffend zurück (Leonhardt 2008, 149, Anm. 15). 46 Strawson (2010), 4, Anm. 6. 45
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tion, Freiheit ausdrücklich im Sinn von Freiwilligkeit aufzufassen. Auf diesen Hinweis gilt es entsprechend den Blick zu richten. Bereits in Luthers Frage über die Kräfte findet sich die Beschreibung der Freiwilligkeit hinsichtlich seiner Beschreibung derjenigen Freiheit, über die der Mensch verfügt: »Der Wille des Menschen ohne Gnade ist nicht frei, sondern er dient, wenn auch nicht unwillig«. 47 Hierin deutet sich Luthers Freiheitsverständnis insgesamt bereits grundsätzlich an: In Hinsicht auf die Beschaffenheit, die von Gottes Gnade abhängt, existiert keine Freiheit, wohl aber in Hinsicht auf den Bereich, der dieser Beschaffenheit untergeordnet ist, und hier zeichnet sich die Freiheit im Sinne der Abwesenheit äußerer und innerer Fremdbestimmung des Willens, das heißt im Sinne der Freiwilligkeit aus. Luther entfaltet diesen Gedanken insbesondere mit Hilfe der Unterscheidung von necessitas immutabilitatis (Notwendigkeit der Unveränderlichkeit) und necessitas coactionis (Notwendigkeit des Zwangs). Nicht jede Form von Notwendigkeit schließt Freiheit in Luthers Sicht aus, sondern allein diejenige Notwendigkeit, die als Zwang auf das Handlungssubjekt einwirkt. Erasmus hingegen scheint diese Differenzierung nicht zu kennen, für ihn erscheint jede Form von Notwendigkeit, die als Determinismus im Sinn der Notwendigkeit der Folge zu verstehen ist, mit Freiheit grundsätzlich unvereinbar. Luther macht sein Verständnis hingegen wie folgt deutlich: Als ob wir von einem Zwang reden würden und nicht vielmehr von der Notwendigkeit der Unveränderlichkeit. Diese wird angegeben entsprechend der Neigung Gottes, […] sie ist jenes höchst wirkungsvolle Geschäftigsein Gottes, dem man nicht ausweichen und das man nicht verändern kann, sondern durch welches man unausweichlich ein so beschaffenes Wollen hat, wie Gott es jenem gegeben hat und wie er es ergreift durch seinen Antrieb. 48
Luther erkennt ein Wollen, das Gott gegeben hat, und das dennoch nicht fremdbestimmt erscheint. Dieses Wollen entspricht einem freiwilligen Wollen, das ein Handlungssubjekt auf der Grundlage seiner »Voluntas hominis sine gratia non est libera, sed servit, licet non invita« (Luther [WA], 1, 147, 38 f.). 48 »Quasi nos de coactione loquamur, ac non potius de necessitate immutabilitatis. Ea significatur per inclinationem Dei […] actuosissima illa operatio Dei, quam vitare et mutare non possit, sed qua tale velle habet necessario, quale illi Deus dedit et quale rapit suo motu« (Luther [WA], 18, 747, 22–27). 47
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persönlichen Beschaffenheit ausbilden kann – freilich ohne diese Beschaffenheit grundlegend frei bestimmen zu können: Jetzt aber, da er getrieben und ergriffen wird zu wollen, geschieht seinem Willen zwar keine Gewalt, weil er nicht nicht wollend gezwungen wird, sondern durch das naturgemäße Wirken Gottes wird er ergriffen, in natürlicher Weise so zu wollen, wie er beschaffen ist. 49
Luther beschreibt diesen Gedanken anschaulich am Beispiel eines nicht von Gottes Geist bestimmten, schlecht beschaffenen Handlungssubjekts. Im Kontrast dazu nennt Luther die Fremdbestimmung, die einen strafwürdigen Verbrecher trifft: Wenn der Mensch den Geist Gottes entbehrt, handelt er sicherlich nicht unter Gewalt wie ein Ergriffener, am Hals gewürgt, Schlechtes tut, obwohl er es nicht will, wie ein Dieb oder Räuber nicht wollend zur Bestrafung geführt wird, sondern er handelt aus eigenem Antrieb und nach freiem Willen. 50
Die Notwendigkeit des Zwangs entspricht in Luthers Sicht hier einer äußerlichen Fremdbestimmung, die zweifellos freiheitsunterminierend wirkt. Die Notwendigkeit der Unveränderlichkeit hingegen ist Luther zufolge überhaupt nicht als Fremdbestimmung zu beschreiben, handelt und entscheidet ein Handlungssubjekt nach ihr doch freiwillig in Bezug auf die dem Handlungssubjekt bewussten Erwägungen und Gründe seiner Entscheidung. 51
»Nunc vero, cum agatur et rapiatur volendo, non fit quidem voluntati eius vis, quia non cogitur nolens, Sed naturali operatione Dei rapitur ad volendum naturaliter, qualis qualis est« (Luther [WA], 18, 714, 31–33). 50 »[H]omo cum vacat spiritu Dei, non quidem violentia, velut raptus obtorto collo, nolens facit malum, quemadmodum fur aut latro nolens ad poenam ducitur, sed sponte et libenti voluntate facit« (Luther [WA], 18, 634, 23–25). 51 Vgl. hierzu auch: »Ich beschwöre dich [sc. Erasmus], diskutieren wir jetzt über Zwang und Gewalt? Haben wir nicht in so vielen Büchlein bezeugt, dass wir über die Notwendigkeit der Unveränderlichkeit reden? […] Oder wenn die Dinge, die ich sage, noch nicht begriffen sind, [dann] wollen wir die eine Notwendigkeit darstellen, die gewaltsam zu Werke geht, und die andere Notwendigkeit, die unfehlbar zur rechten Zeit wirkt. Über die Letztere sprechen wir, das möge begreifen, wer uns hört, nicht über die Erstere« – »Obsecro, an disputamus nunc de coactione et vi? Nonne de necessitate immutabilitatis nos loqui tot libellis testati sumus? […] Aut si nondum intelliguntur quae dico, aliam necessitatem violentam ad opus, aliam necessitatem infallibilem ad tempus referamus; de posteriore nos loqui intelligat, qui nos audit, non de priore« (Luther [WA], 18, 720, 31–721, 1). Vgl. entsprechend Luther (WA), 18, 722, 4–9. 49
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Luther kann seine Argumentation in der Weise zuspitzen, dass er Freiwilligkeit schließlich als Definitionsmerkmal des Willens ausmacht. Was wir tun, »dies tun wir wollend und gern, entsprechend der Natur des Willens, was gezwungen wäre, wäre kein Wille. Denn Zwang ist eher Nichtwille (sozusagen)«. 52 Damit zeigt sich weiterhin eine deutlich kompatibilistisch geprägte Argumentationslinie Luthers. Schließlich erweist sich die Differenz der beiden Ebenen als ein entscheidender Schlüssel zum Verständnis der Freiheitsvorstellung Luthers. In mancher Sekundärliteratur scheint der Zusammenhang der Rede von Freiheit und Unfreiheit bei Luther durchaus missverstanden und Luther folglich selbstwidersprüchlich wahrgenommen zu werden. 53 Dabei hat etwa Anfang des 20. Jahrhunderts Carl Stange erkannt, welcher Erkenntnisgewinn in der Wahrnehmung der unterschiedlichen Ebenen für das Freiheitsverständnis Luthers liegt. Stange formuliert folgendermaßen: Der Gegensatz von Freiheit und Unfreiheit entspricht in der Tat dem Unterschied, welcher zwischen der äußeren Handlung und der Gesinnung besteht: die Richtung seines Willens kann der Mensch sich nicht selbst geben und deshalb ist er, soweit die Gesinnung in Frage kommt, gebunden und unfrei; aber ob nun diese Gesinnung sich in einzelne Handlungen umsetzt und wie das geschieht, das ist eine andere Frage und in dieser Beziehung kann allerdings von Freiheit die Rede sein. 54
Friedrich Hermanni, der auf Stanges Einsicht würdigend hinweist, 55 drückt die Unterscheidung der beiden Freiheitsebenen bei Luther folgendermaßen aus: Nach Luther ist der Mensch insofern frei, als er bezogen auf einzelne Gegenstände und Tätigkeiten Alternativen erwägen und zwischen ihnen entscheiden kann, während er in Bezug auf seine Gesinnung keine Wahl hat. Gleichwohl gibt es für jede Entscheidung, die ein Mensch trifft, einen zureichenden Grund, nämlich seinen Charakter und seine jeweiligen Motive, die ihrerseits im Willen Gottes gründen. 56
»[I]dque facimus volentes et lubentes, pro natura voluntatis, quae cogeretur, voluntas non esset. Nam coactio potius est (ut sic dicam) Noluntas« (Luther [WA], 18, 635, 12–14). 53 Vgl. Hermanni (2004), 175, Anm. 40. 54 Stange (1928), 30, Herv. i. O. 55 Hermanni (2004), 175, Anm. 40. 56 Hermanni (2004), 180 f. 52
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Damit weist Hermanni auch auf die entscheidende Pointe hin, dass Luthers Verständnis der menschlichen kompatibilistischen Freiheit nicht nur mit der Notwendigkeit der göttlichen Allwirksamkeit vereinbar, sondern geradezu durch sie bedingt zu verstehen ist. 57 Ähnlich deutet etwa auch Ulrich Körtner Luthers Freiheitsverständnis und drückt dies in der Terminologie der analytischen Philosophie aus: »Luther stellt die paradoxe Behauptung auf, daß es eine menschliche Freiheit gibt, die mit der Unfreiheit des Willens vereinbar ist. Das kann man als Position eines theologischen Kompatibilismus bezeichnen.« 58 Zweifellos gilt festzuhalten, dass ein kompatibilistisches Freiheitsverständnis gerade darin seine Pointe besitzt, dass kompatibilistische Freiheit als wirkliche Freiheit, als Freiheit im Sinn von Selbstbestimmung zu verstehen ist. Eben diese Pointe erweist sich in Luthers Unterscheidung zweier Ebenen: Unfreiheit in Bezug auf die Beschaffenheit eines Handlungssubjekts und Freiheit in Bezug auf Entscheidungen und Handlungen, die sich innerhalb des vorausgesetzten Bereichs der Beschaffenheit erklären lassen. In diesem Sinn kann Luther in der Tat im Sinne der analytischphilosophischen Freiheitsdebatte als Kompatibilist bezeichnet werden. Wie dieser Lutherische Kompatibilismus sich näher zeigt, ist nun zu entfalten.
Dies entspricht der oben dargestellten Bemerkung Luthers, dass auch in Bezug auf die Freiheit in niederen Dingen alles gelenkt wird »allein durch das freie Willensvermögen Gottes, wohin auch immer es ihm gefällt« (Luther [WA], 18, 638, 8 f.), vgl. auch Luther (WA), 18, 672, 11. Dass sich hier eine entscheidende Einsicht verbirgt, die vor dem Missverständnis bewahrt, Luthers Verständnis von Freiheit in niederen Dingen als solch ein Verständnis aufzufassen, nach dem Freiheit und Determinismus als unvereinbar erscheinen, beschreibt etwa auch Gerhard Ebeling, vgl. Ebeling (1964), 251. 58 Körtner (2005), 102. Vgl. Klein (2009), 383 f. Vgl. Rochus Leonhardt: Luther erweist sich »offensichtlich als ein Kompatibilist – aber als ein solcher, der die Wahrheit des Determinismus nicht dahingestellt sein lässt, sondern ausdrücklich behauptet« (Leonhardt 2008, 155). 57
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3.
Luthers Kompatibilismus
Am Ende von De libero arbitrio hält Erasmus Folgendes fest: Warum, wird man sagen, wird dem freien Willen etwas zugestanden? Damit es etwas gibt, was den Gottlosen zu Recht angerechnet wird, die sich freiwillig der Gnade Gottes versagt haben, damit der Vorwurf der Grausamkeit und Ungerechtigkeit von Gott abgewendet werde, damit von uns die Verzweiflung ferngehalten werde, und die Sorglosigkeit abgewendet werde, damit wir zum Bemühen angespornt werden. Aus diesen Gründen wird von fast allen der freie Wille behauptet […]. 59
Hier wird Erasmus’ Ziel noch einmal deutlich, warum er unbedingt an einer Willensfreiheit festhalten möchte, die den Determinismus nicht verträgt. Er nennt als wesentliche Folgeprobleme der Ablehnung eines freien Willensvermögens die fehlende Zurechenbarkeit des Menschen und den Vorwurf der Grausamkeit und Ungerechtigkeit gegenüber Gott. Denn Gott maßt sich Urteile über Menschen an, die nicht willensfrei, sondern in ihren Entscheidungen und Handlungen bestimmt waren. Für Erasmus ist also im Sinne der analytisch-philosophischen Freiheitsdebatte Zurechenbarkeit das entscheidende Kriterium, das eine Willensfreiheit, die mit dem Determinismus unvereinbar ist, schier unabdingbar erscheinen lässt. 60 Klassische Kompatibilisten – etwa Harry Frankfurt – würden an dieser Stelle freilich widersprechen. Und auch Luther scheint – wie wir vorhin gesehen haben – ein solches kompatibilistisches Freiheitsverständnis zu vertreten, das jenem von Harry Frankfurt nahe kommt. Allerdings muss Luthers Kompatibilismus differenziert beschrieben werden. Einerseits begründet Luther an verschiedenen Stellen in De servo arbitrio Zurechenbarkeit tatsächlich ähnlich wie Harry Frankfurt durch Hinweis auf die Identifikation zwischen Handlungssubjekt und Entscheidung.
Vgl. Erasmus (1969a), 191 (eigene Übersetzung). – »Cur, inquies, datur aliquid libero arbitrio? Ut sit, quod merito imputetur impiis, qui gratiae dei volentes defuerint, ut excludatur a deo crudelitatis et iniustitiae calumnia, ut excludatur a nobis desperatio, ut excludatur securitas, ut exstimulemur ad conandum. Ob has causas ab omnibus fere statuitur liberum arbitrium, sed inefficax absque perpetua dei gratia, ne quid arrogemus nobis« (Erasmus 1969a, 190). 60 Vgl. einschlägig Erasmus (1969a), 190 f., vgl. ebenfalls 164–167. 59
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So appelliert Luther etwa wie folgt an Erasmus’ Einsicht, dass Menschen Sachverhalte als ihnen zugehörig bezeichnen, ohne letztgültig für diese verantwortlich zu sein: Ich beschwöre dich, ob nicht ganz richtig ›unser‹ genannt wird, was wir zwar nicht gemacht, was wir jedoch von anderen empfangen haben? Warum folglich sollten die Werke nicht unsere genannt werden, die Gott uns gab durch den Geist? 61
Nicht das eigene Tun im Sinne einer unabhängigen Freiheit, sondern ein kompatibilistisch freies Entscheiden und Agieren in Abhängigkeit vom Geist Gottes bringt jene Werke hervor, die unsere eigenen, uns zurechenbaren Werke genannt werden können. Diese These, dass Luther ein Frankfurt vergleichbares Verständnis von Zurechenbarkeit beschreibt, lässt sich durch verschiedene Aussagen Luthers weiter belegen. 62 Erstaunlicherweise kann jedoch wahrgenommen werden: Belegen lässt sich auf Grundlage von De servo arbitrio ebenfalls die These eines weiteren, abweichenden Verständnisses von Zurechenbarkeit bei Luther. Es verblüfft, führt uns aber schließlich zu Luthers differenziertem Verständnis der menschlichen Freiheit, wenn wir sehen, dass Luther der vorhin zitierten Aussage von Erasmus zustimmt: Luther erkennt eine Ungerechtigkeit Gottes darin, dass er scheinbar unzurechnungsfähige Menschen verurteilt: Weshalb allerdings jene Majestät diesen Schaden unseres Willens nicht beseitigt oder in allen verändert – da dies nicht in der Macht des Menschen steht – oder warum er ihm jenen zurechnet, obwohl der Mensch sich ihm nicht entziehen kann, danach zu forschen, ist nicht erlaubt. 63
Dass Gott den Schaden des Willens nicht beseitigt bzw. verändert, bezieht sich auf die ungeklärte Frage Luthers, warum Gott die schlechte Beschaffenheit von Menschen nicht zum Guten verändert. Luther stellt in diesem Kontext jedoch auch eine zweite ungeklärte Frage, mit der er deutlich zu erkennen gibt, dass er Zurechenbarkeit nicht klassisch-kompatibilistisch, sondern durch das von ihm als un»Obsecro te, an non nostra dicuntur quam rectissime, quae non fecimus quidem nos, recepimus vero ab aliis? Cur igitur opera non dicerentur nostra, quae donavit nobis Deus per spiritum?« (Luther [WA], 18, 696, 22–25). 62 Vgl. weitere Belege: Dettinger (2015), 219–229. 63 »Verum quare maiestas illa vitium hoc voluntatis nostrae non tollit aut mutat in omnibus, cum non sit in potestate hominis, aut cur illud et imputet, cum non possit homo eo carere, quaerere non licet« (Luther [WA], 18, 686, 8–11). 61
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möglich beschriebene Freiheitsverständnis im Sinne eines unabhängigen Selbst begründet erkennt: Warum rechnet Gott dem Menschen seine Entscheidungen und Handlungen an, obwohl der Mensch seine dahinter liegende Beschaffenheit nicht zu verändern vermag? – Diese Frage würde Harry Frankfurt jedenfalls so niemals stellen. Luther macht nicht nur hier, sondern an weiteren Stellen deutlich, dass er die Folgeprobleme, die Erasmus beschreibt, durchaus sieht und auch anerkennt. Tatsächlich beschreibt Luther jene von ihm an anderer Stelle klassisch-kompatibilistisch gedeutete Freiheit nun keineswegs als Freiheit, sondern gar als Zwang. Indem Gott die Beschaffenheit des schlecht beschaffenen Menschen notwendig bzw. eindeutig bestimmt, zwingt er ihn Luther zufolge zum bösen Handeln und Entscheiden. Der klassisch-kompatibilistische Gedanke, dass ein Handlungssubjekt unter Voraussetzung einer durch es selbst unveränderbaren Beschaffenheit durchaus frei im Sinne der Freiwilligkeit entscheiden und handeln kann bzw. die von Luther selbst getroffene Unterscheidung zwischen necessitas immutabilitatis und necessitas coactionis findet an dieser Stelle von Luther keine Beachtung, sondern erscheint geradezu konterkariert. Luther gesteht entgegen anderer eigener Aussagen hier frei heraus, dass er über keine Erklärung von Zurechenbarkeit verfügt. Freiheit im Sinne eines unabhängigen Selbst oder im inkompatibilistischen Verständnis erscheint ihm prinzipiell unrealisierbar. Da er Zurechenbarkeit jedoch zugleich an dieses Verständnis von Freiheit gebunden sieht, erscheint es ihm unmöglich, Zurechenbarkeit in angemessener Weise zu begründen: Denn es bleibt absurd (nach dem Urteil der Vernunft), dass jener gerechte und gute Gott Unmögliches vom freien Willensvermögen verlangt und, obwohl das freie Willensvermögen Gutes nicht wollen kann und notwendigerweise der Sünde dient, ihm dies dennoch zurechnet. 64
Die Frage, wie Gott gerecht erscheinen kann, sowohl angesichts der Tatsache, dass er »Unwürdige krönt« als auch der Tatsache, dass er »die, die es nicht verdienen, verdammt«, 65 kann Luther zufolge erst »Absurdum enim manet (ratione iudice), ut Deus ille iustus et bonus exigat a libero arbitrio impossibilia, Et cum liberum arbitrium non possit velle bonum necessarioque serviat peccato, tamen imputet ei« (Luther [WA], 18, 707, 32–35); vgl. grundlegend Dettinger (2015), 229–241. 65 »[I]ndignos coronet«; »immeritos damnet« (Luther [WA], 18, 731, 10; 731, 12). 64
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dann beantwortet werden, wenn »wir dahin gelangt sind, wo nicht mehr geglaubt, sondern mit enthülltem Anblick gesehen werden wird« bzw. wenn »der Menschensohn offenbart sein wird«. 66 In den letzten Abschnitten von De servo arbitrio kommt Luther auf diese eschatologische Hoffnung abschließend zu sprechen und entfaltet sie ausführlich in seiner Drei-Lichter-Lehre. Luther wirbt für Vertrauen in Gottes Möglichkeit der Begründung von Verantwortlichkeit, die sich eschatologisch für alle erweisen wird: Offenbar räumen wir Gott in allen anderen Dingen göttliche Majestät ein, allein bei seinem Gericht sind wir bereit, sie zu verneinen und wir können unterdessen nicht glauben, dass er gerecht ist, obwohl er uns verheißen hat, dass er es sein werde, dass wir alle, sobald er seine Herrlichkeit offenbart hat, dann sehen und greifen, dass er gerecht gewesen ist und es auch jetzt ist. 67
Im Licht der Herrlichkeit (lumen gloriae), so Luther weiter, wird sich schließlich erweisen, dass Gott den Gottlosen letztlich gerechterweise verurteilt – und Zurechenbarkeit damit gegeben war. 68 Diesen Befund gilt es abschließend zu deuten. Es scheint mir unstrittig, dass Luthers zuletzt dargestellte Probleme mit der Begründung von Zurechenbarkeit ihn nicht grundsätzlich von seinem kompatibilistischen Freiheitsverständnis abrücken lassen. Er selbst kann Zurechenbarkeit schließlich an anderer Stelle klassisch-kompatibilistisch begründen, einzig scheint ihn dies selbst nicht ganz und gar zu überzeugen. Es liegt nahe, bei Luther einen intuitiven Vorbehalt gegen seine eigene Einsicht der Begründbarkeit von Zurechenbarkeit auszumachen. Im Hintergrund von Luthers scheinbar uneinheitlicher Position zeigt sich meines Erachtens sowohl die mächtige Plausibilität des klassisch verstandenen Kompatibilismus als auch die unbestreitbare Relevanz inkompatibilistischer Intuitionen. Bei Luther findet sich beides: Zum einen: Willensfreiheit lässt sich nachvollziehbar und ar»[C]um illuc venerimus, ubi iam non credetur, sed revelata facie videbitur«; »revelabitur filius hominis« (Luther [WA], 18, 731, 10 f.; 731, 13). 67 »Scilicet in omnibus aliis Deo concedimus maiestatem divinam, in solo iudicio negare parati sumus nec tantisper possumus credere, eum esse iustum, cum nobis promiserit, fore, ubi gloriam suam revelarit, ut omnes tum videamus et palpemus, eum fuisse et esse iustum« (Luther [WA], 18, 784, 30–34). 68 Vgl. Luther (WA), 18, 785, 29–37. 66
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Luther und die analytisch-philosophische Freiheitsdebatte
gumentativ einleuchtend als kompatibilistische Willensfreiheit entfalten. Zum anderen: Es bleibt eine Art intuitiver Vorbehalt gegenüber einem rein oder klassisch kompatibilistischen Verständnis von Willensfreiheit bestehen. Denn bei der Frage nach der Begründung von Zurechenbarkeit erscheint regelmäßig der Ruf nach einem »mehr« in Bezug auf das, was ein klassisch-kompatibilistisches Freiheitsverständnis zu bieten vermag. Luthers Kompatibilismus geht damit insofern über ein klassisches kompatibilistisches Freiheitsverständnis hinaus, als er das Recht und die Bedeutung inkompatibilistischer Intuitionen mit Blick auf das menschliche Freiheitsverständnis gewissermaßen anerkennt und einlösen möchte – wenn er die Klärung dieser Problematik auch erst am Ende der Zeit durch Gott selbst erwartet. Nachvollziehbar wäre auch in eschatologischer Perspektive eine bleibende Relevanz inkompatibilistischer Intuitionen, die mit dem Selbstverständnis der Menschen als Personen wohl eng zusammenhängen. Die Verknüpfung dieser inkompatibilistischen Intuitionen mit dem freiheitstheoretischen Anspruch, für die Begründung von Zurechenbarkeit notwendig zu sein, könnte hingegen als irdisch bzw., wie Luther auch sagen könnte, zur sündigen Beschaffenheit des Menschen gehörig in eschatologischer Perspektive zum Ende kommen. Dann würde sich als Irrtum des Menschen erweisen, dass er in seiner Hybris bzw. Ursünde intuitiv davon ausgeht, über göttliche Freiheit verfügen zu müssen, um verantwortlich sein zu können. In Luthers Position spiegeln sich letztlich die elementaren, auch die Freiheitstheoriegeschichte prägenden Grundschwierigkeiten der Freiheitsproblematik, die sich fortwährend infolge der wirkmächtigen Plausibilität kompatibilistischer Freiheitsvorstellungen auf der einen Seite und der wirkmächtigen Plausibilität von Freiheitsvorstellungen, die inkompatibilistische Intuitionen berücksichtigen, auf der anderen Seite ergeben. 69
Diese beiden Plausibilitäten lassen sich Galen Strawsons Analyse der Freiheitsproblematik zufolge ausgehend von dem natürlichen Selbstverständnis eines Handlungssubjekts als unabhängiges Selbst nachvollziehen. Vgl. Strawson (2010), 80–103, bes. 94–100; Dettinger (2015), 112–134.
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289 https://doi.org/10.5771/9783495823668 .
Frank Dettinger
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291 https://doi.org/10.5771/9783495823668 .
Christliche Freiheit und Wahlfreiheit Wolfhart Pannenberg
Bei allen Unterschieden im Verständnis von Freiheit ist in unserer kulturellen Überlieferung Freiheit doch immer dem Zwang entgegengesetzt. Das gilt schon für den politischen Sprachgebrauch: Der freie Bürger im Unterschied zum Sklaven unterliegt keinem (äußeren) Zwang. Andererseits ist Freiheit nicht unvereinbar mit Unterordnung, mit der Anerkennung einer Autorität. Sie darf nur nicht erzwungen sein. Nach Platon ist die Norm des Guten sogar Quelle der Freiheit. Denn das für den Menschen Gute bringt ihn zur Übereinstimmung mit sich selbst, zur Autarkie. 1 Nach Aristoteles hingegen ist Freiheit primär Wahlfreiheit, die Fähigkeit, zwischen alternativen Möglichkeiten zu wählen und zu entscheiden (Eth. Nic. 4,4, 1111b7 ff.). Die Wahl hat es zu tun mit dem, was »bei uns selbst« liegt, also in unserer eigenen Macht steht (1111b30) Diese Auffassung der Freiheit als Selbstbestimmung ist im Verlauf der Geschichte einflussreich geworden bis hin zu unseren modernen Vorstellungen von Freiheit. Wenn John Locke in seinen berühmten Abhandlungen über die bürgerliche Regierungsform (On civil government) 1690 schrieb, dass alle Menschen von Natur aus frei sind, ihre Handlungen zu ordnen und über ihren Besitz und die eigene Person nach Gutdünken zu verfügen (order their actions and dispose of their possessions and persons as they think fit [ii,2,4]), dann liegt dabei der Gedanke der Wahlfreiheit zugrunde, und zwar im Sinne der Selbstbestimmung der Person durch die Wahl ihrer Handlungen und durch die Verfügung über ihr Eigentum und über sich selbst. Unter dem Einfluss von Locke hat dann die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 individuelle Freiheit und die Suche nach Glück (pursuit of happiness) zu einem aus der Natur des Menschen fließenden Grundrecht erklärt, und entsprechend sichert noch das Bonner
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Siehe dazu Warnach (1971), bes. Sp. 1067.
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Christliche Freiheit und Wahlfreiheit
Grundgesetz von 1949 einem jeden »das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit« zu, wenn auch begrenzt durch die Rechte anderer, die verfassungsmäßige Ordnung und (damals noch) »das Sittengesetz« (GG 2,1). Bei allen diesen Beschreibungen des Grundrechts auf persönliche Freiheit geht es um Selbstbestimmung nach eigener Wahl. Vorausgesetzt ist – wie schon bei Aristoteles –, dass der Mensch fähig ist, zwischen Alternativen von sich aus zu entscheiden. Nur unter dieser Voraussetzung scheinen die Menschen verantwortlich für ihre Taten und Unterlassungen sein zu können. Darum hat auch das frühe Christentum den Gedanken der Wahlfreiheit im aristotelischen Sinne übernommen. Der Apologet und Märtyrer Justin schrieb im 2. Jahrhundert, dass die Menschen »nach freier Wahl« »recht oder verkehrt« handeln. Sonst wären sie unschuldig an allem, was sie tun (Apol I,43). Die Wahlfreiheit ist also Bedingung dafür, dass Strafe und Belohnung sinnvoll sind. Insbesondere aber ist sie in der Theologie Bedingung für die Strafbarkeit der Sünde: Wie könnte Gott den Sünder strafen, wenn er sich nicht in freier Entscheidung von Gott abwenden würde? Aus diesem Grunde ist der Gedanke der Wahlfreiheit des menschlichen Willens seit dem 2. Jahrhundert ein fester Bestandteil christlicher Theologie geworden. Man kann auch nicht sagen, dass es dafür gar keine biblische Grundlage gäbe. Die findet sich vor allem im Alten Testament, und zwar bei der Verpflichtung des erwählten Volkes auf die Gebote Gottes: »Leben und Tod habe ich euch vorgelegt, Segen und Fluch. So erwähle nun das Leben, auf dass du am Leben bleibst, du und deine Nachkommen« (Dt 30,19). Ein ganz anderer Gedanke von Freiheit findet sich im Neuen Testament, besonders in den Worten des Apostels Paulus und des Johannesevangeliums über die Freiheit des Christen. In beiden Fällen geht es darum, dass wir durch die Verbundenheit mit Jesus und erst dadurch zur wahren Freiheit gelangen. Als Jünger Jesu werden wir die Wahrheit erkennen, die Wahrheit Gottes, und diese Wahrheit soll uns freimachen (Joh 8,32). Dieses Wort Jesu im Johannesevangelium tritt in schroffen Gegensatz zu aller Freiheit, die Menschen von Natur aus zu haben meinen. Die Gesprächspartner Jesu erinnern ihn empört daran, dass sie doch frei geboren, also frei im politisch-sozialen Sinne sind: »Wir sind Abrahams Geschlecht; niemals sind wir irgend jemandes Knechte gewesen. Wie kannst du da sagen, dass wir frei werden sollen?« (Joh 8,33). Darauf erwidert Jesus, dass sie, obwohl frei geboren, doch Sklaven der Sünde sind und also sehr wohl einer Befreiung 293 https://doi.org/10.5771/9783495823668 .
Wolfhart Pannenberg
bedürfen durch Teilnahme an der Sohnesbeziehung Jesu zu Gott dem Vater. Diese Argumentation gilt nicht nur gegenüber dem Stolz des von Natur aus frei Geborenen im antiken Sinne, sondern auch gegenüber anderen Formen der Annahme einer von Natur aus bestehenden Freiheit wie gegenüber der modernen Berufung auf eine allen Menschen von Natur aus gegebene Freiheit. Die Berufung auf eine Freiheit zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit nach eigener Wahl kann sehr wohl Ausdruck der Sünde sein, die das eigene Ich mit seiner Selbstherrlichkeit an die Stelle setzt, die allein Gott zukommt. Nur die Teilnahme an Jesu Sohnesverhältnis zum himmlischen Vater, an seinem Gehorsam gegen den Vater, kann davon befreien. Das ist die Wahrheit, die frei macht. Ganz ähnlich sagt Paulus: »Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit« (2. Kor 3,18). Für Paulus ist das die Freiheit vom Buchstaben des Gesetzes, die aber darauf beruht, dass der vom Geist des Herrn, also vom Geist Christi Erfüllte von sich aus das tut, was das Gesetz in seinem Zentrum fordert, nämlich Gott über alle Dinge zu lieben und aus solcher Liebe heraus dem Nächsten zu dienen. Die in der Verbundenheit mit Jesus Christus durch die Taufe begründete Freiheit ist also auch bei Paulus Freiheit von der Sünde, weil wir in den Tod Christi getauft und so der Sünde abgestorben sind (R 6,3 ff.). Aber damit ist bei Paulus noch ein anderer Akzent verbunden, nämlich die durch die Teilnahme am Tode Christi begründete Hoffnung auf Teilhabe auch an seinem neuen Leben aus der Auferstehung der Toten. Wenn Paulus im 8. Kapitel des Briefes an die Römer von der »herrlichen Freiheit der Kinder Gottes« spricht (R 8,21), dann meint er damit die Freiheit vom Bann der Vergänglichkeit und des Todes, unter dem die ganze Schöpfung seufzt. Von diesem Bann sind die Christen frei durch die Gemeinschaft mit Jesus Christus, der durch seine Auferstehung von den Toten und als Sohn des Vaters an seinem ewigen Leben teilhat. Wenn wir als Glaubende an Jesu Verhältnis zu Gott, an seiner Sohnesbeziehung zu Gott, dem Vater teilnehmen, dann haben auch wir die Hoffnung auf das ewige Leben in der Gemeinschaft mit Gott, und nach Paulus soll sogar die ganze Schöpfung an dieser »herrlichen Freiheit der Kinder Gottes« teilnehmen und »von der Knechtschaft der Vergänglichkeit befreit werden« (R 8,21). Diese christliche Freiheit von Sünde, Tod und Vergänglichkeit unterscheidet sich tiefgreifend von der Wahlfreiheit, die sich verschiedenartigsten Inhalten zuwenden kann. Allerdings scheint die Wahlfreiheit doch zumindest an einem Punkt für die christliche Frei294 https://doi.org/10.5771/9783495823668 .
Christliche Freiheit und Wahlfreiheit
heit von Bedeutung zu sein, nämlich bei der Zuwendung des Menschen zur Christusgemeinschaft, also zum Glauben. Aber solche Hinwendung ist nach christlichem Verständnis letztlich Gnade und daher nicht Ausdruck einer souveränen Selbstverfügung der Person. Allerdings darf die Entscheidung für den Glauben nicht erzwungen sein. Freiheit von Zwang ist also auch hier grundlegend. Der Glaube erfordert die Beteiligung der ganzen Person und ist in diesem Sinne freiwillig. Entsprechendes gilt auch für das Tun der Sünde, wenn auch nicht ganz im gleichen Sinne. Das sündhafte Handeln wäre nicht Sünde, wenn der Sünder es nicht selber begangen hätte. Aber ob das im vollen Bewusstsein des Gegensatzes gegen Gott und sein Gebot geschah, ist für die sündhafte Qualität der Handlung und für ihre Folgen nicht entscheidend. Bezeichnend ist, dass schon in der biblischen Paradiesesgeschichte die Versuchung mit der Erwägung beginnt, ob Gott wirklich gesagt habe, der Mensch werde sterben am Genuss der verbotenen Frucht (Gen 3,4), die vielmehr »lieblich anzusehen […] und begehrenswert« zu sein schien (Gen 3,6). Dennoch haben die ersten Menschen faktisch das Gebot Gottes übertreten und damit die Strafsanktion verwirkt, die freilich nur in abgeschwächter Form zur Anwendung kommt mit der Austreibung aus dem Paradies. In der Geschichte der christlichen Theologie ist immer wieder versucht worden, die Wahlfreiheit des Willens zu vereinen mit dem Gedanken, dass der Mensch erst in der Gemeinschaft mit Gott und seinem ewigen Leben wahre Freiheit gewinnt. Dabei hat die platonische Lehre, dass der Mensch seiner Natur nach auf das Eine Gute hin angelegt ist und auch da, wo er irrt, noch vom Streben nach dem Guten geleitet wird, wichtige Vermittlungsdienste geleistet. So haben christliche Kirchenväter seit Irenäus und Klemens von Alexandrien gelehrt, dass der Mensch seine wahre Freiheit erst in Verbindung mit dem wahrhaften Guten, mit Gott, findet. Nach der Lehre Augustins ist der Mensch auf die Gemeinschaft mit Gott, dem höchsten Gut, angelegt und ist nur darin wahrhaft frei, während die Abweichung der Wahlentscheidung von diesem Ziel durch Bevorzugung irdischer Gegenstände des Begehrens die Freiheit mindert. Auch die christliche Theologie des Mittelalters hat noch mehr oder weniger so gedacht, obwohl mit der aristotelischen Auffassung der Freiheit als wertneutraler Wahlfreiheit eine Ablösung des Freiheitsbegriffs von der Bindung an das göttlich Gute sich anbahnte. Diese Tendenz setzte sich mit der Vorstellung von der Indifferenz des Wählenden vor dem Akt 295 https://doi.org/10.5771/9783495823668 .
Wolfhart Pannenberg
der Wahl gegenüber den unterschiedlichen Objekten und Akten des Willens, zwischen denen zu wählen ist, durch. Die Vorstellung der Indifferenzfreiheit des Willens wurde besonders vom Humanismus auch auf das Verhältnis des Menschen zu Gott bezogen. Das veranlasste Martin Luther 1525, der Schrift des Erasmus von Rotterdam über den freien Willen (Diatribe de libero arbitrio, 1524) scharf zu widersprechen, weil Luther durch die Lehre von der Wahlfreiheit des Willens die Angewiesenheit des Menschen auf die Erlösung durch Christus, seine Verlorenheit in der Sünde ohne Christus, in Zweifel gezogen sah (WA 18,786). Die Erlösung wird einerseits unsicher, wenn ihre Wirksamkeit von einer freien Willensentscheidung des Menschen abhängig gemacht wird, und sie wird andererseits zumindest teilweise dann auch dieser Willensentscheidung zugeschrieben (769 f.). Nach Luther hängt alles Geschehen von Gottes Willen und Vorherwissen ab (716 f.). Gott wirkt alles in allem (732), und was er wirkt, das geschieht mit Notwendigkeit (615 f.). So gelangte Luther zu der verallgemeinerten Auffassung, dass alles mit Notwendigkeit geschieht: Omnia necessitate fieri (617). Dass alles mit Notwendigkeit nach dem Willen Gottes geschieht, das ist nach Luther sogar unser höchster Trost in allen Widrigkeiten des irdischen Lebens (619), weil wir uns so immer, auch im Erdulden unverständlicher Leiden und Bedrängnisse, in der Hand Gottes wissen können. Die Notwendigkeit, mit der alles geschieht, bedeutet überdies für den menschlichen Willen nicht, dass er einem Zwang unterliegt (637). Die Menschen handeln in der Regel mit willentlicher Zustimmung, gerade auch dann, wenn sie sündigen. Das ist für Luther ausreichend, um die Verantwortlichkeit und Strafwürdigkeit des Sünders sicherzustellen. Auch die Entscheidungsfreiheit des Menschen hat Luther allerdings nicht generell bestritten. Im Bereich der alltäglichen Tätigkeiten und Dinge können die Menschen sich sehr wohl nach eigenem Gutdünken alternativ verhalten, nur nicht im Verhältnis zu Gott (638, vgl. 672): Die Menschen bleiben auch in ihren Wahlentscheidungen von Gott abhängig, und sie können nicht aus eigenem Willen aufhören, Sünder zu sein, weil ihr eigener Wille immer schon als sündhaft qualifiziert ist. Davon können sie nur durch Gottes Gnade befreit werden, indem sie durch Taufe und Glaube mit Jesus Christus verbunden werden. Wenn wir in Jesus Christus, durch die Verbundenheit mit ihm, des ewigen Lebens teilhaftig werden, so verdanken wir das nicht der Freiheit unserer Willensentscheidung, sondern allein der Gnade Gottes. 296 https://doi.org/10.5771/9783495823668 .
Christliche Freiheit und Wahlfreiheit
Luthers Argumentation für die Unfreiheit des Willens vermag in ihrem Kern auch heute noch anthropologisch einzuleuchten: Die Subjektivität des Willens im Akt der Wahl ist den einzelnen Wahlentscheidungen schon vorgegeben und ist nicht ihr Gegenstand. Ist ein Mensch beherrscht von seinen Begierden, so wird er in seinen Wahlakten ihnen folgen. Der Drogenabhängige oder Alkoholiker mag zwar die Fähigkeit haben, seine Handlungen zu wählen, aber die Wahl wird immer wieder zugunsten der Droge oder der Flasche ausfallen. Wenn der Mensch als Sünder in seiner Subjektivität dadurch bestimmt ist, dass er durch sich selber den Platz besetzt, der allein Gott gebührt, den Platz im Mittelpunkt aller Dinge, dann wird daran durch seine einzelnen Willensentscheidungen nichts mehr zu ändern sein. Angesichts von Luthers scharfer Kritik an der Lehre von der Wahlfreiheit des Willens mag es überraschend sein, dass seine Reformation weithin als Ursprung des Freiheitsgedankens der Neuzeit gilt. In Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte heißt es, das »Prinzip der geistigen Freiheit« des Menschen sei von der Reformation ausgegangen (PhB 171, 877). Dabei hat Hegel nicht die Kritik Luthers an der Annahme einer natürlichen Willensfreiheit des Menschen übersehen. Luthers Lehre von der Freiheit sei, schreibt Hegel, »dass der natürliche Mensch nicht ist, wie er sein soll, dass er die Natürlichkeit überwinden muss durch seine innere Geistigkeit«, nämlich durch Christus (878). Es sei das »die subjektive Gewissheit des Ewigen, der an und für sich seienden Wahrheit, der Wahrheit von Gott«. »So wird der subjektive Geist in der Wahrheit frei, negiert seine Partikularität und kommt zu sich selbst in seiner Wahrheit« (880 f.), und damit sei »die christliche Freiheit wirklich geworden« (881). Mit der Reformation sei so »das neue, das letzte Panier aufgetan, um das die Völker sich sammeln, die Fahne des freien Geistes, der bei sich selbst und zwar in der Wahrheit ist und nur in ihr bei sich selbst ist«. Und Hegel fügt hinzu: »Dies ist die Fahne, unter der wir dienen und die wir tragen« (881). Die Geschichte der Neuzeit sei als die Entfaltung dieses Prinzips zu verstehen. Um diese Einschätzung der Reformation zu verstehen, muss man Luthers Traktat »Von der Freiheit eines Christenmenschen« 1520 vor Augen haben, den er als Zusammenfassung seiner Lehre geschrieben und in lateinischer Fassung (De libertate christiana) Papst Leo X. gewidmet hat auf dem Höhepunkt des Streites über die luthersche Lehre im Vorfeld der Verhängung des Kirchenbannes. 297 https://doi.org/10.5771/9783495823668 .
Wolfhart Pannenberg
Diese Schrift De libertate christiana ist Luthers wichtigster Beitrag zum Freiheitsthema gewesen. Die fünf Jahre später geschriebene Auseinandersetzung mit Erasmus De servo arbitrio verhält sich komplementär dazu. Die Freiheit eines Christenmenschen, von der Luther 1520 schrieb, ist nicht die Wahlfreiheit des natürlichen Willens, sondern die Freiheit, die wir erlangen, wo wir durch den Glauben von der Subjektivität des natürlichen, sündhaften Willens befreit werden, weil der Glaube uns in Christus hineinversetzt und so Anteil gibt an allen seinen Gütern. Das Vertrauen des Glaubens versetzt uns aus uns selbst hinaus und in den hinein, auf den wir uns verlassen. Der Glaube ist also seiner Natur nach ekstatisch. Der Glaube versetzt uns in Christus hinein, auf den wir unser Vertrauen setzen, und so erlangen wir durch den Glauben Anteil an allem, was Christus hat – an seinem Leben, seiner Gerechtigkeit, seinem Heil. Luther hat das in der Sprache der mittelalterlichen Brautmystik beschrieben: Der Glaube vereinigt die Seele mit Christus, wie die Braut mit dem Bräutigam eins wird und an allen seinen Gütern Anteil bekommt (c. 12, WA 7,54 f.). Überhaupt ist Luthers Glaubensverständnis eine Form christlicher Mystik. Dass der Glaube uns ekstatisch, außerhalb unserer selbst mit dem vereinigt, auf den wir uns verlassen, das ist ein mystischer Gedanke, eben Glaubensmystik. Diese Glaubensmystik ist die Grundlage für die Teilhabe des Glaubenden an allem, was Christus hat, an seinem Leben, Heil und Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit des Glaubens ist nach Luther nicht primär begründet im juristischen Akt einer Anrechnung der Gerechtigkeit Christi durch Gott zugunsten des Sünders. Grundlegend ist vielmehr die mystische Partizipation des Glaubenden an Christus und an allem, was er hat. Der Zurechnungsgedanke hat demgegenüber eine untergeordnete Funktion: Die ekstatische Teilhabe des Glaubens an Christus kommt dem Glaubenden auch in seinem alltäglichen Lebensvollzug zugute, indem sie ihm »zugerechnet« wird. Zu den Vollkommenheiten Christi, an denen der Glaubende partizipiert, gehören nun auch Christi Königtum und Priestertum (WA 7,56). Der Glaubende hat durch den Glauben Anteil an dem Königtum, zu dem der auferstandene Christus erhöht ist, der zur Rechten Gottes sitzt, also an Gottes Königsherrschaft teilhat. So kann Luther schreiben, der Christenmensch sei »ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan« (WA 7,49). Zugleich freilich ist der Christ um Christi willen auch, wie Jesus Christus selber, »ein dienstbarer Knecht aller und jedermann untertan« (ebd.), aus der Spontaneität 298 https://doi.org/10.5771/9783495823668 .
Christliche Freiheit und Wahlfreiheit
der Liebe, mit der Christus dem Menschen zugewandt ist. Die Liebe, die aus dem Glauben fließt, ist also ihrerseits Ausdruck der christlichen Freiheit. Die Freiheit macht den Menschen einerseits unabhängig von aller irdischen Autorität, verpflichtet andererseits aber zur Teilnahme an den irdischen Aufgaben des Lebens und also zur Unterordnung unter die Ordnung des Zusammenlebens. Die Freiheit des Christen ist also, wie Hegel ganz richtig gesehen hat, nicht identisch mit dem natürlichen Willen des Menschen in der Ungebundenheit seines Beliebens, sondern sie überwindet diesen naturwüchsigen Willen durch die im Glauben, durch den Glauben an Jesus Christus erlangte Gemeinschaft mit Gott und seiner Wahrheit. Hegel meinte: »So wird der subjektive Geist [des Menschen] in der Wahrheit frei, negiert seine Partikularität und kommt zu sich selbst in seiner Wahrheit« (PhB 171, 880 f.). Aber ist das wirklich die Freiheit der Moderne, die politisch garantierte Freiheit der Individuen, die durch die Menschenrechte begründet und garantiert wird? Entspricht diese nicht eher der ungebundenen Wahlfreiheit des natürlichen Willens, der sich nach eigenem Belieben verhält, eingeschränkt nur durch die gleiche Freiheit der anderen? Es gibt tatsächlich eine Verbindung zwischen der von Luther gelehrten christlichen Freiheit und dem politischen Freiheitsbegriff der Moderne. Das ist die Freiheit des Evangeliums, das seinerseits Quelle der christlichen Freiheit des Glaubenden ist. In Luthers Sendbrief an Papst Leo X., der die Zusendung der Freiheitsschrift Luthers begleitete, heißt es, dass er seine Lehre nicht widerrufen könne, weil »das Wort Gottes, das alle freyheyt leret, nicht soll noch muß gefangen sein« (WA 7,9). Die Freiheit des Evangeliums und seiner Verkündigung gehört also eng mit der christlichen Freiheit zusammen. Darum hat die Reformation für die Freiheit des Evangeliums gekämpft, und diese wurde mit der Glaubensfreiheit, die ihr korrespondiert, indem sie aus der Predigt des Evangeliums hervorgeht, zur Wurzel aller anderen bürgerlichen Freiheiten. So hat Oliver Cromwell, der Protektor der für die politische Freiheitsgeschichte bahnbrechend gewordenen englischen Revolution des 17. Jahrhunderts, in einer Rede an das englische Parlament von 1657 gesagt, das Parlament habe sich bemüht, den »two greatest concernments that God has in the world« zu dienen: »The one is that of religion, and of the just preservation of the professors of it; to give them all due and just liberty, and to assert the truth of God«. Das zweite Anliegen Gottes aber seien die bürgerlichen Freiheiten: »The other thing cared for is the civil liberty and 299 https://doi.org/10.5771/9783495823668 .
Wolfhart Pannenberg
Interest of the nation«. 2 Allerdings ist die Verbindung zwischen der christlichen Freiheit und der bürgerlichen Freiheit der Individuen bei Cromwell nicht mehr deutlich bezeichnet, eine Verbindung, die darin besteht, dass jedes einzelne Individuum zur Gemeinschaft mit Gott durch den Glauben bestimmt ist und dadurch eine unaufhebbare Eigenständigkeit gegenüber allen irdischen Autoritäten hat. Ende des 17. Jahrhunderts hat dann John Locke die religiöse Begründung der Freiheitsrechte aller Menschen auf ihre schöpfungsmäßige Bestimmung zurückgeführt. Alle Menschen sind von Gott gleichermaßen frei geschaffen worden. Auch dieser Rückgriff auf die naturrechtliche Begründung der allgemeinen Freiheit des Menschen war allerdings eine, wenn auch abgeschwächte Auswirkung des christlichen Freiheitsgedankens, denn nach der antiken Naturrechtslehre war ja die allgemeine Freiheit des Urstands im Stande der Vergesellschaftung verloren gegangen, während Locke sie für die Gegenwart reklamierte. Trotz der schon bei Locke spürbaren Ablösung von der christlichen Begründung der Freiheit aus dem Glauben an Jesus Christus blieb die religiöse Begründung der Freiheit bei ihm noch wirksam. Es ist ja nicht so ohne weiteres aus sich selber evident, dass jeder einzelne Mensch zur Freiheit bestimmt und darin von den anderen zu respektieren ist. Hegel hatte doch wohl recht mit dem Urteil, dass das Prinzip der allgemeinen Freiheit aller nur da Bestand hat, »wo jede Individualität als positiv im göttlichen Wesen gewusst […] wird« (PhB 171, 127), wie es begründet ist in der christlichen Lehre von der Menschwerdung Gottes, nämlich darin, dass die Menschwerdung Gottes in einem Menschen, in Jesus Christus, allgemein menschliche Relevanz hat, weil sie die ganze Menschheit meint, die durch den Glauben in die Sohnesgemeinschaft Jesu mit Gott hineingezogen werden soll. Man muss allerdings einräumen, dass diese christliche Herkunft des neuzeitlichen Freiheitsprinzips heute verblasst ist, mehr noch als zu Hegels Zeit. An die Stelle ihrer Begründung durch die Teilhabe des Glaubenden an Jesus Christus und an seiner Sohnesbeziehung zum Vater ist die Vorstellung einer mit der menschlichen Natur gegebenen Freiheit getreten. Solche Freiheit wurde im 18. Jahrhundert zwar noch auf die Schöpfungsabsicht Gottes mit dem Menschen begründet. Aber sie wurde nicht mehr inhaltlich mit dem Glauben an Jesus Christus verbunden. Kant hat die christliche Begründung der Freiheit 2
Cromwell (1854), IV 27 f.
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Christliche Freiheit und Wahlfreiheit
ersetzt durch eine moralische: Das Bewusstsein des moralischen Gesetzes begründet die Annahme, dass wir ihm entsprechend auch handeln können. Damit ist bei Kant auch die Einschränkung der individuellen Freiheit durch die Bedingung der Zusammenstimmung mit der Freiheit aller anderen schon gegeben. Denn Recht ist nach Kant »nichts Anderes als die Einschränkung der Freyheit des Menschen (in äußerem Gebrauch) auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung […] mit der Freyheit von jedermann« (AA 23, 125, vgl. 8, 289). Der naturwüchsigen Freiheit der Individuen tritt die so begründete Rechtsnorm allerdings als Schranke, als ein äußerliches Sollen gegenüber. Das hat Hegel in seiner Rechtsphilosophie von 1821 betont (§ 29). Wenn die Einschränkung des individuellen Beliebens durch die Freiheit der anderen und daher durch die Rechtsordnung nicht beim Gegensatz zur individuellen Freiheit stehenbleiben soll, dann muss nach Hegels Urteil der Freiheitsbegriff selber im Sinne der reformatorischen Freiheitslehre vertieft werden, nämlich durch den Gedanken, dass »der natürliche Mensch nicht ist, wie er sein soll, dass er die Natürlichkeit überwinden muss«. So hat Hegel es in seiner geschichtsphilosophischen Vorlesung formuliert (PhB 171, 878). »Der Mensch ist nicht von Natur, wie er sein soll; er kommt erst durch den Prozess der Umbildung zur Wahrheit« (890), und so erst erlangt er seine Freiheit. Erst durch den »Geist der Wahrheit« wird »der subjektive Geist in der Wahrheit frei, negiert seine Partikularität und kommt zu sich selbst in seiner Wahrheit« (880 f.). Dabei handelte es sich für Hegel um die Wahrheit Gottes und um die Vereinigung Gottes mit dem Menschen durch die Inkarnation. Bewusste Freiheit, sagte er, »ist nur, wo jede Individualität als positiv im göttlichen Wesen gewusst wird« (127 f.). In diesem Sinne ist der reformatorische Freiheitsgedanke nach Hegel Prinzip der modernen Staaten geworden mit ihrer Anerkennung der »konkreten Freiheit« der Individuen in ihrer »persönlichen Besonderheit« (Rechtsphilosophie § 260). Im Zuge der fortschreitenden Säkularisierung der Gesellschaft allerdings ist der Freiheitsgedanke selbst verkommen zur individuellen Beliebigkeit, die nur noch durch die gleiche Freiheit der anderen beschränkt ist, konkret durch die Rechtsordnung. Die Begründung der nur vermeintlich naturrechtlich evidenten Freiheit des Menschen als Menschen ist aber prekär. Die Überzeugung davon wird nur geschützt durch das Interesse eines jeden an ihrer Aufrechterhaltung, so dass sie nicht ernsthaft in Zweifel gezogen wird. Geschähe das, so würde die Brüchigkeit ihrer Basis in einer rein säkularen Auffassung von der 301 https://doi.org/10.5771/9783495823668 .
Wolfhart Pannenberg
politischen Ordnung und ihren anthropologischen Grundlagen sich vermutlich schnell zeigen. Lassen Sie mich zum Abschluss noch ein Wort sagen zu der Diskussion über das Verhältnis der Wahlfreiheit des menschlichen Willens zur neurologischen Beschreibung der Vorgänge im menschlichen Gehirn. Ich gestehe, dass ich hier keinen grundsätzlichen Konflikt erkennen kann, solange die naturwissenschaftliche Beschreibung nicht beansprucht, die Gegebenheiten des menschlichen Vermögens zu wählen zwischen möglichen Handlungen und Gegenständen des Verhaltens, hinwegzuerklären als eine bloße Illusion. Es wäre unsinnig zu bestreiten, dass alles menschliche Verhalten durch Hirnprozesse gesteuert wird, also auch der Vorgang der Wahl zwischen Alternativen des Verhaltens. Der Streit zwischen einer deterministischen und einer indeterministischen, durch das Auftreten kontingenter Faktoren in den Naturprozessen bestimmten Auffassung des Naturgeschehens allgemein trägt für die spezielle Frage nach dem Zustandekommen unserer Wahlentscheidungen wohl weniger aus, als man manchmal gemeint hat. Luther jedenfalls hätte bei seinen Anschauungen über den unfreien Willen, das servum arbitrium, wohl wenig Einwände gegen eine deterministische Beschreibung der dabei stattfindenden Vorgänge gehabt. Allerdings hätte er darauf beharrt, die Notwendigkeit des Geschehens als eine letztlich in Gott und nicht nur naturgesetzlich begründete Notwendigkeit zu denken. Das ist eine Frage, die auf einer sehr allgemeinen Ebene der Diskussion zwischen Theologie und Naturwissenschaft erörtert werden muss. Wie verhält sich das Handeln Gottes in allem Geschehen, zu dem wir Christen uns bekennen, zu dessen naturwissenschaftlicher Beschreibung? Der Dialog zwischen Naturwissenschaft und Theologie in den letzten Jahrzehnten hat immerhin gezeigt, dass es hier weder bei einem beziehungslosen Nebeneinander, noch gar bei einem ausschließenden Gegensatz sein Bewenden haben muss. Auch der Vorgang des Glaubens, in welchem die christliche Freiheit gründet, ist übrigens einer neurobiologischen Beschreibung sicherlich nicht prinzipiell entzogen. Der Glaube ist schließlich ein Akt des Menschen, auch wenn er durch den Geist Gottes begründet ist, und als Akt des Menschen ist er anthropologischer Beschreibung zugänglich. Der Glaube an Jesus Christus ist allerdings schwerlich auf eine neurobiologische Beschreibung reduzierbar. Sonst müsste auch sein Gegenstandsbezug in eine solche Beschreibung einbezogen werden. Die Neurobiologie müsste ihre Zuständigkeit also auch auf den spezifischen Gegenstand des 302 https://doi.org/10.5771/9783495823668 .
Christliche Freiheit und Wahlfreiheit
Glaubens, also auf Jesus Christus als den auferstandenen Herrn, an dem der Glaube hängt, ausweiten. Das wäre ein Stadium der wissenschaftlichen Entwicklung, das jedenfalls über ihren gegenwärtigen Stand weit hinausginge. 3
Literaturverzeichnis Quellen Aristoteles: Ethica Nicomachea. Bywater I (ed.), Oxford 1894. Hegel GW: Werke in zwanzig Bänden, Frankfurt/M. 1971. Darin Bd. 7: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Bd. 12: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Justin: In: Goodspeed EJ (ed.): Die ältesten Apologeten, Göttingen 1915. Kant, Immanuel: Gesammelte Schriften, Berlin 1900 ff. [zitiert als AA] Luther, Martin: Weimarer Ausgabe seiner gesammelten Schriften, Weimar 1983 ff. Darin Bd. 7: De libertata Christiana/Von der Freiheit eines Christenmenschen. Bd. 18: De servo arbitrio/Vom unfreien Willen [zitiert als WA]. Plato: Res publica, in: Platonis Opera IV. Burnet J. (ed.), Oxford 1902.
Literatur Cromwell, Oliver (1854): Letters and Speeches, ed. Th. Carlyle, New York. Elsner, Norbert / Lüer, Gerd (Hg.) (2005): »… sind eben alles Menschen«. Verhalten zwischen Zwang, Freiheit und Verantwortung, Göttingen, 281–293 Warnach, Walter (1971): »Freiheit I.«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel, Bd. 2, Basel, Sp. 1064 ff.
Typoskript eines Vortrags, der mit geringfügigen Änderungen erstmals erschien in Elsner/Lüer (2005), 281–293.
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Die Autorinnen und Autoren
Christine Axt-Piscalar, Prof. Dr. Dr. h. c.; Studium der evangelischen Theologie für das Pfarramt und Studium der Philosophie in Mainz und München; Promotion (1990) und Habilitation (1993) an der Ludwig Maximilians-Universität in München; 1997–2000 Ordinaria für Systematische Theologie an der Universität Basel; seit 2000 Professorin für Systematische Theologie an der Georg-August-Universität in Göttingen; 2017 Dr. h. c. der Theologischen Fakultät der Albrecht-Ludwigs-Universität Freiburg. Frank Dettinger, geb. 1983, geschäftsführender Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde Markgröningen. Er studierte evangelische Theologie in Tübingen und Wien und promovierte in Systematischer Theologie mit der Untersuchung »Radikale Selbstbestimmung. Eine Untersuchung zum Freiheitsverständnis bei Harry G. Frankfurt, Galen Strawson und Martin Luther« (Tübingen 2015). Matthias Flothow, Jahrgang 1949, studierte Theologie, Jura und Gesellschaftswissenschaften in Erlangen, Wien, Göttingen. Promotion durch die Evangelische Theologische Fakultät der LMU München mit »Konfirmandenunterricht und Ich-Identität«. Pfarrer in Tegernsee, Ottobrunn, Jugendpfarrer für München-Ost, Lehrbeauftragter für Jugendarbeit an der FH München-Pasing. 1992 Direktor der Evangelischen Akademie Meißen, Domprediger am Dom zu Meißen. Mitglied der City-Kirchen-Konferenz. Pfarrer in München-Mitte, Landshut. Veröffentlichungen: Evangelisch in Landshut in der Reformationszeit (2004); Evangelisch in Landshut in der Neuzeit (2004); Erich Kästner. Ein Moralist aus Dresden (1995, Hg.); Ich bin der Welt abhanden gekommen … Gustav Mahlers Eröffnungsmusik zum 20. Jahrhundert (1997, Hg.); Kirche in Gesellschaft (1997, Hg.).Vorträge und Zeitschriftenbeiträge zu Ost-West, zu Metaphysik und Bach-Mystik, zu Bibliotheksordnungen und Hymnologie u. a. 305 https://doi.org/10.5771/9783495823668 .
Die Autorinnen und Autoren
Thomas Frisch studierte Philosophie, Gräzistik und Ev. Theologie an der LMU München. Seit 2015 ist er dort wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Forschungsprojekt »Schellings Philosophie der menschlichen Freiheit«. Herr Frisch ist Mitherausgeber der historisch-kritischen Edition von Schellings Freiheitsschrift im Rahmen der Werkausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Bd. 17 der Reihe I). Volker Gerhardt ist Seniorprofessor für Praktische Philosophie an der Humboldt-Universität Berlin. Er lehrt und forscht zu Fragen der Ethik, der Politik und der Theologie. Darüber hinaus ist er Mitglied verschiedener Akademien und verantwortet in der Berliner Akademie die Editionen der Werke Kants und Nietzsches. Zahlreiche Herausgeberschaften und Aufsätze zur Philosophie Platons, Kants und Nietzsches sowie zur Philosophie und Theologie der Gegenwart. Seine systematisch angelegten Publikationen sind: Selbstbestimmung (1999/20182 ); Individualität (2000); Partizipation (2007); Öffentlichkeit (2012); Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche (2014/ 20164 ); Glauben und Wissen (2016) und Humanität. Über den Geist der Menschheit (2019/20192 ). Friedrich Hermanni, Prof. Dr. phil. Geb. 1958; Studium der Philosophie und der Evangelischen Theologie in Wuppertal, Tübingen, München und Bochum. Inhaber des Lehrstuhls für Religionsphilosophie und Fundamentaltheologie an der Eberhard Karls Universität Tübingen, kooptiert an der dortigen Fakultät für Philosophie; Mitglied der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Ausgewählte Veröffentlichungen: Die letzte Entlastung. Vollendung und Scheitern des abendländischen Theodizeeprojektes in Schellings Philosophie (1994); Das Böse und die Theodizee. Eine philosophisch-theologische Grundlegung (2002); Metaphysik. Versuche über letzte Fragen (2. Aufl. 2017). Amit Kravitz hat Philosophie und Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem studiert, wo er auch im Fach Philosophie über Kant und Schelling promoviert wurde. Er verbrachte Forschungsaufenthalte an den Universitäten Freiburg und Heidelberg. Zurzeit forscht und lehrt er an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der klassischen deutschen und jüdischen Philosophie. Er hat u. a. Schellings 306 https://doi.org/10.5771/9783495823668 .
Die Autorinnen und Autoren
Briefe über Dogmatismus und Kritizismus ins Hebräische übersetzt, ein Buch über das Theodizee-Problem veröffentlicht, sowie Aufsätze über Kant und den deutschen Idealismus in Zeitschriften wie KantStudien, Archiv für Geschichte der Philosophie, Journal of the History of Ideas und Philosophisches Jahrbuch. Jörg Noller studierte an den Universitäten Tübingen und München Philosophie, neuere deutsche Literatur, neuere und neueste Geschichte und evangelische Theologie. Von 2011–2012 war er Gastforscher an den Universitäten Notre Dame/USA (bei Prof. Karl Ameriks) und an der University of Chicago (bei Prof. Robert Pippin). Er promovierte mit einer Studie zum Problem individueller Freiheit im Ausgang von Kant. 2018 war er Gastforscher an der University of Pittsburgh (bei Prof. Nicholas Rescher). Zurzeit arbeitet er an seiner Habilitationsschrift über personale Lebensformen. Seine Forschungsschwerpunkte bilden die Philosophie der Person und die Philosophie der Freiheit. Wolfhart Pannenberg, geb. 1928 in Stettin, studierte in Berlin, Göttingen, Basel und Heidelberg. Er promovierte 1953 über die Prädestinationslehre des Duns Scotus und habilitierte sich 1955 mit einer Arbeit über das Verhältnis von Analogie und Erfahrung. Von 1958 bis 1961 war er Professor für Systematische Theologie an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal. Von 1961 bis 1967 lehrte er an der Theologischen Fakultät der Universität Mainz. Von 1967 bis 1994 hatte er einen Lehrstuhl für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München inne. Er starb 2014 in München. Birgit Recki ist seit 1997 Professorin für Philosophie an der Universität Hamburg; Forschungsschwerpunkte systematisch in der Ethik, Ästhetik, Kulturphilosophie / Anthropologie, historisch im 18. Jh. (Kant, Aufklärung) und in der Moderne (Neukantianismus, Kritische Theorie der Gesellschaft). – Herausgeberin der Ges. Werke Ernst Cassirers in 25 Bänden (1997–2007). Buchpublikationen: Aura und Autonomie. Zur Subjektivität der Kunst bei Walter Benjamin und Theodor W. Adorno (1988); Ästhetik der Sitten. Die Affinität von ästhetischem Gefühl und praktischer Vernunft bei Kant (2001); Kultur als Praxis. über Ernst Cassirer (2004); Die Vernunft, ihre Natur,
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Die Autorinnen und Autoren
ihr Gefühl und der Fortschritt (2006); Freiheit (2009); Cassirer (2013); (Hg.): Wozu ist das Böse gut? (2016). Georg Sans SJ studierte Philosophie und katholische Theologie in Frankfurt Sankt Georgen und Rom. 2006 wurde er zum Professor für Geschichte der Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts an der Päpstlichen Universität Gregoriana berufen. Seit 2014 hat er den Eugen-Biser-Stiftungslehrstuhl für Religions- und Subjektphilosophie an der Hochschule für Philosophie München inne. Ruben Schneider, geb. in München; Studium der Philosophie an der Hochschule für Philosophie in München; Promotion bei Prof. Dr. Godehard Brüntrup SJ. Arbeitsschwerpunkte in der Philosophiegeschichte, der formalen Logik, der analytischen Sprachphilosophie und Metaphysik und der analytischen Religionsphilosophie. Seit Dezember 2019 Forschungsstipendiat am Lehrstuhl für Religionsphilosophie und Wissenschaftstheorie der Ruhr-Universität Bochum (zuvor: Freie Universität Berlin, Julius-Maximilans-Universität Würzburg, Hochschule für Philosophie München). Jüngste Publikationen: »Struktural-systematische Theologie: Theologie als Wissenschaft vor dem Hintergrund der transzendentalen und der linguistischen Wende«, in: Göcke, Benedikt P. (Hg.), Theologie als Wissenschaft. Historische und systematische Perspektiven, Münster: Aschendorff (STEP 13/1), 33–83; »Der semantische Realismus und die Allklasse aller Entitäten«, in: Lehner, U. / Tacelli, R. (Hg.), Probleme der philosophischen Erkenntnistheorie, Stuttgart: Kohlhammer, 212–130. Gunther Wenz, geb. 1949 in Weißenburg/Bay., em. Ordinarius für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München und Leiter des Pannenberg-Forschungsinstituts an der Münchener Hochschule für Philosophie.
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