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German Pages 708 Year 2015
Johann Rist (1607–1667)
Frühe Neuzeit
Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt
Band 195
Johann Rist (1607–1667) Profil und Netzwerke eines Pastors, Dichters und Gelehrten Herausgegeben von Johann Anselm Steiger und Bernhard Jahn in Verbindung mit Axel E. Walter
ISBN 978-3-11-040894-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-040903-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-040906-2 ISSN 0934-5531 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Printed on acid-free paper Printed in Germany www.degruyter.com
Professor Dr. Wilhelm Kühlmann von Herzen zugeeignet
Inhalt Johann Anselm Steiger, Bernhard Jahn Einleitung 13
Rist und die Poetik Stefanie Arend Andreas Tscherning und Johann Rist. Zwei ungleiche Dichter und die Rhetorik ihrer Widmungsgedichte 25 Inge Mager Johann Rists Lob-, Trauer- und Klag-Gedicht auf Martin Opitz samt anderen seiner anlässlich von Trauerfällen verfassten Dichtungen 49 Günter Dammann Johann Rist auf zwei Fürstenhochzeiten: Glückstadt 1643 und Celle 1653 71 Volker Klostius Fremdsprachige Modelle und Nachahmung in den weltlichen Liedern Johann Rists 109 Andreas Betz Tobias Petermanns lateinische Übersetzungen von Gedichten Rists
137
Rists Theater Bernhard Jahn Johann Rists grenzüberschreitendes Theater. Gattungsexperimente und Interkonfessionalität 163 Dirk Niefanger Johann Rists Theater-Gespräch von 1666 als wichtige Quelle der barocken Theatergeschichte 185 Ingrid Schröder Sprachliche Heterogenität in den Dramen Johann Rists
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Inhalt
Marie-Thérèse Mourey Rists Tanz- und Balletinventionen. Das Celler Hochzeits-Ballet Die Triumphirende Liebe (1653)
231
Thomas Rahn Das Freudenspiel als Ritualvorlage. Rists Depositio Cornuti Typographici. 263 Irmgard Scheitler Die Rezeption der Lieder Rists im Schauspiel des 17. Jahrhunderts
281
Rist im theologischen Kontext Sven Grosse Sterbens-Kunst. Eine Anleitung aus den Himmlischen Liedern des Johann Rist 301 Johann Anselm Steiger Lyrische Katechismus-Predigt, Städtelob und Lob der Buchdruckerei. Zu Johann Rists Katechismus-Andachten (1656) 321 Sabrina Heintzsch „Die Wohrte sind doch gahr zu klahr“. Das Abendmahl als Thema interkonfessioneller Auseinandersetzungen in der geistlichen Lyrik am Beispiel eines Abendmahlsliedes Johann Rists 345 Johann Anselm Steiger Buße und Gesellschaftskritik in Zeiten der Pest, der Inflation und der Türkenbedrohung. Zur literarisch-theologischen Konzeption von Johann Rists Passions-Andachten (1664) 365 Franziska May Anmerkungen zu den Titelkupferstichen der Passionsandachten Johann Rists 379 Claudia Benthien Rist und die Mystik
397
Inhalt
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Rist und die Musik Konrad Küster Kein Geistliches Lied: Die Konzepte Rists und seiner Komponisten
421
Oliver Huck „nach der Melodie meines aus den himlischen wolbekanten Liedes“. Rists Melodieverweise auf seine eigenen geistlichen Lieder 439 Ivana Rentsch Klingende Gottseligkeit. Die geistlichen Lieder von Johann Rist und Thomas Selle – zwischen Athanasius Kircher und Martin Luther 459 Ada Kadelbach Himmlische Lieder in Hamburg, Lübeck und Lüneburg. Zur Rezeption von Johann Rist in Gesangbüchern norddeutscher Hansestädte 481 Wolfgang Hirschmann Des Daphnis aus Cimbrien Galathee. Musik und Performanz in der weltlichen Lyrik Johann Rists 513
Rists (publizistische) Netzwerke Ferdinand van Ingen Die Beziehungen zwischen Johann Rist und Philipp von Zesen. Eine in Feindschaft verkehrte Freundschaft 547 Hartmut Laufhütte Johann Rist als Gastgeber und Briefpartner sowie als Gegenstand in anderen Briefwechseln Sigmund von Birkens 563 Nicola Kaminski „Monatliche Unterredungen, ist ein Journal“. Rists „Jänners“- bis „Brachmonats“-Unterredungen im Horizont von Zeitschriften-/Fortsetzungs literatur 587
10
Inhalt
Rist und die politischen Diskurse Barbara Becker-Cantarino Johann Rists Der adeliche Hausvatter und die frühneuzeitliche Ökonomie-Literatur 613 Klaus Garber Arkadien vor den Toren Hamburgs. Ein Blick in das AllerEdelste Leben der gantzen Welt und die schäferlichen Liederbücher Johann Rists 629
Rist und die Naturkunde Jörg Wesche Floriographie bei Rist
655
Stefanie Stockhorst Johann Rists Alchemietraktat Philosophischer Phoenix – Plagiat oder Parodie? 673 Register der Werke Johann Rists Personenregister
701
699
Einleitung
Johann Anselm Steiger, Bernhard Jahn
Einleitung
Johann Rist (Abb. 1) war nicht nur ein Meister der Dichtkunst, der geistlichen wie der weltlichen gleichermaßen, nicht nur ein weit über die Grenzen des norddeutschen Raumes anerkannter Literat, Gelehrter und Naturkundler seiner Zeit, sondern auch ein professioneller Kommunikator, der die zu Gebote stehenden Medien des Austausches vielfältig nutzte, um die respublica litteraria Gestalt werden und ihr die nötige Pflege angedeihen zu lassen. Um dies zu bewerkstelligen, gewann Rist Dichter,1 Gelehrte, leitende Kirchenleute, Freunde in Nah und Fern, die zu seinen Publikationen Ehrengedichte, Briefe und artverwandte Texte beisteuerten, nahm er teil an oder gründete selbst Sprachgesellschaften wie in Hamburg den Elbschwanenorden2 und baute auf diese Weise facettenreiche Netzwerke bezüglich der poiesis docta auf. In diesem Kontext verdienen auch die Adressen präzise Beachtung, an die Rist die Widmungsvorreden seiner zahlreichen Publikationen richtete und auf diese Weise Unterstützung versprechenden Resonanzraum für das literarische Schaffen auf der Ebene der politisch Verantwortlichen herzustellen suchte. Neben Widmungsvorreden an Fürsten – und nicht zu vergessen: Fürstinnen – stehen solche, die sich wenden an Ratsleute, Bürgermeister und Bürgerschaften herausragender Städte, wobei Rists besondere Vorliebe für Hansestädte erkennbar ist: Lübeck, Danzig, Lüneburg, Braunschweig und eben auch der Rat der Hamburgischen Bürgerrepublik gehören zu den Widmungsempfängern seiner Werke. Nun liegt freilich die Dialektik jeder Art von Städtelob, insbesondere diejenige des hier bis heute beheimateten hyperbolischen Ausdrucks, hell am Tage. Und doch läßt die an den Rat der Stadt Hamburg gerichtete Vorrede zu Rists Sabbahtischer Seelenlust,3 1651
1 So neben vielen anderen Andreas Tscherning und Philipp von Zesen, mit denen er in nicht konfliktfreier Verbindung stand. Vgl. hierzu die Beiträge von Stefanie Arend und Ferdinand van Ingen. 2 Vgl. Eberhard Mannack: Hamburg und der Elbschwanenorden. In: Sprachgesellschaften, Sozietäten, Dichtergruppen. Hg. von Martin Bircher, Ferdinand van Ingen. Hamburg 1978 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 7), S. 163–179. 3 Johann Rist: Sabbahtische Seelenlust/ Daß ist: Lehr- Trost- Vermahnung- und Warnungsreiche Lieder über alle Sontägliche Evangelien deß gantzen Jahres/ Welche/ so wol auf bekante/ und in reinen Evangelischen Kirchen gebräuchliche/ alß auch gantz Neue/ Vom Herren Thoma Sellio/ bei der hochlöblichen Statt Hamburg bestaltem Cantore/ wolgesetzete Melodeien können gesungen und gespielet werden/ Gott zu Ehren und Christlichen Hertzen zu nützlicher Erbauung abgefasset […]. Lüneburg 1651.
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Johann Anselm Steiger, Bernhard Jahn
kurz nach den Neuen Himmlischen Liedern4 bei den Gebrüdern Stern zu Lüneburg publiziert, erkennen, daß der Autor nicht nur besondere Lust hatte an Gott und dem ihm zu zollenden Lob, sondern auch an der Metropole Hamburg,5 die ihn offenbar mehrfach veranlaßt hat, Wedel in der Grafschaft Pinneberg nicht Lebewohl zu sagen, um fortan andernorts tätig zu sein. Zu stark war neben den arkadisch6 literarisierbaren Potentialen der Umgebung Wedels die Attraktivität der Weltstadt ganz in der Nähe, zu stark die Verbundenheit des Dichters mit ihr, der am von Johannes Bugenhagen (1485–1558) 1529 ins Leben gerufenen Johanneum seine lateinschulische Ausbildung genossen hatte, zu groß der Nutzen, der zu ziehen war aus der Stadtbibliothek, einer Institution, die europaweit in höchstem Ansehen stand und zahlreiche Gelehrte für kürzere oder längere Zeit zu Studienzwecken nach Hamburg zog. An öffentlicher Wertschätzung der Bildungs- und Kultureinrichtungen mangelte es zu Rists Zeiten in Hamburg offenbar nicht. Die in der europäischen Gelehrtenwelt hochgeschätzte Stadtbibliothek hatte soeben, im Jahre 1649, ein neues Gebäude am Plan erhalten.7 Doch nicht nur, was die Infrastruktur der Literaturversorgung anlangt, sondern auch, was die Schulbildung sowie die am Akademischen Gymnasium8 betriebene Hochschulbildung betrifft, stellt Rist der Hamburgischen Stadtobrigkeit ein Zeugnis mit Bestnoten aus und zollt ihr ein Lob, das letztlich auf ein zentrales Argument hinausläuft: die Einsicht nämlich, daß die Pflege der Gelehrsamkeit und der Bildung nicht nur vielfältigen Nutzen nach sich zieht, sondern schließlich zur Vermehrung der Ehre Gottes gereicht: Allein dises kan Jch hiebei nicht ungerühmet/ noch unserem liben Teutschlande unvermeldet lassen/ daß […] Euer WoldEdle/ hoch und Wolweise/ hoch und Wolgelahrte Gunsten und Herligkeiten/ nichts desto weniger Sich höchlich angelegen sein lassen/ nicht nur gelahrten Leuten/ sondern auch der studirenden Jugend alle mügliche Gunst/ Hülffe und Vorschub
4 Johann Rist: Neue Himmlische Lieder (1651). Kritisch hg. und kommentiert von Johann Anselm Steiger. Musik von Andreas Hammerschmidt, Michael Jacobi, Jacob Kortkamp, Petrus Meier, Hinrich Pape, Jacob Praetorius, Heinrich Scheidemann, Sigmund Theophil Staden. Kritische Edition der Notentexte von Konrad Küster. Berlin 2013. 5 Vgl. Johann Anselm Steiger, Sandra Richter (Hg.): Hamburg. Eine Metropolregion zwischen Früher Neuzeit und Aufklärung. Berlin 2012 (Metropolis. Texte und Studien zu Zentren der Kultur in der europäischen Neuzeit 1). 6 Vgl. die Studie von Klaus Garber zu Rists Arkadien. 7 Vgl. Werner Kayser: 500 Jahre wissenschaftliche Bibliothek in Hamburg. 1479–1979. Von der Ratsbücherei zur Staats- und Universitätsbibliothek. Hamburg 1979, S. 41–45. 8 Vgl. Dirk Brietzke, Franklin Kopitzsch, Rainer Nicolaysen (Hg.): Das Akademische Gymnasium. Bildung und Wissenschaft in Hamburg 1613–1883. Berlin u. a. 2013 (Hamburger Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte 23).
Einleitung
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Abb. 1: Johann Rist, Kupferstich-Portrait (Entwurfzeichnung „à Meriano“, vermutlich von Mat thäus Merian d. J., Stich von Bartholomäus II. Kilian. In: Rist: Neue Hoch-heilige PassionsAndachten. Hamburg 1664 (UB Rostock Fm-4086).
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Johann Anselm Steiger, Bernhard Jahn
zu erweisen/ welches genugsahm daraus erhellet/ daß Sie Sich nicht allein bemühen Jhre wolangerichtete/ und mit hochberühmten Leuten treulichst versehene Schule und Gymnasium von Tage zu Tage zu verbesseren/ und/ daß die libe Jugend ja wol müge unterwiesen werden/ feine und gahr nützliche Anordnung zu machen; Sondern daß Sie auch dises Jahr Eine herliche Bibliothek oder gahr schönen und nutzbahren Bücherschatz zu versamlen Sich eiferigst beflissen/ mahssen den Jhr fleissiger und geschikter Bibliothecarius Herr [scil. Georg] Schumacher/ Mein sonders liber Freund/ Mich unlängst auf daß neü gesetzete sehr schöne Gebäu geführet/ da Mich den der/ unter dem Gewelbe wolangestelter/ und fleissig abgetheileter Gestirneter Himmel über die Mahsse hat belustiget/ und nach deme man Mich vertröstet/ daß Jch dise Bücherei bald in Jhrer vollenkommenheit sehen würde/ habe Jch von Hertzen gewünschet, daß der grosse GOtt vom Himmel alle die jenige/ welche dises löbliche Werk befoderen helffen/ hinwider an Leib und Seele gesegnen und erhalten/ dabenebenst seine Göttliche Gnade verleihen wolle/ daß dises hochnutzbahre Werk zu seines heiligen Namens Ehre/ Erbauung ihrer Kirchen und Schulen/ zuträglicher Erlustigung vieler Gelehrten/ Kunst- und Tugendlibenden Geister/ und schließlich Jungen Kunstbegierigen Leuten zu sonderbahrem Frommen und fohrtsetzung Jhres Studierens gedeien und diser edler Bücherschatz für aller Gefahr und Unglük biß an den liben Jüngsten Tag müchte erhalten werden.9
Weitere Umstände banden Rist an die Metropole, die auch wegen ihrer hochmodernen, von dem niederländischen Festungsbaumeister Johan van Valckenburgh (ca. 1575–1625) entworfenen Fortifikationsanlagen die Wirren des Dreißigjährigen Krieges, dieser größten militärischen Katastrophe vor den beiden Weltkriegen des vergangenen Jahrhunderts, fast schadlos überstanden hatte – anders als Wedel, was auch Rist zu spüren bekam, dessen Pastorat zweimal geplündert wurde. Die Hamburgische „Spielbühne“,10 wie Rist sie nennt, bot ihm die Gelegenheit, seine Schauspiele zur Aufführung zu bringen; die in der Hansestadt wirkenden Bildkünstler und Kupferstecher waren wichtige Partner bei der Erarbeitung von Frontispizen und Titelkupferstichen zu Rists Werken,11 während die Hauptkirchen und die an ihnen tätigen Organisten bzw. Kantoren Kooperationsmöglichkeiten eröffneten, die Rist zu nutzen wußte, um sein Programm einer konsequent auf die geistliche Lyrik und den Gesang ausgerichteten Theologie Zug um Zug in die Tat umzusetzen. Zwar arbeitete Rist diesbezüglich auch mit Komponisten12 fruchtbar zusammen, die in Lüneburg, Kiel, Zittau und Nürnberg tätig waren. Die meisten der Kooperationspartner aber wirkten in Hamburg als einem der prominentesten Zentren der frühneuzeitlichen Kirchenmusik. Die Rede ist von Heinrich
9 Rist: Sabbahtische Seelenlust (Anm. 3), S. 14 f. 10 Rist: Sabbahtische Seelenlust (Anm. 3), S. 9. 11 Vgl. die Studie von Franziska May und den Beitrag von J. A. Steiger zu den Katechismus-Andachten. 12 Vgl. den Beitrag von Konrad Küster.
Einleitung
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Scheidemann (1595–1663), Johann Schop (ca. 1590–1667), Thomas Selle (1599– 1663), Jacob Praetorius (1586–1651) und Martin Coler (ca. 1620–1703/04). Wie eng verbunden Rist mit den in Hamburg wirkenden Komponisten war, kommt in einer Passage aus seinem Monatsgespräch Das AllerEdelste Leben zum Ausdruck, die zudem auch die oben angesprochenen Heimsuchungen des Dreißigjährigen Krieges veranschaulicht: Als in dem letsten/ hochverderblichen Kriege ich mich in Hamburg eine zeitlang muste aufhalten/ und einsmahlen am Sonnabend mir die Zeitung gebracht ward/ das mir der Rest aller meiner zeitlichen Gühter/ welche ich noch zu rükke gelassen/ und mir bei dem ersten feindlichem Jnfalle annoch waren gebliben/ gantz unverhofter weise/ (zumahlen die jenige/ die selbige Zeit ins Land kahmen/ [scil. die Schweden] unsere Freunde und Beschützer sein solten) so gahr were hinweg geraubet/ das auch nicht eine eintzige Hünerfeder mir übrig were geblieben/ da gieng ich des folgenden Sontag Morgens in die Sankt Katharinen Kirche/ zu meinem grossen Freunde/ dem weltberühmten Herren Scheidemann auf die Orgel […] als nach geendigter herlichen Predigt/ mein sehr wehrter und vertrauter Freund/ der alte/ vilbelobter Herr Schoop/ zu Herren Scheideman sagte: Mein Bruder/ lasset uns doch unserem wehrten Rüstigen/ als einem grossen Libhaber unserer Wissenschaft/ auch längsterkantem Freunde zu gefallen/ ein feines Stükke mit einander machen/ vileicht müchte sein bekümmertes Hertz ein weinig dadurch widrüm erleichtert werden […].13
Ein weiterer Grund, weswegen Rist Wahl-Hamburger nicht nur war, sondern auch blieb, hat erneut mit dem Medium ‚Buch‘ zu tun und ist dem Umstand zu danken, daß zwecks Pflege der Gelehrsamkeit eine gut ausgestattete öffentliche Bibliothek zwar schön, der Aufbau eines eigenen Büchervorrates jedoch noch allemal schöner ist. Auch diesbezüglich bot Hamburg in der Frühen Neuzeit als eines der wichtigsten Zentren des Buchhandels beste Voraussetzungen, was im übrigen nicht nur in Einzelfällen mit dazu beitrug, daß arrivierte Professoren ihre Universitäten verließen und ehrenvollen Rufen an das Akademische Gymnasium nach Hamburg folgten und sich somit einer Institution zuwandten, die 1613 gegründet, als vielbeachtete Hochschule ohne Universitätsstatus fungierte. Was das Lob des Buchhandels in Hamburg anlangt, bedient sich Rist der rhetorischen Technik der praeteritio und hebt hervor, daß Bücher nicht nur Wissensspeicher sind, sondern auch eine kommunikative Funktion haben, insofern sie geeignet sind, das colloquium des Lesers mit den Autoren in Gang zu setzen:
13 Johann Rist: Sämtliche Werke. Unter Mitwirkung von Helga Mannack und Klaus Reichelt hg. von Eberhard Mannack. Bd. 4: Epische Dichtungen (Die alleredelste Nass, das alleredelste Leben). Berlin, New York 1972, S. 232 f.
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Jch wil hier auch stilschweigend vorbei gehen den grossen Vortheil/ welchen die Gelehrte haben/ in deme Sie allerhand alt und neü heraußgegebene Bücher und Schrifften in den vielen Buchladen diser grossen Statt finden/ und durch solches Mittel mit den allerherlichsten und Verständigsten Geistern der Welt so nütz- als erfreulich Sich unterreden können.14
Diese praeteritio mündet in ein weiter ausgreifendes Lob eines zusätzlichen infrastrukturellen Standortvorteils der Freien Reichs- und Hansestadt, der Tatsache nämlich, daß Hamburg obendrein ein wichtiges Zentrum einerseits der Distribution auch von periodischem Schrifttum war, Nachrichtenbörse also, und, was hiermit aufs engste zusammenhängt, andererseits als Schaltzentrale nicht nur der eingehenden, sondern auch der ausgehenden, nicht zuletzt brieflichen Kommunikation15 zu dienen bestens geeignet war. Dises nur muß Jch noch unter die vielfältige Nutzbarkeiten/ welche die Liebhabere der Weißheit/ in deme Sie diser trefflichen Statt nahe wohnen/ für vielen anderen auch zu geniessen haben/ billig zehlen/ daß man aus allen Ohrten der Welt Zeitung und Nachricht/ Ja so offt man es schier begehret/ vertrauliche Schreiben oder Brieffe bei den ordentlichen Posten/ wie auch den Kauf-Herren und Handels-Leuten kan haben und selbige an andere wiederum ablauffen lassen. Jch schlechter/ der Jch ohn alle Meinen Verdienst daß Glük und die Ehre habe/ vielen trefflichen/ gelehrten und hochbenamhten Leuten hin und wider in Teutschland auch anderswo bekant zu sein/ rühme billich Mein Lebenlang die hochnutzbahre Belustigung/ welche Jch […] dannenhero zu schöpffen pflege/ daß Jch nicht nur Wochentlich/ sondern fast täglich auß vielen unterschiedlichen Ohrten […] Schreiben und Brieffe erhalte/ durch welche Jch außführlich werde berichtet/ waß es mit den Kirchen- Religionund Glaubenssachen/ mit hohen und nideren Schuhlen/ auch denen am selbigen Ohrten befindlichen Lehreren Professoren und hochgelehrten Leuten/ im gleichen mit Bestellung/ Veränderung/ Auf und Ansetzung der Regimenter/ mit Führung der Kriege/ Abhandlung und Hoffnung Eines algemeinen Friedens […] für eine Beschaffenheit habe […].16
Daß der Mensch der Gattung ‚Tier‘ angehört und zu den differentiae specificae des Menschen im Vergleich mit den Tieren die Tatsache gehört, daß er ein animal sociale ist, das aus Freiheit gesellschaftliche Strukturen ausbildet, ist eine altbekannte, in der Antike wurzelnde Einsicht – eine Einsicht freilich, die Rist aufgreift und kommunikationstheoretisch zuspitzt, indem er die damals modernen, sich in Hamburg reichlich bietenden Möglichkeiten des Austausches als Bedingungen der wahrhaft humanen Existenz begreift, wohingegen diejenigen, deren Blick nur bis zum nächsten Scheunentor reicht, nur halbe Menschen seien:
14 Rist: Sabbahtische Seelenlust (Anm. 3), S. 11. 15 Zu einem wichtigen Segment von Rists Briefwechseln, die leider nur sehr fragmentarisch überliefert sind, vgl. den Beitrag von Hartmut Laufhütte zur epistolischen Kommunikation zwischen Rist und Sigmund von Birken. 16 Rist: Sabbahtische Seelenlust (Anm. 3), S. 11 f.
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Und zwahr/ wenn man die rechte Wahrheit wil bekennen/ so sind die jenige/ welche oft ein mehrers nicht wissen noch erfahren/ alß was etwan in ihrer Statt/ Flekken oder Dorffe vorläuffet und Sich zuträget/ nur fast halbe Menschen […].17
Zwar nicht explizit, aber doch gewissermaßen im Subtext, jedenfalls der Sache nach, wurzelt Rists Lob der Stadt Hamburg in der Einsicht, die zu verbreiten der Hamburger Hauptpastor und Schriftsteller Johann Balthasar Schupp (1610–1661) sich mehrfach hat angelegen sein lassen: Hamburg ist nicht zu loben um seiner selbst willen, sondern Hamburg verdient Lob als ein Mikrokosmos, in dem sich die Welt hinter dem offenen Tor einerseits sozusagen unter höchster Kompression verdichtet, um zugleich andererseits auszustrahlen in die Welt,18 worin die ureigene Vitalität und Medialität dieser Metropole erst sichtbar wird – gewiß durch Umschlag und Handel von Waren, durch den Kommerz freilich auch von Kulturund Bildungsgütern, durch den gelehrten Austausch jedoch nicht nur schriftlicher, sondern auch mündlicher Art. Rists Lob der kommunikativen und medialen Möglichkeiten, die ihm die Stadt Hamburg bietet, gipfelt ab 1663 in der Publikation der sogenannten Monatsgespräche bei dem Hamburger Verleger Johann Naumann. Wichtiger als die Frage, ob es sich bei den Monatsgesprächen um die erste Zeitschrift im deutschen Sprachraum handelt,19 erscheint der kommunikative Aspekt des Projektes. In geselliger Diskussionsrunde versammeln sich konfessionsübergreifend Gesprächsteilnehmer aus ganz Deutschland zu mit Witz geführten, genauso unterhaltsamen wie lehrreichen, dabei aber durchaus kontrovers verlaufenden Debatten. In den einzelnen Nummern werden Themen neu perspektiviert, so etwa in der AllerEdelsten Belustigung (1666), wenn in einem Paragone erstmals die Schauspielkunst unter die wettstreitenden Künste aufgenommen wird.20 Überdies treten hier in Rists Werken zuvor nicht behandelte Themenfelder hinzu, wie z. B. das der Botanik, worin sich die naturkundlichen Kompetenzen des Rüstigen dokumentieren.21 Insgesamt aber vermitteln die Monatsgespräche wie in einer Zusammenschau das breit gefächerte, Dimensionen universaler Gelehrsamkeit erreichende Interesse des Wedeler Pastors. Vor diesem Hintergrund und angesichts der Tatsache, daß in den zurückliegenden Jahren ein stetig wachsendes forscherliches Interesse an Rist zu beobach-
17 Rist: Sabbahtische Seelenlust (Anm. 3), S. 12. 18 Vgl. Johann Anselm Steiger, Sandra Richter: Einführung. In: Hamburg. Eine Metropolregion (Anm. 5), S. 1–11, hier S. 7. 19 Vgl. zu dieser Frage den Beitrag von Nicola Kaminski. 20 Vgl. den Beitrag von Dirk Niefanger. 21 Vgl. den Beitrag von Jörg Wesche.
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Johann Anselm Steiger, Bernhard Jahn
ten ist, lag es nahe, in Hamburg eine größere Fachtagung zu dieser in vielfältiger Hinsicht unverwechselbaren Person des gelehrten Lebens der Barockzeit zu veranstalten, nachdem zuvor Simon Dach (1605–1659),22 Philipp von Zesen (1619– 1689)23 und Paul Fleming (1609–1640)24 eine vergleichbare Würdigung erfahren hatten. Ziel der Tagung war es, den Blick auf bislang unterbewertete oder gar nicht erkundete Aspekte in Rists Œuvre zu lenken wie auch zuvor eher marginal berücksichtigte Segmente seines Werkes einer genaueren Analyse zu unterziehen.25 Neben der Würdigung von Rists oben skizzierter Rolle als Kommunikator und Vermittler war es ein besonderes Anliegen der Tagung, die Heterogenität des Ristschen Schaffens sowie ausgewählte wirkungsgeschichtliche Aspekte26 zu beleuchten. Das Rist-Bild, das sich schon im 18. Jahrhundert auf den glaubensfesten, aber etwas hölzern Kirchenlied um Kirchenlied vor sich hin dichtenden orthodoxen Lutheraner einengte,27 sollte einer differenzierteren Betrachtung weichen. Dies betrifft vorab den poetologischen Kernbereich, Rists Opitz-Nachfolge. Zwar hat Rist sich in zahlreichen Gedichten zu Opitz als Person28 wie auch zu dessen poetologischem Programm bekannt, doch hinderte dies den Wedeler Pastor nicht, eigene Wege zu beschreiten. Am deutlichsten ist Rists Eigenständigkeit, die sich u. a. in niederdeutschen Spracheinflüssen dokumentiert,29 gewiß auf dem dramatischen Feld zu beobachten, wobei hier freilich die von Opitz in seinem Buch von der Deutschen Poeterey gemachten Vorgaben allgemein genug bleiben, um genügend dramenpoetische Spielräume offen zu lassen.30 Deutlicher
22 Vgl. Axel E. Walter (Hg.): Simon Dach (1605–1659). Werk und Nachwirken. Tübingen 2008 (Frühe Neuzeit 126). 23 Vgl. Maximilian Bergengruen, Dieter Martin (Hg.): Philipp von Zesen. Wissen – Sprache – Literatur. Tübingen 2008 (Frühe Neuzeit 130). 24 Vgl. Stefanie Arend, Claudius Sittig (Hg.): Was ein Poëte kan! Studien zum Werk von Paul Fleming (1609–1640). Berlin u. a. 2012 (Frühe Neuzeit 168). 25 Vgl. hierzu etwa die Beiträge von Thomas Rahn und Barbara Becker-Cantarino. 26 Vgl. die Beiträge von Irmgard Scheitler und Ada Kadelbach. 27 Man vgl. etwa das Urteil von Erdmann Neumeister: Die Allerneueste Art, Zur Reinen und Galanten Poesie zu gelangen. Hamburg 1722 [11707], S. 476: „Man macht sonst einen grossen Staat von Johann Risten. Allein mein Judicium, ohne jemanden zum Praejudiz von ihm zu geben, so finde ich in dem zehenden Gesange kaum ein bisgen Safft und Krafft, welches ein andächtiges Hertze recht vergnügen könne. Wie könte es aber auch anders kommen? Indem er den Buchführern alle Lieder, und derer gantze Lasten voll, ums Geld ausfertigte.“ 28 Vgl. den Beitrag von Inge Mager. 29 Vgl. den Beitrag von Ingrid Schröder. 30 Vgl. hierzu den Beitrag von Bernhard Jahn.
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wird Rists Eigenständigkeit in den metrischen Freiheiten, die er sich in seiner weltlichen Lied-Dichtung nimmt.31 Der differenzierte Blick muß vor allem aber auch dem orthodoxen Lutheraner Rist gelten. Dies jedoch nicht in dem Sinne, daß es notwendig wäre, Rist heterodoxe Tendenzen zu unterstellen,32 sondern um zu zeigen, welche Spielräume der Protestantismus für jene bereitstellte, die sie dichterisch zu nutzen wußten. Im Sinne eines interkonfessionellen Dialogs sind nicht nur Rists Friedensspiele von Belang, die die Möglichkeiten des Austauschs jenseits des konfessionellen Paradigmas erkunden, sondern mehr noch die in streng protestantischem Gewand auftretende geistliche Lieddichtung. Daß das protestantische Gewand so streng dann doch nicht ist, zeigt etwa das Titelkupfer von Rists hier schon mehrfach zitierter Perikopendichtung Sabbahtische Seelenlust, welches unverkennbar das Titelkupfer von Athanasius Kirchers (1602–1680) ein Jahr zuvor in Rom erschienener Musurgia Universalis zitiert.33 Hinzu kommt der Umstand, daß Rist, diesbezüglich im Gefolge der von Johann Arndt initiierten Frömmigkeitsbewegung stehend, ein ausgeprägtes Gespür für die Notwendigkeit einer äußerst kritischen Haltung auch seiner eigenen Kirche gegenüber hatte, deren schonungslose Schärfe vor allem in seinen späten Schriften an Intensität gewann.34 Doch auch in naturkundlicher sowie medizinischer Hinsicht fällt auf, daß Rist keineswegs allein der traditionell-galenischen Gelehrsamkeit verpflichtet war und in ihr versierte, sondern auch zutiefst geprägt war vom seinerzeit innovativen paracelsistischen, alchemo-therapeutischen Ansatz.35 Der vorliegende Band dokumentiert den Ertrag einer internationalen und interdisziplinären Tagung, die Anfang Mai 2013 im Gästehaus der Universität Hamburg stattfand. Zu danken ist für namhafte finanzielle Unterstützung dem Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Staatsminister Bernd Neumann, sowie als Kooperationspartnerin im Rahmen des Projektes „Luthers Norden. Kulturwirkungen der Reformation im Norden erforschen und vermitteln“ der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland.
31 Vgl. hierzu die Beiträge von Wolfgang Hirschmann und Volker Klostius. 32 Daß Rist die Kernpositionen der lutherischen Orthodoxie mit deutlichen Grenzziehungen zu verteidigen wußte, wird etwa in seinen Katechismus-Andachten deutlich. Vgl. dazu den Beitrag von Sabrina Heintzsch. Zur Verortung Rists im Rahmen der lutherischen ars-moriendi-Tradition vgl. den Aufsatz von Sven Grosse sowie zu mystischen Traditionslinien bei Rist Claudia Benthiens Studie. 33 Vgl. dazu die Analyse von Ivana Rentsch. 34 Vgl. hierzu den Beitrag von J. A. Steiger zu Rists Passionsandachten. 35 Vgl. hierzu den Beitrag von Stefanie Stockhorst.
Rist und die Poetik
Stefanie Arend
Andreas Tscherning und Johann Rist Zwei ungleiche Dichter und die Rhetorik ihrer Widmungsgedichte Unter den Barockdichtern ist Andreas Tscherning neben Johann Rist eine Leuchte des Nordens, auch wenn die Forschung ihm weitaus weniger Aufmerksamkeit widmete als dem Pastor aus Wedel. Allerdings war Tscherning bei seinen Zeitgenossen hoch geschätzt. Das heutige kaum vorhandene wissenschaftliche Interesse an Tscherning hängt vermutlich auch mit der negativen Einschätzung zusammen, die ihm in der Literaturgeschichtsschreibung zuteil wurde. Besonders Hans Heinrich Borcherdt fällt in seiner 1912 erschienenen Biographie vernichtende Urteile, die vermutlich nicht ohne Wirkung geblieben sind. Tscherning sei von seinen Zeitgenossen überschätzt worden,1 er stehe „völlig unter dem Banne Opitzens“, so daß seine Erzeugnisse „langweilig“ seien,2 seine „Gelegenheitsreimerei“, zu der er aus finanziellen Gründen gezwungen war, reiche zu gewissen Zeiten und besonders vor seiner Berufung nach Rostock „geradezu ins Ungeheuerliche“,3 seine Dichtung sei „konventionell, […] angelernt und anempfunden.“4 Vor dem Hintergrund des Erlebnisbegriffs Diltheys und der Goethe-Philologie des 19. Jahrhunderts urteilt Borcherdt nicht mit Hilfe von Kategorien wie imitatio oder aemulatio, sondern stellt lediglich Abhängigkeiten fest von großen Namen wie Opitz, Fleming, Heinsius, Horaz oder Martial. Neben dem mangelnden Talent habe sich der ständige finanzielle Druck auf Tscherning negativ ausgewirkt, der auch während seiner Wirksamkeit als Professor nicht nachließ, da die Landeskassen leer waren und Gehälter nicht gezahlt werden konnten.5 Die heutige Forschung urteilt gewiß differenzierter. Volker Meid äußert sich zurückhaltend, hebt aber hervor, daß Tscherning zumindest bei seinen Zeitge-
1 Hans Heinrich Borcherdt: Andreas Tscherning. Ein Beitrag zur Literatur- und Kulturgeschichte des 17. Jahrhunderts. München, Leipzig 1912, S. 32. Vgl. auch Bernd Prätorius, Misia Sophia Doms: Art. Tscherning, Andreas. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Hg. von Wilhelm Kühlmann u. a. Berlin, Boston. Bd. 11 (2011), S. 621‒623. 2 Borcherdt (Anm. 1), S. 61. 3 Ebd., S. 64. 4 Ebd., S. 81. 5 Vgl. ebd., S. 141.
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nossen aufgrund seiner „klassizistisch zurückhaltenden sprachlichen Gewandtheit, mit der er die Tradition der opitzianischen Kunstdichtung fortsetzte und sich dabei nur sehr vorsichtig Neuerungen öffnete“, einen „guten Ruf“ hatte.6 Emphatischer urteilt Ralf Georg Bogner, wenn er Tscherning als „hochreflektierten Autor“ bezeichnet,7 dessen Verdienst eben gerade darin bestanden habe, Opitz’ Programm mustergültig umzusetzen und der wesentlich zur „Neubegründung einer Nationalliteratur“ und zur „Ausbildung eines dichterischen Kanons in deutscher Sprache beigetragen“ habe.8 Es ist hier nicht der Ort, diese Urteile zu überprüfen und zu bewerten. Es geht im folgenden eher um die Beobachtung, daß Tscherning bereits zu Lebzeiten in das gelehrte Netzwerk zwar sehr gut eingebunden war, sich in diesem allerdings auch mit seinem doch recht speziellen Dichterprofil behaupten mußte. Einer seiner Konkurrenten war offenbar Johann Rist, mit dem Tscherning nachweislich seit 1642 in Kontakt stand. Das Medium dieses Kontakts bilden vor allem Gelegenheitsgedichte im weitesten Sinne, Ehrengedichte und Oden. Analysiert man diese Texte, zeigt sich, daß das Verhältnis zwischen Tscherning und Rist zunehmende Irritationen erfuhr. Eine nicht unerhebliche Rolle spielte dabei die unterschiedliche, auch berufliche Sozialisation und damit verbunden die so ganz unterschiedlichen dichterischen Profile. Auf der einen Seite der in Ottensen bei Hamburg geborene Pfarrersohn, der in Rostock studiert hatte und 1635 Pastor in Wedel bei Hamburg geworden war, eine tief im hanseatischen Norden verankerte Existenz, auf der anderen Seite der im schlesischen Bunzlau geborene Kürschnersohn Tscherning, den die Kriegswirren umhertrieben und dem schließlich, nicht zuletzt aufgrund guter Beziehungen in der Gelehrtenrepublik, eine akademische Karriere im hohen Norden an der Universität Rostock gelang, die ihm, verbunden mit seinem Ruf als Dichter, zu nicht viel Geld, aber zu großem Ansehen verhalf. Im Dialog mit Rist jedenfalls scheinen bestimmte Konturen bereits angelegt, die Tschernings spätere Wertung in der Literaturgeschichte bestimmen. Zur Gedächtnisstütze sei im folgenden kurz an einige wichtige biobibliographische Stationen erinnert. Der 1611 geborene Tscherning begann 1635 sein Studium im damals vom Krieg noch relativ wenig bedrängten Rostock. Er kam mit einer Empfehlung von
6 Volker Meid: Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock. Vom Späthumanismus zur Aufklärung. 1570‒1740. München 2009, S. 162. 7 Ralf Georg Bogner: Andreas Tscherning. Konstruktionen von Autorschaft zwischen universitärem Amt, urbaner Öffentlichkeit und nationaler Literaturreform. In: Theorie und Praxis der Kasualdichtung in der Frühen Neuzeit. Hg. von Andreas Keller, Elke Lösel, Ulrike Wels und Volkhard Wels. Amsterdam, New York 2010 (Chloe 43), S. 185‒196, hier S. 188. 8 Ebd., S. 189.
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Opitz an Peter Lauremberg, dem damaligen berühmten Professor für Poesie, an die Universität.9 Bereits im Sommer 1636 brach Tscherning seine Studien vorerst ab, vermutlich, weil er im Zuge der Kriegswirren um sein Erbe fürchtete oder auch, weil er kein Geld mehr hatte.10 Tscherning bereitete seine schließlich gute Verankerung in das gelehrte Netzwerk u. a. durch Gelegenheitsgedichte vor. Eine nicht unwesentliche Rolle dürfte dabei Opitz selbst gespielt haben. Mit ihm pflegte Tscherning guten Kontakt, in den wir heute dank der neuen Briefedition einen interessanten Einblick erhalten. Die Briefe zeigen u. a., daß Tscherning tatsächlich der Hilfe bedurfte. Er bittet Opitz um Unterstützung und Empfehlungen.11 Bisweilen klagt er über seine Notlage.12 Bis 1642 lebte er abwechselnd in Bunzlau und Breslau, sicherte sein Auskommen mit Gelegenheitsdichtung und einer Hauslehrerstelle. Im September 1642 konnte er, offenbar durch Zuwendungen von Breslauer Gönnern, seine Studien in Rostock wieder aufnehmen.13 1644 wurde er zum Magister promoviert und als Nachfolger von Lauremberg auf die Professur für Poesie berufen, die er bis zu seinem Tod 1659 innehatte. Bemerkenswert ist sogleich die erste umfangreichere Veröffentlichung von 1641, die Sprüche des Ali, wörtliche lateinische Übersetzungen arabischer Sprichwörter, denen Variationen in lateinischen Distichen und in deutschen Alexandrinern beigegeben sind (Centuria proverbiorum Alis Imperatoris Muslimici distichis latino-germanicis expressa). Auf diese Proverbien wird zurückzukommen sein. Wahrscheinlich größere Aufmerksamkeit erregte die erste Lyriksammlung Deutscher Getichte Früling, zuerst in Breslau 1642, in zweiter und dritter Auflage in Rostock 1646 und 1649 erschienen. Ehrengedichte von Martin Opitz, August Buchner und Johann Heermann zeigen, wie gut Tscherning bereits mit den Spitzen der nobilitas literaria vernetzt war. Zahlreiche Gelegenheitsgedichte auf Breslauer und Rostocker Honoratioren, z. B. auf Peter Lauremberg, haben sicher auch zum Erfolg der Sammlung und zu Tschernings Berufung nach Rostock bei-
9 Borcherdt (Anm. 1), S. 44. Vgl. den Brief Tschernings an Opitz vom 6.6.1635: Martin Opitz: Briefwechsel und Lebenszeugnisse. Kritische Edition mit Übersetzung. 3 Bde. Hg. von Klaus Conermann unter Mitarbeit von Harald Bollbuck. Berlin, New York 2009, hier Bd. 2, S. 1268‒1275 (350606 ep), hier S. 1272. 10 Vgl. Borcherdt (Anm. 1), S. 50. 11 Vgl. Opitz (Anm. 9), Bd. 2, Brief vom 6.6.1635, S. 1268‒1275, hier S. 1273. Brief vom 23.9.1636, ebd., S. 1328‒1330 (360923 ep), hier S. 1329. 12 Vgl. Opitz (Anm. 9), Bd. 3, Brief vom 5.1.1639, S. 1518‒1521 (390105 ep.), hier S. 1520. Opitz half Tscherning bei der Herausgabe der Sprüche des Ali, vgl. ebd., Brief von Opitz an Tscherning vom 15.7.1539, S. 1575 f. (390715 ep), vgl. Brief Tschernings an Opitz vom 30.7.1639, S. 1591‒1593 (390730 ep). 13 Vgl. Borcherdt (Anm. 1), S. 122.
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getragen.14 Zu finden sind teils neue, teils bereits vorher im Einzeldruck erschienene Texte (Rachel deplorans [zuerst 1635], Lob des Weingottes [zuerst 1636], Lob der Buchdruckerey [zuerst 1640]), ein wenig geistlich konnotierte Schäferlyrik, Übersetzungen oder Übertragungen von Epigrammen John Owens, Martials oder Caspar Barlaeus’ sowie kleinere geistliche, neustoizistisch gefärbte Gedichte (u. a. Lerne dich selbst kennen, Gedult ist allen Menschen nötig, oder Überwinde dich selbst). 1643 erschienen die Semincenturia Schediasmatum (in erweiterter Auflage 1644 als Schediasmatum Liber unus 1644, 2. Teil 1650), eine Sammlung lateinischer Gelegenheitsgedichte. Als Dichter bekannt, als Professor installiert und hoch angesehen, brachte Tscherning 1655 eine weitere Gedichtsammlung heraus, den Vortrab des Sommers. Auch hier finden sich wieder zu einem erheblichen Teil Gelegenheitsgedichte, von denen einige bereits erschienen waren. Wiederum wird die Sammlung eingeleitet von Ehrengedichten Buchners und Heermanns, die Tscherning als den Nachfolger Opitz’ rühmen.15 Zu finden sind u. a. Lobgedichte auf berühmte Theologen und Dichterkollegen wie Johann Arndt, Johann Balthasar Schupp oder Georg Philipp Harsdörffer. Schließlich machte Tscherning mit einer Art Poetik auf sich aufmerksam: Unvorgreiffliches Beden cken über etliche mißbräuche in der deutschen Schreib- und Sprach-Kunst (Lübeck 1658, neue und vermehrte Auflage 1659). Hierbei handelt es sich um Spezialüberlegungen zu Rechtschreibung und Wortgebrauch, zu grammatischen und syntaktischen Fragen. Im Vortrab des Sommers versammelt sind nun auch einige derjenigen Gedichte, die im Kontext seiner Bekanntschaft mit Rist erschienen waren, Gedichte, die im Zeitraum von 1642 bis 1655 verfaßt wurden und von denen sich auch einige in Rists Poetischem Schauplatz finden:16 1. Tschernings Geleitsonett auf Rists Himmlische Lieder (Weil die Poeterey von Oben her ist kommen)17
14 Die Gelegenheitslyrik diente, so Misia Doms, Tscherning auch dazu, „seine alles andere als ideale Bildungsbiographie aufzuwerten“. Vgl. Misia Doms: „Ich/ als welcher sich befleist ǀ Grosser Leute Gunst zu kriegen“. Poetische Strategien zur Steigerung des Ansehens als Gelehrter und Dichter in der Lyrik Andreas Tschernings. In: KulturPoetik. Zeitschrift für kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft. Journal for Cultural Poetics 9 (2009), S. 155‒177, hier S. 165. 15 Vgl. Andreas Tscherning: Vortrab des Sommers. Rostock 1655, unpag. 16 Verwendet wird folgende Ausgabe: Johann Rist: Poetischer Schauplatz/ Auff welchem allerhand Waaren Gute und Böse Kleine und Grosse Freude und Leid-zeugende zu finden. Hamburg 1646. 17 Andreas Tscherning: Weil die Poeterey von Oben her ist kommen. Auff Herrn Johann Ristens/ berühmten Poeten Himlische Lieder. In: Johann Rist/Johann Schop: Himmlische Lieder (1641/42). Kritisch hg. und kommentiert von Johann Anselm Steiger. Kritische Edition des No-
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2. Tschernings Sonett auf Rists Poetischen Schauplatz (Und kanstu noch/ mein Rist/ bey diesem Wetter tichten)18 3. Rists Ode an Tscherning im Poetischen Schauplatz (Tscherning weltberühmter Dichter)19 4. Tschernings Antwort auf diese Ode im Poetischen Schauplatz (SOlt’ Ich Deiner ie vergessen)20 5. Tschernings Geleitgedicht auf Rists Neue Musikalische Katechismus Andachten (Oft schreiben ist ein Dienst)21 Das erste Gedicht, das Tscherning im Zuge seines Kontaktes mit Rist verfaßte, ist das Sonnett auf die Himmlischen Lieder.22 Als einziges der genannten Gedichte spricht dieses eine klare Sprache im Sinne der laudatio. Die dispositio ist deutlich und weist drei Abschnitte auf, wobei dem Allgemeinen das Besondere folgt. Der erste Teil ist ein Lob auf die geistliche Poesie im allgemeinen, der zweite Teil eine laudatio auf Opitz und besonders auf dessen geistliche Dichtung, der dritte Teil würdigt Rist als Opitz’ Nachfolger. Opitz bildet das Bindeglied zwischen dem Allgemeinen, der Poesie, und Rist: Daß dieser zum Schluß genannt wird, ist keine Geringschätzung, sondern entspricht einer klassischen Regel der Rhetorik, das Wichtigste am Ende zu sagen.23 Im ersten Teil wird die ,Poeterey‘ im
tentextes von Konrad Küster. Mit einer Einführung von Inge Mager. Berlin 2012, S. 374‒376 (vgl. Vortrab [Anm. 15], fol. C 6v‒C8r). 18 Andreas Tscherning: Und kanstu noch/ mein Rist/ bey diesem Wetter tichten. Sonnet Auff den Schauplatz der Freud- und Traurgedichte/ Des WollEhrwürdigen/ Ehrenfesten/ Großachtbaren und hochgelahrten Herrn Johann Risten/ Treufleissigen Predigers zu Wedel/ weitberühmten Poetens/ Seines grossen Freundes. In: Rist: Poetischer Schauplatz (Anm. 16), fol. A 3r‒v (vgl. Vortrab [Anm. 15], fol. H 4r‒v). 19 Johann Rist: Tscherning weltberühmter Dichter. An den Hochgelahrten Herren M. Andreas Tscherning/ der Poesi berühmten Professorn bey der weitbenahmten hohen Schuel zu Rostok/ seinen grossen Freund/ Als er in einer geraumen zeit kein schreiben von ihm empfangen. In: Rist: Poetischer Schauplatz (Anm. 16), S. 296‒299. 20 Andreas Tscherning: SOlt Ich deiner ie vergessen. Antwohrt An eben denselben/ auff seine mier neulich übergeschikte Ode. In: Rist: Poetischer Schauplatz (Anm. 16), fol. A 3v‒5r (vgl. Tscherning: Vortrab [Anm. 15], fol. E 2r‒3v). 21 Andreas Tscherning: Oft schreiben ist ein Dienst. An den Hoch-Ehrwürdigen/ Edlen/ Gros Achtbahren und Hochgelehrten Herrn Ristium, Comitem Palatinum & Poetam Caesareum, Lehreren zu Wedel/ Meinem Hochgeehrten insonders Grosgünstigem Herrn/ und zuverlassigem hohem Freund. In: Johann Rist: Neue Musikalische Katechismus Andachten/ Bestehende In Lehr- Trost- Vermanung und Warnungs-reichen Liederen über den gantzen heiligen Katechismum […]. Lüneburg 1656, S. 61 f. 22 Tscherning: Poeterey (Anm. 17). 23 Vgl. Cic. De orat. 2. 314. Zitiert wird nach: Cicero: De oratore/Über den Redner. Lateinischdeutsch. Übersetzt und hg. von Harald Merklin. Stuttgart 2008.
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Sinne des Enthusiasmus konturiert, wie ihn Platons Ion vorgebildet hat:24 Der Dichter ist als vates ein Medium des Göttlichen, des geistigen Sinns. Durch eine besondere Verbindung zum Göttlichen kann er gar nicht anders, als eben von diesem zu schreiben. Abgegrenzt wird die „edle“, d. h. geistliche Poesie (V. 8) vom „Tockenspiel“ und „Schaum der blinden Jugend“ (V. 10), von allem, was nicht im Dienst der Verkündigung des Bibelwortes steht, von den Produkten besonders einer Vielschreiberei, die sich vor allem Liebeshändeln widmet. Etwas unvermittelt, aber dadurch umso wirksamer, läßt Tscherning im Übergang zum zweiten Abschnitt Opitz (mitten im Vers 15) auftreten und beschreibt dessen Weg als eine Entwicklung von einer weltlichen Poesie zur geistlichen Dichtung, die sich zu dem Zeitpunkt einstellte, als „Urtheil und Verstand“ (V. 19) sich regten. Diese Konstruktion erscheint freilich dann etwas willkürlich, wenn man bedenkt, daß schon Opitz’ erste Gedichtsammlungen Teutsche Poemata (1624) und Acht Bücher Deutscher Poematum (1625) in hohem Grade geistlich konnotiert sind und daß überhaupt Opitz’ geistliche und moraldidaktische Dichtung quantitativ im Vergleich mit solcher, die der „Venus“ (V. 21) verschrieben ist, wie das Opernlibretto Dafne (1627) oder die Schäfferey von der Nimfen Hercinie (1630) weitaus dominieren. Als Höhepunkt jedenfalls streicht Tscherning Opitz’ Psalmen Davids von 1637 heraus: „Wenn mich der Psalter hat/ so bin ich kaum mein eigen“ (V. 30). Wiederum plötzlich und deshalb umso effektreicher wird im Übergang vom zweiten zum dritten Abschnitt (mitten im Vers 33) Rist als der eigentliche Widmungsträger angesprochen: „Du führest gleiche Sinnen […]“ (V. 33). Wenn es von Opitz heißt, er habe „von Libeswerck im Anfang auch geschrieben“ (V. 17), so ist bereits hier der Blick auf Rist gerichtet. Es wird suggeriert, daß Rist wie Opitz die Liebesdichtung aufgegeben habe, wie sie sich etwa in der Musa Teutonica (1634) findet. Nicht einmal angedeutet werden Rists Dramen (Perseus 1634, Irenaromachia 1630). Diese Aposiopese unterstreicht einmal mehr die Bedeutung der Himmlischen Lieder, die als geistliche Dichtung den ersten Platz der poetischen Produktionen einzunehmen haben. Anders als im Falle von Opitz kann man sagen, daß Rist mit weltlicher Dichtung begonnen hat und sich der Schwerpunkt dann etwas auf die geistliche Dichtung verlagerte.25 In der Vorrede seiner Musa Teutonica legitimiert Rist seine ,Amatoria‘ mit dem Hinweis darauf, daß er dem „Exempel
24 Vgl. Platon. Ion, 533d‒534a. Zitiert wird nach: Platon. Werke in acht Bänden. Griechisch und deutsch. Hg. von Gunther Eigler. Sonderausgabe. Darmstadt 1990, hier Bd. 1: Ion. Hippias elatton u. a. 25 Der Blick auf das Gesamtwerk zeigt allerdings, daß die Schäferlyrik niemals ganz aus den Augen gelassen wurde. 1642 verfaßte Rist beispielsweise Des Daphnis aus Cimbrien Galathee (1642) und im Poetischen Schauplatz findet sich reichlich Schäferliches, etwa im Kontext von Hochzeitsgedichten.
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der hochberühmtesten Männer“ folgt, neben Julius Caesar Scaliger, Daniel Heinsius und Francesco Petrarca nennt er auch Opitz.26 Als Vorbild kann Opitz aus besagten Gründen nur mit Einschränkung gelten, aber es geht ja nicht um die faktische Überprüfbarkeit dieses Argumentes, sondern darum, eben diese Himmlischen Lieder als herausragend zu erklären, als wichtigen Beitrag zur eigentlichen, das heißt geistlichen Dichtung, als Lieder, die ,von dem Himmel rühren‘ (vgl. V. 42) und die es vermeintlich erst so recht vermögen, Rist in eine Linie mit dem Übervater Opitz zu stellen.27 Tscherning selbst läßt übrigens den Früling programmatisch mit zwei deutschsprachigen geistlichen Gedichten beginnen (Sah alles mit Gott an, Auff die Geburt unsers einigen Heylandes und Seeligmachers JEsu Christi). Es folgt Rachel deplorans in deutscher Sprache. Tatsächlich kaum zu finden ist Liebeslyrik.28 Tschernings erstes Gedicht für Rist verfolgt das deutliche Ziel, von der herausragenden Qualität der Himmlischen Lieder zu überzeugen und ihren Verfasser unmißverständlich als Opitz’ Nachfolger zu konturieren. Diese Deutlichkeit (perspicuitas) verschwindet in den Gedichten der Folgejahre. Statt ihrer dominieren Zweifel der beiden so unterschiedlichen Dichter aneinander, die Ausdruck von Positionierungskämpfen sind. Dies zeigen vor allem die Texte in Rists Poetischem Schauplatz, die auch vor dem Hintergrund von Rists Nothwendigem Vorbericht von Interesse sind, dessen Zielrichtung zunächst kurz darzulegen ist. Der Vorbericht führt Argumente dafür an, warum überhaupt in deutscher Sprache zu dichten sei und nicht vielmehr in lateinischer. Das ist seltsam und auch wieder nicht, haben es doch Opitz, Gryphius und Fleming selbst beispielhaft vorgemacht, die sowohl in deutscher als auch in lateinischer Sprache ein beachtliches Œuvre hinterließen. Rist wendet sich an einen fingierten Interlocutor, einen zukünftigen Leser des Schauplatzes:
26 Zitiert wird nach der dritten Auflage: Johann Rist: Musa Teutonica. Das ist: teutscher Poetischer Miscellaneen Erster Theil/ in welchem begriffen Allerhandt Epigrammata Oden, Sonnette, Elegien, Epithaphia, Lob/ Trawr: und Klaggedichte/ etc. Zum Drittenmahl Gedruckt […]. Hamburg 1640, fol. B 1v. 27 Zum Profil von Rists geistlicher Dichtung vgl. Hans-Henrik Krummacher: Lehr- und trostreiche Lieder. Johann Rists geistliche Dichtung und die Predigt- und Erbauungsliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts. In: „Ewigkeit, Zeit ohne Zeit“. Gedenkschrift zum 400. Geburtstag des Dichters und Theologen Johann Rist. Hg. von Johann Anselm Steiger. Mit einem Geleitwort von Hans Christian Knuth. Neuendettelsau 2007 (Testes et testimonia veritatis. Zeugen und Zeugnisse der Wahrheit 5), S. 37‒68. 28 Vgl. etwa das Gedicht An eine Abwesende Buhlschaft (Tscherning: Deutscher Getichte Früling. Breßlau 1642, S. 87) oder ein Hochzeitsgedicht, das im Kleid der Schäferlyrik gestaltet ist (vgl. ebd., S. 116‒121).
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Wendest du noch ferner ein: Warum ich die weinige Zeit/ welche mier von meinem höherem studieren und anderen so mannigfaltigen Geschäfften annoch übrig bleibet/ nicht viel lieber in erfindung lateinischer oder griegischer [sic!] als teutscher Gedichte anlege? So bitte ich dich mein Freund/ du wollest nur anfänglich dieses bedenken/ daß ich ein rechter Teutscher und kein Grieche oder Römer sey gebohren/ und mich dannenhero vielmehr meiner Mutter-spraache/ alse [sic!] einiger fremden/ sie heisse auch wie sie wolle/ hoch verpflichtet befinde/ zu geschweigen/ daß ich mich schon längst verbindlich gemachet habe/ das Auffnehmen und die Fohrtsetzung dieser unserer so schönen und vollenkommenen Spraache eusserstem vermügen nach helffen zu befoderen.29
Auf die Frage des fingierten Interlocutors, warum er nicht auf Lateinisch oder Griechisch schreibe, antwortet der Rüstige, daß er „ein rechter Teutscher“ sei, angetreten, seine „Mutter-spraache“ zu pflegen. Die Selbstkonstruktion verfolgt das deutliche Ziel, sich von der Masse der deutsch schreibenden Poeten abzugrenzen, die es eben nicht wirklich vermögen. Diese zu beschreiben, werden mit großem Aufwand polemische Worte gefunden. Da seien die, die lauter Fehler begingen und zum Dichten begabt seien wie „die Saeue zuem tantzen/ und die Esel zuem Lauten-schlagen“, die „Stümpler“30 und „lausige[n] Reimemacher […] mit ihren Lumpen-Versen“,31 oder die, denen das Talent fehle, das ingenium, und die „Knechtische und gezwungene Poeterey“ betrieben.32 Außerdem gebe es diejenigen, die sich nicht auf den rechten Stil verstünden, die Gedichte mit „verblühmeten und tunkelen Wohrten“ verfaßten,33 in denen „gahr keine teutsche Reinligkeit“ zu finden sei, die „Hochtraber“34 unter den Dichtern, mithin die ,Asiaten‘. Auch in „ungebundener Rede“ werde „so unteutsch/ fremd und seltzahm“ geschrieben, „daß es von recht gebohrnen Teutschen schier nicht mehr kan verstanden werden.“35 Manche zögen der „so trefflichen Mutterspraache einen so thoerichten Gauklers-Mantel“ an, „daß sie in demselben gahr schwerlich vor die Teutsche mehr kan erkennet werden.“36 Schließlich sind da jene, die zwar handwerklich das Dichten gar nicht mal schlecht beherrschen, die „Heydnische[n] Lumpen-Gedichte“ hervorbringen, voll mit Figuren aus der antiken Götterwelt wie Jupiter, Apoll, Merkur und Cupido,37 die das Christentum verschleierten.
29 Rist: Poetischer Schauplatz (Anm. 16), hier der Vorbericht, fol. B 1v‒2r. 30 Ebd., fol. B 3v. 31 Ebd., fol. B 4r‒v. 32 Ebd., fol. B 5r. 33 Ebd., fol. B 6r. 34 Ebd., fol. B 6v. 35 Ebd., fol. B 7r. 36 Ebd., fol. B 8v. 37 Ebd., fol. C 2r.
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Diese Poeten seien „Fantasten und nichtes wissende Grillen-fänger“.38 Dann gibt es eine fünfte Gruppe von Dichtern, die alles richtig machen und zu denen Rist sich vermutlich auch selbst zählt, die gelehrt, belesen und verständig sind und die in jeder Hinsicht das aptum beherrschen, die gemäß der „Rede-Kunst“ zu schreiben verstehen, mit anderen Worten: die Attizisten.39 Nun geht es bei dieser Konstruktion der rechten ,teutschen‘ Dichtkunst Rist wohl auch darum, sich als gelehrt zu zeigen, aber den Eindruck einer zu großen Nähe zu den Lateinern oder Neulateinern eben nicht aufkommen zu lassen. Auch deshalb unternehme er es nicht, auf Latein zu dichten, weil man solcherlei Verse aus seiner Feder „doch nimmermehr des Virgilius/ Horatius/ Martialis/ Owenus/ Taubmans/ Heinsius/ Barlaeus“ gleich schätzen könne.40 Imitatio und aemulatio mit der lateinischsprachigen Tradition haben für Rist offenbar eine gewisse Grenze, auch wenn man sich in ihr auskennen muß, wie er selbst zeigt. In der Musa Teutonica finden sich etliche Übertragungen von Epigrammen John Owens. Und Rist beeilt sich, zu erwähnen, daß er eine nicht unerhebliche Sammlung an geistlichen Gedichten auf Latein für sich und für den „tägliche[n] Gebrauch“ aufgesetzt habe.41 Das Lateinische beherrscht er, aber praktiziert es wohl eher im Sinne von progymnasmata, Vorübungen für das Dichten in deutscher Sprache.42 Interessant ist in jedem Fall, daß es offenbar nötig war, durch Seitenhiebe auf die Konkurrenz das eigene Dichten in deutscher Sprache zu legitimieren und dies im Kontext eines hochgelehrten Netzwerks, zu dem auch Tscherning gehörte, der seine Polyglossie nicht nur, aber auf besondere Weise, bereits 1641 mit den Sprüchen des Ali unter Beweis gestellt hatte. Es dürfte sich um mehr als um einen erwartbaren Topos handeln, wenn Opitz in einem Brief an Tscherning und hier im Zusammenhang mit den Sprüchen des Ali den Freund als ,hochgebildeten‘ und ,hochgelehrten‘ Mann (eruditissimus, doctissimus) anredet.43 Es war Tscherning offenbar wichtig, dieses sein hochgelehrtes Profil, das auch exotische Konturen hat, zu zeigen. Dies beweisen die zweite und dritte Auflage des Früling 1646/1649, die mit den Sprüchen des Ali gemeinsam erschienen. Die zweite Auflage wurde im
38 Ebd., fol. C 2v. 39 Ebd., fol. C 4v. 40 Ebd., fol. B 2r–v. 41 Ebd., fol. B 2r. 42 Allerdings läßt er dann 1657 die Neuen Himmlischen Lieder ins Lateinische übersetzen und mit den deutschen zusammen veröffentlichen. Vgl. Johann Rist: Geistlicher Poetischer Schriften […] Theil 1: In sich begreiffend Neue Himlische Lieder/ nebenst deroselben Ubersetzung in die Latinische Sprache/ M. Tobias Petermans […] Schulrectoris zu Pirna. Lüneburg 1657. 43 Martin Opitz an Andreas Tscherning, Brief vom 15.7.1639. In: Ders. (Anm. 9), Bd. 3, S. 1575 f., hier S. 1576.
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selben Jahr wie Rists Poetischer Schauplatz veröffentlicht. Ist schon der Früling hin und wieder mit lateinischen und auch griechischen gelehrten Anmerkungen versehen44 und enthält er zahlreiche epigrammatische Nachdichtungen aus dem Lateinischen und Neulateinischen neben Übersetzungen aus dem Holländischen, dann betonen die angebundenen Sprüche des Ali einmal mehr die Facette des klassisch gebildeten Philologen. Im Unterschied zur ersten Auflage war es nun möglich, auch arabische Texte mit abzudrucken. Wir haben folglich eine eindrucksvolle viersprachige Publikation vor uns, die deutsche, lateinische, arabische und griechische Texte versammelt. Jeder Spruch ist noch dazu mit häufig längeren lateinischen gelehrten Anmerkungen versehen, die griechische Versatzstücke aufweisen. Im Vergleich zu Rist ergibt sich im Fall Tschernings ein völlig anderes Dichterprofil. Da ist einer, dem es in hohem Grade darum geht, sich in der Gelehrtenrepublik und gerade in der akademischen Welt einen Namen zu machen, indem er seine besonderen philologischen Qualitäten und seine Polyglossie ostentativ zeigt.45 Diese unterschiedlichen Dichterprofile bilden in den Gedichten des Poetischen Schauplatzes eine wesentliche Verhandlungsmasse. Wenn nun Tscherning in seinem Ehrengedicht mit Blick auf die deutschsprachige Dichtung sagt „auch hier ist viel zu lesen/ | Für was mier offte graut“,46 so ist er zum einen das Sprachrohr Rists: Beide sind sich darin einig, daß es an guter deutscher Dichtung fehlt. Und Tscherning bestätigt Rist in eben der Rolle, die er sich selbst im Vorbericht verliehen hat: in der Rolle desjenigen Dichters, der die Kunst der Angemessenheit auf dem Feld der ,teutschen‘ Dichtkunst beherrscht. Aber was Tscherning selbst angeht, so ist zu vermuten, daß er die Zweisprachigkeit des gelehrten Dichters noch mehr zu würdigen weiß als Rist, diese vielleicht sogar erwartet, er folglich einer der Interlocutoren sein könnte, auf die der Vorbericht antwortet. Jedenfalls läßt sich an dem Zwiegespräch, das die beiden so ungleichen Dichter mit Hilfe ihrer Oden führen, die im Poetischen Schauplatz abgedruckt sind, eine Kluft ausmachen, die sich eben aufgrund ihres so unterschiedlichen Profils ergibt. Für das Verhältnis aufschlußreich ist zunächst Tschernings Ode, die im Schauplatz direkt nach seinem Ehrengedicht abgedruckt ist. Als Antwort auf Rists Ode an Tscherning gedacht, läßt sich bereits auf deren Anlaß und Intention schließen. „SOlt’ Ich deiner ie vergessen […]?“ Offenbar hat Rist sich beklagt, daß Tscherning so lange nicht geschrieben hat. Tscherning verteidigt sich gegen
44 Vgl. Andreas Tscherning: Deutscher Getichte Früling. Aufs neue übersehen und verbessert. Rostock 1649, z. B. S. 291‒296. 45 Vgl. ebd., hier die Sprüche des Ali ab S. 410. Vgl. Doms (Anm. 14), S. 160. 46 Tscherning: Und kanstu noch/ mein Rist/ bey diesem Wetter tichten (Anm. 18), fol. A 3r.
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den vermutlich gegen ihn erhobenen Vorwurf der Wankelmütigkeit und ‒ interessanter ‒ des Hochmutes, der „Hoffart“ als einer Kardinalsünde.47 Er, Tscherning, wisse, er sei „ohne falsches“ und wolle ‒ wenn er auch als Poet nicht reich werde ‒ zumindest Nachruhm bewahren und auf seinen „guhte[n] Namen“ achten.48 Er sei „eben/ wie vorhinn/ | Noch der alte Teutsche“.49 Dies will nicht nur heißen, daß er treu und aufrichtig ist, sondern auch immer noch derjenige, der es sich angelegen sein läßt, das Dichten in deutscher Sprache hochzuschätzen, zu betreiben und nicht für geringer zu achten als die lateinische Dichtung. Tscherning verspricht jedenfalls, Rist mitsamt seiner Kunst weiter zu ehren und für ihre Unsterblichkeit zu sorgen, verbindet damit aber eine Forderung: Am Ende der sechsten Strophe heißt es: „Doch ich hoffe selbst bekant | Bey der Welt durch dich zu werden.“50 Dann ist von Briefen die Rede, die geschrieben wurden, aber ihren Adressaten nicht erreichten und in denen Tscherning Rist offenbar um Hilfe gebeten und ihn sogar nach Rostock zu seiner Hochzeit eingeladen hatte. Folgen wir Borcherdt, der Briefe Tschernings und Rists an Freunde bzw. Bekannte auswertet, in denen von Rist die Rede ist, so gibt es offenbar eine klare Struktur des Verhältnisses zwischen den beiden: Rist scheint auf das Ehrengedicht in den Himmlischen Liedern nicht angemessen, nicht mit einer Gegenleistung, reagiert, allerdings immer wieder Tscherning um weitere Gedichte gebeten zu haben. Und Tscherning ließ sich offenbar bitten ‒ vielleicht, weil er keine Gegenleistung erhielt.51 Die letzte Strophe läßt noch einmal auf das etwas schwierige Verhältnis der beiden schließen. Auffällig ist die relative Knappheit der Hinweise und Paränesen, deren Hintergründe nur vermutet werden können. Ein argumentativ logischer Zusammenhang jedenfalls fehlt auf den ersten Blick, man muß ihn sich erschließen. Tscherning betont, Rist möge nicht vor anderen über ihn sprechen, wenn auch lobend, denn er könne sich selbst „messen“,52 d. h. er benötigt Rist nicht, damit dieser seinen guten Ruf verteidigt, das kann er selbst bewerkstelligen bzw. das hat er nicht mehr nötig. Und um noch einmal seine eigene Autorität zu unterstreichen, schließt die Ode mit einer deutlichen Paränese, den Tatbestand des Schweigens nicht überzubewerten und die Verteidigung auch ernstzunehmen.
47 Tscherning: SOlt Ich Deiner ie vergessen (Anm. 20), fol. A 4r. 48 Ebd. 49 Ebd. 50 Ebd., fol. A 4v. 51 Vgl. Borcherdt (Anm. 1), S. 151‒156. 52 Tscherning: SOlt Ich Deiner ie vergessen (Anm. 20), fol. A 4v.
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Tscherning ist derjenige, der nun den Ton angibt und Rist auffordert, recht zu urteilen, „aus den Mükken“ keine „Elefanten“ zu machen.53 Diese Paränese wiegt deshalb so schwer, weil das richtige Urteil, das iudicium aufgrund der rechten Vernunft, der recta ratio, den im Sinne der Latinitas klassisch gebildeten Gelehrten ausweist. Das richtige Urteil ist auch Zentrum der stoischen und neustoischen Philosophie, die Tscherning in so manchen kleinen Gedichten beschwört (s. o.). Es garantiert den rechten Umgang mit Affekten, den Tscherning hier in bezug auf sein Gegenüber in Zweifel zieht. Mit anderen Worten: Tscherning weist Rist zurecht. Der Mittelvers „es gehört sich nicht Bekanten“ ist eine aus dem lateinischen non decet übernommene Konstruktion, die ihren Verfasser einmal mehr als Gelehrten ausweist.54 Tscherning beansprucht am Ende Autorität und versucht, Rists Zweifel in bezug auf das lange Schweigen zu zerstreuen und den Anschein von Animosität eines in seiner Ehre Gekränkten zu mildern, wobei es dann doch einige Punkte gibt, die ihn selbst störten: unbeantwortete Briefe und das Gerede über seine Person. Auf den erwähnten verknappten Stil dieser Strophe wird noch einmal zurückzukommen sein. Argumentatives Zentrum jedenfalls derjenigen Ode, die Rist offenbar im Vorfeld an Tscherning sandte, ist der Tatbestand, daß dieser schweigt.55 Dieses Schweigen ist nun Anlaß für etliche lavierende Überlegungen, die doch eines deutlich machen: Rist ist selbst in seiner Position unsicher. Eine Rolle spielen auch Standesüberlegungen und die damit verbundenen Dichterprofile. Beide sind ‚angekommen‘: Rist ist Pfarrer in Wedel und schon weit bekannt, ebenso wie Tscherning, der vor kurzem 1644 eine Professur für Poetik erhalten hat. „Einen klugen Unterrichter“ nennt ihn gleich die erste Strophe.56 Und auch wenn Tscherning de facto als Professor wenig verdiente, und in einer Zeit nach Rostock berufen wurde, als die Landeskassen leer waren und das Gehalt nicht gezahlt werden konnte: Die tatsächlichen finanziellen Gegebenheiten spielen keine Rolle, es ist offenbar dann doch der Status und Tschernings Ruf als ausgezeichneter Gelehrter, der sich durch die Professur bestätigt hat. Die zweite Strophe läßt Verunsicherung deutlich werden. „Solten auch wol deine Sinnen | mit der neu-verdienten Ehr | sich erheben etwas mehr | und zu wachsen fast beginnen?“57 Könnte es sich bei der Frage um eine subiectio handeln, d. h. um eine Frage, die ihre Antwort schon im Subtext
53 Ebd., fol. A 5r. 54 Ebd. 55 Rist: Tscherning weltberühmter Dichter (Anm. 19), S. 296‒298. 56 Ebd., S. 296. 57 Ebd., S. 297.
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mit sich führt? Diesen Eindruck sucht der Fragende sogleich zu zerstreuen: „Ach verzeihe mier mein fragen/ | Herr ich irre gahr zu weit/ | denn von deiner Freundligkeit | weiß ein ieder fast zu sagen. | […] Hoffahrt hat dich nie besessen […].“58 Die Frage ist gut gewählt, denn sie packt ihren Adressaten bei seinem Selbstverständnis und bei seiner Ehre. Rist konnte fast sicher sein, daß Tscherning nun sein Schweigen brechen würde. Die Frage hat aber neben dieser Funktion einen ernsten Hintergrund, denn der Fragende ist einer, der sich außerhalb hoher akademischer Würden befindet und auch mit einem anderen dichterischen Profil aufwartet als sein Gegenüber, dessen Polyglossie und Gelehrtheit, dessen doch intensive Verankerung in der Latinitas bekannt sind. Auf einmal ist dann auch in der vierten Strophe vom ,Studieren‘ die Rede, das Tscherning verändert habe: „Dein zu fleissiges studieren | das dich fast zum Schlaven [sic!] macht/ | hat mich üm die Luft gebracht/ | welch’ ich vormahls pflag zu sphüren.“59 ,Studieren‘ bedeutet im 16. und 17. Jahrhundert oft ,Wissenschaft‘.60 Es ist eben diese Aura der akademischen Gelehrsamkeit, verbunden mit den professoralen Würden, die Rist förmlich ,um die Luft brachte‘, die den Freund veränderte, das Verhältnis anders gewichtete. Diese Luftveränderung berührt Rist in seinem Selbstverständnis als Dichter, die Kluft zu Tscherning öffnet sich. Diese sich ändernde Atmosphäre zu beschreiben, wird gleichsam synekdochisch der Name des großen Philologen Lipsius in die Waagschale geworfen. Dieser impliziert Etliches: Er spielt zum einen auf die bereits erwähnten neustoizistisch gefärbten Gedichte im Früling an, dann auf die philologische Präzision, die hier, nicht zuletzt in den gelehrten Anmerkungen, zu Tage tritt, schließlich und damit zusammenhängend auf einen bestimmten habitus, den sich Tscherning angeeignet habe, im Schreibstil und ‒ unausgesprochen ‒ im Umgang: Lipsius habe ihm ,die Feder geschnitten‘ ‒ was hat das zu bedeuten?61 Als Anhänger des Lipsius galten in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts vor allem diejenigen, die sich einem Anticiceronianismus verschrieben. Lipsius stand für ein bestimmtes Stilideal, das sich nicht mehr die Ciceronianische Rhetorik zum Vorbild nahm, sondern sich an den kaiserzeitlichen Autoren wie Horaz und vor allem Seneca orientierte und für einen „humanistischen Modernismus“
58 Ebd. 59 Ebd. 60 Vgl. Art. Studieren. In: Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 20. München, Nachdruck 1942, Sp. 272‒282, hier Sp. 273. 61 Rist: Tscherning weltberühmter Dichter (Anm. 19), S. 298.
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votierte,62 der die Rhetorik auf eher praktische Füße stellte. Das neue Stilideal forderte mehr Adressatenbezogenheit, mehr Bewußtsein für die jeweilige Wirkung, die zu einem bestimmten Anlaß erzeugt werden sollte. Zur Disposition stand das klassizistische Stilideal, das Ausgewogenheit der Teile, Symmetrie und Ordnung verlangte. Die ,Kürze‘, brevitas, idealiter praktiziert in der Sentenz, war eine wichtige Facette des von Lipsius geforderten Stils, der sich die Scharfsinnigkeit und das intellektuelle Vergnügen an Pointen auf die Fahnen schrieb.63 Dieses Stilideal trug den geänderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Rechnung und sollte nicht zuletzt den gelehrten Humanisten auf dem Parkett der öffentlichen Repräsentationskultur Einfluß verleihen. Rist ging mit Tscherning folglich nicht zimperlich um, und er durfte sehr wohl voraussetzen, richtig verstanden zu werden, wenn er schrieb, Lipsius habe ihm ,die Federn geschnitten‘. Seine Feder gehe „wie sie soll | Jennem [i. e. Lipsius, Anm. der Verf.] nach mit rechten schritten.“64 Der implizite Vorwurf wird höflich durch die nachfolgenden Verse etwas abgefedert: „Ach es hat mich sehr vergnüget […].“65 Mit dem Hinweis auf Lipsius wird Tscherning zu bedenken gegeben, daß er sich in seinem habitus, sowohl im Schreibstil als auch im Handeln, diesem Stil ideal verpflichtet hat, das auf Effizienz, Wirksamkeit und letztlich Selbstvermarktung zielt, und daß er sich in diesem Sinne perfekt auf das aptum versteht. Die Wissenschaft macht Tscherning insofern zum ,Sklaven‘, als er sie vor allem nutzt, um auf sich aufmerksam zu machen, an seinem Stil und sich selbst zu feilen und durch Kontakte aufzusteigen. Die von Lipsius eingeforderte Rhetorik war auch diejenige des Hofmanns oder des Politicus, für die nicht nur das Reden, sondern auch das Schweigen ein wichtiges Mittel einer auf Macht zielenden Kommunikation war.66 Und es ist eben Tscherning, der schweigt und provoziert. Sein Gegenüber weiß sehr wohl, daß dieses Schweigen nicht Ausdruck einer bloßen Laune ist, sondern Kalkül. Inwiefern Tscherning tatsächlich Lipsianischen Schreibstil pflegte, bedürfte einer eigenen Untersuchung. Denken wir aber zurück an die letzte Strophe von Tschernings antwortender Ode, so ließe sich doch ein gewisser Sinn für Effekte ausmachen, etwa in der brevitas im etwas gewagten verknappten Latinismus in
62 Vgl. Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 3), S. 211. 63 Vgl. ebd., S. 217. 64 Rist: Tscherning weltberühmter Dichter (Anm. 19), S. 298. 65 Ebd. 66 Vgl. Kühlmann (Anm. 62), S. 243.
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der Mitte ,es gehört sich nicht Bekanten‘ sowie in der Pointe am Ende.67 Zu spüren ist auch die Lust, durch diese Rhetorik das Heft an sich zu reißen. Kehren wir zurück zu Rists Ode: Die sechste Strophe läßt vermuten, daß er Tschernings Wunsch nicht entsprochen hat, seinerseits ein Ehrengedicht, wahrscheinlich sogar auf die zweite Ausgabe des Früling, zu schreiben. Unter dem Deckmantel einer Bescheidenheitsfloskel grenzt sich Rist ab, er sei selbst „viel zu klein“ ‒ es müsse einer kommen, der verstehe, Tscherning mit Horaz zu „vergleichen“.68 Dies paßt zur Erwähnung des Lipsianischen Stils, der eine Aufwertung der kaiserzeitlichen Autoren implizierte. Die achte Strophe unterstreicht noch einmal allgemeiner, in welchen Spuren Tscherning denn eigentlich recht und sicher wandelt, in denen der „Römer“, auch wenn er sich bisweilen in der „Muttersprach’“ versucht.69 Insgesamt entsteht der Eindruck, daß sich Rist von einer Fraktion der Gelehrtenrepublik abgrenzt, die sich Lipsius zum neuen Gewährsmann erkoren hat, und zudem von derjenigen, die insgesamt stets eine große Nähe zur Latinitas besitzt und diese auch ostentativ zur Geltung bringt, zu Ungunsten einer eigenständigeren Dichtung in deutscher Sprache. Latent ist die Aufforderung zu spüren, daß sich Tscherning mehr als echt ,teutscher‘ Poet zeigen, sich auch im Größeren versuchen möge. Das Sich klein Machen gegenüber dem ,großen Gelehrten‘ ist auch Ausdruck einer Furcht vor der Konkurrenz, die man einerseits nicht unterstützen will, von der man aber andererseits Unterstützung erwartet, vielleicht sogar einige effektreiche Zeilen im Lipsianischen Stil? Die Lage ist komplex. Tschernings letztes Gedicht an Rist ist in den Neuen Musikalischen Katechismus Andachten (1656) zu finden.70 Die Struktur ist wieder die bekannte. Hintergrund ist offenbar der Wunsch Rists, Tscherning möge ihm ein Widmungsgedicht aufsetzen, diesmal auf die Andachten. Der Text beginnt wieder mit dem Thema ,Schweigen‘, nun in einer besonderen Variation, respektive der ehemaligen Verstimmung und einer Anspielung auf Rists „Zorn“, den Tschernings Schweigen einst erregte. Nun heißt es: „Wir schreiben/ heischt es Sach’/ einander fleissig
67 Vgl. Tscherning: SOlt’ Ich Deiner ie vergessen (Anm. 20), fol. A 5r. 68 Rist: Tscherning weltberühmter Dichter (Anm. 19), S. 298. 69 Ebd. 70 Tscherning: Oft schreiben ist ein Dienst (Anm. 21), S. 61 f. Ich übergehe die wenig spektakulären Gedichte in Rists Allerunterthänigster Lobrede An die […] Kaiserliche Majestät (1647), ein lateinisches Glückwunschgedicht und ein deutsches auf Rists Wappen. Vgl. Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. 2. verb. u. wesentl. verm. Auflage des Bibliographischen Handbuchs der Barockliteratur: Tl. 1‒6. Stuttgart 1990–1993 (Hiersemanns Bibliographische Handbücher IX, 1‒6), hier Tl. 6, Nr. 90.
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zu.“71 Die folgenden Verse suggerieren, daß man aufmerksam die poetischen Produktionen des anderen verfolgt. Allerdings sind wieder Töne eines Konkurrenzgebahrens zu vernehmen, Tscherning sieht sich nicht in der Lage, ein Ehrengedicht zu verfassen, er hat selbst ein „Werklein“ unter den Händen und ist gerade dabei, es fertigzustellen.72 Vermutlich handelt es sich um die zweite große Lyriksammlung, die 1655 erschien, Vortrab des Sommers. Außerdem habe Rist seine öffentliche Parteinahme gar nicht nötig, sein Werk spreche für sich, bedürfe seiner Lobgedichte nicht und verkaufe sich von selbst. Wenn Tscherning sich selbst als „Teütsches Armuth“ bezeichnet,73 dann ist das nicht nur eine Bescheidenheitsfloskel, sondern vielleicht ein Hinweis auf den ehemals erhobenen Vorwurf, daß er den ,Römern‘ folge. ,Armuth‘ könnte aber auch im Wortsinn gemeint sein und auf den Punkt hinführen, auf den der Text am Ende hinausläuft. Da fallen ökonomische Begriffe wie „Preis“ und „Käuffer“,74 die durchaus im Literalsinn aufgefaßt sein dürfen: Rists Bücher sind erfolgreich, Verkaufsschlager, während Tscherning selbst mit finanziellen Nöten zu kämpfen hat ‒ wie gesagt, konnte die Universität Rostock offenbar bisweilen die Gehälter nicht zahlen ‒, sich aber dennoch nicht anbiedert beim Publikum. Seine „Misgebuhrt“ erwirke „Haß und Neid“, weil er die „Warheit“ sage.75 Tscherning verwahrt sich gegen den Vorwurf einer Rhetorik der Verstellung, einer Rhetorik, die als Merkmal des Lipsianischen Stils angesehen wurde und die vermeintlich vor allem die Wirkung im Auge hatte. Das Fundament seiner Rede sei die Wahrheit, er pflege gerade keine Hofberedsamkeit. Evoziert wird das klassische Ziel der Rhetorik, verba und res in Hinsicht auf Wahres oder zumindest Wahrscheinliches miteinander in Beziehung zu setzen. Jetzt ist es Rist, der sich zu verteidigen hat, weil seine Rede darauf ausgerichtet sei, zu wirken und sich zu verkaufen. Von einer Kunst jedenfalls, die auf Geld aus ist, will Tscherning sich nicht vereinnahmen lassen. Es geht indes wiederum nicht um die Stichhaltigkeit der Argumentation. Interessant und exemplarisch für die Gelehrtenwelt der Zeit sind vielmehr die Konstruktionen zweier Dichterprofile, die in gewisser Weise wenig Schnittmengen aufweisen. Narzistische Kränkung, Gelehrtenstolz oder Konkurrenzbewußtsein: Fest steht, daß sich hier zwei nicht recht vertrugen, vielmehr um ihre Position auf dem literarischen Feld kämpften und darum stritten, wer denn nun zu Recht an die Spitze der Opitz-Nachfolge rücken dürfe. Die Texte machen deutlich, daß
71 Tscherning: Oft schreiben ist ein Dienst (Anm. 21), S. 61. 72 Ebd., S. 62. 73 Ebd. 74 Ebd. 75 Ebd.
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sich innerhalb der Spitzenkreise der Gelehrtenrepublik Machtkämpfe abspielten um Würden, Einfluß, Macht und letztlich vermutlich auch um Geld und um den erhobenen Anspruch, wer dem Konstrukt der wahren Poesie am nächsten kam.76 Daß die so unterschiedlichen Dichter jeweils diese besprochenen Texte in ihren Sammlungen abdrucken ließen, die von dem irritierten Verhältnis zeugen, beweist, daß sie einander aber doch schätzten bzw. der eine vom anderen auf irgendeine Weise die Steigerung seines symbolischen Kapitals erhoffte. Selbst aus dem Schweigen, auf das sich Tscherning offenbar gut verstand, schlagen beide auf ihre Art noch Gewinn. Und ohne dieses Schweigen wäre das Verhältnis der beiden so ungleichen Dichter weitaus weniger interessant.
76 Daß Rist Tscherning bei aller Problematik sehr wohl schätzte, gibt der Vorbericht der Neuen Himmlischen Lieder an die Hand. Hier wird Tscherning in einer Reihe mit Opitz, Harsdörffer, Birken und Fleming genannt, die sich als „wakkere Leute“ erwiesen, indem sie „Tugendlieder“ schrieben und sich auf diese Weise „bei allen Kunstliebenden sehr berühmt“ gemacht hätten. Johann Rist: Neue Himmlische Lieder (1651). Kritisch hg. und kommentiert von Johann Anselm Steiger. Musik von Andreas Hammerschmidt, Michael Jacobi, Jacob Kortkamp, Petrus Meier, Hinrich Pape, Jacob Praetorius, Heinrich Scheidemann, Sigmund Theophil Staden. Kritische Edition der Notentexte von Konrad Küster. Berlin 2013, hier der Vorbericht, S. 33. Vgl. auch die Erwähnung Tschernings in Johann Rist: Neues Musikalisches Seelenparadies […]. Lüneburg 1660, hier der Vorbericht, fol. d 2r.
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Textanhang Andreas Tscherning an Johann Rist: SOlt’ Ich Deiner ie vergessen77 Antwohrt An eben denselben auff seine mier neulich | übergeschikte Ode. 1. SOlt’ Ich deiner ie vergessen wehrter Freund/ O Licht der Zeit/ Sohn der steten Ewigkeit? Heiß ich dir so unvermessen? Siehest du mich in dem lieben für so wankelmühtig an? Nein/ Ich bin kein Wetterhahn/ hett’ Ich auch schon nicht geschrieben? 2. Bin ich etwas gleich gestiegen/ mein Gemühte steigt doch nicht. Wer ein anders von mir spricht/ kan mich selbst zu Wohrten kriegen. Ehre/ sagt man/ endert Sitten. Ich/ des Glükkes Ballenspiel habe nie das erste Ziel meiner Demuht überschritten. 3. Ehrgeiz hass’ Ich als die Schlangen/ Und der Hoffart/ O mein Rist/ die ein Kind des Teuffels ist/ hab’ Ich niemahls nachgehangen. Die gewohnt sind auffzuschneiden/ Als ich offte mit verdruß den und jennen hören muß/ kann ich übel umb mich leiden.
77 Rist: Poetischer Schauplatz (Anm. 16), fol. A 3v‒5r.
4. Herz/ Ich weiß/ und deine Schreiben legen endlich Zeugnis bey/ daß ich ohne falsches sey/ wil es ewig auch verbleiben. Laß ich sonsten nichts zu erben (Ein Poet ist selten reich) Ey so soll mit mir zugleich nicht der guhte Nahme sterben. 5. Nun/ du kennest mich viel besser/ daß ich/ eben/ wie vorhinn/ Noch der alte Teutsche bin. Seit der grimme Menschenfresser Mavors euer Land befallen/ O wie Kummers voll hab’ Ich Offtermahls gedacht an dich/ wie wird nun mein Cimber wallen? 6. Solt’ Ich dich vergessen haben? Das sey fern! Dich deine Kunst/ Und getreue Liebes-brunst Wil ich noch in Marmor graben/ Als ein Wunderwerk der Erden/ Reicht mir fürters GOTT die Hand. Doch ich hoffe selbst bekant Bey der Welt durch dich zu werden. 7. Schreiben sind von mir gelauffen/ Wer sie auffhält/ oder bricht/ wo sie bleiben/ weiß ich nicht. Glaub’/ ich wil nicht Rauch verkauffen/ daß ich selbst mit eignen Händen Dich auf meine Köste bat. Nun es ist noch nicht zu spaat Einen Wunsch hernach zusenden.
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8. Eines aber sey vergessen: Zeuch mich nicht als du gethan/ Mehr so hoch vor Leuten ann/ dann ich kan mich selber messen. Es gehört sich nicht Bekanten. Wo du meinen Raht verlachst/ denn so sag’ Ich daß du machst Aus den Mükken Elefanten. M. Andreas Tscherning Poeseos Professor P. in Academiâ Rostochiensi.
Johann Rist an Andreas Tscherning: Tscherning weltberühmter Dichter78 An den Hochgelahrten | Herren M. Andreas Tscherning/ der Poesi berühmten Professorn bey der weit- | benahmten hohen Schuel zu Rostok/ | seinen grossen Freund/ | Als er in einer geraumen zeit kein schreiben | von ihm empfangen. 1. Tscherning weltberühmter Dichter/ wehrter Freund und lieber Mann/ den ich billig nennen kann einen klugen Unterrichter Derer/ so die Weißheit lieben/ Gib mier einmahl doch bericht was dich hindre daß du nicht neulich hast an mich geschrieben? 2. Solten auch wol deine Sinnen mit der neu-verdienten Ehr sich erheben etwas mehr und zu wachsen fast beginnen?
78 Rist: Poetischer Schauplatz (Anm. 16), S. 296‒299.
Ach verzeihe mier mein fragen/ Herr ich irre gahr zu weit/ denn von deiner Freundligkeit weiß ein ieder fast zu sagen. 3. Hoffahrt hat dich nie besessen/ Allen Ehrgeitz hassest du/ Komt ein stoltzes Herz herzu das von andren gantz vermessen auffzuschneiden sich erkühnet/ Bleibt doch deine Zunge frey Denn mit böser Gleißnerey ist dier gänzlich nicht gedienet. 4. Dein zu fleissiges studieren das dich fast zuem Schlaven [sic] macht/ hat mich üm die Luft gebracht/ welch’ ich vormahls pflag zu spühren. auß den Briefen die du schriebest voll getreuer Liebe-brunst/ Und in denen du die Kunst klährlich zu erkennen giebest. 5. Lipsius hat dier geschnitten deine Federn spühr’ ich wol/ denn sie gehet wie sie soll Jennem nach mit rechten schritten. Ach es hat mich sehr vergnüget/ daß du so der Wöhrter zier/ wie sie tauglichst komt herfür fein zusammen hast gefüget. 6. Deine Musen solt’ ich preisen? Aber/ ich bin viel zu klein/ groß muß der von Weißheit sein Der dier würdigs Lob erweisen
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und dich klüglich sol vergleichen Flakkus/ ja noch andern mehr/ welchen an Verstand und Ehr’ Hohe Tichter müssen weichen. 7. Wehrter Freund/ was deine Sachen in der edlen Kunst betrifft/ Glaub’ ich schier/ daß deine Schrifft Niemand könne besser machen. Wil man andre Reden führen die was mehr geschmükket sind? Fürcht’ ich/ daß man sie mit Wind werde närrisch außstafieren. 8. Tscherning/ was du mehr wirst schreiben wenn du folgst den Römern nach/ oder auch der Muttersprach’/ O das wird wol immer bleiben/ Deine Faust kan nicht verderben/ Ja du lebest ewiglich/ Gott immittelst lasse mich Deinen Freund und Diener sterben.
Andreas Tscherning an Johann Rist: Oft schreiben ist ein Dienst79 An Den Hoch-Ehrwürdigen/ Edlen/ GrosAcht- | bahren und Hochgelehrten Herrn | Ristium, | Comitem Palatinum & Poetam Caesareum, | Lehreren zu Wedel/ Meinem Hochgeehrten insonders Grosgünstigem Herrn/ und zuverlassigem | hohem Freund. Oft schreiben/ ist ein Dienst der Freunde macht und heget. Es ist gahr leicht getahn/ daß einer Zorn erreget/ Der viel und lange schweigt. Hingegen Ich und Du Wir schreiben/ heischt es Sach’/ ein ander fleissig zu.
79 Rist: Neue Musikalische Katechismus Andachten (Anm. 21), S. 61 f.
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Was wird Mir/ sprach Ich negst/mein Rist itz wieder senden? Zu der Zeit hatt’ Ich auch ein Werklein unter Händen/ Und setzte gleich itzund die letzten Finger an/ In dem Mir deine Faust in Meine ward gethan. Wie eben trift es sich! Du Ausbund der Poeten Hast Meiner Verse zwahr/ und keiner nicht von nöhten/ Doch auf ein edles Werk/ wo lauter Andacht stekt/ Sprichst du (gleich) als Ich itzt mein eignes ausgehekt/ Mein Teütsches Armuht an. Ich sol die schönen Lehren/ Die du den Christen gibst/ mit kurtzen Reimen ehren. Worzu/ mein wehrter RIST? Dein Buch/ dein frommer Fleis Verdienet an Sich selbst bei aller Welt den Preis/ Und lobt Sich sonder Mich. Du/ warlich/ darfst nicht denken Aus Sorgfalt einen Krantz dem Käuffer auszuhenken/ Ein Buch/ ein Sinnenkind/ ein Werk von guhter Zucht/ Von GOtt und Ewigkeit/ wie Deines/ wird gesucht Mehr als von einer Statt. Was sol Ich Mir verheissen? Wenn meine Misgebuhrt wird aus der Nacht entreissen Nichts mehr als Haß und Neid. Denn wer die Warheit spricht/ Ist zwahr dem Himmel lieb/ den Menschen aber nicht. M. Andreas Tscherning/ Humanitatis in Academia Rostochiensi Professor.
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Johann Rists Lob-, Trauer- und Klag-Gedicht auf Martin Opitz samt anderen seiner anlässlich von Trauerfällen verfassten Dichtungen Obgleich Johann Rist während seiner 32-jährigen pastoralen Tätigkeit in Wedel unzählige Trauergottesdienste gehalten und Beerdigungen vorgenommen haben muss, sind keine gedruckten Leichenpredigten von ihm erhalten. Auch andere Predigten oder gar Predigtsammlungen Rists sind weder gedruckt noch handschriftlich überliefert.1 Wohl aber gibt es eine Reihe nach Todesfällen verfasster deutscher Reimdichtungen als Einzel- oder Sammeldrucke.2 Für diese der kommunikationsfördernden Gelegenheitsdichtung zuzurechnenden Texte hat Rist sich überwiegend der deutschen Sprache und des sechs- bzw. siebenhebigen, paargereimten Alexandriner-Versmaßes bedient sowie durch gleichmäßige Alternation von Hebungen und Senkungen und reine Reime den Anschluss an die regeltreue hochdeutsche Kunstlyrik nach Martin Opitz gesucht. Inhaltlich wechseln sich das Lob auf den Verstorbenen (laudatio), die Totenklage (lamentatio) und eine allgemeine oder gezielt an Hinterbliebene gerichtete Tröstung (consolatio) in unterschiedlicher Reihenfolge und Gewichtung ab. Jedoch nicht immer hat Rist alle drei Aspekte behandelt. Die laudatio allerdings nimmt meist den größten Raum ein, nicht selten verbunden mit einer geschickt eingefügten, für Rist bezeichnenden Selbstrepräsentation. Gattungsmäßig liegt eine Anlehnung an das antike und humanistische Epicedium vor.3
1 Auf diese beiden Leerstellen in Rists literarischer Hinterlassenschaft wird noch zurückzukommen sein. 2 Viele dieser Einzeldichtungen sind aufgeführt bei Gerhard Dünnhaupt: Bibliographisches Handbuch der Barockliteratur. Teil 3. Stuttgart 1981, S. 1555–1602; andere finden sich in dem von Rist selbst hg. Sammelband Musa Teutonica. Das ist: Teutscher Poetischer Miscellaneen Erster Theil. Hamburg 1634. 3. Aufl. 1640. Außerdem gibt es verstreute Einzeldrucke. Alle bisher ermittelten Trauerdichtungen Rists sind nachgewiesen im Anhang zu diesem Beitrag. 3 Vgl. Art. Epicedium. In: Reallexikon der deutschen Literatur-Wissenschaft, Bd. 1 (1997), S. 455–457; Hans-Henrik Krummacher: Das barocke Epicedium. In: Schiller-Jahrbuch 18 (1974), S. 89–147; Göttin Gelegenheit. Das Personalschrifttums-Projekt der Forschungsstelle Literatur der Frühen Neuzeit der Universität Osnabrück. Hg. von Klaus Garber. Osnabrück 2000 (Kleine Schriften des Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit 3); Hans Dieter Schäfer: „Sagt nicht frühvollendet“. Zur Geschichte des Totengedichts. In: Almanach 4 für Literatur und Theo-
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Der Wedeler Pastor hat Todesfälle sowohl von ihm persönlich unbekannten öffentlichen Persönlichkeiten als auch von ihm näher stehenden oder mit ihm befreundeten Privatpersonen – überwiegend aus dem eigenen geographischen Umfeld und aus der Hamburger Oberschicht – zum Anlass für seine Trauerdichtungen genommen. Sicher sind auch zahlreiche honorierte Auftragsarbeiten darunter. Auf diese Weise sind dem kollektiven Gedächtnis Namen und Persönlichkeiten anvertraut worden, die sonst vergessen wären.4 Bibelworte liegen diesen Dichtungen absichtlich nicht zu Grunde, doch an biblischen Anklängen und theologischen wie dogmatischen Anspielungen fehlt es keinesfalls. Die durchweg anzutreffende dualistische Gegenüberstellung von hiesiger und jenseitiger Welt teilt der Dichter-Theologe mit den übrigen Zeitgenossen des Barock ebenso wie die Glaubenssätze der christlichen Eschatologie.
1 Unter Rists Nachrufen in gebundener Sprache verdient das Lob-, Trauer- und Klag-Gedicht5 auf den am 20. August 16396 in Danzig überraschend an der Pest verstorbenen Martin Opitz aus verschiedenen Gründen eine genauere Betrachtung. Meines Wissens ist das bisher nicht geschehen.7 Dabei hat dieses Gedicht eine Länge von 620 paargereimten Alexandrinerversen auf insgesamt 25 Druckseiten und verfügt darüber hinaus noch über einen 28 Seiten füllenden Anhang
logie. Hg. von Dorothee Sölle, Wolfgang Fietkau, Arnim Juhre und Kurt Marti. Red. Jürgen P. Wallmann. Wuppertal-Barmen 1970, S. 119–138. Vgl. auch Lukas Lorbeer: Die Sterbe- und Ewigkeitslieder in deutschen lutherischen Gesangbüchern des 17. Jahrhunderts. Göttingen 2012 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 104). 4 Göttin Gelegenheit (Anm. 3), S. 14. 5 Johann Rist: Lob- Trawr- vnd Klag-Gedicht/ Vber gar zu frühzeitiges/ jedoch seliges Absterben/ Des weiland Edlen/ Großachtbaren vnd Hochgelahrten Herren/ Martin Opitzen […] Welcher am 6. Tage Septembris, des 1639. Jahres/ in der/ Königlichen Stadt Dantzig/ diß eitle Leben hat verlassen […]. Hamburg 1640 (zit. Klaggedicht). 6 Weshalb Rist den 6.9. als Todestag von Martin Opitz angibt, ist nicht ersichtlich. In allen einschlägigen Lebensbeschreibungen wird der 20.8. angegeben. 7 Vgl. z. B. die knappen Bemerkungen bei Helmut de Boor, Richard Newald: Geschichte der Deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 5. München 1951, S. 223, und bei Marian Szyrocki: Martin Opitz. München 1974, S. 121; Klaus Garber: Martin Opitz – „der Vater der deutschen Dichtung“. Stuttgart 1976, S. 38. Auch die folgende Teiledition erfüllt den Anspruch einer Interpretation nicht: Martin Opitz: Briefwechsel und Lebenszeugnisse. Kritische Edition und Übersetzung. Hg. von Klaus Conermann. Bd. 3. Berlin u. a. 2009, S. 1655–1674.
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mit Begriffs- und Sacherklärungen.8 Darin, wie in dem Klaggedicht überhaupt, präsentiert Rist sich als Kenner der antiken Mythologie, der klassischen und zeitgenössischen Literatur sowie der älteren und neueren Geschichte. Mit diesem belehrenden Anhang könnte er unausgesprochen zusätzlich Bezug genommen haben auf eine Passage im Buch von der Deutschen Poeterey, wo Opitz ebenso über diejenigen klagt, die sich als Gelegenheitsdichter selbst andienen, wie über deren Auftraggeber, die bei allen nur möglichen Gelegenheiten passende Texte gegen Bezahlung zu ihrer eigenen Reputation anfordern. Diese inflationäre Alltagsdichtung schade aber „dem gueten nahmen der Poeten“.9 „Es wird […] keine hochzeit/ kein begräbnüß ohn vns gemacht; vnd gleichsam als niemand köndte alleine sterben/ gehen vnsere gedichte mit jhnen vnter“ heißt es bei Opitz weiter. Auf solche Kritik insbesondere an Toten- und Beerdigungsdichtungen könnte Rist mit seinen sprachlich kunstreichen und gehaltvollen, zudem noch gelehrt kommentierten Versen zum Tode des bedeutenden Barockdichters – ganz in dessen Sinne – reagiert haben. Zudem beabsichtigte Rist damit grundsätzlich, ein maßstabsetzendes Exempel für gute Kasualdichtung zu statuieren. Dass seine kunstvollen „Sprachspiele“ sich dabei zwischen „Faktizität und Fiktion“10 bewegen, ist gattungsbedingt und ist dem Leser zur Entschlüsselung aufgegeben. Gewidmet ist das Lob-, Trauer- und Klag-Gedicht dem mit Rist befreundeten Verwalter der Detlev von Ahlefeldt (1617–1686) gehörenden Güter Haselau und Caden,11 Philipp Hagedorn (gest. um 1652). Diesen wollte er dadurch vermutlich in seinem Interesse an der Opitzschen Sprach- und Dichtungsreform bestärken und darüber hinaus für den sich in seinem Umfeld bildenden Kreis der Opitzanhänger gewinnen. Es ist überhaupt zu vermuten, dass Widmung, Vorrede und Klaggedicht eine Art Werbetext für den Opitzianismus in Norddeutschland darstellen.12 Gemessen an Rists übrigen, gesellschaftlich über ihm stehenden Widmungsträgern fällt Hagedorn allerdings etwas aus dem Rahmen, so dass sich der Verdacht einstellt, Rist könnte durch diese Widmung noch etwas ganz anderes
8 Dazu wurde Rist durch niederländische Vorbilder angeregt. Vgl. Harald Steinhagen, Benno von Wiese (Hg.): Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Berlin 1984, S. 356 f. 9 Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey, Cap. III. Breslau 1624. Hg. von Cornelius Sommer. Stuttgart 1970, S. 16. 10 Göttin Gelegenheit (Anm. 3), S. 15. 11 Im heutigen Kreis Pinneberg und Segeberg gelegen. Zu Haselau vgl. Johannes von Schröder: Topographie des Herzogthums Holstein. Erster Theil. Oldenburg 1841, S. 278. 12 Vgl. Günter Dammann: Johann Rist als Statthalter des Opitzianismus in Holstein. Aspekte seiner literaturpolitischen Strategie anhand der Widmungsbriefe und Vorreden. In: Alexander Ritter (Hg.): Literaten in der Provinz – Provinzielle Literatur? Schriftsteller einer norddeutschen Region. Heide 1991, S. 47–66.
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beabsichtigt haben. Er verteidigt nämlich mit dem als Brief konzipierten lateinischen, nicht für alle Leser des Klaggedichts verständlichen Text auffällig und betont die sittliche „Reinheit und Integrität“ des als „Augapfel“ unter seinen Freunden hervorgehobenen Hagedorn.13 Für ein solches Lob muss es Gründe gegeben haben. Welche Verfehlungen jedoch dahinter stehen mögen, lässt sich auf Grund einzelner Andeutungen in Detlev von Ahlefeldts Memoiren nur erahnen.14 Bis heute in Erinnerung geblieben ist Hagedorn nur als Stifter der Kanzel in der Haselauer Kirche aus dem Jahre 1641. Dass Rist 25 Jahre nach der Widmung (1664) Hagedorns Witwe Anna Badenhoop (1612–1680) in zweiter Ehe heiraten sollte, war damals freilich noch nicht absehbar.15
13 Rist: Klaggedicht (Anm. 5), fol. A 2v: „Tibi vero, integerrime Domine PHILIPPE, amicorum ocelle, Elegiam hanc ideo consecrare volui, debui, ut publico scripto testarer, quanti faciam in homine mihi maxime necessario candorem et integritatem, quas sane virtutes haud vulgares toties in te perspexi, laudavi, quoties coniunctissime tecum vivere mihi per otium licuit.“ 14 Zum Zeitpunkt der Widmung war Hagedorn Gutsverwalter für die Besitzungen Detlevs von Ahlefeldt in Haselau (bei Pinneberg) und Caden (bei Segeberg). 1642 erhielt er eine erweiterte Bestallung (vgl. Louis Bobé: Geheimrat Detlev von Ahlefeldts Memoiren aus den Jahren 1617–1659. Kopenhagen 1896, S. 162). Im selben Jahr scheint er Anna Badenhoop geheiratet zu haben (vgl. Johann Rist: Poetischer Schauplatz. Hamburg 1646, S. 182–188). Während von Ahlefeldt 1646 als Geheimrat und Oberstleutnant in hessischem Dienst stand, vertraute er Hagedorn auch noch sein Gut Haseldorf an. Damit war dieser überfordert. Außerdem lebte und feierte er weit über seine Verhältnisse und häufte, da keine jährliche Rechnungslegung stattfand, einen hohen Schuldenberg an. An Hagedorns rauschenden Festen soll auch Rist teilgenommen haben. Von Ahlefeldt stellte Hagedorn bei seiner Rückkehr 1649 als „ungetreuen Haushalter“ bloß und entließ ihn. Damit verlor dieser seine Existenzsicherung und sein gesellschaftliches Ansehen. Es soll sogar sein Stiftername an der Haselauer Kanzel getilgt worden sein. – Obgleich dies alles noch nicht geschehen war, als Rist seinem Freund Hagedorn das Klaggedicht auf Opitz widmete, scheint doch bereits Kritik an seinem Lebensstil aufgekommen zu sein. Dem sollten Rists Integritätsbeteuerungen möglicherweise entgegentreten. Dass Rist dem Gutsherrn von Ahlefeldt wenig später die vierte Lieferung der Himmlischen Lieder widmete, könnte in diesem Kontext eine zusätzliche Beschwichtigungsgeste gewesen sein. Vgl. Johann Rist, Johann Schop: Himmlische Lieder (1641/42). Kritisch hg. u. kommentiert von Johann Anselm Steiger. Kritische Edi tion des Notentextes von Konrad Küster. Berlin 2012, S. 259–267. – 1646 veröffentlichte Rist acht Alexandrinerverse, in denen er die Einkehr der Tugend „Redlichkeit“ bei Hagedorn besingt. Ob das als Apologie oder als Mahnung zu verstehen ist, muss offen bleiben. Vgl. Johann Rist: Poetischer Schauplatz […]. Hamburg 1646, S. 235 f. Alles über Hagedorn Berichtete findet sich bei Bobé (Anm. 14), S. 47. 51 f. 105–107. 15 Thomas Diecks: Art. Rist, Johann. In: Neue Deutsche Biographie 21 (2003), Sp. 646 f., hier Sp. 646. Anna Hagedorn wurde schon nach kurzer, wohl aus Versorgungsgründen geschlossener Ehe mit Johann Rist erneut Witwe. Vgl. auch Karl Goedeke, Edmund Goetze (Hg.): Dichtungen von Johann Rist. Leipzig 1885, S. XXXIX. – Rist scheint jedoch schon früher ein Auge auf Anna Hagedorn geworfen zu haben, wie die Bemerkung von Ahlefeldts in seinen Memoiren vermuten
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Auf die Widmung folgt eine deutsche Vorrede „An den guthertzigen Leser“. Darin bekennt Rist bescheiden, dass seine „zwar kurtzen, jedoch wolgemeinten“ Verse „nach jetziger poetischer Art“ den verstorbenen Opitz nur „schlecht und einfeltig beschreiben“, während er es anderen „höhere[n] Geister[n]“ überlässt, es „mit einer viel glückseligern Feder“ besser zu machen.16 Denn Opitz habe sich die „Ehre Gottes, wie denn auch die Fortsetzung und Erhaltung aller guten Künste und Sprachen […] angelegen seyn lassen.“ Deshalb appelliert Rist nun an „alle redliche[n] Teutschen“, sich den „Alamodisten“ zum Trotz für die eigene Muttersprache einzusetzen. Die Vorrede endet mit einem Zitat aus der von Opitz 1628 in Prosa abgefassten Trostschrift für seinen Breslauer Verleger David Müller (1591–1636) anläßlich des Todes von dessen Frau.17 Opitz hatte dort versichert, dass er „von toten Leuten gerne alles gutes rede und schreibe, und ihnen nach Vermögen erzeige“, was er wolle, dass es ihm nach seinem Tode von anderen auch erzeigt werden möge.18 Durch die Übernahme dieses Zitates erweist sich Rist mit seinem Opitz-Lob einerseits als Erfüller dieser Erwartung, erhofft aber zugleich dasselbe auch für sich selbst. Indem er nämlich Opitz’ Worte zwar ankündigt, aber ohne Kennzeichnung in seine Satzkonstruktion einfügt, beansprucht er sie auch für sich und schlüpft unversehens unter das Opitz-Ich. Dem nicht unähnlich ist ganz zuletzt die empfehlende Bekanntgabe seines demnächst erscheinenden Kriegs- und Friedens Spiegels, den er ohne Titelangabe auch schon im Hagedornschen Widmungsbrief angekündigt hatte.19 Rists hier unübersehbare ehrgeizige Nachruhmerwartung sollte tatsächlich nicht
lässt, Rist und Anna hätten bei einer ausgelassenen Feier das erste Menschenpaar im Paradies gänzlich entkleidet auf seine „Unkosten praesentiret“. Vgl. Bobé (Anm. 14), S. 107. 16 Rist: Klaggedicht (Anm. 5), Vorrede, fol. B 1r. 17 Martini Opitii Trostschrifft An Herrn David Müllern [1628]. In: Martin Opitz: Weltliche Poemata 1644. Zweiter Teil. Hg. von Erich Trunz. Tübingen 1975, S. 167–192 (Deutsche Neudrucke, Reihe Barock 3). 18 Ebd., S. 191 f. Auch abgedruckt bei Martin Opitz: Spiegel aller christlichen Matronen oder Ehrengedächtnuß Der […] Frawen Marien […] David Müllers geliebten Hauß frawen […]. Brieg 1628. In: Martin Opitz: Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe. Hg. von George Schulz-Behrend. Bd. IV, 1. Stuttgart 1981, S. 120, Z. 22–31, zit. in Rists Klaggedicht (Anm. 5), fol. B 1v (ohne An- u. Abführungszeichen). Vgl. ferner Johann Rist: An H. David Müllern vber seiner Haußfrawen Marien Renischin absterben. In: Weltliche Poemata. Zweiter Teil (Anm. 17), S. 157–159. 19 Johann Rist: Kriegs- vnd Friedens Spiegel. Das ist: Christliche Teutsche vnd wolgemeinte Erinnerung an alle Kriegs- vnd Frieden liebende Menschen […]. Hamburg 1640. Ursprünglich scheint Rist das Werk ebenfalls dem Freund Hagedorn zuzueignen beabsichtigt zu haben, dazu kam es nicht. Er widmete es dem einflussreichen dänischen Geheimen Rat, Politiker und Gouverneur von Glückstadt, Graf Christian von Pentz (ca. 1600–1651). Über ihn vgl. Rist/Schop: Himmlische Lieder (Anm. 14), S. 180 f., Anm. 39.
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enttäuscht werden. Insbesondere Johann Hudemanns 28 Jahre später gehaltene Leichenpredigt auf ihn über das zu Lebzeiten gewünschte Bibelwort „Gott, sei mir Sünder gnädig“ (Lk 18,13)20 ist eine einzige laudatio auf das vorbildliche Leben, Wirken und Sterben des Wedeler Dichter-Theologen.21 In vier Alexandrinerversen hat der Pinneberger Propst22 seine Rist-Würdigung gleich zu Beginn so zusammengefasst: Herr Ristius ist todt! Ein Mann von hohen Gaben/ Des gleichen wir nunmehr in Holstein wenig haben: Ein Prediger: Poet’: ein Artzt: ein guter Christ Ey schade! Daß der Mann so bald gestorben ist.23
In den Versen 1–67 seines Lob-, Trauer- und Klag-Gedichts beklagt Rist das viel zu frühe Ableben des von Gott gegebenen Dichters Opitz, der den Deutschen die „schönste Mutter-Sprach“ (V. 8) wiedergebracht und sie zu reden gelehrt habe (V. 60). Während es in der Tier- und Pflanzenwelt durchaus längere Lebenszeiten gebe, müsse der Mensch sich oft vorzeitig „auff den Weg der grawen Ewigkeit“ machen (V. 24). Doch obgleich Erde und Staub den kalten Leib bedecken, lebt der hohe Geist des Toten in der Verehrung der Nachgeborenen weiter (V. 67). Damit wechselt Rist in den Versen 68–258 von der Totenklage zum Totenlob und trägt alles Wichtige zusammen, was Opitz während seines Lebens als „Licht der Zeit“ nach Rists Wahrnehmung geleistet hat (V. 68). Um ihn aber nicht als einseitigen Förderer der deutschen Sprache allein erscheinen zu lassen, belegt Rist Opitz’ Verdienste auch um andere Sprachen. Er beginnt mit den drei alten Sprachen (Hebräisch, Griechisch und Latein), die Opitz allesamt so gut beherrscht habe, dass sie in seinen Übersetzungen oft authentischer klängen als im Original. Vor allem mit der dichterischen Übertragung der 150 alttestamentlichen Psalmen24 sei ihm eine Meisterschaft gelungen, die
20 Johann Hudemann: Leichenpredigt auf Johann Rist. Kommentierte Edition. Bearbeitet von Johann Anselm Steiger. In: Johann Anselm Steiger (Hg.): „Ewigkeit, Zeit ohne Zeit“. Gedenkschrift zum 400. Geburtstag des Dichters und Theologen Johann Rist. Neuendettelsau 2007 (Testes et testimonia veritatis 5), S. 222. – Die Festlegung des eigenen Leichtextes war eine nicht selten begegnende Form der ars moriendi während der Lebenszeit. Vgl. Lorbeer (Anm. 3), S. 544. 21 Hudemann: Leichenpredigt (Anm. 20), S. 215–246. 22 Johann Hudemann (1606–1678), Bruder des Dichter-Theologen Henrich Hudemann (1595– 1627), wirkte seit 1653 bis 1667 als Propst von Pinneberg, 1668 wurde er Superintendent von Holstein und Kirchenrat, 1673 schließlich Generalsuperintendent von Schleswig. Vgl. Ewigkeit, Zeit ohne Zeit (Anm. 20), S. 217, Anm. 1. 23 Ewigkeit, Zeit ohne Zeit (Anm. 20), S. 219. 24 Martin Opitz: Die Psalmen Davids. Danzig 1637.
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alle vorherigen Versuche etwa von Paul Schede Melissus25 oder von Ambrosius Lobwasser26 sprachlich in den Schatten stelle. Dass es sich in allen drei Fällen allerdings nicht um eine Übertragung aus dem Hebräischen, dessen Opitz gar nicht mächtig war,27 sondern um die Verdeutschung des französischen Hugenottenpsalters handelte, erwähnt der Lutheraner Rist nicht. Waren ihm die zurückliegenden konfessionellen Auseinandersetzungen um das christologische oder buchstäbliche Verständnis der Psalmen doch höchst überflüssig.28 Aus den Übersetzungen Hesiods, Homers und Pindars folgert Rist in Bezug auf die griechische Sprache: „Herr Opitz sey ein Griech’ auß teutschem Blut zu nennen“ (V. 118), ganz zu schweigen von der in „zierlich[es] Teutsch“ gebrachten Antigone des Sophokles (V. 126), bei der man zweifeln könne, „Obs besser nicht bei vns als bey den Griechen klingt“ (V. 128).29 Auch den Römern Cicero, Plinius oder Sallust sei Opitz mit seinem „trefflich gut[en] Latein“ (V. 151) ebenbürtig, wenn nicht überlegen (V. 144). Und mit den Neulateinern Julius Caesar Scaliger und Joseph Scaliger sowie mit Justus Lipsius könne Opitz es gleichfalls aufnehmen (V. 149. 151). Darüber hinaus habe Opitz infolge längerer Aufenthalte und ausgedehnter Reisen über erstaunliche Kenntnisse im Italienischen, Französischen, Ungarischen, Böhmischen und Polnischen verfügt, was aber wohl kaum der Realität entsprach.30 Rist freilich weist die vielleicht von einigen daraus geschlussfolgerte Vermutung ab, „Als wehr’ ein Teutscher nur der frembden Völcker Knecht?“ (V. 208). Doch genau das Gegenteil sei der Fall. Opitz habe gegen den Zeitgeist, der sich mit Vorliebe französischer Modewörter bediente (V. 249 f.), „Das Vnkraut
25 Paul Schede Melissus: Die Psalmen Davids. Heidelberg 1572. 26 Ambrosius Lobwasser: Der Psalter. Leipzig 1573. Opitz stand seit seiner Heidelberger Zeit dem reformierten Bekenntnis nahe. Deshalb wich er nach der Niederlage des Winterkönigs in Böhmen auch zunächst nach Siebenbürgen aus. 27 Vgl. Opitz: Briefwechsel (Anm. 7), S. 1670 f., Anm. 6, und Jörg-Ulrich Fechner: Martin Opitz und der Genfer Psalter. In: Der Genfer Psalter und seine Rezeption in Deutschland, der Schweiz und den Niederlanden. 16.–18. Jahrhundert. Hg. von Eckhard Grunewald u. a. Tübingen 2004, S. 295–316. 28 Vgl. Inge Mager: Zur vergessenen Problematik des Psalmliedes im 16. und 17. Jahrhundert. In: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 37 (1998), S. 139–149. Rist scheint überhaupt der irenischen Theologie zugeneigt zu haben, wie u. a. lobende Verse auf den eifrigen, für die Verständigung zwischen den Reformationskirchen werbenden Schotten Johannes Duraeus zeigt. Vgl. Rist: Poetischer Schauplatz (Anm. 7), S. 236. Auch Georg Calixt beurteilte er anders als viele lutherische Zeitgenossen. 29 Des Griechischen Tragoedienschreibers SOPHOCLIS ANTJGONE. Deutsch gegeben Durch Martinum Opitium. Danzig 1636. 30 Vgl. Opitz: Briefwechsel (Anm. 7), S. 1673, Anm. 19.
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frembder Sprach’ in etwas außgestochen“ (V. 210) und geradezu beschwörend für den Gebrauch der deutschen Sprache geworben. Dieser Werbung schließt Rist sich voll und ganz an: „Laß ab/ o teutsches Blut/ laß’ ab dich selbst zu hassen“ (V. 257). Die betonte Wiedergabe von Opitz’ Plädoyer für Deutsch als ebenbürtige Literatursprache verstärkt den Eindruck, Rist habe dieses Anliegen mit seinem Klaggedicht gezielt in seiner norddeutschen Region bekannt machen wollen.31 Mit Vers 259–525 setzt Rist zu einem zweiten weitläufigen Totenlob an, indem er die Vergangenheits- und Gegenwartsmächtigkeit des schöpferischen und universalen Dichterwortes mit vielen Beispielen beschreibt. Dazu wählt er Opitz’ Trostgedichte in Widerwärtigkeit des Krieges32 aus. Durch sie bleibe die Nachwelt weiterhin mit ihm verbunden (V. 275). Darüber hinaus habe Opitz durch die Widmung seiner Trostgedichte an den mit ihm befreundeten Prinzen Ulrich von Dänemark, Herzog von Schleswig-Holstein (1611–1633),33 auch das Andenken dieses im Einsatz für die Protestanten umgekommenen Mannes für alle Zeiten gesichert (V. 306 f.). Darin sieht Rist ein Zeugnis unter vielen dafür, dass Poeten als mit der göttlichen Sphäre besonders Verbundene, deren Geist „gar nicht irdisch ist“ (V. 315 f.), in ihren Worten ein Instrument besäßen, Vergangenes für die Erinnerung aufzuheben, Gegenwärtiges zu deuten und sogar Geheimnisse der Welt zu erklären“ (V. 319). Als Beispiele für Träger solcher Wortmächtigkeit aus dem Alten Testament erinnert Rist hier an David, Hiob, Jesaja, Jeremia und Salomo. Im Neuen Testament hält er Paulus für „im Himmel vnterrichtet“ (V. 365) und zählt auch die frühen Kirchenväter zum „hocherhabnen Orden“ der mit höheren Vermögen Ausgestatteten (V. 377 f.). Selbst „Heyden“ wie Orpheus ver-
31 Dammann (Anm. 12) erwähnt das Klaggedicht auf Opitz nicht. Über die alles Fremde verherrlichende oder kritisierende Alamodeliteratur vgl. de Boor/Newald (Anm. 7), S. 296–305. 32 Martin Opitz: TrostGedichte Jn Widerwertigkeit Deß Krieges; Jn vier Bücher abgetheilt […]. Breslau, Leipzig 1633 (mit Widmung an Herzog Ulrich von Holstein); entstanden in den frühen 20er-Jahren. In: Martin Opitz: Gesammelte Werke. Bd. I. Stuttgart 1968, S. 187–266; die lat. Widmung an Ulrich von Holstein ebd., S. 190 f. Vgl. ferner: An den Durchleuchten, Hochgebornen Fürsten vnd Herrn, Herrn Vldrichen […] Martin Opitzen von Boberfeld Lobgedichte. In: Weltliche Poemata 1644. Erster Teil. Tübingen 1967, S. 21–30 (Deutsche Neudrucke, Reihe Barock 2). 33 Ulrich von Holstein/Dänemark, Sohn Christians IV. von Dänemark, war als zweiundzwanzigjähriger kursächsischer General der Kavallerie während eines Waffenstillstandes höchstwahrscheinlich von kaiserlichen Schützen Octavio Piccolominis bei Schweidnitz erschossen worden (V. 300). Bereits 1622 hatte man ihn zum Administrator des Bistums Schwerin gewählt. Vgl. dazu Josef Traeger: Die Bischöfe des mittelalterlichen Bistums Schwerin. Mit einem Anhang: Administratoren und Kandidaten in nachreformatorischer Zeit. Leipzig 1984. Über Rists persönliches Verhältnis zu Ulrich von Dänemark vgl. Opitz: Briefwechsel (Anm. 7), S. 1673, Anm. 22 f. – Zu Opitz’ kriegsbedingten wechselnden politischen Funktionen und Missionen im Auftrag verschiedener Fürsten zwischen 1632 bis zum Übertritt in polnische Dienste 1636 vgl. Erich Trunz: Zeittafel zu Martin Opitz’ Leben und Werk. In: Weltliche Poemata. Erster Teil (Anm. 32), S. 18*f.
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fügten über derartiges Wissen und eine besondere Sprachkompetenz (V. 379ff.). So gesteht Rist den Sprachkünstlern aller Zeiten zu, sowohl Verstorbene gleichsam „auff den Parnassus [zu] tragen“ (V. 409) als auch gegenwärtig Menschen in ihrem Fühlen, Denken und Handeln zu beeinflussen: Poeten können dich durch jhre Faust erheben/ Viel höher als die Sonn’/ als Mond’ vnd Sterne schweben […] Poeten können dich bald froh, bald trawrig machen/ Bald must du heulen vnd bald wiedrumb frölich lachen (V. 401 f. 413 f.).
Deshalb hätten Kaiser und Könige von der Antike bis in die Neuzeit immer wieder Dichter als stützende „Seulen“ ihrer Politik und zur späteren Würdigung des eigenen Lebens an ihre Höfe geholt (V. 433). Denn, so resümiert Rist: „Poeten sinds allein/ | Durch welche sie so gar vnsterblich können seyn“ (V. 467 f.). Und was von den bisher Genannten gelte, das träfe alles auch auf Opitz zu (V. 472), weshalb Rist ihn jetzt siebenfach anredet und nach dem Exempel-Exkurs wieder persönlich auf die eigene Nachrufbühne holt: „Du Redner/ du Poet/ du Himmels-Freund/ du Singer/ | Du Künstler/ du Jurist/ du Sprachen Wiederbringer/ | Du Schreiber der Geschicht’“ (V. 481–483). Eine solche mit Tugend gepaarte geistige Universalität habe Opitz nicht nur höchste kaiserliche Ehrungen eingebracht (V. 487 f.),34 sondern auch die besondere Achtung Bethlen Gábors von Siebenbürgen,35 Fürst Ludwigs von AnhaltKöthen,36 der schlesischen Fürsten (V. 495–521) und zuletzt des polnischen Königs Wladislaus IV.37 (V. 521–531). In den Sekretärsdienst dieses katholischen ausländischen Regenten sei Opitz allerdings nur durch die kriegs- und konfessionsbedingten Zeitumstände geraten. Deshalb reklamiert Rist den schlesischen Dichter doch ganz bewusst für das „Teutsche Reich“ (V. 519): „O Phoenix vnser Zeit/ nur vns zum Ruhm gebohren“ (V. 525). Hier wird deutlich, dass Sprache im 17. Jahrhundert nationale Identität zu erzeugen begann.38
34 1625 Dichterkrönung in Wien, 1627 Verleihung des Adelstitels von Boberfeld in Prag, 1629 Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft. Vgl. Heinz Engels: Die Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts. Gießen 1983 (Beiträge zur deutschen Philologie 54). 35 * 1580–1629; reg. seit 1613. 36 * 1579–1650, Gründer der Fruchtbringenden Sprachgesellschaft. Vgl. Engels (Anm. 32), S. 95–98. 37 * 1595–1648; reg. seit 1632. Dass Opitz 1626 als Sekretär in den Dienst des katholischen Präsidenten der schlesischen Kammer Carl Hannibal von Dohna trat, übergeht Rist. Zur fürstlichen Huldigungslyrik bei Rist vgl. Ulrich Mörke: Die Anfänge der weltlichen Barocklyrik in SchleswigHolstein. Hudemann, Rist, Lund. Neumünster 1972, S. 117–122. 38 Vgl. Engels (Anm. 34), S. 13–34.
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Ab Vers 526 erklingt ein wiederum hochgestimmtes Totenlob, in dem Opitz’ Persönlichkeit und seine gelehrte Vielseitigkeit eine nochmals gesteigerte Würdigung erfahren: „er auch kont allen alles werden | […] Den Geist kan kaum der Himmel fassen“ (V. 554.558). Erst danach beginnt Rists ganz persönliche Trauerbekundung: „Mein Ziel ist trawren nur“ (V. 563). Sie gipfelt in der Bitte: „So gönne mir/ daß ich nun ewig trawrig bin“ (V. 584). Am liebsten würde der Trauernde sich Davids Harfe und Orpheus’ Leier ausborgen, um den toten Freund wieder ins Leben zu rufen. Doch er weiß, dass das erst am Jüngsten Tag geschehen wird. Vorher aber dürfe Opitz’ Seele schon die „Himmels-frewden/ | Ohn’ Angst/ Noth vnd Gefahr/ ohn Armuth/ Kranckheit/ Leiden/ | Ohn’ Hunger/ Hitz vnd Frost“ (V. 609–611)39 genießen, während er, Rist, noch auf der Erde „kriechen“ und „in Vnverstand“ leben müsse (V. 602.604). Im Unterschied zur Eingangsklage, wo von der „grawen Ewigkeit“ die Rede war (V. 24), sehnt Rist sich jetzt nach dem „edle[n] Paradeiß“, um bei Gott und dem Freund zu sein (V. 608). Das Lob-, Trauer- und Klag-Gedicht endet mit feierlichen Memoria-Versprechen und einem briefähnlichen Gruß: „Ich muß zur letzt noch tausend mahl dich grüssen/ | Vnd tausend noch dazu: Es preiset dich dein RIST, | So lang ein Tröpflein Bluts vnd Odem in jhm ist“ (V. 618 f.). Der persönlich-empathische Ausklang des Klaggedichts sowie die vertraute Bezeichnung des Verstorbenen als „Freund“ erwecken den Eindruck, dass Rist und Opitz sich sehr nahe gestanden haben müssen. Auch die vielen angeführten Einzelheiten über Opitz’ Leben und Werk scheinen diese Vermutung zu bestätigen. In Wahrheit befanden sie sich aber wohl erst seit Ende der 30er-Jahre in brieflicher Verbindung.40 Persönlich begeg net sind sie sich, soweit ich sehe, nie. So drängt sich die Vermutung auf, dass Rist mit seinem Klaggedicht weniger einen persönlichen Freund betrauert, als vielmehr eine Lanze für den Opitzianismus im allgemeinen wie ganz besonders in Schleswig-Holstein brechen und sich selbst zu dessen „Statthalter“ bzw. zum Anwalt einer nationalsprachlichen Literatur empfehlen wollte.41
39 In Anlehnung an Apk 21,4. 40 Vgl. den lateinischen Brief, den Opitz am 9.9.1638 an Rist schrieb und sich über einen ungenannten, als Momus bezeichneten Kritiker beklagte (Erklärung zu Vers 547 f., fol. H 3v). Der Brief ist auch abgedruckt in: Opitz: Briefwechsel (Anm. 7), S. 1498 f. Der Hg. Conermann, ebd., S. 1499, Anm. 1, denkt „an Verdächtigungen wegen Opitz’ Liebesleben“. Der Anhaltiner Tobias Hübner (1577–1636), der beanspruchte, den Alexandriner vor Opitz in die deutsche Literatursprache eingeführt zu haben, kann wohl auch nicht gemeint sein. Der Alexandriner-Streit war mit Hübners Tod beendet. Zu Hübner vgl. u. a. de Boor/Newald, Geschichte (Anm. 7), S. 204 f. 41 Außer Dammann (Anm. 12), S. 60, vgl. auch Inge Mager: Die Veröffentlichung von Johann Rists „Himmlischen Liedern“. In: Hamburgische Kirchengeschichte in Aufsätzen. Teil 2: Refor-
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2 Welche Absichten Rist mit anderen Totengedichten auf öffentliche, aber ihm nicht bekannte Persönlichkeiten wie z. B. auf Gustav Adolf von Schweden (gest. 1632)42 oder auf den in den Cromwellschen Wirren hingerichteten englischen König Karl I. (gest. 1649)43 außer dem offensichtlichen Bemühen um Überregionalität im einzelnen verfolgte, kann hier nicht untersucht werden.44 Statt dessen greife ich aus der Fülle der Ristschen Trauerdichtungen diejenige auf den Amtskollegen Albert Kirchhof[f] (1595–1653) heraus.45 Kirchhoff war Rists pastoraler Vorgänger im Schaumburg-Pinnebergischen Wedel und wechselte 1635 auf die Pfarrstelle in Rellingen, bis er dort 1649/50 zum Propst der (seit 1640) königlichdänischen Grafschaft Pinneberg aufstieg. Kirchhoff starb am 24.12.1653 und wurde am 1.1.1654 in Rellingen bestattet. Ob Rist die Beerdigung vornahm und eine Leichenpredigt hielt, ist nicht überliefert. Ob die von Rist abgefasste, sehr persönlich gehaltene Klag- und Trostschrift öffentlich vorgetragen worden ist, wissen wir gleichfalls nicht. Als Druckschrift scheint sie jedoch an die Stelle einer veröffentlichten Leichenpredigt getreten zu sein. Darauf deutet nicht zuletzt die auf dem Titelblatt im Telegrammstil plazierte vollständige Lebensbeschreibung des Verstorbenen hin.46 Rist war mit dem an den Universitäten Helmstedt und Rinteln ausgebildeten, zwölf Jahre älteren Kirchhoff eng befreundet. In diesem Fall dürften die Freundschaft mit einem Amtsbruder und die Trauer über den Verlust eines vertrauten Weggefährten echt gewesen sein. In 152 Alexandrinerversen wechseln
mation und konfessionelles Zeitalter (Arbeiten zur Kirchengeschichte Hamburgs 22). Hamburg 2004, S. 331–349, und Inge Mager: Einleitung zu: Rist/Schop: Himmlische Lieder (Anm. 14), S. 567–576. 42 Johann Rist: Als der Durchleuchtigster vnd Vnüberwindlichster Fürst vnd Außerwehlter Held GOTTES Gustavus Adolphus Magnus der Schweden […] König in […] Lützen […] war vmbkommen […] Klag-Gedicht. In: Rist: Musa Teutonica (Anm. 2), S. 38a–41b. 43 Pseudonym Tirsis d. Tamsschäffer: Blutige Thränen Vber das erbärmliche Ableiben Deß weiland Durchleuchtigsten Herrn, H. Carels deß Ersten, Königs von Groß-Britannien […]. O. O. 1650. 44 Möglicherweise wollte Rist durch diese zusätzliche „Orientierung an Überregionalität“ sein Image als regionaler Dichter erweitern. Vgl. Dammann (Anm. 12), S. 62. 45 Über das Leben des aus dem Schaumburgischen Bückeburg stammenden Theologensohns vgl. das Titelblatt der Klag- und Trostschrift sowie die Edition der Himmlischen Lieder von Steiger und Küster (Anm. 14), S. 278, Anm. 2. 46 Hochverdienter Nachruhm/ Dem Weiland WolEhrwürdigen/ Grosachtbahren und Hochgelehrten Herren/ H. Alberto Kirchhofen/ Der Kirchen/ in der löblichen Graffschaft Pinnenberg wolfürgesetzeten Propst und Prediger zu Rellingen […] Jn Einer Klag- und Trostschrifft aufgesetzet von Johann Rist […]. Hamburg 1654.
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Klage, Lob und Trost einander ab. Rist beginnt mit einem persönlichen Bedauern des Ablebens Kirchhoffs, den er als seinen Vater, Bruder und Propst bezeichnet und mit dem er sich so innig wie einst David mit Jonathan verbunden fühlte.47 Nach der eigenen Klage spricht Rist die Klagen der Witwe mit ihren Kindern, der übrigen Verwandtschaft, des seines Beichtvaters beraubten Fürsten, der verwaisten Gemeinde und der zurückgebliebenen Amtsbrüder an. Was sie alle mit ihm verloren haben, wird im anschließenden Totenlob entfaltet. Rist fasst Kirchhoffs Lebensleistung so zusammen: „dein Ehr und Ruhm/ | Bestund im reinen Wohrt’ und wahrem Christenthum.“48 An anderer Stelle wird er als „erbaulich und gelehrt“49 bezeichnet. Ob aus diesen Andeutungen geschlossen werden darf, dass Kirchhoff ein Anhänger Johann Arndts war, mag offen bleiben. Möglicherweise könnte die Bemerkung von Rists Unparteilichkeit50 in der Charakterisierung des Verstorbenen dazu passen. Schließlich war Arndt nicht unangefochten. Freilich stand Rist der Arndtschen Frömmigkeitstheologie nicht ablehnend gegenüber. Allein unter den Himmlischen Liedern gehen bekanntlich knapp zehn auf Gebete des Paradiesgärtleins von Arndt zurück.51 Gegen Ende seiner Klag- und Trostschrift für Kirchhoff wendet Rist sich wieder der durch den Trauerfall betroffenen Familie zu und versucht, sie mit dem christlichen Jenseitsglauben und mit der Hoffnung auf göttliche Hilfe hier und jetzt zu trösten.52 Kirchhoffs Seele befände sich bis zur leiblichen Auferstehung bereits schmerz- und leidfrei53 in der himmlischen Gemeinschaft der Engel, wo er jetzt für die Seinen in der „toll verwirrte[n] Welt samt Ihren eitlen Sachen“ betet.54
47 Ebd., V. 5 u. 152 (selbst gezählt); vgl. 1Sam 18,1; 2Sam 1,17. 48 Hochverdienter Nachruhm (Anm. 46), V. 91 f. 49 Ebd., V. 103. 50 Ebd., V. 108. 51 Inge Mager: Johann Rists „Himmlische Lieder“. Ihre Veröffentlichung und ihre Vorlagen. In: Udo Sträter (Hg.): Orthodoxie und Poesie. Leipzig 2004 (Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie 3), S. 63–83. Vgl. die synoptische Dokumentation der lyrischen Bearbeitung der Arndtschen Texte durch Rist in: Rist: Himmlische Lieder (Anm. 14), S. 473–476. 478–498. 507–515. 536–539. 52 Hochverdienter Nachruhm (Anm. 46). V. 109ff.; vgl. schon V. 41, wo Rist sich in die ganz konkreten Alltagsprobleme der jetzt vaterlosen Familie hineindenkt und es bedauert, dass die Söhne nun keine höhere Schule mehr besuchen könnten. 53 Ebd., V. 120, betont Rist, dass es im Himmel keinen Skorbut gäbe. Kirchhoff litt offenbar daran. 54 Ebd., V. 121 f.
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Rist rechnet auch mit göttlichem Beistand für die Witwe und die Waisen durch hilfreiche Menschen.55 Die letzten gut zehn Verse sind ein Zwiegespräch zwischen Rist und der Seele des toten „HertzensFreund[s]“,56 den der Lebende zu seiner himmlischen Existenz erneut beglückwünscht: „Du bist schon in dem Port/ wir sitzen noch am Ruder“ (V. 146). Die Frage „wen wird’ auch Ich genommen/ Zu dir ins Engelkohr?“57 und ein als Briefschluss gern verwendeter Gutenacht-Wunsch beenden die Klag- und Trostschrift. Es folgt nur noch eine aus acht Versen bestehende „Grabschrifft“, in welcher der Verstorbene als ein „treuer Lehrer“ und „des Himmelreichs vermehrer“ noch einmal „gepriesen“ wird.58 Ein Vergleich der beiden Nachrufe auf Opitz und auf Kirchhoff macht ihre Eigenheiten erst richtig sichtbar. Gemeinsam sind beiden nur der Anlass, nämlich der Tod eines Menschen, und die sprachliche Form, nämlich das Alexandrinerversmaß. Doch während Rist im ersten Falle als Poet, Verehrer und ehrgeiziger Stratege des Opitzianismus auftritt, stellt er sich im zweiten Falle als Theologe, enger Freund und mitfühlender Seelsorger dar. Die Sprachenfrage spielt bei Kirchhoff überhaupt keine Rolle. Obgleich dieser gelegentlich selbst lateinisch dichtete,59 scheint er kein ausgesprochener Anhänger der Opitzschen Bemühungen um die deutsche Sprache und Dichtung gewesen zu sein.
3 Ganz am Schluss sei mit dem Ehren gedächtniß auf den Tod des Juraten an der Hamburger St. Katharinenkirche, Johann von Sprekelsen (1585–1647), noch eine dritte Variante aus Rists Totendichtungen vom Jahre 1647 vorgestellt.60 Das Titelblatt bietet wieder eine Kurzbiographie des Verstorbenen und verrät, dass dieser Nachruf „Auff freundliches begehren“ – vermutlich der Witwe Maria Moller (1593–1649) – „mitleidentlich auffgesetzet und übersendet“ worden sei. Rist nennt den Verstorbenen „unsern freund“, doch der toposartige Duktus der
55 Ebd., V. 129 f. 56 Ebd., V. 150. Auch in Begräbnisliedern des 17. Jahrhunderts spricht gelegentlich der Tote aus der Grab- oder Jenseitsperspektive zu den Hinterbliebenen. Vgl. Lorbeer (Anm. 3), S. 416–421. 57 Hochverdienter Nachruhm (Anm. 46), V. 150 f. 58 Ebd., letzte Seite. 59 Edition der Himmlischen Lieder von Steiger und Küster (Anm. 14), S. 277 f. 60 Ehren gedächtniß Des Weiland […] Johan von Sprekelsen/ Bei der Kirchen St. Katrinen wolverdienten Juraten und vornemen Patritien […]. Hamburg [1647].
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96 Alexandrinerverse lässt kaum eine persönliche Freundschaft durchblicken. Offenbar war die Zugehörigkeit der Witwe, Tochter des ehemaligen Hamburger Bürgermeisters Vincent Moller,61 dessen Name in der Biographie von Sprekelsens auf dem Titelblatt auch typographisch hervorgehoben ist, zu dem berühmten Hamburger Patriziergeschlecht Moller ausschlaggebend für Rists Nachrufdichtung. Zwei Jahre später schrieb er auch für Sprekelsens Witwe ein 160 Alexandrinerverse zählendes Trauergedicht. Es gibt über das Topische hinaus sehr viel mehr persönliche Nähe sowohl zu ihr selbst als auch zu ihrer Familie zu erkennen.62 Mit dem verstorbenen Kirchenvorsteher an St. Katharinen indessen scheint Rist nicht viel verbunden zu haben, denn er zeigt sich als Laudator wie als Tröster persönlich kaum berührt von diesem Todesfall. Pflichtschuldig von der „Eitelkeit der Welt“ mit ihren verführerischen Reizen ausgehend, bekräftigt er die biblischen, auf die ganze Schöpfung bezogenen Vergänglichkeitsklagen und erinnert an die neue Schöpfung am Jüngsten Tag. Wie andere Barockdichter lässt er es sich nicht nehmen, als Beispiel für die fragile irdische Schönheit die damals als florale Besonderheit gefeierten Tulpen vor Augen zu malen.63 Auch gelingen ihm einige einprägsame Formulierungen wie „des lebens rauberinn/ die zeit frist alles weg“.64 Aber sonst findet sich in dieser Auftragsarbeit wenig Neues oder Individuelles, dafür viel Bekanntes und Austauschbares. Freilich bot dieser Auftrag aus dem Hamburger Patriziat Rist einmal mehr die willkommene Gelegenheit, an dessen gesellschaftlichem Ansehen teilzuhaben.65
4 Rist strebte sein ganzes Leben hindurch nach Höherem. Als Dichter suchte oder konstruierte er die Nähe und Anerkennung derer, die es bereits nach ganz oben geschafft hatten, und in ständischer Hinsicht orientierte er sich an der Aristo-
61 Vincent Moller (1560–1621) war Bürgermeister in Hamburg 1599–1621. 62 Johann Rist: Lerne täglich sterben/ Das ist/ Lehr und Trostrede Uber die Selige Hinfahrt aus der Zeit in die Ewigkeit Der […] Fr. Maria von Sprekelsen/ Gebohrnen Möllerinn […]. Hamburg [1649]. 63 Ehren gedächtniß (Anm. 60), V. 15 (selbst gezählt). Lothar Schmidt spricht in seiner Interpretation des Sommer-Gesangs von Paul Gerhardt von der „Tulpomanie“ der Barockdichter; vgl. Volker Meid (Hg.): Gedichte und Interpretationen. Bd. 1: Renaissance und Barock. Stuttgart 1992, S. 288. Rist selbst war ein großer Blumenliebhaber und hatte auch Tulpen in seinem Wedeler Pfarrgarten. 64 Ehren gedächtniß (Anm. 60), V. 52 f. 65 Vgl. Dammann (Anm. 12), S. 54. 57.
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kratie seiner näheren und ferneren Umgebung. Das lässt sich nicht zuletzt an den Adressaten seiner zahlreichen Widmungen wie auch seiner Trauerdichtungen ablesen. Am Aufstieg innerhalb der kirchlichen Hierarchie war er demgegenüber nicht interessiert. Seine pfarramtliche Tätigkeit übte er pflichtschuldig aus; aber seine Predigten und Beerdigungsansprachen gab er nicht zur Veröffentlichung frei. Sie entsprachen offenbar nicht seinem künstlerischen Ehrgeiz, wie ja auch die meisten seiner geistlichen Lieder mit ihren anspruchsvollen Melodien ursprünglich nicht für den Gebrauch im Gottesdienst bestimmt waren, sondern erst auf dem Wege der „kirchlichen Nach-“ bzw. „Sekundärnutzung“ dorthin gelangten.66 Auch wenn Rist wie Opitz serienmäßige, austauschbare Kasualdichtungen ablehnte, beteiligte er sich doch an deren künstlerischer Veredelung und schuf zahlreiche Trauer- und Totengedichte im Alexandriner-Versmaß und nach den strengen Opitzschen Versregeln. In einigen seiner Nachrufe halten sich Totenlob und Präsentation des eigenen poetischen Könnens die Waage. Vereinzelt dominiert die seelsorglich-konsolatorische Absicht. Andere Trauerdichtungen geben sich als reine Auftragsarbeiten zu erkennen. Mögen die meisten auch zeitweilig vergessen worden sein, so ist doch die Tatsache, dass wir uns heute wieder mit ihnen beschäftigen, ein Beweis gegen Opitz’ pessimistische Untergangsprophezeiung.67 Während der Dichter Rist mit höchstem Nachruhm rechnete, bekannte der evangelische Christ Rist sich am Ende als ein der göttlichen Gnade bedürftiger Sünder.68 Ob er dabei Luthers am Vortage seines Todes gesprochene Worte im Ohr oder vor Augen hatte?: „Wir sein pettler. Hoc est verum.“69
66 Konrad Küster: Kritischer Bericht zur Notenedition. In: Rist/Schop: Himmlische Lieder (Anm. 14), S. 583 f. Vgl. hierzu auch Küsters Beitrag in vorliegendem Band. 67 Vgl. Anm. 9. 68 Vgl. den selbst gewählten Leichenpredigttext Lk 18,13. 69 WA.TR 5, Nr. 5677, S. 317 f., zit. S. 318.
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Anhang Trauer-, Klag-, Lob- und Trostgedichte von Johann Rist70 Verstorbene Person: Anna-Catharina Helm, geb. Gronau Trost-Gedicht, Welches Dem Edlen […] Herrn Johanni Helm, Dero Rechten Licentiaten vnd Ertzbischöflichem Hoch-Fürstlichem Bremischen […] Hoff- vnd Cantzeley Raht, Als jhme seine allerliebste Hauß-Ehr/ Die Weiland Ehren-Tugendreiche Fraw Anna-Catharina Gronawin […] von der Seiten gerissen […]. O. O. u. J. (Nds. Landesbibl. Hannover) Verstorbene Person: Johannes Tarnow Auff den tödtlichen Abgang deß hochgelahrten […] Theologi Johannis Tarnovii, der H. Schrifft Doctoris vnd Professoris bey der Vniversitet Rostock […] Ode Mixta ex Alexandrinis & Jambicis Versibus [gest. 1629]. O. O. u. J. In: Musa Teutonica, Das ist Teutscher Poetischer Miscellaneen Erster Theil. [Hamburg] 31640 (SUB Hamburg) Verstorbene Person: Gustav II. Adolf EPIGRAMMA […] Als der Durchleuchtigster/ vnd Vnüberwindtlichster Fürst […] GUSTAVUS ADOLPHUS MAGNUS, der Schweden […] König […] in die Ewigkeit auffgenommen: Klag-Gedicht [1632] In: Musa Teutonica […] Verstorbene Person: Johann [Georg] Adolf von Schleswig-Holstein Trauriges Klag-Lied vnd Trost-Gedicht Vber den vnverhofften […] Hintrit […] des […] H. JOHAN GEORG ADOLPHEN, Hertzogen zu Schleßwig/ Holstein […]. Glückstadt 1633 (Gerhard Dünnhaupt: Bibliographisches Handbuch der Barockliteratur, Teil III. Stuttgart 1981, Johann Rist, Nr. 4) Verstorbene Person: Johann Adolf von Schleswig-Holstein Auff den Früezeitigen Tödtlichen Abgang deß […] Fürsten […] H. Johan Adolphen, Erben zu Norwegen/ Hertzogen zu Schleßwig/ Holstein/ Stormaren […] ODE JAMBICA [gest. 1633]. O. O. u. J. In: Musa Teutonica […] Verstorbene Person: Ulrich von Dänemark Klag-Gedicht Auff den vnverhoffeten tödtlichen Abgang deß Hochwirdigsten Durchleuchtigsten/ Hochgebornen Fürsten vnd Herren/ H. Vlrichs/ Königl. Printzen zu Dennemarck […] [gest. 1633]. In: Musa Teutonica […]
70 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
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Verstorbene Person: Jacob von Holt Trost-Gedichte An den […] Herrn Jacob von Holten, Rahtsverwanten dero löblichen Stadt Hamburg, Vber frühzeitiges […] Absterben seines […] Sohnes Georgen von Holten, Hamburg 1637 (Commerzbibl. Hamburg S/281) Verstorbene Person: Martin Opitz Johannis Ristii, Holsati, Lob- Trawr- vnd Klag-Gedicht/ Vber gar zu frühzeitiges/ jedoch seliges Absterben/ Des weiland Edlen/ Großachtbaren vnd Hochgelahrten Herren/ Martin Opitzen […] Welcher am 6. Tage Septembris, des 1639. Jahres/ in der/ Königlichen Stadt Dantzig/ diß eitle Leben hat verlassen […]. Hamburg 1640 (SUB Göttingen) Verstorbene Person: N. N. Sager Trost-Gedicht An H. Heinrich Sager/ Fürstl. Holsteinischen Landtschreiber in Dithmarschen/ über frühzeitigen Abgang seines […] Töchterleins. O. O. u. J. In: Musa Teutonica […] Verstorbene Person: Margarete Lübbren Trost-Gedicht Dem Edlen […] Herrn Henning Lübbren/ Beider Rechten vornehmen Doctorn, &c. Als er den […] Hintrit seines hertz allerliebsten Ehe-Schatzes/ Der weyland Edlen […] Frawen Margariten/ Des […] Herrn Laurentz Laelien/ beyder Rechten […] Doctorn […] Tochter/ […] beweinete […]. Hamburg 1640 (Commerzbibl. Hamburg S/281) Verstorbene Person: Dietrich Neuburn Lob- und Trost-Rede über den […] Hintrit Deß […] Herren Dietrich Neuburn/ Beyder Rechten Licentiaten und der […] Stadt Hamburg […] Rathsverwandten […]. Hamburg 1643 (Commerzbibl. Hamburg S/281) Verstorbene Person: Daniel Snitguer Trost-Schrift Ann den […] Herren Hieronimum Snitguern/ Vornehmen Bürger und Kauffherrn inn Hamburg/ Als demselben sein einziger hertzliebster Sohn Daniel […] hinweg geriessen […]. Hamburg 1644 (Commerzbibl. Hamburg S/281) Verstorbene Person: Gerhard Langermann Klaag- und Trost-Schrifft/ über das […] ableiben Des […] Herrn Gerhard Langermans/ Der Rechte Licentiaten/ und Fürstlichen Braunschweigischen/ wie auch Fürstlichen Holsteinischen […] Rahts […]. Hamburg [1646] (Commerzbibl. Hamburg S/281) Verstorbene Person: Anton von Wietersheim Lob- und Trostschrifft über das Christliche Leben und Seliges Sterben Des Weiland […] Herren H. Anthon von Wietersheim/ Auff Wörpzig/ Frentz Opperode/ und im
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Stadthagen Erbgesessen/ Fürstlichen Holsteinischen Geheimen Rahts und Kantzelers […]. Hamburg 1647 (SUB Hamburg) Verstorbene Person: Dorothee von Rantzau, geb. Ahlefeldt Ehrengedächtniß Uber das Christliche Leben und Gottseliges Absterben Der […] Fr. Dorotheen, Gebornen von Ahlefeldt, Des […] Herrn Detleff Rantzouen, Rittern zu Pancker […] Wittwen […]. Glückstadt 1647 (Dünnhaupt, Johann Rist, Nr. 38) Verstorbene Person: Johan von Sprekelsen Ehren gedächtniß Des […] H. Johan von Sprekelsen/ Bei der Kirchen St. Katrinen […] Juraten und […] Patritien […]. Hamburg [1647] (SUB Hamburg) Verstorbene Person: Elisabeth Barbara Schnitker Mitleidentliches Trost-Lied An den […] H. Hyronimum Schnitker/ Vornemen Kauff-Herren in Hamburg/ über das […] absterben seiner […] Tochter/ Deß […] Jungfräuleins/ J. Elisabeth Barbaren Schnitkers […]. Hamburg [1647] (Commerzbibl. Hamburg S/281) Verstorbene Person: Anna Christina Schut Klaag- und Trostschrifft/ An den […] H. Hinrich Schuten/ Dero Königlichen Maiestätt in Schweden […] Agenten in Hamburg/ Als Ihme sein hertzliebstes Töchterlein Jungfraw Anna Christina Schuten […] abgefodert […]. Hamburg 1647 (Commerzbibl. Hamburg S/281) Verstorbene Person: Maria von Sprekelsen, geb. Moller Lerne täglich sterben/ Das ist/ Lehr und Trostrede Uber die Selige Hinfahrt aus der Zeit in die Ewigkeit Der Weiland Edlen/ Ehr und vieltugendbegabten Frauen/ Fr. Maria von Sprekelsen/ Gebohrnen Möllerinn […]. Hamburg [1649] (Commerzbibl. Hamburg S/281) Verstorbene Person: Ludwig von Anhalt-Köthen [Dt. Trauergedicht]. In: Sehnliche Trauerklage […] Des Hochlöblichen Nehrenden [Funeralien für Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen]. Köthen 1650 (Dünnhaupt, Johann Rist, Nr. 51) Verstorbene Person: Karl I. von England Blutige Thränen Vber das erbärmliche Ableiben Deß […] H. Carels deß Ersten, Königs von Groß-Britannien […]. O. O. 1650 (Dünnhaupt, Johann Rist, Nr. 58) Verstorbene Person: Gertrud Wichman, geb. Twestreng Hochverdienter Nachruhm/ Der […] hochbegabten Frauen/ F. Gertrud Wichmans […]. Hamburg 1650 (Commerzbibl. Hamburg S/281)
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Verstorbene Person: Hans Bode Grab-und Ehren-Lied Bey Volkreicher trauriger Leichversamlung Des […] Wolführ nemen Herren Hans Boden […]. Hamburg [1650] (Commerzbibl. Hamburg S/281) Verstorbene Person: Hinrich Brüser Klag- und Trostrede Uber das […] Absterben Deß […] Wolbenahmten Herrn Hinrich Brüsern Ihrer Hochfürstlichen Durchläuchtigkeit zu Schleswig/ Holstein […] Faktorn und Fürnehmen Kauffherren […]. Hamburg [1650/51] (Commerzbibl. Hamburg S/281) Verstorbene Person: Marie Haffner, geb. Koch [Dt. Trauergedicht]. In: Johann Rickard: Leichenpredigt für Frau Marie Haffner, geb. Koch. Hamburg 1651 (Dünnhaupt, Johann Rist, Nr. 58A) Verstorbene Person: Johan Christoff Meurer Hochverdienter Nachruhm Dem Weiland WolEdlen […] Herren/ H. Johan Christoff Meurer, Beider Rechten Doktori […] und der löblichen Statt Hamburg wolverdientem Eltisten Syndico […]. Hamburg 1652 (SUB Hamburg) Verstorbene Person: Albrecht Balthasar Berrn [Berend] Ehrentempel. Dem Weiland […] Herrn Albrecht Balthasar Berrns/ Auff Wandesbek/ Lundt und Bustrup Erbgesessen […] Der zu Dennemark Norwegen Königlichen Maiestät/ wie auch Der zu Schleswig/ Holstein Regierenden […] Durchlauchtigkeit/ in der […] Statt Hamburg Residirenden Commissarien […]. Hamburg 1652 (Commerzbibl. S/281) Verstorbene Person: Herman Richter Rühmliches Ehrengedächtnisse/ Dem Weiland Edlen […] Herren/ H. Herman Richter/ Welcher […] der Stadt Hamburg für Maieur gantzer 25 Jahr […] gedienet […]. Hamburg 1652 (Commerzbibl. Hamburg S/281) Verstorbene Person: Theodor Petersen Ehrengedächtnisse/ Dem […] Hochgelehrten Herrn Herrn Theodoro Petersen […]. Hamburg 1652 (Commerzbibl. Hamburg S/281) Verstorbene Person: Margareta Finx Trostgedicht Uber den Tödlichen Hintritt/ der […] Frauen Margareta Finx […] Ihrem hinterbliebenem einzigen Sohne und zweyen Jungfrauen Töchteren wolmeinendlich zugefärtiget […]. Hamburg 1652 (Commerzbibl. Hamburg S/281) Verstorbene Person: Lukas von Eitzen Die Herligkeit Einer Christgläubigen Seele/ nach disem Leben/ […] fürgebildet/ In Einem Trostliede über den tödlichen Hintritt/ Des […] Vesten und Hochbenahmten Herren/ H. Lukas von Eitzen/ Des hohen Stifftes zu Hamburg wolverdienten
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Senioren und fürnehmen Doomherren […] Seiner hinterlassenen hochbetrübten Frau Mutter […] mitleidentlich abgesungen […]. Hamburg 1652 (Commerzbibl. Hamburg S/281) Verstorbene Person: Albert Kirchhof Hochverdienter Nachruhm/ Dem […] H. Alberto Kirchhofen/ Der Kirchen/ in der […] Graffschaft Pinnenberg […] Propst und Prediger zu Rellingen […]. Hamburg 1654 (UB Kiel) Verstorbene Person: Gertrud Westerman Klag- Lob- und Trostlied Uber […] Der weiland GrosEhrenreichen und VielTugendbegabten Frauen/ F. Gertrud/ Des WohlEhrenvesten […] H. Caspar Westermans/ Beider Rechten Licentiaten […] hertzvilgeliebten HausEhre […]. Hamburg 1656 (Commerzbibl. Hamburg S/281) Verstorbene Person: Matthias Bode Der Kinder Gottes Allergrösseste Kunst/ Bei der Christlichen und Ansehnlichen Leichbestättigung/ Des […] Herren Matthias Boden/ Fürnehmen und berühmten Kauffherren […]. Hamburg 1657 (Commerzbibl. Hamburg S/281) Verstorbene Person: Elisabeth Moller, geb. Bekmann Leid- Lob- und TrostRede Der […] Frauen Fr. Elisabet gebohrne Bekmännin/ Des […] Herrn Vincentii Möllers/ wolverdienten Syndici dieser […] Statt Hamburg […] Witwen […]. Hamburg 1657 (Commerzbibl. Hamburg S/281) Verstorbene Person: Eberhart Möller Leidzeugender Zipressenkrantz/ Mit den AllerEdelsten PassionBluhmen durchgeflochten/ Und Dem […] Hochbenamten Herren Eberhart Möller/ Des Hohen Stifftes zu Hamburg Hochverdientem Seniori […] aufgestellet […]. Hamburg 1657 (Commerzbibl. Hamburg S/281) Verstorbene Person: Christina Jäger Mittleidentliche Trost-Schrifft, An Den […] H. M. Johann Jägern […] in dem Ministerio der löblichen Stadt Hamburg Eltesten Prediger Uber den tödtlichen Hintritt seiner […] Haußmutter […] Christina […]. Hamburg 1658 (Commerzbibl. Hamburg S/281) Verstorbene Person: Catharine Dorothee Gericke, geb. Bünson [Trauergedicht]. In: Johann Böttiger: Leichenpredigt für Frau Catharine Dorothee Gericke, geb. Bünson. Magdeburg 1660 (Dünnhaupt, Johann Rist, Nr. 85) Verstorbene Person: Anna Elisabeth Schupp, geb. Helvik Klag- und Trostschrifft Dem […] Herren/ Johan Balthasar Schuppen/ […] Als Ihme seine Hertzliebste Ehefrau/ […] Fr. Anna Elisabeht Schuppen/ Deß […] Herren
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Christoff Helviken/ […] Tochter […] von der Seiten gerissen […]. Hamburg [vor 1661] Verstorbene Person: Joachim Pipenburg [Dt. Trauergedicht]. In: Georg Brasch: Leichenpredigt für Joachim Pipenburg. Lüneburg 1661 (Dünnhaupt, Johann Rist, Nr. 93.I) Verstorbene Person: Tobias Seifart [Dt. Trauergedicht]. In: Johann Scharffe: Leichenpredigt für Tobias Seifart. Coburg 1664 (Dünnhaupt, Johann Rist, Nr. 101) Verstorbene Person: Chrysostomus Köhler [Trauergedicht]. In: Andreas Overbeck: Leichenpredigt für Chrysostomus Köhler. [Wolfenbüttel] 1664 (Dünnhaupt, Johann Rist, Nr. 102)
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Johann Rist auf zwei Fürstenhochzeiten: Glückstadt 1643 und Celle 1653 Bis 1638, als er seine Gelegenheitspoesie zum zweiten Mal in einem Band sammelte und veröffentlichte, hatte Johann Rist literarisch-gesellschaftlich offenbar noch kaum in Kreisen des hohen Adels Fuß gefasst. Sein Poetischer LustGarte aus diesem Jahr jedenfalls bringt, im Grundsatz nicht anders als der vier Jahre frühere Erstling Musa teutonica, lange Poeme mit ebenso umfangreichen Erwähnungen militärischer und politischer Prominenz, Poeme etwa auf die Eroberung von Herzogenbusch und die von Wesel durch den Prinzen Friedrich Heinrich von Oranien, auf Gustav Adolf von Schweden wie dessen Ehefrau Maria Eleonora oder Friedrich V. von der Pfalz aus Anlass von dessen Tod; aber keine dieser poetischen Arbeiten aus dem Lust-Garten (oder früherer ähnlicher aus der Musa) vermittelt oder vermittelte irgend den Eindruck, der aufstrebende junge Dichter habe sich mit ihnen ernsthaft als Panegyriker bei konkreten Adressaten bewerben können oder wollen. Lediglich ein Gedicht von 1636 auf den jungen neuen Grafen der Herrschaft Holstein-Pinneberg, Rists eigenen Landesherrn Otto V. also, zeigt das Profil eines Poems, das in Erwartung einer Gratifikation verfasst und dem Adressaten auch mittelbar oder unmittelbar zugestellt worden sein könnte.1 Einen entscheidenden Schritt hinaus über diesen Stand der Dinge, auf dem er, wenn überhaupt, Glückwunsch- und Trauergedichte nur an Personen seines engeren Bekanntenkreises richten kann, tut der Poet aus Wedel, wenn ich recht sehe, erst 1640. Seinen in diesem Jahr erscheinenden Kriegs vnd Friedens Spiegel darf er (mit Datum Dezember 1639) dem Reichsgrafen Christian von Pentz (1600–1651) widmen, der 1630 vom dänischen König als Gouverneur von Glückstadt eingesetzt worden ist, jener Gründung am Reißbrett, mit der Christian IV. 1617 einen Handelsplatz und eine Festung an der Elbe, am äußersten südlichen Rand seines Königreichs, hat etablieren wollen. 1634 ist der Reichsgraf zudem einer der Schwiegersöhne des Königs geworden. Ihm nun kommt offenbar eine
1 Johann Rist: Poetischer Lust-Garte Das ist: Allerhand anmuhtige Gedichte […] &c. Allen der Teutschen Poeter[e]i vernünftigen Liebhaberen zu sonderbaren gefallen hervor vnnd an den Tag gegeben. Hamburg 1638, fol. L 4v–7r. Über Otto V. (in älterer Literatur Otto VI.), geboren 1614, mit dessen frühem Tod 1640 das Schaumburger Grafenhaus ausstarb, siehe Helge Bei der Wieden: Schaumburgische Genealogie. Stammtafeln der Grafen von Holstein und Schaumburg – auch Herzöge von Schleswig – bis zu ihrem Aussterben 1640. Bückeburg 1966 (Schaumburger Studien 14), S. 143.
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Schlüsselrolle in Rists literaturgesellschaftlichem Aufstieg zu – nicht zuletzt, weil er schöngeistig interessiert und 1636 durch Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen in die Fruchtbringende Gesellschaft aufgenommen worden ist.2 Pentz jedenfalls beauftragt Rist 1641 mit einer wohl ersten poetischen Arbeit für den König von Dänemark: Der Wedeler Pastor verfasst das „Triumff-Lied/ Als […] Herr Christian der Vierdte […] Nach glüklich vollenbrachter gefährlicher Schiffahrt und Reise in Ihrer Majestät Königreich Norwegen/ […] in Ihrer Vestung Glückstatt […] wiederum anlangete“, das dem König in Form eines Einzeldrucks überreicht worden sein wird. Auch als Rist das Gedicht an die Spitze seines dritten Sammelbandes Poetischer Schauplatz (1646) setzt, lesen wir im Untertitel dieses Panegyrikus aus rund hundertfünfzig Alexandrinern noch, das opusculum sei „Auff Gnädigen Befehl“ des Reichsgrafen Christian von Pentz, seines (Rists) „Gnädigen Herren[,] in Unterthänigkeit auffgesetzet und übergeben“ worden (PS, S. 1–6, hier S. 1).3 Ein im Band wenige Seiten später folgendes siebenstrophiges Lied (PS, S. 24–26), in dem Rist sich für das Geschenk eines vergoldeten Pokals bei Pentz bedankt, ist möglicherweise in einen Zusammenhang mit diesem Auftrag zu stellen, sofern man hierin nicht eine (dann aber vielleicht etwas üppige) Gabe für die Widmung des Kriegs vnd Friedens Spiegels sehen will.4 Ohne jeden Zweifel jedoch antwortet das Geschenk auf eine literarische Leistung: „Tausch“, so der frohlockende Poet, habe ihm „rohtes Gold für schwartzes Bley“ eingebracht (PS, S. 26). Etwa von dieser Zeit an geht die Laufbahn des Verfassers von Kasualgedichten Johann Rist unaufhaltsam auf Erfolgskurs. Zwei Fälle aus dieser Laufbahn sollen in den hier vorgelegten Ausführungen näher in den Blick genommen werden. Vom gesellschaftlichen Rang her gehören sie zur Spitze dessen, was erreicht werden konnte – eindeutiger noch als das Bewillkommnungspoem auf Christian IV., bei dem schließlich ein Reichsgraf als
2 Über Pentz siehe C. O. Bøggild Andersen: v. Pentz, Christian. In: Dansk biografisk leksikon. Grundlagt af C. F. Bricka. Red. af Povl Engelstoft under medvirkning af Svend Dahl. Bd. 18. Kopenhagen 1940, S. 151–153; Mara R. Wade: Triumphus nuptialis danicus. German Court Culture and Denmark. The ‚Great Wedding‘ of 1634. Wiesbaden 1996 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 27), S. 138 f. u. 192 f. 3 Im folgenden werden alle Zitate aus Johann Rist: Poetischer Schauplatz/ Auff welchem allerhand Waaren […] zu finden. Hamburg 1646, unmittelbar im Haupttext mit der Sigle ‚PS‘ und Seitenzahl nachgewiesen. 4 Dass Rist auch für den „Kriegs vnd Friedens Spiegel“ (genauer: dessen Widmung) eine Gratifikation erhalten hat, ist erstens selbstverständlich und zweitens in diesem Fall durch eine Äußerung des Autors belegt; s. [Johann Rist:] Baptistae Armati […] Rettung der Edlen Teütschen Hauptsprache/ […] In unterschiedenen Briefen […] für die Augen gestellet [1642]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Eberhard Mannack. Bd. 7. Berlin, New York 1982, S. 67–149, hier 94 u. 117.
Johann Rist auf zwei Fürstenhochzeiten: Glückstadt 1643 und Celle 1653
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Auftraggeber ausdrücklich zwischengeschaltet war. Bei den beiden Fällen handelt es sich um Hochzeitsgedichte, Epithalamia auf fürstliche Eheschließungen. Der erste Fall datiert aus dem Oktober 1643, der zweite genau zehn Jahre später aus dem Oktober 1653. 1643 heiratete Herzog Friedrich,5 der zweite Sohn des dänischen Königs, Sophia Amalia von Braunschweig-Lüneburg; Hauptort der Feier war das Schloss Glücksburg in Glückstadt. 1653 dann wurde die Eheschließung zwischen dem regierenden Herzog Christian Ludwig zu Braunschweig-Lüneburg und der Prinzessin Dorothea aus dem Hause Schleswig-Holstein-Sonderburg festlich in der Residenz Celle begangen. Zur ersten Veranstaltung steuerte Rist eine Veröffentlichung aus zehn unterschiedlich langen und meist im Alexandrinervers gehaltenen Gedichten bei. Diese Publikation ist als der Separatdruck, als der sie zweifellos das Licht der (höfischen) Welt erblickt hat, nicht mehr nachweisbar;6 überliefert wurde das Werk in einem, wie man aus zahlreichen Parallelfällen vermuten kann, wohl recht getreuen Wiederabdruck innerhalb von Rists bereits erwähntem dritten Sammelband Poetischer Schauplatz. 1653 dann war der Wedeler Poet mit einem Epithalamium im Umfang von sechs Blättern Großquart sowie dem Libretto für ein Ballett, dies in Folio, dabei, beide gedruckt bei Rebenlein in Hamburg und im Original überliefert. Da der 1652 erschienene Neüe Teütsche Parnass die letzte Zusammenstellung von Rists weltlicher Lyrik und seinen Kasualgedichten geblieben (bzw. dessen im „Vorbericht“ avisierter „andere[r] Theil“ nicht mehr erschienen) ist,7 haben die beiden Arbeiten von 1653 ebenso wie andere vergleichbare Kleinschriften der folgenden Jahre, etwa die Unterthänigste Glükwünschung und Lob-Rede von 1655 auf die Geburt des ersten Sohns des Großen Kurfürsten, keine ‚Zweitverwertung‘ mehr gefunden. Behandelt werden die beiden Fälle im folgenden nacheinander.8 Die Abschnitte 1 und 2 widmen sich
5 Als zweiter und (zunächst) nicht erbberechtiger Sohn führte Friedrich innerhalb Dänemarks den Herzogstitel. 6 Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. 2., verb. u. wesentlich verm. Aufl. 6 Bde. Stuttgart 1990–1993 (Hiersemanns bibliographische Handbücher 9), Bd. 5 (1991), S. 3393, Nr. 27. Noch vorgelegen hat der Separatdruck Theodor Hansen: Johann Rist und seine Zeit. Aus den Quellen dargestellt. Halle/S. 1872, siehe dort S. 62 f. 7 Johann Rist: Neüer Teütscher Parnass/ Auff welchem befindlich […] Gewächse/ Welche […] nunmehr […] in die offenbahre Welt außgestreüet. Lüneburg 1652, fol. b 10r. 8 Die Hochzeit von 1643 und die von 1653 sind archivalisch unterschiedlich gut dokumentiert. Recht reiches Material zu beiden Ereignissen bieten die Bestände des vormaligen hannoverschen Königshauses im Niedersächsischen Landesarchiv – Hauptstaatsarchiv Hannover (Abkürzung im folgenden immer: NLA). Dabei spiegeln die Akten, die sich auf die Vermählung von 1643 beziehen, naturgemäß die Interessen der Brautseite, und zwar vornehmlich in rechtlicher und finanzieller Hinsicht; Vorgänge im Rahmen der Hochzeitsfeierlichkeiten selber kommen nur gelegentlich und peripher zur Sprache. Anders im Kasus von 1653, in dem das Haus Braunschweig-
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dem Kasus von 1643, setzen ein mit einer knappen Skizze des Ereignisses, seines politischen Umfeldes wie der Involvierung unseres Autors und traktieren sodann Rists Epithalamium. Der Abschnitt 3 gilt dem Fest von 1653. In diesem Fall wartet Rist, wie erwähnt, mit zwei auch hinsichtlich ihrer Gattung verschiedenen Schriften auf. Meine Darstellung wird wieder das Epithalamium behandeln und sich darauf beschränken; das zum Ereignis von Rist gleichfalls beigesteuerte Libretto Die Triumphirende Liebe ist nicht Gegenstand dieses Beitrags.9
1 Dem dänischen König Christian IV. waren von seiner Ehefrau Anna Katharine aus dem Hause Brandenburg, die bereits 1612 starb, drei Söhne geboren worden: 1603 Christian, der als Thronfolger vorgesehen war, sowie 1609 Friedrich (Frederik) und 1611 Ulrich (Ulrik), für welche der Vater, weil sie nach bestehender Lage der Dinge für eine Erbfolge nicht in Frage kommen konnten, auf die Übernahme von
Lüneburg die Festlichkeiten ja selbst ausrichtete. Ich danke dem Haus Hannover sowie dem NLA, das die Bestände als Depositum verwaltet, für die Erlaubnis und Ermöglichung der Akteneinsicht. – Auf dänischer Seite liegt, soweit ich der Antwort auf eine E-Postanfrage im Rigsarkivet Kopenhagen und anschließender Durchsicht der im Netz zugänglichen Findmittel des Hauses entnehmen konnte, offenbar so gut wie kein Material zur Hochzeit von 1643 vor. 9 Auch weiteres aus Anlass der beiden Ereignisse jeweils entstandenes Textmaterial ziehe ich, da meine Fragestellungen auf Rist beschränkt sind, nicht heran. Es handelt sich dabei zuvörderst um zwei gedruckte Predigten, nämlich Matthias Pletz: Der Ehe-Wundsch und Segen (VD 17: 23: 630132V); Michael Walther: Himmlische Beylager-Frewde (VD 17: 1: 035587W). Zur Hochzeit von 1643 liegen sodann im Bestand der Kongelige Bibliotek Kopenhagen zwei weitere (neulateinische) Epithalamia vor, zum einen von Michael Havemann (Hamburg 1643), zum andern von dem Pseudonymus Canutus Dionysius (Schleswig [o. J.]). Zur Eheschließung von 1653 findet sich in der Akte NLA: Dep. 84 B Nr. 557 ein Konvolut mit insgesamt neun gedruckten ‚Carmina gratulatoria‘, z. T. in mehreren Exemplaren, nämlich (1) Notensatz der Vertonung einiger Verse nach dem Hohenlied durch Albert Schop, Hoforganist zu Celle (Hamburg 1643, 8 Bll.); (2) bis (6) neulateinische Epithalamia von Johann Friedrich von Dransfeld (Nordhausen 1653, 4 Bll.); Hermann Conring (Helmstedt 1653, 2 Bll.); Valentin Heinrich Vogler (Helmstedt 1653, 4 Bll.); Johann Heinrich Hoffmann ([Lüneburg] [o. J.], 3 Bll.); Wilhelm Mechov (Braunschweig [o. J.], 6 Bll., VD 17: 1: 723149S); (7) neulateinischer Panegyricus in Prosa von Lorenz Bodock ([Lüneburg] [o. J.], 3 Bll.); (8) deutschsprachige Gratulationsode mit Noten von Christian Gartner (Lüneburg 1653, Einzelblatt); (9) neulateinisches Figurengedicht von Daniel Papendorff ([o. O.] 1653, Einzelblatt). Nicht in diesem Konvolut und überhaupt nicht in der Akte findet sich wohlgemerkt Rists Epithalamium, wohl aber ist sein Libretto „Die Triumphirende Liebe“ in einem nicht ganz vollständigen Exemplar (ungebundene Bögen, davon vier ungefaltet als Einzelbll.) vorhanden.
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säkularisierten Bistümern in Norddeutschland hinarbeitete.10 Bereits den fünfjährigen Friedrich kaufte Christian IV. deshalb für einen Betrag von 65 000 Talern ins Verdener Domkapitel ein; 1621 wurde der Knabe Koadjutor im Stift Bremen, 1622 in Verden. 1627 übertrug der König als Kreisoberst des Niedersächsischen Kreises dem Sohn dann das Regiment im Stift Bremen. Die Niederlage Dänemarks im niedersächsisch-dänischen Krieg (1624–1629) und der Aufstieg Schwedens im Reich begannen die Zukunft des jungen Mannes allerdings unsicher erscheinen zu lassen, aber nachdem 1634 deutlich geworden war, dass auch die Bäume der schwedischen Hoffnungen nicht in den Himmel wachsen würden, konnte Friedrich in Verhandlungen mit diesem skandinavischen Nachbarn 1634/1635 Erzbischof der Stifter Bremen und Verden werden. Regierungssitz des Erzstifts war seinerzeit das Schloss im während des Krieges niedergebrannten und gerade wieder neu errichteten Flecken Bremervörde. Obwohl der Bischof in seiner Wahlkapitulation den Rücktritt für den Fall zugesagt hatte, dass er sich zu einer Heirat entschließen sollte, verlobte er sich im März 1640 mit der 1628 geborenen Sophia Amalia, der Tochter von Herzog Georg von Braunschweig-Lüneburg und dessen Ehefrau Anna Eleonore von Hessen-Darmstadt – ein Schritt, den Christian IV. im Blick auf die Position im Bistum für problematisch hielt. Die im Oktober 1643 gehaltene Hochzeit brachte Friedrichs Stellung freilich noch nicht ins Wanken. Dies geschah erst, als in einer weiteren Episode des Dreißigjährigen Krieges, dem dänisch-schwedischen Krieg, die Schweden das Erzbistum besetzten und es auch im Frieden von Brømsebro (1645) nicht wieder herausgaben. Nach Christians IV. Tod im Jahre 1648 wurde der Zweitgeborene, da sein älterer Bruder zwischenzeitlich ebenfalls gestorben war, als Friedrich III. überraschend König von Dänemark. Es liegt nach dem eingangs Gesagten nahe zu vermuten, dass auch in diesem Fall Christian von Pentz es war, der hilfreiche Hand geleistet hat, als Rist den Auftrag für die Abfassung des ‚offiziellen‘ Epithalamiums erhielt. Immerhin sollten die Hochzeitsfeierlichkeiten nicht in Kopenhagen, sondern in Glückstadt
10 Die folgende Skizze nach [Karl Ernst Hermann] Krause: Friedrich II. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Hg. durch die Historische Commission bei der Königlichen Akademie der Wissenschaften. Bd. 7. Berlin 1877, S. 518 f.; Knud Fabricius: Frederik III. In: Dansk biografisk leksikon (Anm. 2), Bd. 7 (1935), S. 237–244; Hermann Kellenbenz: Friedrich II. In: Neue deutsche Biographie. Hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 5. Berlin 1961, S. 503 f.; Gottfried Lorenz: Das Erzstift Bremen und der Administrator Friedrich während des Westfälischen Friedenskongresses. Ein Beitrag zur Geschichte des schwedischdänischen Machtkampfes im 17. Jahrhundert. Münster 1969, S. 10–32; Svend Ellehøj: Frederik III. In: Dansk biografisk leksikon. 3. Aufl. Red. Sv. Cedergreen Bech. Bd. 4. Kopenhagen 1980, S. 530–535, sowie Wade (Anm. 2), S. 69–72 u. 196–207.
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abgehalten werden, jener Stadt, die keine dreißig Kilometer von Wedel entfernt war und in der, wie erwähnt, Pentz als Gouverneur amtierte. Rist hat einige Zeilen hinterlassen, die einen kleinen Blick in das reale Umfeld seines Epithalamiums erlauben. Im Widmungsbrief des Poetischen Schauplatzes, der eben jener Sophia Amalia zugeschrieben ist, die bei der Eheschließung von 1643 die Braut war, erinnert der Autor sich der „hohen Gnade“, mit welcher ihr „Herr und Ehegemahl“ Friedrich „zu unterschiedlichen mahlen“ seine, Rists, „Bücher und Schrifften zu lesen gewürdiget“ und sie „vor geneme gehalten“ habe; vor allem erwähnenswert aber ist dem Dichter, Friedrich habe meine auff Ihre HochFürstliche Durchlaüchtigkeit prächtiges Beylager unterthänigst auffgesetzete Poetische Gedanken mit sonderbahren Fürstlichen Gnaden vor alle andere einzig und allein auff und angenommen/ mich gnädigst an Ihre HochFürstliche Taffel lassen foderen/ Ihres HochFürstlichen Gespräches gewürdiget/ und schließlich/ deroselben hohe Gewogenheit mich dergestalt lassen spühren und würklich erfahren/ daß ich [etc.] (PS, fol. a 5v–6r).
Bezieht man diese Darstellung auf Untersuchungen der Kasuallyrik im Handlungsrahmen höfischer und sonstiger Repräsentation,11 dann darf man sie wohl ungefähr wie folgt verstehen: Rist war gehalten, sein Epithalamium dem Prinzen im Vorwege zur Kenntnis zu bringen. Auf der sozialen Ebene, auf der wir uns hier befinden, ist es gänzlich ausgeschlossen, dass Hochzeitsgedichte etwa während der Festtafel unversehens in großer Menge ans Tageslicht befördert worden wären, wie Christian Reuter das (in gewiss leichter Übertreibung) seinen Schelmuffsky erzählen lässt.12 Der Poet aus Wedel durfte vermutlich, nachdem Friedrich den vorgelegten Text geprüft und (vielleicht mit Änderungen) gebilligt hatte, das gedruckte opusculum in einer feierlichen Zeremonie selbst überreichen.
11 Ich denke dabei vor allem an Jan Drees: Die soziale Funktion der Gelegenheitsdichtung. Studien zur deutschsprachigen Gelegenheitsdichtung in Stockholm zwischen 1613 und 1719. Stockholm 1986, S. 139–166 u. 537–542; Kerstin Heldt: Der vollkommene Regent. Studien zur panegyrischen Casuallyrik am Beispiel des Dresdner Hofes Augusts des Starken. Tübingen 1997 (Frühe Neuzeit 34), S. 14–21 u. 75–86. Eine merkwürdig an den Befunden vorbeizielende Anmerkung zur zitierten Passage bei Rudolf Mews: Johann Rists Gesellschaftslyrik und ihre Beziehung zur zeitgenössischen Poetik. Diss. phil. Hamburg 1969, S. 134, in der u. a. ‚unser‘ Friedrich, der Sohn Christians IV. und Erzbischof von Bremen, mit dem zwölf Jahre älteren Gottorfer Herzog Friedrich III. verwechselt wird. Auch insgesamt sind Mews’ recht umfängliche Ausführungen S. 133–142 über das Epithalamium von 1643 teils schief, teils unpräzise. 12 Christian Reuter: Schelmuffsky. Abdruck der Erstausgaben 1696 [A/B]. 1697. 2., verb. Aufl. Hg. von Peter von Polenz. Tübingen 1956 (Neudrucke deutscher Literaturwerke 57–59), S. 50 f.; auch zitiert bei Drees (Anm. 11), S. 153 f.
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Zudem war er als Gast zur Festtafel geladen. Dies wiederum wird man sich nicht so vorzustellen haben, dass er am selben Tisch gesessen hätte wie das Brautpaar und der Hochadel, doch Gemeinsamkeit strahlt die Teilnahme am Ereignis schon aus. So kann Rist denn auch in den Poetischen Schauplatz ein epigrammatisches Gedicht „Gedanken/ Als er einßmahls bey dreyen Hochfürstlichen Personen zu Tische saß“ einrücken und für dieses wie ein unmittelbar folgendes Epigramm in Anmerkungen erläutern, dass es sich hier um Herzog Friedrich, dessen „hertzliebste Ehgemahlin“ Sophia Amalia und deren Mutter, die verwitwete Herzogin Eleonora zu Braunschweig-Lüneburg, gehandelt habe (PS, S. 283).13 Wenn die zitierte Passage des Widmungsbriefs dann abschließt mit dem Hinweis, der Herzog und Erzbischof habe Rist seine „hohe Gewogenheit […] spühren und würklich erfahren“ lassen, so darf man darin das stolze Eingeständnis sehen, für das Epithalamium reich beschenkt worden zu sein.14
13 Man mag sich wundern, warum für Rist bei diesem Hochzeitsbankett neben dem Brautpaar nur die Mutter der Braut anwesend war, nicht aber (Mutter des Bräutigams und Brautvater waren bereits verstorben) auch Christian IV. als der Vater des Bräutigams und Christian Ludwig als der älteste Sohn Herzog Georgs, seit dessen Tod selbst Herzog im Fürstentum Calenberg-Göttingen mit Hannover als Residenz und nach Ausweis etwa des Aktenkonvoluts NLA: Dep. 84 B Nr. 13 federführend auf Brautseite bei den Eheverhandlungen sowie Begleiter seiner Schwester nach Glückstadt. Die Abwesenheit Christians IV. entspricht indessen dem historischen Sachverhalt. J[ohann] P[eter] Lotichius: Theatri Europaei Fünffter Theil: Das ist/ Avßführliche BEschreibung/ aller denckwürdigen Geschichten/ die sich […] vom Jahr 1643. biß in gegenwärtiges 1647. Jahr/ allerseits begeben und verlauffen: Auß glaubhafften Documentis, und trewlich communicirten Berichten zusammen getragen vnd beschrieben. Frankfurt a. M. 1647, S. 178, berichtet als Besonderheit, dass am Abend nach der Vermählung „d(er) König nit zur Taffel/ sondern erstlich nachfolgenden Abends bey Mitternacht erschienen“; Gründe für die vorübergehende Abwesenheit des Monarchen werden nicht genannt. Der Brief der Herzoginwitwe Anna Eleonore vom 15. Oktober 1643 aus Rotenburg (NLA: Dep. 84 B Nr. 257) an ihre Brüder, die Landgrafen von HessenDarmstadt, geschrieben auf der Rückreise von Glückstadt, beginnt zwar mit dem Stoßseufzer: „Wir haben Gott lob vnßer hochzeit volbracht vndt dank ich dem Allerhöisten, das ich dieße schwehre Last abgelegett“, enthält sich aber sowohl einer Beschreibung der Feierlichkeiten wie aller Einzelheiten; die Schreiberin durfte darauf rechnen, dass ihre Adressaten vornehmlich daran interessiert waren zu vernehmen, der dänische König habe die Schwester sehr freundlich empfangen. Allerdings belegt der Brief, dass mit Mutter und Schwester auch der regierende Herzog Christian Ludwig nach Glückstadt gereist war. Warum der von Rist ebenfalls übergangen wurde, bleibt mir unklar. 14 Zu diesem Aspekt mehrere instruktive Beispiele bei Drees (Anm. 11), S. 159–166 u. 540–542; ferner dazu Heldt (Anm. 11), S. 68–74. Im Fall Rists scheint (wie meistens) kein archivalischer Beleg vorzuliegen. Vermerkt sei immerhin eine Passage aus Rist: Parnass (Anm. 7), S. 385: In einem Sonett dankt der Autor Friedrich, zu diesem Zeitpunkt bereits als Friedrich III. König von Dänemark, für das Geschenk einer Prachtbibel, nicht ohne zu erwähnen, er habe bereits früher ein „güldnes TrinkGeschirr“ erhalten, „Daß Mir auf dein Geheiß zu machen ward bestelt“. Ob
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Der Titel von Rists Beitrag zur Hochzeit von Glückstadt lautet, gekürzt und reduziert auf sein syntaktisches Gerüst: Hochzeitliche Lob-Rede Nebenst beygefügten Poetischen Gedanken/ über das Hochfürstliche Beylager/ Welches […] HERR FRIEDERICH/ […] Mit der […] Fraülein Sophia Amalia/ […] hat gehalten […] (PS, S. 56).15
Bemerkenswert an diesem Titel ist zunächst der Gattungsterminus „Hochzeitliche Lob-Rede“. Im Poetischen Schauplatz treffen wir ansonsten auf Titelformulare wie ‚Hochzeitliches Ehren-Gedicht‘ oder ‚Hochzeitliche Glückwünschung‘, ‚Hirten-Gedicht‘ oder ‚Schäfer-Gedicht‘, ‚Hochzeit-Rede‘ oder ‚Scherz-Gedicht‘, manchmal auch auf veritable Titel als Anzeigen verhandelter Themen wie „Triumff der Weiber“ (PS, S. 173) oder „Krantz der Jugend/ Krantz der Tugend/ Krantz der Schönheit/ Krantz der Seligkeit“ (PS, S. 245). Komposita mit ‚Lob-‘ in Titeln von personenbezogenen Gedichten finden sich selbst außerhalb des Feldes der Epithalamia lange nur sehr selten. Erst der Neüe Teütsche Parnass enthält ‚Lobreden‘, ‚Lobgedichte‘ und ‚Loblieder‘ auf Zeitgenossen in etwas größerem Ausmaß; dabei handelt es sich durchaus nicht immer um panegyrische Poeme auf Vertreter des regierenden Adels.16 1643 aber gilt noch: Bereits die Gattungsbezeichnung im Titel zeigt an, dass wir es wohl ebenso sehr mit einem Panegyrikus wie mit einem Hochzeitsgedicht zu tun haben werden. Dazu gleich mehr. Als ein zweiter Befund fällt der Untertitel „Nebenst beygefügten Poetischen Gedanken/ über das Hochfürstliche Beylager“ auf. Gemeint ist damit, dass dem Titelstück, der immerhin aus 260 Alexandrinern (plus zwei Seiten Anmerkungen) bestehen-
es hier einen Zusammenhang mit dem Epithalamium von 1643 gibt, muss natürlich völlig offen bleiben. 15 Ich zitiere, da der originale Separatdruck des Epithalamiums nicht überliefert ist (vgl. S. 73 mit Anm. 6), nach seinem Wiederabdruck in PS, S. 56–76. 16 Rist: Parnass (Anm. 7), S. 11–14, 95–99, 144–146, 176–178, 200–205, 205–211, 213–215, 447–454, 566 f., 675–677 u. 722–727, letzteres denn doch auch ein „Hochzeitliches LobLied“, und zwar auf einen Hamburger Kaufmann und seine aus dem Amsterdamer Handelsmilieu stammende Braut.
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den „Lob-Rede“ noch insgesamt neun kürzere Gedichte folgen, sie alle (bis auf ein zwölfstrophiges Lied) gleichfalls in Alexandrinern gehalten. Eine solche Komposition ist für Epithalamia in der zeitgenössischen Praxis wie auch in Rists Œuvre durchaus nicht selten. Schon das erste (richtige) Hochzeitsgedicht in der Musa teutonica, gerichtet an „Herren C. W. vnd Jungfraw A. R.“, bringt im Anschluss an 76 Alexandriner zwei (szenisch eingelegte) Oden von neun bzw. sieben Strophen.17 Im vorliegenden Fall stellt die ‚Beifügung‘ einen eigenen Komplex aus neun zusammengehörenden Poemen dar. Rists Epithalamium von 1643 gliedert sich mithin in zwei Teile. Der erste dieser Teile (PS, S. 56–64),18 eben die „Lob-Rede“, ist ausdrücklich (und nur) gerichtet „Ann Ihre Hochfürstliche Durchl[aucht]“, Friedrich also. Als Anrede erscheint – an Stelle des sonst im Epithalamium üblichen ‚Ihr‘ – das Pronomen der zweiten Person Singular in seiner hochpoetischen Varietät. Gleich in den ersten beiden Versen haben wir den Ton, den das Gedicht durchgängig beibehält: „DU grosser Königs-Sohn/ du Preiß der Teütschen Helden/ | Wer wird dein hohes Lob inn dieser Zeit vermelden?“ (V. 1 f.). Von einem solchen Anfang an ist klar, dass wir es wesentlich mit einer Laudatio zu tun haben. Ja, der Poet scheint es eilig zu haben, dem Leser klarzumachen, wovon sein Gedicht nicht handeln werde: Es handelt nicht von dem, was nach Julius Caesar Scaliger doch die erste Bestimmung eines Hochzeitsgedichtes ist, nämlich dem wechselseitigen Begehren der Brautleute; „[e]ius carminis argumentu(m) co(n)sistit“, so hatte es in den Poetices libri septem geheißen, „è spo(n)si spo(n)sęq(ue) desideriis“.19 Dieses Thema spricht Rist zwar einerseits noch im proömialen Bereich an, macht es aber andererseits dort auch sogleich ab: „Du hast O wehrter Printz durch Gottes Geist getrieben/ | recht Christlich dich bedacht ein Fürsten-Kind zu lieben“ (V. 5 f.). Kürzer kann man es kaum sagen. Wesentlich mehr Worte macht das Proömium stattdessen über zwei spezifische Aspekte panegyrischen Schreibens. Zunächst scheint es dem Poeten nötig, ein Kernstück antik-humanistischer Auffassung vom Amt des Dichters in Erinnerung zu rufen: Notwendig sei, das „Freüden-Fest“ (V. 11) des Herzogs „durch die Rede-Kunst“ (V. 14) angemessen „auff den Plan |
17 Johann Rist: Musa teutonica Das ist: Teutscher Poetischer Miscellaneen Erster Theil/ In welchem begriffen Allerhandt Epigrammata, […] Trawr- vnnd KlagGedichte/ etc. Hamburg 1634, fol. H 6r–I 1r. Schon Julius Caesar Scaliger: Poetices libri septem. Faks.-Neudr. der Ausg. […] Lyon 1561 mit e. Einl. von August Buck. Stuttgart-Bad Cannstatt 1987, S. 154, c. 1 deutete in diese Richtung, wenn er das Epithalamium ein „carmen multiplex“ nennt und darin ein eigenes Subgenre auswirft, ein „genus mistum […] & ex narratione & ex cantione“. 18 Es folgen PS, S. 64–66 noch „Anmerkungen“ (S. 64 weist die irrtümliche Paginierung „46“ auf). 19 Scaliger (Anm. 17), S. 150, b. 2.
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der Ewigkeit“ zu bringen, „wo selbst es nie“ mehr „außgethan“ werden könne (V. 15 f.). Sodann muss der junge und bescheidene Poet selbstverständlich zum Arsenal der – um Ernst Robert Curtius’ vielgescholtenen Terminus hier doch einmal zu verwenden – ‚Unsagbarkeitstopoi‘ greifen:20 Dass kaum jemand und am wenigsten er selbst der Aufgabe des angemessenen Rühmens gewachsen sei, geht freilich nicht ab ohne den Einsatz einer praeteritio bzw. percursio,21 so dass wir von den wichtigsten Tugenden des Besungenen wenigstens schon einmal in Kurzform gehört haben. Das aber sind natürlich nur Präliminarien. Die Laudatio selbst setzt ein mit dem Geburtsort des zu lobenden Bräutigams und erweist darin sogleich den gegenwärtigen Kasus als einen besonderen. Zum einen wird gerade der Geburtsort in den Hochzeitsgedichten Rists üblicherweise nicht erwähnt, zum andern und vor allem aber hat es mit ihm im vorliegenden Falle seine eigentümliche Bewandtnis: Friedrich sei nicht in einem bestimmten Ort, sondern „inn Dennemark“ (V. 34) zur Welt gekommen. Denn: Fürwahr ein hoher Ruhm/ den Fürsten nur gemein/ In mehr als einer Statt zuer Welt gebohren seyn. Wier andre/ die wier nur denselben Ohrt erkennen da wier ans Liecht gebracht/ wier können sonst nichts nennen als unser Vatterland/ das unserm Stande gleich/ Dein Vatterland das heist ein gantzes Königreich (V. 35–40).
Was Rist hier formuliert, ist nicht weniger als eine Version des zeitgenössisch virulenten Theorems von den zwei Körpern des Königs. ‚Wir andere‘, so der Poet, könnten uns nur auf den einen Platz berufen, an dem wir physisch geboren worden seien, hätten also ein ‚Vaterland‘ lediglich im Sinne eines landständisch parzellierten und sehr regionalen Territoriums. Dagegen projiziert er die körperliche Existenz Friedrichs als eines Fürsten auf den gesamten Raum Dänemarks, das zudem mit dem Hinweis auf „Grühnland“ und „das neüe Zembla“ (V. 42) so weit nach Norden ausgezogen wird wie nur irgend möglich.22 Das hat durchaus große Nähe zur im England des sechzehnten Jahrhunderts geläufig werdenden Rechtstheorie, dass der König zwei Körper habe, den natürlichen und den politischen, den konkreten physischen und den abstrakten ‚körperschaftlichen‘, die aber eine
20 Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 5. Aufl. Bern, München 1965, S. 168. 21 Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. 2 Bde. München 1960, Bd. 1, S. 435–437 (§§ 882, 881 u. 884 f.). 22 Hierzu auch eigens eine Anmerkung PS, S. 64 (vgl. Anm. 18).
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„unteilbare Einheit“ bildeten – eine Theorie, deren Vorstellungen der kontinentalen Jurisprudenz keineswegs fremd waren; Ernst Kantorowicz hat dem Thema bekanntlich eine in Materialfülle und Aspektreichtum beeindruckende ideengeschichtliche Untersuchung gewidmet.23 Großzügig erweitert der Wedeler Pastor das Konzept in diesem Fall auch auf einen nachgeborenen Sohn des Königs. Der Adressat des Panegyrikus findet sich damit verortet in der Reihe der Monarchen auf dem dänischen Thron. Da gilt es nun also, wieder im Unterschied zu Rists Behandlung des Fundorts in Gedichten für Hochzeiter wie ‚uns andere‘, mehr als einen Vater zu feiern. Zunächst geht der Poet in einer erneuten percursio rasch sowohl über die Herleitung der Dänen aus dem postdiluvialen Figurentableau des Alten Testaments (V. 54–56) wie die mittelalterliche Herrscherfolge der „Knuthen“ und „Frothonen“ hinweg (V. 58),24 um dann mit Friedrich I. und Christian III. ins größere Detail der Ahnenfolge einzuschwenken. Die Wahl gerade dieser Könige, des vierten und fünften aus dem Hause der Oldenburger, erklärt sich daraus, dass unter ihnen die lutherische Reformation in Dänemark Einzug hielt. Je acht Verse sind ihnen gewidmet, es folgen nochmals rund zehn für Friedrich II. Dann aber kann Christian IV. auftreten. In vollen fünfzig Versen feiert das Gedicht den Mann, der zum Zeitpunkt der Glückstädter Hochzeit seit fast fünfzig Jahren auf dem Thron, damit der am längsten im Amt befindliche Monarch Europas ist und an dem Rists Literatenehrgeiz naturgemäß am meisten liegt. Zwei Argumente sind es hauptsächlich, auf welche diese eigene Lobrede innerhalb der „Lob-Rede“ setzt: Zum einen wird Christian als höchste Tugend die – jeweils auch schon für seine Vorgänger kurz in Anschlag gebrachte – „Gottesfurcht“ zugesprochen. ‚Gottesfurcht‘ ist in den laudatorischen Gedichten Rists wie auch in seinen Epithalamia und Epicedia ein Haupt- und Grundbegriff. Als Beleg angeführt sei nur die zweihundert Alexandriner umfassende „Schutz-Schrifft Ann einen heftigen Weiber-Feind Welcher durch mancherley Lästerung zu bestreiten [d. h. mit Argumenten zu vertreten – G. D.] vermeinete/ Daß der Weiber Gottesfurcht und Glaube bey weitem nicht so groß als der Männer/ und sie demnach sehr schlechte Christen weren“ (PS, S. 11–17). Dass der Begriff zeitgenössisch hoch im Kurs ist, geht gut zusammen mit der gleichzeitigen Beliebtheit des apokryphen Buches Jesus Sirach, das sei-
23 Ernst H. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters [1957]. Übers. von Walter Theimer. Stuttgart 1992; siehe vor allem die Exposition des Theorems S. 29–44, das Zitat S. 31. 24 Für beide in der percursio angesprochenen Themen geben Anmerkungen in PS, S. 64 (vgl. Anm. 18) Lesehinweise an die Hand.
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nerseits nachdrücklich auf die Gottesfurcht setzt und das von Martin Luther in der Vorrede zu seiner Übersetzung in diesem Sinne gepriesen wird: „ES ist ein nützlich Buch, fur den gemeinen Man, Denn auch alle sein vleis ist, das er einen Bürger oder Hausuater gottfürchtig, from vnd klug mache“.25 Gottesfurcht spielt auch im kirchlichen Leben Schleswig-Holsteins zu Rists Zeit keine geringe Rolle. Es liegt eine von König Christian IV. und Herzog Friedrich III. gemeinschaftlich ausgegebene landesherrliche Verordnung „wegen der Gottesfurcht und etlicher politischen Puncte“ aus dem Jahre 1623 vor.26 Im Blick darauf, dass Rist (dänische) Herrscher feiert, ist zudem wichtig, dass Gottesfurcht im einschlägigen Schrifttum der Zeit ganz besonders auch von der Obrigkeit gefordert wird.27 Nicht zufällig wohl hebt Sigmund von Birken in seiner allerdings der zweiten Hälfte des Jahrhunderts entstammenden Poetik im Kapitel über die inventio die „Gottesfurcht“ als „Königin“ der Tugenden heraus, „welche den Erd-Göttern voraus wol anstehet/ weil sie Gottes Ebenbilder und Statthaltere auf Erden sind“.28 So dichtet denn Rist über Christian IV.: „Es kan(n) die Gottesfurcht die Königreich’ erhalten“ (V. 94),29 um fortzufahren: „Die bleibt auch nur sein Schatz sein rechtes Tugendspiel/ | Sein’ allerhögste Lust/ sein’ Hoffnung/ Freüd’ und Ziel“ (V. 95 f.). Damit ist selbstverständlich impliziert, wie gleich anschließend unterstrichen wird, dass der König von Dänemark eine Säule des Luthertums darstelle. „Du schaffest/ daß bey uns die Wahrheit wird gelehret | die Christen selig macht“ (V. 98 f.), so der Poet, und in einer Formulierung, die sich bewusst nahe am Sprachgebrauch des Kirchenliedes hält: „Du führest uns O Herr zuer rechten Himmels-bahn | So
25 Martin Luther: Vorrhede/ Vorrede auff das Buch Jesu Syrach. In: Ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe. [III. Abt.:] Die Deutsche Bibel. Bd. 12. Die Übersetzung des Apokryphenteils des Alten Testaments. Bearb. von Hans Volz. Weimar 1961, S. 144–149, hier S. 147. 26 Von Gottesfurcht und Kirchenzucht. Aspekte kirchlichen Lebens in Schleswig-Holstein im 17. Jahrhundert. Eine Ausstellung im Landesarchiv Schleswig-Holstein. Schleswig 2001 (Veröffentlichungen des Schleswig-Holsteinischen Landesarchivs 75), S. 6, 8 f. u. 12 f. 27 Wolfgang Sommer: Gottesfurcht und Fürstenherrschaft. Studien zum Obrigkeitsverständnis Johann Arndts und lutherischer Hofprediger zur Zeit der altprotestantischen Orthodoxie. Göttingen 1988, vor allem S. 184–188; Ders.: Gottesfurcht und Fürstenherrschaft. Das Verständnis der Obrigkeit in Predigten von Justus Gesenius und Michael Walther. In: Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus 6 (1980), S. 33–51; siehe auch Heldt (Anm. 11), S. 202 f. 28 Siegmund [sic] von Birken: Teutsche Rede- bind- und Dicht-Kunst. Nachdruck der Ausgabe Nürnberg 1679. Hildesheim, New York 1973, S. 243. 29 Zu diesem Vers gibt Rist eine längere Anmerkung (PS, S. 65), in welcher er berichtet, er habe „neülich auff begehren eines nicht gemeinen Künstlers“ für einen Auftrag Christians IV. einige „Sinnebilder“ über das Thema ‚Gottesfurcht‘ entworfen, die mitsamt zweiversiger Devise für die Prägung von „Triumfpfenninge[n]“ gedacht gewesen seien.
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fleissig als vor dier kein König hat gethan“ (V. 103 f.). Diese Darstellung darf man übrigens durchaus zutreffend nennen, traten unter Christian IV. doch dänische Stellen der Aktivität gegenreformatorischer und jesuitischer Kreise entschieden entgegen.30 Neben das theologisch-konfessionelle Argument tritt als zweites das politische. Rist sieht den dänischen König, der von 1625 an für kurze Zeit in den Deutschen Krieg eingegriffen hatte, aber gescheitert war und sich 1629 mit dem für ihn überaus glücklichen Frieden zu Lübeck ohne Schaden aus der Affäre hatte ziehen können, mittlerweile in der Rolle eines künftigen Vermittlers der allgemeinen Waffenruhe im Reich: „O wolte wolte Gott“, fleht der Poet, dass nach dem Vorbild des Friedens, den Christian mit Gottes Hilfe „uns hie“ in den Fürstentümern Holstein und Schleswig gegeben habe, die „längst-begehrte Ruh“ endlich auch in die „matten Länder“ des Reiches einkehre (V. 129–132). Der König werde „Ruhm“ ernten als „Friedens wiederbringer“ und mit dem „hellen Glantz’“ dieses Erfolges „Febus selbst“ überstrahlen, „dein Preiß sol ewig seyn“ (V. 133–136). Auch diese Einschätzung ist nicht blind hagiographisch. Christian IV. hatte nach dem fehlgeschlagenen ‚Intermezzo‘ vom Ende der zwanziger Jahre einen zwischen den Mächten Habsburg und Schweden sowie Kursachsen als der ‚dritten Partei‘ unentschiedenen Kurs eingeschlagen, der gerade im Jahre 1643, als auch die Friedensverhandlungen in Westfalen ernsthaft aufgenommen wurden, Kopenhagens Stimme großes Gewicht verlieh.31 In der Summe der (beiden) Argumente also,
30 Paul Douglas Lockhart: Denmark and the Empire. A Reassessment of Danish Foreign Policy under King Christian IV. In: Scandinavian Studies 64 (1992), S. 390–416, hier S. 401 u. 405–407. 31 Ebd., S. 410–415; Gottfried Lorenz: Die dänische Friedensvermittlung beim westfälischen Friedenskongreß. In: Forschungen und Quellen zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges. [Hg. von Konrad Repgen]. Münster 1981 (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte 12), S. 31–61, hier S. 34–40; recht ausführlich auch Wade (Anm. 2), S. 188–194. (Der Begriff ‚Intermezzo‘ nach E. Ladewig Petersen: The Danish Intermezzo. In: Geoffrey Parker: The Thirty Years’ War. London [etc.] 1984, S. 71–81.) – Im Oktober des Jahres konnte im festlichen Glückstadt allerdings niemand wissen, dass Schweden unter seinem Kanzler Axel Oxenstierna bereits einen Präventivschlag gegen Dänemark beschlossen hatte, der vom November an exekutiert wurde; siehe Lorenz: Friedensvermittlung, S. 40–49 u. Lockhart (Anm. 30), S. 414 f. Der General Lennart Torstensson führte seine Soldaten, von Schlesien kommend, ohne Kriegserklärung nach Holstein und stieß bis Jütland vor; die manifeste Absicht der schwedischen Seite war, „den dänischen Einfluß auf die bevorstehenden Verhandlungen [von Münster und Osnabrück, G. D.] auszuschalten“, so Klaus-Richard Böhme: Lennart Torstensson und Helmut Wrangel in Schleswig-Holstein und Jütland 1643–1645. In: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 90 (1965), S. 41–82, hier S. 41. Das Ziel wurde in Feldzügen, welche die Herzogtümer und damit auch Rists Wedel nach fünfzehn Jahren relativer Ruhe erneut und schwerer als vorher mit Gewalt, Kontributionsforderung und Ausplünderung überzogen, vollständig erreicht.
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auf welche die Lobrede setzt, kann der Poet mithin über das Reich des dänischen Königs sagen, es sei „deß Salomons schier gleich“ (V. 128). Kürzer trägt Rist nach der väterlichen Linie nun auch der Herkunft des Bräutigams mütterlicherseits Rechnung. Sechzehn Verse widmet er der bereits vor dreißig Jahren verstorbenen Königin Anna Katharine von Brandenburg. Wie im Falle Dänemarks (V. 54–56) ist die Austiefung ins Vorzeitig-Alte de rigueur: Der „Anbeginn“ der Brandenburger werde „von Römern her“ vermutet, ja, man wolle, so der Poet reserviert, „daß sie gahr von den Kamillen kommen“ (V. 161 f.).32 Damit geht dann aber der Komplex einer Laudatio des Bräutigams aus dynastischer Herleitung auch zu Ende. Kein Weg führt mehr um den Lobpreis des Erzbischofs Friedrich selbst herum. Fast fünfzig Verse (mithin nahezu so viele wie dem Vater) reserviert der Poet für ihn. Allerdings bleibt das Bild, verglichen mit dem Christians IV. und auch denen der Vorgänger, relativ unkonkret – naturgemäß, muss man wohl sagen. Stark herausgestellt wird der geistliche Eifer Friedrichs; ein weiteres Mal ist es die „Gottesfurcht“, jetzt als „deiner Sachen grund“, die den Herrscher auszeichnet (V. 192, ferner V. 211). Hinzu treten in auffälliger Weise auch intellektuelle Kompetenzen, „Weißheit“ (V. 178), „der Gelahrten Kunst“ (V. 196) und „Witz“ (V. 211); mit diesem Begriffsbündel ist das Bild des Erzbischofs stärker humanistisch überformt, was eine eigene Anmerkung noch deutlicher macht.33 Ziel ist jedenfalls, in
32 Während Rist an einer genealogischen Herleitung der Dänen nach der Völkertafel 1. Mose 10,1–5 selbstverständlich keinen Anstoß nahm, sondern sie in einer Anmerkung zusätzlich über Autoritäten wie Philipp Clüver und Justus Georg Schottelius auswies (PS, S. 64 [vgl. Anm. 18]), hält er sich in der Frage einer römischen Abstammung der Brandenburger (bzw. Hohenzollern) sehr bedeckt. Eine Anmerkung schaltet er nicht ein. Informieren über den Hintergrund kann man sich bei J[ohann] G[eorg] Th[eodor] Graesse: Sagenbuch des Preußischen Staats. Bd. 1. Glogau 1867, S. 9 f. (dort auch Quellen) sowie Otto Hintze: Die Hohenzollern und ihr Werk. Fünfhundert Jahre vaterländischer Geschichte. 5. Aufl. Berlin 1915, S. 2 f. und vor allem Erwin Herrmann: Genealogie und Phantasie. Zu den Abstammungsfabeln der Hohenzollern seit dem 15. Jahrhundert. In: Archiv für Geschichte von Oberfranken 61 (1982), S. 53–61. Im Herbst 1662 war die apokryphe Ursprungslegende der Brandenburger auch kurz Thema zwischen Sigmund von Birken und dem Geheimen Rat der Markgrafschaft Bayreuth Adam Volkmann, als beide über eine Ballettdichtung im Rahmen von Regierungsantritt und Hochzeit des Markgrafen Christian Ernst korrespondierten; die Bayreuther Markgrafen entstammten bekanntlich dem Hause Brandenburg. Siehe den Brief Adam Volkmanns an Sigmund von Birken vom 23. September 1662 in: Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Margaretha Magdalena von Birken und Adam Volkmann. Hg. von Hartmut Laufhütte und Ralf Schuster. Tl. 1. Berlin, New York 2010 (Sigmund von Birken: Werke und Korrespondenz 10/1–2), S. 368 f. (Nr. 48) und Tl. 2, S. 814 f. (Kommentar). 33 Rist beruft sich auf das Diktum „jennes Weltweisen“, nach dessen Auffassung „allein die Unterthanen in wahrer Glükseligkeit lebeten/ über welche gelahrte und kluge Leüte das Regiment führeten/ oder auch welcher Könige und Fürsten mit sonderbahrem Verstande und Geschiklig-
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der Person Friedrichs einen klugen, sanftmütigen und friedliebenden Fürsten zu zeichnen, welcher der Liebe seiner Untertanen zu jeder Zeit gewiss sein könne. Dass die „Hochzeitliche Lob-Rede“ an den Bräutigam gerichtet ist, schließt am Ende denn doch nicht aus, dass auch die Braut noch die Aufmerksamkeit des Poeten findet. Immerhin zweiunddreißig Alexandriner behält Rist Sophia Amalia von Braunschweig-Lüneburg vor – Verse, in denen er zunächst auch deshalb wieder tapfer ‚Unsagbarkeitstopoi‘ in Anspruch nimmt, weil die gerade Fünfzehnjährige selbstverständlich noch weit weniger Profil hat als ihr immerhin schon vierundvierzig Jahre zählender künftiger Ehemann. Da liegt es dann nahe, dass der Poet die Sache bald abmachen will: „Kurtz sag’ Ich was Ich weiß“ (V. 231), kündigt er an, um auch hier gleich auf die Eltern zurückzugehen. Das ist im Falle des Vaters gewiss keine Verlegenheitslösung, handelt es sich bei der Braut doch um die Tochter eines bedeutenden Heerführers im Deutschen Krieg. Rist hatte dem Braunschweiger Herzog Georg anlässlich von dessen Sieg über die Kaiserlichen vor Hameln 1633 im ersten Gedichtband Musa teutonica eine emphatische panegyrische Darstellung gewidmet. Konnte er damals die „hoch berühmte That deß Lünenburger Helden“ ausladend feiern,34 so summiert er nun knapp, der vor kurzem Verstorbene sei im „Schwedenreich“, in „gantz Teütschland“, ja, der „Welt“ als ein „Held“ bekannt (V. 239 f.). Der Brautmutter Anna Eleonore kommt wieder als erste Tugend die „Gottesfurcht“ (V. 244) zu. Das Schlussformular des Gedichts verzichtet unter seinen Wünschen für das Paar auf die im Epithalamium (auch Rists) an dieser Stelle verbreitete augenzwinkernde Ankündigung von Nachwuchs in vierzig Wochen. Das ist konsequent. War schon eingangs klargestellt worden, dass die „Hochzeitliche LobRede“ nicht vom wechselseitigen Begehren der Hochzeiter handeln würde, so darf nun auch auf den fünften von Scaligers sechs ‚loci‘ verzichtet werden, das ‚sobolem polliceri‘ nämlich.35 Der Poet begnügt sich mit einem allgemeinen Prospekt auf sehr viel spätere Zeiten und „der Kinder Kindes Kind“ sowie der eschatologischen Bitte an Gott um die „allerschönste Krohn der süssen Ewigkeit“ (V. 260) für das Paar.36
keit begabet weren“ (PS, S. 66); ganz offensichtlich ist damit in letzter Instanz auf die berühmte und wirkungsmächtige Stelle in Platon: Politeia, 473 c–d gezielt, obschon der etwas ausweichende Nachweis eher eine spätere vermittelnde Quelle nahelegt. 34 Rist: Musa (Anm. 17), fol. H 2r–4r, Zitat H 4r; auf dieses Gedicht verweist auch die Anmerkung PS, S. 66, die zugleich den (im Epithalamium selbst nicht genannten) Namen vermerkt. 35 Scaliger (Anm. 17), S. 150, d. 2. 36 Die Formel von der „Kinder Kindes Kind“ auch im Epithalamium von 1653 (s. unten S. 105) und in Johann Rist: Unterthänigste Glükwünschung und Lob-Rede/ An Den Durchläuchtigsten Fürsten und Herrn/ Herrn Friderich Wilhelm/ Marggraffen zu Brandenburg/ […] Als auch/ an Die Durchläuchtigste Fürstinn und Frau/ Frau Lovysa/ […] Churfürstinn zu Brandenburg/ […]
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2 Der zweite Teil des Epithalamiums von 1643, die mit II bis X durchgezählten Gedichte alias „beygefügten Poetischen Gedanken/ über das Hochfürstliche Beylager“, stellt den gesamten Verlauf des mehrtägigen Festaktes in wenigen entscheidenden Stationen dar. Den Anfang (Nr. II; PS, S. 66) macht die Reise des Bräutigams von seiner erzbischöflichen Residenz Bremervörde nach Glückstadt, wobei die Elbe gequert wird; es folgt (Nr. III bis V; PS, S. 67, 67 u. 68–71) die Fahrt der Braut zu Schiff elbabwärts von der braunschweigisch-lüneburgischen Residenz Harburg aus.37 Das Gedicht VI (PS, S. 71) bezieht sich auf die Ankunft Sophia Amalias, die in Glückstadt (nach dem Bericht im Theatrum Europaeum) „am Blockhauß ans Land außgestiegen“, vom Herzog als ihrem Bräutigam empfangen und nach dem Schloss Glücksburg geleitet worden war, „worbey sich die Stücke von denen Vestungen/ Schiffen vnd Mußqueten […] gleichsamb Glückwündschende/ dapffer hören lassen“.38 Nr. VII bis IX (PS, S. 72–74) sind dem auf dem Schloss gehaltenen Beilager selbst gewidmet; im abschließenden Gedicht X (PS, S. 75 f.) geht es um die Rückkehr Friedrichs sowie die Heimführung seiner jungen Ehefrau in die Residenz Bremervörde. Bei einer ersten Musterung lassen sich die „Poetischen Gedanken“ in zwei Gruppen gliedern. Vier von ihnen, nämlich Nr. III und Nr. VI bis VIII, darf man, obschon sie weder die Bezeichnung ‚Epigramm‘ noch deren vom späteren Rist bevorzugte deutsche Entsprechung ‚Überschrift‘, vielmehr überhaupt keinen Gattungsterminus im Titel tragen, wohl als eben dies, nämlich als Epigramme, auffassen, da drei von ihnen jeweils aus vier Alexandrinern bestehen und das vierte den zeitgenössisch öfter kodifizierten Höchstumfang von zwölf Versen
Beiderseits […] von dem Allerhöchsten GOTT/ mit einem Jungen/ gesunden und wolgestalten Chur-Printzen […] beseliget und verehret/ […] Aus unterthänigster Schuldigkeit/ auffgesetzet/ und allergehorsamst übersendet. Berlin [1655], fol. A 4r. 37 Das Aktenkonvolut NLA: Dep. 84 B Nr. 551 würde eine recht genaue Rekonstruktion der Reise Sophia Amalias und ihrer Begleitung nach Harburg und weiter zu Schiff zunächst offenbar bis Wedel ermöglichen; fol. 62–69 und einige Folgeblätter dokumentieren die Vorbereitung der Tour durch Anweisungen an herzogliches Personal in diversen Städten entlang dem vorgesehenen Weg. Literaturgeschichtlich sind diese Informationen freilich ebenso wenig von Belang wie die (u. a.) fol. 74–76 zu entnehmende Tatsache, dass das Haus Braunschweig-Lüneburg beim Hamburger Geldverleiher Jacob Hambrock dreitausend Reichstaler zur Finanzierung der Hochzeit aufnahm und dafür die Insel Kattwyk (heute Teil des südlichen Hamburger Industriegebiets) als Pfand abtrat. 38 Lotichius (Anm. 13), S. 178.
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ebenfalls nicht überschreitet.39 Von den restlichen fünf Poemen zeigen vier (Nr. II, IV, IX und X) gleichfalls das Versmaß des Alexandriners, umfassen aber zwischen sechzehn und sechsundfünfzig Zeilen; eines (Nr. V) trägt als einziges im Titel zusätzlich eine Gattungsbestimmung, es ist ein „Lied“ und enthält zwölf achtversige Strophen. Was Rist mit den vier längeren Alexandrinerpoemen sowie dem Lied einerseits und den Epigrammen andererseits leistet, kann man vorläufig als Transformation des hochzeitlichen Hoffestes in eine festliche literarische Manifestation bezeichnen, die sich von der vorangegangenen Lobrede kategorial unterscheidet. Ich versuche dies im folgenden etwas genauer zu skizzieren und zu begründen.40 Sehen wir uns zunächst die umfangreicheren, die Beispiele der zweiten Gruppe an. Vor allem in ihnen kommen die Stationen des Festverlaufes zur Sprache; sie kommen zur Sprache aber nicht als Verlauf und nicht einmal als Stationen, sondern als Momente, die jeweils aus einem Verlauf herausgesprengt und stillgestellt erscheinen. Zugleich konzipiert und inszeniert Rist diese Momente als Redeauftritte der Natur oder der Dingwelt. Gleich das erste (und kürzeste) Beispiel Nr. II zeigt die wesentlichen Elemente. Des Bräutigams Reise nach Glückstadt wird auf die Querung der Elbe konzentriert und reduziert und dokumentiert sich über eine Rede, welche die Elbe selbst hält. Dabei ist der Monolog des Flusses geprägt von einer Struktur, die fast alle Gedichte der Gruppe bestimmt und die man eine Struktur des Wettbewerbs oder einen agonalen Modus nennen kann. Überlegen in erfolgreicher Konkurrenz sieht die Elbe sich den Flüssen Donau, Weser und Rhein, weil sie „allein die Ehr’“ habe, „ein so hohes Bluht“ auf ihrem Rücken tragen zu dürfen: „Nun binn Ich zehn mahl mehr als alle Flüsse wehrt.“ Auch ruft der Fluss die Fische aus der Tiefe herauf, um Augenzeugen zu haben, wie er das Schiff, das den Herzog Friedrich führt, mit „theüren Balsamen“ sowie „Wein und Oel“ salben wolle, Waren also, die aus dem Ausland (unvermeidliches Thema bei Rists Blick auf die Elbe) importiert werden. – Den parallelen und zugleich komplementären Fall der Schiffsreise Sophia Amalias behandeln zwei Gedichte, Nr. IV und Nr. V, in Form von zwei Varianten des voranstehenden Beispiels. Zunächst gibt es in Nr. IV eine Rede des Poeten selbst „Ann das Schiff welches die Hochfürstl: Braut führete“. Der gesamte Text von zwanzig Alexandrinern ist beherrscht vom Wettkampfgedanken einerseits und von Überbietungs
39 Die Tendenz zur Begrenzung des Epigramms auf zwölf Verse findet sich wohl am deutlichsten bei Thomas Sébillot: Art poétique françoys. Ed. critique avec une introd. et des notes par Félix Gaiffe. 2. Aufl. Paris 1932, S. 104 f. u. 113. 40 In der Analyse der Gedichte Nr. II bis X verzichte ich auf verszählende Nachweise für die Zitate.
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figuren andererseits. Ersteres spricht sich gleich anfangs in dem fragenden Anruf aus: „Wo findet sich zuer See ein wolversuchter Mann/ der dier so grosses Glük ohn’ Abgunst günnen kann?“ Und letztere enden zugleich mit der Schlusspointe des Gedichts, in welcher der Poet sich beklagt, dieses so ‚wunderreiche Schiff‘ sei aus viel zu billigem Material hergestellt, „de(n)/ weil die Schönheit selbst dier itz ist anvertraut/So soltest du von Gold’ und Perlen seyn erbaut.“ Es folgt Gedicht V, das als Lied diverser das Schiff umschwebender Wassergeister konzipiert ist. Nicht die Elbe redet, sondern ihre Nymphen und Sirenen singen die „Fürstinn aller Zier“ an. Agonale Züge finden sich auch hier. Die Geister sehen die Braut ungern an ihren Bestimmungsort ziehen, könne sie sich doch ebenso gut auf dem Wasser trauen lassen und überhaupt für immer auf dem Fluss leben, wo ihr alles in großer Fülle (und wieder vom Rhein oder aus Spanien und China importiert) zur Verfügung stehen werde. Die Doppelung und Aufeinanderfolge von Rede des Poeten an ein Objekt und Rede eines Objekts selbst prägt auch die letzten beiden Gedichte dieser Gruppe. Allerdings handelt es sich nicht um jeweils das gleiche Objekt: Angeredet wird das Schloss in Glückstadt (Nr. IX), selbst spricht hingegen das „Fürstliche Schloß Vörde“ in Bremervörde (Nr. X). Das Poem „Ann das Königliche Schloß GlüksBurg/ Als auff demselben das Hochfürstliche Beylager ward gehalten“ schweigt sich gerade über das aus, was es im Untertitel nennt: Eine Narration des ‚Beilagers‘ wird nicht gegeben. In Erfindung und Machart zeigt es viel Ähnlichkeit mit dem redelogisch gleich konstruierten Fall des Gedichts auf das die Braut führende Schiff. Das abschließende Gedicht traktiert dann die Heimführung der jungen Ehefrau in die erzbischöfliche Residenz in der Form eines vom dortigen Schloss gesprochenen Monologs. Der hitzige Tonfall des Agonalen, den gleich in Nr. II die Elbe etabliert hatte, ist hier nun gänzlich zurückgenommen. Sogar so etwas wie Humor will sich einstellen, wenn das Schloss, vor Freude ein wenig aus der Fassung, weil es jetzt statt des einen Herrn ein Paar begrüßen darf, im Stil von Opitzens Nachdichtung eines Petrarca-Verses stammelt: „Nicht war Ich/ das Ich binn/ und bin(n) nicht das Ich war[.]“41 Vor allem aber kommt nun doch noch das Thema Ehe, das aus der „Hochzeitlichen Lob-Rede“ so strikt ferngehalten worden war, ein wenig zur Sprache. Das Residenz-Haus hält sich, da ihm neben dem „Vatter“ jetzt zusätzlich die „Mutter“ gegeben wurde, für „wol versehn“ und
41 Das Vorbild: „Ich weiß nicht was ich will, ich will nicht was ich weiß“, Vers 13 von Martin Opitz: Sonnet. Auß dem Italienischen Petrarchae. In: Ders.: Teutsche Poemata. Abdruck der Ausgabe von 1624 mit den Varianten der Einzeldrucke und späteren Ausgaben. Hg. von Georg Witkowski. Unveränd. Nachdr. der 1. Auflage. Halle (Saale) 1967 (Neudrucke deutscher Literaturwerke 189–192), S. 48.
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ist zuversichtlich, „wo mann inn der Eh’ ein keüsches Leben führt“, da werde es „von oben her nur Glük und Heil“ geben. „Fried und Einigkeit“, so lautet der Wunsch für das Paar – und damit erscheint endlich, was Scaliger als fünften ‚locus‘ vorgeschrieben hatte, das ‚sobolem polliceri‘, hier in Form der Erwartung, dass bald „der Dritte Mann“ sich einstellen, ja, die „Liebste“ Friedrichs „mehr als einmahl Mutter“ sein werde.42 Sucht man das Material der Gedichte dieser Gruppe begrifflich zu erfassen, dann darf man vielleicht resümieren, dass Rist hier zweierlei unternommen hat: Er stellt Schauplätze, Szenerien, Schiffe, Gebäude vor – und er lässt reden und singen. Damit aber hätte er nicht weniger geboten als die Grundelemente eines kleinen Festspiels. So lautet denn die These, die ich über jenen der „Lob-Rede“ im Epithalamium sich anschließenden Komplex formulieren möchte, dass wir es hier, in den „Poetischen Gedanken“, mit der Simulation eines Festspiels zu tun haben – genauer wohl der Simulation des Textbuchs oder auch Librettos zu einem Festspiel.43 Die Gedichte der ersten Gruppe nun würden in dieses Konstrukt passen, insofern sie als Epigramme Über- oder Unterschriften zu den ‚Bildern‘ des ‚Festspiels‘ lieferten. Einschlägige gattungshistorische Arbeiten haben mehrfach darauf hingewiesen, dass im siebzehnten Jahrhundert eine enge Verwandtschaft zwischen dem Epigramm und dem Emblem gesehen wurde, ja, dass man Epigramme als „Subskriptionen“ auffassen konnte, „für die aus Kostengründen oder aus technischen Gründen auf eine pictura zu verzichten war“.44 Die Subskriptionen in Rists ‚Libretto‘ bezögen sich dann erstens auf den zwiefachen Augenblick, da die Braut ihr Schiff besteigt und aus ihm wieder an Land tritt, zweitens auf das Lösen der Stücke zur Begrüßung von Sophia Amalias Eintritt in die Stadt und drittens sowie viertens auf das Ereignis der Eheschließung selbst. Gattungstechnisch realisieren die ersten beiden Epigramme den nach Scaligers Vorbild durch Martin Opitz in die Prominenz gehobenen zweistelligen Typus, dessen „seele vnd
42 Scaliger (Anm. 17), S. 150, d. 2. 43 Die Konzeption des Begriffs in Anlehnung an den allerdings anders gelagerten Fall bei Thomas Rahn: Fingiertes Interesse. J. G. Schnabels ‚Das höchst-erfreute Stolberg‘ im Gattungsrahmen der absolutistischen Festbeschreibung. In: Das Werk Johann Gottfried Schnabels und die Romane und Diskurse des frühen 18. Jahrhunderts. Hg. von Günter Dammann und Dirk Sangmeister. Tübingen 2004 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 25), S. 281–294, hier S. 292. 44 Thomas Althaus: Epigrammatisches Barock. Berlin, New York 1996 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 9), S. 167; s. auch bereits Jutta Weisz: Das Epigramm in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1979 (Germanistische Abhandlungen 49), S. 39 f.
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gestallt“ von der „spitzfindigkeit“ gebildet wird.45 Seine scharfsinnigen Pointen erzielt Rist im ersten Beispiel, indem er die Prinzessin zur Sonne metaphorisiert und dann den Gegensatz von „Wasser“ und „Brand“ sowie „Sonne“ und „Schiff“ nutzt, im zweiten, indem er das „Feür“ der Kanonen und das „Feür“ im Herzen der Braut antagonisiert und zugleich homologisiert. Auf Verblüffung haben es die übrigen beiden Epigramme weniger bzw. gar nicht abgesehen. Vor allem die letzte ‚Subskriptio‘, adressiert an den „theüren Helden“ Friedrich und die „theüre Heldinn“ Sophia Amalia, realisiert den von Scaliger weniger geschätzten und bei Opitz gar nicht mehr erwähnten Typus des einfachen und ohne Pointe verfahrenden Epigramms; Rists Verse mögen hier nachgerade eine Illustration des ‚gnomischen Typs‘ (Jutta Weisz) sein, der in der Theoriebildung des siebzehnten Jahrhunderts ebenso zurückgedrängt erscheint, wie er faktisch jedenfalls in den Sammlungen der ersten Jahrhunderthälfte auffällt:46 DEin Vatter ist ein Held O Printz von erster Jugend/ Dein Vatter war ein Held Prinzessin hoch von Tugend/ Ihr Helden-Kinder beyd’: Es zweifelt niemand drann/ Daß solch ein Paar als Ihr nur Helden zeügen kann.
Solche Verse sind alles andere als überraschend, sind vielmehr und im Gegenteil enkomiastische Standardware, als Epigramm aber sorgfältig zu Parallel- und Oppositionskonstruktionen gefügt.47 Die vorstehende Textanalyse nun provoziert zwei Fragen, eine allgemeinere und eine speziellere. Zunächst: Warum sollte Rist für eine Gelegenheit wie diese an eine „Hochzeitliche Lob-Rede“ durchaus konventionellen Zuschnitts etwas so Unkonventionelles und vielleicht auch Dubioses wie die ‚Simulation‘ eines Festspiellibrettos anschließen? Sodann: Was ist von der eigentümlichen Wendung zum Agonalen zu halten? Wie erklärt sich und was für einen Sinn hat es, dass der
45 Martin Opitz: Buch von der deutschen Poeterei. Hg. von Wilhelm Braune. Abdruck der ersten Ausgabe (1624). 6. Druck, unveränd. Abdruck der 4. Aufl. Tübingen 1954 (Neudrucke deutscher Literaturwerke 1), S. 20. Analysen der Typologie bzw. des Typus etwa bei Weisz (Anm. 44), S. 110–118 („Der spielerisch-concettistische Typ“); Theodor Verweyen, Gunther Witting: Das Epigramm. Beschreibungsprobleme einer Gattung und ihrer Geschichte. In: Simpliciana 11 (1989), S. 161–180, hier S. 163 f. sowie Peter Hess: Epigramm. Stuttgart 1989 (Sammlung Metzler 248), S. 32 f. u. 38 f. 46 Weisz (Anm. 44), S. 80–98 („Der gnomische Typ“) und S. 53 darüber, dass Epigrammen aus der ersten Jahrhunderthälfte häufiger das acumen, die Pointe, fehlt; siehe ferner Verweyen, Witting (Anm. 45), S. 164; Hess (Anm. 45), S. 33. 47 Der Antagonismus der Tempora in den ersten beiden Versen nutzt den Tatbestand, dass Herzog Georg von Braunschweig-Lüneburg bereits 1641 verstorben war.
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Poet die Handlungen des simulierten Festspiels mit Strukturen des Wettkampfs überzieht? Die erste Frage lässt sich wohl aus dem historischen Kontext der Hochzeit beantworten. Es fällt auf, dass das Ereignis in einem überraschend bescheidenen Rahmen stattfand. Der bereits herangezogene Bericht, den das Theatrum Europaeum seinerzeit gab, erwähnte neben den unmittelbaren Angehörigen des Paares als einzigen Gast des Festes den Grafen von Oldenburg mit Frau;48 der Graf, der aus Delmenhorst anreiste, gehörte jener Dynastie an, der auch die dänischen Könige entstammten. „Am Mon- vnd Dienstag“ nach dem der Vermählung vorbehaltenen Sonntag, so der Bericht des weiteren, „geschahe ein schönes Fewerwerck für dem Schloß. Mittwochens wurde ein Ringelrennen angestellet“.49 Von Schauspiel- oder Ballettaufführungen ist hingegen nicht die Rede, solche wird es dann auch nicht gegeben haben, zumal das erwähnte Feuerwerk auch tatsächlich in einer Abbildung dokumentiert ist,50 Textbücher oder Libretti aber, die diesem Fest zuzuordnen wären, sich indessen nirgendwo erwähnt oder überliefert finden. Unter den (vermutlich mehreren) Gründen für den Verzicht auf Prachtentfaltung dürfte der prekären Position des Erzbischofs, der sich verpflichtet hatte, ehelos zu bleiben, wohl das größte Gewicht zukommen. Rist hat vermutlich im Vorfeld gewusst, was geplant war, und er hat sich darauf eingestellt. Ein simuliertes Festspiellibretto konnte gewiss nicht der Ersatz für ein echtes Libretto und schon gar nicht für ein tatsächliches Festspiel sein. Aber der Poet Rist pflegte nicht in Kategorien der unmittelbaren Wirklichkeit zu denken. Wichtiger, als dass am Freitag oder am Sonnabend vor dem Tag der Trauung tatsächlich ein Spiel oder ein Ballett aufgeführt worden wäre, war die Kundgabe, das ‚Beilager‘ sei im Modus der Festlichkeit verlaufen, an die nach Jahrhunderten zu zählende Nachwelt. Die Stellen, an denen Rists Œuvre diesen Grundgedanken humanistischen gelehrten Selbst- und Weltverständnisses, Horazens exegi monumentum aere perennius,51 artikuliert, sind bekanntlich Legion. Natürlich
48 Diese Angabe wird bestätigt im erwähnten Brief Anna Eleonores (Anm. 13), in dem die Herzoginwitwe vermerkt, an „Hern“ sei nur der Graf von Oldenburg mit seiner Gemahlin erschienen, „aber Ein großer Adell“, also viele (nichtfürstliche) Adlige. 49 Lotichius (Anm. 13), S. 178. 50 Christian IV and Europe. The 19th Art Exhibition of the Council of Europe. Denmark 1988. Catalogue published by the Foundation for Christian IV Year 1988. [Kopenhagen 1988], S. 51 (Nr. 134). Der von Wade (Anm. 2), S. 142 f. mit S. 403 (Abb. 82) gegebene Exkurs über das Feuerwerk von 1643 trifft nicht den Sachverhalt. Was vom Kastell zur Begrüßung der eintreffenden Braut abgefeuert wurde, waren Salutschüsse, nicht etwa Feuerwerksraketen im Rahmen eines pyrotechnischen Festspektakels. 51 Horaz, carm. 3, 30.
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fehlt er auch im Epithalamium auf die Hochzeit von 1643 nicht, das gleich zu Anfang der „Lob-Rede“ fordert, das „Freüden-Fest“ Friedrichs, „von welchem mann durch gantz Eüropen sagt“, solle „durch die Rede-Kunst“ verherrlicht und „auff den Plan | der Ewigkeit“ geschrieben werden, „woselbst es nie wird außgethan“ (V. 11–16). Dies: dass er die Dauer des Namens und des Gedächtnisses der Handlungen zuzuteilen imstande sei, macht das verstörende Selbstbewusstsein eines humanistischen Dichters aus. Das aber ist zugleich die Ebene, auf welcher in diesem Fall die ‚Simulation‘ eines Librettos ihre Logik erhält. Nur indem die recht durchschnittlichen Ereignisse von der Anreise der Hochzeiter bis zur Heimführung der Braut verwandelt in Poesie erscheinen, ist der Anspruch einzulösen, die Feierlichkeiten der Eheschließung zwischen dem Herzog Friedrich und der Prinzessin Sophia Amalia ‚auf den Plan der Ewigkeit‘ einzutragen.52 Die Beantwortung der zweiten Frage erfordert ein weiteres Ausgreifen, das hier allerdings nur in großer Verknappung erfolgen kann. Den Rahmen für die Antwort gibt der allgemein akzeptierte Befund, dass Rist und die (deutschsprachige) respublica litteraria sich mehr oder weniger selbstverständlich am Humanismus des vorangehenden Jahrhunderts orientiert haben. Der europäische Humanismus aber ist von Anfang an, nämlich bereits mit dem Auftreten Petrarcas, geprägt durch Strukturen des Agonalen.53 Der Stolz der italienischen Humanisten, als Bewohner eben des Landes, das die ‚Metropolregion‘ des Römischen Reiches gewesen war, Urheber einer neuen Blütezeit zu sein, richtete sich als Überlegenheitsgefühl provozierend nach außen. Besondere Objekte dieses aggressiven Hochmuts waren dabei die beiden ‚Nationen‘, die Italien im Mittelalter gewissermaßen das Erbe der Antike entrissen hatten, die Deutschen, die sich über das Theorem der translatio imperii das römische Kaisertum angeeignet, und mehr noch die Franzosen, die sich im Namen einer translatio studii ausgerechnet ihrerseits als die unmittelbaren Empfänger der antiken Kultur dargestellt
52 Ich fasse die präsentierten Befunde über die sich an die „Lob-Rede“ anschließenden „Poetischen Gedanken“ in den Begriff der ‚Simulation eines Festspiellibrettos‘, nicht der ‚Simulation einer Festbeschreibung‘, zusammen. Mein wesentliches Argument dafür ist, dass im vorliegenden Fall – anders als bei veritablen Beschreibungen und Relationen – Festlichkeit sich deutlich weniger im dargestellten Zeremoniell als in der literarischen ‚Zeremonialisierung‘ von selbst nur schwach zeremoniösen Schauplätzen und Handlungen geltend macht. 53 In jüngerer Zeit hat den Begriff des ‚Agonalen‘ für Befunde der Frühen Neuzeit wieder besonders in den Mittelpunkt gestellt Caspar Hirschi: Wettkampf der Nationen. Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. Göttingen 2005, Kap. 4.1 „Das agonale Prinzip“.
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hatten.54 Die Reaktion der Angegriffenen blieb nicht aus – vehement sogleich von französischer, dagegen anfangs ergeben, beflissen und erst mit der Generation Konrad Celtis’ (1459–1508) selbstbewusster und schärfer von deutscher Seite. Wesentlicher als die polemische Zurückweisung oder Widerlegung beleidigender Zuschreibungen war die Option für die Offensive, nämlich sich den Italienern gleichfalls als Nation glänzender Humanisten zu präsentieren. Im europäischen Austausch nahm der Literatur- und Wissenschaftsbetrieb eine entfaltete agonale Verfassung an, die eine Doppelstruktur aufwies: Die bewusst als Angehörige ihrer Nation (horizontal) in den wechselseitigen Wettbewerb miteinander tretenden Humanisten orientierten sich konkurrierend auch (vertikal) an den literarischen Vorbildern der Antike, die es nachzubilden, zu erreichen und zu übertreffen galt. War der Kommunikationsraum des Renaissancehumanismus ein einheitlicher, nämlich lateinischsprachiger, obschon durch die Identifizierung der Teilnehmer mit je verschiedenen Nationen strukturiert, so beginnt er mit der zunehmenden Verwendung der Volkssprachen in den studia humanitatis in Sektoren zu zerfallen, zwischen denen allererst vermittelt werden muss, soll es überhaupt zu wechselseitiger Kenntnis und Einschätzung kommen. Was unter solchen Bedingungen allein noch zum Gegenstand eines Wetteifers zwischen den Nationen gemacht werden kann, ist die jeweilige eigene Sprache – genauer gesagt: ihre Kompetenz als Literatursprache, unter Beweis gestellt durch die Namen ihrer berühmten Autoren und Werke. So bereits 1513 Jean Lemaire de Belges in seinem Traicté intitulé la Concorde des deux langages, so dann mehr als ein Säkulum später Rist:55 Opitz habe „vns Teutschen“ gezeigt, „wie auch wir in vnsrer Sprache/ Petrarchas, Ariostos, vnd Ronsardos haben“ könnten. Es folgt eine umfänglichere Liste, zwölf Italiener, vier Franzosen, ein Engländer und vier Niederländer, die sich allesamt „durch die gantze Welt berühmt machen“, und gegen die der deutsche Poet abermals seine Gewissheit setzt, dass „auch wir in kurtzem mehr Opitios haben werden“. Ein Wetteifer ohne Konflikt ist dies, freilich immer noch eine Art von Konkurrenz der Nationen. Die Etablierung des nationalen Sprachraums als abgeschlossenes literarisches Feld provoziert aber einen neuen Agon. Diese gewissermaßen rekursiv
54 August Buck: Das Selbstverständnis des italienischen Humanismus. In: Ders.: Studia humanitatis. Gesammelte Aufsätze 1973–1980. Festgabe zum 70. Geburtstag. Hg. von Bodo Guthmüller, Karl Kohut u. Oskar Roth. Wiesbaden 1981, S. 23–33, hier S. 28. Den Begriff ‚Nation‘ verwende ich im hier darzustellenden Zusammenhang wie Rist (der auch andere Bedeutungen des Terminus kennt) in Rist: Musa (Anm. 17), fol. A 2v–3r, wenn er Italiener, Franzosen, Niederländer und Deutsche als „Nationen“ bezeichnet und damit einen jeweiligen humanistisch-kulturellen Sprachraum meint. 55 Rist: Musa (Anm. 17), fol. A 3r–v.
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erzeugten Strukturen sind unübersichtlich, wir verfolgen nicht die komplexen Prägungen im Bereich der Kommunikation unter Literaten, sondern beschränken uns hier auf die Befunde unseres Falles. Im Wettbewerb mit anderen deutschen Flüssen überlegen sieht sich ein Fluss, die Elbe, weil ein Herrscher sie überquert. Ein Schiff auf der Elbe wird gefeiert als über alle anderen vom Glück begünstigt. Zweimal will ein Schiff seinen Gast auf immer oder wenigstens möglichst lange bei sich behalten und also nicht an andere Orte weitergeben. Noch das Schloss Glücksburg wird wegen der Gäste, die es beherbergt, gepriesen als ein Gebäude über alle Gebäude der Welt und als Schmuck der Elbe. Und selbst im letzten Gedicht blitzt eingangs der Gedanke kurz auf, dass mit Friedrich der Stern, der vorher Zimberland bestrahlte, nun über Bremervörde glänze. Für all diese Befunde gilt, dass ein Ort oder ein Bauwerk erpicht darauf ist, bedeutende Personen dauerhaft an sich zu ziehen und mit deren Charisma und deren Ruhm selbst an Glanz zu gewinnen. Darin erscheint in spielerischem Zuschnitt die Rhetorisierung des Raums im Humanismus. Städte stehen metonymisch für einen Dichter. Petrus Lotichius Secundus, sich in Venetien aufhaltend und die Anmutung von Land und Leben einem älteren gelehrten Freund in Deutschland seinerseits in Erinnerung rufend, lässt den Blick zum fernen Alterssitz Arquà eines zweihundert Jahre früheren ‚Kollegen‘ schweifen: „Illic […] veneror cineres, culte Petrarcha, tuos.“56 Städte verhalten sich dann nur konsequent, wenn sie sich bemühen, eine Koryphäe der studia humaniora in ihre Mauern zu ziehen oder wenigstens bei einem Besuch auffällig zu begrüßen, wie am Beispiel des Erasmus in den Jahren 1514 bis 1516 zu beobachten, als dessen europäischer Ruhm seinen Gipfel erreichte: Noch in England suchte ein päpstlicher Diplomat ihn für die Übersiedlung nach Rom zu gewinnen; auf der folgenden Reise den Rhein hinauf über Straßburg und Schlettstadt nach Basel wollten ihn die deutschen Humanisten als ihren Landsmann reklamieren.57 Städte und Dörfer aber, wie wir sie in den eben aufgezählten Fällen hatten, bleiben dem Wandel aller Dinge unterworfen. Weniger vergängliche Fixpunkte im Raum sind Flüsse; sie stehen (nicht metonymisch, sondern)
56 Pierre Laurens: Rome et la Germanie chez les poètes humanistes allemands. In: L’Humanisme allemand (1480–1540). XVIIIe Colloque international de Tours. München, Paris 1979 (Humanistische Bibliothek I, 38/De Pétrarque à Descartes 37), S. 339–355, hier S. 340. Das Zitat nach Petrus Lotichius Secundus: Elegia III,4 Ad Georgivm Sabinvm. De Patauii celebritate et studiis suis. In: Ders.: Poemata qvae exstant omnia […] recensvit praefatvs est notasqve svas […] adiecit Carolvs Travgott Kretzschmar. Dresden 1773, S. 131–135, hier S. 134. 57 Johan Huizinga: Europäischer Humanismus: Erasmus. Aus d. Holl. von Werner Kaegi. Hamburg 1958 (rowohlts deutsche enzyklopädie 78), S. 77 u. 80; James D. Tracy: Erasmus Becomes a German. In: Renaissance Quarterly 21 (1968), S. 281–288, hier S. 281–283, sowie Hirschi (Anm. 53), S. 291–294.
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synekdochisch für eine Region. Das wohl berühmteste Beispiel des deutschen Humanismus für eine Topographie, die den Raum über Flüsse definiert, dürfte Konrad Celtis’ Projekt einer Germania illustrata sein, wie es uns im Alexandrinergedicht Germania generalis (1500) und den unter dem Titel Amores (1502) veröffentlichten Liebeselegien (teil-)realisiert vorliegt.58 Hier wird Deutschlands Territorium bestimmt durch seine von den Flüssen Weichsel, Donau, Rhein und der Nord- wie Ostsee markierten Grenzen. Die topographische Strukturierung über die vier Himmelsrichtungen erfährt in Konzeption und Gedichten der Amores zusätzliche Codierungen über die vier Lebensalter des Menschen sowie die vier Liebesgeschichten des Poeten. Besonders instruktiv für den interessierenden Aspekt ist die dreizehnte, die vorletzte Elegie des dritten Buches. In ihr wird eine Darstellung des Rheins von der Quelle an gegeben, wobei der Fluss wesentlich als ein Gedächtnisraum der Geschichte erfasst ist, unterlegt oder überblendet mit der Reise der Geliebten Ursula zu Schiff von Mainz nach Köln und dann zu Land nach Aachen ins Heilbad. Bei Koblenz eilt (nicht Ursula, sondern) der Poet rasch die Mosel hinauf und sieht sich von deren Ufern zum Gedenken an Nikolaus von Kues und Johannes Trithemius veranlasst.59 Die Geliebte ist keine Prinzessin, der Rhein umwirbt sie nicht, vielmehr bittet der Dichter umgekehrt ihn, die Frau in seinen Schutz zu nehmen. Im Subtext hält sich jedoch ein Gedanke, den die dreizehnte, hier aber letzte Elegie des zweiten Buches explizit ausspricht. Diesmal ist es die Donau, die bis zur Mündung geschildert wird, abermals reist die Geliebte, jetzt Elsula, wieder wird der Fluss angerufen, den Sorgen und Wünschen des Mannes gewogen zu sein; dann aber, „Sic ubi nostra tuo firmabis vota fauore |
58 Dazu Gernot Michael Müller: Die ‚Germania generalis‘ des Conrad Celtis. Studien mit Edition, Übersetzung und Kommentar. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit 67); Amor als Topograph. 500 Jahre ‚Amores‘ des Conrad Celtis. Ein Manifest des deutschen Humanismus. Ausstellungskatalog. Hg. von Claudia Wiener [u. a.]. Schweinfurt 2002 (Bibliothek Otto Schäfer. Ausstellungskatalog 18), darin v. a. S. 93–104, Claudia Wiener: ‚Quatuor latera Germaniae‘, Die ‚Amores‘ als Beschreibung Deutschlands nach den vier Himmelsrichtungen. Ferner Jacques Ridé: Un grand Projet patriotique: ‚Germania illustrata‘. In: L’Humanisme allemand (Anm. 56), S. 99–111; Ulrich Muhlack: Das Projekt der ‚Germania illustrata‘. Ein Paradigma der Diffusion des Humanismus? In: Diffusion des Humanismus. Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten. Hg. von Johannes Helmrath [u. a.]. Göttingen 2002, S. 142–158. 59 Konrad Celtis: Quattuor libri amorum secundum quattuor latera Germaniae. […] Accedunt carmina aliorum ad libros amorum pertinentia. Hg. von Felicitas Pindter. Leipzig 1934 (Bibliotheca scriptorum medii recentisque aevorum), S. 71–73. Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts. Lateinisch und deutsch. In Zusammenarbeit mit […] ausgew., übers., erl. u. hg. von Wilhelm Kühlmann, Robert Seidel und Hermann Wiegand. Frankfurt a. M. 1997 (Bibliothek der Frühen Neuzeit 5), S. 114 f. und 120 f.
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Carminibus nostris clarior, Hister, eris.“60 Indem er der Donau in Aussicht stellt, durch die von ihm und seiner Elsula handelnden Gedichte ‚berühmter‘ zu werden, berühmter als andere Flüsse, darf man hinzudenken, verwandelt der Dichter die Topographie seines poetisierten Deutschlands in einen agonalen Raum. Die eigentümliche Wendung zum Agonalen in Rists simuliertem Festspiel hat, wie vor dem skizzierten Hintergrund vielleicht plausibel, ihren Sinn darin, einer höfischen Hochzeit die Verfassung der respublica litteraria als Subtext zu unterlegen. Die Konkurrenzen, von denen die Rede ist, evozieren nicht primär politische und schon gar keine militärischen Aspekte. Spielerisch, wie sie daherkommen, sind sie nichtsdestoweniger nicht ohne Gewicht. Der höfische Text über dem Subtext macht zunächst zwar darauf aufmerksam, dass die agonalen Strukturen des wissenschaftlich-literarischen Feldes ihrerseits bereits als Metaphern aus dem Feld der politischen Herrschaft gewonnen worden waren. Rist als ein Erbe der studia humaniora allerdings wird kaum ein höheres Lob kennen, als umgekehrt einen zu Feiernden, möge er auch Fürstenhäusern entstammen, mit Bildelementen aus der Arena humanistischer Gelehrsamkeit zu bekleiden. Schon in der „Lob-Rede“ hatte er ja in Friedrichs Profil entsprechende Züge hervorgehoben.61 Ein Herzog und Erzbischof und seine durchlauchtige Braut, um die ein Fluss und dessen Paraphernalien so drängend werben, vermögen einem Raum Ruhm und damit irdische ‚Ewigkeit‘ zu verleihen, die der Raum, dieser Raum, wiederum zu ihrem Gedächtnis aufbehalten wird.
3 Das Jahr 1634 hatte dem Herzogtum Braunschweig-Lüneburg, das sich aller Erbteilungen seit dem dreizehnten Jahrhundert unerachtet einerseits auf höherer Ebene immer als Einheit, andererseits in der Praxis als um zwei (und nur zwei) Orte, die namengebenden nämlich, orientiert betrachtete, wieder einmal wichtige Veränderungen gebracht: Das Haus Braunschweig war erloschen; eine, die ältere, Linie des überlebenden Hauses Lüneburg erhielt nunmehr das Fürstentum Wolfenbüttel, eine andere, jüngere, „verteilte“ sich auf die Fürstentümer Calenberg-Göttingen und Lüneburg mit Grubenhagen.62 Was sich hinter dem Wort ‚Ver-
60 Celtis (Anm. 59), S. 52 f. 61 Siehe oben S. 84 f. 62 Die Darstellung zunächst nach Georg Schnath: Vom Sachsenstamm zum Lande Niedersachsen. Grundzüge der staatlichen Gebietsentwicklung im niedersächsischen Raum. Hannover 1966, v. a. Kap. IV, 2 u. V, das zitierte Wort S. 46. Im folgenden orientiere ich mich zusätzlich an Adolf
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teilung‘ verbirgt, muss hier nicht im einzelnen interessieren; es reicht zu sagen, dass der territoriale Komplex nach einigen Jahren den vier Söhnen des Herzogs Georg von Braunschweig-Lüneburg zufiel. Der 1622 geborene Christian Ludwig, als der älteste Sohn Nachfolger des Vaters zunächst im Fürstentum CalenbergGöttingen mit Hannover als Sitz, wechselte fünf Jahre später, 1646, in das Fürstentum Lüneburg, womit Celle zu seiner Residenz wurde. Der junge Herzog war bereits seit zwölf Jahren ein regierender Herr, als er einunddreißigjährig im Jahre 1653 zur Ehe schritt. Seine Braut Dorothea Sophia, Jahrgang 1636, weitläufig mit Christian IV. verwandt, entstammte dem Hause Holstein-Sonderburg-Glücksburg. Der im Oktober des Jahres, am 18. Sonntag nach Trinitatis, in Celle geschlossene Bund blieb übrigens – um einen kurzen Blick in die Zukunft zu werfen – (trotz der Wünsche Rists im Epithalamium) kinderlos; Christian Ludwig starb, gerade dreiundvierzig Jahre alt, 1665. Seine Witwe ging bald darauf eine zweite Ehe mit dem seinerseits verwitweten ‚Großen Kurfürsten‘ Friedrich Wilhelm von Brandenburg ein, einem engen Freund ihres Mannes. Die in Celle residierende jüngere lüneburgische Linie strebte indessen auch ohne die substantielle Beteiligung des Paares, das 1653 Hochzeit gehalten hatte, zukünftig Größerem entgegen, dies bekanntlich zum nicht geringen Ärger der Vettern in Wolfenbüttel. Die Fürstentümer Calenberg und Lüneburg konnten Jahrzehnte später zusammengeführt werden, das Haus Hannover erhielt die (neunte) Kurwürde, und das achtzehnte Jahrhundert sah gar noch die Personalunion des Kurfürstentums mit dem Königreich Großbritannien. In diesem Fall nun dürfte, auch wenn abermals keine schriftlichen Unterlagen bekannt sind, ziemlich deutlich sein, aus welchem Grunde Rist den Auftrag über das Epithalamium (und das Libretto) erhalten hat. Der Bräutigam Christian Ludwig hatte schließlich 1643 gemeinsam mit der Herzoginwitwe Anna Eleonore seine Schwester nach Glückstadt begleitet und dort Gelegenheit gehabt, den gewichtigen Pastor zu Wedel und dessen literarische Kompetenzen aus eigenem Augenschein schätzen zu lernen.63
Köcher: Geschichte von Hannover und Braunschweig, 1648 bis 1714. 2 Tle. Leipzig 1884/1895 (Publicationen aus den Königlich Preußischen Staatsarchiven 20 u. 63), Tl. 1, v. a. Buch 1, Kap. 1 u. 2 sowie Buch 4, Kap. 1–3 u. 5; ferner [Wilhelm] Sauer: Christian Ludwig, Herzog zu Braunschweig und Lüneburg. In: Allgemeine deutsche Biographie (Anm. 10), Bd. 4 (1876), S. 163 f. [hier falsches Geburtsjahr!]; K[arl] Janicke: Georg, Herzog von Braunschweig-Lüneburg. In: Ebd., Bd. 8 (1878), S. 62–634; ders.: Georg Wilhelm, Herzog von Braunschweig-Lüneburg. In: Ebd., S. 634 f.; [Bernhard] Erdmannsdörffer: Dorothea, Kurfürstin von Brandenburg. In: Ebd., Bd. 5 (1877), S. 355–357. 63 1666, genauer: Ende 1665, also kurz nach dem Tod des Herzogs, kommt Rist im vierten Monatsgespräch zweimal auf den Celler Fürsten zu sprechen. Vgl. Johann Rist: Die AllerEdelste Belustigung […]/ Vermittelst eines […] Gespräches/ Welches ist […] Eine Aprilens-Unterredung/ Be-
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Rist legt für Celle (neben dem erwähnten Libretto Die Triumphirende Liebe) wieder ein langes Gedicht in heroischen Alexandrinern vor.64 Das Epithalamium bringt es diesmal auf 372 Verse. Im Titel, dessen syntaktisches Gerüst dem von 1643 ähnlich ist, außer dass jetzt keine zusätzlichen ‚Poetischen Gedanken‘ in Aussicht gestellt werden, firmiert das Poem nicht als ‚Hochzeitliche‘, sondern als Vnterthänigste Lobrede.65 Das Titelverso zeigt ein Brustbild Christian Ludwigs in
schrieben und fürgestellet. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Eberhard Mannack. Bd. 5. Berlin, New York 1974, S. 183–411, vermerkt S. 200, Herzog Christian Ludwig habe „auch mir ehemahlen grosse Gnade erwiesen“, und erwähnt S. 329 auch Rists Anwesenheit „auff dem […] Ansehnlichen/ HochFürstlichem Beilager/ Herren Christian Ludowigs/ Hertzogen zu Braunschweig und Lüneburg“. 64 Bei der Reichhaltigkeit des überlieferten Aktenmaterials zu dieser Hochzeit möchte man erhoffen, den einen oder anderen Hinweis zu finden, welchen Platz das Epithalamium im Szenario der Feierlichkeiten eingenommen hat, mindestens aber, welche Gratifikation Rist für sein Gedicht erhalten hat. Leider werden diese Hoffnungen weitgehend enttäuscht. Das Aktenkonvolut NLA: Dep. 84 B Nr. 556 enthält (u. a. mit fol. 510 u. 544–555) Nachweise über Auszahlungen, mit denen Ende Oktober die Leistungen diverser an den Feierlichkeiten beteiligter Personen abgegolten wurden. Erwähnt sei eine Liste in fol. 510, an deren Spitze Hermann Conring firmiert, der 20 Reichstaler (wohl für sein lateinisches Carmen, vgl. Anm. 9) bekam. Rist erscheint in diesen Zusammenhängen nicht. Wohl aber gibt es einen längeren Vorgang, in dessen Zentrum unser Autor steht. Rist hatte am 28. Juli des Jahres bei dem Kupferstecher Augustus John insgesamt fünfzehn Blatt Radierungen für den Druck des Librettos geordert, über die ihm der Künstler eine Vorabrechnung ausstellte (fol. 562). Der geforderte und von Rist offenbar akzeptierte Betrag über 108 Reichstaler war Ende September der herzoglichen Verwaltung zu hoch, so dass der Wedeler Pastor sich selbst in Verhandlungen mit dem Hamburger ‚Factor‘ der Braunschweig-Lüneburger begeben und als Sachwalter seines Stechers sogar noch einen Brief in der Sache schreiben musste (fol. 560, Brief vom 21. September). Ein Schreiben des ‚Factors‘ Hanns Erlenkamp nach Celle vom 24. Oktober (fol. 557 f.) weist jedenfalls aus, er habe „an Hrn. rist bezahlt“: ohne Spezifizierung 50, für den Kupferdrucker 12 und für insgesamt zwölf Ries Papier 36 Reichstaler, dies unabhängig von der noch ausstehenden Regelung mit dem Kupferstecher. Bei den an Rist selbst gegangenen fünfzig Reichstalern dürfte es sich um eine Gratifikation handeln, unklar bleibt freilich, ob nur für das Libretto oder für seine beiden Arbeiten zusammen. Aus einem am 12. November von der Verwaltung in Celle an Rist gerichteten Brief (fol. 563 f.) geht hervor, dass der Buchdrucker und der Buchbinder des Librettos auch zu diesem Zeitpunkt ihren geforderten Lohn noch nicht erhalten hatten. Zu den unübersichtlichen und teilweise die Burleske streifenden Vorgängen ferner fol. 554, 556–558, 561 u. 565 f. Die Druckplatten [!] des Librettos, die vorübergehend in Altona zurückgehalten worden waren, befinden sich heute unter den Beständen des vormaligen hannoverschen Königshauses: NLA: Dep. 84 B Nr. 558. – Aus Rists Brief (fol. 562) wissen wir nun immerhin, dass die Kupfer in seinem Libretto „Die Triumphirende Liebe“ von Augustus John stammen. Über diesen 1602 in Dresden geborenen Künstler Informationen in: Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart. Begr. von Ulrich Thieme u. Felix Becker. 37 Bde. Leipzig 1907–1950, hier Bd. 19 (1926), S. 74. John muss also 1653 in Hamburg (oder Altona) gelebt haben. 65 Johann Rist: Vnterthänigste Lobrede/ An Den […] Herren H. Christian Ludowig/ […] Als seine Fürstliche Gnade Ihr HochFürstliches Beilager hielte/ Mit Der […] Fräulein Dorotheen/ […] Aus
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ovalem Rahmen und mit einer Inschrift aus vier von Rist abgezeichneten Versen. Der insgesamt neun Seiten umfassende Druck weist auf den letzten beiden Seiten zwei Spatien auf, durch die das Gedicht in einen Hauptteil von 336 Versen und zwei anschließende kürzere Komplexe von einmal zwanzig und einmal sechzehn Alexandrinern gegliedert wird. Fundorte und Disposition der Lobrede von 1653 unterscheiden sich erheblich von den entsprechenden Befunden in ihrer Glückstädter Vorgängerin. Hatte Rist dort schon im ersten Vers keinen Zweifel daran gelassen, dass man es im folgenden zuvörderst mit einer Laudatio zu tun haben werde, und das Thema der Liebe zwischen den Brautleuten geradezu demonstrativ vom Tisch gewischt, so verwendet er nun Fundorte, die man bereits in vielen der Epithalamia für seine übliche Klientel finden konnte. Er startet also, wie auch sonst so oft, ganz unverkrampft mit dem locus circumstantiarum, nämlich einem Natureingang über den Herbst als die Jahreszeit, in welcher die Hochzeit gehalten wird (V. 1–12), und schließt gleich die Ankündigung an, den „Sieg“ feiern zu wollen, den Cupido, „der kleine Libesmann“ (V. 23 f.), über einen Fürsten davongetragen habe. Erst in diesem Kontext erscheint mit der Zeile „O theüres Sachsenbluht/ O Preiß der teütschen Helden“ (V. 17) eine dem Anfangsvers der „Lob-Rede“ von 1643 ähnliche Formel. Wirklich verblüffend ist nun aber, wie Rist das avisierte Thema Liebe hier traktiert. Scaliger hatte seinerzeit angeregt: „Aliquando finges à Venere aut Cupidine vi coacta(m): quę pride(m) eorum regnum contemptui habuisset“.66 Das war deutlich auf die Braut gezielt. Rist allerdings hatte sich gelegentlich die Freiheit genommen, stattdessen über einen nun endlich als Bräutigam eingefangenen Junggesellen zu – ‚frotzeln‘, um es deutlich zu sagen. So etwas scheint kaum möglich ohne wenigstens einen Hauch von vertraulicher Jovialität. Der Jurist Nikolaus Meine, Ratsherr in Glückstadt und Freund des Autors, etwa hatte zu jenen gehört, die dem „Stand der keüschen Eh’“ immer nur mit Spott begegnet waren; noch jüngst habe er es sich angelegen sein lassen, „die Freyheit hoch zu preisen“, die man sich bewahre, wenn man ohne Frau lebe (PS, S. 96 f.). Auch Rists Studienfreund Chrysostomus Köler, mittlerweile Hof- und Kanzleirat beim Wolfenbütteler Herzog, musste sich daran erinnern lassen, früher für die Liebe nur Verachtung gehabt und sein „Corpus Juris“ sowie die fachwissenschaftliche Literatur vorgezogen zu haben (PS, S. 256). Der ehemalige Militär Dieterich Steinhoff, gleichfalls ein Freund und zudem ‚Schwager‘ des Dichters, pflegte wiederum stets die Normen seines Berufes gegen die Unmännlichkeit der „Buhler“ auszu-
unterthänigster Schüldigkeit Gehohrsamst aufgesetzet […] und übergeben. Hamburg [1653]; die Herzog August Bibliothek hat eine Fotokopie des Drucks ins Netz gestellt. 66 Scaliger (Anm. 17), S. 150, c. 2.
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spielen.67 In all’ diesen Fällen machte der Wedeler Pastor keinen Hehl daraus, dass er solche ehefeindlichen und oft auch misogynen Haltungen von vornherein zutiefst missbilligte, werde damit doch sowohl gegen eine Setzung von Gott als auch gegen die Direktiven der Natur verstoßen. Nikolaus Meine erfuhr besonders harten Tadel: Ach nein/ mein liebster Herr/ Ihr waret abgeschritten gahr weit von rechter Bahn/ die Welt mit Ihren Sitten hatt’ Eüch gefangen: Denn/ ein solcher der da lebt ohn’ Ehweib und nicht nur nach einer Liebsten strebt/ Der lästert freventlich den keüschen Liebes Orden/ In welchem Er doch selbst zuer Welt erzeüget worden (PS, S. 97).
Wie aber kann man derlei einem regierenden Fürsten zumuten? Um jeden Verdacht der Vertraulichkeit auszuschalten, ist von Anfang an der Tonfall ein anderer als in den Gedichten an die Freunde. Es herrscht, wie die zitierte Prädikation „Preiß der teütschen Helden“ (V. 17) und mehr noch die bald folgende „Ruhm und Licht der Zeit“ (V. 20) zur Genüge zeigen, geradezu hagiolatrische Distanz. Sodann und zweitens kleidet Rist, dies gleichfalls sofort, das Thema Liebe in eine militärische Metaphorisierung: Als Ereignis wird angekündigt, Fürst Christian Ludwig trete „auß dem Fried’ in Einem Libeskrieg“ (V. 15). Erst jetzt, nach dieser Vorbereitung, kann das erste Mal notiert werden, dass „du“, gemeint ist der herzogliche Bräutigam, […] stets getrachtet Nur frei zu leben und sehr weinig hast geachtet Der lib’ Ergetzligkeit (V. 25–27).
Und drittens schließlich wird das Thema mit diesen Versen nur eben angedeutet und gewissermaßen sogleich wieder einkassiert mittels eines abrupten Überganges von der menschlichen Dimension zu „des Himmelß Schluß“, der Christian Ludwig nun „bereichert“ habe […] mit grossem Uberfluss’ Und ein so theüres Pfand dir glüklich zugeführet Weit aus dem Norden her/ daß Jederman itz spühret Es sei doch wahr/ so bald Ein Fürst die Libesbahn Betritt/ den heiss’ es recht: Der Himmel hats gethan (V. 27–32).
67 Rist: Parnass (Anm. 7), S. 467.
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Rist geht in dem Passus, den wir uns gerade angesehen haben, mithin so vor, dass er die Darstellung im Diskurs des Heroischen beginnt, sie dann kurz für die Abweichung öffnet, um die Öffnung sogleich wieder mit dem Diskurs des Religiösen zuzuziehen. Wir wären nach zweiunddreißig Alexandrinern ungefähr da, wo wir im Falle des Dänenherzogs bereits am Anfang waren, als es im fünften und sechsten Vers hieß, das Thema Liebe ebenso lakonisch wie definitiv zu den Akten legend, Friedrich habe, „durch Gottes Geist getrieben“, sich „recht Christlich […] bedacht ein Fürsten-Kind zu lieben“.68 Darum aber sind im vorliegenden Gedicht und im Falle des Welfenherzogs weder die quaestio infinita der Liebe und Ehe noch die quaestio finita der früheren Ehescheu des Bräutigams erledigt.69 Vielmehr wird, wenn der Poet sich nun anschickt, seine Proposition, Gott sei der Urheber des Werks der rechten Eheschließung, mit Nachdruck zu wiederholen, das Thema der Ungebundenheit und Selbstherrlichkeit des Mannes geradezu als quaestio infinita zur Voraussetzung und Grundlage der Argumentation: Ist Einer noch so kek und herrisch von Gemühte/ Ist Einer noch so hoch und Edel von Geblühte/ Kan Einer noch so stark der Lib’ entgegen stehn/ Wen nur der Himmel wil/ so muß eß doch geschen. Hie wird ein Fürstenkind so weinig aus geschlossen Als der geringste Baur: So bald die Zeit verflossen/ Die Gott bestimmet hat/ so wird der Hertz verstrikt Und durch Ein Ehgemahl mit keüscher Lib erquikt (V. 37–44).
Quaestio infinita oder nicht, manchem aus Hannover, wäre ihm der Beginn dieses Passus begegnet, dürfte sogar ein überraschend deutliches Bild des Herzogs aus dessen jungen Tagen entgegengesprungen sein, galt Christian Ludwig doch durchaus als ‚keck und herrisch von Gemüte‘ oder, um einen Historiker des späten neunzehnten Jahrhunderts heranzuziehen, als jemand, der „einem rohen Austoben jugendlichen Übermuths“ nur allzu bereitwillig die Zügel schießen ließ.70 Nicht ganz abwegig wird also der Gedanke sein, aus den Versen auch eine an die Person des Bräutigams gerichtete Paränese herauszuhören, selbst wenn der Herzog seit Antritt der Regierung sein Verhalten gemäßigt hatte. Dass Rist eine Passage wie die vorstehende zehn Jahre früher an den dänischen Herzog und Erzbischof gerichtet hätte, ist jedenfalls undenkbar. „Zwahr“, so fährt er nun fort, hartnäckig beim Thema bleibend,
68 Siehe oben S. 79. 69 Zu den Konkretheitsgraden der quaestio siehe Lausberg (Anm. 21), [Bd. 1,] S. 61–64 (§§ 68–78). 70 Köcher: Geschichte (Anm. 62), Tl. 1, S. 347.
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Zwahr/ Läugnen kann mans nicht/ Es hält die frische Jugend Das frei sein/ treflich hoch/ ja schätzet es für Tugend/ Man spricht: Was acht’ Ich doch ein zahmgebornes Thier? Wier ziehen ia das Wild denselben billich für (V. 45–48).
Über mehr als ein Dutzend Verse malt das Gedicht nun die Freiheit des Junggesellentums im Bild eines ganz und gar seinem jeweiligen Belieben folgenden Hirsches aus. Mit dem Bild des Hochwilds, dessen Freiheit wohlgemerkt auch zulässt, „heüt im Wald’ herüm“ zu springen und „Morgen auf der Saat“ (V. 51, Heraushebung von mir) sowie sich selbstverständlich stets neue Partnerinnen zu wählen, ist die quaestio der Ehescheu unerwartet in einen Subtext mutiert, der adliges Leben schlechthin thematisiert und zugleich in ein seltsam fahles Licht der Kritik taucht. Das muss man nicht weiter erläutern. Und nun zieht Rist seine letzte Karte in diesem diskursiven Spiel. Das Bild des Hirsches wird überboten durch das des Einhorns: „Daß Einhorn ist fürwahr viel stärker noch zu schätzen | Als ein befreiter Hirsch“ (V. 65 f.). In den sechzehn Versen, die eine Darstellung dieses Tieres und seiner ungezügelten und unbesiegbaren Stärke und Kraft, Wildheit und Schnelligkeit geben,71 führt der Poet ein Exempel ein, mit dem die Ehescheu endgültig auf einer symbolisch sehr hohen und dem fürstlichen Adressaten gemäßen Ebene verortet wird. Das Licht der Kritik, selbst ein fahles, erlischt, nicht zuletzt haben wir nun den en passant erwähnten, als vor Gott den gleichen Status wie ein Fürst einnehmenden, ‚geringsten Bauern‘ definitiv vergessen. Angemessen ist das gefundene Symbol auch darin, dass es die Sinneswandlung des Fürsten und seine Bereitschaft zur Ehe zu plausibilisieren vermag. Fangen lässt sich das Einhorn bekanntlich nur durch eine reine Jungfrau, welche Keuschheit und treue Liebe verkörpert.72 Mithin: Wenn ein „Thier/ das in der Wühsten wohnet/ | Daß ohne Rede lebt/ das keines Menschen schonet“ (V. 89 f.), dergestalt durch den hohen Eros bezwungen werden könne, „Wie solt’ Ein tapfrer Held nicht fühlen die Gewalt | Die mehr als irdisch heißt?“ (V. 92 f.). Der Befund, dass der Bräutigam seinen „fästen“, aber fehlgeleiteten, „Sinn [b] ezwungen“ (V. 95 f.) und sich für die Liebe einer ihm gleichen Braut geöffnet habe, wird in einer Sentenz ausgewertet: „Diß ist der Tugend Kraft/ hierin besteht Ihr Reich/ | Das stets Sie suchet daß/ waß bloß Ihr Selber gleich“ (V. 99 f.). Die typographische Heraushebung der beiden gnomischen Verse markiert zugleich das Ende
71 Das Bild stimmt mit der Tradition überein; s. Liselotte Wehrhahn-Stauch: Einhorn. In: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte. Begonnen von Otto Schmidt, Bd. 4. Stuttgart 1958, Sp. 1504–1544; Sp. 1519 wird dort aber auch die Ungebundenheit des Einhorns herausgestellt, das sich eben deswegen der Arche Noahs verweigert habe. 72 Ebd., Sp. 1508–1511 u. 1528 f.
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der Passage über die Scheu des Herzogs vor der Ehe – einer bemerkenswerten Passage, die knapp achtzig Verse umfasst und damit gut ein Fünftel des gesamten Textes einnimmt. Bemerkenswert ist sie, so scheint mir, weil ein aus Hochzeitsgedichten für enge Freunde stammendes Motiv in eine Vnterthänigste Lobrede übernommen, für geraume Zeit an der Grenze des Spiels mit der Jovialität und vor allem der Kritik entlanggeführt und erst allmählich in mehreren Schritten auf das endgültige Niveau der Enkomiastik hinaufgestuft wird. Die angemessene Höhe stellt hier wohlgemerkt nicht die Ebene des Religiösen dar, auf der vielmehr der „geringste Baur“ und das „Fürstenkind“ einander bedenklich nahe kommen, sondern das Arsenal der literarisch und ikonisch tradierten Bildsprache. Im folgenden hält sich das Gedicht stärker an die für seine Gattung üblichen Vorgaben. Der Lobpreis des Bräutigams setzt ein mit der Herkunft. Allerdings, während der Poet für sein Epithalamium von 1643 die Geschichte Dänemarks und (besonders umfangreich) König Christian IV. als den Vater des Bräutigams aufbot, macht er das Thema hier in relativ wenigen Versen ab (V. 101–117). Es schließt sich, auch dies als Fundort in vielen Hochzeitsgedichten Rists anwesend, der Blick auf die Jugend des Angesprochenen im Umfang von gut siebzig Versen an. Zweimal tut der Autor dabei das, was er in der Vorrede zur Musa teutonica „nach Art“ der alten und „auch jetztlebenden rechtschaffenen Poeten/ in einer stetigen/ continuirenden Allegorien schreiben“ nannte;73 beide Male entledigt er sich der Aufgabe in virtuos-kunstvoller, einmal über rund zwanzig, sodann gar über dreißig Verse gehender Weise. Zunächst wird die virtus des jungen Christian Ludwig dem Temperament eines ehrgeizigen Rosses verglichen (V. 121–140). Die virtus zeigt sich weniger in Taten als in der Disposition zum Ehrgeiz. „Verharr’ auf solchem Pfad“ (V. 141), kann der Poet dem Gelobten daher nur zurufen, und: „Verharr’ in solchem Lauff“ (V. 143). Auch diese Passage schließt in der schon bekannten Weise mit einer typographisch markierten und auf den Tugendbegriff abzielenden Sentenz: „Es wird der Tugendruhm doch nimmermehr verhült“ (V. 148). Im zweiten ausgeführten Vergleich wird für die gleiche Aussage die Hohe Jagd als Reiherbeize in Anspruch genommen, bietet sich hier doch das Bild von zwei sich immer höher in den Himmel schraubenden Vögeln (V. 149–177).74 Auch diesmal macht eine typographisch markierte Maxime (von zweieinhalb Versen Umfang) den Beschluss der Passage. Beide Allegorien sind, insofern mit dem Rassepferd und der Falkenjagd der Bildbereich deutlicher als im Falle des Hir-
73 Rist: Musa (Anm. 17), fol. A 5r. 74 In V. 169 ist ganz offenbar ein Druckversehen zu korrigieren; statt „immer“ wird es „nimmer“ heißen müssen.
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sches und des Einhorns in die Lebenswelt des Adels weist, der panegyrischen Absicht überaus angemessen. Man sieht, der Poet bewegt sich mittlerweile – ohne Subtexte und ohne das Spiel an und über Grenzen – in sehr gesicherten Bahnen. Nun präsentiert er in knapp vierzig Versen den Bräutigam als Fürsten. Christian Ludwigs „Meisterin“ sei die „Vernunfft“ (V. 184), heißt es, er versammle „kluge Leut’“ um sich (V. 187), die „Lünebürger Sonn’“ strahle also im Kranz „viel schöne[r] Lichter“ (V. 193).75 Konkretisiert sieht der Poet dieses Bild zu allererst in der konfessionellen Ausrichtung des Landes; da fallen, z. B. wenn es heißt, der Herzog sehe darauf, Geistliche zu haben, „die den Pfad der Wahrheit gehen | Und auf dem Wohrt’ allein als Einem Felsen stehn“ (V. 207 f.), die üblichen Formulierungen. Rist fasst die das Herzogtum bestimmende wesentliche Orientierung wie im Panegyrikus auf den dänischen Herzog Friedrich in den Begriff der „Gottesfurcht“ (V. 213). Notwendig werde daraus „des Höchsten Segen“ entspringen (V. 214). Und wieder abschließend die typographisch markierte Sentenz: „Glükselig Herr bist du/ glükselig ist dein Land“ (V. 220). Damit wendet sich die „Lobrede“ in ihrem letzten Teil der Eheschließung selbst, dem Kasus, dem neuen „Glük“ (V. 221) zu. Die Disposition ist nicht ungewöhnlich für ein Epithalamium Rists, nicht ungewöhnlich auch die späte Würdigung der Braut an dieser Stelle. Die „Lob-Rede“ von 1643 zeigte den gleichen Befund. Zu einer eigentlichen Laudatio Dorotheas von Holstein-Sonderburg-Glücksburg kommt es nun aber gar nicht mehr. Rist entfaltet stattdessen über den Wechsel der Prinzessin vom (relativen) Norden Schleswig-Holsteins in den (relativen) Süden nach Celle dreißig Verse lang ein Spiel mit wenigen astronomisch-kalendarischen Elementen (V. 226–256): Die Prinzessin, auch sie, ist die Sonne, man befindet sich im Oktober, die Sonne zieht sich seit vielen Wochen aus dem Norden zurück, man trauere im ‚Cimberland‘, die Sonne bewege sich (die Pointe kommt ins Visier) in ungewöhnlicher Weise auf den ‚Mond‘, nämlich ‚Luna‘, zu. Damit ergibt sich als Auflösung des arguten, des scharfsinnigen Spiels: ‚Die Prinzessin als die Sonne verlässt das Land des Poeten, das in Dunkelheit versinkt, und begibt sich nach Lüneburg, das künftig von ihren Strahlen beschienen wird‘. Die Metaphorik der Himmelskörper im Bild der Braut, die natürlich zugleich auf das kurz vorher gegebene Bild vom Herzog als der Sonne anspielt, findet sich bereits hier mit dem aus dem Natureingang wieder aufgegriffenen locus circumstantiarum des Herbstes als der aktuellen Jahreszeit verknüpft. Die Koppelung wird nun mehrfach variiert und dabei auch ausgiebig auf das Thema dieses Schlussabschnittes, die Liebe zwischen den Hochzeitern, appliziert. Einbeziehbar in die Metaphorik ist zudem, in Fortführung des Bildes von den ‚Lich-
75 Zur Sonnenmetaphorik im Feld des Fürstenpreises Heldt (Anm. 11), S. 157–182.
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tern‘ um die ‚Sonne‘ des Herzogs, die Schar der Festgäste. Das sei im einzelnen nicht mehr verfolgt. Abschließend fällt der Blick auf das Land mit seinen Flüssen Elbe und Weser sowie die segenswünschenden „Völker“ (V. 325) des Fürsten. Wie eingangs erwähnt, folgen noch zwei kurze Teile, deren erster die Stationen der die Hochzeitsgäste erwartenden Feierlichkeiten vom Lustspiel bis zum Feuerwerk annonciert und deren zweiter das unerlässliche Gebet für das fürstliche Paar – erneut einschließlich der Formel von „[d]er Kinder/ Kindes Kind“ (V. 359)76 – und das Regiment des Herzogs sowie das ganze Haus BraunschweigLüneburg spricht. Scheint damit der Schlussteil des Gedichts, obschon poetisch teilweise immer noch virtuos ausgeführt, was hier nur im Ansatz darzustellen war, in der Substanz eher belanglos zu sein, so enthält er doch eine kurze Passage, die mehr als einem Zeitgenossen im Fürstentum aufgefallen sein muss und die, weil sie ein charakteristisches Licht auf Rist wirft, noch näher in Augenschein genommen werden soll. Aus den ‚Völkern‘ des Landes, die sich summarisch mit Segenswünschen zur Geltung bringen, wird einzig und ausdrücklich namentlich genannt Lüneburg: So wünschet Lüneburg die Statt der Alten Sachsen/ Wo das berühmte Saltz/ wo Kalk/ wo Steine wachsen/ Dein Berg/ der Neben Ihr hoch in die Luft Sich schwingt/ An welches Fuss’ Ein Keil und steter Hammer klingt/ Der zeiget dir dein Glük/ durch welches du wirst schweben Als Er/ dem Himmel nah’ (V. 329–334).77
Zur Verdeutlichung dieser Passage muss kurz ausgeholt werden.78 In der zweiten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts sah Lüneburg, das mit der Burg auf dem Kalkberg als Residenz des Herzogs von Sachsen entstanden, im Laufe der Zeit aber selbst durch die Salzerzeugung und den Salzhandel zu großem Wohlstand und ‚gesundem‘ städtischen Selbstbewusstsein gekommen war, sich infolge von Turbulenzen einer unklaren Thronfolge im Fürstentum unversehens zu großen Schritten herausgefordert. Nachdem man sich von einem konkurrierenden Prätendenten hatte zusichern lassen, dass der Kalkberg in das Eigentum der Stadt übergehen und dass auf dem Berg niemals wieder eine Burg oder ein Bau errich-
76 Siehe oben S. 85. 77 Zum besseren Verständnis des Textes sei gesagt, dass die Virgel am Ende von V. 330 den Wert eines heutigen Punktes hat. 78 Die folgende Skizze weitgehend nach Wilhelm Reinecke: Geschichte der Stadt Lüneburg. 2 Bde. Lüneburg 1933, Bd. 1, S. 123–144 u. Bd. 2, S. 221–230 u. 261–280.
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tet werden sollte, überrumpelte man die herzogliche Belegung der Festung und konnte in den folgenden militärischen Auseinandersetzungen seine Selbständigkeit behaupten. Obwohl die Stadt deswegen noch längst keine freie Reichsstadt war, führte sie sich, an Macht und Reichtum weiter zunehmend, doch nicht selten wie eine solche auf, bis gerade zu Zeiten Rists die Herzöge den Druck wieder verstärkten und dabei innerstädtische Zwistigkeiten erfolgreich ausnutzen konnten. Eine anwachsende protodemokratische Opposition der Bürgerschaft gegen das „aristokratische Regiment“ der sich patrizisch gebarenden Ratsfamilien involvierte die Landesfürsten tief in die Angelegenheiten der Stadt und ermöglichte ihnen Zug um Zug den Ausbau ihrer Oberhoheit, bis schließlich auch der symbolträchtige Kalkberg wieder an den Herzog in Celle fiel.79 Zwar versuchte der Rat eine Berufung an das Reichskammergericht, doch musste er sich 1651 zu einer endgültigen, jetzt von Christian Ludwig diktierten Resolution verstehen. Die Herzoginwitwe Anna Eleonore sah sich veranlasst, in ihren Briefen an die Brüder auch dieses Thema zu berühren. Der „Streitt mit der Statt Luneburg“, die ihren Sohn Christian Ludwig „zu 3 Mall bey Ihr May. den Kayßer verklagt wegen der Festungen, die Mein Sohn vor die Statt bawen laßett“, werde zu Weiterungen führen, heißt es am 26. Oktober 1651, Truppen seien auf dem Marsch und ihr Sohn „willens die Mawern vndt welle der Statt Einzureißen“.80 Und am 22. November, nachdem man sich ohne militärische Gewalt hatte „vertragen“ können: „Der liebe Gott Straff doch alle wiederspenstigen vnt rebellen“.81 Wenn Rist jene ‚Völker‘, deren Segenswünsche für das herzogliche Brautpaar er in Worte fassen wollte, an einer konkreten Stadt zu exemplifizieren beabsichtigte, hätte er gewiss auch die Möglichkeit gehabt, sich etwa für Celle als die seit langem erwählte Residenz zu entscheiden. Dass er stattdessen ausgerechnet Lüneburg wählte, war ein manifestes Politikum – dies umso mehr, als der Kalkberg unmissverständlich „Dein Berg“ genannt und eng mit dem Herzog und seinem „Glük“ verknüpft wird.82 Rist nimmt demonstrativ Partei für den Landesfürsten und gegen die Partikularität des Rates einer Stadt. Es ist dabei nicht ganz ausgeschlossen, dass die Entscheidung des Poeten noch von einer dritten Seite mitbestimmt wurde. Johann und Heinrich Stern nämlich, denen 1625, 1634 und 1639 Privilegien und Schutzbriefe vom Landesherrn erteilt worden waren und die, Buchdrucker und also Handwerker, sozial zu den bürgerschaftlichen Oppo-
79 Ebd., Bd. 2, S. 228. 80 Auszugsweiser Abdruck des Schreibens bei Köcher (Anm. 62), Tl. 1, S. 715. 81 Ebd. 82 Auch das erwähnte Bildnis des Herzogs auf dem Titelverso des Epithalamiums zeigt über der linken Schulter Christian Ludwigs als einziges Hintergrunddetail stilisiert den Kalkberg.
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nenten des Rats zählen mussten, hatten keinen Zweifel daran gelassen, dass sie die Dinge in der Stadt durch den Herzog geregelt sehen wollten.83 So mag zur Option für die absolutistische Zentralgewalt noch die Option für die respublica litteraria in all’ ihren Untergliederungen getreten sein, als Rist sich entschloss, sein Gedicht auf die Hochzeit Christian Ludwigs provokativ mit einem Auftritt Lüneburgs und den lauten Jubelrufen der „Statt der Alten Sachsen“ für ihren Welfenherzog zu beenden.
4 Der längere Durchgang durch die Epithalamia, die Rist für zwei Fürstenhochzeiten geschrieben hat, zeigte den Wedeler Pastor und Poeten grundsätzlich als einen nicht unbeflissenen Freund der Hohen und Mächtigen. Das ist nicht verwunderlich im Feld einer so stark gesellschaftsgebundenen Literatur wie der des siebzehnten Jahrhunderts; Aufträge von höchster Stelle erbrachten nicht nur ansehnliche Gratifikationen, sondern bildeten, wichtiger noch, gewissermaßen das objektive Urteil über die hohe Qualität der Dichtungen eines Poeten ab. In der ersten „Hochzeitlichen Lob-Rede“, die bei ihm bestellt wurde, 1643 für den Sohn des dänischen Königs und Erzbischof von Bremen verfasst, gab Rist sich ausgesprochen konventionell, ja, er war geradezu ängstlich auf Vermeidung alles dessen bedacht, was nicht unmittelbar enkomiastischen Zielen dienen konnte. Das ließ sich sowohl am fast kompletten Verzicht auf das für ein Epithalamium nicht ganz unbedeutende Thema Liebe und Ehe wie an der in dieser Form unangemessen breiten Berücksichtigung des Bräutigamvaters ablesen. 1653 lag ein ganz anderer Befund vor. In der gesamten ersten Hälfte der Vnterthänigsten Lobrede an einen regierenden Herzog von Braunschweig-Lüneburg waren Liebe und Ehe Thema – und trat Rist zudem mit der Autorität des ermahnenden Geistlichen auf, der den Bräutigam für die Überwindung seiner ehefeindlichen Haltung pries, nicht ohne deutlich werden zu lassen, dass sich in dieser Haltung, so sehr ihr einerseits die virtus eines fürstlichen Helden zugrundeliege, andererseits doch auch Verantwortungs- und Rücksichtslosigkeit zeige, wie sie Adligen oft genug eigen sei. In dieser Form steht das natürlich nicht im Poem, Kenner gerade des jungen Christian Ludwig aber konnten einen solchen Skopus mühelos erschlie-
83 Reinecke (Anm. 78), Bd. 2, S. 271 u. 277. – Korrespondenz der Firma Stern mit der herzoglichen Verwaltung in Celle findet sich auch im Aktenbestand zur Hochzeit von 1653; siehe NLA: Dep. 84 B Nr. 556, fol. 377, 378, 440, 524, 542 u. 599–601.
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ßen. Das so ganz andere Auftreten Rists im Epithalamium von 1653 erklärt sich gewiss aus dem erheblich gewachsenen Selbstbewusstsein des Fünfundvierzigjährigen (gegenüber dem Fünfunddreißiger); sehr wohl möglich dürfte aber auch sein, dass der Pastor aus Wedel Kenntnis von der Haltung des ihm mindestens seit 1651 bekannten Celler Oberhofpredigers Michael Walther (1593–1662) hatte, für den das „Wächter- und Strafamt“ zum „Selbstverständnis eines lutherischen Hofpredigers“ gehörte.84 Den Herzog kritisch hernehmend, konnte Rist sich durchaus im Einklang mit einem angesehenen Kollegen betrachten. In ganz anderer Weise bemerkenswert war das Epithalamium für Christian Ludwig, insofern Rist mit der Nennung Lüneburgs entschieden Partei nahm und damit auf jeden Fall den Rat der Salzstadt brüskieren musste, dem er (ohne allerdings dabei die Bürgerschaft Lüneburgs zu vergessen) drei Jahre später nichtsdestoweniger seine Neüen Musikalischen Katechismus Andachten widmete. Schließlich war für 1643 das Unikum einer simulierten Festbeschreibung als zweiter Teil des Epithalamiums zu entdecken. Hier mochte man die Originalität und Souveränität finden, die man in der „Lob-Rede“ vermisste. Wesentlicher indessen dürfte das hier zwar nur schwach, aber doch erkennbar durchscheinende Palimpsest des Humanismus sein, der als Konstante des Dichtungsverständnisses und des Werks von Johann Rist künftig vielleicht stärker in den Blick zu rücken wäre.
84 Sommer: Gottesfurcht (Anm. 27), S. 46–48, Zitat S. 47; Sommer exemplifiziert diese Seite von Walthers Predigten allerdings an Quellen vor der (1642 erfolgten) Berufung Walthers nach Celle. Walther erscheint zum ersten Mal objektiviert im Gesichtsfeld unseres Autors, als er über Rists Sabbahtische Seelenlust (1651) eine Art Gutachten abgibt; in Johann Rist: Sabbahtische Seelenlust/ Daß ist: […] Lieder über alle Sontägliche Evangelien deß gantzen Jahres/ […] Gott zu Ehren und Christlichen Hertzen zu nützlicher Erbauung abgefasset und heraus gegeben. Lüneburg 1651, S. 30–32 führt Walther aus, er sei sehr erfreut, dass Rist brieflich Kontakt mit ihm aufgenommen habe, hätte er doch seinerseits längst gewünscht, in „Kund- und Freündschafft“ (S. 30) mit dem berühmten Mann zu treten. Fünf Jahre später wiederum nennt der Widmungsbrief (an Bürgermeister, Rat und Bürgerschaft der Stadt Lüneburg!) in Johann Rist: Neüe Musikalische Katechismus Andachten/ Bestehende In […] Liederen über den gantzen heiligen Katechismum/ oder die Gottselige Kinder-Lehre […]. Dem Grossen Gott zu allerschuldigsten Ehren/ Frommen Christlichen Hertzen aber zu […] Erbauung abgefasset/ und zum Drukke übergeben. Lüneburg 1656, S. 3–16, hier 6 f., Michael Walther einen „hochgeneigte[n] Freund“; Anlass für die Äußerung ist, dass Walther, von Rist erneut um ein kleines Gutachten gebeten, diesmal mit einer veritablen „gahr schönen Vorrede“ reagiert habe, die denn auch abgedruckt wird.
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Fremdsprachige Modelle und Nachahmung in den weltlichen Liedern Johann Rists […] sonderlich aber sind sie [die jungen Dichter] deßwegen nicht zu schelten/ sondern vielmehr zu loben/ wenn ihr vornehmstes Absehen dahin ist gerichtet/ daß sie sich gerne fremde Sprachen dadurch wollen bekant machen/ welches denn auch mich in meinen jungen Jahren vornehmlich hat angereitzet/ unterschiedliche/ in Lateinischer/ Welscher/ Frantzösischer und anderen Sprachen gesetzte Lieder und Gedichte in die Teutsche überzubringen/ denn solche Schriften sind gleichsahm der Wetzstein/ an welchen junger Leute Verstand und Ubung viehlmals mit ihrem sehr merklichen Nutzen und Ersprießligkeit wird geschliffen oder geschaerffet.1
In diesem Zitat aus der Vorrede zu den Neuen Himmlischen Liedern von 1651 charakterisiert Johann Rist die Translation2 fremdsprachiger Schriften als „vornehmstes Absehen“ und weist auf den Nutzen einer solchen Übung für die Dichtkunst hin: Das Studium und die Translation fremdsprachiger Texte würden in einem ersten Schritt nicht nur das Erlernen von Fremdsprachen ermöglichen, sondern in weiterer Folge auch erlauben, den dichterischen Verstand zu „schleifen“ oder zu „schärfen“.3 Dies ist darauf zurückzuführen, dass das Ziel der Translation
1 Johann Rist: Neue Himmlische Lieder (1651). Kritisch hg. und kommentiert von Johann Anselm Steiger. Musik von Andreas Hammerschmidt, Michael Jacobi, Jacob Kortkamp, Petrus Meier, Hinrich Pape, Jacob Praetorius, Heinrich Scheidemann, Sigmund Theophil Staden. Kritische Edition der Notentexte von Konrad Küster. Berlin 2013, S. 30, Z. 164 – S. 31, Z. 172. 2 Wir verwenden in diesem Aufsatz den Terminus ‚Translation‘ und nicht ‚Übersetzung‘. Während der Begriff ‚Übersetzung‘ im engeren Sinne nur den sprachlichen Übergang von einer in die andere Sprache meint, impliziert der weiter gefasste Begriff ‚Translation‘ einen interkulturellen Übertragungsprozess, der den sprachlichen und geographischen Übergang, eine stilistische Umwandlung und eine formale Übertragung (beispielsweise die Prosifizierung eines Gedichts) umfasst. Vgl. Katharina Reiß, Hans J. Vermeer: Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie. Tübingen 1984 (Linguistische Arbeiten 147), S. 6–17. 3 In der Vorrede zur Translation von Tassos „Il Padre di Famiglia“ gibt Rist an, sich mit „sonderbarer Lust“ der Translation zu widmen: „So geliebe Dir [dem Leser] demnach zu wissen/ daß die sonderbare Lust/ welche Jch fast jederzeit getragen/ nebenst Erlernung guhter Künste/ auch in fremden Sprachen/ bei mühssigen Stunden Mich ein weinig zu üben/ […]/ und also den Wissenschafften unterschiedlicher Sprachen/ mit grösserem Fleisse nachzuhängen.“ Johann Rist: Der Adeliche Hausvatter. Lüneburg 1650. Moderne Ausgabe: Johann Rist: Sämtliche Werke. Bd. 7: Prosaabhandlungen. Philosophischer Phoenix. Rettung des Phoenix. Teutsche Hauptsprache. Adelicher Hausvatter. Hg. von Eberhard Mannack, unter Mitwirkung von Helga Mannack und Klaus Reichelt. Berlin 1982 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 99),
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darin besteht, die konstituierenden formalen und inhaltlichen Elemente eines Textes aus der Ausgangssprache in die Zielsprache zu übertragen. Dadurch ist ein Lerneffekt in lexikalischer, syntaktischer, grammatischer, aber auch formalstilistischer Hinsicht gegeben. Indem Rist hier die bekannte Opitzsche Metapher des „Wetzsteins“ aus dem Buch von der Deutschen Poeterey (1624) von der Liebeslyrik auf die fremdsprachigen Modelle überträgt, reiht er sich in die direkte Nachfolge des schlesischen Dichters ein: Bereits Opitz hatte die Translation als „eine guete art der vbung“ gepriesen, um von fremdsprachigen Dichtern „den rechten grieff“, das heißt die verschiedenen Etappen der literarischen Produktion (inventio, dispositio, elocutio), zu erlernen.4 Im Kontext der patriotischen und kulturpolitischen Bestrebungen im Deutschland des 17. Jahrhunderts stellt die von Rist und Opitz erwähnte sprachliche und formale Bereicherung der Dichtung den Ausgangspunkt für die Schaffung einer deutschsprachigen Lyrik dar, die mit den bedeutenden europäischen Literaturen rivalisieren soll. Dies lässt sich vor allem anhand der Konzepte der imitatio und der aemulatio zeigen,5 die in engem Zusammenhang mit der Translation stehen. Schließlich ist – wie etwa Peter Hess festgestellt hat – ein zu übersetzender Text letztlich nichts anderes als ein zu imitierendes Modell (exemplum): Während in einem ersten Schritt eine dem fremdsprachigen Modell ebenbürtige Nachahmung gemäß dem Konzept der imitatio geschaffen werden sollte, zielte die aemulatio darauf ab, eine das Vorbild übertreffende Neuschöpfung zu entwerfen.6 Auf diese Weise wollten sich die deutschen Dichter im Kanon vor allem
Vorrede, S. 175. Zu Rists Tasso-Übersetzung vgl. Achim Aurnhammer: Torquato Tasso im deutschen Barock. Tübingen 1994 (Frühe Neuzeit 13), S. 248–260 sowie den Beitrag von Barbara Becker-Cantarino in diesem Band. 4 „Eine guete art der vbung aber ist/ das wir vns zueweilen auß den Griechischen vnd Lateinischen Poeten etwas zue vbersetzen vornehmen: dadurch denn die eigenschafft vnd glantz der wörter/ die menge der figuren/ vnd das vermögen auch dergleichen zue erfinden zue wege gebracht wird. Auff diese weise sind die Römer mit den Griechen/ vnd die newen scribenten mit den alten verfahren.“ Martin Opitz: Buch von der deutschen Poeterey. Studienausgabe hg. von Herbert Jaumann. Stuttgart 2002 (Universal-Bibliothek 18214), S. 71 (Das VIII. Capitel, Beschluss dieses Buches). 5 Die erste Stufe im Nachahmungsverfahren (‚interpretatio‘), die einer wörtlichen Übersetzung gleichzusetzen ist, wurde von den Dichtern und Theoretikern des 17. Jahrhunderts als „sklavisch“ und „unwürdig“ abgelehnt. Vgl. Arno Reiff: Interpretatio, imitatio, aemulatio. Begriff und Vorstellung literarischer Abhängigkeit bei den Römern. Würzburg 1959 (zugl.: Dissertation, Universität Köln, 1958), S. 50 f. sowie Peter Hess: Poetik ohne Trichter. Harsdörffers „Dicht- und Reimkunst“. Stuttgart 1986 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 165), S. 88 f. 6 Vgl. Hess (Anm. 5), S. 98; Nicola Kaminski: Imitatio auctorum. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 4. Hg. von Gert Ueding. Darmstadt 1998, Sp. 235–285 sowie Barbara Bauer: Aemu-
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der französischen, italienischen und niederländischen Literatur behaupten, da die Nachahmung eines eindeutig identifizierbaren Modells den Vergleich zwischen den beiden und somit ein Urteil über die ästhetische und stilistische Qualität der Imitation ermöglicht.7 Wenn wir nun einen Blick in Rists Dichterwerkstatt werfen, fällt auf, dass die weltliche lyrische Produktion des holsteinischen Dichters im Zeichen der imitatio und aemulatio zu stehen scheint. Neben der Sammlung Des Daphnis aus Cimbrien Galathee (1642), in der zwei von vierzig weltlichen Liedern eindeutig auf fremdsprachige Modelle zurückgehen,8 sticht hier vor allem Des Edlen Dafnis aus Cimbrien besungene Florabella (1651) mit acht explizit gekennzeichneten Nachahmungen bei einer Gesamtzahl von fünfzig Liedern hervor. In der Vorrede zu Florabella gibt der Herausgeber Peter Meier an, dass Rist die Lieder „zu seiner Lust und Liebe zu Sprachen/ guhten Theils aus dem Welschen/ Frantzösischen und Spanischen gesetzet haben [soll]“.9 In der Tat gehen fünf Lieder eindeutig auf französische Modelle sowie jeweils zwei auf italienische und spanische Modelle zurück. In Anbetracht des bedeutsamen Einflusses französischer Lyrik auf die deutsche Literatur des 17. Jahrhunderts10 wollen wir uns im Folgenden
latio. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 1. Hg. von Gert Ueding. Darmstadt 1992, Sp. 141–187. 7 Vgl. Jan-Dirk Müller: Texte aus Texten. Zu intertextuellen Verfahren in frühneuzeitlicher Literatur, am Beispiel von Fischarts „Ehzuchtbüchlein“ und „Geschichtklitterung“. In: Intertextualität in der Frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven. Hg. von Wilhelm Kühlmann, Wolfgang Neuber. Frankfurt a. M. [u. a.] 1994 (Frühneuzeit-Studien 2), S. 63–109, hier S. 71. 8 Es handelt sich um folgende Gedichte: (1) „Jhr helle Thränen sagt mir doch, Aus dem hochgelahrten Frantzösischen Poeten Johann: Bonefon.“ Johann Rist: Des Daphnis aus Cimbrien Galathee. Hamburg 1642, fol. E 3v–4r. Das Modell stammt aus der Sammlung La Pancharis (Paris 1587) des französischen Dichters Jean Bonnefons (1554–1614), die vorwiegend neulateinische Gedichte enthält. (2) „Myncia du Glantz der Erden, Aus eines hochgelehrten Niederländischen Poeten Amoribus.“ Ebd., fol. E 4v–6r. Der Autor konnte bisher nicht identifiziert werden. Hinzu kommt noch (3) „Daphnis gieng für wenig Tagen“. Ebd., fol. B 1v–3r. Bei diesem Gedicht handelt es sich um eine Nachahmung zweier Oden von Martin Opitz, nämlich „Coridon der gieng betrübet“ und „Als ich nechst war ausspatzieret“. Vgl. Søren Terkelsen. Astree Siunge-Choer. Første Snees, 1648. Die dänischen Lieder mit ihren deutschen Vorlagen von Gabriel Voigtländer und Johann Rist. Hg. von Erik Sønderholm. Neumünster 1976 (Kieler Studien zur deutschen Literaturgeschichte 12), S. 215. 9 Johann Rist: Des Edlen Dafnis aus Cimbrien besungene Florabella. Hamburg 1651, Vorrede, fol. a 3v. 10 Siehe beispielsweise die Darstellungen von Anne Gülich: Opitz’ Übersetzungen aus dem Französischen. Diss. masch. Universität Kiel 1972 sowie Renate Jürgensen: Die deutschen Übersetzungen der „Astrée“ des Honoré d’Urfé. Tübingen 1990 (Frühe Neuzeit 2).
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auf die Imitationen französischer Modelle konzentrieren. Dabei soll es die vergleichende Analyse der fremdsprachigen Modelle und der Nachahmungen Rists ermöglichen, die drei Etappen lyrischer Produktion (inventio, dispositio, elocutio) zu untersuchen, um anschließend den Nachahmungsprozess (imitatio oder aemulatio) nachzuvollziehen. Ausgehend von dieser Analyse soll die Bedeutung der Nachahmungsdichtung für das Schaffen des „literarischen und kulturpolitischen Statthalters im Norden Deutschlands“11 beleuchtet werden. Dazu werden der Analyse Beobachtungen zur Stellung der Nachahmungspraxis im Dichtungsdiskurs der Frühen Neuzeit sowie Aussagen einzelner Dichter und Theoretiker aus dem Umkreis Rists zur Translation vorangestellt. Ferner soll ein Blick auf die Wahl der Modelle Rists im Kontext der literarischen und kulturpolitischen Bestrebungen des Dichters geworfen werden.
1 Nachahmungspraxis und Dichtungsdiskurs im 17. Jahrhundert Abgesehen von den systematisch verfolgten Translationsarbeiten der im Jahre 1617 gegründeten Fruchtbringenden Gesellschaft12 finden sich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts etwa in Opitz’ Buch von der Deutschen Poeterey (1624) oder in Rists Musica Teutonica (1634) nur vereinzelte Bemerkungen zur Wichtigkeit der Translationstätigkeit. Gleichwohl lassen sich aus diesen Aussagen zwei Hauptfunktionen der Translation ableiten: Die erste – kulturpolitische – Funktion besteht darin, dass es die Translation erlaubt, den deutschsprachigen Lesern ausländische Werke vor allem kanonisierter Autoren zugänglich zu machen. Die zweite – pädagogisch-propädeutische – Funktion erklärt sich dadurch, dass es die Translation erlaubt, Fremdsprachen zu erlernen sowie sich die formal-stilistischen Charakteristiken der bedeutenden europäischen Dichter anzueignen.13 Rist weist auf diese Funktionen und somit auf die Nachahmung fremdsprachiger
11 Vgl. Klaus Garber: Literarischer und kulturpolitischer Statthalter im Norden Deutschlands. Ein Portrait Johann Rists. In: „Ewigkeit, Zeit ohne Zeit“. Gedenkschrift zum 400. Geburtstag des Dichters und Theologen Johann Rist. Hg. von Johann Anselm Steiger. Neuendettelsau 2007 (Testes et testimonia veritatis/ Zeugen und Zeugnisse der Wahrheit 5), S. 9–36. 12 Vgl. beispielsweise Winfried Lange: Fruchtbringende Gesellschaft und Übersetzung im 17. Jahrhundert. In: Geschichte der Übersetzung. Beiträge zur Geschichte der neuzeitlichen, mittelalterlichen und antiken Übersetzung. Hg. von Bogdan Kovtyk, Hans-Joachim Solms, Gerhard Meiser. Berlin 2002 (Angewandte Sprach- und Übersetzungswissenschaft 3), S. 89–107. 13 Vgl. Hess (Anm. 5), S. 89.
Fremdsprachige Modelle und Nachahmung in den weltlichen Liedern Johann Rists
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Modelle erstmals in der Vorrede zu seiner ersten Gedichtsammlung Musica Teutonica aus dem Jahre 1634 hin: Mit der Aufforderung, dass die deutschen Dichter es Poeten wie Petrarca, Ariost oder Ronsard „gleich thun sollen“, verknüpft Rist die Hoffnung, dass „durchauß nicht zu zweiffelen [ist]/ daß/ gleich wie die Jtaliäner […], die Frantzosen […], die Engelländer […], die Niederländer […] auch wir in kurtzem mehr Opitios haben werden“.14 In der Nachfolge der Opitzschen Literaturreform zeigt sich hier deutlich das Bestreben, eine deutsche Literatur zu schaffen, die sich mit den bedeutenden europäischen Literaturen messen kann.15 Auf welche Weise dies anhand der Nachahmungspraxis geschehen kann, darüber finden sich in den Paratexten der verschiedenen Gedichtsammlungen Rists aus den Jahren bis zur Veröffentlichung der Florabella16 jedoch keine genauen Angaben. In keiner Vorrede verwendet Rist eindeutig den Begriff „nachahmen“, er spricht vielmehr von „überbringen“,17 sowie – möglicherweise in Anlehnung an Luthers Sendbrief vom Dolmetschen (1530)18 – von „verdolmetschen“ und „Dolmetschung“.19 Dasselbe Phänomen findet sich auch bei anderen deutschen Dichtern und Theoretikern aus dem Umkreis Rists: Während Opitz den Begriff „entlehnen“20 erwähnt und Schottelius „transferiren und verteutschen“21 gebraucht, sind Harsdörffer und Birken anscheinend die einzigen, die die Nachahmung im Geiste der antiken Imitationstheorie als ein progressives Lernmodell definieren und problematisieren. Im Kapitel „Über die Nachahmung“ im dritten Teil seines Poetischen
14 Johann Rist: Musa teutonica. Das ist: Teutscher Poetischer Miscellaneen erster Theil […]. Hamburg 1634, Vorrede, fol. A 3v. 15 „[…] wie doch wir in vnserer Sprache es ihnen gleich thun wollen“. Ebd., Vorrede, fol. A 3r. 16 Es handelt sich hierbei um die Anthologien Musa Teutonica (1634), Poetischer Schauplatz (1646) und Neüer Teütscher Parnass (1652). 17 Rist: Neue Himmlische Lieder (Anm. 1), S. 31, Z. 169 f. 18 Luther hatte sich in seinem 1530 verfassten Sendbrief vom Dolmetschen gegen die wörtliche Übersetzung ausgesprochen und für eine Translationstechnik plädiert, die den Sinn des Ausgangstextes verständlich und ausgehend von der Sprache des Volkes wiedergibt: „Denn man muß nicht die Buchstaben in der lateinischen Sprache fragen, wie man soll deutsch reden, wie die Esel tun, sondern man muß die Mutter im Haus, die Kinder auf der Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt drum fragen und denselbigen auf das Maul schauen […].“ Zitiert in: Jürgen von Stackelberg: Literarische Rezeptionsformen. Übersetzung, Supplement, Parodie. Frankfurt a. M. 1972 (Schwerpunkte Romanistik 1), S. 13. 19 Rist: Hausvatter (Anm. 3), Vorrede, S. 179 f. 20 Opitz: Poeterey (Anm. 4), S. 71. 21 Justus Georg Schottelius: Ausführliche Arbeit von der Teütschen Haubtsprache. Braun schweig 1663, S. 1221.
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Trichters (1653) illustriert etwa Harsdörffer22 die Nachahmungspraxis anhand des Vergleiches der Dichtkunst mit der Malerei: Wie ein Maler, der sich die Charakteristiken der Farben und deren Mischmöglichkeiten untereinander sowie das Spiel von Schatten und Licht durch das Nachzeichnen eines Modells aneignet, soll der Dichter mit dem Studium der exempla beginnen, um sich im Anschluss daran die beispielhaften Elemente des Modells zu eigen zu machen.23 Darüber hinaus definiert Harsdörffer den Nachahmungsprozess als ein stufenweises Lernmodell: Ein angehender Dichter soll zunächst „geringe und leichte Sachen nachkünstlen“, um sich nach Erwerb der nötigen Übung und Erfahrung anschließend der „schweren Arbeit“ zu widmen. Ferner verwendet Harsdörffer die Begriffe „dolmetschen“ und „nachahmen“ quasi als Synonyme, was zusätzlich auf die bereits erwähnte Parallelität des Translations- und des Imitationsprozesses hinweist. Birken24 erweitert die imitatio-Trias sogar auf ein siebenstufiges Lernmodell: Als Grundvoraussetzung für das Erlernen der Dichtkunst nennt Birken im Sinne der antiken Rhetorik die natürliche Begabung (ingenium), über die der angehende Dichter verfügen muss (1). Nachdem er sich das notwendige Regelwerk („Prosodia oder Dichtlehre“, praecepta) (2) angeeignet hat, soll der Dichter seine ersten Kompositionen einem erfahrenen Dichter zum Urteil vorlegen (3). Anschließend soll er ausgehend von Beispielen der „bästen Latinischen Poeten“ die Etappen der inventio („ErfindKünste“) und der elocutio („Wortzierreden“) erlernen (4). Bevor er eigenständig Dichtungen verfasst, soll der Dichter sich dann in der „Überset-
22 Harsdörffer war wie Rist Mitglied der „Fruchtbringenden Gesellschaft“. Vgl. Renate Jürgensen: Melos conspirant singuli in unum. Repertorium bio-bibliographicum zur Geschichte des Pegnesischen Blumenordens in Nürnberg (1644–1744). Wiesbaden 2006 (Beiträge zum Buchund Bibliothekswesen 50), S. 23. 23 „Ein Mahler aber muß anfänglich andere geringe Gemähle für die Hand nehmen/ selbe nachzeichnen/ die Freundschaft und Feundschaft der Farben erlernen/ ihre Mischung Liecht und Schatten verstehen/ und wann er darinnen geübet/ so ist die Natur sein bester Lehrmeister deren er Kunstrichtig nachzuahmen verbunden ist. Gleicher Weise muß der Redner erstlich andre wolgestelte Reden oder Gedichte lesen/ ihre wolgeführte Wort beobachten/ ihnen die Meisterstriche/ die zierlichen Figuren/ die natürlichen Beschreibungen/ Wortgleichheit/ Gegensätze etc. ablernen/ und als dann seine Gedanken zu Raht ziehen/ seinen Jnhalt entwerfen/ nach allen Umbständen überlegen/ und zuletzt mit schicklichen Worten begreiffen und ausbilden.“ Georg Philipp Harsdörffer: Prob und Lob der Teutschen Wolredenheit. Das ist: deß Poetischen Trichters Dritter Theil. Nürnberg 1653. Faksimile-Ausgabe. Hildesheim, New York 1971, S. 36. 24 Birken gibt in seiner handschriftlichen Autobiographie an, dass er „Johannes Ristius, Poëtarum hoc seculo vernaculi metri clarißimus“ 1646 auf der Durchfahrt durch Wedel kennengelernt habe. Vgl. Sigmund von Birken: ΒΙΟΓΡΑΦΙΑ Possessoris. In: Sigmund von Birken. Werke und Korrespondenz. Hg. von Dietrich Jöns und Hartmut Laufhütte. Bd. 14. Tübingen 1988 (Neudrucke deutscher Literaturwerke, Neue Folge 41), fol. 31r–v.
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zung oder Translation“ (interpretatio) von Modellen üben (5). Um im Anschluss daran die Qualität seiner Nachahmung zu beurteilen, soll er seine Translation mit dem Modell vergleichen („wie man etwas machen müße/ das gut gemacht sei“, imitatio) (6). Die letzte Etappe entspricht schließlich der freien Nachahmung eines Modells, bis der Dichter die Meisterschaft erreicht hat (aemulatio) (7).25 Obwohl die Vorreden zu Rists Anthologien keine derart systematischen Betrachtungen zur Nachahmungsproblematik enthalten, lassen sich aus der Vorrede zur Prosaschrift Der Adeliche Hausvatter von 1650, einer Übertragung von Tassos Il Padre di Famiglia (1580), wichtige Erkenntnisse über Rists Translationstechnik gewinnen. Die erste Erkenntnis betrifft die Frage, ob man eine wörtliche oder eine sinngemäße Translation vorziehen sollte: Betreffend nun die Dolmetschung dieses Meines Adelichen Hausvatters an sich selber; So verhalte Jch dem günstigen Leser nicht/ daß Jch den Wohrten deß Franzosen nicht allezeit gerade bin nachgegangen/ sondern nur deroselben rechten Verstand und eigentliche Meinung zu verzeichnen Mir angelegen sein lassen.26
25 Für nähere Ausführungen vgl. Hess (Anm. 5), S. 79–81. 26 Rist: Hausvatter (Anm. 3), S. 178. Eine ähnliche Aussage zur Translationsmethode findet sich bei Harsdörffer (Anm. 23), S. 37: „Deßwegen man dem Wortverstand zurucke lassen und die Meinung allein dolmetschen muß“. – Rist weist an dieser Stelle der Vorrede darauf hin, dass er seine Übertragung von Tassos Werk nicht ausgehend vom italienischen Original, sondern anhand der französischen Fassung angefertigt hat. Es handelt sich hierbei um Jean Baudoins Übertragung L’Esprit, ou L’Ambassadeur, Le Secrétaire, et le Père de Famille, Traittez excellens de Torquato Tasso. Mis en nostre langue, par I. Baudoin (Paris 1632). Baudoin (1590–1650) war einer der wichtigsten französischen Übersetzer der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Er hat Werke wie Philip Sidneys Arcadia (1624) und Tassos La Gerusalemme liberata (1626) ins Französische übertragen. Vgl. Stackelberg (Anm. 18), S. 42 f. Rist gibt für die Wahl der französischen Fassung einen praktischen Grund an: Er habe sich „mit der Französischen Ubersetzung deß Baudoins müssen behelffen/ dieweil Jch daß Jtaliänische […] nicht gewust zur Hand zu bringen.“ Eine Rolle spielt hier sicherlich die Tatsache, dass Rists Hamburger Freund Eberhard Möller dem Dichter die Translation der französischen Fassung vorgeschlagen hatte. Rist erklärt ferner, dass er seiner Translation Erläuterungen beigefügt hat, „durch welche alles fein richtig erklähret und dem teütschen Leser also müchte vorgestellet werden/ daß derselbe so wol Seine Lust/ als Nutzen daraus könte schöpfen“. Rist: Hausvatter (Anm. 3), S. 177. Rists Translation stellt also keine Imitation im strengen Sinne dar, sondern ist vielmehr als Übertragung bzw. Neuschöpfung einzustufen. Vgl. Frederick M. Rener: Opitz’ Sonett an die Bienen. In: Europäische Tradition und deutscher Literaturbarock. Internationale Beiträge zum Problem von Überlieferung und Umgestaltung. Hg. von Gerhart Hoffmeister. Bern, München 1973, S. 67–84, hier S. 80 sowie Bauer (Anm. 6), Sp. 174 und Aurnhammer (Anm. 3), S. 254–260.
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Rist gibt hier also dem Signifikaten den Vorrang gegenüber dem Signifikanten und verwirft somit deutlich die Stufe der interpretatio, der wörtlichen Translation, die sich lediglich zum Erlernen und Üben einer Fremdsprache eigne: […] wen man die Reden allemahl so solte verteütschen/ wie Sie im Französischen oder Welschen eigentlich lauten/ so würde so närrisch und kauderwelsch Teütsch daraus werden/ daß eß kein mensch leicht könte errahten/ ob eß gehauen oder gestochen were.27
Die zweite Erkenntnis bezieht sich auf die sprachlich-stilistische Qualität der Translation in der Zielsprache: Es sol ja billig Eine jedwehde Dolmetschung also sein beschaffen/ alß wen daß Werk/ welches gedolmetscht wird/ uhrsprünglich in des Dolmetschen Muttersprache were beschrieben/ weswegen man sich bei weitem nicht so viel nach den Wohrten/ als deroselben eigentlichem Verstande hat zu richten. Mus demnach der jenige/ welcher von Ubersetzung Eines fremden Buches in die Teütsche Sprache wil urtheilen/ beider Sprachen wol kündig sein.28
Die dritte Erkenntnis schließlich stellt eine kritische und sehr ‚modern‘ anmutende Reflexion hinsichtlich einer Translation aus einer Ausgangssprache dar, die nicht der germanischen Sprachfamilie angehört. Die Translation beispielsweise aus dem Italienischen ins Französische sei aufgrund der ähnlichen lexikalischen, grammatikalischen und syntaktischen Struktur beider Sprachen laut Rist „eine geringe Mühe“. Dahingegen verhalte es sich bei der Translation aus einer nicht-germanischen Sprache ins Deutsche vollkommen anders: Mit der Teütschen Sprache aber wil sich dasselbe so leicht/ jaja fast gahr nicht thun lassen/ dieweil man wegen der gantz unterschiedlichen fremden Ahrten zu reden/ Seine Gedanken offt gahr vom Text mus ableiten und die Wohrte also verdolmetschen/ wie dieselbe nach Ahrt unserer Teütschen/ nicht aber der fremden/ auß welchen Sie gedolmetschet werden/ füglich und wol klingen […].29
27 Rist: Hausvatter (Anm. 3), S. 178. 28 Ebd., S. 178 f. Dies findet sich auch bei Harsdörffer (Anm. 23), S. 39: „Jch will sage[n]/ daß die beste Dolmetschung ist/ welche ma[n] für keine Dolmetschung hält.“ sowie bei Schottelius (Anm. 21), S. 1225: „Die rechte Meinung aus frömder Sprache entdekken/ und solche entdekkung mit guten Teutschen Worten und phrasibus verrichten/ das ist eine rechte gute untadelhafte verteutschung/ die erfolget aber nim[m]er/ es sey dan der Dolmetscher beyder Sprachen/ der überzusetzenden recht kundig und in die übergesetzet wird/ recht mechtig.“ 29 Rist: Hausvatter (Anm. 3), S. 179 f.
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Mit diesen Worten argumentiert Rist abermals für einen Translationsprozess, bei dem nicht einfach die lexikalischen Entsprechungen jedes einzelnen Wortes im Deutschen gefunden werden; er plädiert vielmehr für eine Vorgehensweise, bei der versucht wird, den Sinn der Aussagen in der Ausgangssprache zu erfassen, um diesen dann unter Berücksichtigung der linguistischen Eigenheiten des Deutschen in der Zielsprache wiederzugeben.
2 Rists Modelle In der Nachahmungs- und Translationspraxis kommt den zu imitierenden Modellen eine zentrale Rolle zu. Dabei wird die Wahl der Modelle von zwei Variablen bestimmt: Einerseits steht diese in Relation zum jeweils gültigen Literaturkanon, andererseits ist sie vom Urteilsvermögen des Dichters (iudicium) in Bezug auf den Wert und die Nützlichkeit abhängig, die das Modell im Hinblick auf eine Nachahmung besitzt.30 Um die ästhetische Qualität einer Nachahmung beurteilen zu können, muss es ferner möglich sein, die Imitation eindeutig deren Modell zuordnen zu können. Dies kann entweder auf explizite Weise geschehen, wenn der Autor des Modells genannt wird,31 oder implizit, wenn es sich um ein den Mitgliedern der respublica litteraria allgemein bekanntes Werk handelt.32 In der Dichtungskonzeption des 17. Jahrhunderts, die Begriffe wie „geistiges Eigentum“ oder „Urheberrecht“ in der heutigen Form noch nicht kannte, war die Übernahme dichterischer Elemente aus fremden Quellen eine Möglichkeit, die deutsche Dichtungssprache in Bezug auf Form und Inhalt zu bereichern. Bereits Opitz legitimiert diese Vorgehensweise, indem er sich auf das Beispiel Vergils stützt und verkündet, dass selbst dieser sich nicht geschämt habe, „gantze plätze
30 Vgl. Gert Ueding, Bernd Steinbrink: Grundriss der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode. 3. überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart 1994, S. 218 sowie Thomas Borgstedt: Nachahmung und Nützlichkeit. Renaissancediskurse, Poeterey und Monumentsonette. In: Martin Opitz (1597–1639). Nachahmungspoetik und Lebenswelt. Hg. von Thomas Borgstedt, Walter Schmitz. Tübingen 2002 (Frühe Neuzeit 63), S. 53–72, hier S. 59. 31 Dies ist der Fall, wenn es sich um die Nachahmung eines fremdsprachigen Modells handelt, wie beispielsweise Rists Gedicht „Du frecher Geist der du mir dreüest“, dessen Modell auf Théophile de Viau zurückgeht („Nach dem Frantzösischen des Theophils“). Rist: Florabella (Anm. 9), fol. B 2v–3v. 32 Dies ist der Fall bei Nachahmungen ausgehend von deutschsprachigen Modellen, wie etwa „Daphnis gieng für wenig Tagen“, einer Nachahmung von Opitz’ „Coridon der gieng betrübet“. Rist: Galathee (Anm. 8), fol. B 1v–3r. Vgl. Sønderholm (Anm. 8), S. 215 f.
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auß andern zu entlehnen“.33 Auch Harsdörffer bezeichnet diese Praxis noch rund dreißig Jahre später als „rümlichen Diebstahl“.34 Daraus folgt, dass die genaue Angabe der Quelle einer Nachahmung alles andere als verpflichtend war. Dies liegt vor allem daran, dass die imitierten exempla zu einem überwiegenden Teil dem damals gültigen Literaturkanon entnommen wurden und aus diesem Grund relativ leicht identifizierbar waren, wie dies etwa Harsdörffer in seinem Poetischen Trichter anmerkt: „Die Exempel beyzusetzen ist unvonnöhten/ weil solche bey den heutigen Poeten gemein und die Sache leicht zu verstehen.“35 Allerdings fügt Harsdörffer hinzu, dass ein Dichter, der „redlich handlen/ und fremdes Gut nicht für sein eignes ausgeben will“, der Nachahmung erklärende Zusätze „wie Herr Opitz: fast aus dem Niederländischen/ nach Ronsards Sonnet etc.“ beifügen kann.36 In diesem Fall ist also eine eindeutige Identifizierung des Modells gegeben und somit der intertextuelle Vergleich zwischen Vorlage und Nachahmung möglich.37 Die in Florabella enthaltenen Nachahmungen weisen in sechs von neun Fällen eindeutige Quellenangaben auf, wie die folgende Übersicht zeigt: Modelle Französische Modelle (1) An den mißgünstigen Neidhart […]. Nach dem Frantzösischen des Theophils/ welches Anfang ist: [es folgt die erste Strophe].38 (2) Dafnis Klaaglied […]. Etlicher mahssen aus dem Paradis d’Amour.39
33 Opitz: Poeterey (Anm. 4), S. 71. 34 Vgl. Hess (Anm. 5), S. 83 f. 35 Harsdörffer (Anm. 23), S. 41. 36 Ebd., S. 41. 37 Barbara Bauer bezeichnet das komplexe Verhältnis zwischen Modell und Nachahmung als einen spezifischen Fall intertextueller Beziehung, in der „ein Autor (2) in einem Werk (2) ein Werk (1) von Autor (1) unter Berufung auf ein akzeptiertes Regelcorpus oder einen Musterkanon [imitiert] und diese Operation durch einen oder mehrere Indikatoren [signalisiert].“ Vgl. Barbara Bauer: Intertextualität und das rhetorische System der Frühen Neuzeit. In: Intertextualität in der Frühen Neuzeit (Anm. 7), S. 31–61, hier S. 35. 38 „Du frecher Geist der du mir dreüst“ (Nr. 5). Rist: Florabella (Anm. 9), fol. B 2v–3v. Das Modell „Un fier demon qui me menace“ stammt von Théophile de Viau: Première partie, Les Œuvres du Sieur Théophile, reveuës, corrigées, augmentées, troisiesme édition. Paris 1623. Kritische Edition von Guido Saba. Bd. 1. Paris 1999 (Sources classiques 11), S. 166 f. 39 „Florabella liebstes Leben“ (Nr. 6). Rist: Florabella (Anm. 9), fol. B 4r–5r. Das Modell „Mon tout, ma chere vie, & ma seule Maistresse“ stammt aus [P. D. L.]: Le paradis d’amour, ou la chaste matinée du fidell’ Amant. Rouen 1606, fol. 47r.
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Modelle (3) Die velohrne Fillis wird ihrem getreüsten Liebhaber mit Freüden wieder gegeben. Etlicher mahssen aus dem Französischen des Theophils: [es folgt die erste Strophe].40 (4) Dafnis Klaglied […] Nach dem Französischen des Herren Theophil: [es folgen die ersten zwei Strophen].41 (5) An seine verliebte Mitgesellen. Auß dem Französischem [sic] des Herren von Rossett/ welches also anfähet : [es folgt die erste Strophe].42 Italienische Modelle
(6) Dafnis versichert die Florabellen seiner ewig beständigen Liebe/ Etlicher mahssen nach dem Italiänischen. Amarylli mia bella.43 (7) Dafnis wünschet ein besseres Wetter […] Mehrentheils auß dem Jtaliänischen.44
Spanische Modelle
(8) Die hochedle Dorilis ist doch nichtes anderes als ein stets brennendes durchdringendes Feür. Zum Theil aus dem Spanischen.45 (9) Des fast gahr verzweifelten Dafnis letzte Klage […] NB. Dieses Lied ist fast gantz und gahr auß dem Spanischen übergesetzet.46
Die Synopsis lässt erkennen, dass die französischen Modelle – und hier vor allem die Gedichte Théophile de Viaus – einen besonders wichtigen Platz in der Sammlung einnehmen. Gerade am Beispiel des französischen Dichters lässt sich, abgesehen von den eindeutig gekennzeichneten Nachahmungen, beobachten, auf welche Weise Rist wertvolle Hinweise zur Herkunft der Modelle in verschiedenen Paratexten und Gedichten gibt. Hierbei lassen sich drei verschiedene Ebenen ausmachen: 1. Hinweise auf das Ursprungsland des Modells; 2. Hinweise auf beispielhafte Dichter; 3. Hinweise darauf, wie Rist in Besitz des Ausgangstextes gelangte.
40 „Mein’ Hofnung blüht die Fillis lebt“ (Nr. 12). Rist: Florabella (Anm. 9), fol. C 7v–D 1r. Das Modell „Mon espérance refleurit“ stammt von Théophile de Viau (Anm. 38), S. 181. 41 „Wenn ich dein ärmlein Galathe“ (Nr. 19). Rist: Florabella (Anm. 9), fol. E 5v–7r. Das Modell „Quand tu me vois baiser tes bras“ stammt von Théophile de Viau (Anm. 38), S. 194 f. 42 „Verliebte Mitgesellen“ (Nr. 32). Rist: Florabella (Anm. 9), fol. H 7v–J 1r. Das Modell „O troupe vagabonde“ stammt von François de Rosset: Les délices de la poésie françoise, ou Recueil des plus beaux vers de ce temps. Paris 1618, S. 1094. 43 „Florabella meine Schöne“ (Nr. 13). Rist: Florabella (Anm. 9), fol. E 7v–F 1r. Das Modell „Amarilli mia bella“ stammt von Giulio Caccini: Le nuove musiche. Florenz 1601, S. 12. 44 „Izt da die Lufft so gahr vom Regen“ (Nr. 20). Rist: Florabella (Anm. 9), fol. E 7v–F 1r. Der Autor des Modells konnte bisher nicht identifiziert werden. 45 „Der Æthna brennt so grausam nicht“ (Nr. 16). Rist: Florabella (Anm. 9), fol. D 7v–E 1r. Der Autor des Modells konnte bisher nicht identifiziert werden. 46 „Kan denn meiner Thränen Fluth“ (Nr. 40). Rist: Florabella (Anm. 9), fol. K 7v–L 1r. Der Autor des Modells konnte bisher nicht identifiziert werden.
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Bezüglich der ersten Ebene erhalten wir Hinweise in der Widmungsvorrede zur Florabella, in der der Herausgeber Peter Meier erklärt, dass Rist zahlreiche Lieder „zu seiner Lust und Liebe zu Sprachen/ guhten Theils aus dem Welschen/ Frantzösischen und Spanischen gesetzet haben [soll]“.47 Ferner enthält Florabella ein Gedicht, in dem Rist angibt, dass er die Namen aller Figuren der Sammlung aus fremdsprachigen Quellen übernommen habe, womit er explizit die französischen, italienischen und spanischen Modelle anspricht, wie dies in der vierten Strophe des Gedichts zu sehen ist: Fillis komt auß Frankreich her/ Perlemund weit übers Meer Florabell’ aus Welschen Landen/ Galathe’ ist da gestanden Wo Diana pflag zu baden/ Rosimind’ ist Spannisch gahr […]48
In der sechsten Strophe des bereits zitierten Gedichts weist Rist nun auf der zweiten Ebene auf die Dichter Petrarca, Ronsard und Théophile de Viau hin, die ihm als Modelle dienten: Ronsard und der Theophil’ Führten ihn zu diesem Ziel/ Auch Petrarch hat ihm gewiesen Wie die Tugend wird gepriesen. […]
Weitere Informationen zu beispielhaften Dichtern finden wir auf den Titelkupfern der zweiten Auflage der Florabella (1656).49 Sie zeigen den lautespielenden Dichter als Apollo, der auf seiner rechten und linken Seite von Jacob Cats (1577–1660), Petrarca (1304–1374), Joost van den Vondel (1587–1679), Pierre de Ronsard (1524– 1585), Lope de Vega (1562–1635) und Théophile de Viau (1590–1626) umgeben ist. Rists großes deutsches Vorbild Opitz erscheint dagegen nur mehr am Fuße des Berges, wodurch sich im Hinblick auf Rists „Kulturstrategie“ (Klaus Garber) zwei wichtige Aspekte erkennen lassen: Erstens weist die Darstellung Rists als Gott der Musik, der Dichtkunst und des Gesangs inmitten der bedeutendsten Dichter der Renaissance und des 17. Jahrhunderts auf die Verankerung des holsteinischen
47 Rist: Florabella (Anm. 9), Vorrede, fol. a 3v. 48 Gedicht Nr. 49: Wunder/ wunder/ wunderding. 4. und 6. Strophe. Ebd., fol. N 1r–3r. 49 Johann Rist: Des Edlen Dafnis aus Cimbrien besungene Florabella. Hamburg 1656, Titel kupfer.
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Dichters sowohl in der Tradition des Humanismus als auch in seiner Zeit hin. Außerdem zeigen die Titelkupfer, dass Rist sich selbst als Teil dieses erlauchten Dichterkreises sieht. Zweitens gibt die Darstellung Opitz’, dessen Blick auf den norddeutschen Dichter gerichtet ist, zu verstehen, dass Rist sein großes Modell bereits übertroffen hat. Auf der dritten Ebene begegnen wir schließlich Hinweisen darauf, wie Rist sich die jeweiligen Quelle beschaffen konnte. Es scheint, dass diesbezüglich zwei Hamburger Freunde des Dichters eine bedeutende Rolle gespielt haben. Es handelt sich hierbei um den Juristen Joachim Hagemaier und dessen Vetter,50 den ehemaligen Domherrn Eberhart Möller.51 In einem Gedicht, das Rist anlässlich der Ernennung Hagemeiers zum „Geheimen Raht“ des Grafen zu Oldenburg und Delmenhorst zu Ehren seines Freundes verfasste, rühmt der Dichter Hagemeiers Fremdsprachenkenntnisse und bezeichnet ihn als „wehrten Sprachen Freünd“. Ferner habe Hagemeier Rists Begeisterung für die Dichtkunst Théophile de Viaus geweckt, wie die folgenden Verse aus dem Ehrengedicht an Hagemeier beweisen: Da habt Jhr meinen Sinn zu lieben Eüch gelenket/ Alß Jhr den Theophil auß Frankreich mir geschenket Den edlen Dichter/ der mir ist so trefflich wehrt/ Daß einen Theil auß Jhm’ ins Teütsch’ Jch schon verkehrt.52
Dieselbe Vermittlerrolle kann auch Eberhart Möller zugewiesen werden. Im Vorwort zum Adelichen Hausvatter rühmt Rist seinen Freund als einen kunstliebenden und vielgereisten Mann, der vor allem in der französischen und italienischen Sprache „wohlerfahren“ gewesen sei und offenbar einen Lesezirkel initiiert hatte, in dem Rist, Hagemeier, Möller selbst und andere Gelehrte sich der Lektüre und dem Studium vorwiegend fremdsprachiger Literatur widmeten.53 So
50 Glückwunschgedicht „An/ Den Edlen/ Besten und Hochgelahrten/ Herren/ Joachim Hagemeier“. Johann Rist: Neüer Teütscher Parnass. Lüneburg 1652, S. 132–144, hier S. 139: „So thut Eür Vetter auch/ Herr Möller/ der mich liebet“. 51 Vgl. Rudolf Rasch: P(i)eter Meyer. Musician in Hamburg, Amsterdam, Sulzbach, and Hamburg. In: Tijdschrift van de Vereniging voor Nederlandse Muziekgeschiedenis 40/1 (1990), S. 36– 74, hier S. 48–50. 52 Rist: Teütscher Parnass (Anm. 50), S. 139. 53 „Eberhart Möller […] Dieser Kunstlibender/ in den schönsten Eüropeischen Ländern/ alß Frankreich/ Teütschland/ Welschland/ Engel- und Niederland trefflich versuchter/ danebenst in fremder/ sonderlich der französischen und Welschen Sprache wolerfahrner Herr/ alß Er einsmahlen in Seiner Behausung allerhand schöne Jtaliänische und Französische Bücher nebenst Mir durchblätterte/ und wir in Lesung derselben mit grosser Lust die Zeit vertrieben […].“ Rist: Hausvatter (Anm. 3), S. 175. „Jch werde selig preisen/ Die Tag’ an welchem Jch auff Hamburg
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erfahren wir in der Vorrede zum Adelichen Hausvatter, dass Rist von Möller nicht nur zu diesem Translationsprojekt anregt worden war,54 sondern das Werk Tassos (allerdings in der französischen Übertragung von Jean Baudoin) durch Möller entdeckt hatte.55
3 Analyse der Translationspraxis Rists 3.1 Vorüberlegungen Zur Analyse der Nachahmungen Rists verwenden wir einerseits die Definitionen der Konzepte imitatio und aemulatio, wie sie Harsdörffer im Poetischen Trichter entwickelt.56 Dabei entwirft Harsdörffer anhand des Vergleichs zwischen der Tätigkeit des Dichters und des Malers die verschiedenen Stufen der Nachahmung: Wenn ich aber eines andern Meinung gantz behalte und nur mit andern Worten ausrede/ ist solches gleich dem Gemähl/ welches mit andern Farben dem ersten von guter Hand gemahlten Stücke nachgemahlet wird.57
Die erste Stufe (imitatio) entspricht also jenen Nachahmungen, in denen zwar der Sinn des Modells beibehalten, dieser jedoch mit anderen Worten formuliert wird. Somit kann diese Form der Nachahmung auch vom Personalstil des Dichters zeugen. Die zweite Stufe (aemulatio) hingegen ist dann erreicht, sobald
muste reisen/ Wo du [= Eberhart Möller] mich namest an samt der Gelahrten Schaar/ Wobei auch unser Freünd Herr Hagemeier war.“ Rist: Teütscher Parnass (Anm. 50), S. 138. 54 „Herr Eberhart Möller […] erinnerte Mich wolmeinentlich/ daß […] die Herren Geselschafter/ welche fremder Sprachen in etwas kündig/ zum Theil verbunden weren/ einige Bücher auß denselben in unsere/ nie zur genüge gepriesene teütsche Heldensprache überzusetzen/ deroselben hohes Auffnehmen dadurch zu befoderen/ auch Jch an Meinem ohrte Mich bemühen solte/ etwan ein nützliches Buch zu verteütschen […].“ Rist: Hausvatter (Anm. 3), S. 175. 55 „Da legte Er Mir Ein Ander Französisches/ drei unterschiedliche Theile in sich haltendes Buch vor/ dessen Haubttitul also lautet: L’ESPRIT, Ou L’Ambassadeur, Le Secretaire, et le Perre de Famille: traittez excellens de Torquato Tasso, mis en nostre langue, par. J. Baudoin.“ Ebd., S. 176. Hervorhebung original. 56 Es muss hier angemerkt werden, dass Harsdörffer die Konzepte ‚imitatio‘ und ‚aemulatio‘ nicht ausdrücklich verwendet, sondern die beiden Begriffe unter dem Terminus ‚Nachahmung‘ zusammenfasst. In der Tat scheint es, dass sich der Begriff ‚aemulatio‘ im 17. Jahrhundert nicht durchsetzen konnte, sondern dass ‚imitatio‘ als Oberbegriff diente, um alle imitativen Verfahren zu kennzeichnen. Vgl. Rener (Anm. 26), S. 77. 57 Harsdörffer (Anm. 23), S. 41.
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der Dichter nur vereinzelt Elemente aus dem Modell übernimmt und diese mit eigenen Gedanken anreichert: Wann ich aber eines andern Meinung nicht vollkommenlich behalte/ sondern von derselben gleiche Gedanken absihe und denselben nachahme/ von eignem Wolvermögen darzuthue/ und nach meinem Vorhaben richte; so vergleicht sich besagte Nachahmung mit dem/ der ein oder mehr Gemälde zu Gesicht gefasset/ und hernach zu Hause etwas dergleichen jedoch mit andren Stellung mahlet.58
Selbst wenn Harsdörffer hier vor allem von rein inhaltlichen Kriterien spricht, können seine Erklärungen auch in Bezug auf die Abwandlung formaler Aspekte des Modells angewendet werden. Um die ‚Modernität‘ der Reflexionen im Nachahmungsdiskurs des 17. Jahrhunderts aufzuzeigen, wollen wir andererseits anhand verschiedener Verfahren der Gedichtübersetzung den Zusammenhang mit der aktuellen Translationswissenschaft herstellen. Dafür stützen wir uns auf die Klassifikation von Andreas Wittbrodt, der eine Systematik von fünf verschiedenen Modellen der Gedichtübersetzung erstellt hat.59 In dieser Klassifikation entspricht die imitatio der „wirkungstreuen Gedichtübersetzung oder Nachdichtung“.60 Ihr Ziel ist es, durch die Wahl einer dem Sujet angemessenen Gattung die Reproduktion des Sinns sowie durch einen einheitlichen Sprachstil, „eine ästhetisch möglichst geglückte Reproduktion des Originals herzustellen“. Die aemulatio hingegen lässt sich mit der „adaptierenden Gedichtübersetzung oder Umdichtung“61 gleichsetzen, die darauf abzielt, sich möglichst stark vom Modell abzuheben. Dies kann etwa dadurch geschehen, dass der Dichter Thema, Sinn oder Form des Modells seiner persönlichen Äußerungs- oder Wirkungsabsicht anpasst. Unsere vergleichende Analyse stützt sich folglich auf formale und inhaltliche Kriterien, um danach auf den Nachahmungsprozess zu schließen.
58 Ebd., S. 41 f. 59 Vgl. Andreas Wittbrodt: Verfahren der Gedichtübersetzung. Definition, Klassifikation, Charakterisierung. Frankfurt a. M., Berlin 1995 (Europäische Hochschulschriften, Reihe XVIII: Vergleichende Literaturwissenschaft 83). Zugleich Dissertation, Universität Wuppertal, 1994. 60 Ebd., S. 345–347. 61 Ebd.
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3.2 An seine verliebten Mitgesellen nach François de Rosset Als erstes Beispiel wollen wir uns dem Lied An seine verliebten Mitgesellen aus Florabella zuwenden, dem das Modell O troupe vagabonde des französischen Dichters François de Rosset (1570–1619)62 zugrunde liegt. Zum besseren Vergleich geben wir in der folgenden Übersicht das Gedicht Rossets sowie die Nachahmung Rists: „CHANSON.
„An seine verliebte Mitgesellen. Aus dem Französischem des Herren von Rossett/ welches also anfähet: O trouppe vagabonde Plus que le flot de l’onde Qui roule incessamment, Ce bel astre du monde ne respand sa clairté, que pour moy seulement.
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[1.] O Troupe vagabonde Plus que le flot de l’onde Qui roule incessamment, Ce bel Astre du Monde Ne respand sa clairté que pour moy seulement,
1. Verliebte Mitgesellen/ Die gleich den Wasserwellen Nur stets ümweltzen sich Jch will Astreen stellen/ Jhr Himmel schöner Glantz der strahlt allein auff mich.
[2.] Vous flattez vostre peine, Vne esperance vaine Vous trompe ouuertement: Car c’est chose certaine Que sa belle clairté luit pour moy seulement.
2. Jhr lindert eüre Schmertzen Durch Hoffnung/ so die Hertzen Bekrieget öffentlich/ Jch sag’ es sonder Schertzen Astreen schönster Glantz der strahlt allein auff mich.
62 Rosset stammte zwar aus dem protestantischen Adel, konvertierte jedoch früh zum Katholizismus und wurde hier vor allem durch Translationen religiöser und moralischer Schriften bekannt, die er im Auftrag der katholischen Kirche anfertigte. Neben zahlreichen Dichtungen nehmen die Translationen von Ariosts Orlando furioso und Cervantes’ Don Quichotte sowie seine Histoires tragiques (1614), in denen der Autor den Sittenverfall seiner Zeit kritisiert, einen wichtigen Platz im Schaffen Rossets ein. Vgl. Nathalie Grande: Le Roman au XVIIe siècle. L’exploration du genre. Rosny 2002 (Collection Amphi lettres. Premier cycle universitaire), S. 42.
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[3.] Si son Oeil fauorable, Et son propos affable Vous font croire autrement, Vous croyez vne fable, Car sa belle clairté luit pour moy seulement.
3. Jch weiß zwar daß ihr Lachen/ Und freundlichs Wörther machen Eüch gibt so manchen Stich/ Ja wol! verlohrne Sachen/ Astreen schönster Glantz der strahlt allein auff mich.
[4.] Elle a trop d’asseurance De ma perseuerance, Et son clair iugement Cognoist vostre inconstance: Si bien que sa clairté luit pour moy seulement.
4. Sie pflegt es zu bedenken/ Daß keine sonst kan lenken Als sie/ mein Hertz zu sich/ Jhr aber laufft mit Ränken/ Drum strahlet auch allein Astreen Glantz auff mich.
[5.] Amour brusle mon Ame, De sa plus viue flame, Et puis également, Il embraze Madame, Si bien que sa clairté luit pour moy seulement.
5. Die Liebe brennt mein Leben/ Welch’ ihre Flamm gegeben/ Und die kan wunderlich Jn ihr selbst wiedrüm kleben/ Drüm strahlet auch allein Astreen Glantz auff mich.
[6.] Bel Astre de ma vie, Puis qu’Amour nous conuie, A viure constamment, Monstrez malgré l’Enuie. Comme vostre clairté luit pour moy seulement.“63
6. Astree laß mit Freüden Jn den begrünten Heiden Nur Dafnis küssen dich/ Zeig’ allen die mich neiden O Schönste/ daß dein Glantz nur strahl’ allein auff mich.“64
Das Gedicht stammt aus der von Rosset herausgegebenen Anthologie Les délices de la poésie françoise, ou Recueil des plus beaux vers de ce temps (1618).65 Im Hinblick auf die dispositio bestehen beide Gedichte aus jeweils sechs Fünfzeilern, wobei der letzte Vers einen Kehrreim darstellt. Sie haben dasselbe Reimschema (aabab), das mit alternierenden männlichen und weiblichen Kadenzen einhergeht. Hinsichtlich der metrischen Struktur passt Rist die Sechssilber der Verse 1 bis 4 des Modells dem akzentuierenden Prinzip der deutschen Sprache an, indem
63 Rosset (Anm. 42), S. 1094 f. 64 Rist: Florabella (Anm. 9), fol. H 7v–J 1r (Nr. 32). 65 Die Sammlung enthält auf rund 1170 Seiten ungefähr 450 Gedichte unterschiedlichster formaler Gestalt (Sonette, Chansons, Epigramme, …) von Dichtern wie François de Malherbe, Honoré d’Urfé oder Honorat de Bueil de Racan.
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er sie in dreihebige Jamben überträgt. Den zwölfsilbigen Alexandriner des Kehrreims wandelt Rist dementsprechend in einen sechshebigen Jambus mit Zäsur nach der dritten Hebung um. Obwohl es sich bei dieser Strophenform laut John H. Baron um ein recht seltenes Schema in Rists Liedern handelt,66 scheint sich die Wahl des Modells sowie die genaue Nachahmung der formalen Aspekte aus der poetisch-musikalischen Wirkungsabsicht des Liedes zu erklären: Nicht nur die Gedichte aus Florabella, die alle mit Partitur abgedruckt sind, sondern auch Rossets Gedicht scheinen für den Gesang bestimmt zu sein. Auch wenn Rossets Gedicht keine Noten beigefügt sind, so lässt die Bezeichnung „Chanson“ doch darauf schließen. Theoretiker wie Harsdörffer, Schottelius, Zesen oder Birken geben bezüglich der strukturellen Aspekte der Lieddichtung an, dass sie aus Gründen der Sangbarkeit und der Verständlichkeit für den Zuhörer aus drei bis neun Strophen mit jeweils vier bis zehn Versen von drei bis fünf Hebungen bestehen sollten.67 Der Vergleich dieser Elemente mit dem französischen Modell unter Berücksichtigung der prosodischen Unterschiede zum Deutschen zeigt, dass die „Chanson“ von Rosset – abgesehen vom Alexandriner – eindeutig den genannten Kriterien entspricht. Daraus folgt, dass Rist die Gedichtform für seine Zwecke eins zu eins übernehmen konnte. Rosset zeichnet in seinem Gedicht das Bild eines lyrischen Ich, das seine Liebe zu einer nicht näher genannten „Madame“ (V. 24) besingt. Indem das lyrische Ich seine Kameraden aufgrund ihrer Unbeständigkeit diskreditiert (V. 19), gibt er ihnen zu verstehen, dass ihre Hoffnung vergeblich sei (V. 7). Rist übernimmt die inventio von Rosset, passt sie jedoch den Protagonisten und dem Dekor der Florabella an: So wird das lyrische Ich eindeutig mit Dafnis benannt (V. 28), der in Astree verliebt ist. Mit der Erwähnung der „begrünten Heiden“ in V. 27 wird außerdem der locus amoenus der Handlung klar gekennzeichnet. Auch Dafnis muss sich den „verliebten Mitgesellen“ gegenüber beweisen und stellt deren Hoffnung als eine „verlorene Sache“ dar (V. 7 und 14). Darüber hinaus übernimmt Rist nicht nur die Metapher der Wasserwellen, die für die Unbeständigkeit seiner Kameraden steht (V. 2), sondern auch jene des „schönen Gestirns“ („bel astre“). Während Rosset das Wort „astre“ („Gestirn“) zur Verdeutlichung der Schönheit der Geliebten verwendet, fügt Rist hier noch eine weitere Ebene hinzu: Wie sich an V. 26 zeigen lässt, leitet er aus dem französischen Nomen „astre“ den Namen
66 Vgl. John Herschel Baron: Foreign influences on the German secular solo continuo Lied in the mid-seventeenth century. Diss. masch. Brandeis University 1967, S. 190. 67 Vgl. Achim Aurnhammer, Dieter Martin: Musikalische Lyrik im Literatursystem des Barock. In: Handbuch der musikalischen Gattungen. Bd. 8/1. Hg. von Hermann Danuser. Laaber 2004, S. 337.
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„Astrée“ ab, wodurch ein eindeutiger intertextueller Bezug zum Schäferroman d’Urfés gegeben ist. Ferner ermöglicht es diese Transposition im Kehrvers, den Namen der Geliebten mit der konkreten Bedeutung des Wortes „Gestirn“ zu verbinden, wie dies etwa in V. 10 und 15 der Fall ist. Hinsichtlich der Wortwahl hält sich Rist weitgehend an das Modell. So übernimmt er beispielsweise die affektgeladenen Schlüsselwörter des Modells und setzt sie in seiner Nachahmung an dieselbe Stelle: „peine“/„Schmertzen“ (V. 6), „esperance“/„Hoffnung“ (V. 7), „propos affable“/„freundlichs Wörther“ (V. 12), „amour“/„Liebe“ (V. 21), „clairté“/„Glantz“ (Kehrvers). Außerdem behält er an mehreren Stellen die syntaktische Struktur des Modells bei, wie etwa in V. 6 („Vous flattez vostre peine“ vs. „Jhr lindert eüre Schmertzen“) oder in V. 21 („Amour brusle mon Ame“ vs. „Die Liebe brennt mein Leben“). Insgesamt zeigt Rists Nachahmung also relativ wenige Abweichungen von der französischen Vorlage. Während er die dispositio ohne Änderungen von Rosset übernimmt, so zeigen sich bezüglich der inventio einige Modifizierungen hinsichtlich der handelnden Personen und des Dekors. Die ursprüngliche Bedeutung des Gedichts sowie dessen Wirkungsabsicht bleiben dabei jedoch erhalten. Was die elocutio angeht, zeugt Rists Nachahmung mit einigen raffiniert eingesetzten Umgestaltungen deutlich vom persönlichen Stil des Dichters. Folglich kann das Gedicht auf der Stufe der imitatio eingeordnet werden und entspricht laut der Systematik Wittbrodts somit einer „wirkungstreuen Übersetzung oder Nachdichtung“.68
3.3 Dafnis Klagelied nach Théophile de Viau Unter den drei Imitationen von Gedichten Théophile de Viaus (1590–1626), die in der Florabella enthalten sind, stechen vor allem die Stances Quand tu me vois baiser tes bras hervor, die 1623 in der Ausgabe letzter Hand der Werke De Viaus erschienen sind:
68 Wittbrodt (Anm. 59), S. 345–347.
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„XXIX STANCES
„19 Dafnis Klaglied/ Abgesungen vor der Ruhestätte seiner Galatheen/ als sie mit entblösseten Armen so hart und feste schlieff/ daß er auch ihren süssen Oden nicht einmahl konte vermerken. Nach dem Französischen des Herren Theophil: Quand tu me vois baiser tes bras Que tu poses nuds sur tes draps, Bien plus blanc que le linge mesme: Quand tu sens ma bruslante main Se pourmener dessus ton sein, Tu sens bien Cloris que je t’ayme.
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[1.] Quand tu me vois baiser tes bras, Que tu poses nus sur tes draps, Bien plus blancs que le linge même ; Quand tu sens ma brûlante main Se promener dessus ton sein, Tu sens bien, Cloris, que je t’aime.
1. Wenn ich dein ärmlein Galathe Die du hast bloß heraußgeleget/ Die weisser sind als milch und schnee Mag küssen und mein’ hand sich reget Wenn sie/ die gleich den Flammen brennet/ Dein Hälßein rühret säuberlich Und deine Brüst’ im schlaffe trennet/ So denk: Ach Hertz/ wie liebt er mich!
[2.] Comme un dévot devers les Cieux, Mes yeux tournés devers tes yeux, A genoux auprès de ta couche, Pressé de mille ardents désirs, Je laisse, sans ouvrir ma bouche, Avec toi dormir mes plaisirs.
2. Wie man sich in der Andacht kehrt Gen Himmel/ so kanst du ja ziehen Mein’ Augen gegen dir/ verehrt Von Mir itz Göttinn auf den Knien/ Doch tausend Wünsche die nichts schaffen Verdrükken itz Mein mattes Hertz/ All Mein’ Ergetzung laß’ Jch schlaffen Mit dir/ und wach’ allein im Schmertz.
[3.] Le sommeil, aise de t’avoir, Empêche tes yeux de me voir Et te retient dans son empire Avec si peu de liberté Que ton esprit tout arrêté Ne murmure ni ne respire.
3. Die Lust zu ruhen hindert dich Mit liebes Augen Mich zu schauen/ Mich deinen Diener süssiglich Du Wunderwerck der schönsten Frauen Die Freiheit ist dir gantz benommen/ Dein Geist ist auff den Schlaff verpicht Man hört aus deinem Mündlein kommen Auch den geringsten Seüftzer nicht.
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[4.] La rose en rendant son odeur, Le Soleil donnant son ardeur, Diane et le char qui la traîne, Une Naïade dedans l’eau, Et les Grâces dans un tableau, Font plus de bruit que ton haleine.
4. Die Rose riecht von weitem wol/ Die Sonne läst noch Strahlen schiessen/ Der Mohn und was Jhn ziehen sol Die Nimfen/ welch’ im Wasser fliessen/ Die Gratien nur angestrichen/ Ein Steinern Bild auf seiner Huht Die rauschen/ gegen dir verglichen Mehr als dein süsses Mündlein thut.
[5.] Là je soupire auprès de toi, Et considérant comme quoi Ton œil si doucement repose, Je m’écrie: ô Ciel ! peux-tu bien Tirer d’une si belle chose Un si cruel mal que le mien?“69
5. Drüm seüfftz’ ich Galathe nach dir/ Und als ich bey mir selbst bedenke/ Wie deiner klahren Augen Zier So hart itz schläfft/ drob ich mich kränke/ So schrei ich: Himmel kanst du halten Solch’ eine Schönheit gantz allein Und stets mit ihr in Liebe walten/ So wird mein Elend grausahm seyn.“70
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Auf den ersten Blick fällt bei Rist die Amplifikation der Struktur auf: Während das Modell aus fünf Sechszeilern besteht, setzt Rist fünf Achtzeiler. Daraus resultiert notwendigerweise eine Modifizierung des Reimschemas, das sich bei De Viau für die erste, dritte und vierte Strophe aus einem Schweifreim (aabccb), für die übrigen Strophen aber aus Paarreim und Kreuzreim zusammensetzt (aabcbc). Rist hingegen entscheidet sich mit der einheitlichen Verwendung von zwei Kreuzreimen (abab cdcd) für die Glättung des Reimschemas. Den Achtsilber der Vorlage wandelt Rist in vierhebige Jamben um. Es stellt sich hier die Frage, warum Rist die Strophenform De Viaus nicht direkt übernommen hat; denn einerseits finden sich weitere zehn Gedichte mit Sechszeilern in der Florabella und andererseits stellen Sechszeiler mit Schweifreim eine recht häufige Strophenform in der Lyrik des 17. Jahrhunderts dar.71 Es scheint daher, dass Rist diese Strophenform aus Gründen der elocutio gewählt hat, was wir nun untersuchen wollen. Das Gedicht De Viaus ist ein Beispiel sinnlicher Liebeslyrik. So beschreibt das lyrische Ich die Schönheit seiner schlafenden Geliebten Cloris und die Gefühle, die dieser Anblick in ihm auslöst (V. 12 f.). In diesem Sinn stellt das Gedicht sowohl eine Liebeserklärung an die Geliebte (V. 6) als auch eine Klage des lyri-
69 De Viau (Anm. 38), S. 194 f. 70 Rist: Florabella (Anm. 9), fol. E 5v–7r (Nr. 19). 71 Vgl. Horst Joachim Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen. 2. durchgesehene Auflage. Tübingen, Basel 1993 (UTB für Wissenschaft: Uni-Taschenbücher 1732), S. 408.
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schen Ich dar, da der Schlaf Cloris daran hindert, den Geliebten zu sehen (V. 17 f.). Rist übernimmt nicht nur den Topos der ‚schlafenden Schönen‘, sondern auch den zwischen Liebesgefühlen und Klage hin- und hergerissenen Gefühlszustand des lyrischen Ich. Wie die Überschrift von Rists Gedicht erkennen lässt, klagt Dafnis darüber, dass seine Geliebte Galathee ihn nicht sehen kann (V. 17 f.). Die dritte Strophe scheint deutlich zu zeigen, wie die Amplifikation des lyrischen Diskurses bei Rist zur Erweiterung der Form führt: Während Rist hier im Großen und Ganzen die Verse des Modells ins Deutsche überträgt, fügt er zwei Verse ein (V. 19 und 20), in denen Dafnis als „Diener“ des „Wunderwercks der schönsten Frauen“ beschrieben wird. Diese Beschreibung der Treue Dafnis’ findet sich nicht bei De Viau und scheint zum Ziel zu haben, der Nachahmung Rists einen erbaulichtugendhaften Charakter zu verleihen und somit die sinnliche Dimension etwas zu entschärfen. Besonders in der vierten Strophe hält Rist sich relativ genau an die Vorlage. So übernimmt er etwa Worte wie „rose“/„Rose“ und „soleil“/„Sonne“ (V. 25 und 26) sowie die mythologischen Bilder (V. 28 bis 29) und setzt sie an dieselbe Stelle wie De Viau. Im Hinblick auf Rists Amt als lutherischer Pastor ist interessant zu bemerken, dass er die Namen der Nymphen und der Grazien aus dem Modell übernimmt (V. 28 f.). Dies ist insofern erstaunlich, als Rist bereits in der Vorrede zum Poetischen Schauplatz von 1646 das „Teuflische Wesen“ jener Dichter verurteilt, in deren „Heydnischen Lumpen-Gedichten“ „elende Heyden Götter“ vorkommen.72 Eine mögliche Erklärung könnte jedoch darin bestehen, dass sowohl die Nymphen als auch die Grazien Gottheiten niederen Ranges repräsentieren, während Rist den Namen der Göttin des Mondes und der Jagd, Diana, nicht direkt übernimmt, sondern in V. 27 scheinbar nur den Mond als deren Symbol evoziert. Auf diese Weise konnte Rist die Göttin erwähnen, ohne sie direkt bei ihrem Namen zu nennen. In der fünften Strophe hält sich Rist ebenfalls recht genau an die Vorlage: Während Rist die V. 33 und 34 an der selben Stelle der Imitation übernimmt, überträgt er auch die exclamatio aus V. 36 und 37 („Je m’écrie: ô Ciel!“ / „So schrei ich: Himmel“). Unsere Analyse zeigt, dass Rist auch in diesem Beispiel die Aussage- und Wirkungsabsicht des französischen Modells übernimmt. Gleichzeitig zeugt Rists Gedicht von Modifizierungen auf der Ebene der dispositio und der elocutio, die vor allem durch die Amplifikation der dichterischen Aussage bedingt sind. Daraus geht hervor, dass es sich auch bei diesem Gedicht um eine imitatio oder eine Nachdichtung handelt.
72 Johann Rist: Poetischer Schauplatz. Hamburg 1646, Vorrede, fol. c 1v.
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3.4 Florabella liebstes Leben nach P. D. L. Das letzte Gedicht, Florabella liebstes Leben, stellt eine Nachahmung des Gedichts „Mon tout, ma chere vie, & ma seule Maistresse“ dar, das 1606 in der Sammlung Le Paradis d’Amour, ou La chaste matinée du fidell’ Amant herausgegeben wurde. Am Ende der Widmungsvorrede findet sich der Name „P. D. L.“, dessen Identität bisher nicht geklärt werden konnte. Die Sammlung reiht sich in die Tradition der pastoralen Literatur ein und enthält – wie beispielsweise auch Honoré d’Urfés L’Astrée – abwechselnd Erzählungen, Briefe, aber auch poetische Formen wie Sonette, Lieder, Oden oder Epigramme. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Beispielen zeigen sich hier große formale Unterschiede zwischen Modell und Nachahmung: „Dafnis Klaaglied An seine zwahr überschöne/ aber dabenebenst Felsenharte Florabellen. Etlicher mahssen aus dem Paradis d’Amour.
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„[1.] Mon tout, ma chere vie, & ma seule Maistresse, Celle que mille fois i’ay tousiours honoree Oyez mon piteux cry & voix non flateresse, Comme celle qui m’est sainte & tres reueree:
2. Höre doch mein traurigs Singen O du Wunderwerk der Welt/ Dafnis/ der dich nicht kan zwingen/ Jst es der dich höher hält/ Als ein Englein das die Nacht Durch sich selbst zum Schlaven macht.
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1. Florabella liebstes Leben Meiner Seelen Meisterinn/ Der ich tausendmahl muß geben Ehr’ und Tugend zum Gewinn/ Komm’ und nim mein Klagen an Das ich niemahls enden kan.
[2.] Ie brusle, ie me meurs, ie seche en ce tourment, Ie languis malheureux apres vostre beauté: Au moins, si vous n’auez pitié d’vn tel Amant, Compassez mon malheur à vostre grand’ bonté.
3. Ach! ich brenn’ im süssen Leiden Jch vergeh’ in Liebes-Pein/ Deine Schönheit die zu meiden Muß mein tunkles Grabmahl seyn Ich verschmacht’/ ich schwind’/ ich schwitz Als ein Gräßlein in der Hitz.
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4. Hast du denn gantz kein Erbarmen Allerschönstes Hertz mit mir/ Wilt du mich gleich nie ümarmen/ Trag’ ich dennoch stets mit dir Und mit deiner Hartigkeit Viel erbarmen/ Quahl und Leid.
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[3.] Mon cœur, mon tout, mon bien, mon soulas, & ma vie, Mon espoir, mon desir, mon repos, mon attente, Mon soucy, mon confort, ma pucelle, & m’amie, Ayez pitié de cil qui tant pour vous lamente.
5. Ach! Mein Leben mein Verlangen Mein’ Ergetzung meine Lust Meiner Seelen Krohn’ und Prangen/ Meine Göttinn/ meine Rust/ Ach! ist denn aus deinem Sinn Lieb’ und Treü’ itzt gantz dahin?
[4.] Le iour, le soir, la nuict, l’heur, le contentement, La beauté, la grandeur, la richesse, & sçauoir, Le seruice, la foy, le parler loyaument, Ne me sont rien sans vous, que ie desire auoir.“73
6. Tag und Abend/ Nacht und Morgen/ Schönheit/ Reichthum/ Ehr’ und Guht Frölich leben/ nimmer sorgen Quählt nur alles meinen Muht/ Wann nicht du zu ieder Frist Florabella bei mir bist.“74
Während das französische Gedicht aus vier Vierzeilern besteht, erweitert Rist die Struktur auf sechs Sechszeiler, wodurch er das Zahlenverhältnis zwischen Strophen und Versen jedoch beibehält. Dem Kreuzreim (abab) des Modells fügt Rist einen Paarreim (cc) hinzu und erreicht dadurch eine zweiteilige Form mit Aufund Abgesang. Eine weitere Änderung betrifft die Kadenzen: Im Modell wechseln die weiblichen und männlichen Kadenzen strophenweise. Bei Rist hingegen entsprechen diese dem Reimschema (a = w, b = m, c = m). Anstelle der Alexandriner des Modells setzt Rist vierhebige Trochäen, die Dafnis’ Klage unterstreichen sollen.75 All diese strukturellen Änderungen scheinen wiederum in der poetischmusikalischen Bestimmung von Rists Gedicht begründet: Während die französische Sammlung keine Noten enthält und auch die Widmungsvorrede keinerlei Hinweise auf die Sangbarkeit der Gedichte aufweist, stimmt Rists Lied mit den formalen musikalischen Kriterien einer Ode überein.
73 P. D. L. (Anm. 39), fol. 47r–v. 74 Rist: Florabella (Anm. 9), fol. B 4r–5r (Nr. 6). 75 „Trochaische schicken sich am besten/ da man ein Verlangen vorstellet/ in Sittlichen und Liebessachen […].“ Daniel Georg Morhof: Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie. Kiel 1682. Zitiert in Aurnhammer, Martin (Anm. 67), S. 337.
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Mit dieser strukturellen Umgestaltung geht die Anpassung des Inhalts und der handelnden Personen einher. Laut der Erzählung, die dem Gedicht im Paradis d’Amour vorausgeht, wendet sich das lyrische Ich an seine Geliebte Magdaleine. Das lyrische Ich ist verzweifelt, da Magdaleine ihn nicht lieben möchte und versucht daher, sie von seiner Liebe zu überzeugen, indem er über das Leiden spricht, das er ihretwegen erdulden muss. Bei Rist verwandeln sich die beiden Protagonisten in Dafnis und dessen Geliebte Florabella. Abgesehen von dieser Modifizierung übernimmt Rist die inventio des französischen Modells: Auch Dafnis leidet aus unglücklicher Liebe zu Florabella, die ihm durch ihre Härte Qualen und Leid zufügt (V. 23 f.). Die Synopsis der beiden Gedichte zeigt, dass die vier Strophen des Modells bei Rist der ersten, dritten, fünften und sechsten Strophe entsprechen, während die zweite und vierte Strophe qualitative und quantitative Amplifikationen durch Rist darstellen. So nützt Rist etwa die zweite Strophe, um die Schilderungen der Anfangsstrophe zu verstärken, indem er das Leiden Dafnis’ als „traurigs Singen“ (V. 7) und Florabella als „Wunderwerk der Welt“ (V. 8) bezeichnet. Wie in unserem ersten Beispiel übernimmt Rist auch hier die zentralen Ausdrücke in seine Nachahmung, verwendet sie in Bezug auf die Syntax des Modells jedoch freier. So etwa in V. 1 bis 2, wo aus „Mon tout, ma chere vie, & ma seule Maistresse“ der Vers „Florabella liebstes Leben/ Meiner Seelen Meisterinn“ wird. Dieselbe Vorgehensweise lässt sich auch in V. 3 bis 4 beobachten, wo Rist den zweiten Vers des Modells („Celle que mille fois j’ay tousiours honoree“) in Form einer amplificatio auf „Der ich tausendmahl muß geben/ Ehr’ und Tugend zum Gewinn“ erweitert. Dadurch führt er wiederum christliche Werte ein, die die Tugendhaftigkeit der Schäfer unterstreichen. Auf ähnliche Weise modifiziert Rist den V. 3 „Oyez mon piteux cry & voix non flateresse“ des Modells: Er übernimmt zwar den Imperativ („Komm’ und nim mein Klagen an“, V. 5), fügt jedoch den Vers „Das ich niehmals enden kan“ (V. 6) hinzu, der das Klagen Dafnis’ verstärkt. In der dritten Strophe imitiert Rist die enumeratio des Modells (V. 13), verwendet sie jedoch an einer anderen Stelle und mit anderen Worten (V. 17). In der fünften und sechsten Strophe hält sich Rist wieder stärker an das Modell: Er übersetzt einige Schlüsselwörter, indem er sie der Metrik und dem Reimschema seines Gedichts anpasst, wie etwa V. 25 f.: „ma vie“/„mein Leben“ und „mon désir“/„mein Verlangen“, oder V. 31 f.: „la richesse“/„Reichtum“. Insgesamt zeigt diese Analyse, dass Rist hier in Bezug auf inventio, dispositio und elocutio viel stärker in den Originaltext eingreift, als dies bei den anderen beiden Beispielen der Fall ist. Es scheint, dass diese Änderungen vor allem von der im Gegensatz zum Paradis d’Amour poetisch-musikalischen Konzeption der Florabella herrühren. Aufgrund unserer Beobachtungen handelt es sich bei diesem Gedicht folglich um eine aemulatio oder eine „adaptierende Gedicht-
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übersetzung oder Umdichtung“,76 die sich möglichst stark vom Modell abheben möchte.
4 Schlussfolgerungen Die Analyse der Nachahmungen hat gezeigt, dass Rist generell die Grundaussage der Modelle übernimmt, während er im Allgemeinen die Disposition der Verse sowie den poetischen Diskurs modifiziert. Diese Umarbeitungen scheinen in unseren drei Beispielen durch poetisch-musikalische Gründe motiviert, die aus der unterschiedlichen Konzeption der Sammlungen resultieren, in denen die französischen Modelle und Rists Nachahmungen zu finden sind. So nimmt Rist etwa Umarbeitungen auf der Ebene der inventio vor, um Personen und Dekor dem pastoralen Kontext seiner Sammlung anzupassen. Ebenso reichert er den poetischen Diskurs auf der Ebene der elocutio mit christlichen Werten an und versucht im Hinblick auf seine Funktion innerhalb der protestantischen Kirche, heidnische Referenzen zu umgehen. Die erbaulich-tugendhafte Dimension, die sich dadurch im Gegensatz zu den Modellen in den Nachahmungen Rists findet, entschärft den petrarkistischen Charakter der Lieder und charakterisiert – wie Klaus Garber gezeigt hat – die pastoralen Gedichte Rists als Allegorien auf die christlichen Werte der Keuschheit und Tugend.77 In Bezug auf die Disposition der Verse lässt sich schließlich erkennen, dass die qualitative Amplifikation in zwei der drei Beispielen eine quantitative Erweiterung der Versanzahl mit sich zieht. Obwohl es aufgrund der Komplexität des Imitationskonzepts schwierig ist, die Nachahmungen Rists eindeutig auf der Stufe der imitatio oder der aemulatio zu verorten, liefert die vergleichende Analyse doch aufschlussreiche Erkenntnisse über Rists Umgang mit Modellen und eröffnet im Kontext der Nachahmungsproblematik interessante Einblicke in die ‚Dichterwerkstatt‘ Rists: Durch die Nachahmung eindeutig identifizierbarer Modelle beweist der holsteinische Dichter, dass er derselben Leistungen fähig ist wie bedeutende fremdsprachige Autoren. Mehr noch: Bereits 1652 zeigte sich Rist in einem Ehrengedicht auf Schottelius
76 Wittbrodt (Anm. 59), S. 345–347. 77 Klaus Garber: Pétrarquisme pastoral et bourgeoisie protestante. La poésie pastorale de Johann Rist et Jakob Schwieger. In: Le genre pastoral en Europe du XVe au XVIIe siècle. Actes du colloque international tenu à Saint-Etienne du 28 septembre au 1er octobre 1978. Hg. von Claude Longeon. Publications de l’Université de Saint-Etienne 1980 (Centre d’Etudes de la Renaissance et de l’Age Classique), S. 269–297.
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aus dem Neüen Teütschen Parnass von der superatio der deutschen gegenüber der französischen Literatur überzeugt: Höflichs Frankreich schweige doch / Teütschland hat dich schon besieget / Deiner Sprachen fremdes Joch Jst durch unsre Zunfft bekrieget / Was durch Spielen ist geschehn / Was durch Suchen ist verrichtet / Was durch Träumen ist geschlichtet Kan die gantze Welt itz sehn.78
78 Ehrengedicht „Uber Deß Edlen/ Besten und Hochgelahrten Herren Justi Georg Schottelien/ […]/ Neu auffgelegte/ viel vermehrte und wol verbesserte Spraach-Kunst“, 4. Strophe. Rist: Teütscher Parnass (Anm. 50), S. 463–465, hier S. 464.
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Tobias Petermanns lateinische Übersetzungen von Gedichten Rists Die Größe des Netzwerks von mit Rist befreundeten und bekannten Personen zeigt sich eindrücklich anhand der großen Anzahl von Autoren, die Ehrenschriften zu Rists Werken beisteuerten. Weit über einhundert Personen haben zumindest eine, häufig aber auch mehrere Ehrenschriften verfasst. Zu ihnen gehört auch Tobias Petermann, der in zwölf Jahren neun solcher Ehrenschriften zu Papier brachte. Deren erste erschien 1650 in Rists Adelichem Hausvatter1 und deren letzte 1662 im Neuen Musikalischen Seelenparadies.2 Diese Ehrenschriften dokumentieren nicht nur in ihrer Zahl, sondern auch in ihren Anrede- und Grußformeln die intensive Freundschaft Rists und Petermanns. Schreibt Petermann im Herbst 1649 noch „An den Edlen und hochgelahrten Rist […] auß schüldigster Ehrbezeügung“,3 so dankt er schon 1651 in seinem Werk Geistliche Buhlschafft Und Liebes-Seufftzer 4 seinem „Hochwerthe[n] Freund“5 für dessen Ehrengedicht,6 das Rist zudem für den „Singbegierige[n] Leser“7 vertont hat.8 In diesem Gedicht wird das gemeinsame Interesse und der Sachgrund der Freundschaft Rists und Petermanns deutlich zum Ausdruck gebracht: 4. Hinweg mit aller Venus-Lust/ Hinweg mit allen Eitelkeiten/
1 Johann Rist: Sämtliche Werke. Bd. 7: Prosaabhandlungen (Philosophischer Phoenix, Rettung des Phoenix, Teutsche Hauptsprache, Adelicher Hausvatter). Hg. von Eberhard Mannack. Berlin u. a. 1981 (Ausgaben deutscher Literatur des 15. bis 18. Jahrhunderts o. Nr.). 2 Johann Rist: Neues Musikalisches Seelenparadis […]. Lüneburg 1662. 3 Rist: Sämtliche Werke 7 (Anm. 1), S. 188 f. 4 Tobias Petermann: Herrn Johann Heermans/ Gekrönten Poetens/ und zu Köben in der Schlesien wohlverdienten Pfarrers sel. Geistliche Buhlschafft Vnd Liebes-Seufftzer Sambt etlichen angehengten Gedenck-Sprüchen/ Von Jhm zwar in Lateinischer Sprachen verfasset/ anietzo aber/ allen GOtt-liebenden Teutschen Seelen zu Liebe und Nutzen/ in unsere hoch-Edle MutterSprache versetzet Von M. Tobia Petermannen/ Schul-Rectorn zu Pirna. Dresden 1651. Es handelt sich um die Übersetzung der ursprünglich 1624 erschienenen Epigrammata Amores et suspiria sacra des Köbener Pfarrers und Dichters Johann Heermann (1585–1647). 5 Ebd., fol. H 7r. 6 Ebd., fol. ):( 8r–):():( 1v. 7 Ebd., fol. ):( 8r. 8 Ebd., fol. H 7v–8v.
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Es ist uns gar zu wohl bewust/ Was wahre Freud’ uns kan bereiten. Verfluchet sey des Teuffels Kind Cupido/ dessen Angesicht Jst zugedeckt und voller Grind/ Nach solcher Buhlschaft frag ich nicht. 5. Hier hat der wehrte Petermann Von HimmelsLieb’ uns so gesungen/ Das man nicht gnug Jhn rühmen kan/ Dieweil er kräfftig hat verdrungen Der Wollust scheußlichs Wunderthier/ Der Eitelkeiten leichten Schaum. O JESU/ Meine Freud’ und Zier/ Für Dich ist hier allein nur Raum! 6. Mein Petermann/ des HErren Geist Hat dieses Buch durch Dich geschrieben/ Das uns berichtet allermeist/ Wie man den Himmel müsse lieben. O Seelen Freud’! O süsse Brunst/ Welch’ einig uns ergetzen kan! Jtz preis’ ich Rüstig deine Kunst/ Du hochbegabter Felsenmann.
Rist und Petermann sind sich einig in der Programmatik einer an Christus orientierten Liebeslyrik, die sie gegen eine an antike Vorbilder angelehnte weltliche erotische Lyrik setzen: Das ‚Teufelskind‘ Cupido nämlich verdirbt den Menschen, wie es selbst letztendlich seiner Schönheit durch eitrigen Ausschlag beraubt ist. Wahre Liebe hingegen ist auf Christus gerichtet. Auffällig ist freilich, wie Rist die schriftstellerische Arbeit Petermanns lobt. In zweifacher Weise will Rist dem Werk geistliche Autorität sichern. Da ist der Anklang an die durch 2Tim 3,16 und 2Petr 1,19–21 begründete Lehre von der Theopneustie der Heiligen Schrift und die Anspielung an das Petruswort aus Mt 16,18. Es mahnt und lehrt also im Medium der geistlichen Lyrik letztendlich Gott. Das Motiv der Abwehr einer weltlichen Liebeslyrik greift Petermann in seiner Vorrede zum ersten Band der Geistlich-poetischen Schriften (1657)9 wieder
9 Johann Rist: Geistlicher Poetischer Schriften Erster Theil/ Jn sich begreiffend Neüe Himlische Lieder/ nebenst deroselben Ubersetzung in die Latinische Sprache/ M. TOBIAS Petermans/ Kaiserlichen Gekröhnten Poeten und Schul-Rectoris zu Pirna. Jn dise Neüe geschmeidige Form ge-
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auf. Dort setzt er sich mit einem fiktiven Gesprächspartner, einem Vertreter der Liebeslyrik, auseinander. Er lässt jenen sagen: „At referta tamen sunt, inqvies, flexanimâ qvadam voluptate, qvâ nihil potest esse jucundius amabiliúsve.“10 Petermann antwortet, er wisse, dass man die Aufgabe der Dichtung gemeinhin so verstehe. Aber die Dichtung dürfe nicht dazu dienen, durch ‚Verlockungen das Fleisch zu kitzeln‘. Die Befriedigung ‚fleischlicher‘ Bedürfnisse führe nämlich, so Petermann, zur Vergiftung des Geistes und berge die Gefahr, dass der geistliche Mensch stirbt. Vielmehr soll und muss Dichtung erbauen und den Sinn auf das Himmlische lenken.11 Dichtung ist eine hilfreiche Gestalt von Katechese.
1 Die Zielsetzung Petermanns in seinen Werken Gleichwohl ist die Abwehr einer weltlichen Liebeslyrik nur ein Element der Dichtungskonzeption, die Petermann und Rist verbindet. Beiden geht es um die „Wideraufrichtung unseres leider! fast gantz zerfallenem Christenthumes“,12 also um die Einübung eines von echter Frömmigkeit getragenen Lebens, das, weil es um den Zusammenhang von göttlichem Gericht und göttlicher Gnade weiß, sich nicht auf die eigene „grosse und übelbelobte Sicherheit“13 verlässt. Das ist zunächst sicher auch ein verbreitetes Thema der evangelischen, insbesondere der lutherischen Theologie und Frömmigkeit. Für Petermann gewinnt diese Thematik aber existentielle Bedeutung aufgrund eines höchst einschneidenden
bracht/ und üm so viel füglicher zu gebrauchen/ wolmeinentlich herfür gegeben […]. Lüneburg 1657. 10 Rist: Geistliche Poetische Schriften I (Anm. 9), S. 28. 11 Vgl. ebd.: „Scio satis, hunc etiam scopum sibi habere Poësin nostram propositum. Et, si sermo Tibi sit Te illecebris illis, qvae carnem titillant, & mirum qvantum afficiunt, in sententiam tuam abeo totus. Qvid verò hoc est delectaminis, qvô caro qvidem nostra afficitur, spiritus autem inficitur, & tantùm non interficitur? Hominis per DEUM renati voluptas nec potest nec debet esse maior atqve dulcior, qvàm qvae fluit ex consideratione eorum, qvae coelum nobis pollicentur, aut, ipsô coelô superiorem, DEUM. In his deliciis verè triumphat Anima fidelis […].“ 12 Rist: Neues Musikalisches Seelenparadis (Anm. 2). Vgl. auch ders.: Frommer und Gottseliger Christen Alltägliche HAußmusik […]. Lüneburg 1654. Sowie ders.: Die verschmähete Eitelkeit Und Die verlangete Ewigkeit […]. Lüneburg 1658. 13 Tobias Petermann: Treugemeinter Zurück-Denck-Zettel/ Der hiebevor hochbedrängten und gezwengten Churfl. Sächß. Stadt PJRNA/ Wegen desselben grossen Unglücks/ so ihr durch GOttes Verhängnüs/ am 23. Aprilis/ 1639 Wiederfahren/ An ALLE und JEDE Deroselben Bürger und Einwohnere/ Mannes und Weibes-Personen/ wessen Standes und Ehren sie sein/ besonders aber Der anwachsenden JUGEND zur vermeidlichen Vergessenheit/ Schrifftlich auffgesetzet von M. T. Petermannen […]. Pirna 1681, fol. A 3r.
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Erlebnisses.14 Im April 1639 belagerten, bombardierten und eroberten schwedische Truppen unter Feldmarschall Johan Banér die Stadt Pirna. Petermann wurde gefangengesetzt. Als er wieder entlassen wurde, „lagen der Toden so viel auf dem Markte und Gassen/ daß wir anders nicht gehen konten/ wir musten nothwendig über dieselbige schreiten.“15 Die Folgen für die Stadt und Petermann selbst waren verheerend. Petermann überlebte nur aufgrund der Unterstützung seines ehemaligen Schülers Gottfried Metzger (1620–1675).16 Petermann hat dieses Ereignis
14 Zu Tobias Petermann vgl. John L. Flood: Poets Laureate in the Holy Roman Empire. A Bio-bibliographical Handbook. Vol. 1–4. Berlin, New York 2006, zu Petermann Bd. 3, S. 1515–1517 sowie Epistolae ad Daumium. Katalog der Briefe an den Zwickauer Rektor Christian Daum (1612–1687). Erarbeitet von Lutz Mahnke. Wiesbaden 2003, S. 67. Petermann, geboren 1605 in Taubenheim nordöstlich von Dresden, immatrikulierte sich 1623 an der Universität Leipzig. 1630 wurde er dort zum Baccalaureus Artium und 1632 zum Magister der Philosophie promoviert. Vgl. Georg Erler (Hg.): Die jüngere Matrikel der Universität Leipzig 1559–1809. Als Personen- und Ortsregister bearbeitet und durch Nachträge aus den Promotionslisten ergänzt. I. Bd.: Die Immatrikulationen vom Wintersemester 1559 bis zum Sommersemester 1634. Leipzig 1909 (Reprint Nendeln 1976), S. 332. Ab 1634 war er Lehrer, spätestens 1639 auch Direktor der Lateinschule in Pirna. Dieses Amt bekleidete er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1671. 1648 heiratete er Anna-Maria Peltzius, Tochter des Pastors Christophorus Peltzius aus Stürza. Vgl. Tobias Petermann: Votis Secundis Viri Cl. Dn. M. Tobiae Petermani, Scholae Pirnens. Rectoris, Cum Virgine lectißima, Anna-Maria, Viri Reverendi & Eximii, Dn. M. Christophori Peltzii, Eccles. Sturtzensis Pastoris, Filiâ contractis: Vota dant secunda Fautores & Amici. Dresden 1648. 1655 oder 1656 wurde er von Rist zum poeta laureatus gekrönt. Der terminus ante quem ist bestimmt durch die Ehrenschrift, die Petermann anläßlich seiner Dichterkrönung von Martin Stubritz erhalten hat. Vgl. Martin Stubritz: Teutsches Pindarisches Lied/ über den Wollverdienten und Wollangewandten Lorbeer-Krantz Des Ehrenvesten/ Groß-Achtbaren und Hochgelehrten Herren Tobias Petermanns/ Nunmehro Kaiserl. Ristischen Poetens/ Auch der Philosophie Magistern/ und Woll-verdienten Rectoris in der Kuhr-Sächsischen Elb-Stadt Pirn/ Seines geehrtesten Herren und Freundes. O. O. 1657. Ein Brief aus dem Jahr 1685 an den Zwickauer Rektor Christian Daum (vgl. Mahnke, S. 67) ist das letzte erhaltene schriftliche Zeugnis Petermanns. Er starb 1687. 15 Tobias Petermann: Beifällige Gedanken Uber die Wiederaufbauung Der Begräbniß-Kirche daselbst/ Bei welcher Gelegenheit nicht allein die Einäscherung derselben/ sondern auch der hiebevorige unverhoffte Krieges-Uberfall der sämtlichen Statt/ Der Nach-Welt zum Andenken/ aufs kürzeste vermeldet wird. Dresden 1663, fol. E 3r. 16 Vgl. Tobias Petermann: Ehren-Gedächtnüß/ Welches Dem Wohl-Ehrenvesten/ Groß-Acht baren und Wohlgelahrten Hn. George Metznern/ Vornehmen Jur. Pract. allhier in Dreßden/ wie auch an unterschiedenen hohen Orten wohlbestalten Gerichtshaltern/ Als selbiger Nach kurtz ausgestandenen Lager in 56. Jahr seines Alters den 26. Decembris des verwichenen 1675. Jahres Abends üm 6. Uhr/ auff seinen Erlöser Christum Jesum sanfft entschlaffen/ dessen LeichBegängnüß aber bey Volckreicher Versamlung den 23. Januarii dieses eingetretenen 1676. Jahres Christlichen Gebrauch nach gehalten ward/ Jhr billiches Mitleiden abzustatten/ auffgerichtet wurde von Nachbenahmten. Dresden 1676, fol. B 1r: „Gewesen ist er mir: Wer denn? Ich muß beklagen/ | Das Er mir mehrs nicht ist. Wer aber denn? der mir | Geholffen/ wann die Noth gewesen
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als Ausdruck des Gerichtes Gottes über die Sünde seiner Stadt verstanden, die sich der Predigt von Gesetz und Evangelium verweigert habe. Immer wieder, auch noch zweiundvierzig Jahre später, unternimmt er es, einer neuen Generation diese Einsicht „zur vermeidlichen Vergessenheit“17 nahezubringen. Dieses Grundmotiv zieht sich durch die Schriften Petermanns, auch durch die poetischen. Dichtung soll nach Petermann im Sinne Horaz’ – „aut prodesse volunt aut delectare poetae“18 – nützen und erfreuen, aber so, dass sie vor allem der Bildung, insbesondere der Bildung der „Einfältigen“19 dient. Im Grundsatz kann es daher für ihn nur einander bedingende pädagogische und religiöse Dichtung geben. Diese erbauende, auf Frömmigkeit zielende Wirkung von Dichtung hat Petermann gerade in Rists Schriften mustergültig umgesetzt gefunden: „commendem ipsum à nulla re magis, qvàm qvae prae caeteris in eo effulget, fonsqve reliqvarum ac norma virtutum est, Pietate“.20
2 Die Zusammenarbeit zwischen Petermann und Rist Vor diesem Hintergrund kam es in den Jahren 1655 bis 1659 zu einer intensiven Zusammenarbeit zwischen Petermann und Rist. Petermann übersetzte in diesen Jahren vier größere Werke Rists aus dem Deutschen in das Lateinische. Es handelt sich um die zunächst 1648 auf deutsch erschienene Sammlung von Passionsliedern mit dem Titel Der zu seinem allerheiligsten Leiden und Sterben hingeführter und an das Kreütz gehefteter Christus Jesus.21 Diese erschienen 1655 in einer
vor der Thür. | Jhm sag’ ich rühmlich nach: Zur Zeit als mich der Schwede/ | Mich/ und das gantze Pirn/ mich machte schwach und öde/ | Was that mein Metzner denn? Mein Vorrath war dahin: | Er aber schikkte mir so viel/ daß ich nicht bin | Damahls verhungert gantz. Er schenckte meinem Magen/ | Das mit dem Mangel Er sich konte wohl vertragen. | Drey Scheffel waren dar/ und zwar das beste Korn. | Ward mir benommen nicht dadurch mein Jammer-Dorn?“ 17 Petermann: Treugemeinter Zurück-Denck-Zettel (Anm. 13). 18 Horaz, De arte poetica, 333. Quintus Horatius Flaccus: Opera. Hg. von Friedrich Klingner. Leipzig 31959. 19 Petermann: Geistliche Buhlschaft (Anm. 4), fol. H 1r. 20 Rist: Geistliche Poetische Schriften I (Anm. 9), S. 26. 21 Johann Rist: Der zu seinem allerheiligsten Leiden und Sterben hingeführter und an das Kreütz gehefteter Christus Jesus […]. Hamburg 1648.
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bearbeiteten Neuausgabe22 mit den Übersetzungen Petermanns. Die veränderten Lieder dieser Ausgabe publizierte Rist nochmals in den Passionsandachten23 (1664). Die Himmlischen Lieder 24 (1641 f.), die Neuen Himmlischen Lieder 25 (1651) und die Sabbahtische Seelenlust 26 (1651) wurden von Petermann in den Jahren 1657 bis 1659 sukzessive übersetzt und erschienen als dreibändige, zweisprachige Ausgabe unter dem Haupttitel Geistliche Poetische Schriften.27 Darüber hinaus hat Petermann im Zusammenhang mit dem Reformationsjubiläum 1667 drei Lieder der Neuen Musikalischen Festandachten28 (1655), die Eckpunkte der Reformationsgeschichte behandeln, übersetzt und drucken lassen.29 Die Zusammenarbeit mit Rist suchte Petermann zunächst aufgrund der Lektüre der Himmlischen Lieder (1641 f.), aber vor allem aufgrund des 1648 erschienenen Werks Der zu seinem allerheiligsten Leiden und Sterben hingeführter und an das Kreütz gehefteter Christus Jesus. Petermann führt in der Vorrede der zweisprachigen Ausgabe von 1655 aus:
22 Johann Rist: Der zu seinem allerheiligsten Leiden und Sterben hingeführter und an das Kreutz gehefteter Christus Jesus/ Jn wahrem Glauben und Hertzlicher Andacht besungen von Jahan Risten. Jtzo auffs neue übersehen und an vielen Ohrten merklich verbessert. Nunmehr auch in der lateinischen Sprache übergesetzet von M. Tobia Petermano. Hamburg 1655. 23 Johann Rist: Neue Hoch-heilige Paßions-Andachten […]. Hamburg 1664. 24 Johann Rist, Johann Schop: Himmlische Lieder (1641/42). Kritisch hg. und kommentiert von Johann Anselm Steiger. Kritische Edition des Notentextes von Konrad Küster. Mit einer Einführung von Inge Mager. Berlin 2012. 25 Johann Rist: Neue Himmlische Lieder (1651). Kritisch hg. und kommentiert von Johann Anselm Steiger. Musik von Andreas Hammerschmidt, Michael Jacobi, Jacob Kortkamp, Petrus Meier, Hinrich Pape, Jacob Praetorius, Heinrich Scheidemann, Sigmund Theophil Staden. Kritische Edition der Notentexte von Konrad Küster. Berlin 2013. 26 Johann Rist: Sabbahtische Seelenlust […]. Lüneburg 1651. 27 Johann Rist: Geistliche Poetische Schriften. 3 Teile. Lüneburg 1657–1659. 28 Johann Rist: Neüe Musikalische Fest-Andachten […]. Lüneburg 1655. 29 Vgl. Johann Wilhelm Kellner von Zinnendorff: JESUS IMMANUEL! Evangelisch-Lutherisches Jubel-Jahr/ Das ist, Drey alte Lieder/ Teutsch und Lateinisch/ jn welchen die Thaten GOttes/ welche er itzt vor 200. Jahren durch seinen Apostolischen Rüst-Zeug den Seel. LUTHERUM ausgerichtet/ besungen worden; und zwar Anfangs in Teutscher Sprache von dem Seeligen Johann Risten/ Hernach in die Lateinische Oden gebracht von Tobia Petermannen Dem Drucke zu itzigem Jubel-Jahr übergeben durch Johann Wilhelm Kellnern Von Zinnendorff. O. O. 1717, fol. A 7r: „Daß uns dann darzu mehrere Erweckung gegeben werde/ habe ich folgende Drey Lieder von vorigen Jubel-Jahre wieder aus dem Staube langen wollen. Es hat die teutschen Anfangs der Berühmte/ Beliebte/ und Hochgehaltene Rist gemachet; welche hernach ein alter treuverdienter Rector zu Pirna/ Mag. Petermann am 28. October 1672. wieder aufgeleget/ und zu Lateinischen Oden übersetzet.“
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Ich sende dir, hochberühmter Herr Rist, Jesus, unseren gemeinsamen Erlöser, der von entsetzlichen Feinden in ganz unwürdiger Weise behandelt und endlich an das allerschändlichste Kreuz genagelt wurde. Damit er besungen werde, hast du ihn uns vor ungefähr fünf Jahren (wenn ich mich nicht täusche) durch öffentlichen Druck gegeben, [und zwar] mit solchem Erfolg, dass ich, sofern es meine Urteilskraft angeht, heilig beteuern kann, dass ich in dieser Literaturgattung nichts gesehen habe, das in irgendeiner Weise besser oder angemessener ist. Denn du bündelst den behandelten Gegenstand kurz und klar, fügst sofort die Lehre und die Gründe dazu, warum der Unschuldigste von allen so viele und so grausame Dinge erlitten hat und warum das an unserer Schuld liegt. Du fügst ebenso hinzu, auf welche Weise und welchen Wegen wir die Schuld durch Bitten abwälzen und den heiligsten Verdienst des Leidenden gebrauchen müssen.30
Petermann sah es daher als Desiderat an, dass Rists Werke nicht in lateinischer Sprache vorlagen, vor allem, weil es viele Menschen gebe, die sich an der lateinischen Sprache erfreuen31 und neben dem sprachlichen auch einen geistlichen Gewinn aus dem Gemeinschaftswerk ziehen können. Auch Rist stand dem Programm zeitgenössischer lateinischer Dichtung nicht fremd gegenüber. Er schätzte aber seine eigenen Fähigkeiten, in lateinischer Sprache zu dichten, zu gering ein, als dass er seine diesbezüglichen Versuche hätte veröffentlichen wollen.32
30 Rist: Leiden und Sterben 1655 (Anm. 22), fol. B 4v–5r: „MItto ad Te, Clarissime Dn. RISTI, JESUM, communem nobis Salvatorem, ab Hostibus immanissimis indignum planè in modum habitum, cruciqvè tandem ignominiosissimae suffixum. Hunc Tu nobis per publicos Typos dedisti decantandum qvinqve, nisi fallor, abhinc annis, eâ felicitate, ut, si qvid est in me judicij, sanctè qveam affirmare, me in hoc scribendi genere apud Germanos nihil qvicqvam vidisse praeclarius, nihil magis accuratum. Nam & rem gestam brevi semper stringis perspicuitate, & doctrinam statim addis atqve causas, cur innocentissimus omnium tanta sit ac tam atrocia passus, & in qvibus haereat culpa, quibus item modis viisvè haec deprecanda, & sanctissimum nobis applicandum Patientis sit meritum.“ 31 Vgl. ebd., fol. B 5v: „Qvùm enim sciam, multos qvoqve delectari Latinis, his ego pro facultate meâ, sed qvantulâ! deesse nolui.“ 32 Johann Rist: Poetischer Schauplatz/ Auff welchem allerhand Waaren Gute und Böse Kleine und Grosse Freude und Leid-zeugende zu finden. Hamburg 1646, fol. b 1v–2v: „Wendest du noch ferner ein: Warum ich die weinige Zeit/ welche mier von meinem höherem studieren und anderen so mannigfaltigen Geschäfften annoch übrig bleibet/ nicht viel lieber in erfindung lateinischer oder griegischer als teutscher Gedichte anlege? So bitte ich dich mein Freund/ du wollest nur anfänglich dieses bedenken/ daß ich ein rechter Teutscher und kein Grieche oder Römer sey gebohren/ und mich dannenhero vielmehr meiner Mutter-spraache/ alse einiger fremden/ sie heisse auch wie sie wolle/ hoch verpflichtet befinde/ zu geschweigen/ daß ich mich schon längst verbindlich gemachet habe/ das Auffnemen und die Fohrtsetzung dieser unserer so schönen und vollenkommenen Spraache eüsserstem vermügen nach helffen zu befoderen. Jm übrigen befriedige ich mich selber/ daß ich ein guhtes theil lateinischer Verß und überschrifften/ sonderlich der jenigen/ welche ich dieweil sie allerhand Gottselige Gedanken/ Seuftzer und Anruf-
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Dann aber sind es pädagogische Gründe, die Petermann zu einer Übersetzung bewogen haben. Auch Rist hat diesen Zusammenhang in seiner Vorrede zum ersten Band der Geistlichen Poetischen Schriften zum Ausdruck gebracht: Demnach auch ferner der wol-Ehrenvester und Hochgelehrter Herr Mag. Tobias Petermann/ Mein sonders wehrter Freund/ dise meine Lieder/ nicht weiniger lieblich/ als glüklich in die Latinische Sprache hat übergesetzet/ mit welcher Arbeit/ manchem gelehrten Liebhaber der Poesie/ sonderlich der Studirenden Jugend merklich wird gedienet seyn; […] damit Beider Sprachen Erfahrne/ Sich derer mit ja so grossem Nutz/ als Lust könten gebrauchen.33
Als Rektor einer Lateinschule musste Petermann im Sinne seines pädagogischen Ansatzes daran gelegen sein, seinen Schülern Texte anbieten zu können, die sowohl zur Frömmigkeit führen als auch die altsprachlichen Kenntnisse verbessern. Mit ähnlicher Zielsetzung hatte der Rektor des Lüneburger Gymnasiums Johann Georg Kettembeil im Jahre 1668 griechische, lateinische und deutsche Gedichte publiziert, die sämtliche loci aus Leonhart Hütters Compendium locorum theologicorum summarienartig auf den Punkt brachten.34 Beide nehmen dabei das Anliegen der älteren lateinischen Hymnentradition eines Georg Fabricius, Johannes Stigelius oder auch Andreas Ellingers auf, „das reiche Erbe christ-
fungen/ Lob- und Dankgebehte/ nebenst vielen herzlichen Trost-Sprüchen der lieben Altvätter begreiffen/ Sicilimenta Sacra genennet/ vor mich allein und zu meinem täglichem Gebrauch habe auffgesetzet/ welche öffentlich hervor zu geben ich/ in betrachtung solcher und derogleichen bey der gelahrten Welt durchaus kein mangel/ gantz unnöhtig zu sein erachte. Solte ich denn andere in dieser Spraache von mier geschriebene Verßlein gemein machen/ so würde ich doch vieleicht anders nichts damit außrichten als nur die edle Zeit und das Papir verderben/ angesehen erwähnete meine Verß man doch nimmermehr des Virgilius/ Horatius/ Martialis/ Owenus/ Taubmans/ Heinsius/ Barlaeus und anderer dieser und voriger zeiten hochgelahrten Männer Poetischen Schrifften würde gleich schätzen/ lasse sie derowegen viel lieber unter meinen eigenen als anderer Leute Bücheren veralten und ersterben.“ 33 Rist: Geistliche Poetische Schriften I (Anm. 9), fol. A 4r–v. Vgl. auch Johann Rist: Sämtliche Werke. Bd. 5: Epische Dichtungen (Die alleredelste Torheit. Die alleredelste Belustigung). Hg. von Eberhard Mannack. Berlin u. a. 1974 (Ausgaben deutscher Literatur des 15. bis 18. Jahrhunderts o. Nr.), S. 22: „Und dises hat auch uns fürnehmlich angereitzet und bewogen/ etliche Monahts-Gespräche zu Papir zu setzen/ nicht zweifelnd/ der liben/ studirenden Jugend merklich damit gedient sein werde/ junge Knaben/ wan sie dise Gespräche fleissig lesen/ auch wol in die lateinische Sprache übersetzen/ werden einen sonderbahren Nutzen daraus empfinden/ den sie nicht allein die Wohrte/ sondern auch die Sachen/ wie sie an sich selber beschaffen sind/ mit der Zeit daraus werden verstehen lernen.“ 34 Vgl. Leonhart Hütter: Compendium locorum theologicorum ex scripturis sacris et libro concordiae. Lateinisch – deutsch – englisch. Kritisch hg., kommentiert und mit einem Nachwort sowie einer Bibliographie sämtlicher Drucke des Compendium versehen von Johann Anselm Steiger. Stuttgart-Bad Cannstatt 2006 (Doctrina et pietas II, 3), Teilbd. 1, S. 779–781.
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licher Hymnendichtung aus Spätantike, MA und Humanismus zu betreuen und zu erschließen“35 und „die poetische Tradition der altchristlichen lat. Kirche für das Luthertum“36 zu sichern. Das geschah im Falle Fabricius’ auch dergestalt, dass seine „Hymnen […] zeitgenössisch vertont“37 wurden. Schließlich wird man sich vor Augen halten müssen, dass an der Lateinschule auch Unterricht in der Gesangskunst erteilt wurde.38 Das galt auch für die Schule in Pirna, der Petermann vorstand. Ein entsprechendes Lehrbuch für seine Schule wurde zu Lebzeiten Petermanns von Johann Quirsfeld veröffentlicht.39 Rist hat in der Vertonung seiner Lieder darauf Wert gelegt, dass es sich um Lieder handelt, „welche du auff bekante/ und in unseren Evangelischen Kirchen gebräuchliche Melodeien leichtlich singen/ dich auch dabenebenst (im falle du sonst der edlen Singekunst bist erfahren) der neüen von unterschiedlichen vortrefflichen Künstlern oder Komponisten/ (derer gleichen in Teutschland vieleicht wenig mehr zufinden) wolgesetzten Weisen kanst bedienen.“40 Damit dies auch in der lateinischen Übersetzung gelingen kann, hat Petermann seine Übersetzungen in Wortwahl und Rhythmus an Rists Prätexte angepasst, wobei ihm durchaus bewusst war, dass diese Verfahrensweise dem Dichtungsideal der klassischen lateinischen Autoren nicht entspricht: Ich übersetzte aber, soweit das möglich war, so, dass die lateinischen Worte den deutschen, die Verse den Versen, die Rhythmen den Rhythmen eins zu eins, wie man so sagt, entsprechen. Dazu meinte ich, jegliche Synaloephe und Ekthlipsis vermeiden zu müssen, die, wie wir wissen, den lateinischen Dichtern nicht verboten sind. Das tat ich mit dem Ziel, dass, wenn jemand Gefallen daran fände, unsere [Lieder] zu singen, nichts, insofern es die Worte betrifft, an Anstoss oder Verzögern fände.41
35 Sigmar Doepp: Art. Ellinger, Andreas. In: Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon Bd. 2. Hg. von Wilhelm Kühlmann u. a. Berlin 2012, Sp. 199–207, hier Sp. 201. 36 Hermann Wiegand: Art. Fabricius, Georg. In: Ebd., Sp. 272–283, hier Sp. 275. 37 Ebd., Sp. 276. 38 Vgl. Konrad Küster: „O du güldene Musik“. Wege zu Johann Rist. In: Johann Anselm Steiger (Hg.): „Ewigkeit, Zeit ohne Zeit“. Gedenkschrift zum 400. Geburtstag des Dichters und Theologen Johann Rist. Neuendettelsau 2007 (Testes et testimonia veritatis 5), S. 77–179, hier S. 122 f. 39 Vgl. Johann Quirsfeld: Breviarum Musicum Oder Kurtzer Begriff/ Wie ein Knabe leicht und bald zur Singe-Kunst gelangen/ und die nöthigsten Dinge darzu kürtzlich begreiffen und erlernen kan. Nebenst einem Anhange unterschiedenen Deductionen und Fugen nach den zwölff Modis Musicis. Dresden 1675. 40 Rist: Neue Himmlische Lieder (Anm. 25), S. 39. 41 Vgl. Rist: Geistliche Poetische Schriften I (Anm. 9), S. 29 f.: „Transscripsi autem ita, ut, qvoad ejus fieri potuit, Latina Germanicis, versus versibus, Rhythmi Rhythmis ex asse, qvod dicitur, responderent. Ad haec vitandam & mihi putavi omnem & Synaloephen et Ecthlipsin, qvàm Latinis
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Neben das pädagogische trat zuletzt auch ein missiologisches Interesse. Rists Dichtung ist in seiner ursprünglichen Form auf eine deutsche Hörerschaft begrenzt. Lateinische Dichtung ist aber grenzübergreifend. Durch die Übersetzung ‚gesunder‘ geistlicher Dichtung wird auch insbesondere denen, die ‚Verlangen nach himmlischen Dingen haben und das Irdische verabscheuen‘,42 aber kein Deutsch sprechen, die Möglichkeit eröffnet, geistlichen Gewinn aus Rists Liedern zu ziehen: Da ich von der Liebe zu den himmlischen Dingen berührt und gleichsam auch von ihr gezogen war, übersetzte ich das ganze kleine Buch vor wenigen Jahren in das Lateinische, damit ich auf diese Weise nicht allein uns, den Deutschen, die mittlerweilen eine Vielfalt [scil. guter geistlicher Literatur] erfreut, sondern insbesonders den Ausländern, die unsere Sprache nicht kennen oder darin nicht ausreichend bewandert sind, hälfe.43
Petermann hat Rist, um ihn für sein Vorhaben zu gewinnen, Proben seiner Übersetzungen aus den Himmlischen Liedern übersandt. In der Vorrede zur Neuausgabe derselben (1652) lässt sich feststellen, dass Rist von dieser Übersetzung ausgesprochen begeistert war: Demnach aber dise Arbeit nicht weiniger zu Befoderung der Ehre Gottes/ in deme/ daß mehrgedachte h. Lieder auch fremden Völkern müchten bekant und so woll ausser als innerhalb Teütschland gesungen werden/ vom Herren Peterman ist angefangen: So will ich aus dem Ersten Theil/ welches wolgemelter Herr Peterman mir unlängst übersendet/ nur ein paar Sätze deß Grabeliedes Christi zur Probe anhero setzen/ auß welchen der gelehrte Leser von den anderen leichtlich wird urtheilen können. O Traurigkeit! O Hertzeleid! Jst daß nicht zu beklagen? Gott des Vatters einigs Kind Wird ins Grab getragen?
Heu! Heu dolor, Luctus, labor! Quis jure non queratur? Unicus gnatus Dei Patris, en! humatur
qvidem Poëtis non interdictam novimus. Vitavi autem eô fini, ut, si cui allubesceret haec nostra modulari, nihil qvoad verba vel remorae vel offendiculi haberet.” 42 Vgl. Rist: Geistliche Poetische Schriften I (Anm. 9), S. 27: „Calamum vident, legunt & intelligunt non Auditores solùm, sed universus ferè Orbis Europaeus, & in hoc inprimis illi, qvibus desiderio sunt Coelestia, Terrena Fastidio. Calamus (intelliges Poëticum) movetur à compluribus.“ 43 Ebd., S. 29: „Horum igitur Coelestium tactus ego atque tractus amore, deduxi totum Libellum pauculis abhinc annis in Latium, ut hac ratione non nos solùm, homines Germanos, qvos interdùm varietas delectat, sed inprimis extraneos, nostraeque Lingvae aut ignaros aut non satis peritos juvarem.“
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2. O grosse Noht! Gott Selbst liegt Tod/ Am kreüz ist Er gestorben/ Hat dadurch das Himmelreich Uns aus Lieb erworben.
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2. Deus jacet Heu! ipsemet: Palus dedit necatum Hinc polum nobis licet Obtinere gratum.
Um weitläuffigkeit zu vermeiden/ mag Jch ein mehrers nicht hieher schreiben/ ist sonst bei den Anderen Liederen/ welche noch besser kommen/ mit Lust und Verwunderung zu lesen/ wie wol und geschiklich eß diser gelehrte Mann hiemit getroffen/ inmahssen solches zu Seiner zeit verständige Leüte nebenst Mir werden bekennen/ und daß Werck als Ein seines Meisterstük rühmen müssen.44
3 Petermanns Übersetzung von Rists Der zu seinem allerheiligsten Leiden und Sterben hingeführter und an das Kreütz gehefteter Christus Jesus Blickt man auf die Übersetzungen der Werke Rists durch Petermann, so zeigt sich bei dem Werk Der zu seinem allerheiligsten Leiden und Sterben hingeführter und an das Kreütz gehefteter Christus Jesus ein für den Entstehungszusammenhang interessanter Sachverhalt. Petermann hat seiner Übertragung die Erstausgabe von 1648 zugrunde gelegt. Rist hat die Lieder für die Neuausgabe – und dies offensichtlich in Kenntnis der lateinischen Übersetzung – teilweise erheblich überarbeitet. In etlichen Passagen hat er den Wortlaut der Lieder gemäß der Petermannschen Übersetzung geändert. An anderen Stellen hat er Veränderungen vorgenommen, denen Petermann, hätte er diese Textstufe gekannt, ohne größeren Aufwand übersetzerisch hätte folgen können. So lautet die achte Strophe der zweiten ‚Hinführung‘ in der Fassung von 1655 folgendermaßen:45
44 Johann Rist: Himlische Lieder/ Mit sehr lieblichen und anmuhtigen/ von dem fürtrefflichen und weitberühmten H. Johann Schop/ wolgesetzeten Melodeien Nunmehr aufs neüe Widrum übersehen/ in Eine gantz andere und richtigere Ordnung gebracht/ an vielen Ohrten verbessert/ und mit Einem nützlichen Blatweiser beschlossen. Lüneburg 1652, fol. B 1r. 45 Rist: Leiden und Sterben 1655 (Anm. 22), fol. C 2v–4r.
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8. Es müsse meiner Zungen Band Durch eines frechen Mörders hand Gantz grausahm werden abgetrant/ Wen sie dich nicht sol preisen/ Kein Kreütz ist ia so groß und schwehr Jn diesem Welt und Sünden meer/ Daß deine Marter nicht verzehr/ Ach HErr/ Sie kan erweisen/ Daß kein betrübter Mensch vergeht/ Dem sein vertrauen zu dir steht.
8. Praefecta lingva sit mihi, Manu latronis impij, te laudibus colat nisi Et thure gratiarum. Non ulla fors arceba tam Per hujus Orbis orbitam, Absorbeas tu apte qvam Non morte. Cor amarum Solatiô tu sustines, Cui fortis in Te stat fides.
Blickt man in die erste Ausgabe von 1648, so steht dort im fünften Vers: „Ach Herr/ kein Unglück ist so schwer“. Zwar bewegt sich „fors arcerba“ – ‚bitteres Los‘ – semantisch zwischen ‚Unglück‘ und ‚Kreuz‘, gleichwohl wäre metrisch eine exakte Übersetzung von ‚kein Kreuz‘ mit ‚non ulla crux‘ ohne Schwierigkeiten denkbar gewesen. Ein ähnliches Phänomen läßt sich auch in der neunten Strophe der fünften Hinführung46 beobachten: 9. Stärke Mir Hertz/ Sinn und Muht Daß Jch freüdig dich bekenne/ Daß Jch Dich mein höchstes Guht Frölich biß ans Ende nenne/ Gib Mir doch Beständigkeit Daß Mich ia bei dieser zeit Nichts von deiner Lieb’ abwende/ Lib’ auch Mich/ biß an mein Ende.
9. Me fac imperterrito Spiritu Te confiteri Optimumqve serio Maximum Bonum vereri. Da mihi constantiam, Ne trahat qvid uspiam A tuâ me charitate, Finiam donec beate.
Auch hier sieht man, dass Petermann sich offensichtlich an der 1648er Fassung Rists orientiert hat. Dort hatte Rist geschrieben: „Biß Jch sanft mein Leben ende.“ Petermanns Übersetzung „finiam donec beate“ folgt diesem Wortlaut. Anders verhält es sich bei einer weiteren signifikanten Änderung, die Rist gegenüber der Erstausgabe von 1648 vorgenommen hat. Hier ändert Rist seinen Text zugunsten der Übersetzung. In der fünften Hinführung lautet die achte Strophe:47
46 Ebd., fol. D 5v–6r. 47 Ebd.
Tobias Petermanns lateinische Übersetzungen von Gedichten Rists
8. Bin Jch doch nur Asch’ und Erd’ Und dein Grim macht alles zittern/ Wehe Mir/ wenn Jch dich werd! Als den Richter Selbst erbittern/ Sei zu frieden O mein Licht Dem sonst keine Macht gebricht Schwehre Sünden abzustraffen; Doch/ laß dein vermügen schlaffen.
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8. Instaren! sum pulveris: Cuncta Te tremunt furentem. Vae mihi, si gesseris vindicem te saevientem. Sit satis, Lux ô mea, Ausa Te nefaria posse sub poenas vocare. Quod potes, noli patrare.
1648 hatte Rist formuliert: „Weh mir/ wenn Jch Dich werd’ in der Sündenrach’ erbittern“. Die lateinische Übersetzung erinnert aber nicht von ferne daran. Im Gegenteil, Petermanns Fassung „Vae mihi, si gesseris vindicem te saevientem“ („Weh/ Mir, wenn du das Amt des zürnenden Richters eingenommen hast“) entspricht Rists späterer Fassung deutlich besser. Nach der Übersetzung der Passionslieder arbeiteten Petermann und Rist gemeinsam an einem größeren Projekt, der zweisprachigen Ausgabe von Rists Geistlichen Poetischen Schriften. Petermann verfolgte bei der Translation der Lieder Rists in das Lateinische vor allem zwei Zielsetzungen. Einerseits wollte er eine möglichst genaue Übersetzung vorlegen, die dem Wortlaut und der theologischen Intention Rists48 folgt, andererseits sollten auch die lateinischen Lieder immer noch singbar bleiben: „Vitavi autem eô fini, ut, si cui allubesceret haec nostra modulari, nihil qvoad verba vel remorae vel offendiculi haberet.“49 Somit mussten sie auch im Lateinischen dem deutschen Metrum folgen. Das ist Petermann auch, wenngleich an manchen Stellen ungelenk, gelungen. Aber angesichts dieser Tatsache kann es nicht verwundern, dass sich Petermann bei seinen Übertragungen eine gewisse übersetzerische Freiheit nehmen musste, um dieser Zielsetzung Genüge tun zu können. Wie Petermann die Aufgabe gelöst hat, beiden Zielsetzungen gerecht zu werden, soll anhand von einigen signifikanten Strophen und Topoi exemplarisch geprüft werden. Das Lied O Traurigkeit! O Hertzeleid!50 soll dabei in Gänze zuerst untersucht werden, hatte Rist Petermanns Übersetzung doch beschieden, „wie wol und geschiklich eß diser gelehrte Mann hiemit getroffen“51 habe.
48 Rist bezeichnet seine Liedsammlungen als theologische Schriften und verfolgt damit das Ziel „alle Stükke unserer Christlichen Lehre“ (Rist: Neues Musikalisches Seelenparadis [Anm. 2], fol. b 1v) zur Darstellung zu bringen. Daher ist bei den Liedern auch insbesondere auf die biblischen Referenztexte zu achten, die Rist verwendet. 49 Rist: Geistliche Poetische Schriften I (Anm. 9), S. 30. 50 Ebd., S. 86–91. 51 Rist: Himmlische Lieder 1652 (Anm. 44), fol. B 1r.
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4 Heu! Heu dolor, Luctus, labor! – Tobias Petermanns Übersetzung von Rists „O Traurigkeit! O Herzeleid!“ 1. O Traurigkeit! O Hertzeleid! Jst daß nicht zu beklagen? Gott/ des Vatters einigs Kind/ Wird ins Grab getragen?
1. Heu! Heu dolor, Luctus, labor! Quis jure non qveratur? Unicus Gnatus DEI Patris, en! humatur
2. O grosse Noht! Gott selbst ligt todt/ Am Kreutz ist Er gestorben/ Hat dadurch das Himmelreich Uns aus Lieb’ erworben.
2. DEUS jacet Heu! ipsemet: Palus dedit necatum. Hinc polum nobis licet Obtinere gratum.
In den ersten beiden Strophen beschreibt Rist ganz im Sinne der lutherischen Lehre von der Idiomenkommunikation den Tod Christi als den Tod Gottes selbst und nicht allein der menschlichen Natur Christi,52 der pro nobis geschehen ist. Petermann folgt Rists theologischer Intention in seiner Übersetzung. Zwar formuliert er in der ersten Strophe vorsichtiger als Rist, wenn er davon spricht, dass ‚der
52 Vgl. Martin Luther: Vom Abendmahl Christi, Bekenntnis (1528). In: Luthers Werke in Auswahl. Unter Mitwirkung von Albert Leitzmann hg. von Otto Clemen. Bd. 3. Berlin 51959, S. 352– 516, hier S. 391, 21–23: „Aber dennoch weil Gottheit und menscheit ynn Christo eine person ist/ so gibt die schrifft/ umb solcher personlicher einickeit willen/ auch der Gottheit/ alles was der menscheit widderferet“. Die Rechtgläubigkeit des Liedes war jedoch umstritten. Der schleswigholsteinische Generalsuperintendent Stephan Klotz stellte jedoch die Orthodoxie des Liedes fest (vgl. Rist: Neue Himmlische Lieder [Anm. 25], S. 417 f.) und gab Rist darüber in einer Ehrenschrift Auskunft (vgl. ebd., S. 44): „Dieses aber kan ich nicht absehen/ aus was Ursachen von jemanden getadelt worden sey/ daß E. Ehrwürde in Jhrer/ vor der Zeit herauß gegebenen Geistreichen Himlischen Liedern/ und zwahr in dem Liede von der Begräbniß Christi gesetzet: O grosse Noht/ GOtt selbst ligt todt/ und daß in einem andern Liede gesungen: GOtt der hat mich gahr verlassen/ keinen Trost kan ich itz fassen/ hier in dieser Unglüks Bahn. Denn/ ist es wahr/ daß GOtt warhaftig gestorben/ und der HErr der Herrligkeit gecreütziget/ getödtet/ wie es je wahr seyn und bleiben muß/ so ists auch wahr/ daß GOTT wahrhafftig selbst todt gewesen: Es were den sache/ daß der nicht müste todt seyn/ der getödtet ist. Jsts wahr/ daß unser JESUS in seiner allertieffesten Erniedrigung geklaget/ sein GOtt habe Jhn verlassen/ und daß Er keine Hülffe wisse zu fassen/ und keinen Tröster finden könne/ wie die Prophetische Psalme von Jhm klagen: Ei so ist auch recht gesaget/ daß diß die Meynung seiner Klage sei/ Er wisse keinen Trost zu fassen. Und möcht Jch gerne hören/ wie derselbe die hefftige und erschrekliche Klage unsers JEsus erklähren wollen/ da Er saget/ daß Er verlassen sei/ wenn es nicht von der Entziehung des Göttlichen Trostes/ die Jhm in derselben Zeit widerfahren/ solte und müste verstanden werden.“
Tobias Petermanns lateinische Übersetzungen von Gedichten Rists
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eingeborene Sohn Gottes, des Vaters, begraben wird‘, betont aber in der zweiten Strophe, dass Gott höchstselbst (deus ipsemet) gestorben sei. 3. O Menschen Kind! Nur deine Sünd’ Hat dises angerichtet/ Wie du durch die Missethat Warest gantz vernichtet.
3. Haec nempe vis Est criminis, Homo, tui stupenda, Praeda qvum fores stygis Ignibus dolenda.
4. Dein Bräutigam/ Das Gottes Lamm Ligt hie mit Blut beflossen/ Welches es gantz mildiglich Hat für Dich vergossen.
4. Sponsus tuus Castissimus Hic livet à cruore, In salutem qvem tuam Fudit ex amore.
5. O süsser Mund! O Glaubens-Grund/ Wie bist Du doch zuschlagen! Alles was auff Erden lebt/ Muß Dich ja beklagen.
5. Os melleum, Non felleum, Quae flagra non subisti? Quicqvid hoc spirat solo, Adstat ore tristi.
In den weiteren drei Strophen zeigt sich, dass Petermann eigene Formulierungen gebraucht, die sich von der Vorlage entfernen. Es wäre vom Metrum durchaus denkbar gewesen, „Das Gottes Lamm“ (Joh 1,29.36) mit agnus dei zu übertragen. Petermann legt aber hier Wert auf den Gegensatz von „castissimus“ und „livet a cruore“. Dadurch wird die innere Kohärenz der Strophe gestört. Denn der Akzent des Heilshandelns liegt zunächst auf dem reinen, völlig fleckenlosen Bräutigam, der von Blut befleckt ist. In den nächsten beiden Versen allerdings ist es dann das Blut, das zum Heil aus Liebe fließt. Auch in der fünften Strophe ist Petermann am Gegensatz interessiert, wenn er dem Honigmund (os mellium) einen Giftmund (os fellium) entgegenstellt. 6. O lieblichs Bild/ Schön zart und mild/ Du Söhnlein der Jungfrauen! Niemand kann dein heisses Bluth Sonder Reü anschauen.
6. Mortalium Flos omnium, Quem virgo casta sevit, Qvis videt sangven tuum, Christe, nec dolebit?
Auffällig ist in der sechsten Strophe, dass Petermann hier das biblische Verweissystem seiner Textvorlage erweitert. Das Jungfrauenmotiv ist alttestamentlich mit Jes 7,14 verbunden: „Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie nennen Immanuel.“ Petermann bezieht sich mit der For-
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mulierung „virgo casta“ auf diese Tradition, erweitert aber durch die Formulierung „Mortalium Flos omnium“ den biblischen Referenzrahmen um Jes 11,1 f.53 7. Hochselig ist Zur jeden frist/ Der dieses recht bedenket/ Wie der HErr der Herrligkeit Wird ins Grab versenket.
7. Beatus is, Defixus his Qui rectius rependit, Quomodo Rex gloriae Hinc in ima tendit.
8. O Jesu/ Du Mein’ Hülff’ und Ruh’/ Jch bitte Dich mit Thränen: Hilff/ daß ich mich biß ins Grab Möge nach Dir sehnen!
8. JEsu, mea Fiducia, Te, Te rogo dolenter, Me rapi velis tui Igne continenter.
In der achten Strophe entfernt sich Petermann sehr weit von Rists Prätext: ‚Jesus, meine Zuversicht, dich, dich bitte ich mit Trauer, du mögest wollen, dass ich beständig deinem Feuer entrissen werde.‘ Das Gerichtsmotiv, das Petermann hier zur Geltung bringt, spielt bei Rist („Ich bitte dich mit Thränen“) nur eine untergeordnete Rolle. Rist betont vielmehr die heilsame Nähe des Gekreuzigten, nach dem der Sänger Sehnsucht hat.
5 Aeternitas! vox horrida – Tobias Petermanns Übersetzung von Rists „O Ewigkeit, du Donnerwort“. Nicht allein wegen seiner Vertonung durch Johann Sebastian Bach ist O Ewigkeit, du Donnerwort eines der bekanntesten Lieder Rists. Es hat auch weite Verbreitung in den Gesangbüchern des 17. Jahrhunderts gefunden.54 An ausgewählten Strophen55 soll wiederum deutlich gemacht werden, wie Petermann seine Übersetzung gestaltet hat.
53 Jes 11,1 f. lautet in der lateinischen Fassung der Vulgata: „Et egredietur virga de radice Jesse, et flos de radice ejus ascendet. Et requiescet super eum spiritus Domini: spiritus sapientiae et intellectus, spiritus consilii et fortitudinis, spiritus scientiae et pietatis.“ 54 Vgl. Lukas Lorbeer: Die Sterbe- und Ewigkeitslieder in deutschen lutherischen Gesangbüchern des 17. Jahrhunderts. Göttingen 2012 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 104), S. 166. 55 Vgl. Rist: Geistliche Poetische Schriften I (Anm. 9), S. 300–309.
Tobias Petermanns lateinische Übersetzungen von Gedichten Rists
1. O Ewigkeit/ du DonnerWohrt/ O Schwerd/ das durch die Seele bohrt/ O Anfang sonder Ende/ O Ewigkeit/ Zeit ohne Zeit/ Jch weiß für grosser Traurigkeit/ Nicht wo Jch Mich hinwende! Mein gantz erschroknes Hertz erbebt/ Daß Mir die Zung am Gaumen klebt.
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1. AETernitas! vox horrida Machaera perterricrepa! Carens origo metae! O tempus expers temporis! Mens maeret & nescit fatis Certâ frui qviete, Horresco totis ossibus, Haeretque lingva faucibus.
Die erste Strophe wiederholt Rist in Abwandlung der letzten beiden Verse in Strophe 16 noch einmal: 16. O Ewigkeit/ du DonnerWohrt/ O Schwerd/ das durch die Seele bohrt/ O Anfang sonder Ende! O Ewigkeit/ Zeit ohne Zeit/ Jch weiß für grosser Traurigkeit/ Nicht/ wo Jch Mich hinwende/ HERR Jesu/ wenn es Dir gefält Eil’ Jch zu Dir ins HimmelsZelt
16. AETernitas! vox ferrea! Machaera perterricrepa! Carens origo metae! Ô tempus expers temporis! Mens maeret & nescit fatis Certâ frui qviete, Nutu tuo, coelestia, JESU, peto tentoria.
Petermann gelingt es nur durch einen von ausgeprägter Gelehrsamkeit zeugenden Umweg, den für Rist so wichtigen Begriff ‚Donnerwort‘ zu übersetzen. Zwar drückt das Substantiv vox den Sinn des gesprochenen Wortes durchaus aus, aber sowohl horrida als auch ferrea treffen den Aspekt des Donnerns nicht. Vox tonans bzw. verbum tonans, die semantisch besser passen würden, hätten hingegen das Versmaß gesprengt. Es ist die ungewöhnliche Formulierung „machaera perterricrepa“, die den Aspekt des Donnerns hervorhebt. Im sechsten Buch von De Rerum Natura gebraucht Lukrez eben jenes ‚schrecklich knallende Geräusch‘, um den Donner zu beschreiben:56 post ubi conminuit vis eius et impetus acer, tum perterricrepo sonitu dat scissa fragorem.
Auf diese Weise bringt Petermann zwar den Aspekt des Donnerns sprachlich zur Geltung, verliert aber den biblischen Bezug zu Hebr 4,12. Die efficacia des Gerichtswortes Gottes, von der in Hebr 4,12 die Rede ist, bezieht Rist auf die Wirkung, die das Wort ‚Ewigkeit‘ im Menschen auslöst.
56 Lucr. 6, 129 f. (T. Lucretius Carus: De Rerum Natura. Hg. von Josef Martin. Leipzig 1969). Das Wort „perterricrepus“ ist klassisch sonst nur noch Cic. Orat. 164,6 belegt.
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2. Kein Unglük ist in aller Welt/ Daß endlich mit der Zeit nicht fält Und gantz wird auffgehoben; Die Ewigkeit hat nur kein Ziel/ Sie treibet fort und fort ihr Spiel/ Läst nimmer ab zu toben/ Ja/ wie mein Heyland selber spricht: Aus Jhr ist kein’ Erlösung nicht.
2. Non ulla crux hoc est solô, Quae non abit cum seculo, Et prorsus obsolescit. Aeternitas fini caret: Se terminis claudi timet: Haec una non senescit. CHRISTOque teste serio, Non est ei redemtio.
3. O Ewigkeit/ du machst mir bang’/ O Ewig/ Ewig/ ist zu lang’ Hie gilt fürwahr kein schertzen! Drüm/ wenn Jch diese lange Nacht/ Zusamt der grossen Pein betracht’ Erschrek’ Jch recht von Hertzen/ Nichts ist zu finden weit und breit So schrecklich als die Ewigkeit!
3. O longa, qvas mihi creas Curas graves, Aeternitas? Non hic licet jocari. Hanc ergò qvum considero Coeco ferendam Tartaro, Surgunt metus amari. Aeternitate tristius Nihil, nec est atrocius
4. Was acht’ Jch Wasser/ Feür und Schwert? Diß alles ist kaum nennens werth/ Es kan nicht lange dauren: Was wär es/ wenn gleich ein Tyran/ Der funfftzig Jahr kaum leben kan Mich endlich ließ vermauren? Gefängniß/ Marter/ Angst und Pein/ Die können ja nicht ewig seyn.
4. Quid ensis, ignis, aut aqvae? Haec digna vix sunt dicere, Mox qvippe desitura. Quid? si Tyrannis carcere Includeret molestia me, Et ipsa transitura? Aeterna non sunt tormina, Non carcer, aut gravamina.
In den weiteren Strophen hat Petermann inhaltlich und sprachlich treffende Übersetzungen angefertigt, wenngleich er im fünften und sechsten Vers der zweiten Strophe übersetzerisch wieder eigene Wege geht. Betont Rist das Wirken nach außen, das die Ewigkeit ausübt, so beschreibt Petermann den Aspekt der zeitlichen Grenzenlosigkeit der Ewigkeit: ‚Sie fürchtet sich, begrenzt zu werden, sie allein wird nicht alt.‘ In der dritten Strophe beschreibt Petermann die Sorge des Menschen, der das Wort ‚Ewigkeit‘ gehört hat, sprachlich geschickt. Die schweren Sorgen, die es dem Menschen bereitet, sind eingerahmt von der langen Ewigkeit, die Länge der Ewigkeit wird sprachlich durch das Hyperbaton „longa […] Aeternitas“ noch weiter intensiviert. Gelungen ist auch die Übersetzung Rists „Erschrek’ Jch recht von Hertzen“ durch „Surgunt metus amari“, weil die ängstliche Passivität des Menschen deutlich zum Ausdruck gebracht wird. Beinahe wörtlich gelingt es Petermann, den Anfang der vierten Strophe zu übersetzen. Er muss lediglich die Begriffe ‚Wasser‘ und ‚Schwert‘ austauschen.
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6 An filius non est Dei – Tobias Petermanns Übersetzung von Rists „Ist dieser nicht des höchsten Sohn“ Als drittes Beispiel für die Übersetzungen Petermanns dienen drei Strophen aus dem vierten Passionssalve57 mit dem Titel „AD LATUS“. Diese Texte dürfen als das wohl bedeutendste Zeugnis der Wirkungsgeschichte von Petermanns literarischem Schaffen angesehen werden. Denn Dietrich Buxtehude hat Petermanns Übersetzung seiner Kantate An filius non est Dei (BuxVW 6) zugrunde gelegt.58 1. JSt dieser nicht des höchsten Sohn/ Der Sünder Heil und Gnadentrohn/ Dem man in seiner grossen quahl/ Die Rieben zehlet allzumahl Ans Kreützes Pfahl?
1. AN filius non est DEI, Fons gratiae, salus Rei, Tormenta cui per impia Sunt ossa tralucentia, Crucis via?
2. Ach ia/ es ist mein JEsulein/ Dem gukk’ Jch in die Seit’ hinein/ Jn welcher lauter Hönig klebt Daß allem Trübsahl wiederstrebt/ Das ümm’ uns schwebt.
2. Quin immo JESUS est meus, In cujus inspecto LATus, Ex quo merum mel profluit, Quod, quicquid in nos irruit, Mox destruit.
[…] 4. Jch nahe Mich in furcht zu dir/ Du Gottes Lamm verzeih’ es Mir/ Jch komm’ allein zu sehen an/ Die Wunde welch’ uns heilen kan/ Da Bluht außrann.
[…] 4. Plenus metu compello te. Placabilis videto me! Spectator adsum vulneris, Ex quo salus est aetheris Nobis reis,
Petermann gelingt es in der ersten Strophe, sehr bildhaft darzustellen, wie ausgemergelt der leidende Jesus am Kreuz hängt. Die Knochen scheinen durch die Haut hindurch – sie werden transluzent. Auf der anderen Seite ist auch in dieser Strophe wieder eine theologische Akzentverschiebung festzustellen. Der sühnetheologisch hoch bedeutsame Begriff ‚Gnadenthron‘ (Lev 16,2; Röm 3,25; Hebr 4,16) wird von Petermann durch das Bild der Quelle (vgl. Ps 36,10; Joh 4,14)
57 Rist: Leiden und Sterben 1655 (Anm. 22), fol. H 6v–8r. 58 Vgl. Gunilla Eschenbach: Dietrich Buxtehudes Membra Jesu Nostri (1680) im Kontext lutherischer Mystik-Rezeption. In: Kirchenmusikalisches Jahrbuch 88 (2004), S. 41–54, hier S. 44.
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ersetzt. In der zweiten Strophe betont Petermann mit Hilfe der Alliteration „merum mel“ stärker als seine Vorlage die Reinheit des göttlichen Honigs. In der vierten Strophe ist auffällig, dass Petermann Rists ‚Lamm Gottes‘ schlicht nicht übersetzt. Der freie Umgang mit Rists Vorlage an dieser Stelle ist auffällig und auch an anderen Stellen beobachtbar.
7 Agnus dei – der Umgang mit einem biblischen Topos bei Rist und Petermann Petermann hat in der vierten Stophe von O Traurigkeit! O Herzeleid!59 den Bezug zu dem biblischen Topos des Lammes Gottes (Joh 1,29.36) getilgt, indem er „Dein Bräutigam/ Das Gottes Lamm“ mit „Sponsus tuus Castissimus“ übersetzte. Petermann beweist nicht nur an dieser Stelle, dass er das Motiv des Lammes Gottes nicht primär in opfertheologischer Hinsicht begreifen will, sondern es durch sprachliche Umgestaltungen verändert und in andere Sinnzusammenhänge einbettet. In der zweiten Strophe des Liedes Ermuntre dich mein schwacher Geist 60 geschieht ähnliches: Willkommen süsser Bräutigam Du König aller Ehren/ Willkommen Jesu/ GOttes Lam/ Jch wil dein Lob vermehren/ Jch wil dir all mein Lebenlang Von Hertzen sagen Preiß und Dank/ Daß Du/ da Wir verlohren Für uns bist Mensch gebohren.
Salveto, dulcis Sponsule, Rex gloriae decóre! Salveto, die JEsule Te confitebor ore. Hic dum reget me Spiritus, Cantabo Te medullitùs. Nostros es ob reatus, Caro misella natus.
Petermann streicht hier den Bezug auf das Lamm Gottes vollständig und legt dem angesprochenen Jesus lediglich das Attribut „dius“ bei. Die fünfte Strophe des Liedes O Grosser Gott ins HimmelsThron61 lautet: O frommes/ unbeflektes Lamm/ O schönster Mensch auff Erden/ O Manna/ das vom Himmel kam/ Du must geopffert werden; Dein Händ’ und Füss’
O Agne, divinissime, Pulchelle flos virorum, Ô Manna coeli, crimine Fatum subis reorum, Pes & manus,
59 S. o. S. 151. 60 Rist: Geistliche Poetische Schriften I (Anm. 9), S. 33–42. 61 Ebd., S. 56–67.
Tobias Petermanns lateinische Übersetzungen von Gedichten Rists
Ob sie gleich süss’ Am letzten End’ uns laben/ Sind sie doch gantz durchgraben.
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Vitae qvibus Ex asse sublevantur Extrema perforantur.
Petermann übersetzt die ersten beiden Verse sinnverändernd mit „O Agne, divinissime, Pulchelle flos virorum“. Gewiß läßt sich aufgrund des Versmaßes nicht direkt übersetzen: „O agne, pie immaculateque“. Aber es ist dennoch eine erhebliche theologische Akzentverschiebung festzustellen, wenn der Hinweis auf die Sündlosigkeit des Opferlamms getilgt wird und an dessen Stelle die Bezugnahme auf Jes 11,1 f. tritt.62 Zwei der Himmlischen Lieder handeln im Titel expressis verbis vom Lamm Gottes. Es sind O Gottes Lam/ daß du die Schuld 63 und O Jesu nie beflecktes Lamm.64 Im erstgenannten Lied lautet die erste Strophe folgendermaßen: 1. O Gottes Lam/ daß Du die Schuld Der Welt getragen mit Geduld/ Jch klage Dir mit Schmertzen/ Daß Mir in meinem Hertzen/ Die Bößheit angebohren/ So/ daß sich gantz und gahr Geduld bey Mir verlohren/ Die doch hochnöhtig war.
O Agne, qvi non asperè Fers ausa Mundi, pectore Tibi qveror dolente, Quòd à mea parente Virus malignitatis Contraxerim miser, Ut inde Lenitatis Nil fit mihi super.
‚Nicht bitter trägst du die Wagnisse/Frechheiten der Welt‘, übersetzt Petermann. Auch hier ist theologisch gesehen eine Abschwächung der Aussage festzustellen, weil „ausa“ nicht dieselbe Tiefendimension wie „peccata“ hat. Eine noch deutlichere Sinnverschiebung zeigt sich in dem anderen genannten Lied: O JEsu nie beflektes Lamm/ Du meiner Seelen Bräutigam/ Was hastu doch verschuldet?
O Agne, Iesu, bellule, Meique cordis sponsule, Quid, qvaeso, perpetrasti?
Es war gewiß nicht Rists Absicht, aus dem ‚nie befleckten Lamm‘ ein ‚allzu schönes‘, ein ‚gar niedliches Lämmlein‘ zu machen, wie es Petermanns „bellule“ andeutet.
62 Vgl. o. S. 151 f. 63 Rist: Geistliche Poetische Schriften I (Anm. 9), S. 372–381. 64 Ebd., S. 48–57.
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8 Zur Wirkung und Bewertung Petermanns Blickt man auf die untersuchten Texte, so lässt sich feststellen, dass Petermann durchaus gelungene lateinische Übersetzungen der Lieder Rists verfertigt hat. Gleichwohl konnte und wollte er dem Anspruch, Rists Dichtungen ex asse zu übersetzen, nicht genügen. An einigen Stellen nötigte ihn das Versmaß zu Umstellungen, an anderen übersetzte er aus theologischer Überzeugung anders als Rists Vorlagen es eigentlich erfordert hätten. Betrachtet man die Selbstaussagen Petermanns über die Zusammenarbeit mit Rist, so war es nicht sein Anspruch, durch die Übersetzung von Rists Werken sich selbst poetisch zu profilieren. Vielmehr sah er in Rist denjenigen Autor, der einen gewichtigen Beitrag zur „Wideraufrichtung unseres leider! fast gantz zerfallenem Christenthumes“65 leisten konnte und den es zu unterstützen galt. Aber mit der Übersetzung des bekannten und weithin geachteten Dichters konnte sich Petermann eben doch, gleichsam im Windschatten Rists, einen Platz in der societas litteraria im deutschsprachigen Raum und darüber hinaus sichern. Dass dies seine eigentliche Absicht war, ist ihm offenbar auch zum Vorwurf gemacht worden. Daher bat er darum, man möge ihn nicht der Anmaßung oder des Ehrgeizes bezichtigen. Es sei nicht seine Absicht, ‚eine zischende Gans anstelle des Schwans zu setzen‘.66 Seine Hoffnung war vielmehr, dass der Gemeinschaft der Glaubenden auch aus seiner Arbeit Frucht erwachsen werde: Fragst du, woher diese [Hoffnung] herrührt? Aus dem Munde des Heiligen Geistes höchstselbst, der offenkundig bekräftigt, dass bei der Errichtung der Stiftshütte die Israeliten nicht nur Gold und Silber, nicht nur Purpur und Leinen, sondern auch Ziegenhaar und Schafsfelle gegeben haben. Daher zweifle ich nicht, dass auch mein kleines Werk, so gering und unbedeutend es auch sein mag, eine wenn auch geringe Frucht für die Gemeinschaft der Glaubenden bringen wird.67
Ob und wo die Arbeit Petermanns tatsächlich diese Wirkung erzielt hat, lässt sich bis auf zwei Ausnahmen nicht mehr feststellen. Drei Übersetzungen Petermanns wurden anläßlich des Refomationsjubiläums 1717 neu herausgegeben.68 Blei-
65 S. o. Anm. 12. 66 Rist: Geistliche Poetische Schriften II (Anm. 27), fol. A 2r: „sistere se Tibi voluit pro Oloribus stridulus Anser“. 67 Ebd., fol. A 2r–v: „Ex ore ipsissimi Spiritus sancti, qvi luculenter affirmat, ad structuram Tabernaculi sacri non oblata modò ab Israëlitis fuisse aurum & argentum, purpuramque & byssum, sed & caprarum pilos & pelles arietum. Ita non dubito, fore, ut & haec opella mea, vilis licet sit & exigua, fructum ex se gignat qvalem qvalem, in coetu Fidelium.“ 68 S. o. Anm. 28.
Tobias Petermanns lateinische Übersetzungen von Gedichten Rists
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bende Wirkung haben Petermanns Übersetzungen nur in der Vertonung Buxtehudes gezeitigt. Das 19. Jahrhundert hat Petermann, soweit er noch bekannt war, als mittelmäßigen Dichter kritisiert.69 Dass Petermann darüber hinaus anders als Rist weitestgehend in Vergessenheit geraten ist, liegt sicherlich daran, dass er in einer Zeit, da die landessprachliche Dichtung die lateinische immer weiter verdrängte, mit Übersetzungen in eine ‚alte‘ Bildungssprache wenig Resonanz finden konnte, zumal sich seine Übersetzungen am deutschen Metrum orientierten und so den Vorbildern der klassischen Latinität nicht entsprechen.
69 Vgl. Georg Gottfried Gervinus: Geschichte der Deutschen Dichtung. Bd. 3. Leipzig 41853, der Petermann als „Freund und Anbeter Rist’s“ (S. 271) bezeichnet und ihn zu der „Masse der Mittelmäßigeren“ (S. 270) stellt.
Rists Theater
Bernhard Jahn
Johann Rists grenzüberschreitendes Theater Gattungsexperimente und Interkonfessionalität Das Was-Wäre-Wenn-Spiel mag müßig scheinen, reizvoll ist es im Falle Johann Rists allemal. Was wäre also, wenn sich von Johann Rist nicht nur sechs Dramen1 erhalten hätten, sondern die rund dreißig, die er nach eigenen Angaben geschrieben haben will.2 Dreißig Dramen, darunter, schon wenige Jahre nach dem Tod des Friedländers, ein Wallenstein-Drama, ein Gustav-Adolf-Drama, dazu zwei Dramen aus der englischen Gegenwartsgeschichte, die wohl die Hinrichtung Karls I. behandelt haben, aber auch mit Euricus die Geschichte eines Gotenherrschers, mit Guiscardo und Sigismonda die Dramatisierung einer BoccaccioNovelle, dazu Komödien wie die nach einem Wanderbühnenstück klingende und auch tatsächlich in Hamburg von einer Wanderbühnentruppe aufgeführte „Probe der beständigen Freundschafft“.3 Was wäre, wenn alle diese dreißig Dramen erhalten geblieben wären? Wäre Rist, der nicht eben als Dramatiker im kulturellen Gedächtnis der Literaturwissenschaft präsent ist, dann der bedeutendste deutschsprachige Dramatiker des 17. Jahrhunderts? Geht man davon aus, daß die verloren gegangenen Dramen von ihrer Machart her ähnlich beschaffen gewesen sein müssen wie die erhaltenen sechs, Rists Plädoyer etwa für die Verwendung von Prosa4 also auch für die verlorenen Stücke Geltung besessen haben dürfte, dann genügt in der Tat ein Blick auf die erhaltenen Stücke, um eine Prognose für den ganzen Dramatiker Rist zu erstellen, eine Prognose, die wohl darauf hinauslaufen muß, daß Rist auch mit dreißig Dramen nicht gelungen wäre, was ihm mit sechs nicht gelang.
1 Einen bibliographischen Überblick über Rists Werk bietet Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. 2. Auflage. Bd. 5. Stuttgart 1991, S. 3374–3432. 2 Vgl. die Zusammenstellung der verschiedenen Selbstaussagen Rists bei Otto Heins: Johann Rist und das niederdeutsche Drama des 17. Jahrhunderts. Marburg 1930 (Beiträge zur deutschen Literaturwissenschaft 38), S. 8–13. 3 Rist spricht davon in der Vorrede zum Friedewünschenden Teutschland. Vgl. Johann Rist: Sämtliche Werke. Unter Mitwirkung von Helga Mannack und Klaus Reichelt hg. von Eberhard Mannack. Bd. 2: Dramatische Dichtungen (das friedewünschende Teutschland, das friedejauchtzende Teutschland). Berlin 1972, S. 15. 4 Rist legt sein Konzept des Prosa-Schauspiels vor allem in den Vorreden zu den beiden Friedensspielen dar. Vgl. Rist: Werke (Anm. 3), Bd. 2, S. 28 und 230.
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Rist wurde nicht in den germanistischen Kanon der Barockdramatiker aufgenommen, so die im folgenden zu entfaltende These, weil sein Theater durch bestimmte Abweichungen geprägt ist, die für sein Theater elementar sind, die aber gleichzeitig zentrale Prämissen des Barocktheaterkonzeptes unterlaufen, wie es sich in der Germanistik seit dem 19. Jahrhundert ausgebildet hat.5 Rists Theater ist ein Theater der Synthesen, das genau jene Grenzen aufhebt, die für das sogenannte schlesische Barockdrama eines Gryphius, Lohenstein und bis zu einem gewissen Grade auch eines Hallmann so wesentlich sind. In diesem Aufsatz werden zunächst drei dieser Grenzüberschreitungen kurz vorgestellt, bevor mit dem Konzept der Interkonfessionalität abschließend ein Effekt der Grenzüberschreitungen behandelt werden soll. Drei Grenzaufhebungen sind für Rists Theater charakteristisch: 1. Die Abgrenzung gegenüber dem Theater des 16. Jahrhunderts spielt für Rist keine Rolle. Er knüpft an Theatertraditionen des 16. Jahrhunderts an, und dies nicht in dem teleologischen Sinne, daß er noch an alten Modellen festhält, die die fortschrittlichen schlesischen Dramatiker überwunden haben oder überwinden werden, sondern in einem kombinatorischen Sinne, daß er alte und neue Modelle produktiv verbindet. 2. Die Grenze zum Theater der Wanderbühnen wird aufgehoben. Bei Rist besteht wohl kein Interesse an dem, was in der Germanistik später emphatisch als Kunstdrama bezeichnet worden ist. Anders gewendet, Rists Dramen mußten nicht umfänglich bearbeitet werden, wenn sie von Wandertruppen gespielt wurden, bei Gryphius-Dramen sah dies bekanntlich anders aus.6 3. Die Grenze zum Jesuitentheater wird bei Rist überschritten und zwar, wie im vierten Abschnitt zu zeigen sein wird, aus einem interkonfessionellen Impetus heraus. Die drei genannten Tendenzen kollidieren teilweise mit den in der opitzianischen Gründungsurkunde der deutschen Poesie niedergelegten Vorstellungen, so daß aus dem bekennenden Opitz-Anhänger Rist unter der Hand zumindest auf dem Gebiet des Theaters ein Anti-Opitzianer wird.7
5 Zur protestantisch dominierten Perspektive auf die Literatur des 17. Jahrhunderts vgl. Dieter Breuer: Oberdeutsche Literatur 1565–1650. Deutsche Literaturgeschichte und Territorialgeschichte in frühabsolutistischer Zeit. München 1979 (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Beiheft 11), S. 1–21. 6 Vgl. Eberhard Mannack: Andreas Gryphius. Stuttgart 1986 (Sammlung Metzler 76), S. 57, 76. 7 Dies hob schon vor einiger Zeit hervor: Eberhard Mannack: Opitz und seine kritischen Verehrer. In: Martin Opitz (1597–1639). Nachahmungspoetik und Lebenswelt. Hg. von Thomas Borgstedt, Walter Schmitz. Tübingen 2002 (Frühe Neuzeit 62), S. 272–279. Damit soll Opitz’ Bedeutung für Rist, zumal was die Lyrik betrifft, nicht in Frage gestellt werden. Zu Rist als Opitzianer vgl.
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1 Rist und das Theater des 16. Jahrhunderts Rists Bekenntnis zum Theater des 16. Jahrhunderts ist durchaus programmatisch zu verstehen. So trägt etwa das Titelblatt des Perseus-Druckes von 1634 ein Frischlin-Zitat als Motto: „Non difficilior labor sub sole est, quâm scribere Comoedias & Tragoedias.“8 Gerade Nikodemus Frischlin ist omnipräsent in Rists Dramen, nur ein Beispiel sei hier etwas näher ausgeführt. Um den Sittenverfall Teutschlands im Friedewünschenden Teutschland dramatisch wirkungsvoll in Szene setzen zu können, greift Rist auf einen Plot aus der Dramatik des 16. Jahrhunderts zurück, auf das Redivivus-Modell.9 Nicodemus Frischlin mit seinem Julius Redivivus von 1585 ist der heute bekannteste Autor, der dieses Schema benutzt, aber er ist nicht der erste und nicht der einzige.10 Das Modell kann in einer geschichtsoptimistischen oder in einer geschichtspessimistischen Variante eingesetzt werden. In Frischlins geschichtsoptimistischer Variante etwa werden Cicero und Caesar aus der Unterwelt geholt und dürfen das Deutschland des 16. Jahrhunderts bestaunen. Obwohl die beiden Römer zunächst glauben, ehemals in Rom in der besten aller Welten gelebt zu haben, beeindruckt sie das kulturelle Niveau der Deutschen, ihre humanistische Dichtung, die Erfindung des Buchdrucks und der Artillerie derart, daß sie nun leicht zugeben können, daß die Teutschen, und eben nicht die Italiener oder Franzosen, die wahren Erben der römischen Kultur sind. Frischlins Drama bildet den unmittelbaren Prätext für Rists Friedewünschendes Teutschland. Bei Rist werden vier alte Teutsche aus dem Hades durch Merkur in das Deutschland des Dreißigjährigen Krieges versetzt, darunter Hermann der Cherusker und der Sachsenherzog Widukint. Rist bedient sich bei seiner Wiederbelebung der Germanenhelden der neuesten geschichtswissenschaftlichen
Klaus Garber: Literarischer und kulturpolitischer Statthalter im Norden Deutschlands. Ein Porträt Johann Rists. In: „Ewigkeit, Zeit ohne Zeit“. Gedenkschrift zum 400. Geburtstag des Dichters und Theologen Johann Rist. Hg. von Johann Anselm Steiger. Neuendettelsau 2007 (Testes et testimonia veritatis 5), S. 9–36. 8 Johann Rist: Sämtliche Werke. Unter Mitwirkung von Helga Mannack hg. von Eberhard Mannack. Bd. 1: Dramatische Dichtungen (Irenaromachia, Perseus). Berlin 1967, S. 117. 9 Vgl. Dirk Niefanger: Das redivivus-Modell. Historische Helden und ihre Semiotik in Dramen von Jacob und Nikodemus Frischlin. In: Akteure und Aktionen. Figuren und Handlungstypen im Drama der Frühen Neuzeit. Hg. von Christel Meier, Bart Ramakers, Hartmut Beyer. Münster i. W. 2008 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496, 23), S. 417–434. 10 Diese Tradition in ihrer Breite wäre für das 16. und 17. Jahrhundert noch darzustellen. Vgl. etwa als weitere Dramen Nikolas Grimoaldus: Christus Redivivus. Köln 1543 oder Zacharias Rivander: Lvthervs redivivvs. Eine newe Comoedia […]. O. O. 1593.
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Erkenntnisse seiner Zeit. In einer Regieanweisung empfiehlt er, die Kostüme der Germanenhelden genau den Abbildungen in Philipp Clüvers Germania Antiqua nachzubilden.11 Rists Germanenhelden, von ihrer eigenen Zeit als Maß und Norm überzeugt, erwarten auch von den Teutschen des 17. Jahrhunderts ähnliche Manneszucht und militärische Disziplin, werden aber aufs bitterste enttäuscht. Zwar werden zunächst analog zu Frischlin die technischen Leistungen des neuen Deutschland hervorgehoben, neben Artillerie und Buchdruck sind hier auch Uhren, Musikinstrumente, Weine und feinere Gewänder (S. 54) zu nennen, doch schon dies vermag die germanischen Helden nicht recht zu begeistern. Als sie dann noch mit ansehen müssen, wie Teutschland, von der Wollust verführt, französische und italienische Herren an ihrem Hof aufnimmt, die dort den Ton angeben, wenden sie sich angeekelt ab, denn der Sittenverfall führt zwangsläufig in den Krieg. Vor der Folie von Frischlins Drama, in dem die Franzosen und Italiener explizit als Schwächlinge verspottet werden, wird die Umkehrungsbewegung in Rists Schauspiel deutlich. Hier gewinnen nicht nur die Franzosen und Italiener die Oberhand über Teutschland, sondern auch der über das Redivivus-Modell zunächst beim Zuschauer geweckte Geschichtsoptimismus verkehrt sich in eine zutiefst pessimistische Verfallsgeschichte. Erst vor dem Hintergrund von Frischlins Drama entfaltet Rists Diagnose ihre volle Schärfe. Rists Adaptation von Dramenmodellen des 16. Jahrhunderts bezieht aber auch den volkssprachlichen Bereich mit ein, die niederdeutschen Zwischenspiele seiner Dramen zeigen dies ebenso wie seine Bearbeitung von Paul de Vises Depositio cornuti Zu Lob vnd Ehren Der Edlen, Hochlöblichen vnd Weitberhümten Freyen Kunst Buchdruckerey aus dem Jahre 1621, die, von der Auflagengeschichte her betrachtet, Rists erfolgreichstes Drama darstellt.12 Paul de Vises Depositionsspiel in Knittelversen, von der Funktion her ein Initiationsritual, um Buchdrucker lehrlinge in den Gesellenstatus zu überführen, ähnelt in seiner Machart den Fastnachtspielen des 16. Jahrhunderts. Rists Bearbeitung ist metrisch komplexer, behält jedoch über weite Strecken den Knittelvers bei und fügt die im 16. Jahrhundert in Meistersang und Kirchenlied häufig verwendete Schweifreimstrophe als metrisches Muster neu hinzu. Stilistisch wird dabei keineswegs, wie in der Vorrede behauptet, ausgemustert,
11 Rist: Werke (Anm. 3), Bd. 2, S. 48. 12 Zu diesem Drama vgl. den Beitrag von Thomas Rahn in diesem Band.
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was „Christlichen Ohren und Hertzen ärgerlich müchte fallen“,13 sondern Rist verschärft an vielen Stellen die Derbheit gegenüber seiner Vorlage, so daß er, was etwa skatologische Wendungen betrifft, durchaus mit reformatorischen, wenn nicht gar vorreformatorischen Fastnachtspielen mithalten kann: Dat is een Schelm, süe, wo he geit, Als wold’ he in de Büchsen kakken!14
Rist nutzt dabei nicht, wie etwa Gryphius in seiner Absurda Comica, die poetischen Mittel des 16. Jahrhunderts, um sie als überholt zu denunzieren, sondern setzt sie als poetologisch legitimes Ausdrucksmittel sowohl der niederen wie der höheren sozialen Schichten ein. Der daneben auch verwendete Alexandriner fungiert nicht so sehr als Metrum für eine poetologische Metaebene, sondern wird auf der inneren Handlungsebene für einen erotischen Liebesbrief und für die ironisch gebrochene Beichte des Cornuten eingesetzt.15 Rist bekennt sich zum Drama des 16. Jahrhunderts also nicht nur, wenn es, wie bei Nikodemus Frischlin, in elegant neulateinischem Gewand erscheint, sondern ebenso, wenn es in seinen volkssprachlichen Varianten auftritt.
2 Rist und das Theater der Wanderbühnen Auch die Dramen von Gryphius, Lohenstein und Hallmann sind nach allem, was wir wissen, von den Truppen der Wanderbühnen aufgeführt worden.16 Die wenigen erhaltenen Spieltexte, etwa Gryphius’ Papinian,17 zeigen indes, wie stark die Vorlagen bearbeitet werden mußten, um der Ästhetik der Wanderbühnen zu entsprechen und in diesem Sinne spieltauglich zu werden. Beim Theater Rists liegen die Verhältnisse anders.
13 Zitiert nach der Ausgabe von Karl Theodor Gaedartz: Johann Rist und sein Deposition-Spiel. In: Akademische Blätter 1 (1884), Nr. 7 und 8, S. 385–412 und Nr. 9, S. 441–470, hier S. 393. Gae dertz bietet in einem synoptischen Vergleich auch eine Edition von de Vises Text. 14 Ebd., S. 402. 15 Ebd., S. 442 (Beichte) und S. 403–405 (Liebesbrief). 16 Vgl. etwa für Gryphius die weiterführenden Hinweise bei Mannack (Anm. 6), S. 63, 76, 89. 17 Vgl. dazu Bernhard Jahn: Prosa im Theater des 17. Jahrhunderts. In: Spielregeln barocker Prosa. Historische Konzepte und theoriefähige Texturen ‚ungebundener Rede‘ in der Literatur des 17. Jahrhunderts. Hg. von Thomas Althaus, Nicola Kaminski. Bern u. a. 2012 (Beihefte zu Simpliciana 7), S. 213–228, zu Gryphius bes. S. 220 f.
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Sowohl das Friedewünschende, wie das Friedejauchtzende Teutschland sind für eine Wanderbühnentruppe konzipiert worden, genauer für die Truppe des Andreas Gartner oder Gärtner, eine aus Königsberg stammende Studententruppe, die mehrmals auch in Hamburg gastierte, unter anderem 1647, als der von Gartner gebetene Rist eigens für diese Truppe das Friedewünschende Teutschland schreibt. Gartners Truppe war sehr angesehen, sie spielte mehrmals vor dem polnischen König Johann Casimir und war wohl auf allegorische Schauspiele in der Art Rists spezialisiert.18 Gartner führte das Friedewünschende Teutschland in Hamburg „auff offenem Schauplatze“19 auf, d. h. auf einem Marktplatz, ein großes Theatergebäude stand in Hamburg erst 1678 mit der Gänsemarkt-Oper zur Verfügung, „wobei denn viel tausend Menschen/ ja eine solche Anzahl der Zuseher sich befunden/ daß einer den anderen schier erdrukket hätte.“20 Auch das Friedejauchtzende Teutschland ist für Gartners Truppe konzipiert worden, auf Bitten des Prinzipals hält Rist das Spiel mehrere Jahre vom Druck zurück und erst, als sich eine Aufführung endgültig zerschlägt, läßt er es 1653 in Nürnberg drucken.21 Vor allem das Friedewünschende Teutschland erweist sich auf der Bühne als Zugstück, es wird im ganzen protestantischen Deutschland gespielt, gerade auch in den süddeutschen protestantischen Reichsstädten, ja sogar im katholischen München.22 Darauf hinzuweisen erscheint nicht unnötig, denn einem heutigen Leser muten die Schauspiele Rists ausgesprochen undramatisch an, weswegen eine Rekonstruktion der damaligen Spielpraxis um so notwendiger ist, damit sich der Reiz dieser Stücke erschließt. Das typische Merkmal der Wanderbühnentexte ist seit der Mitte des 16. Jahrhunderts die Prosa.23 Während Opitz zwar nicht ausdrücklich, über die DecorumKategorie implizit dann aber doch für die Tragödie den Vers und nur für die
18 Zu Andreas Gartner oder Gärtner vgl. Johannes Bolte: Das Danziger Theater im 16. und 17. Jahrhundert. Hamburg, Leipzig 1895 (Theatergeschichtliche Forschungen 12), S. 89–92; ferner: Dick van Stekelenburg: Michael Albinus „Dantiscus“ (1610–1653). Eine Fallstudie zum Danziger Literaturbarock. Amsterdam 1988 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 74), S. 201–206. 19 Rist: Werke (Anm. 3), Bd. 2, S. 16. 20 So Rist in der Vorrede zum Friedewünschenden Teutschland. Vgl. Rist: Werke (Anm. 3), Bd. 2, S. 16. 21 Auch diese Informationen teilt Rist einer Vorrede an den „teutschen Leser“ zum Friedejauchtzenden Teutschland mit. Rist: Werke (Anm. 3), Bd. 2, S. 220 f. 22 Zur Rezeption des Friedewünschenden Teutschland vgl. Heins: Johann Rist (Anm. 2), S. 101 f. 23 Jahn: Prosa (Anm. 17), S. 214–221.
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Komödie die Prosa verlangte,24 kennt die Wanderbühne hier keine Unterschiede. Rist bekräftigt dies an mehreren Stellen nachdrücklich: Es ist nichtes mühesamers/ als in solchen Handlungen an gewisse Reden und Wöhrter sich binden müssen: Dagegen nichtes lustigers noch anmuhtigers/ als wenn man frei mag Reden/ insonderheit wo die Spieler guhtes Verstandes sind und von dem rechten Zwek nicht leicht abweichen.25
Rist plädiert an verschiedenen Stellen für den Prosatext als Improvisationsgrundlage, was beim Vers nicht möglich sei. Rists Dramenprosa wirkt, anders als die Alexandrinerverse von Gryphius oder Lohenstein, eher flächig, wie Textmaterial im postdramatischen Theater. Die Repliken der Figuren enthalten auch in den Dialogpassagen lange, statisch um eine Aussage oder einen Affekt kreisende Monologe von teilweise mehreren Seiten Länge, die der Schauspieler umstellen, kürzen, improvisierend verändern kann, ohne daß die Aussage dadurch zerstört würde. Ein Zitat aus dem Friedejauchzenden Teutschland mag als Beleg dienen. Es geht um die Figur des Wütherich, eines Dieners des Mars. Er präsentiert sich dem Programm seines Namens entsprechend: Ja freylich ist es meine höchste Lust/ wenn ich über euch hartnäckische boßhafte Teutsche meinen Grimm überflüssig mag ausschütten/ ja biß auff den Tod euch martern und plagen/ und fürwar/ wenn mein Herr/ der unüberwindliche Mars/ es mir nur wollte vergönnen/ ich wollte euch viel übeler zurichten/ als der ärgste Henckersbube unter der Sonnen thun sollte. [Damit ist die Aussage eigentlich gemacht. Nun folgen Variationen, um die Aussage affektiv zu steigern.] Seyd versichert/ ich wolte euch die Haut abschinden/ und mir dieselbe bey Stücken auff der Roster lassen braten/ eure Hertzen/ Lungen und Lebern wolte ich klein hacken/ und mir damit mein Torten lassen anfüllen/ euer Fleisch solte von mir gekochet/ und eure Adern an statt eines Zugemüses dabey auffgetragen/ und also mit Lust von mir verzehret werden. Eure Häupter wolte ich in Pasteten setzen/ und dieselbe mit eurem eigenen Blute und Gehirn lassen zurichten/ auß euren Knochen wolte ich selber das Marck saugen/ euer verfluchtes Jnngeweide aber und Gedärmer/ meinen Hunden zu fressen geben/ und dieses solte mir das lustigste Bancket seyn vor allen/ welche ich die gantze Zeit meines Lebens habe gehalten.26
Verse verwendet Rist nur im Zusammenhang mit Musik. Am Ende jeder Szene, oft auch zusätzlich an markanten Handlungseinschnitten, finden sich Strophenlieder, die vertont wurden und als Notendruck den Dramendrucken beigegeben
24 Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poetery (1624). Hg. von Cornelius Sommer. Stuttgart 1970, S. 27 f. 25 Rist: Werke (Anm. 3), Bd. 2, S. 28. 26 Ebd., S. 245.
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worden sind.27 Meist handelt es sich um Solo-Lieder mit Generalbaßbegleitung, gelegentlich aber auch um bis zu vierstimmige Gesänge. Außerdem werden immer wieder Instrumentalsätze gespielt, deren Noten nicht beigefügt wurden. Auch diese Musikeinlagen sind typisch für die Wanderbühne. Unter den Mitgliedern der Wanderbühnen gab es hervorragende Instrumental- und Gesangssolisten, die eine der Hauptattraktionen der Truppen bildeten. Rists Theater ist also auch ein Musiktheater, wobei die Lieder der zusammenfassenden Bündelung der Kernaussagen und der affektiven Verstärkung dienen. Sie sind dabei auch musikalisch sehr vielgestaltig, Klagegesänge stehen neben Freudengesängen und die Bauern in den Zwischenspielen erhalten rustikale Melodien. Als typisch für die Wanderbühnen und ausgesprochen anti-opitzianisch ist schließlich die Mischung des hohen und niederen Personals zu nennen, besonders deutlich in der Tragoedia Perseus greifbar. Aber in all seinen Dramen kommen mit Opitz gesprochen „Potentaten“ und „schlechte [d. h. niedrige]“ Personen28 nebeneinander vor, was Opitz aus Decorum-Gründen vermieden wissen wollte. Jedes von Rists Dramen enthält wanderbühnentypische Zwischenspiele, die im bäuerlichen Milieu angesiedelt sind und an Derbheit nichts zu wünschen übrig lassen. Die Bauern sprechen plattdeutsch.29 Diese Gegenüberstellung von Hoch- und Niederdeutsch war schon in den von der Wanderbühne inspirierten und für sie konzipierten Dramen des Braunschweiger Herzogs Heinrich Julius mit Erfolg erprobt worden.
3 Rist und das Theater der Jesuiten Die dritte Grenzverwischung betrifft die Trennungslinie zwischen protestantischem und katholischem Drama. Wie strikt der Grenzverlauf zwischen den Lagern im 17. Jahrhundert markiert ist, wäre von der Forschung prinzipiell noch
27 Zur Musik in Rists Schauspielen vgl. Oliver Huck: Schauspielmusik in Hamburg in der Frühen Neuzeit. In: Hamburg. Eine Metropolregion zwischen früher Neuzeit und Aufklärung. Hg. von Johann Anselm Steiger, Sandra Richter. Berlin 2012, S. 597–610, hier S. 599–603; ferner Irmgard Scheitler: Schauspielmusik. Funktion und Ästhetik im deutschsprachigen Drama der Frühen Neuzeit. Bd. 1: Materialteil. Tutzing 2013, S. 636–660. 28 Opitz: Poeterey (Anm. 24), S. 27 f. 29 Zur Verwendung der niederdeutschen Sprache vgl. den Beitrag von Ingrid Schröder in diesem Band; ferner Heins (Anm. 2).
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einmal neu zu perspektivieren.30 Auch die ältere Forschung sah, daß etwa Gryphius jesuitische Dramatiker rezipierte und übersetzte,31 daß Harsdörffers Seelewig auf einen jesuitischen Prätext zurückgeht,32 daß Birken Masen bearbeitete33 und Hallmann gar stand von Anfang an unter Katholizismus-Verdacht.34 Diese Rezeptionsverhältnisse sind schon lange bekannt, das Deutungsmuster, dem sie unterzogen werden, zielte aber recht eindimensional auf den Nachweis genuin protestantischer Bearbeitungstendenzen oder gar auf der Behauptung heterodoxer Positionen. Wer etwa die Arbeit von Heinz-Werner Radtke zu Gryphius’ Trauerspielen als neueres Beispiel herausgreift,35 sieht, daß Radtke den Begriff des Märtyrerdramas kritisch befragt mit dem Ziel einer klaren Abgrenzung des protestantischen Dramas von katholischen Märtyrerkonzepten. Rists Theater setzt solchen Abgrenzungsversuchen besonders viel Widerstand entgegen. Anders als im Falle Hallmanns hat man Rist allerdings nie katholisierender Tendenzen bezichtigt.36 Während der Einfluß der Wanderbühnen auf Rist direkt nachzuweisen ist, sind die Wirkungen des Jesuitentheaters in Rists Dramen zwar deutlich auszumachen, jedoch ist keine direkte Einflußlinie zu erkennen. Ob der Wedeler Pastor Aufführungen von Jesuitendramen als Zuschauer erlebt hat, bleibt ungewiß, seine Kenntnis dürfte vorrangig aus der Lektüre jesuitischer Texte stammen. Der wichtigste dramenpoetische Text, Jacob Masens Palaestra Eloquentiae37 erschien
30 Vgl. Bernhard Jahn: Johann Christian Hallmanns Spätwerk (1699–1704) und der Kontext des Wiener Kaiserhofs. Opportunismus oder Interkonfessionalität? In: Theater in Schlesien. Hg. von Bärbel Rudin. Erscheint 2015. 31 Willi Harring: Andreas Gryphius und das Drama der Jesuiten. Halle/S. 1907 (Hermaea 5); James A. Parente: Andreas Gryphius and Jesuit Theatre. In: Daphnis 13 (1984), S. 525–551. 32 Christiane Caemmerer: Siegender Cupido oder Triumphierende Keuschheit. Deutsche Schäferspiele des 17. Jahrhunderts. Stuttgart-Bad Cannstatt 1998 (Arbeiten und Editionen zur Mittleren Deutschen Literatur NF 2), S. 244–249. 33 Karl-Bernhard Silber: Die dramatischen Werke Sigmund von Birkens (1626–1681). Tübingen 2000 (Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft 44), S. 265–268. 34 Jahn: Hallmann (Anm. 30). 35 Heinz-Werner Radtke: Vom neuen, gerechten, freien Menschen. Ein Paradigmenwechsel in Andreas Gryphius’ Trauerspielzyklus. Bern 2011 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 49). 36 Der orthodoxe Lutheraner Rist ist wohl am deutlichsten in seinen Katechismus Andachten greifbar: Johann Rist: Neüe Musikalische Katechismus Andachten Bestehende Jn Lehr- TrostVermanung- und Warnungs-reichen Liederen […]. Lüneburg 1656. Vgl. hierzu die Beiträge von Sabrina Heintzsch und J. A. Steiger in vorliegendem Band. 37 Jacob Masen: Palaestra eloquentiae ligatae. 3 Bde. Köln 1654–1657. Zu Masens Poetik vgl. Barbara Bauer: Jesuitische „ars rhetorica“ im Zeitalter der Glaubenskämpfe. Frankfurt a. M. u. a. 1986 (Mikrokosmos 18), S. 319–460.
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mit ihrem dritten, dem Drama gewidmeten Teil erst 1657, Rist muß auf anderem Wege zu seinen Kenntnissen gelangt sein. Immerhin läßt er die „Herren Patribus der Societät Jesu“ in der allerEdelsten Belustigung von einem Gesprächsteilnehmer als in Theaterdingen „[un]übertrefflich erfahren“38 loben. Im selben Gespräch betont der Rüstige die Vorzüge von Athanasius Kirchers Musurgia Universalis,39 in der Vorrede zu seiner Schrift Starker Schild Gottes (1644) lobt er eine Schrift des Jesuiten Jeremias Drexel, der auch als Dramatiker in Erscheinung getreten ist.40 Doch wie immer auch der Einfluß sich genau vollzogen haben mag: Die Parallelen zwischen Rists Dramen und dem Jesuitentheater sind evident. Dies betrifft nicht so sehr die einzelnen Elemente für sich genommen, die jeweils auch im protestantischen Theater vorkommen können, sondern das dramaturgische Gesamtkonzept. Zunächst fällt die Verwendung allegorischer Figuren41 auf, die sich nicht auf die Reyen beschränkt, sondern auch die Haupthandlung umfaßt. In Rists Friedejauchzendem Teutschland etwa treten auf: Die Wahrheit, Wütherich, Teutschland, Wahremund, Hoffnung, Friede, Das Gerüchte, Wolraht, Misstrau usw., ergänzt durch antike Götter, die ebenfalls als allegorische Figuren fungieren: so etwa Mars als Kriegsgott oder Vulcan. Rists Friedens-Spiele sind rein allegorische Spiele, eine Eigenschaft, die sie mit einem bestimmten Typus42 des Jesuitendramas teilen. Dramen mit ausschließlich allegorischen Figuren funktionieren nach einer eigenen Dramenlogik. Eine allegorische Figur wie der oben schon zitierte Wüthe-
38 Johann Rist: Sämtliche Werke. Unter Mitwirkung von Helga Mannack und Klaus Reichelt hg. von Eberhard Mannack. Bd. 5: Epische Dichtungen (Die alleredelste Torheit, die alleredelste Belustigung). Berlin, New York 1974, S. 276. 39 Ebd., S. 344. 40 Johann Rist: Starker Schild Gottes Wider die gifftige Mordpfeile falscher und verleümderischer Zungen […]. Hamburg 1644, fol. A 3r: „Der hochgelahrter Jesuit/ Jeremias Drexelius hat vnter anderen seinen erbaulichen Schrifften vor weinig Jahren auch ein recht edles Buch […] mitgetheilet.“ 41 Zum Einsatz allegorischer Figuren auf der Bühne vgl. Claudia Spanily: Allegorie und Psychologie. Personifikationen auf der Bühne des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Münster i. W. 2010 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496, 30). 42 Zu denken ist hier an Stücke wie Johannes Paulins Philothea (München 1643). Vgl. dazu Barbara Münch: Philothea von Johannes Paulin. Das Jesuitendrama und die geistlichen Übungen des Ignatius von Loyola. Aachen 2000; oder den Trivmphvs Divi Michaelis (München 1597). Vgl. dazu: Trivmphvs Divi Michaelis Archangeli Bavarici. Triumph des Heiligen Michael, Patron Bayerns (München 1597). Einleitung – Text und Übersetzung – Kommentar. Hg. von Barbara Bauer, Jürgen Leonhardt. Regensburg 2000.
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rich aus dem Friedewünschenden Teutschland ist eindimensional. Er verkörpert genau eine Eigenschaft, die er von Anfang bis Ende ohne jegliche Änderung durchhält. Es kann daher keine ambivalent angelegten Charaktere geben, keinerlei Entwicklung der Figuren. Diese Eindeutigkeit wird noch durch das Kostüm der Figuren verstärkt, das mit kostümbildnerischen Mitteln die Bedeutung der Figur ad oculos demonstriert. Zu Wütherich etwa lautet die Regieanweisung: „Hier tritt auf ein wilder Mann/ gantz rauch [d. h. mit Pelzen und Fellen] bekleidet und grimmiges Ansehens“.43 In der Hand trägt er eine Geißel. Beim nächsten Auftritt heißt es: „Wütherich komt gleich schnaubend und brüllend wider herfür/ hält eine rauchende Tabackpfeiffe im Munde/ und ruffet mit lauter Stimme“.44 Durch die „Tabackspfeife“ wird der Eindruck erzeugt, der wilde Mann speie Rauch. Die heute noch auf dem Weihnachtsmarkt erhältlichen Räuchermännchen sind wohl die letzten Nachfahren dieses Typus, dessen Ikonographie in den zeitgenössischen Maskeraden und Balletten genau festgelegt ist. Sie wurzelt im Theater des 16. Jahrhunderts.45 Die Handlung eines allegorischen Spiels kann nicht aus dem komplexen Charakter der Figuren entwickelt werden. Vielmehr muß man sich die Logik eines solchen Spiels eher wie die eines Karten- oder Schachspiels vorstellen. Die Figuren sind in ihrem Wert schon festgelegt, so wie die Bedeutung eines Läufers oder eines Kreuz-Aß schon feststeht. Entscheidend ist vielmehr die Konfiguration, das heißt, welche Figuren in einer Szene aufeinander treffen und gegeneinander gestellt werden. Am Schluß siegt derjenige, der die besseren Karten, bzw. höherwertigen Figuren einsetzen konnte. Ein solches Spiel funktioniert nur, wenn die Figuren klar erkennbar sind und eben keine Ambivalenzen aufweisen. Bei einem Schachspiel etwa muß unmißverständlich deutlich sein, ob eine Figur den König oder die Königin darstellt, sonst kann das Spiel nicht gespielt werden. Die Ausschaltung von Ambivalenzen kann durch bestimmte, eigens dafür konzipierte Spielsequenzen geleistet werden, so etwa zu Beginn des Friedejauchzenden Teutschlands, wenn die allegorische Figur der Wahrheit auftritt und mit dem Publikum in einen Dialog darüber tritt, wer sie sei: Das gedencket und urtheilet ihr doch wol/ hochwerthe/ vielgeehrte und von mir/ ohne einiges Ansehen der Personen/ sonders Geliebte Zuhörer/ oder vielmehr Zuschauer/ daß
43 Rist: Werke (Anm. 3), Bd. 2, S. 242. 44 Ebd., S. 253. 45 Timothy Husband: The Wild Man. Medieval Myth and Symbolism. New York 1980. Zur Tradition der Figur des Wilden Mannes im Theater vgl. Claudia Schnitzer: Höfische Maskeraden. Funktion und Ausstattung von Verkleidungsdivertissements an deutschen Höfen in der Frühen Neuzeit. Tübingen 1999 (Frühe Neuzeit 53), Abb. 38 und 193.
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ich unansehnliches/ schlechtgekleidetes/ armes Weibesbild so kühnlich/ ja so frisch und freudig/ für einer so grossen Menge/ allerhand Standes Personen/ am heutigen Tage darff erscheinen/ den Anfang dieses itztbestimmten neuen Schau- und Freudenspieles zu machen? Und/ was meinet ihr wol/ wer ich sey […].46
Die allegorischen Figuren wirken schon durch ihr bloßes Auftreten als Argument, sie müssen nicht erst noch Argumente vortragen. Wenn etwa die Wahrheit zum Frieden tritt und sich von Mars oder Wütherich entfernt, dann kann dies ohne Figurenrede geschehen und gleichwohl wird deutlich, daß dem Frieden auf diese Weise Wahrheit zukommt, der Kriegspartei hingegen abgeht. Diese Eindeutigkeit der Aussage auf der Bildebene ist für das Jesuitentheater wichtig, weil die Dramen ausnahmslos in lateinischer Sprache verfaßt waren. Die des Lateinischen nur halb mächtigen oder gar ohnmächtigen Zuschauer bekamen auf diese Weise und durch die gleichzeitige Lektüre der Perioche die Kernaussage des Dramas übermittelt.47 Die starke Betonung des visuellen Elements gipfelt im Jesuitentheater wie bei Rist in den stummen Szenen. Für diese stummen Szenen verwendet Rist bei seiner zweigeteilten Bühne den hinteren Teil, der durch einen Vorhang vom vorderen Teil abgetrennt ist und nur zur Präsentation der stummen Bilder aufgezogen wird.48 Die stummen Szenen sind affektiv stark aufgeladen und werden mit technischen Effekten, etwa Beleuchtungs- oder Schalleffekten noch stärker von der Haupthandlung abgehoben. Als Beispiel diene die Erscheinung des Friedens im Friedejauchzenden Teutschland: Hierauff öffnet sich der innerste Schauplatz/ in selbigem stehet gleich von weitem der Friede/ in weisser Seide gar köstlich bekleidet/ eine güldene Krone auff dem Haupte tragend/ in der einen Hand einen Oelzweige/ in der anderen [ein] Fruchthorn (Cornu copiae) haltend/ auch sonst mit güldenen Ketten und Kleinodien herrlich gezieret. Es muß aber der Ort mit vielen Lichtern und Lampen hellgläntzend gemacht werden. üm den Frieden her stehen etliche
46 Rist: Werke (Anm. 3), Bd. 2, S. 237. 47 Vgl. Barbara Bauer: Multimediales Theater. Ansätze zu einer Poetik der Synästhesie bei den Jesuiten. In: Renaissance-Poetik – Renaissance Poetics. Hg. von Heinrich H. Plett. Berlin, New York 1994, S. 197–238. Ob die Periochen tatsächlich als Verständnishilfe dienten, darüber gehen die Meinungen in der Forschung auseinander. Dazu kritisch: Fidel Rädle: Lateinisches Theater fürs Volk. Zum Problem des frühen Jesuitendramas. In: Zwischen Festtag und Alltag. Zehn Beiträge zum Thema ‚Mündlichkeit und Schriftlichkeit‘. Hg. von Wolfgang Raible. Tübingen 1988 (ScripOralia 6), S. 133–147. 48 Dies geht aus den Bühnenanweisungen zu den beiden Friedensspielen hervor. Vgl. Rist: Werke (Anm. 3), Bd. 2, S. 275 oder S. 393.
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gantz weiß bekleidete/ auff dem Haupt bekräntzete/ und in Händen Oel- und Palmzweige tragende Kinder […].49
Im Sinne der frühneuzeitlichen Gedächtniskunst sind solche hochaffektiven Bilder besonders gut geeignet, um im Gedächtnis haften zu bleiben, es sind Merkbilder, die die wesentlichen Punkte des Dramas bündeln. Die Sprache spielt hier keine Rolle, ebensowenig wie die Handlung des Dramas. Die Bilder sind statisch, sind stillgestellte Handlung. Zur visuellen Ebene tritt verstärkend als weitere sinnstiftende, nonverbale Ebene eine Geräuschkulisse bzw. eine durch die Bühnenfiguren motivierte Musik hinzu, die von den Liedern der Szenen- und Aktschlüsse zu unterscheiden ist. Mars und die Anhänger des Krieges werden akustisch bei ihrem Auftreten immer durch eine solche Geräuschkulisse charakterisiert:50 Mars kommt „herausgebrauset mit einem starken Schalle der Tromlen und Trompetten/ es werden zugleich unterschiedliche Büchsen und Pistolen hinter Jhme loß geschossen“.51 Während die Seite des Krieges akustisch durch Geräusche gekennzeichnet wird, bedient sich die Sphäre des Himmels und des Friedens der avanciertesten deutschen Komponisten: Alsobald fahen die Engel/ welche hie und da zwischen den gemachten Wolken in grosser Klarheit sitzen/ an zu singen und zu spielen ‚Verleihe uns Frieden gnädiglich‘ u. s. w. wie dasselbe Herr Schütze oder Herr Schoop in die Melodeien haben versetzet.52
Heinrich Schütz galt als der damals berühmteste und angesehenste Komponist des protestantischen Raums, Johann Schop (d. Ä.) war als Hamburger Ratsmusiker für sein Gamben- und Violinspiel berühmt. Er vertonte zahlreiche Liedtexte Rists.53 All dies – die allegorischen Figuren, die stummen Bilder, der starke Einsatz visueller und akustischer Codes − sind in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts die typischen Kennzeichen des lateinischsprachigen Jesuitentheaters. Wenn Rist die Dramaturgie der Jesuiten für sein deutschsprachiges Theater übernimmt, dann stellt sich natürlich die Frage nach den Motiven. Zunächst
49 Rist: Werke (Anm. 3), Bd. 2, S. 275. 50 Vgl. dazu Thomas Rahn: Krieg als Störfall der Rhetorik. Die Friedensspiele von Johann Rist und Justus Georg Schottelius. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch. Bd. 22: Krieg und Rhetorik. Hg. von Thomas Rahn. Tübingen 2003, S. 43–57. 51 Rist: Werke (Anm. 3), Bd. 2, S. 116. 52 Ebd., S. 200. 53 Zu Rists Komponisten siehe Konrad Küster: „O du güldene Musik!“ Wege zu Johann Rist. In: „Ewigkeit, Zeit ohne Zeit“ (Anm. 7), S. 77–179.
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sind hier sicherlich auch pragmatische Gründe zu nennen: Rists Theater ist im Gegensatz zum Schultheater etwa der Schlesier für Freiluftaufführungen konzipiert. Hier sind die akustischen Bedingungen denkbar schlecht, so schlecht, daß in Dramendrucken des 16. Jahrhunderts in den Vorreden der Druck des Dramas durch die schlechten Aufführungsbedingungen motiviert wird. Das Buch in der Hand können die Zuschauer, betont etwa Georg Rollenhagen, während der Aufführung den Text mitlesen und ihn einzig auf diese Weise auch verstehen.54 Rists Theater transportiert seine zentralen Botschaften nonverbal, bzw. verbal mittels redundanter Textflächen, bei denen einzelne Sätze ausfallen können, ohne daß das Verständnis wesentlich darunter leiden würde. Jenseits und ungeachtet dieses pragmatischen Aspektes jedoch eröffnet die Übernahme jesuitischer Dramaturgie eine interkonfessionelle Dimension.
4 Rists Interkonfessionalität Das Konfessionalisierungsparadigma, das von Heinz Schilling und Wolfgang Reinhard seit etwa dreißig Jahren als Deutungsmuster vor allem für die frühneuzeitliche Staatenbildung furchtbar gemacht wird, geht von einer wechselseitigen Abgrenzung der beiden Konfessionen voneinander seit dem 16. Jahrhundert aus.55 Der Konfessionalisierungsprozeß ist vorrangig ein Abgrenzungsprozeß. Umstritten war dabei von Anfang an, wie tiefgreifend und umfassend man sich die Auswirkungen dieses Prozesses vorzustellen hat. Wie stark greift Konfessionalisierung auch in das Alltagsleben ein, gibt es Felder, die von der Konfessionalisierung weniger oder nicht betroffen sind?56 Als Modifikation der Konfessionalisierungsthese sind unterschiedliche Einzelstudien erschienen, die etwa konfessionelle Indifferenz in bestimmten religi-
54 Georg Rollenhagen: Spiel vom reichen Manne und armen Lazaro (1590). Hg. von Johannes Bolte. Halle/S. 1929 (Neudrucke deutscher Literaturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts 270– 273), S. 5. 55 Vgl. Wolfgang Reinhard: Gegenreformation als Modernisierung? Prolegomena zu einer Theorie des konfessionellen Zeitalters. In: Archiv für Reformationsgeschichte 68 (1977), S. 226–252; Heinz Schilling: Die Konfessionalisierung im Reich. Religiöser und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland zwischen 1555 und 1620. In: Historische Zeitschrift 246 (1988), S. 1–45. 56 Kaspar von Greyerz u. a. (Hg.): Interkonfessionalität – Transkonfessionalität – binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese. Gütersloh 2003 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 201).
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ösen Dissidentengruppen oder in Gelehrtenkreisen beschreiben.57 Auch das Alltagsleben scheint nicht immer so stark konfessionell geprägt gewesen zu sein, wie mikrohistorische Untersuchungen zeigen. Für das Theater Rists kann nicht der frühneuzeitliche Spezialfall der konfessionellen Indifferenz in Anschlag gebracht werden, vielmehr öffnet sich hier ein sozialer Raum, in dem Gruppen oder Einzelpersonen, die durchaus konfessionell fest geprägt sind, zueinander finden. Die Gemeinsamkeiten können dabei nicht die theologischen Kernaussagen berühren, denn dann wäre der Dissens sofort wieder da, sondern müssen sich vorrangig auf Nebendinge beziehen, auf eine Art konfessioneller Adiaphora gewissermaßen, Phänomene, die zwar konfessionell markiert sind, aber nicht in so starkem Maße, daß sie nicht von allen Konfessionen genutzt werden könnten. So kann etwa Rist als lutherisch-orthodoxer Pastor Elemente der jesuitischen Dramaturgie aufgreifen, weil diese Elemente nicht zum dogmatischen Grundbestand der katholischen Kirche gehören, obwohl sie konfessionell markiert sind. Beobachtungen wie diese führen weiter zu der allgemeineren These, daß es im konfessionellen Zeitalter vor allem die Künste sind, die interkonfessionelle Räume zur Verfügung stellen und dies ungeachtet der Tatsache, daß die Künste gleichzeitig auch Medien der Konfessionalisierung darstellen. Besonders evident scheint die interkonfessionelle Funktion der Künste für den Bereich der frühneuzeitlichen Musikpraxis in Deutschland zu sein. Betrachtet man die Mitglieder der Hofkapellen, wird man feststellen, daß die künstlerische Qualität Vorrang vor der Konfession besaß. Agostino Steffani etwa, ein katholischer Priester und Komponist, war als Komponist und Diplomat zunächst für den bayerischen (katholischen) Kurfürsten Max Emanuel, dann für den protestantischen Hannoveraner Kurfürsten Ernst August tätig, danach wieder im katholischen Lager für den pfälzischen Kurfürsten Jan Wilhelm.58 Im Zusammenhang mit Steffanis Tätigkeit als Opernkomponist wäre zu fragen, ob es bestimmte Gattungen gab, die von vornherein zur Interkonfessionalität tendierten. Die Oper würde wohl dazu zählen. Doch selbst geistliche Musik, sogar wenn sie liturgisch eingebunden war, konnte von mehreren Konfessionen genutzt werden.59
57 Martin Mulsow: Mehrfachkonversion, politische Religion und Opportunismus im 17. Jahrhundert. Ein Plädoyer für eine Indifferentismusforschung. In: Greyerz: Interkonfessionalität (Anm. 56), S. 132–150. 58 Zu Agostino Steffani als Diplomat vgl. Claudia Kaufold: Ein Musiker als Diplomat. Abbé Agostino Steffani in hannoverschen Diensten (1688–1703). Bielefeld 1997. 59 Vgl. etwa die Motette „Der Engel sprach“ aus der Geistlichen Chormusik von Heinrich Schütz, SWV 395, die die Umtextierung (eine Übersetzung des lateinischen Textes ins Deutsche) einer Motette von Andrea Gabrieli darstellt.
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Wenn die These stimmt, daß vor allem die Künste Räume der interkonfessionellen Begegnung bereit stellen, dann wäre die Perspektive bei der Analyse des sogenannten Barockdramas nicht mehr allein auf den Nachweis konfessioneller Differenzen zu richten, sondern vielmehr wären die Spielräume aufzuzeigen, die die Künste jeweils für Interkonfessionalität bereitstellen, also gerade jene Passagen, die dogmenneutral sind, sollten in den Blick gelangen. Welche Möglichkeiten genuin poetischer bzw. dramatischer Art bieten sich in diesem Zusammenhang, um interkonfessionelle Effekte zu erzeugen? Auf die Übernahme von Elementen einer jesuitischen Dramaturgie durch Rist wurde im Kapitel drei schon hingewiesen. Drei weitere Aspekte, die jeweils interkonfessionelle Effekte zeitigen können, seien im folgenden noch angesprochen: Erstens Argumentationsstrukturen, zweitens Bildfelder und drittens Handlungsmodelle.
4.1 Interkonfessionelle Argumentationsstrukturen Das in allen drei Friedens-Spielen Rists omnipräsente interkonfessionelle Argumentationsmuster faßt den Krieg als Strafe Gottes für das sündhafte Verhalten der Menschen auf. Rists Schauspielen kommt die Aufgabe zu, diese Sündhaftigkeit nachzuweisen. Erst die nach der Sündenerkenntnis beim Gläubigen eintretende Reue zusammen mit der zu vollziehenden Buße können Gott gnädig stimmen. Rists Schauspiele sind auf diese Weise Teil einer sozialen Praxis. In Hamburg wurden noch 1648 vom Rat Fast- und Bußtage angeordnet, weil, so die Begründung des Rats, „Gott der Allmechtige durch unser sündlich Leben zu großen Zorn und schwere Straffe gereitzet worden“.60 Einmal pro Vierteljahr mußte an einem Donnerstag die Arbeit ruhen, durften die Geschäfte nicht öffnen, weil dieser Tag ausschließlich dem Fasten und Beten für den Frieden gewidmet sein sollte. Erst mit dem endgültigen Friedensschluß in Nürnberg 1650 endete diese Bußpraxis. Die Schauspiele ordnen sich so in die damalige Frömmigkeitspraxis ein. Martin Brecht charakterisiert Rists Friedens-Spiele denn auch als Bußaufrufe, eine Zuspitzung, die zumindest eine wichtige Funktion der Dramen benennt.61
60 Vgl. Günter Dammann: Das Hamburger Friedensfest von 1650. Die Rollen von Predigt, Feuerwerk und einem Gelegenheitsgedicht Johann Rists in einem Beispielfall städtischer Repräsentation. In: Stadt und Literatur im deutschen Sprachraum der Frühen Neuzeit. Hg. von Klaus Garber. 2 Bde. Tübingen 1998 (Frühe Neuzeit 39), Bd. 2, S. 697–728, hier S. 699. 61 Martin Brecht: Evangelische Friedensliteratur: Der Bußaufruf Johann Rists. In: 1648. Krieg und Frieden in Europa. Ausstellungskatalog Münster, Osnabrück 1998, 3 Bde. Hg. von Klaus Bußmann und Heinz Schilling, hier Textbd. I: Politik, Religion, Recht und Gesellschaft, S. 251–258.
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Rist bemüht sich bei seinem Nachweis der prinzipiellen Sündhaftigkeit der Menschen, konfessionsneutral alle Stände gleichermaßen zu bedenken. Am ausgewogensten gelingt ihm das im Friedejauchzenden Teutschland. Im ersten Akt treten allegorische Figuren der drei Hauptstände auf, Geistliche, Adlige und Bürger/Bauern, die von Wütherich an der Kette gehalten und mißhandelt werden. Die allegorische Figur des heruntergekommenen Teutschland betrachtet dieses Elend und läßt sich von dem Priester-Propheten Wahremund die Sünden der einzelnen Stände ausführlich erläutern. In dieser allgemeinen Lasterkritik, die auf Modelle des 16. Jahrhunderts zurückgeht, wird niemand ausgelassen, auch Rists eigene Zunft, die Geistlichen nicht. Sie werden als zänkisch, als Kriegstreiber, als geizig angeklagt: Jch kenne ferner etliche unter ihnen/ welche so abscheulich fluchen und Gott lästern/ daß sie es auch einem ruchlosen Landsknechte/ der zwantzig Jahre zu Felde gelegen/ damit wol bevor thun/ und dieses lassen sie offt auch an den Sonn- und Feiertagen/ wann sie nemlich mit ihren Pfarrkindern im Wirtshause unten und oben liegen/ selbigen frey lustig auff die Haut sauffen/ ja sich wol frisch mit ihnen herum schlagen/ am allermeisten von sich hören […].62
Die in allen drei Dramen enthaltenen Zwischenspiele im bäuerlichen Milieu führen noch einmal szenisch aus und setzen in Handlung um, was in den Hauptakten von den allegorischen Figuren berichtet wurde. Die Bauern sind Negativexempla im Sinne der frühen vorreformatorischen Fastnachtspiele. Als wandelnde Lasterkataloge sind sie der Beleg schlechthin für die Sündhaftigkeit des Menschen. Ihre Strafe ereilt sie am Schluß völlig zu Recht. Verständnis für die Not des Bauernstandes, wie wir solches von Grimmelshausen kennen, findet sich bei Rist nicht, kann sich auch nicht finden, da die Exempelfunktion der Figuren dies nicht zuläßt. Bei aller Fremdheit, mit der uns das Argumentationsmuster vom Krieg als Strafe Gottes heute vielleicht entgegen tritt, darf doch sein interkonfessioneller Nebeneffekt nicht übersehen werden. Fragen der Konfession bleiben dabei völlig ausgeklammert, die ständische Ordnung gilt für alle Konfessionen gleichermaßen. Die Kriegsschuld wird in diesem Modell nicht ausschließlich beim Gegner gesucht, sondern eben auch im eigenen Lager. So ist es nur konsequent, daß Rists Dramen im Gegensatz zu den zeitgenössischen Flugschriften oder konfessionspolemischen Dramen wie der ebenfalls als allegorisches Spiel angelegten
62 Rist: Werke (Anm. 3), Bd. 2, S. 258
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Schwedischen Comoedia63 von Johann Rudolph Fischer völlig frei von Konfessionspolemik sind. Im keinem der Dramen Rists wird zwischen Protestanten und Katholiken differenziert. Die Frage einer speziellen Kriegsschuld kann unter der Perspektive der Sündhaftigkeit aller Menschen zurückgestellt werden. Die Argumentationsstruktur zeitigt so einen interkonfessionellen Effekt.
4.2 Interkonfessionelle Bildfelder Seit der Antike gibt es die Vorstellung, den Staat und seine einzelnen Instanzen mit dem menschlichen Körper zu vergleichen, das bekannteste Beispiel ist die Magen-Glieder-Fabel.64 Der spätantike Dichter Prudentius schuf kurz nach 400 mit seinem Versepos Psychomachia das Modell eines Seelenkampfes, bei dem sich in der Seele des Menschen Tugenden und Laster bekriegen, ein Modell, das für einen bestimmten Typus des Jesuitentheaters zentral ist.65 Rist kombiniert beide Modelle. Die auftretenden allegorischen Figuren in seinen Friedensspielen lassen sich als Tugenden und Laster mit je spezifischen Affekten deuten. Mars, Wütherich etc. stehen für den Zorn, während der Frieden auf der anderen Seite der Skala Mäßigung und Sanftmut verkörpert. Das Vorkommen von Krieg im Staat entspricht in diesem Bildfeld dem Vorkommen von Zorn in der menschlichen Psyche, bzw. im menschlichen Körper. Die Lösungsvorschläge sind analog: So, wie der Mensch seinen Zorn bezähmen muß, so muß der Zorn im Staat, also der Krieg bezähmt werden. Mars und Wütherich werden in Ketten gelegt. Im Friedewünschenden Teutschland gibt es zudem eine parodistische Arztszene, in der Ratio Status sich als inkompetenter Wundarzt betätigt und den schwerkranken Staatskörper Teutschlands mit falschen Pflastern und Pillen traktiert. Das Körpermodell, vor allem in Gestalt der Magen-Glieder-Fabel, evoziert als Bildspender eine naturgegebene Gemeinschaft, an der die einzelnen Glieder als Konfessionen trotz ihrer Verschiedenheit zusammenwirken müssen, eben, weil sie eine natürliche Einheit darstellen.
63 [Johann Rudolph Fischer:] Schwedische Comoedia: In welcher zuersehen/ Wie die Heylige Jungfraw Confessio Augustana genant/ von der Babylonischen Huren/ im Römischen Reich feindlich durchächtet/ vnd allerdings vberwältigt […]. O. O. 1632. 64 Vgl. Dietmar Peil: Der Streit der Glieder mit dem Magen. Studien zur Überlieferungs- und Deutungsgeschichte der Fabel des Menenius Agrippa von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. u. a. 1985 (Mikrokosmos 16). 65 Vgl. etwa die Psychomachie in Jakob Bidermann: Cenodoxus. Deutsche Übersetzung von Joachim Meichel (1635). Hg. von Rolf Tarot. Stuttgart 1965.
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Nikolaus Avancini, um ein anderes Beispiel zu bringen, setzt in seinem Wiener Friedens-Spiel Pax Imperii von 1650 das Bildfeld der Brüderschaft ein, wenn er die Josephs-Geschichte im Hinblick auf die Friedens-Thematik deutet. So, wie die Söhne Jacobs am Ende wieder brüderlich zusammenfinden, sollen auch die Konfessionen einträchtig zueinander finden.66
4.3 Interkonfessionelle Handlungsmodelle Betrachtet man die Handlungsmodelle, die Rist in seinen Friedensspielen verwendet, so ist ein Wandel vom in den Friedensspielen traditionellerweise üblichen Gerichtsmodell hin zum Zeremoniell als Ordnungsprinzip feststellbar. Der Gerichtsprozeß gilt seit der Antike als genuin theatrales Modell. Jedoch lohnt auch hier wieder ein Blick auf die Theaterpraxis des 16. Jahrhunderts, weil auf diese Weise sichtbar wird, daß das Theater hier tatsächlich genutzt wurde, um den Ablauf von Gerichtsprozessen einzuüben. So gibt es etwa ein Drama des Augsburger Schulmeisters Sebastian Wild, Der Belial fürt ein recht mit Christus (1556).67 Dieses aus heutiger Sicht wohl interessanteste Drama Wilds schildert einen Prozeß des Teufels gegen Christus. Durch seine Höllenfahrt hatte Christus die Seelen der alttestamentlichen Patriarchen aus dem Limbus befreit, den Teufel gefangen genommen und im übrigen in der Hölle massive Schäden angerichtet. Die Teufel strengen daraufhin einen Prozeß wegen Sachbeschädigung an, der genau nach kanonischem Recht durchgeführt wird. War die lateinische Vorlage als exemplum für Juristen bestimmt,68 so änderte sich die Gebrauchsfunktion der deutschen Übersetzung. In der volkssprachlichen Übersetzung geht es eher darum, Laien – Schauspielern wie Zuschauern − den Ablauf eines nach römischem Recht geführten Prozesses deutlich zu machen. Das römische Recht begann sich im 16. Jahrhundert durchzusetzen, so daß das Theater seine Teilnehmer mit relevanten gesellschaftlichen Praktiken vertraut
66 Die Periochen sind ediert worden von Jean-Marie Valentin: Programme von Avancinis Stücken. In: Jahrbuch der Görres-Gesellschaft NF 12 (1971), S. 1–42. 67 Vgl. dazu Bernhard Jahn: Schultheater jenseits von St. Anna. Versuch einer Annäherung an die Theaterspielpraxis der deutschen Schulen in Augsburg am Beispiel von Sebastian Wilds Dramensammlung. In: Humanismus und Renaissance in Augsburg. Kulturgeschichte einer Stadt zwischen Spätmittelalter und Dreißigjährigem Krieg. Hg. von Gernot Michael Müller. Berlin, New York 2010 (Frühe Neuzeit 144), S. 217–233, hier bes. S. 232 f. 68 Vgl. Norbert H. Ott: Rechtspraxis und Heilsgeschichte. Zu Überlieferung, Ikonographie und Gebrauchssituation des deutschen ‚Belial‘. München, Zürich 1983 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 80), S. 16.
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machte. Hier ist jener Austausch zwischen gesellschaftlichen und theatralen Verhaltensweisen erkennbar, auf dem Ritualforscher wie Victor Turner immer wieder insistiert haben.69 Wenn Rist den dritten Akt der Irenaromachia in die Form eines Gerichtsprozesses kleidet, so wäre dies mehr als eine Metapher, es wäre als ein praktikables Verfahren, als konkreter Vorschlag für die Umsetzung in die Praxis zu deuten. In dem Prozeß, der unter dem Vorsitz Justitias geführt wird, klagt Irene den Mars an. Irene hat mit Ulpianus einen berühmten römischen Rechtsgelehrten zur Seite, Mars hingegen ist nicht in der Lage, die Prozeßregeln zu verstehen. Er möchte statt des Rechtsanwalts seinen Degen als Verteidigung. Der Prozeß droht, wie die Verhandlungen zum Westfälischen Frieden, in Verfahrensfragen zu versanden. Mars’ Zeugen werden als befangen zurückgewiesen.70 Schließlich wird der Kriegsgott doch noch schuldig gesprochen, bei seiner an sich gerechtfertigten Bestrafung der Deutschen zu weit gegangen zu sein. Er wird in Ketten gelegt und abgeführt. Das Gerichtsverfahren als Weg zum Frieden, wie es in dem Schauspiel von 1630 vorgeschlagen wird, setzt freilich eine übergeordnete Ordnungsmacht voraus, die die Durchführung eines fairen Gerichtsverfahrens zu garantieren vermag. Die Herausbildung einer solchen Siegermacht zeichnete sich im Dreißigjährigen Krieg jedoch nicht ab. Daher bedurfte es eines Verfahrens, das mehrere in etwa gleichstarke Mächte an den Verhandlungstisch bringen konnte. Ein solches Verhaltensmodell stellte das sich seit dem Spätmittelalter in Europa immer stärker verfeinernde Regelwerk des Zeremoniells bereit. Das Zeremoniell bot die Basis, es schuf die Möglichkeit, miteinander zu verhandeln, noch bevor die Rechtsfragen geklärt waren.71 Rists Friedejauchzendes Teutschland führt im dritten und letzten Aufzug erstmals in einem Friedens-Spiel solche zeremoniellen Handlungen als ordnungsstiftende Handlungen vor. Der Aufzug beginnt mit einer Huldigung. Ferdinand, der deutsche Kaiser, Ludwig, der König von Frankreich und Christina, die schwedische Königin werden vom Frieden mit Lorbeerkränzen gekrönt und empfangen goldene Pokale, weil sie dem Krieg entsagt haben. Die Frage der Kriegsschuld
69 Victor Turner: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels. Frankfurt a. M. 1995. 70 Rist: Werke (Anm. 8), Bd. 1, S. 107. 71 Zu diesem Aspekt vgl. Bernhard Jahn: Ceremoniel und Friedensordnung. Das Ceremoniel als Störfaktor und Katalysator bei den Verhandlungen zum Westfälischen Frieden. In: Der Frieden. Rekonstruktion einer europäischen Visison. Bd. 1: Erfahrung und Deutung von Krieg und Frieden. Religion – Geschlechter – Natur und Kultur. Hg. von Klaus Garber, Jutta Held u. a. München 2001, S. 969–980.
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wird hier nicht diskutiert, sondern in einem zeremoniellen Akt, der von Musik und szenischen Zeichen beglaubigt und überhöht wird, suspendiert. Alle trinken einen Vergessenstrank. Den drei Herrschern wird gleichermaßen gehuldigt, nur durch die Reihenfolge entsteht eine subtile Rangfolge.72 Die neue Ordnung ist eine zeremonielle Ordnung, und das bedeutet auch, daß möglichst alle integriert werden müssen. Dies wird im Friedejauchzenden Teutschland durch die Einbindung von Negativfiguren wie dem Politiker Reinhart, der das neue höfische Klugheitsideal vertritt, und des Miles Gloriosus Sausewind deutlich. Beide bekommen in der neuen Ordnung Ämter, wenngleich diese Ämter, ironisch gebrochen, Hofnarrenfunktion haben. Selbst Mars wird nicht, wie noch in der Irenaromachia aus dem Tableau vertrieben. Er bleibt in Ketten gelegt auf der Bühne anwesend. Die Affektkontrolle ist der Preis, den das Zeremoniell fordert. Rist kann das Zeremoniell im Friedejauchzenden Teutschland – das ist der zeittypische Widerspruch der 1640er-Jahre – noch nicht unumwunden positiv darstellen. Denn das Zeremoniell fordert eine verstärkte Affektkontrolle, die mit dem Ideal der alten teutschen Aufrichtigkeit kollidiert. Rist hält an den alten Werten fest, nutzt aber schon die Ordnungsfunktion des Zeremoniells, die mit den alten Werten nicht zu erreichen wäre. Er ist gegen Pracht, setzt dieselbe aber in zeremoniellen Szenen schon zeichenhaft in ordnungsstiftender Funktion ein. Daß das Zeremoniell, obwohl es ideologisch noch gar nicht legitimiert ist – dies geschieht in Deutschland erst ab den 1680er-Jahren – gleichwohl auf der Bühne des Wedeler Pastors so prominent in Funktion gesetzt wird, hängt wohl weniger mit dem Erfolg zeremonieller Verfahren bei den Friedensverhandlungen zusammen, als vielmehr noch mit der genuinen Theatralität des Zeremoniells. Zeremoniell und Theater beginnen sich hier zu jener Einheit zu fügen, die dann für die nächsten hundert Jahre konstitutiv sein wird. Indem Rist das Zeremoniell im Friedejauchzenden Teutschland als Handlungsmodell propagiert, deutet er seinen Zuschauern einen Weg an, wie in einer konfessionalisierten Gesellschaft die Dynamik der konfessionellen Abgrenzungsprozesse abgeschwächt werden kann, ohne daß konfessionelle Positionen aufgegeben werden müßten. Rists Theater der Grenzaufhebungen erweist sich so als Einübung in eine interkonfessionelle Praxis, die nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges ebenso notwendig wie ungewöhnlich war.
72 Rist: Werke (Anm. 3), Bd. 2, S. 393.
Dirk Niefanger
Johann Rists Theater-Gespräch von 1666 als wichtige Quelle der barocken Theatergeschichte Johann Rist ist heute mit Sicherheit kein Unbekannter mehr, nicht für die Kirchen- und Musikgeschichte, nicht für die Mediengeschichte und nicht für die Literaturwissenschaft.1 Überraschend bleibt aber, dass er in der Theaterwissenschaft bislang kaum rezipiert wird, obwohl aus seiner Feder die detailliertesten zeitgenössischen Ausführungen zum Schauspiel im Barock stammen, die zurzeit greifbar sind. Das Gespräch über die AllerEdelste Belustigung Kunst- und Tugendliebender Gemüter (1666) kann als der längste zusammenhängende Text über die Schauspielkunst aus dem 17. Jahrhundert gelten.2 Hinzu kommen Aussagen zum Schauspiel in mehreren seiner recht ausführlichen Dramen-Vorreden. Dabei erweisen sich für die barocke Kulturgeschichte seine expliziten und durch andere Quellen unterstützbaren Hinweise auf die Theaterpraxis der Zeit als sehr ergiebig. Insbesondere für die historisch argumentierende Theatersemiotik wurden Rists Ausführungen nicht herangezogen. Man bezog sich hier lieber auf die, in mancher Hinsicht kaum noch ‚barock‘ zu nennenden, jesuitischen Abhandlungen über die Schauspielkunst aus dem Jahre 1727 von Franz Lang.3 So druckt ein sehr verbreiteter Sammelband zur Geschichte der Schauspieltheorie – Seelen mit
1 Vgl. Johann Anselm Steiger (Hg.): „Ewigkeit, Zeit ohne Zeit“. Gedenkschrift zum 400. Geburtstag des Dichters und Theologen Johann Rist. Neuendettelsau 2007 (Testes et testimonia veritatis 5); Eberhard Mannack, Johann Anselm Steiger: Art. Rist, Johann. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Hg. von Wilhelm Kühlmann u. a. Bd. 9 (2010), S. 668–670; Dieter Lohmeier, Klaus Reichelt: Johann Rist. In: Benno von Wiese, Harald Steinhagen (Hg.): Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Berlin 1984, S. 347–364. 2 Rists Monatsgespräch über das Schauspiel wurde in der Theaterwissenschaft bislang nicht ausreichend gewürdigt, sieht man von einigen eher belanglosen Erwähnungen bei Manfred Brauneck ab: Vgl. Manfred Brauneck: Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters. Bd. 2. Stuttgart u. a. 1996, S. 367. 3 Vgl. etwa: Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. Frankfurt a. M. 2004 (Edition Suhrkamp 2373), S. 255–269, bes. S. 262: „Auf dieser Voraussetzung beruhte der gestische Kode des Barocktheaters, wie er von P. Franciscus Lang in seiner Dissertatio de actione scenica (1727) niedergelegt wurde […].“ Vgl. dazu Franz Lang: Abhandlung über die Schauspielkunst [Dissertatio de actione scenica, 1727]. Übersetzt und hg. von Alexander Rudin. Bern u. a. 1975. Der Band enthält ein Faksimile des lateinischen Originals.
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Dirk Niefanger
Methode, herausgegeben von Jens Roselt – als barocke Schauspieltheorie nicht Rist sondern Lang ab.4 In den 1720er- und -30er-Jahren gaben aber zumindest im Bereich der Poetik eher frühaufklärerische Texte – etwa die anonyme Breslauer Anleitung,5 Die Discourse der Mahlern von Bodmer und Breitinger und ab 1730 Gottscheds Critische Dichtkunst 6 – den Ton an. Die folgenden Ausführungen sollen Johann Rists Theater-Gespräch für die Kultur- und Theaterwissenschaft erschließen und in den Kontext zeitgenössischer Diskussionen stellen. Vorab seien einige kurze grundlegende Überlegungen zur barocken Theatersemiotik eingefügt; hierbei und bei der Vorstellung des Theater-Gesprächs greife ich gelegentlich auf eigene schon veröffentlichte Studien zurück.
1 Barocke Theatersemiotik Mit der Betonung der rhetorischen Ausrichtung des Schauspiels im 17. Jahrhundert gerieten in der Forschung die körperlichen Aspekte der barocken Theaterpraxis weitgehend aus dem Blickfeld. Dies lag vermutlich an der einseitigen Berücksichtigung einerseits des konfessionellen Schultheaters, andererseits an der Überbewertung der gelehrten Rhetorik für die sehr vielfältige Schauspielpraxis. Nicht ausreichend berücksichtigt wurden für die Theatersemiotik die langen und lebendigen Formen des Körpertheaters in den deutschen Ländern, etwa die des Fastnachtspiels, des Meistersängerdramas, der Wanderbühne oder des geistlichen Laientheaters.
4 Vgl. Jens Roselt (Hg.): Seelen mit Methode. Schauspieltheorien vom Barock bis zum postdramatischen Theater. Berlin 2005, S. 74–95. 5 Anonym: Anleitung zur Posie/ Darinnen ihr Ursprung/ Wachsthum/ Beschaffenheit und rechter Gebrauch untersuchet und gezeiget wird. Breslau 1725. Vgl. dazu Dirk Niefanger: „Von dem Zustande der Poesie in Teutschland“. Die Breslauer Anleitung (1725) als erste Aufklärungspoetik. In: Daniel Fulda, Jörn Steigerwald (Hg.): Um 1700. Frühaufklärung zwischen Öffnung und neuer Schließung. Berlin u. a. 2015 (i. E.). 6 Vgl. Johann Jakob Bodmer, Johann Jakob Breitinger: Die Discourse der Mahlern (1721–1723). Hildesheim 1969; Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Unveränderter reprographischer Nachdruck der 4. vermehrten Auflage: Leipzig 1751. Darmstadt 1982. Vgl. dazu Dirk Niefanger: Dramatische Erkenntnis. Weltwissen in den Trauerspielkonzepten von Gottsched und Bodmer/Breitinger. In: Marion Hiller (Hg.): Kunst, Erkenntnis, Wissenschaft. Formen des Wissens von der Antike bis heute. Heidelberg 2015 (i. E.).
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So konnte es kommen, dass Erika Fischer-Lichte eine Entwicklung „vom ‚künstlichen‘ zum ‚natürlichen‘ Zeichen“ im 17. Jahrhundert konstatierte.7 Dieser Veränderung der Theaterzeichen entspreche eine „Wende der Darstellungstheorie von der Repräsentation des objektiv Gegebenen zum Ausdruck der Empfindungen“.8 Um diesen „Kulturwandel“ des Theaters im 18. Jahrhundert zu akzentuieren, hat sich eine stereotype Vorstellung durchgesetzt. Das Theater des 17. Jahrhunderts, insbesondere seine höfische Variante, konstatiert etwa Gurisatti, sei „völlig abhängig […] vom rhetorischen und symbolischen Ästhetizismus.“ Der Körper des Schauspielers bleibe „den konventionellen Gesetzen des Ausdrucks streng unterworfen.“9 Dieser Argumentationslinie folgen auch neuere Beiträge: So hebt die Theatergeschichte – der einflussreichen Studie Alexander Koseninas folgend10 – hervor, dass der Schauspieler erst im 18. Jahrhundert versuche, die Empfindungen der Figuren mit seinem ganzen Körper, also nicht nur deklamatorisch auszudrücken. Die Körper-Wahrheit werde erst in der anthropologisch orientierten Aufklärung zum Indikator von Natürlichkeit; diese freilich könne der Schauspieler suggerieren.11 Im 17. Jahrhundert hingegen werde „der Körper“ des Schauspielers lediglich „als ‚Text‘ aus künstlichen Zeichen“12 präsen-
7 Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Bd. 2. Vom „künstlichen“ zum „natürlichen“ Zeichen. Theater des Barock und der Aufklärung. 3. Aufl. Tübingen 1994. 8 Günther Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. u. a. 2000 (Nexus 49), S. 304. 9 Giovanni Gurisatti: Die Beredsamkeit des Körpers. Lessing und Lichtenberg über die Physiognomik des Schauspielers. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 67 (1993), Heft 3, S. 393–416, Zitat S. 401. Ein zentrales anthropologisches Stichwort des 17. Jahrhunderts ist die Verstellung (als Gegensatz zur natürlichen Gebärde), vgl. Ursula Geitner: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1992 (Communicatio. Studien zur europäischen Literaturund Kulturgeschichte 1). 10 Vgl. Alexander Kosenina: Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur „eloquentia corporis“ im 18. Jahrhundert. Tübingen 1995 (Theatron. Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste 11). 11 Vgl. Erika Fischer-Lichte, Jörg Schönert (Hg.): Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache. Göttingen 1999 (Das achtzehnte Jahrhundert. Supplementa 5), S. 21–212. Der Schauspieler-Körper suggeriert freilich nur Natürlichkeit, vgl. Heeg (Anm. 8). 12 Erika Fischer-Lichte: Theater im Prozeß der Zivilisation. Tübingen u. a. 2000, S. 27. Vgl. auch Inge Schleier: Die Vollendung des Schauspielers zum Emblem. Zu den ästhetischen Grundlagen der Theatersemiotik in der Gryphius-Zeit. In: Daphins 28 (1999), S. 529–562, und Wilfried Barner: Theater und Publikum des deutschen Barock. In: Anselm Maler, Ángel San Miguel, Richard Schwaderer (Hg.): Theater und Publikum im europäischen Barock. Frankfurt a. M. u. a. 2002 (Studien zur neueren Literatur 10), S. 9–22.
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tiert. An dieser Vorstellung der Theatersemiotik halten bis in die jüngste Zeit auch einige Barockforscher fest. So konstatiert Dietmar Till: „Schauspieltheorie und Rhetorik werden gleichgesetzt“.13 Auch Rosemarie Zeller bezweifelt mit Blick auf Harsdörffers Gesprächsspiele, dass „man die These von den natürlichen Körperzeichen aufrechterhalten kann. Dass Gebärden im Kontext der ‚Deutungskunst‘ auftreten“, wertet sie als Indiz für eine ‚künstliche‘ Kodierung des Schauspiels.14 Harsdörffers verstreute Ausführungen zur Schauspielkunst sind insofern für Rist relevant, als er sich in seinem Theater-Gespräch ausdrücklich auf seinen Nürnberger Briefpartner15 beruft (vgl. S. 281 f.).16 Eine einseitig rhetorische Sicht auf das barocke Schauspiel sollte meines Erachtens vermieden werden.17 Meine Ausführungen zu Rists Theater-Gespräch sollen zeigen, dass die Vorstellung, im Barocktheater würden generell künstliche Zeichen verwendet, so undifferenziert ist, wie die These von der Bedeutungslosigkeit des natürlichen Körpers für die Barocksemiotik. Sinnvoll ist hier auf die historische Anthropologie zurückzugreifen; denn um das Agieren der barocken Schauspieler zu verstehen, müssen zeitgenössische Vorstellungen über den Menschen berücksichtigt werden. Aus einer solchen Sicht kann das, was wir heute ‚künstlich‘ nennen, durchaus ‚natürlich‘ erscheinen. Dies gilt insbesondere, wenn man die theatrum mundi-Vorstellung mit einbezieht, auf die das konkrete Schauspiel aller barocken Theaterformen stets verweist. Insofern besteht eine quasi ‚natürliche‘ Referenz zwischen dem Agieren auf der Bühne und dem
13 Dietmar Till: Rhetorik und Schauspielkunst. In: Rebekka von Mallinckrodt (Hg.): Bewegtes Leben. Körpertechniken in der Frühen Neuzeit. Wolfenbüttel 2008 (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek 89), S. 61–84, hier S. 70. 14 Rosemarie Zeller: Rezension von: Georg Philipp Harsdörffers Universalität. Beiträge zu einem uomo universale des Barock. In: Simpliciana 33 (2011), S. 455–458, Zitat S. 456. Vgl. dazu Dirk Niefanger: Gebärde und Bühne. Harsdörffers Schauspieltheorie. In: Stefan Keppler-Tasaki, Ursula Kocher (Hg.): Georg Philipp Harsdörffers Universalität. Beiträge zu einem uomo universale des Barock. Berlin 2011 (Frühe Neuzeit 158), S. 65–82. 15 Zum Kontext vgl. Sigmund von Birken: Werke und Korrespondenz. Bd. 9: Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Georg Philipp Harsdörffer, Johann Rist, Justus Georg Schottelius, Johann Wilhelm von Stubenberg und Gottlieb von Windischgrätz. Hg. von Hartmut Laufhütte, Ralf Schuster. Tübingen 2007 (Neudrucke deutscher Literaturwerke N. F. 53). 16 Im Folgenden wird das Theatergespräch durch Seitenangaben in Klammern nachgewiesen. Zitiert wird folgende Ausgabe: Johann Rist: Sämtliche Werke. Unter Mitwirkung von Helga Mannack und Klaus Reichelt hg. von Eberhard Mannack. Bd. 5: Epische Dichtungen (Die alleredelste Torheit. Die alleredelste Belustigung). Berlin u. a. 1974 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 51). 17 Vgl. dazu Dirk Niefanger: Art. Theater. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Hg. von Friedrich Jaeger. Bd. 13. Stuttgart u. a. 2011, Sp. 418–441, und Dirk Niefanger: Art. Barock. In: Handbuch Drama. Theorie, Analyse, Geschichte. Hg. von Peter W. Marx. Stuttgart u. a. 2012, S. 230–243.
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Verhalten in der Welt. Dass das Bühnengeschehen wie reale Handlungen in der Welt allegorisch und in Bezug auf theologische Vorstellungen gedeutet werden können, ändert daran gar nichts. Denn auch die allegorische Auslegungsmöglichkeit erscheint im 17. Jahrhundert als eine natürliche Angelegenheit. Es gibt für den Barockmenschen nichts auf der Welt, was nicht (theologisch) gedeutet werden könnte; was einen daran nur hindert, ist das je unterschiedlich begrenzte menschliche Wissen. Dass dies für künstliche, also rhetorisch gemeinte Gebärden genauso gilt wie für natürlich entstandene Gesten, versteht sich von selbst. Im Sinne der barocken Allegorese ist alles deutbar, weil potentiell alles einen theologischen Sinn hat. Möglicherweise bleibt er nur dem menschlichen Zugriff verborgen. Nun könnte man im Hinblick auf das Barocktheater argumentieren, dass hier im Unterschied zur natürlichen Welt die Zeichen ja absichtsvoll, also künstlich produziert seien, um eine allegorische Auslegung zu ermöglichen. Erstens zeigt die Thematisierung von Theaterfehlern in Stücken wie Peter Squentz von Gryphius oder Tobias von Christian Weise,18 dass gerade das Theater – auch im Barock – zu keinem geringen Teil vom Unvorhergesehenen und von unkontrolliertem Handeln lebt. Zweitens sind die absichtsvoll eingesetzten Zeichen im Theater nicht unbedingt willkürlich gewählt, sondern orientieren sich – gerade wenn sie scheinbar die Normen des Theaters brechen – am Natürlichen. So sind die Prügelszenen in den zwei Stücken und viele Elemente gerade der Wanderbühne, aber auch in den Bauernszenen der Mischspiele Rists verstehbar. Die Kombination von allegorisch gesetzten Körperzeichen und scheinbar unkontrollierten, natürlich wirkenden Gesten verweist auf das nicht vollständig erfassbare Welttheater und zeigt dadurch sichtbar, dass Gott zwar als Spielleiter und Zuschauer zu denken, seine Regie aber niemals vorhersehbar ist. Grundsätzlich macht es deshalb für die barocke Deutungskunst keinen Unterschied, ob die zu deutenden Zeichen künstlich erzeugt oder in der natürlichen Welt vorhanden sind. Nicht zuletzt die Emblematik und ihre Mischung natürlicher und künstlicher Zeichen gibt darüber hinreichend Auskunft. Ich denke, die Unterscheidung von künstlichen und natürlichen Zeichen ist aus der Sicht der historischen Anthropologie für das 17. Jahrhundert eigentlich unbrauchbar. Denn letztlich hängt es ja vom jeweiligen Bezugsrahmen (dem
18 Vgl. Andreas Gryphius: Absurda Comica oder Herr Peter Squentz. Schimpfspiel. Kritische Ausgabe. Hg. von Gerhard Dünnhaupt, Karl-Heinz Habersetzer. Stuttgart 1983 (Reclams Universal-Bibliothek 7982), und Christian Weise: Lustiges Nachspiel […] von Tobias und der Schwalbe. In: Christian Weise: Sämtliche Werke. Hg. von John D. Lindberg. Bd. 11: Lustspiele 2. Berlin u. a. 1976, S. 246–379.
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frame, dem Sprachspiel oder dem jeweiligen kulturellen Wissen) ab, was jeweils als natürlich und was als künstlich empfunden wurde. Auffällig ist jedenfalls, dass viele barocke Texte auf der Bühne ein möglichst adäquates und das heißt auch natürliches Agieren der ganzen Person sehen wollen und nicht nur eine durch steife Gesten unterstützte Rhetorik. Schon Opitz erinnert in seiner Poetik an die Vielgestaltigkeit menschlicher Auftritte: Denn wie ein anderer habit einem könige/ ein anderer einer priuatperson gebühret/ vnd ein Kriegesman so/ ein Bawer anders/ ein Kauffmann wieder anders hergehen soll: so muß man auch nicht von allen dingen auff einerley weise reden […].19
Als zentraler Beleg für die Forderung nach einer angemessenen Darstellung der ganzen Person auf dem Barocktheater kann jedenfalls Rists Theater-Gespräch gelten. Dies gilt es im Folgenden zu zeigen.
2 Die „ansehnliche Darstellung der gantzen Person“ Die „April-Unterredung“ aus dem Jahre 1666 über das Theater bildet den vierten Teil der Monatsgespräche, die über die wichtigsten Dinge der Welt handeln. In den ersten drei Monaten widmet man sich dem alleredelsten Nass (Wein, Tinte, Wasser usw.), dann dem Leben und Beruf, schließlich den Torheiten der Welt. Als vierte Unterredung folgt das Gespräch über die AllerEdelste Belustigung Kunstund Tugendliebender Gemüter. Neben dem Theater widmet man sich hier noch der Musik, der Malerei, der Dicht- und der Gartenkunst. Gesprächsteilnehmer sind der „Rüstige“, Ingeniander, Artisander und Phoebisander. Diese Kunstnamen werden Rist, Daniel Neuberger, Matthäus Merian und Jeremias Erbe zugeschrieben. Wie groß der tatsächliche Anteil der drei Herren an Rists Monatsgespräch war, lässt sich nicht ermitteln. Wer mit seinen Ausführungen zum Theater beginnt, wird per Los entschieden; Ingeniander, in dessen Namen unschwer das Ingenium mitschwingt, fängt an. Bemerkenswert ist, dass er sich nicht in allgemeinen Ausführungen ergeht, sondern mit einer konkreten Aufführung der niederländischen Theatertruppe
19 Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey […]. Studienausgabe. Hg. von Herbert Jaumann. Stuttgart 2002 (Reclams Universal-Bibliothek 18214), S. 43.
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des Jan Baptist van Fornenbergh beginnt, die er im nahen Altona gesehen habe.20 Ingeniander betont, dass er sich selbst von der Vortrefflichkeit der Truppe habe überzeugen können und dass diese auch im Vergleich mit anderen Aufführungen ganz unterschiedlicher Provenienz Bestand habe: Wir fuhren mit einander hinauß/ die Wahrheit hievon zu erfahren/ da wie den[n] befunden/ das der Ruhm so dieser Gesellschaft von hohen und niedern Standes Personen ward gegeben/ nicht erdichtet wäre/ sondern in der That sich also verhielte/ dahero wir diesen fürtreflichen Komedianten mehr denn einmahl zugesehen/ da ich mich denn erinnert unterschiedlicher anderer Komedien und Tragoedien/ die ich hiebevor an Käiserlichen/ Königlichen und Fürstlichen Höfen/ wie auch bey den Herren Patribus der Societät Jesu, (als welche in dieser nützlichen Ubung übertreflich sind erfahren/) mit Lust angeschauet […] und hoch schätzen machen. (S. 275 f.)
Man kann festhalten: Ingeniander gibt vor, seine Aussagen auf empirischer Basis getroffen zu haben. Zudem stellt er seine breite Theatererfahrung heraus. Bemerkenswert ist dabei das kundige Lob des Jesuitentheaters; stammen die Monatsgespräche doch aus der Feder eines protestantischen Pastors. Weniger überraschend ist, warum Ingeniander das Theater als eine herausragende Belustigung kunstliebender Gemüter schätzt: Im Sinne des prodesse et delectare des Horaz hebt er hervor, dass „dergleichen Spiele die Gemühter der Zuhörer nicht allein belustigen/ sondern auch vielfältigen nutzen“ (S. 276) haben könnten. Denn sie würden – ein sehr verbreitetes Argument für das Theater – die Tugenden loben und „die Laster hassen“ (S. 276) lassen. Um das Theater zu rechtfertigen, greift Rist immer wieder auf die Antike zurück; so führt der „Rüstige“ als erstes Exempel für eine „anmuhtige Geberde“ (S. 277) den römischen Schauspieler Sextus Roscius an, über den Cicero seine bekannte Verteidigungsrede hielt.21 Man hatte Roscius vorgeworfen, seinen Vater ermordet zu haben. Dann diskutieren die Herren über das wechselnde Ansehen der Schauspieler in der Antike; sie kommen zu dem Schluss, dass dieses abhängig sei von der Fähigkeit der Schauspieler, ihr Publikum für sich einzunehmen. So
20 Vgl. hierzu Dirk Niefanger: „Von allen Kunstverständigen hoch gepriesen“. Thesen zur Wirkung des niederländischen Theaters auf die deutsche Schauspielkunst des 17. Jahrhunderts. In: Niederländisch-deutsche Kulturbeziehungen 1600–1830. Hg. von Jan Konst, Inger Leemanns, Bettina Noak. Göttingen 2009 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 7), S. 153–166 mit Hinweisen zu Rist sowie Bärbel Rudin: Komödien um maskierte, verwechselte, verlorene Identitäten. Amsterdamer Zugstücke des Goldenen Zeitalters auf der deutschen Berufsbühne, In: Wolfenbütteler Barocknachrichten 40,2 (2013), S. 143–165. 21 Roscius war Verfasser einer Schrift über den Gegensatz von Drama und Rhetorik. Vgl. Cicero: De oratore I, 129: „Pro Q. Roscio comoedo“.
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habe es schon im antiken Griechenland Schauspieler gegeben, die bei SophoklesAufführungen ungeheure Affekte auslösen konnten. Einer habe gewusst „sich dermassen […] kläglich anzustellen und zu geberden/ das alle Zuseher überlaut zu Heülen und zu Weinen angefangen“ (S. 280). Artisander kann ähnliche Exempel aus der heutigen Zeit anführen. Er habe in Italien gesehen, „wie nicht nur Männer/ sondern auch Weiber/ auff der Schaubühne/ oder Theatro so kläglich sich zu geberden wissen/ daß der grösste Theil der Züschauer die Thränen müssen vergiessen/ wiewohl auch unterschiedliche dergleichen Spieler/ nunmehr in Deutschland gefunden werden“ (S. 280). Gleich zu Beginn des Gesprächs wird also anhand überlieferter und aktueller Beispiele ein Spielideal entworfen, das man eher für das 18. Jahrhundert annehmen würde. Anhand zweier konkreter Exempel des zeitgenössischen Theaters zeigt das Gespräch, dass sich gutes Schauspiel nicht als rhetorische Ergänzung des Wortes verstehen darf, sondern einer eigenen eloquentia corporis folgen muss. Dabei legt Rist besonders viel Wert auf die möglichst genaue Übereinstimmung des durch den Schauspieler gezeigten Affekts und seiner Wirkung auf den Zuschauer. Offen bleibt, ob auch der Schauspieler diesen Affekt tatsächlich spüren muss oder ihn nur simuliert. Bei Rist ist natürlich keine klare Schauspiel-Anweisung zu erwarten. Wie es zur barocken Argumentationstechnik gehört, arbeitet er mit Exempeln, die zur Nachahmung empfohlen werden. Das erste Beispiel, das Artisander vorbringt, ist „die Göttliche Victoria“ (S. 280), eine Schauspiel-Diva aus Italien. Als Quelle dient ihm hier – wie an vielen Stellen des Gesprächs – Tommaso Garzonis La piazza universale di tutte le professioni del mondo, die zuerst 1585 erschienen ist; das gelehrte Werk kommt 1641 in Frankfurt am Main bei Merian in deutscher Sprache heraus. Dies war die Ausgabe, die Rist vorgelegen hat, denn er zitiert die Passagen aus dem Schauspieler-Kapitel fast wörtlich. Victoria habe sich – heißt es bei Rist – „gantz wunderbahrlich auff der Schau-Bühne zu verändern wissen“ (S. 280). In der Garzoni-Übertragung ist hier nicht von einer Fähigkeit die Rede, sondern vom Vollzug der Veränderung: Victoria habe sich „wunderbarlich in der Scena verändert.“22 Ob man aufgrund dieser Nuancenverschiebung von einem anderen Schauspielideal ausgehen kann, mag man bezweifeln. Jedenfalls hebt Rist stärker die schauspielerische Kraft hervor, während Garzoni möglicherweise einem Ideal des ‚heißen‘, emphatischen Schauspielers anhängt, das Pierre
22 Thomas Garzoni: Piazza Universale: Das ist: Allgemeiner Schawplatz/ Marckt und Zusammenkunfft aller Professionen/ Künsten/ Geschäfften/ Händel unnd Handt-Wercken/ [et]c. Frankfurt a. M. (deutsche EA: 1619), S. 850.
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Rémond de Sainte-Albine später favorisieren wird.23 So habe Victoria „mit ihrer freündlichen Stimme und Gebehrden/ alle ihre Zuseher dermahssen bezaubert/ daß sie ihrer selbst darüber vergessen“ (S. 280 f.). Sie sei zu loben – so Artisander nach Garzoni –, weil ihre wolproportionirte[n] Gebehrden/ die zusammenstimmende[n] Bewegungen/ die angeneh me[n] liebliche[n] Wohrte und Reden/ die heimliche[n] und Hertzstehlende[n] Seüfftzer/ das holdselige Lachen/ die ansehnliche Darstellung jhrer gantzen Person also beschaffen/ das man nirgend/ oder durchauß keinen Tadel oder Mangel an ihr könne finden […] (S. 281).
Ganz deutlich geht es Rist um die „ansehnliche Darstellung“, Garzoni – etwas schwächer – um die „Praesentation“ der „gantzen Persohn“,24 nicht um eine bloß gestische Unterstützung ihres Redebeitrags. Das ausdrückliche Lob einer „vollkommenen Komoediantin“ (S. 281),25 das bei Rist dann noch etwas nachdrücklicher ausfällt als bei Garzoni, gebührt der italienischen Schauspielerin nicht zuletzt wegen ihres gekonnten und angemessenen Körperspiels. Das zweite Beispiel entnimmt Rist nicht mehr der Schauspieler-Charakteristik Garzonis; es wird vielmehr Ingenianders eigener Erfahrung zugeschrieben, wobei die Spielweise des ideal agierenden Schauspielers der niederländischen Truppe des Jan Baptist van Fornenbergh der der „Diuina Victoria“26 voll und ganz entspricht. Die Ergänzung Garzonis durch eigene Beispiele zeigt, wie wichtig Rist die Körpersprache der Schauspieler ist. Denn wieder wird erstens jener Schauspieler bevorzugt, der eine Korrelation von eigener Empfindung, Spiel und erzeugtem Affekt herstellen kann, und zweitens wieder die ganze Person des Schauspielers als Zeichenensemble eingefordert. Wie im Bericht Garzonis bezieht sich das Lob der niederländischen Truppe auf weibliche und männliche Schauspieler: So hat Herr Jean Baptista, dessen Spiele wir etliche mahl zu Altonah angesehen/ auch Leute/ so wol von Mann als Weibes Personen bey sich/ die nicht weiniger zu rühmen/ wie denn die meisten ihre Person so beweglich haben gespielet/ das man ihnen beydes mit Lust und Verwunderung hat müssen zu sehen. Es ist trauen27 kein geringes/ das ein Mensch den anderen durch seine Rede/ Sitten und Bewegung kan zwingen/ daß er seine Neigung nach des Spielers eigenen Belieben muß richten/ und mit demselben Lachen/ wenn er lachet/ mit jhme Weinen/ wenn er weinet/ mit jhm Zürnen/ wenn er zürnet/ mit jhme verliebet sein/ wenn er sich verliebet stellet/ mit ihme kranck sein/ wenn er sich kranck gebehrdet/
23 Vgl. Pierre Rémond de Sainte-Albine: Der Schauspieler [1747]. Ein dogmatisches Werk für das Theater. [Übersetzt von Friedrich Justin Bertuch]. Bd. 1. Altenburg 1772, S. 38. 24 Garzoni (Anm. 22), S. 850. 25 Vgl. ebd. 26 Ebd. 27 Verstärkend im Sinne von: wirklich, tatsächlich, freilich.
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mit ihme Hüpffen und Tantzen/ wenn er springet/ und in Summa/ jhme fast in allen Dingen muß nachaffen (S. 281).
Die parallele Beschreibung der italienischen Victoria aus dem 16. Jahrhundert und der Altonaer Schauspieler legt nahe, bei Rists Darstellung auch einen patriotischen Impetus zu sehen. Im Bereich des Theaters können die deutschen Länder – wie in anderen Bereichen der Kunst – nun mit Italien, der Wiege der Renaissance, mitziehen, wobei das Spiel der Niederländer im dänischen Altona, das allerdings als Holsteinisches Erbland zum Reich gehörte, vereinnahmt wird.28 Die von Rist beschriebenen Wirkungen von Mimik, Gestik und Proxemik werden in der Forschung gewöhnlich erst in der Aufklärung konstatiert. Das Körpertheater sind wir gewohnt, als großen Fortschritt im „Kulturwandel des 18. Jahrhunderts“ zu analysieren.29 Doch auch bei Rist und seinem Vorgänger Garzoni werden eine radikale Wandlungsfähigkeit des Schauspielers gefordert, damit Körper und Stimme als ein Zeichen für den Zustand einer Figur verstanden werden können. Trotz der intendierten Wirkung des Spiels wird man allerdings auch Unterschiede zum Aufklärungstheater sehen müssen: Zwar argumentieren Rist und Garzoni eindeutig mit der ganzen Person des Schauspielers, doch ist die Verrechnungseinheit immer noch der einzelne Affekt und nicht eine ganzheitlich verstandene Seele oder ein Gemüt. Der Affekt muss zur dargestellten Person, ihrer Rolle, zur Szene und zum Geschehen passen. Dabei sind der Stand der Figuren und der des Publikums mitzudenken. Unterschiede hinsichtlich der Normierung körperlichen Spiels wird man auch hinsichtlich der gewählten Gattungen (Tragödie, Schäferspiel, Komödie, lustiges Zwischenspiel) machen müssen. Der Spielraum der natürlichen Körperzeichen ist bei Beachtung der barocken Schicklichkeit insofern sicher enger gefasst als etwa bei Engel, Diderot oder Lessing. Dies wird deutlich, wenn man den Vorbericht an den auffrichtigen Leser zum Schauspiel Das Friedejauchzende Teutschland (1653) mit heranzieht. Hier begründet Rist die Verwendung von Dialekten und bäuerlichem Gebaren im Zwischenspiel; Referenzpunkt ist auch hier die theatrum mundi-Vorstellung und ihr spezielles Mimesis-Konzept: Es wird in den Schauspielen fürnemlich dieser Weltlauff nebenst ihren Sitten/ Worten und Wercken außgedrucket/ und den Zuseheren/ Anhöreren und Lesern für gestellet/ dabey nun muß man keine andere Art zu reden führen/ als eben die jenige/ welche bey solchen
28 Vgl. Johann Rist: Dennemark ein Erbkönigreich/ Das ist/ Allerunterthänigste Glükwünschung/ nebenst wahrhaffter/ Historischer Erzehlung/ An […] Friederich den Dritten/ Zu Dennemark/ Norwegen/ der Wenden und Gothen König […]. Lüneburg 1660. 29 Fischer-Lichte/Schönert (Anm. 11).
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Personen/ die auf dem Spielplatz erscheinen/ üblich. Zum Exempel: Wenn ein Niedersächsischer Baur mit der Hochteutschen Sprache bey uns kähme aufgezogen/ würde es fürwar leiden seltzam klingen/ noch viel närrischer aber würde ein solches Zwischenspiel den Zuschaueren fürkommen/ darin man einen tollen/ vollen Bauren und fluchenden Dreweß/ als einen Andächtigen betenden und recht Gottseligen Christen aufführete […].30
Der Dialekt ist den Bauern so angemessen wie ihr ungehobeltes Benehmen. Dabei verteidigt sich Rist mit einem Hinweis auf die mimetische Funktion des Theaters einerseits gegen eine auf dem Schauplatz geltende Schicklichkeit, wie man sie etwa zur gleichen Zeit im französischen Klassizismus vertreten findet, und andererseits gegen den Vorwurf, sein Schauspiel rufe durch unfeine bzw. unzüchtige Darstellungen zur Sünde auf. Ausdrücklich betont er hier eine abschreckende Funktion des Theaters: Wir setzen in unseren Schauspielen nur das/ was vielmals (Gott erbarme es!) unter den boßhafften Weltkindern vorgehet und getrieben wird/ wollen aber unterdessen gantz und gar nicht/ daß man demselben nachfolgen/ sondern vielmehr das Widerspiel belieben […].31
Um aber sowohl unflätige als auch feine Leute spielen zu können, verlangt Ingeniander in Rists Theater-Gespräch, dass der Schauspieler nicht nur gut spielen, tanzen und fechten können muss, sondern in „fast allen Sachen/ so in allen Ständen vorgehen/ eine gute Wissenschaft haben“ sollte (S. 282, vgl. S. 309). Rist beruft sich dabei auf Harsdörffer, der solche Forderungen an den Poeten stellt. Dieser verlangt die „Erkundigung fast aller Wissenschaften“,32 wie es zu Beginn des zweiten Teils seiner Poetik in einer oft zitierten Formulierung heißt. Am Ende des Gesprächs nach der Behandlung konkreter Aufführungen werden einige allgemeinere Aspekte des Theaters nochmals aufgegriffen; so etwa Formen des Szenenwechsels, Bühnenbilder und Ortswechsel, die Versifikation und das Einstreuen von Liedern. Speziell gehen die Gesprächspartner auch auf den Nutzen des Schultheaters und die problematische Ausrichtung von Schimpfspielen ein. Hier sind Komödien gemeint, die satirisch lebende, möglicherweise anwesende Personen auch höherer Stände aufs Korn nehmen. Diese Passage belegt, dass im 17. Jahrhundert zumindest im Bereich der Wanderbühne
30 Johann Rist: Das Friedejauchtzende Teutschland (1653). In: Ders.: Sämtliche Werke (Anm. 16), Bd. 2: Dramatische Dichtungen (Das friedewünschende Teutschland. Das friedejauchtzende Teutschland). Berlin u. a. 1972 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 35), S. 228. 31 Ebd., S. 229. 32 Georg Philipp Harsdörffer: Poetischer Trichter. [Reprographischer Nachdruck der Ausgaben: Nürnberg I, 1650, II, 1648, III, 1653]. Darmstadt 1969, Teil II, [fol. A 4v].
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die Ständeklausel nicht eingehalten wurde und deshalb im Theaterdiskurs eigens behandelt werden musste. Ingeniander vertritt übrigens die Meinung, dass auch Adelige satirische Angriffe im Theater ertragen müssen, wenn sie nicht allzu grob vorgebracht werden und auch anderen Ständen gelten. Er spricht sich insofern zumindest implizit gegen die Ständeklausel aus. Dass diese im Barocktheater generell gilt, ist eine Fehleinschätzung, die auf einer Verallgemeinerung der Opitzianischen Poetik beruht.
3 Erzählte Aufführungen Von zweifellos großem Gewinn auch für den heutigen Leser sind die zum Teil recht ausführlich erzählten Aufführungen, die sich im Gespräch nach den referierten ersten ‚Theorie‘-Passagen finden. Für die Gryphius-Forschung ist etwa die gemeinsame Peter-Squentz-Inszenierung von „Englische[n] Komödianten“ (S. 287) und einer Handwerkertruppe von Interesse.33 Um die Professionalität der Wanderbühne zu belegen, erzählt einer der Gesprächsteilnehmer von der Konkurrenz der beiden Truppen, die sich am gleichen Ort um Zuschauer bemühen müssen. Innerhalb dieses erzählten Theateragons inszeniert die Wanderbühne eine komplexe Peter Squentz-Geschichte; sie integriert in ihre „Komödie/ von einem Könige/ der seinem eintzigen Prinzen/ eines andern Königs Tochter/ ehelich wollte beylegen lassen“ (S. 287), eine Festaufführung der Handwerkertruppe, die sich unschwer auf die am gleichen Ort spielenden Kollegen beziehen lässt. Vermutlich hat Rist diesen Peter Squentz – den deutschen Sommernachtstraum – zwischen 1625 und 1640 gesehen, also vor der Veröffentlichung von Andreas Gryphius’ gleichnamigem Drama. Dieses basiert nach eigener Auskunft auf einem Stück des Altdorfer Gelehrten Daniel Schwenter, das bislang nicht nachgewiesen werden konnte. Ob Rist dieses Stück oder eine andere Wanderbühnenversion gesehen hat, bleibt unklar. Die bunte Handwerkertruppe setzt sich aus Spielern zusammen, die spezielle Fähigkeiten haben. Sie rühren offenbar aus ihren früheren Berufen oder Tätigkeiten her. Die einschlägigen Lebensläufe werden bei Rist wesentlich ausführlicher erzählt als später bei Gryphius: Der „Ratzenfänger“ gab einen „Cavallier“ und wurde „Capitan de Ratzi tituliert.“ Ein anderer „war ein Beutelschneider/
33 Vgl. zum Folgenden Dirk Niefanger: Vorläufer des Rollenfachs? Dramatische Figurentypen und spezialisierte Schauspieler in der Frühen Neuzeit. In: Anke Detken, Anja Schonlau (Hg.): Rollenfach und Drama. Tübingen 2014 (Forum modernes Theater 42), S. 49–69, bes. S. 65–68.
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dieser […] pflegte gemeiniglich einen Obersten zu agiren“ usw. (S. 292). Zur Diskussion steht also die Frage, welche Profession gereicht zu welcher Art Darstellungskunst? Können ein „Seildäntzer“ oder „Dokken“-Spieler, ein Scherenschleifer oder Quacksalber – jeweils geübt auf Kirmes oder Markt – ein ernsthaftes Schauspiel realisieren? Die früheren Berufe benutzt der Erzähler fortan, um die Schauspieler von ihrer Rolle zu unterscheiden. Trotz ihrer Spezialisierungen fällt die Rollenzuteilung schließlich nicht leicht: „Hierauff ward nun die Außteilung der Personen fürgenommen/ worüber sich den abermahl ein neuer Zanck erhub“ (S. 296). Natürlich bewältigen die Spieler am Ende nicht ihre Aufgaben und alle fallen buchstäblich aus ihren Rollen. Deshalb scheitert die Truppe – wie im Sommernachtstraum – bei ihrer Aufführung von Pyramus und Thisbe; sie wird von der professionelleren Wanderbühnentruppe regelrecht vorgeführt und als schließlich die Zuschauer vom ausartenden Spiel der Truppe gefährdet werden, auf Befehl des Königs von der Bühne geprügelt. Der Seildäntzer […] sprang lustig nach der Trummel/ versahe es aber/ und ließ die schwehre Fleischgabel mit der Leüchten unter das Volck fallen/ welches einem fürnehmen vom Adel ein grosses Loch in denn Kopf schlug/ auch einen anderen die Hand schwehrlich verwundete/ worüber ein grosser Tumult und ein solches Geschrey entstund/ das kein Mensch sein eignes Wohrt höhren konte/ welches den König/ der sonst zuvor über die gahr zu alberne Possen hefftig gelachet/ dermahssen verdroß/ daß er seinen Trabanten befahl/ sie die Komedianten alsofohrt solten vom Platz prügelen/ welches alles viel ernstlicher ward verrichtet als es befohlen […]/ welches denn der klägliche Außgang dieser herrlichen Tragedien gewesen (S. 302 f.).
Diese geradezu Gottschedsche Inszenierung fehlt später bei Gryphius. Auch bei ihm findet der Adel Gefallen am Misslingen der Inszenierung und kann sich an der ungewollten Komödie erfreuen. Bei Rist ist nicht ganz klar, ob der König das Spiel durchschaut; jedenfalls greift er genau dann ein, wenn die vierte Wand überspielt und die Bühnengewalt zu realen Verletzungen beim Publikum führt. Doch seine sozialdisziplinierende Regie scheint das Geschehen nicht vollständig in den Griff zu bekommen; denn der geforderte Ernst wird übertrieben und die ungewollte Komödie schlägt in eine ungewollte Tragödie um. Als Resümee halten die Gesprächspartner in Rists Garten fest, dass es eben „ein gar grosser Unterscheid“ sei, wer „Trauer- und Freudenspiele“ vorstelle „und das (dem Sprichworte nach) nicht alle die jenige Köche sind/ die lange Messer tragen“ (S. 303). Für die Frage nach effektvollen und realistischen Inszenierungen bietet sich in den Monatsgesprächen die misslungene Aufführung von Judith und Holofernes
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an,34 die einige Leinweber-Gesellen auf die Bühne gebracht haben. Problematisiert werden soll hier die Illusionserzeugung auf der Bühne, die schon Horaz mit seinem berühmten Medea-Paradigma anspricht.35 Der „Rüstige“ erzählt, „wie es nemlich mit Abschlachtung des Holofernes sey abgelauffen“ (S. 285). Um die Agonie des biblischen Bösewichts drastischer gestalten zu können, haben die Komödianten statt Holofernes „ein lebendiges Kalb“ ins Bett gelegt, „dem sie alle vier Füsse hatten zusammen gebunden“ (S. 285). Wie nun die Judith ihre Helden-That wolte verrichten/ hat sie die Gardinen des Bettes zurükke gezogen/ die Dekke hinweg geworffen/ und mit einem Band-Degen/ so nahe beym Bette gehänget/ dem armen/ unschüldigen Kalbe einen Hieb in den Halß gegeben/ das es jämmerlich zu bölken anfieng/ und dieweil sie mit der stumpfen Plötze noch immer so daruff hammerte/ rarete und bölkete das Kalb so grausahm/ das es kläglich war anzuhören/ biß sie ihme endlich den Kopf gantz herunter gefiedelt/ welchen sie in die Höhe gehoben/ mit lauter Stimme dabey ruffend: Sehet da ihr Herren und Freünde/ daß ist das schelmische Haubt des Tyrannen Holofernes (S. 285).
Mit seiner Aufführungserzählung versucht der „Rüstige“ seine Zuhörer zu unterhalten, wobei die vermeintliche Abschlachtung des Holofernes für die Gesprächsteilnehmer eine Art Klimax darstellt. Zudem sucht er zu dokumentieren, wie hoch das Risiko unprofessionellen Schauspiels zu sehen ist. Die Abschlachtung könnte man insofern als rhetorisch inszenierte Spitze einer amplificatio von erzählten Theaterfehlern sehen. Dem „Rüstigen“ missfällt, dass die beabsichtigte Stärkung der realistischen Wirkung in dieser Szene offenbar ins Gegenteil umgeschlagen ist. Das später zitierte Argument der Schauspieltruppe, ein Mensch hätte bei gleicher Behandlung nicht halb so viel Lärm wie das geschlachtete Kalb gemacht, muss naturgemäß eher satirisch verstanden werden. Die Theatertruppe begnügt sich nicht mit der Hinrichtung des Kalbes, sondern oszilliert auch später zwischen wirklichkeitsnaher Illusionserzeugung und desillusionierender Theaterwirklichkeit. Als nämlich im selben Stück die Kammerdiener ihren Herren, Holofernes, aufwecken wollten, entdeckten sie
34 Vgl. zum Folgenden Dirk Niefanger: Erzähltes und erzählendes Theater im 17. Jahrhundert. In: Annette Simonis (Hg.): Intermedialität und Kulturaustausch. Beobachtungen im Spannungsfeld von Künsten und Medien. Bielefeld 2009 (Kultur- und Medientheorie o. Nr.), S. 115–132, bes. S. 124–127. 35 Vgl. Horaz: De arte poetica, V. 182–185: „Doch wirst du nicht, was besser im Innern sich abspielen sollte, auf die Bühne bringen, wirst vieles den Augen entziehen, was die Beredsamkeit allen verkündet: damit ihre Kinder vor allem Volke Medea nicht schlachte.“ Übersetzung: Quintus Horatius Flaccus: Ars Poetica. Die Dichtkunst. Lateinisch und deutsch. Übers. von Eckart Schäfer. Stuttgart 1992 (Reclams Universal-Bibliothek 9421), S. 645.
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einen tatsächlich blutüberströmten Leib ohne Kopf und „vermeineten das es der rechte Holofernes wäre“ (S. 286), nämlich derjenige, der die Rolle übernommen hatte. Der reale Schrecken führte nun zum Illusionsbruch, der aber – paradoxerweise – ein natürliches Körperspiel der Schauspieler hervorbrachte, weil ihnen ja tatsächlich eleos und phobos in die Glieder gefahren waren. Dem Wahnsinn nahe, erzählt der „Rüstige“, liefen sie „auff dem Theatro umher“ (S. 286). Diese Abweichung vom abgesprochenen Text führt – wie beim Peter Squentz – zu einer wüsten Schlägerei zwischen den Schauspielern. Die Gesprächsgruppe ist sich natürlich einig, dass die misslungene Judith-Tragödie eine der lustigsten Komödien gewesen sei, die in letzter Zeit in Hamburg gegeben wurde. Ebenfalls als schlechte Inszenierung wird eine Lazarus-Aufführung36 einiger „Akker-Studenten“ (S. 282) gewertet, von der Harsdörffer berichtet habe, sagt Ingeniander. Schauen wir uns diese vergleichsweise kurze Theatererzählung an: Der reiche Mann kahm mit noch dreyen seinen Freunden/ seinem Weibe/ und einer Dienerin auff dem Platz/ setzete sich an den Tisch und sagten nichtes anders/ als: Schenck inn/ es gilt/ trinck aus/ ich werde voll/ der Wein ist guht. Etliche wendeten den Zusehern den Rükken/ wider die eigentliche Gesetze dieser Kunst/ sie hatten ein Spahn-Sau und einen Kälber-Brahten zum besten; Zu allem Unglükke aber hatte keiner unter ihnen ein Messer/ weßwegen sie gezwungen wurden/ die Speisen alle mit den Händen zu zerreissen/ und gahr geitzig hinein zu schlukken/ damit es bald zum Ende kähme (S. 282).
Der Bericht über das Gelage nimmt etwa die Hälfte der Aufführungserzählung ein, obwohl es im Gleichnis eigentlich nicht vorkommt. Allenfalls von den sprichwörtlichen „Brosamen/ die von des Reichen tische fielen“,37 lesen wir dort, die hier allerdings eher zu Fleischstücken mutiert sind. Sonst ist im Gleichnis nur von der herrlichen Kleidung und einem unbekümmerten Leben die Rede: „ES war aber ein reicher man/ der kleidet sich mit Purpur vnd köstlichem Linwand/ vnd lebet alle tage herrlich vnd in freuden.“38 Um eine Schlüsselszene des Stückes kann es sich also kaum handeln, obwohl in der bildenden Kunst der Reichtum durchaus über ein Gastmahl transportiert wird.39
36 Vgl. Lk 16,19–31, zitiert nach: Das Neue Testament in der deutschen Übersetzung von Martin Luther nach dem Bibeldruck von 1545 […]. Studienausgabe. 2 Bde. Hg. von Hans-Gert Roloff. Stuttgart 1989 (Reclams Universal-Bibliothek 3741–3742). 37 Lk 16,21. 38 Lk 16,19. 39 Vgl. etwa Frans Francken d. J.: Der arme Lazarus und der reiche Mann, 1605 (Ulm, Brotmuseum), oder Bartholomeus van Bassen/Esaias van de Velde: Saal mit dem Gleichnis vom armen Lazarus, 1624 (Hannover, Niedersächsisches Landesmuseum). Vgl. zur ikonographischen Tradition des Sujets in der Frühen Neuzeit Johann Anselm Steiger: Das Gebet im Zeitalter der Reformation und des Barock. Ein Beitrag zu Martin Luther und Heinrich Müller sowie zur Bildtradition
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Insofern bietet sich die Ausgestaltung der Szene als dekadentes Gelage an, um die sündige Verwendung des Reichtums auszustellen, nur ist natürlich kein biblischer Redetext überliefert. Zur besseren Gesellschaft hätte aber eine entsprechende Tischkonversation gepasst. In die gleiche Richtung geht der Hinweis auf die Tischsitten: Wieder – und jetzt ganz deutlich – verstößt die Aufführung gegen das decorum. Der reiche Mann und seine Gäste hätten nicht mit den Händen gegessen. Doch auch an dieser Stelle setzt sich das Stück nicht mit der vraisemblance, also der Schicklichkeit als Norm des französischen Klassizismus auseinander. Vielmehr gilt hier erneut das realistische Argument, das wir schon aus dem Vorbericht des Friedejauchzenden Teuschland kennen. Natürlich meint Ingeniander nicht, dass der reiche Mann keine dekadenten Gelage gefeiert habe; sondern die Darstellung dieses Gelages deckt sich nicht mit den eigenen Erfahrungen oder dem eigenen Wissen. Bemerkenswert sind schließlich noch zwei Aspekte der Szenenerzählung: erstens, die Erwähnung eines Theater-Gesetzes: Man soll nicht mit dem Rücken zum Publikum spielen; und zweitens, die prinzipielle Verstehbarkeit körperbetonten Spiels auf dem Theater. Denn Ingeniander versteht an sich, was die Studenten in ihrem Spiel mitteilen wollen, und er findet es zudem so – möglicherweise ungewollt – komisch, dass er die Hälfte der Erzählzeit darauf verwendet, genau diese Szene mit unverkennbarem Genuss zu erzählen. Der letzte Punkt ist insofern wichtig, als er die narrative Ökonomie des Gesprächs ganz gut deutlich macht. Denn bei den Theatererzählungen geht es wesentlich auch darum, das Publikum der Monatsgespräche zu unterhalten. Die Theaterfehler dienen, anders als man es vielleicht vermuten könnte, innerhalb des Gesprächs zu keinem geringen Teil dem delectare. Denn für eine bloße Belehrung ist die Szene sicher zu detailliert erzählt. Spanferkel und Kalbsbraten dienen weniger dem Theater als der Erzählung als wohlfeile und beim Lesen besonders gut verdauliche Requisiten. Auf der Ebene der Diegese, des Gesprächs im Hamburger Garten des „Rüstigen“, erreicht die Erzählung jedenfalls ihren Zweck: Die Gesprächspartner versuchen sich in der Erzählung skurriler – lächerlicher oder possierlicher (vgl. S. 283) – Theateraufführungen geradezu zu überbieten. Mit seinen geschachtelten und aufeinander bezogenen Diegesen und Inszenierungen – des Stückes, der Aufführung und des Gesprächs – erscheint die Narration Rists übrigens durchaus komplex. Denn als Gegenbild des Gelages kann man ohne weiteres die gepflegte Gastlichkeit des „Rüstigen“ sehen. Und seine
des armen Lazarus. Neuendettelsau 2013, S. 69–85 und 160–191, zum Hamburger Kontext bes. S. 79–81 und 183–188.
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Inszenierung des Theatergesprächs wirkt selbst wie eine gelungene Aufführung, in der jeder der Teilnehmer angemessen zu Wort kommt. Doch kehren wir nochmal zu unserem Beispiel zurück und schauen uns die Darstellung des Lazarus an, die im Wesentlichen bei Lukas überliefert ist. In der Luther-Bibel heißt es: Es war aber ein Armer/ mit Namen Lazarus/ der lag fur seiner Thür voller Schweren/ vnd begeret sich zu settigen von den Brosamen/ die von des Reichen tische fielen. Doch kamen die Hunde/ vnd lecketen jm seine Schweren. Es begab sich aber/ das der Arme starb/ vnd ward getragen von den Engeln in Abrahams schos.40
Und in der Aufführung der „Akker-Studenten“: Auff der anderen Seite kahm Lazarus daher/ welcher zum allerbesten nach seiner Person außstaffiret/ denn seine Hohsen und Hembd dermahssen durchlöchert waren/ daß er seine Armuht nicht konte bedekken. Die Hunde/ welche auff der Brükken waren belleten Lazarum an/ und als sich derselbe niederlegen wollte/ beisset ihn der eine Hund in den Fuß/ daß er ohne falsch/ jämmerlich zu schreyen angefangen. Abraham hatte des Pfarres Rock an/ und sahe zum Fenster des Wirtshauses/ wofür diese schöne Komödie ward gespielet/ hinauß […] (S. 282 f.).
Dass Abraham zum Fenster eines Wirtshauses hinausblickt, hat seine eigene Logik. Denn nun hat er Zugang zu den Fleischtöpfen, während der arme reiche Mann des Stückes in der Hölle – hier zwei brennende Besen – schmoren muss. Auch die Beschreibung der Kleidung des armen Mannes geschieht nicht ohne Hintersinn. Hose und Hemd sind so löcherig, dass sie den nackten Körper des Schauspielers kaum bedecken. Auch hier zeigt sich die Inszenierung als unangemessen. Die im Gleichnis geradezu medizinisch41 deutbaren Hunde, die die Wunden des armen Lazarus lecken, werden gleichfalls ironisch gewendet: Sie verletzten den Schauspieler, so dass Lazarus mit Grund zu schreien beginnt. Reales Geschehen und Inszenierung der Lazarus-Geschichte werden so in der Erzählung Ingenianders überblendet, wobei sich gerade diese Verschränkung als wahre, nämlich „schöne“ (S. 283) Komödie zeigt. Wie beim Peter Squentz verändern die Theaterfehler das ernste Stück zum wirkungsvollen Lustspiel. Und ganz ähnlich funktioniert zumindest die Erzählung der Judith und Holofernes-Inszenierung, die im Gesprächskreis mehr zum Lachen als zur ernsten Kritik reizte.
40 Lk 16,20–22. 41 Vgl. Steiger (Anm. 39), S. 69–72.
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4 Gattungsvermengungen Kommen wir zum letzten Punkt: Rists Rückblick auf seine eigenen Theatererlebnisse, der sich den Aufführungserzählungen anschließt. Gleich zu Anfang betont Rist bzw. der „Rüstige“ seine doppelten Erfahrungen als Theaterspieler und Stückeschreiber. Denn ich nicht allein/ wie ich noch ein Knabe war/ meine Person vielmahls auff den Schauplätzen dargestellet/ welches auch hernach/ wie ich schon eine geraume Zeit auff Universitäten oder hohen Schuhlen gelebet/ mehr denn einmahl geschehen; Sondern ich habe auch die Feder angesetzet/ und […] unterschiedliche Komedien/ Tragedien und Auffzüge geschrieben […] (S. 304).
Aus der Betonung der eigenen Schauspielertätigkeit geht hervor, dass hier das Theater als eine sehr praktische Aufgabe angesehen wird, die einiger Erfahrung bedarf. Auch hebt der „Rüstige“ seine eigene Vielseitigkeit hervor, die anschließend durch die konkrete Nennung unterschiedlicher eigener Dramen noch ergänzt wird. Von den heute bekannten Drucken Rists wird im TheaterGespräch lediglich das Buchdrucker-Drama nicht genannt,42 das er wohl eher als Gebrauchstext ansah. Einige Dramen, die angeführt werden, sind meines Wissens zur Zeit nicht greifbar: etwa Das glückselige Britannien, Das tyrannisierte und wieder befreite England – beides vermutlich Stücke zu Karl Stuart und der englischen Revolution – oder eine Herodes-Tragödie. An Erinnerung eigener Stücke schließt sich ein Exkurs des „Rüstigen“ über Gattungsvermengungen an. Dies betrifft ja vor allem seine Friedens-Schauspiele Irenaromachia (1630), Das Friedenswünschende und Das Friedejauchzende Teutschland (1649 und 1653). In diesen Stücken werden komische Szenen mit ernsten, allegorische Figuren mit realistischen Personen und Sprechtheater mit Gesangseinlagen kombiniert. Insofern erscheint es auch als ein Problem des Autors, wenn der „Rüstige“ im Gespräch bemerkt, er habe „von Holländern/ Brabandern/ Hochteütschen und Engelländern Spiele sehen aufführen/ von welchen man nicht urteilen konte/ ob es Tragoedien/ oder Komödien […] waren […]“ (S. 306). Deutlich kritisiert der „Rüstige“, dass die Theatertruppen „in den allerernsthafftesten Tragoedien und traurigsten Begebenheiten/ so viel Narren-
42 Johann Rist: Depositio cornuti typographici: das ist Lust- und Freuden-Spiel vermittelst welchem junge Personen so die edle Buchdrucker-Kunst redlich erlernet, nach Verfliessung ihrer Lehrjahre zu Buchdrucker-Gesellen bestättiget und aufgenommen werden. Lüneburg 1654. Vgl. hierzu den Beitrag von Thomas Rahn in vorliegendem Band.
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possen fürbrachten/ daß man den Jnhalt des rechten Haubt-Spiels schwehrlich konnte erkennen“ (S. 306). In Bezug auf seine eigenen Mischstücke beteuert er, dass die lustigen Zwischenspiele, „die gleichwol mit dem rechten Hauptwercke eigentlich nichts zu schaffen“ gehabt hätten (S. 306), nur auf Wunsch einiger Kritiker eingefügt worden seien. Diese in der Kunst erfahrenen Leute wären damit unzufrieden gewesen, dass er „keine sonderliche Pickelherings-Possen mit untergemengt“ (S. 306) habe. Fast bedauernd beklagt der „Rüstige“, dass heutzutage der Welt mehr mit dem „lustigen Jean Potage oder Hans Suppe/ als mit dem traurigen und ernsthafften Cato ist gedienet“ (S. 306 f.). Nahezu mit den gleichen Worten wird 66 Jahre später Johann Christoph Gottsched in seiner programmatischen Vorrede zum Sterbenden Cato die Vertreibung des Harlekins von der Bühne fordern.43 Dies vor Augen fragt man sich, warum Rist seine Theaterästhetik nicht konsequenter verfolgt hat oder warum er sich am Ende seines Lebens genötigt sah, seine Gattungsprinzipien auch gegenüber den eigenen gedruckten Dramentexten zu verteidigen. Solche Aussagen jedenfalls rücken seine Schauspielreflexionen punktuell sogar in die Nähe jener Ideen, die wir gewohnt sind, der frühaufklärerischen Dramentheorie zuzuschreiben. Sie wird normalerweise mit der Literarisierung des Dramas durch Gottsched angesetzt, also mit der programmatischen Trennung von literarischer Vorlage und theatraler Realisierung im Theaterdiskurs der ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts. Von einer emphatischen Trennung von Drama und Theater kann bei Rist indes keine Rede sein; bei ihm ist die gedruckte Ausgabe seiner Dramen noch eng mit einer (potentiellen) Aufführung verknüpft.44
43 Vgl. Johann Christoph Gottsched: Sterbender Cato [1732]. Hg. von Horst Steinmetz. Stuttgart 1984 (Reclams Universal-Bibliothek 2097), S. 5–18. 44 Vgl. Rist: Das Friedejauchtzende Teutschland (Anm. 30), S. 219 f.
Ingrid Schröder
Sprachliche Heterogenität in den Dramen Johann Rists 1 Einleitung Eine Rekonstruktion der sprachlichen Heterogenität in der Frühen Neuzeit ist vor allem dadurch vor besondere Herausforderungen gestellt, dass die mündliche Vielfalt nur durch den Filter schriftlicher Zeugnisse zugänglich ist, deren inhärente Normen sprechsprachliche Eigenheiten überdecken. Dies betrifft nicht nur die medial bedingten Merkmale im engeren Sinne, sondern auch die regionalen, sozialen und funktionalen Differenzierungen des zeitgenössischen sprachlichen Repertoires. Die Dramen Johann Rists verdienen in diesem Zusammenhang besondere Aufmerksamkeit, da in ihnen unterschiedliche sprachliche Varietäten abgebildet werden, die, ausgestattet mit distinkten Merkmalen und gebunden an soziale Rollen, ein Schlaglicht auf die sprachlichen Verhältnisse im Norden des deutschen Sprachraums in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu werfen vermögen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass es sich nicht um eine realistische Wiedergabe der sprachlichen Verhältnisse handelt, wie auch die sozialen Verhältnisse keineswegs realitätsgetreu abgebildet sind, sondern dass Typisierungen und Zuspitzungen in der Charakterisierung der Dramenfiguren und in ihrer sprachlichen Ausstattung zu erwarten sind. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts war der Wechsel vom Niederdeutschen zum Hochdeutschen in der Schriftsprache nahezu abgeschlossen. So wurden beispielsweise im Hamburger Kanzleibetrieb letztmalig im Jahr 1619 Eintragungen in niederdeutscher Sprache vorgenommen. Erst später wurde der Sprachwechsel auch im mündlichen Sprachgebrauch vollzogen. Neben dem Hochdeutschen, das im Norden bei Aufenthalten im hochdeutschen Sprachraum oder in der Schule vornehmlich „nach der Schrift“ gelernt wurde, existierte das Niederdeutsche weiterhin als gesprochene Varietät breiter Schichten fort.1 Das Sprachaufkommen prägten zusätzlich Kontakt- und Übergangsformen zwischen Niederdeutsch und Hochdeutsch mit unterschiedlichen Anteilen. Sprachliche Entlehnungen
1 Zum Sprachwechsel in Hamburg vgl. Ingrid Schröder: Sprachwechsel in Hamburg. Vom Niederdeutschen zum Hochdeutschen. In: Villes à la croisée des langues (XVIe–XVIIe siècles): Palerme, Naples, Milan, Anvers et Hambourg. Hg. von Roland Béhar, Mercedes Blanco, Jochen Hafner. Im Erscheinen.
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waren in der Frühen Neuzeit in humanistischer Tradition aus dem Lateinischen oder in alamodischer Manier aus dem Französischen reichlich vertreten. Unter den Soldaten hatte sich ein Jargon herausgebildet, der im 30jährigen Krieg zur sprachlichen Alltagserfahrung auch der Zivilisten gehörte; Soldaten aus anderen Ländern, die quer durch Europa zogen, verwendeten zudem transferenzgeprägte Lernerformen. Solche Ausprägungen des zeitgenössischen Varietätenspektrums lassen sich auch in Rists Dramen wiederfinden, wobei den Zwischenspielen aufgrund der sprachlichen Vielfalt mit niederdeutschen Anteilen besondere Aufmerksamkeit zukommt. Im Folgenden sollen die Dramen mit dem Ziel analysiert werden, die dargestellte Sprachvielfalt zu beschreiben. Abzuheben sind distinkte Sprachlagen, die einzelne Varietäten im hoch-niederdeutschen Spektrum repräsentieren, sowie sozial und funktional determinierte Sprachformen und -merkmale, die in das regionalsprachliche Spektrum integriert sind. Dabei ist zu überprüfen, wie weit es sich noch um Abbilder der realen sprachlichen Verhältnisse handelt, wie es in der Forschungsliteratur mehrfach konstatiert wurde, und wie sehr die sprachliche Gestaltung von Stilisierungen geprägt ist, die von der Charakterisierung einer Sprecherrolle und der damit verbundenen Bewertung gesteuert werden. In einem ersten Schritt wird als Analyserahmen ein Modell zur Beschreibung sprachlicher Heterogenität auf varietäten- und kontaktlinguistischer Basis vorgestellt, das den Ausgangspunkt für die Analysen bildet (Kap. 2). Danach werden die vorliegenden Forschungsergebnisse zur Sprache Rists in Kürze referiert (Kap. 3). Untersucht werden sowohl metasprachliche Informationen zur Sprachwahl, die vor allem in den Vorberichten der Dramendrucke gegeben werden, als auch die objektsprachlichen Äußerungen in der Figurenrede, insbesondere in den Zwischenspielen. Dabei werden das hochdeutsche (Kap. 4) und das niederdeutsche (Kap. 5) sprachliche Spektrum getrennt betrachtet, wobei jeweils auch Mischformen zu berücksichtigen sind. In einem kurzen Fazit kann die Frage beantwortet werden, auf welche Weise die sprachliche Heterogenität in den Dramen repräsentiert ist und welche Wertungen mit den einzelnen Sprachformen verbunden sind (Kap. 6).
2 Modellierung sprachlicher Heterogenität: Varietäten- und Registervielfalt Sprachliche Heterogenität lässt sich auf der Basis eines abstrakten Bedingungsgefüges beschreiben, das auf einem sozio- respektive varietätenlinguistischen Ansatz fußt. Als sprachliche Varietät wird „die je spezifische Ausprägung eines
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sprachlichen Verhaltens in einem mehr-dimensionalen (regional, sozial, situativ, historisch differenzierten) ‚Varietätenraum‘“ verstanden.2 Jede Varietät wird von spezifischen sprachlichen Merkmalen geprägt, die auf den verschiedenen linguistischen Ebenen (Phonetik/Phonologie, Morphologie, Lexik, Syntax) angesiedelt sein können. Eine Klassifizierung beruht dabei auf fundamentalen extralinguistischen Dimensionen wie Raum, soziale Schicht, Situation oder Zeit.3 Von der Varietät wird häufig das Register als „[f]unktionsspezifische, d. h. für einen bestimmten Kommunikationsbereich (Institution) charakteristische Sprechweise“4 abgehoben. Damit wird der Fähigkeit der Sprecher Rechnung getragen, auf situationsspezifische Anforderungen einzugehen und unterschiedliche Stilebenen zu wählen. Sowohl Varietät als auch Register sind Ausprägungen (inner)sprachlicher Heterogenität. Zu berücksichtigen ist außerdem die durch (äußere) Sprachkontakte entstehende Variation, da auch lexikalische und strukturelle Transferenzen5 für Varietäten und Register konstitutiv sein können. Variations- und Kontaktphänomene in fingierter Rede können als stilistische Zuschreibungen6 interpretiert werden, die durch die Gebundenheit an bestimmte Sprechergruppen zugleich Spracheinstellungen7 implizieren, da Prestige und
2 Hadumod Bußmann: Lexikon der Sprachwissenschaft. Stuttgart 32002, S. 730; vgl. auch Norbert Dittmar: Grundlagen der Soziolinguistik. Ein Arbeitsbuch mit Aufgaben. Tübingen 1997 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 57), S. 173–251. Einen Überblick über die existierenden Varietätenkonzepte gibt Carsten Sinner: Varietätenlinguistik. Eine Einführung. Tübingen 2014. 3 Vgl. Gaetano Berruto: Varietät. In: Sociolinguistics. An International Handbook of the Science of Language and Society. Hg. von Ulrich Ammon, Norbert Dittmar, Klaus J. Mattheier, Peter Trudgill. 1. Halbbd. 2. vollst. neu bearb. u. erw. Aufl. Berlin, New York 2004 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 3,1), S. 188–195, hier S. 189: „Eine sprachliche Varietät zeichnet sich dadurch aus, dass gewisse Realisierungsformen des Sprachsystems in vorhersehbarer Weise mit gewissen sozialen und funktionalen Merkmalen der Sprachgebrauchssituation konkurrieren. Wenn eine Menge von gewissen miteinander kongruierenden Werten bestimmter sprachlicher Variablen […] zusammen mit einer gewissen Menge von Merkmalen auftreten, die die Sprecher und/oder die Gebrauchssituation kennzeichnen, dann können wir von einer sprachlichen Varietät sprechen.“ 4 Bußmann (Anm. 2), S. 558. 5 Zu den verschiedenen Sprachkontaktformen vgl. Claudia Maria Riehl: Sprachkontaktforschung. Eine Einführung. Tübingen 22009, S. 32–39. 6 Zum Zusammenhang von Varietät und Stil vgl. Jannis Androutsopoulos, Janet Spreckels: Varietät und Stil. Zwei Integrationsvorschläge. In: Variatio delectat. Empirische Evidenzen und theoretische Passungen sprachlicher Variation. Hg. von Evelyn Ziegler, J. Scharloth, Peter Gilles. Frankfurt a. M. 2010, S. 197–214. 7 Vgl. zu Spracheinstellungen als linguistischem Gegenstand Eva Neuland: Sprachgefühl, Spracheinstellungen, Sprachbewusstsein. Zur Relevanz „subjektiver Faktoren“ für Sprachvariation und Sprachwandel. In: Vielfalt des Deutschen. Festschrift für Werner Besch. Hg. von Klaus J.
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Stigmatisierung einer sozialen Gruppe auch auf deren Sprachform übertragen wird. In Bezug auf historische Sprachdaten sind somit als wesentliche Gegenstände der Sprachgeschichtsschreibung die Sprachgebrauchsgeschichte, die Sprachkontaktgeschichte und die Sprachbewusstseinsgeschichte berührt.8 Daraus resultiert ein mehrdimensionaler Analyseansatz, nach dem die Regularitäten des variativen Sprachgebrauchs und die Ausprägungen der diversen Kontaktformen sowie die damit verbundenen Sprechercharakterisierungen und Gebrauchssituationen als Elemente der zeitgenössischen Zuschreibungspraxis zu erheben sind. Von Bedeutung ist auch die Berücksichtigung des Verhältnisses von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Die fingierte Mündlichkeit in Dramen kann, zumindest ansatzweise, die Möglichkeit bieten, die durch schriftliche Überlieferung meist verdeckten Merkmale mündlich realisierter Varietäten9 zu rekonstruieren. Als Textgrundlage dienen die Dramen Johann Rists, in denen er sich mit den Lebensbedingungen im 30-jährigen Krieg auseinandersetzt: Irenaromachia (1630), Perseus (1634), Friedewünschendes Teutschland (1648) und Friedejauchtzendes Teutschland (1653).10 Aufgrund ihrer Ausdrucksvielfalt stehen die Zwi-
Mattheier, Klaus-Peter Wegera, Walter Hoffmann, Jürgen Macha, Hans-Joachim Solms. Frankfurt a. M. u. a. 1993, S. 723–747; mit Blick auf historische Varietäten vgl. auch Anni Sairo, Minna Palander Collin: The Reconstruction of Prestige Patterns in Language History. In: The Handbook of Historical Sociolinguistics. Hg. von Juan Manuel Hernandez, Juan Camilo Conde-Silvestre. Malden, MA 2012, S. 626–638. 8 Vgl. Klaus Mattheier: Sprachgeschichte des Deutschen. Desiderate und Perspektiven. In: Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen. Gegenstände, Methoden, Theorien. Hg. von Andreas Gardt, Klaus J. Mattheier, Oskar Reichmann. Tübingen 1995 (Reihe Germanistische Linguistik 156), S. 1–18, hier S. 15. 9 Vgl. Anne Betten: Zum Verhältnis von geschriebener und gesprochener Sprache im Frühneuhochdeutschen. In: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 2. vollst. neu bearb. u. erw. Aufl. Hg. von Werner Besch, Anne A. Betten, Oskar Reichmann, Stefan Sonderegger. 2. Teilbd. Berlin, New York 2000 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 2.2), S. 1646–1664; Vilmos Ágel, Mathilde Hennig: Theorie des Nähe- und Distanzsprechens. In: Grammatik aus Nähe und Distanz. Theorie und Praxis am Beispiel von Nähetexten 1650–2000. Hg. von dens. Tübingen 2006, S. 3–31. 10 Edition der Dramentexte in Johann Rist: Sämtliche Werke. Bd. 1: Dramatische Dichtungen. Irenaromachia. Perseus. Hg. von Eberhard Mannack, unter Mitwirkung von Helga Mannack und Klaus Reichelt. Berlin 1967 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 3); Johann Rist: Sämtliche Werke. Bd. 2: Dramatische Dichtungen. Das friedewünschende Teutschland. Das friedejauchtzende Teutschland. Hg. von Eberhard Mannack, unter Mitwirkung von Helga Mannack und Klaus Reichelt. Berlin 1972 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 35). Die Depositio Cornuti typographici (1654) wird aufgrund der Funktion als Depositionsspiel und des dadurch abweichenden Personals nicht weiter berücksichtigt. Hier spricht als Einziger der Druckergeselle niederdeutsch. Vgl. den Beitrag von Thomas Rahn in vorliegendem Band.
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schenspiele im Mittelpunkt. Die Figurenreden sind daraufhin zu untersuchen, ob Sets von spezifischen sprachlichen Merkmalen ausfindig gemacht werden können, die durch außersprachliche Parameter gesteuert werden. Den Ausgangspunkt der Analyse bildet die grundsätzliche Unterscheidung zwischen hochdeutschen und niederdeutschen Sprachlagen. Situativ gesteuerte Stile, sozial gebundene Jargons11 und Kontaktformen zwischen Hochdeutsch und Niederdeutsch sowie mit anderen Sprachen sind dabei gesondert zu betrachten. Die Charakterisierung der Figuren gibt Aufschlüsse über die Spracheinstellungen vor allem in Bezug auf Prestige und Stigmatisierung. Zur Klärung der Bewertungen werden auch die metasprachlichen Äußerungen Rists in anderen Schriften einbezogen, beispielsweise in den Vorreden zu den Dramen oder in seiner Rettung der Edlen Teutschen Hauptsprache12.
3 Die Sprache der Dramen Rists in der Forschungsliteratur In der Forschungsliteratur ist das sprachliche Repertoire in den Dramen Rists überwiegend im Hinblick auf die Verwendung des Niederdeutschen in den Zwischenspielen gewürdigt worden. Gaedertz, der 1881 die niederdeutschen Teile edierte,13 sieht den Wert der Zwischenspiele darin, dass sie „nicht allein dem
11 Ein Jargon kann definiert werden als eine sozial gebundene und insbesondere berufsbezogene Sondersprache; vgl. Dittmar (Anm. 2), S. 218–221. 12 Johann Rist: Sämtliche Werke. Bd. 7: Prosaabhandlungen. Philosophischer Phoenix. Rettung des Phoenix. Teutsche Hauptsprache. Adelicher Hausvatter. Hg. von Eberhard Mannack, unter Mitwirkung von Helga Mannack und Klaus Reichelt. Berlin 1982 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 99). 13 Karl Theodor Gaedertz: Johann Rist als niederdeutscher Dramatiker. In: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 7 (1881), S. 101–172; vgl. auch ders.: Das niederdeutsche Schauspiel. Bd. 1: Das niederdeutsche Drama von den Anfängen bis zur Franzosenzeit. Neue, um zwei Vorworte vermehrte Ausgabe. Hamburg 1894, S. 34–66. Gaedertz’ Augenmerk gilt vor allem den intertextuellen Beziehungen. Er kann Rists Zwischenspiele als Vorbilder für andere dramatische Dichtungen nachweisen und erkennt weitreichende Parallelen innerhalb der Dramen Rists in den niederdeutschen Passagen sowohl hinsichtlich der dialektalen Form als auch hinsichtlich der Verwendung von Schimpfwörtern, Sprichwörtern und Redensarten (S. 167–169). Auch H[einrich] Seedorf: Zu den Zwischenspielen der Dramen Joh. Rists. In: Festschrift dem Hansischen Geschichtsverein und dem Verein für niederdeutsche Sprachforschung dargebracht zu ihrer Jahresversammlung in Göttingen. Göttingen 1900, S. 122–132, geht den Vorbildern Rists für die niederdeutschen Zwischenspiele nach. Zur Rezeption der Zwischenspiele und zum Einfluss
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Litterarhistoriker ein bisher unbebautes Feld für fruchtbringende Untersuchungen“, sondern auch „in Bezug auf die mundartliche Sprachforschung sowie für die Kultur- und Sittengeschichte durchaus nicht unwichtig“14 seien. Bereits früh wird auf die prima facie realitätsnahe Sprachgestaltung aufmerksam gemacht. So urteilt Rists Biograph Theodor Hansen: „Wer die plattdeutsche Sprache jener Zeit kennen lernen will, dem bieten sich diese beiden Bauern mit ihrer Alltagssprache als passende Lehrmeister an“, und er ist der Ansicht, dass sich in den Szenen „die plattdeutschen Bauern in puris naturalibus praesentieren.“15 Die erste sprachbezogene Untersuchung der Zwischenspiele Rists stammt von Agathe Lasch. Sie verweist zwar auch auf das Streben nach einer realistischen sprachlichen Charakterisierung und sieht darin, neben der Absicht zu amüsieren, die hauptsächliche Motivation, das Niederdeutsche in der Figurenrede der Zwischenspiele zu verwenden.16 In ihrem Vergleich von Zwischenspielen aus unterschiedlichen niederdeutschen Sprachlandschaften vermag Lasch dann allerdings zu zeigen, dass es sich nicht etwa um die regionalspezifische Form des Niederdeutschen handelt, wie sie tatsächlich verwendet wurde, sondern um eine Sprachmischung, die durch die Kombination von drei Elementen geprägt ist. Neben dem zeitgenössischen nordniederdeutschen Dialekt des Entstehungsraums17 gehören dazu die mittelniederdeutsche Schriftsprache18 sowie fremde,
Rists auf die niederdeutsche Posse vgl. auch J[ohannes] Bolte: Rists Irenaromachia und Pfeiffers Pseudostratiotae. In: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 11 (1885), S. 157– 166; J[ohannes] Bolte: Hans unter den Soldaten, eine Posse des 17. Jahrhunderts. In: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 12 (1886), S. 130–140. 14 Gaedertz: Rist (Anm. 13), S. 134. 15 Theodor Hansen: Johann Rist und seine Zeit. Aus den Quellen dargestellt. Halle 1872, S. 120 f. Ähnlich hebt auch Seedorf (Anm. 13) die realitätsnahe Sprachwahl hervor: „Seine Bauern sprechen der Wirklichkeit gemäß niederdeutsch“ (S. 122). 16 Agathe Lasch: Die Mundart in den nordniedersächsischen Zwischenspielen des 17. Jahrhunderts. In: Aufsätze zur Sprach- und Literaturgeschichte. Wilhelm Braune zum 20. Februar 1920 dargebracht von Freunden und Schülern. Dortmund 1920, S. 299–351, hier S. 301. 17 Vgl. Lasch: Mundart (Anm. 16), S. 346–351. Als regionale Merkmale nennt Lasch spezifische Formen in der Verbalflexion, nordniederdeutsche Pronominalformen, die Diphthongierung der Langvokale, die Durchführung des Umlauts, Palatalisierungen, die Adjektivflexion im Nominativ und die Gestaltung der Verbalphrase. 18 Vgl. Lasch: Mundart (Anm. 16), S. 309–312. Als mittelniederdeutsche schriftsprachliche Elemente hebt Lasch die Schreibungen vor (anstelle von ) sowie (anstelle von ) hervor. Für verweist Lasch im Anschluss an Richey darauf, dass es sich möglicherweise auch um ein Merkmal der regionalen mündlichen Bauernsprache handeln könnte. Michael Richey: Idioticon Hamburgense oder Wörter-Buch, Zur Erklärung der eigenen, in und üm Hamburg gebräuchlichen, Nieder-Sächsischen Mund-Art. Jetzo vielfältig vermehret, und mit Anmerckungen und Zusätzen Zweener berühmten Männer, nebst einem Vierfachen An-
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namentlich ostfälische, dialektale Elemente. Dabei wertet Lasch die ostfälischen Pronominalvarianten ek, mik/mek, use, us/üsch, jük/juk/gik als „reines Stilmittel dieser besonderen Gattung, das namentlich da stark angewandt wird, wo man die gröbere Mundart darstellen will.“19 Diese Formen seien durch die vielfältigen intertextuellen Beziehungen und Übernahmen verbreitet worden, so dass „man die Neigung ausbildet, das feinere Platt durch die heimische Form, das grobe Bauernplatt durch die fremde Form hervorzuheben, je mehr man auch den Ton des ungezügelter gewordenen Bauern belustigend treffen will.“20 Die Mischung dieser drei Sprachformen, die auch bei anderen Autoren begegnet, wird von Lasch geradezu als „Zwischenspielstil“ bezeichnet.21 Auch sprechsprachliche Formen22 werden als „grobe[s] Platt“23 und damit als soziales Kennzeichen gewertet. Speziell im Hinblick auf Rists Irenaromachia weist Lasch auf die Differenzen zwischen dem Gespräch von Irene und Rusticus, das „zurückhaltender, stärker schriftsprachlich ist, gebundener und traditioneller“,24 und den Zwischenspielen hin, die einen starken ostfälischen Einschlag aufweisen. In den Dramen stehen demnach durch die Oppositionen von mittelniederdeutscher Schriftsprache, regionaler Sprechsprache und stigmatisierten fremden Regionalformen sowie sprechsprachlichen Elementen mediale, regionale und soziale Merkmale nebeneinander.25 In seiner umfassenden Studie zu Rists Dramen konstatiert Otto Heins (anscheinend ohne Kenntnis der Studie Laschs) die sprachliche Varianz im Perseus mit
hange. Hamburg 1755, bemerkt zur Variation von und : „Zwar höret man noch zuweilen in Hamburg bask, tasken, aisk, Esker, Skelm, Disk, Fisk, Minsken, Tweesken, Düdske, u. d. gl. Allein, es ist mehrentheils die Sprache der Leute, die vom Lande herein kommen“ (S. 395). Als weitere schriftsprachliche Formen nennt Lasch die Pronominalformen em, en (regional jüm), den verbalen Plural auf -en (regional -et), Präfix ge- sowie die Präfixformen vthe-, anne-, inne-, affe- beim Partizip Präteritum. Letztere könnten jedoch ebenso ostfälisch geprägt sein wie auch auslautendes in enklitischen Formen vor Partizip Präteritum, z. B. vamcke höret, inse lücket. 19 Lasch: Mundart (Anm. 16), S. 313. Vgl. auch Agathe Lasch: Beiträge zur Geschichte des Neuniederdeutschen in Hamburg. In: Niederdeutsches Jahrbuch 44 (1918), S. 1–50, hier S. 6 f. mit Dokumentation ostfälischer Pronominalformen in einem Hamburger Hochzeitsgedicht von 1654. 20 Lasch: Mundart (Anm. 16), S. 318. Für Rist stellt Lasch fest, dass die einheimische Form mi überwiegt oder ebenso häufig verwendet wird wie mik/mek. 21 Agathe Lasch: Die literarische Entwicklung des Plattdeutschen in Hamburg im 17. und 18. Jahrhundert. In: Nordelbingen 5 (1926), S. 422–449, hier S. 432. 22 Vgl. Lasch: Mundart (Anm. 16), S. 326. 23 Ebd., S. 323. 24 Ebd., S. 341. 25 Für das Friedejauchtzende Teutschland könnte aufgrund des zusätzlichen Gebrauchs des Pronomens öhm eine adressatenspezifische Gestaltung für das intendierte Lüneburger Publikum angenommen werden; vgl. Lasch: Mundart (Anm. 16), S. 342.
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Niederdeutsch (als Sprache der Soldaten Cocles und Loripes), Hochdeutsch (als Sprache des Kompaniehauptmanns Knapkäse) und einem „missingschen Soldatenjargon“ (als Sprache des Soldaten Laban).26 Daneben sieht er eine Parodie der alamodischen Redeweise in Sausewinds und Lurcos Liebesbeteuerungen.27 Der „bombastische[] Redeschwall des Königs“, die „schwerfälligen Perioden mit vielen Wiederholungen“, die „schwülstige Deklamation der Sterbenden“ und auch die „Beteuerungs- und Schwurformeln, die Anrufungen der Götter, die Attribute, die sich Freund und Feind, vor allem die Liebenden geben,“28 gehören nach Heins zum Repertoire der englischen Komödianten, von denen Rist mit Knapkäse und auch mit Lurco im Perseus die Figur des Clowns übernehme.29 Sprachliche Vergleiche zwischen den Dramen stellt Heins im Anschluss an Gaedertz an, um zu beweisen, dass Rist auch als Autor der Irenaromachia zu gelten hat. Als Argumente führt er die Verwendung des holsteinischen Niederdeutsch, die darin auffälligen ostfälischen Formen sowie die Übereinstimmungen in den soldatischen Fluchformeln an, die er ausführlich wiedergibt.30 Als weitere verbindende Kennzeichen nennt er Redensarten und Sprichwörter, Metaphern und Vergleiche aus der Schifffahrt, eine niederdeutsche Lexik in den hochdeutschen Passagen sowie rhetorische Stilelemente.31 Die niederdeutsche Sprachwahl spiegelt auch nach Aloysia Rettler die realistische Auffassung des Autors wider: „Nur Bauern und Menschen, die auch sonst im Leben nd. reden, sprechen so. Ja, es ist künstlerisches Prinzip, daß sie so sprechen müssen.“32 Dennoch sieht sie die Zwischenspiele einem höfisch orientierten Gestaltungswillen verhaftet, die als Gegenbild zur höfischen Welt fungieren und deren Personen keineswegs „Gegenstände eines ernsthaften Nachdenkens“33 seien. Hiermit deuten sich auch bei Rettler die Zuschreibung von Sprachfor-
26 Otto Heins: Johann Rist und das niederdeutsche Drama des 17. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur deutschen Literaturgeschichte. Marburg 1930 (Beiträge zur deutschen Literaturwissenschaft 38), S. 48 f. 27 Ebd., S. 49. 28 Ebd., S. 52. 29 Ebd., S. 52; so bereits auch J[ohannes] Bolte: Zu J. Rists Dramen. In: Korrespondenzblatt des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 8 (1883), S. 13. 30 Heins (Anm. 26), S. 143–149. 31 Heins (ebd., S. 149–152) benennt als Merkmale Antithese und Korrektur, den Gebrauch von gleichsam und leyder, Zwillingsformen, auch mit lateinischen Anteilen und Alliterationen, und die Kumulation sinnverwandter Wörter. 32 Aloysia Rettler: Niederdeutsche Literatur im Zeitalter des Barock. Münster 1949 (Schriften der volkskundlichen Kommission im Provinzialinstitut für westfälische Landes- und Volkskunde 8), S. 87. 33 Ebd., S. 81.
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men zu bestimmten Figurengruppen und daraus resultierende Bewertungen an. Dies unterstreicht Martin Schröder, der in der sprachlichen Gestaltung die Ständeklausel wirksam sieht, „die es ausschloß, daß Herren und Bauern auf dem Theater die gleiche Sprache redeten.“34 Vielmehr sieht er den Bauern „als Projektionsfigur, dem das Obszöne stellvertretend in den Mund gelegt wurde.“35 Im Perseus findet Rettler ironische Spitzen in Knapkäses Versuchen, sich durch Sprache und Benehmen von der bäuerlichen Welt abzusetzen, da er im Affekt ins Niederdeutsche zurückfalle, „in die niedersten, zotigsten, pd. Schimpfnamen und Sprichwörter“.36 Auch Labans sprachliche Reaktion auf Knapkäses Aufforderung, hochdeutsch und soldatisch zu reden, wertet Rettler als ironisches Element. Die hyperkorrekten und hybriden Formen sowie die niederdeutschen Entlehnungen, welche die hochdeutsche Sprache Labans kennzeichnen, sind von Peter Martens detailliert aufgelistet worden, der die sprachliche Vielfalt im ersten Zwischenspiel des Perseus dokumentiert.37 In der Zusammenschau wird deutlich, dass die Zwischenspiele Rists ein reiches Material für sprachliche Heterogenität bieten. Der Fokus liegt in den vorliegenden Untersuchungen auf der regionalen und medialen Verortung der unterschiedlichen niederdeutschen Merkmale bei Agathe Lasch, wobei auch auf deren stilistische Verortung hingewiesen wird, wie auf der Provenienz stilistischer Elemente bei Otto Heins, die für den Nachweis der gemeinsamen Autorschaft der Dramen herangezogen werden. Es zeichnet sich eine Varietäten- und Registervielfalt ab, die durch regionale (Nordniederdeutsch, Ostfälisch), soziale (Adelige, Soldaten, Bauern), milieubezogene (Gelehrte, Kavaliere), situative (Selbstdarstellung, Liebesdiskurs) und mediale (Mündlichkeit, Schriftlichkeit) Faktoren bedingt ist. Eine bedeutende Rolle spielt auch die gegebene Mehrsprachigkeit (Hochdeutsch, Niederdeutsch, Latein, Französisch). Diese sprachliche Vielfalt gilt es im Folgenden mit den zugehörigen Merkmalen nach Varietäten und Stilen differenziert darzustellen.
34 Martin Schröder: Humor und Dialekt. Untersuchungen zur Genese sprachlicher Konnotationen am Beispiel der niederdeutschen Folklore und Literatur. Neumünster 1995 (Name und Wort 14), S. 180. 35 Ebd., S. 186. 36 Rettler (Anm. 32), S. 82. 37 Peter Martens: Niederdeutsch, Hochdeutsch und hyperkorrektes Hochdeutsch (eine Art von „Missingsch“) im Anfang des 17. Jahrhunderts dargestellt am Beispiel von Johann Rists Zwischenspiel nach dem 1. Akt seiner Tragödie „Perseus“ von 1634. In: Phonetik und Nordistik. Festschrift für Magnús Pétursson zum 65. Geburtstag. Hg. von Christliebe El Mogharbel, Katja Himstedt. Frankfurt a. M. 2006 (Forum Phoneticum 73), S. 119–157.
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4 Das hochdeutsche Sprachspektrum Alle Hochdeutsch-Sprecher verwenden eine ostmitteldeutsche Variante, die mit dem von Martin Luther bevorzugten Usus zusammenfällt. Diese Sprachform war sowohl in der norddeutschen Kanzleisprache verbreitet wie auch in der norddeutschen Druckersprache üblich. Als Kennformen können die Schreibung , die im gesamten Mitteldeutschen präferiert wird (wg. ai; od. ),38 initiales (mhd. b; od.
), das Suffix -nis (von Luther bevorzugt, während die kursächsische Kanzlei die auch im Oberdeutschen gebräuchliche Variante -nüs wählt), Präposition und Präfixoid auf(-) (bei Luther überwiegend, während in der kursächsischen Kanzlei auf- und uf- nebeneinander stehen) sowie die Negationspartikel nicht (ebenfalls die Lutherform bei Varianz der Formen in der kursächsischen Kanzlei) gelten.39 Nur in der Irenaromachia steht häufig die oberdeutsche Form nit neben nicht.40 Unabhängig von der lautlichen Realisierung lassen sich Unterschiede zwischen den einzelnen Sprechern auf eine sozial verortete wie auch funktions- und situationsbezogene Sprechweise zurückführen. Von einem elaborierten Stil, wie er vom Obristen Degenwerth und vom Junker Reinhart in den Zwischenspielen des Friedejauchtzenden Teutschlands gesprochen wird, lässt sich der Alamode-Stil des Aufschneiders Sausewind absetzen. Den Alamode-Stil findet man auch im Friedewünschenden Teutschland bei der gleichnamigen Figur, die hier aber nicht als Soldat, sondern als Student und „Kavallier“ auftritt, und im Perseus beim Höfling Lurco. Auch Bullerbrok, der Diener Sausewinds, verwendet alamodische Versatzstücke. Als Beispiel des Soldatenjargons ist im Perseus die Sprache des Hauptmanns Hans Knapkäse vertreten, im Friedejauchtzenden Teutschland kommen die kurzen Äußerungen des Korporals Hans Hun hinzu. Als Kontaktvarietäten mit Entlehnungen, aber auch grammatischen Fehlern werden
38 Verwendete Abkürzungen: wg. = westgermanisch; mhd. = mittelhochdeutsch; od. = oberdeutsch. 39 Zu den methodischen Grundlagen vgl. Robert Peters: Ostmitteldeutsch, Gemeines Deutsch oder Hochdeutsch? Zur Gestalt des Hochdeutschen in Norddeutschland im 16. und 17. Jahrhundert. In: Die deutsche Schriftsprache und die Regionen. Entstehungsgeschichtliche Fragen in neuer Sicht. Hg. von Raphael Berthele, Helen Christen, Sybille Germann, Ingrid Hove. Berlin, New York 2003 (Studia Linguistica Germanica 65), S. 157–180, der die Form des Hochdeutschen im 16. und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Münster, Soest, Osnabrück und Braunschweig untersucht hat und die dafür geeigneten Variablen ermittelt hat. Neben (ost)mitteldeutschen Merkmalen kann Peters in einigen Orten auch eine zeitlich begrenzte oberdeutsche Mode ausmachen. 40 Auch in den Gedichten verwendet Rist „nicht“ (z. B. „Die Einnahme Wesels“ 1629; „Die Rede Gustav Adolphs zu Nürnberg“ 1632) oder auch „nicht“ und „nit“ nebeneinander („Magdeburg, 1631“).
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die Äußerungen der Soldaten mit den sprechenden Namen Anglus und Hispanus in der Irenaromachia stilisiert. Als ein überwiegend unmarkiertes Hochdeutsch begegnet schließlich die Sprache der Wäscherin Rosemund im Friedejauchtzenden Teutschland, in die sich Sausewind verliebt hat und die er, obgleich sie als Tochter eines Schuhmachers, als Wäscherin und Gelegenheitsprostituierte eher einer unteren sozialen Schicht angehört, zur Edeldame hochstilisiert.
4.1 Elaborierter Stil: Degenwerth Vertreter eines elaborierten Stils41 sind im Friedejauchtzenden Teutschland (FjT) der Obrist Degenwerth und zum Teil auch der sprachlich flexible Junker Reinhart, der sich im Gespräch mit Sausewind jedoch an diesen im Gebrauch der Epitheta angleicht. Degenwerths Sprache, der in den Regieanweisungen des ersten Zwischenspiels als „ein versuchter/ gelehrter/ verständiger und muhtiger Soldat“ (FjT, S. 286) charakterisiert wird, ist von hypotaktischen Konstruktionen geprägt, bei denen gar Nebensätze vierten Grades erreicht werden. Der Stil Degenwerths trägt somit die Merkmale des Distanzsprechens, das heißt einer Konzeption, die schriftsprachlichen Regularitäten wie Informationsdichte, Kompaktheit, Integration, Komplexität und Elaboriertheit folgt.42 Rhetorische Mittel wie Zwillingsformeln (z. B. „pochen und prahlen“) werden nur sparsam eingesetzt, französische Fremdwörter werden ausschließlich bei Bezugnahmen auf den Alamode-Kavalier Sausewind gebraucht, vor allem in referierter Rede. Als Anredeform wird „Herr“ benutzt. Diese Sprechweise passt zu den Maximen Rists,43 der in der Teutschen Hauptsprache zur alamodischen Sprache Stellung genommen hat: Dannenhero ich mich auch jederzeit so wol im reden als im schreiben auffs höheste befleissige/ daß ich kein eintziges frembdes auslendisches Wort/ weder auff der Zungen noch auch in der Feder führe (es geschehe denn etwa aus Kurtzweil und die Almodisten zu verhönen) damit ich unserer Edlen Teutschen Sprache keinen unauslöschlichen Schimpff und Verachtung dadurch beybringe […].44
41 Von der Bezeichnung „Kanzleistil“ wird hier abgesehen, da dieser vor allem die textsortentypischen Merkmale der schriftlichen Urkundensprache impliziert. 42 Vgl. Peter Koch, Wulf Oesterreicher: Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte. In: Romanistisches Jahrbuch 36 (1985), S. 15–43; vgl. auch Ágel, Hennig (Anm. 9), S. 22. 43 Degenwerth ist auch als Gegenspieler Sausewinds, dessen Verhaltensweisen als Anspielungen auf Philipp von Zesen interpretiert werden können, mit Rist identifiziert worden; vgl. Seedorf (Anm. 13), S. 132. 44 Rist: Hauptsprache (Anm. 12), S. 98 f.
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Degenwerths Sprechweise ist demnach der prestigebesetzte Stil, der dem alamodischen gegenübersteht, wie er von Sausewind und Lurco gebraucht wird.
4.2 Alamodischer Stil: Sausewind und Lurco Als Gegenspieler Degenwerths wird Sausewind sprachlich in Szene gesetzt. Junker Reinhart lässt keinen Zweifel daran, dass Sausewind ein Aufschneider ist, „wiewol er sonst viel von Frankreich pfleget zu prahlen/ worinnen er doch kein gantzes Viertel Jahrs hat gelebet/ wie er denn auch nicht fünff Wort Frantzösisch recht weiß zu reden“ (FjT, S. 311). Dennoch ist seine Sprache von Fremdwörtern und Phraseologismen aus dem Lateinischen und aus dem Französischen geprägt. Lateinische Phraseme, z. B. „Tuâ quod nihil refert“, „percontari desinas“, „Audaces fortuna juvat“, und die lateinische Bezeichnung „laus semper“45 für Rosemunds Liebhaber, der Sausewind verprügelt hat, stehen neben lexikalischen Entlehnungen wie „Bravade“, „Cammerad“, „Cavallier“, „Monsieur“, „Poet“, „Positur“, „Respect“, „Reverentz“, „Secunde“, „curiren“, „probieren“, „revengiren“, „geresolviret“, „ungemolestiret“, „unpertubiret“, „nobel“, „reputirlich“, „vaillant“, „adieu“, „Ma foy“. Die Redeweise entspricht der Charakterisierung des Aufschneiders Sausewind, der als gelehrter Mann von Welt zu erscheinen versucht. Diese Selbstdarstellung steht im Kontrast zur Handlung, in der Sausewind später von Rosemund hinters Licht geführt wird. Den Fremdwortgebrauch hat Rist bereits in seiner Vorrede zum Friedejauch tzenden Teutschland kritisiert: Jm übrigen/ bin ich der gäntzlichen Meynung/ daß sehr viele Sausewinde hin ünd wieder in der Welt zu finden/ unter welche ich die jenige Phantasten unnd Sprachenverderber mit gutem Fuge mag rechnen/ welche/ unangesehen sie kaum in Franckreich oder Welschland gegücket/ und den Grund selbiger Sprachen im weinigsten verstehen/ gleichwol in ihren Gesprächen mit einem Hauffen fremder/ außländischer Wörter/ wie der Sausewind/ Mars/ Staatsmann und andere tolle Alamodisten in unserm Schauspiele thun/ schier alle Augenblicke üm sich werffen/ und unsere alleredelste/ Teutsche Mutter und Heldensprache schändlich dadurch verunreinigen (FjT, Vorbericht, S. 226 f.).
45 „Adi Laus Semper“ ist die spöttische Bezeichnung für den Kaufmann nach der nicht mehr verstandenen Briefeingangsformel „Laus deo semper“, die mit dem Datumszusatz „Adi“ (= ‚à die‘) verbunden wurde, vgl. Alfred Schirmer: Wörterbuch der deutschen Kaufmannssprache auf geschichtlichen Grundlagen. Straßburg 1911, S. XXX u. 118 mit Verweis auf Rist. Im Friedewünschenden Teutschland, S. 142, bezeichnet Sausewind den Kaufmann als „Adi Laus semper“.
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Auch die Kritik am überbordenden Gebrauch rhetorischer Mittel spiegelt sich in der sprachlichen Ausstattung Sausewinds. Die Anrede Rosemunds ist von superlativischen Attributen geprägt, z. B. „Allerschönste Tochter des Himmels/ Wunderwerk der Erden/ Beherrscherin der Sonnen/ und du vollenkommenstes Meisterstükk der Natur“ (FjT, S. 376), „Allerschönste Menschgöttin“ (FjT, S. 378). Weitere Epitheta heben ebenfalls in superlativischen Wendungen, Amplifikationen, Vergleichen, Metaphern und Neologismen Rosamundes Schönheit hervor, z. B. „die überirrdische Rosemund/ die Perle der allervollkommensten Damen/ der unvergleichliche Außzug des Himmels/ die eintzige Zierde und Krone meines verliebten Hertzen“ (FjT, S. 369). Die „Blitzleuchtenden“ Augen werden mit „hellscheinenden Flammen“ und „Karfunkeln“ gleichgesetzt (FjT, S. 381), die Haut als „viel weisser als ein Alabaster/ Hagel/ Milch/ Schnee/ Kreide oder Helfenbein“ (FjT, S. 383) beschrieben, die Farbe der Hände als „die weisseste Milch“, als „so vollenkommen/ daß auch der Schnee/ die Milch/ die Kreide/ ja das allerweisseste Ding der Welt gegen ihr zu rechnen Pechschwartz scheinet“ (FjT, S. 382). Rosemund imitiert Sausewind, indem auch sie eine Reihe von Epitheta und Fremdwörtern verwendet. Außerdem gibt sie Sausewind den sprechenden Schäfernamen Philauton („Eigenliebe“), und entlarvt dadurch seine Aufschneidereien. Die übertriebenen Epitheta werden auch in der Teutschen Hauptsprache im (fiktiven) Brief des Liepholdt von Hasewitz parodiert. Der Mund der Angebeteten, der „allerschönste[n] Dame“, wird als „Honigsüsse Fontaine“ bezeichnet, die Augen werden mit dem „Gestirn am blauwen Sahl des Himmels“ verglichen, Lob wird den „güldenen vnd sonder pouldre wol scheinenden Haren/ schnee weissen Zähnen/ Corallenrohten Leftzen/ prächtig-formirten Schwanen-Hälßlein/ helffenbeinen Händen vnd denen übrigen gleich dem Alabaster hell gläntzenden Gliedern des gantzen Leibes“ gezollt.46 Rist kritisiert im Antwortbrief außer der Sprachmischung u. a. den Gebrauch der Bezeichnungen Dame und Cavallier und warnt vor „alamodesierenden Auffschneidern vnd leichtfertigen Struntzeren“.47 Parodiert wird der alamodische Stil Sausewinds durch seinen Diener Bullerbrok, der ihn mit Elementen der Soldatensprache vermischt. Der sprechende
46 Vgl. Rist: Hauptsprache (Anm. 12), S. 127 f. Zur zeitgenössischen Kritik am Kompliment vgl. auch Andreas Gardt: Sprachreflexion in Barock und Frühaufklärung. Entwürfe von Böhme bis Leibniz. Berlin, New York 1994 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker N. F. 108), S. 170 f. 47 Rist: Hauptsprache (Anm. 12), S. 148. Vgl. dazu Thomas Mast: Patriotism and the Promotion of German Language and Culture. Johann Rist’s Rettung der Edlen teutschen Hauptsprache (1642) and the language Movement of the Seventeenth Century. In: Daphnis 30 (2001), S. 71–96, hier S. 83.
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Name (wörtlich „Polterhose“) bezeichnet einen „Grobian“ und „Polterer“,48 seine Kleidung („nicht viel besser als ein Bettelbube bekleidet“; FjT, S. 365) weist ihn als Angehörigen einer niedrigen sozialen Schicht aus. Dennoch verwendet er wie Sausewind hypotaktische Konstruktionen und Epitheta, lateinische und französische Wörter, z. B. Fürwar/ ehrenvester Junker/ wenn ich nicht wüste/ daß ihr ein so fürnehmer Ritter wäret/ auch nun bald Ambassadoor werden soltet/ ich wolte sagen/ daß unter allen Teutschen Poeten eures gleichen nicht zu finden/ es wäre denn Herr Reuterhold von der blauen Wiese/ welcher sonst allen das Sand in die Augen wirfft/ die in der gantzen Teutschen weiten Welt zu finden/ aber/ hochgeborner Ritter/ solte man diese überhöllische oder überirrdische Rosemund/ wie ihr sie heisset/ nicht etwan können zu Gesichte kriegen? (FjT, S. 373).
Doch verweisen das Adjektiv „überhöllisch“ und dessen später verwendete Variante „überarsisch“ auf die Soldatensprache, die auch durch Flüche („zum Teufel“, „bey dem Elemente“) und grobe idiomatische Wendungen („daß dir doch die Lauß den Narren auß dem Gehirn fresse“, „Jch wolte dir den Teufel auf den Kopf helffen“) repräsentiert ist (vgl. unten). Außerdem werden in der Ansprache des Publikums einzelne Wörter aus dem Niederdeutschen integriert („Flegen“ ‚Fliegen‘, „Kromen“ ‚Krumen‘), als syntaktische Transferenzen Pronominaladverbien in Distanzstellung („da weiß ich meinen Meister nicht mit“, „Da soll kein Haar an fehlen“), Lehnübersetzungen („leident toll“ ‚liedent dull‘) sowie hyperkorrekte Formen („zoller Zeufel“ ‚toller Teufel‘). Sprachliche Parallelen sind bei Knapkäse, Hun und Laban zu finden (vgl. unten). Sie werden auch dort mit einem geringen Bildungsstand und einem niedrigen Sozialstatus in Verbindung gebracht. Wenn Bullerbrok über sich sagt, „ich bin eines verlognen Bärenhäuters/ eines elenden Bettlers und eines abgeschäumeten Narren unterthäniger Aufwarter unnd Diener“ (FjT, S. 388), charakterisiert er damit zugleich Sausewind und sich selbst. Ebenfalls parodistisch sind die hochdeutschen Liebesschwüre des Höflings Lurco gegenüber der niederdeutsch sprechenden Telsche im Perseus (Pers.) gestaltet. Wie Sausewind wird auch Lurco als „Aufschneider“ (Pers., S. 207), weiterhin als „des Printzen Persei Tellerlecker“ (Pers., S. 127) und von Telsche als „Grohtspreker“ (Pers., S. 218) charakterisiert. Lurco (lat. ‚Schlemmer, Fresser, Wüstling‘) tituliert Telsche als „halbgöttliche Jungkfraw/ himlische Hertzenzwingerin, hochehrentugendtreiche Dahm“ (Pers., S. 218 f.). Lurcos Stil wird weiterhin
48 Hamburgisches Wörterbuch. Auf Grund der Vorarbeiten von Christoph Walther und Agathe Lasch hg. von Hans Kuhn, Ulrich Pretzel, fortgef. von Jürgen Meier, Dieter Möhn. Bd. 1–5. Neumünster 1985–2006, hier Bd. 1, Sp. 537.
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von metaphorischen Attributen, z. B. „in den Wolcken schwebende Tugendt“, Akkumulationen, z. B. „sehr ansehnliche Liebe/ Gnade/ Hulde/ Gunst/ Freundtschafft vnd Favor“, Metaphern, z. B. „mit ewigwehrender vergiessunge der klaren Wasserquellen/ meiner fliessenden Fonteinen oder Augen“, Reihungen, z. B. „gegremet/ zerheulet/ zerweinet vnd zerklaget“, Epitheta, z. B. „mein feuchtes vnd auffgeblehetes Hertz, an meiner offtprobierten/ eysenfesten/ steinharten Trew“ und Umschreibungen, z. B. „meine veramorirte Seele auß dem zermarteten Cörper/ gantz vnd gar hinweg zu spediren, das ist (kürtzlich geredet) sterben“, geprägt (Pers., S. 218 f.). Die Parallelen zwischen Lurco und Sausewind liegen auf der Hand. In beiden Fällen handelt es sich um das galante Werben um eine Frau, die zwar gesellschaftlich einen niedrigen Stand einnimmt, aber wie eine Adelige behandelt wird. Der augenscheinlich geringe gesellschaftliche Status wird durch die Bezeichnung „Dame“ konterkariert. Die Sprache ist angelehnt an den Liebesdiskurs in der zeitgenössischen Dichtung, insbesondere in den Schäferspielen, die hier karikiert werden. Im Friedewünschenden Teutschland (FwT) trägt ein „Kavallier“, der „sehr a la mode jedoch etwas Studentisch auffgezogen“ (FwT, S. 127) ist, den Namen „Sausewind“. Auch er ist ein Aufschneider, der sich rühmt, er sei „kein ungeschikter grober Jdiot/ sondern in allen Sprachen/ Künsten und Wissenschafften trefflich […] unterrichtet und erfahren, außerdem beredt und in der Poeterei so übertrefflich guht“ (FwT, S. 127 f.). Mars, der ihn für einen Franzosen hält („das merke Jch fast an seinem Habit und leichtfertigen Geberden“; FwT, S. 133), begrüßt ihn auf Französisch. Erst als sich Sausewind als Deutscher offenbart, gehen beide zur deutschen Sprache über. Gegenüber Mars zitiert Sausewind lateinische („Dulce Bellum inexpertis“) und französische Sentenzen („Sa, courage, vive la guerre“), als ihn aber später Merkurius lateinisch anspricht, antwortet Sausewind: „Was plaudert doch der vor ein Zeug daher? Jch weis den Teuffel viel/ was Er saget“ (FwT, S. 144). Bereits damit entlarvt er seine schlechte akademische Bildung, fügt aber überdies hinzu: „Was Latin reden/ wer hat mit solcher Blakscheisserei etwas zuschaffen?“ (FwT, S. 144). Während das Französische hier als alamodisches Kommunikationsmittel eingesetzt wird, dessen sich auch der Kriegsgott Mars selbstverständlich bedient, steht Latein als Sprache der Gelehrten dem Aufschneider, der sich lieber als „Kavallier“ und „grosser Liebhaber des Frauenzimmers“ (FwT, S. 138 f.) sieht, nicht zur Verfügung.
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4.3 Soldatenjargon: Hans Knapkäse und Hans Hun Die Soldatensprache wird von Hans Knapkäse, „Capitain und Trummenschläger zugleich“ (Pers., S. 127), Karikatur eines Kompaniehauptmanns, realisiert. Der Name gehört in die Tradition der clownesken Figuren der Englischen Komödianten im 17. Jahrhundert wie Pickelhering oder Hans Wurst49 und wird auch in anderen Komödien verwendet. Knapkäses Sprache wird im Perseus von einer Mischung aus militärischem Fachwortschatz überwiegend französischer Provenienz („Capitain“, „Charge“, „Compagnie“, „Corporal“, „General“, „Musquete“, „Mußquetirer“, „Quartier“, „Trommententambour“, „marchiren“, „fortificiren“), aber auch aus dem Italienischen („allarm“, „Scharmützel“) und aus dem Spanischen („Major“) sowie weniger deutscher Fachwörter („Glied“, „Obrister“, „Ordnung“, „drillen“) geprägt. Auch auf diesen Sprachgebrauch trifft die von Rist in der Teutschen Hauptsprache geübte Sprachkritik zu. Ausführlich erörtert Rist dort den Vorteil der Ausdrücke „Obrister“, „Statthalter“, „Hauptmann“, „Unterhauptmann“, „Wachmeister“, „Feldtweibel“, „Rottmeister“ und „Trommenschläger“ gegenüber „Colonell“, „Lieutenent“, „Capitain“, „Majeur“, „Sergeant“, „Corporal“, „Taboutineur/Tambour“.50 Knapkäse verwendet darüber hinaus weitere Entlehnungen, die nicht zum militärischen Wortschatz gehören, z. B. frz. „Cavallier“, „Monsieur“, „Courage“, „Courannie“, „Parlement“, „complet“, „allegrement“, „Bon jour“, „adieu“, „Pour dieu“, „pour ma foj“; ital. „panquetieren“; span. „Cabbaler“, „Don“, „bona dias“; lat. „Officium“, „Tractamenta“, „Bonus dies“. Hyperkorrekte Formen auf niederdeutschem Substrat sind nicht nur im militärischen Wortschatz („Kaffzein/Caffthein/Cafitzen“, „Hopffmann“) anzutreffen, sondern auch in Flüchen („zum Zeufel“). Weitere niederdeutsche Elemente treten in der Lexik (z. B. „Koppe“, „schlampampen“) oder auch im Vokalismus („myn Kerl“) hervor. Schließlich wird von Knapkäse auch ein niederdeutscher scherzhafter Reim zitiert, der von Schimpfwörtern nur so strotzt (Pers., S. 211). Zur soldatischen Sprache gehören auch Flüche und Beschimpfungen. So fordert Knapkäse den neu angeworbenen Soldaten Laban auf:
49 Vgl. Heins (Anm. 26), S. 52–66. Vgl. auch Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Bd. 5. Leipzig 1873, Sp. 1350, Artikel „Knappkäse“: „der hanswurst heiszt im 17. jh. u. a. auch Hans Knapkäse.“ 50 Vgl. Rist: Hauptsprache (Anm. 12), S. 100–102.
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dabenebenst must du auch braaff fluchen lernen/ denn daß steht fein Soldatisch/ wenn man wacker mit Teuffelen vnd Elementen ümb sich wirfft. Vnd wenn du schweren wilt/ must du nicht so grob Teutsch/ bey Gott/ oder auff mein Seel sagen/ sondern fein Frantzösisch: Pour Dieu (Pers., S. 137 f.).
Beispiele für Flüche lassen sich bei Knapkäse in Fülle finden, u. a. mit Bezug auf den Teufel, z. B. „daß euch der Teufel holl“, „hat dich denn der Teufel mit lauter Narren beschissen“, ebenso ein ganzes Repertoire an Beschimpfungen, z. B. „Tausendschelm“, „Cujon“, „Haluncke“, „Bösewicht“, „Berenheuter vnd Diebe“, „Esel“, „Galgvogel“, „Hundesfötter“, „Rabenaas“. Die Sprache des Korporals Hans Hun – sein Name wird „sprichwörtlich von räuberischen Kriegern“51 verwendet – ist von einer (übertriebenen) Fülle von hyperkorrekten Formen geprägt, die dadurch entstehen, dass die systematischen Unterschiede zwischen dem Niederdeutschen und dem Hochdeutschen wie Durchführung der zweiten Lautverschiebung und neuhochdeutsche Diphthongierung oder weitere Monophthong-Diphthong-Oppositionen auch dort realisiert werden, wo Niederdeutsch und Hochdeutsch identisch sind, oder dass die systematischen Unterschiede falsch realisiert werden. Zahlreiche Beispiele betreffen die Verwendung eines Frikativs anstelle eines Plosivs („Zeufel“ ‚Teufel‘, „Wirtz“ ‚Wirt‘, „Vatzer“ ‚Vater‘, „Goss“ ‚Gott‘) und die Verwendung der Affrikate anstelle des Frikativs („kützen“ ‚küssen‘, „heitze“ ‚heiße‘, „laze“ ‚lasse‘) sowie diphthongierte Formen anstelle der Monophthonge („nau“ ‚nun‘, „Leibste“ ‚Liebste‘). An wenigen Stellen bleibt der niederdeutsche Konsonantismus und auch Vokalismus erhalten („dar“ ‚da‘, „dansen“ ‚tanzen‘, „dinen“ ‚deinen‘, „is“ ‚ist‘). Vereinzelt werden niederdeutsche Wörter eingesetzt („skal“ ‚soll‘, „ins“ ‚einmal‘). In syntaktischer Hinsicht fällt die Trennung des Pronominaladverbs ins Auge („dar skal sie nicht von sterben“, „dar seided ihr […] mit zu friedzen“, „da muß ich […] auff dansen“; FjT, S. 303). Diese Transferenzen und hyperkorrekten Formen indizieren eine bäuerliche Herkunft und zugleich eine unzureichende HochdeutschKompetenz. In der Soldatensprache mischen sich fachsprachliche und soziolektale Elemente. Fremdsprachliche Lexik prägt vor allem den militärischen Wortschatz Knapkäses, niederdeutsche Einflüsse zeigen sich in Zitaten, lexikalischen und phonologischen Substratelementen sowie hyperkorrekten Formen. Gemeinsam mit den Flüchen und Beschimpfungen kennzeichnen sie den geringen sozialen Status der Soldaten und ihre schlechte Bildung.
51 Gaedertz: Rist (Anm. 13), S. 65; vgl. auch Bolte (Anm. 29), S. 13.
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4.4 Hybridsprache: Anglus und Hispanus Die Sprache der Soldaten Anglus und Hispanus in der Irenaromachia weist Merkmale auf, durch die beide als Nicht-Muttersprachler gekennzeichnet sind. Überwiegend handelt es sich um Abweichungen von der grammatischen Norm wie falsches Genus oder falschen Kasus, z. B. „das Kerls“, „das Frantzoß“, „den Weibsbild“, „den Deubel“ (Nom.), „von das loß Boßwicht“ (Dat.), „mit der Frantzoß“ (Dat.), und falsche verbale Flexionsformen, z. B. „den sagen“ (‚der sagt‘), „schlaga“ (‚schlagen‘). Hinzu kommen niederdeutsche Transferenzmerkmale. Insbesondere von Anglus, aber auch von Hispanus, werden niederdeutsche Merkmale im Konsonantismus und Vokalismus realisiert, z. B. „Deubel“, „kop“, „gedahn“, „dat“, „ick“ oder „myn“, „vff“, „Jngelsch“, und auch niederdeutsche Lexeme verwendet, z. B. „neyen“ (‚verprügeln‘), „Pluckfink“ (Schimpfwort; etwa ‚Speckwürfel‘), „mall“ (‚verrückt‘), „Höuet“ (‚Kopf‘), „yuw“ (‚euch‘). Schließlich werden wenige englische Lexeme eingestreut, „Sir“ (‚Herr‘), „wel“ (‚gut‘), bei Hispanus stattdessen spanische Fremdwörter und Phrasen, z. B. „nobleza“ (‚Redlichkeit‘), „le truhan descarado“ (‚dreistes Schlitzohr‘), „bona sera signor“ (‚guten Abend, der Herr‘). Daneben taucht bei Hispanus als Merkmal aber auch die auffällige oberdeutsche Schreibung für Diphthong auf („Gaist“, „kain“), ein Element, das somit nur in der Lesefassung eine Rolle spielt. Im Gegensatz zu Anglus und Hispanus enthält die Sprache des Türken Osman und des Tartaren Cham im Friedejauchtzenden Teutschland keine Entlehnungen. Auch die Sprache des Spaniers Don Anthonio, des Franzosen Monsieur Gaston und des Kroaten Signoro Bartholomeo im Friedewünschenden Teutschland ist, abgesehen von wenigen Entlehnungen und zitierten Sprichwörtern, frei von Transferenzen. Fremdsprachliche Lernerformen werden demnach überwiegend durch grammatische Verstöße und lexikalische Transferenzen gekennzeichnet, wobei nur letztere die Herkunft der Sprecher markieren. Die niederdeutschen Elemente können als Reflexe der regionalen Ausprägungen des Sprachkontakts interpretiert werden, lassen sich gleichzeitig aber auch durch die Parallelen zu Knapkäses Sprachgebrauch als Ausweis sprachlicher Stigmatisierung (im Gegensatz zu Don Anthonio, Monsieur Gaston und Signoro Bartholomeo) lesen.
5 Das niederdeutsche Sprachspektrum In den Dramen Rists ist Niederdeutsch die Sprache der Bauern und auch der einfachen Soldaten. In den Zwischenspielen der Irenaromachia sprechen die Bauern Meves, Sivert und Marten sowie Joistken, Siverts Sohn, niederdeutsch, aber auch
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der in der Haupthandlung auftretende Bauer Rusticus, der ein Gespräch mit der Friedensgöttin Irene führt. In den Zwischenspielen des Friedejauchtzenden Teutschland sind es die Bauern Drewes Kikintlag und Beneke Dudeldei sowie Göbbeke, Drewes’ Ehefrau. Im Perseus verwenden Laban, Cocles und Loripes, Soldaten in der ‚Kompanie‘ Knapkäses, Niederdeutsch. Während Laban im Gespräch mit Knapkäse versucht, sich dem Hochdeutschen anzunähern, bevorzugt er gegenüber Telsche wie diese selbst Niederdeutsch. Die Verwendung des Niederdeutschen in den Zwischenspielen wird in der Vorrede des Friedejauchtzenden Teutschland damit begründet, dass es die übliche Sprechweise der Bauern sei, die im Stück auftreten. Mit den im Krieg verrohten Umgangsformen der Bauern wird gleichzeitig die Derbheit der Ausdrücke gerechtfertigt: Es wird aber der auffrichtige Teutsche Leser freundlich gebeten/ daß er sich an der ungewöhnlichen Art zu reden/ welche in unseren Zwischenspielen vielleicht befindlich/ ja nicht ärgeren/ noch ein ungleiches Urtheil von derselben wolle fällen. Es wird in den Schauspielen fürnemlich dieser Weltlauff nebenst ihren Sitten/ Worten und Wercken außgedrucket/ und den Zuseheren/ Anhöreren und Lesern fürgestellet/ dabey nun muß man keine andere Art zu reden führen/ als eben die jenige/ welche bey solchen Personen/ die auf dem Spielplatz erscheinen/ üblich. Zum Exempel: Wenn ein Niedersächsischer Baur mit der Hoch teutschen Sprache bey uns kähme aufgezogen/ würd es fürwar leiden seltzam klingen/ noch viel närrischer aber würde ein solches Zwischenspiel den Zuschaueren fürkommen/ darin man einen tollen/ vollen Bauren und fluchenden Dreweß/ als einen Andächtigen betenden und recht Gottseligen Christen aufführete. […] Ja sprichstu: Deine Bauren gebrauchen sich gleichwol gar unhöflicher Reden/ für welchen ehrbare Leute etwas Scham und Abscheu haben/ könte man die nicht hinweg lassen/ oder ein wenig subtiler beschneiden? Nein/ vielgeliebter Leser: Was hat man doch von einem übelerzogenem/ groben Tölpel und Baurflegel/ von einer unflätigen und versoffenen Sau für Höflichkeit zuerwarten? Kan man auch Trauben lesen von den Dörnern/ oder Feigen von den Disteln? der Vogel singet nicht anders/ als wie ihm der Schnabel gewachsen (FjT, Vorbericht, S. 228 f.).
Auf diese Weise erfolgt nicht nur eine soziale Verortung des Niederdeutschen in der Gruppe der Bauern, sondern zugleich eine Einordnung der Redeweise als unhöflich mit einer deutlichen Charakterisierung der Sprecher als „grobe Tölpel“ und „Bauernflegel“, als „unflätig“ und „versoffen“. Regionale Merkmale werden eingesetzt, um das Publikum auf eine bestimmte Form der Komik einzustimmen. Wie Rist in der Vorrede zum Perseus erläutert, wollte er mit den Zwischenspielen „dem gemeinem Manne (als der mit solchen vnd dergleichen possirlichen Auffzügen am allermeisten sich belustiget) vornemlich […] gratificiren vnd dienen“
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(Pers., Vorrede, S. 125 f.), wodurch neben den ‚Alamodisten‘ auch die Bauern zum Gegenstand des Spottes werden.52 Bei den niederdeutschen Figurenreden handelt es sich demnach auch kaum um ein realistisches Abbild der Bauernsprache. Dies geht nicht zuletzt daraus hervor, dass es sich nicht um ein regionalspezifisches Niederdeutsch handelt, sondern um eine Mischung aus der mittelniederdeutschen Schriftsprache, dem zeitgenössischen nordniederdeutschen Dialekt und ostfälischen dialektalen Elementen, wie es Lasch herausgearbeitet hat.53 Die folgenden Erscheinungen fallen ins Auge: (1) schriftsprachliche Elemente, z. B. ge-Präfix beim Partizip Präteritum (Iren. „wechgeföret“; Pers. „weggelopen“; FjT „gemaket“), Dentalsuffix im Präteritum (Iren. „dorffte“, Pers. „jagede“, „spenderden“); Konjunktivformen (Iren. „sy“, „wenn men … vorlöuede / so nehmestu“, „ginge“, „wolle“, Pers. „quehme“, „schlöge“, „wehre“, „wüste“, FjT „behöde“, „skulle“, „were“), Pronominalformen (Iren.: „uns“; FjT „unse“), Verbalplural -en (neben nordniederdeutschem -et); (2) ostfälische Merkmale, insbesondere im Pronominalbereich (Iren. „meck/mick“, „deck/dick“, Pers. „mick“, „dick“; FjT „usk“, „uk“) und bei den Partizipialbildungen (Iren. „innestellet“); (3) regionale Formen, u. a. Diphthongierungen (Iren. „Preister“, „Veih“, „hei“, „poilken“; Pers. „Beirkanne“, „doinde“, „weinig“, „Grouwel“),54 intervokalischer Dentalausfall (Iren. „brühen“ neben „brüde“, „mee“, „vorraen“; Pers. „Gae“, „hae“, „lien“, „nöig“, „ree“, aber auch „gude“, „brüden“; FjT „Stadtlüe“, „Vaer“, „brüen“), teilweise mit Hiattilgung oder Palatalisierung (Iren. „goien“; Pers. „beduien“, „goien“, „düier“, „wunierlik“, „betien“; FjT „goier“).55 Daneben tritt eine Vielzahl sprechsprachlicher Elemente hervor, vor allem Enklisen (Iren. „ickr“ ‚dor‘, „datk“ ‚ik‘, „watm“ ‚me‘; Pers. „inner“ ‚der‘, „wilt“ ‚du‘, „datter“ ‚dor‘; FjT „skulwe“ ‚wi‘, „vanner“ ‚der‘, „wehter“ ‚dor‘ u. a. m.), Proklisen (Pers. „kwill“ ‚ik‘, „tiß“ ‚it‘; FjT „kwul“ ‚ik‘, „twul“ ‚it‘), Kontraktionen von drei aufeinander folgenden Wortformen (Iren. „lasken“ ‚lasst uns ihn‘, „wilwen“
52 Vgl. Schröder (Anm. 34). 53 Vgl. Lasch: Mundart (Anm. 16). Vgl. auch Dieter Lohmeier, Klaus Reichelt: Johann Rist. In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Hg. von Harald Steinhagen, Benno von Wiese. Berlin 1984, S. 347–364, hier S. 357: „In der Haupthandlung treten hochdeutsch sprechende mythologisch-allegorische Figuren auf, in den Zwischenspielen Bauern, die ein stilisiertes Plattdeutsch sprechen. Zusammen mit ihren Gegenstücken im Friedejauchtzenden Teutschland haben sich diese Zwischenspiele seit ihrer Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert besonderer Aufmerksamkeit erfreut, weil man sie fälschlich als realistische Abbildungen niederdeutschen Volkslebens sah.“ 54 Vgl. Lasch: Neuniederdeutsch (Anm. 19), S. 15. 55 Vgl. dazu auch Lasch: Neuniederdeutsch (Anm. 19), S. 33.
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‚wollen wir ihn‘, „bindt“ ‚bin ich es‘; Pers. „sehket“ ‚sehe ich es‘, „wolenser“ ‚wollten sie da‘, „kmuttse“ ‚ich muss sie‘),56 ferner Synkopen (Iren. „wesn“), Assimilationen (Iren. „Hunnesvot“, „gellen“; Pers. „Hannel“, „balle“; FjT „Brannewin“), Sprossvokale (Pers. „Dorrepe“ ‚Dorf‘, „Warelt“ ‚Welt‘) und schließlich die Schreibung statt .57 Die Frequenz dieser Erscheinungen schwankt zwischen den Dramen und auch innerhalb der Dramen bei den einzelnen Figurenreden. Anhand der Frequenz lassen sich eine weniger stigmatisierte Bauernsprache und eine stärker stigmatisierte Form im Umgang mit den Soldaten voneinander abheben. Eine Rolle spielen dabei auch Phraseologismen, wobei Flüche und Schimpfwörter insbesondere dem Soldatenjargon zuzuordnen sind. Daneben steht eine niederdeutsch-hochdeutsche Mischsprache, die sich am Soldatenjargon orientiert.
5.1 Zwischen ruraler Sprache und Soldatenjargon: Die Bauern In der Irenaromachia ist eine Differenzierung zwischen Rusticus im Gespräch mit Irene in der Haupthandlung und den Bauern in den Zwischenspielen sprachlich gestaltet. Während die Bauern die Pronominalformen „meck/mick“ und „deck/ dick“ neben „my“ und „dy“ gebrauchen, verwendet Rusticus ausschließlich „my“ und „dy“.58 Auch die Schreibung anstelle von , die in der Irenaromachia verhältnismäßig selten vorkommt, begegnet nur in den Zwischenspielen, nicht in der Sprache von Rusticus. Im Perseus ist ebenfalls ein personenspezifischer Sprachgebrauch konstatierbar. Hier unterscheiden sich Telsche und Laban vor allem im Gebrauch von Enklisen, Proklisen und Kontraktionen, die frequenter von Laban verwendet werden. Während Enklisen in der Rede von Telsche in der Regel keine Aphäresen oder Synkopen aufweisen (z. B. „watten“, „dattick“, „willet“), sind für Laban Vokalausfälle und Kontraktionen bei Enklisen wie auch bei Proklisen signifikant (z. B. „datkse“, „kmuttse“, „heffstmck“). Auch im Verhältnis der Schreibungen und gibt es entsprechende Unterschiede. Während bei Laban 38
56 Zu den klitischen Formen vgl. auch Lasch: Mundart (Anm. 16), S. 326. 57 Vgl. Anm. 18. 58 Die Pronominalform „meck/deck“ als Merkmal der Bauernsprache wird ausschließlich in den Zwischenspielen der Irenaromachia verwendet. Vgl. Lasch: Mundart (Anm. 16), S. 341, die als Kennzeichen des Gesprächs von Irene und Rusticus den Gebrauch von „vnse“, Verbplural -en, „dick“ nur im Akkusativ, „keen“ statt „neen“ nennt, für die Zwischenspiele die ostfälischen Formen „meck“, „dalli“, „von“, „wel“ anstelle den nordniederdeutschen „mi“, „daljen/dalling“, „van“, „will“.
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-Schreibungen 23 -Formen gegenüberstehen, sind es bei Telsche 29 -Formen und 9 -Schreibungen. Der Befund für die Verteilung der Pronomina „my/dy“ – „mick/dick“ weist in dieselbe Richtung. Hier finden wir bei Laban ein Verhältnis „my/dy“ zu „mick/dick“ von 20 zu 12, bei Telsche von 39 zu 6. Im Friedejauchtzenden Teutschland wird die stigmatisierte Variante häufiger verwendet, z. B. und im Verhältnis 34 zu 19. Nur hier begegnet auch die ostfälische Form „usk“ und überwiegt gegenüber „uns“ im Verhältnis 9 zu 3. Ostfälische Varianten der flektierten Pronominalformen, Enklisen und Proklisen und weiter ausgreifende Kontraktionen mit Aphäresen und Synkopen sowie die Realisierung von anstelle des Frikativs deuten also auf eine gröbere, sozial stigmatisierte Variante hin, die von den Bauern in der Irenaromachia sowie von Laban im Perseus und auch von den Bauern im Friedejauchtzenden Teutschland gebraucht wird. Der Verzicht auf Kontraktionen und Proklisen, die Realisierung des Frikativs und die schriftsprachliche Variante der flektierten Personalpronomina sind hingegen Kennzeichen einer weniger stigmatisierten dörflichen Sprache. Als deren Sprecher sind Rusticus (Iren.) und Telsche (Pers.) zu nennen. Da Rusticus mit der Friedensgöttin spricht und Telsche mit ihren Verehrern, die sie um ihr Geld bringen will und sich daher besonders freundlich gegenüber ihnen verhält, könnte bei beiden adressatenspezifisch auch eine etwas höflichere Stilebene intendiert sein als bei den Bauern in Auseinandersetzung mit den Soldaten oder gar beim Bauernknecht Laban, der sich als ungebildet, herzlos und ungehobelt zeigt. Dem mündlichen Sprachgebrauch gehören auch Redensarten, Flüche und Schimpfwörter an. Letztere finden teilweise ihre Entsprechungen in der Soldatensprache. So sagt im Perseus Laban, der von Knapkäse aufgefordert wird, hochdeutsch zu sprechen und die Gepflogenheiten der Soldatensprache zu beachten: dar willick sachte mede tho rechte kamen/ den frömbden Schnack hebbick all lange/ lange van de Rüters lehret/ […]. Vnd wat flöken anbelanget/ deß kan ick Gott loff lo veel/ datker ock mit by blifen kan/ dat hebbick wol all vor 20. Jahren wust/ […]. (Pers., S. 138).
In Flüchen und Verwünschungen wird häufig der Teufel angerufen, z. T. auch mit verhüllenden Ausdrücken. Daneben firmieren Krankheiten und die Wunden Christi als Referenzobjekte, und es wird beim „Element“59 geflucht, z. B. „Vor dusent Düuel!“, „Vor hundert dusent!“; „[to]m Kattenkrancket“ (eigentl.: ‚Katzenkrankheit‘), „thom knüvel“ (‚zum Teufel‘), „thom Henker“, „[to]n Kuck kuck“, „de
59 Vgl. Knapkäses Aufforderung zu fluchen: „wenn man wacker mit Teuffelen vnd Elementen ümb sich wirfft“ (Pers., S. 138; vgl. Kap. 4.3).
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störten süke“ (‚Epilespie‘), „Vieff wunnen!“ (‚fünf Wunden‘), „by den faldtswunnien“ (‚St. Veltins Wunden‘), „Ein Hunnesdreck ist“, „by dem Elemente“. Verwünschungen begegnen auch in Form von Redensarten, z. B. „packe dy nu vor de Düuel“, „Einen Dreck vp dine Näse schostu hebben“, „dy schal de Störten Schiete in dem Halse fahren“, „hebbe den Galgen an den Halß“, „dat dick de qualm schlah“. Hinzu kommen Schimpfwörter, z. B. „Berenheuter“, „Buwrenschinder“, „Deeff“, „graue Esel“, „Galge“, „Hunnesvot“, „Schelms“, „Schrobber“; eine gesonderte Gruppe bilden sprechende Schimpfnamen: „Drewes Drümpel“, „Asmus Jöcksack“, „Lüder vnd syn Mate“, „Hans mit dem Hümmelcken“, „Arent Plattvoht“, „Drewes mit dem legen Lyfe“, „Nesewahter“, „Lüetke Maen mit den Musselen“, „Hänske Möhrachter“, „Magnus Fuelbehn“, „Matz Niesenase“, „Chel Waterbueck“. Die Verteilung der Flüche, Verwünschungen und Schimpfwörter bestätigt im Großen und Ganzen die Analyseergebnisse auf der sprachsystematischen Ebene. Auch hier verwenden gegenüber Rusticus und Telsche (die nur Knapkäse beschimpft) die Bauern und Laban mehr und gröbere Schimpfwörter. Dabei überschneidet sich das niederdeutsche Repertoire in weiten Teilen mit dem hochdeutschen Repertoire Knapkäses, das zum Soldatenjargon gehört. Die Sprache der Bauern wird auf diese Weise mit dem Soldatenjargon überblendet. Diese Mischung charakterisiert Rist als die Sprachform, die von „einem übelerzogenem/ groben Tölpel und Baurflegel/ von einer unflätigen und versoffenen Sau“ (vgl. oben) zu erwarten ist. Als Einfluss der Soldatensprache sind die Anrede „Munsör/Monsör“ gegenüber höhergestellten Miltärrängen60 wie auch die Verballhornungen der Dienstgradbezeichnungen zu werten, die insbesondere von Laban mit Hyperkorrekturen artikuliert werden, z. B. „capperal“, „Carnettert“, „süluern Garfe“, „Hoffman“, „Hoppenföhrer“, „Muscowiters“. Dabei entstehen scherzhafte Verdrehungen wie „Feldttwifeler“ (wörtl. „Feldzweifler“ für ‚Feldwebel‘) oder „Lütlandt“ (wörtlich „Kleinland“ für ‚Leutnant‘).
60 Über den Gebrauch französischer Wörter durch Angehörige der Unterschicht klagt Rist in seinem Lob-, Trauer- und Klaggedicht über das Absterben Martin Opitzen, dass „ja die Bauernjungen hinter dem Pflug von Serviteur und Monsieur wissen.“ Zit. nach Peter von Polenz: Deutsche Sprachgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Bd. II: 17. und 18. Jahrhundert. Berlin, New York 1994, S. 73 f.
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5.2 Niederdeutsch-hochdeutscher Soldatenjargon: Laban Laban, der „Bawren Knecht“, spricht Niederdeutsch, als er die Bühne „Bäuerisch gekleidet/ vnd halb druncken“ (Pers., S. 133) betritt.61 Nachdem Knapkäse ihn als Soldat angeworben hatte, mahnt er Laban, „daß du dich hinfort nicht mehr so grob vnd Bäwrisch haltest/ in Gebehrden/ Kleidung/ Reden/ alse du bißher gethan“ (Pers., S. 137). Hier wird ein Gegensatz zwischen dem Niederdeutschen als Sprache der Bauern und einem hochdeutschen Soldatenjargon explizit formuliert. In der Figurenrede Labans bleiben Syntax, Wortschatz und Idiomatik dennoch niederdeutsch, nur die Lautung passt er dem Hochdeutschen an. Niederdeutsche Syntagmen bleiben bestehen („segt de Wahrheit“, „dahr jy staht“, „kamet man an“, „so maket denn fohrtz“, „Wo nu thon Deubel“), wobei einzelne hochdeutsche Wörter eingefügt sein können („wo staht jhr vnd befet also“), häufig in nicht korrekter Form mit falscher Durchführung der Lautverschiebung („Zeufel“ ‚Teufel‘, „gehetzen“ ‚geheißen‘, „gezahn“ ‚getan‘, „Zegens“ ‚Degen‘) oder falscher Angleichung im Vokalismus („eir“ ‚ihr‘, „Saldatisch“ ‚soldatisch‘). Daneben werden auch einzelne niederdeutsche Idiotismen mit hochdeutscher Lautung ausgestattet („vnüsse aver werden“ ‚unnütte aver werden‘, „leiche veel“ ‚lieke veel‘, „latzet dat blyfen“ ‚latet dat blyven‘, „alteitz“ ‚altiet‘, „Plitzen“ ‚Pliten‘). Die Flüche („daß youw dausent Kneubel intem Leibe fahren“, „datz yw der Zeubel hohl“) und Beschimpfungen („Hueiesfott“) entsprechen dem niederdeutschen Repertoire Labans, ebenso die Verballhornungen des militärischen Fachwortschatzes, die durch Hyperkorrekturen zustande kommen („Capfftein/ Capfftzen/Caffzein“, „Capfrall“, „Gefreitzer“, „Hopffman“). Insgesamt wird der Sprachgebrauch an Knapkäses Jargon angelehnt, wie es Laban selbst formuliert, als er von Knapkäse aufgrund seiner Sprache zurechtgewiesen wird: „Wo nu thom Zeufel/ wilt eir dar vnüsse aver werden/ habt jydt mich doch gehetzen/ do eir mich annehmet/ datz ich braff flochen solte/ eir seden jo noch daß stünde hüpsch Saldatisch“ (Pers., S. 160). Knapkäses soldatischer Jargon wird durch Laban noch einmal vergröbert und dadurch zusätzlich negativ bewertet.
61 Laban, ebenfalls ein sprechender Name, kennzeichnet einen „lange[n] schlaffe[n] Men sch[en]“ (Hamburgisches Wörterbuch [Anm. 48], Bd. 3, Sp. 5).
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6 Funktionen der sprachlichen Vielfalt oder „quod omnis Comoedia debeat esse Satyra“ Durch die Analyse der sprachlichen Heterogenität in den Dramen Rists konnten verschiedene Sprachen und Sprachlagen deutlich voneinander abgehoben werden. Latein wird als Sprache der Gelehrten eingeführt, Französisch als gebildete Umgangssprache. Innerhalb des Deutschen werden sozial wie situativ gebundene Sprachformen abgehoben, die teilweise Mischungen aus verschiedenen Varietäten darstellen. Im hochdeutschen Bereich sind dies ein elaborierter Stil mit positiver Bewertung, die stigmatisierte alamodische Redeweise der „Kavaliere“, der Soldatenjargon sowie hybride Sprachformen der Soldaten mit fremdsprachlichen Kontaktformen. Niederdeutsch ist die Sprache der Bauern und einfachen Soldaten, die im ländlichen Raum rekrutiert worden sind. Sie ist deutlich stigmatisiert. Dies wird vor allem an der Vielzahl von Flüchen und Schimpfwörtern deutlich. Bei den Sprachmischungen zwischen Hochdeutsch und Niederdeutsch lassen sich zwei Ebenen trennen, die unterschiedliche Stufen der versuchten Annäherung an das Hochdeutsche darstellen. Auf der einen Seite steht eine sprachliche Mischform, die als Missingsch62 gelten kann. In ihr fungiert das Hochdeutsche als Matrixsprache, in der niederdeutsche Elemente als Substratformen prägend sind. Dabei spielen sowohl Transferenzen wie auch hyperkorrekte Formen eine Rolle, die auf eine unsichere Kompetenz verweisen. Auf der anderen Seite steht eine Lernervarietät mit Niederdeutsch als Matrixsprache, in der hochdeutsche Elemente von dem Bemühen zeugen, sich in dieser Sprache auszudrücken. Sie signalisiert eine nur geringe hochdeutsche Kompetenz. Gemeinsam ist den Sprechern, dass sie als einfache Soldaten ein geringes Sozialprestige haben. Bei den negativ bewerteten Varietäten handelt es sich immer um Mischformen, sei es bedingt durch den Einfluss des Französischen in der alamodischen Sprache, bei der Überblendung des Soldatenjargons und der niederdeutschen Sprache der Bauern oder bei den hochdeutsch-niederdeutschen Sprachmischungen. Sie werden als Stigmaformen eingesetzt, um die Hohlheit des Verhaltens der aufschneiderischen Alamode-Kavaliere und bramarbasierenden Soldaten zu entlarven. Die Bedeutung der Persiflage als gestaltendes Prinzip hat Rist selbst in der Vorrede zum Perseus hervorgehoben. Er begründet und rechtfertigt die Auf-
62 Vgl. dazu Dieter Möhn: Missingsch. In: Deutsch im Kontakt mit germanischen Sprachen. Hg. von Horst Haider Munske. Tübingen 2004 (Reihe Germanistische Linguistik 248), S. 119–140.
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nahme von Zwischenspielen nicht nur damit, dass er damit Komik erzeugen will, sondern zugleich „quod omnis Comoedia debeat esse Satyra, vnd dannenhero einem Comico nicht so sonderlich zu verdencken sey/ wann er gleich lachent zu zeiten die warheit saget“ (Pers., Vorrede, S. 125 f.). Damit kommt dem Sprachgebrauch anstelle einer abbildenden eine symbolische Funktion zu. Die negativ markierten Sprachformen dienen der sozialen Verortung der Sprecher und zugleich der ironischen Brechung. Diesen „Zwischenspielstil“,63 der dem Leser auch in anderen literarischen Texten zu Beginn des 17. Jahrhunderts begegnet, hat Rist mit Sicherheit popularisiert. Die Bauernkomödien des 17. Jahrhunderts nutzen ähnliche sprachliche Merkmale, um ein sozial differenziertes Personal mit komischen Effekten stilisiert auf die Bühne zu bringen.64 Die sprachliche Wirklichkeit im 17. Jahrhundert dürfte jedoch anders ausgesehen haben. Denn noch 1668 stellte Konrad von Hövelen, Mitglied der Teutsch-gesinnten Genossenschaft, fest, dass in Hamburg bei der „Fürnämen Jungen Manschaft […] die ädele Hochdeutsche Heldensprache [wenig] geübet wird“.65 Rist steht mit seiner Zuschreibungspraxis am Beginn einer Bewertungsgeschichte regionaler Sprachformen,66 in welcher die Gegenüberstellung sozialer Gruppen und darauf bezogener Bewertungen durch die Opposition Hochdeutsch und Niederdeutsch in den folgenden Jahrhunderten stets aufs Neue gestaltet wird.
63 Lasch: Entwicklung (Anm. 21), S. 432. Vgl. o. Kap. 3. 64 Vgl. Ulrich Weber: Sprachunvermögen oder Sprachspiel? Betrachtungen zu plattdeutschen Komödien aus dem 17. Jahrhundert. In: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 131 (2008), S. 19–49. 65 Zit. nach Annemarie Hübner: Studien zur Sprachgestalt des frühen Hamburger Hochdeutsch. Diss. Hamburg 1938 (unveröffentlichte Druckfahnen, Universität Hamburg, Bibliothek des Fachbereichs Sprache, Literatur, Medien. Deutsche Sprache, Ältere deutsche Literatur, Niederdeutsch), S. [13]; vgl. Schröder (Anm. 1). 66 Zur weiteren sprachlichen Zuschreibungsgeschichte insbesondere in Hamburg vgl. Ingrid Schröder: Stigmatisierung durch Sprachwahl. Niederdeutsch in den moralischen Wochenschriften des 18. Jahrhunderts. In: Die schönen und die nützlichen Künste. Literatur, Technik und Medien seit der Aufklärung. Festschrift für Harro Segeberg. Hg. von Knut Hickethier, Katja Schumann. München 2007, S. 83–93.
Marie-Thérèse Mourey
Rists Tanz- und Balletinventionen Das Celler Hochzeits-Ballet Die Triumphirende Liebe (1653) Am 12. Oktober 1653 vermählte sich der einunddreißigjährige Herzog Christian Ludwig von Braunschweig-Lüneburg (1622–1665) mit Dorothea Sophie (1636–1689), der Tochter des Herzogs Philipp von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Glücksburg. Zu diesem Anlass wurden wie üblich bei Fürstenhochzeiten prachtvolle Feierlichkeiten am Celler Hof veranstaltet. Den Höhepunkt bildete die Aufführung eines Ballets, Die Triumphirende Liebe/ umgeben mit den Sieghafften Tugenden. Es gehört zu den seltenen Glücksfällen der Literatur- und Kulturgeschichte, dass uns dieses einmalige Ereignis durch einen Druck überliefert wurde, sogar einen kunstvoll gestalteten Druck, der aus Text, einer Kupferstichfolge und sogar Musikmelodien besteht und von dem außerdem zwei verschiedene Auflagen existieren – eine in Hamburg und eine in Lüneburg gedruckte.1 Wie so oft wirft ein solches Gelegenheitswerk zunächst zahlreiche Fragen auf. Zur Rekonstruktion des Entstehungskontextes gehört die Frage nach dem Autor und ‚Inventor‘ des Ballets. Obwohl das Textbuch anonym erschien, gilt die Verfasserschaft von Johann Rist als gesichert, wobei längst nicht alle Aspekte geklärt sind: Hat er für die gesamte Konzeption des Ballets gesorgt und somit mit Tanzmeister und Komponist eng zusammengearbeitet oder verfasste er lediglich den textlichen Teil, wie im späteren Falle von Sigmund von Birkens Ballet der Natur (Bayreuth 1662), das der Dichter eigentlich nur „redend“ machte (nach seinen eigenen Worten), aber nicht selber entwarf?2 Wie ist dieses Werk in Hinsicht auf
1 Die Triumphirende Liebe/ umgeben Mit den Sieghafften Tugenden/ In einem Ballet Auff dem Hochfürstlichem Beylager/ Des Durchläuchtigen/ Hochgebohrnen Fürsten und Herrn/ H. Christian Ludowigs/ Herzogen zu Brunswig und Lüneburg. Gehalten/ Mit Der auch Durchläuchtigen/ Hochgebohrnen Fürstin und Fräulein Dorothea/ Hertzogin zu Schleßwig/ Hollstein/ Stormarn und der Dittmarschen/ Gräfin zu Oldenburg und Delmenhorst. Auff der Fürstlichen Residentz Zelle vorgestellet Am 12. Tage des Weinmonats im 1653. Jahre. Hamburg/ Gedruckt bey Jacob Rebenlein (HAB Wolfenbüttel Textb. 4° 50). Anderes, unvollständiges Exemplar: Lüneburg, Bey Johann und Heinrich/ denen Sternen Gebrüderen (HAB Wolfenbüttel Textb. 4° 49). Die Exemplare sind zwar im textlichen Teil ähnlich, weisen jedoch kleine Abweichungen in der Anzahl und Platzierung der Illustrationen auf. 2 Sigmund von Birken: Teutsche Rede-bind und Dicht-Kunst. Nürnberg 1679, S. 315: „Ein solches [= Ballet] ist auch/ das bei dem HochFürstl. Brandenburg. Beylager zu Baireuth A. 1662 vorgestellte/ und von mir redend gemachte/ Ballet der Natur“. Die inventio des Ballets ist auf den Tanzmeister Georges de la Marche zurückzuführen. Dazu demnächst Marie-Thérèse Mourey: Höfische
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seine Gattungszugehörigkeit einzuschätzen? Es wundert nicht wenig, dass Rists Anteil an diesem musiktheatralischen Ereignis von der Forschung vernachlässigt wurde. Lediglich in älteren Studien wurde ihm ein (meist kleiner) Abschnitt gewidmet.3 Auch in Nachschlagewerken wird das Werk kaum erwähnt.4 In der neuesten Forschung allerdings ist ein anregender Aufsatz von Stephanie Schroe dter zu verzeichnen, der die tanz- und musikwissenschaftlichen Perspektiven einleuchtend miteinander verbindet.5 Rists singulärer Beitrag kann aus verschiedenen Blickwinkeln bewertet werden: innerhalb seines Gesamtwerkes als Dichter, wobei man sich notgedrungen auf den Text konzentriert; im Rahmen einer kulturhistorisch orientierten Lokalgeschichte (hier der norddeutsche Raum); und schließlich als Beitrag zur Geschichte der Schauspiele und Ballets in der Frühen Neuzeit. Hier soll vor allem den letzten zwei genannten Perspektiven nachgegangen werden, im Kontext der damaligen interkulturellen und medialen Transfererscheinungen innerhalb Deutschlands und mit dem Ausland. Insbesondere die aristokratische Gattung des „ballet de cour“, die sich in Frankreich am königlichen Hof bereits unter Ludwig XIII. (in den 1620er- und 1630er-Jahren vor allem) großer Beliebtheit erfreute, konnte sich durch die Zirkulation der Künstler rasch in Europa bzw. auf deutschem Boden etablieren. Zusammen mit den Ballets von Gottorf (Unbeständigkeit der weltlichen Dinge, 1650) und Darmstadt (Tugendwahl, 1654; Tugendkette, 1658) und ungeachtet der eigenständigen Tradition in Kursachsen stellt
Repräsentation in Bayreuth. Christian Ernst und das ‚Ballet‘. In: Rainald Becker, Iris von Dorn (Hg.): Politik – Repräsentation – Kultur. Markgraf Christian Ernst von Brandenburg-KulmbachBayreuth (1644–1712). Bayreuth 2014, S. 115–133, sowie Marie-Thérèse Mourey: Birken und das ‚Ballet‘: Werke, Kontexte, Theorien. In: Klaus Garber, Hartmut Laufhütte, Johann Anselm Steiger (Hg.): Sigmund von Birken. Tagung Osnabrück, September 2013, erscheint demnächst. 3 Otto Heins: Johann Rist und das niederdeutsche Drama des 17. Jahrhunderts. Marburg an der Lahn 1930 (Beiträge zur deutschen Literaturwissenschaft 38), S. 153–157; Georg Linnemann: Celler Musikgeschichte bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Celle 1935, S. 22–51 (hier wird der ganze Text des Ballets wiedergegeben mit zahlreichen Abbildungen); Peter A. von Magnus: Geschichte des Theaters in Lüneburg. Lüneburg 1961, S. 156–158. 4 So z. B. der Eintrag „Celle“. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Hg. von Friedrich Blume. Sachteil. Bd. 2. Kassel 1995, Sp. 480–485. Siehe auch den Eintrag „Rist“. In: Ebd., Bd. 14, Kassel 2005, Sp. 187–189. Auch bei Dünnhaupt findet man nur spärliche Angaben zum Ballet: Gerhardt Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. Bd. 5. Stuttgart 1991 (Hiersemanns bibliographische Handbücher 9, 5), S. 3374–3482. 5 Stephanie Schroedter: Tanzende Bären im Zeichen der Triumphierenden Liebe – ein „hochfürstlicher“ Hochzeits-Ballet aus dem Jahre 1653. In: Thomas Betzwieser, Daniel Brandenburg, Rainer Franke u. a. (Hg.): Bühnenklänge. Festschrift Sieghart Döhring zum 65. Geburtstag. München 2005, S. 3–24.
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das Celler Ballet von 1653 eines der frühesten Beispiele für die gelungene Rezeption und Adaptation dieser ausländischen Gattung an deutschen Fürstenhöfen dar.6 Aber zugleich darf Rists frühe dramatische bzw. schauspielerische Tätigkeit in Hamburg, in einem städtisch-bürgerlichen Milieu also, nicht unterschätzt werden: Dort hatte er sich eine ganz konkrete Kenntnis von zahlreichen anderen ausländischen Vorbildern, vornehmlich volkstümlicher Art, angeeignet, insbesondere durch die englischen und niederländischen Komödianten und Musiker, die oft in der Hansestadt gastierten.7
1 Das Celler Ballet: Kontexte und Akteure Wie kam Johann Rist dazu, ein Hofballet anzufertigen und welcher Natur waren seine Beziehungen zu dem Adressaten Herzog Christian Ludwig? Die Mitgliedschaft in der Fruchtbringenden Gesellschaft könnte ein gemeinsamer Nenner sein, war doch der Herzog 1642 als „der Reinherzige“ in die erlauchte Sprachgesellschaft aufgenommen worden. Dank Harsdörffers Empfehlung widerfuhr Rist („Der Rüstige“) diese Ehre dann auch im Jahre 1647. Mit der herzoglichen Familie hatte er bereits vorher Kontakte gehabt. 1646 hatte er der Schwester von Christian Ludwig, Sophie Amalie, die 1643 Frederik von Dänemark (den späteren König Frederik III.) geheiratet hatte, seinen Poetischen Schauplatz gewidmet und zu dieser Gelegenheit eine „Hochzeitliche Lob-rede“ verfasst.8 Ein paar Jahre später (1648) widmete Rist der Mutter des Herzogs, der Herzoginwitwe Anna Eleonore, ein anderes, diesmal erbauliches Werk, Christus Jesus. Dass Herzog Christian Ludwig Rist mit der Konzeption und Dichtung des Ballets beauftragte, erklärt sich nicht zuletzt durch das Ansehen des Wedeler Pastors, der damals die führende literarische Persönlichkeit im norddeutschen Raum war und außerdem 1644 von Kaiser Ferdinand III. den poetischen Lorbeer erhalten hatte. 1653, gerade im Aufführungsjahr des Ballets, wurde Rist sogar in den Adelsstand erhoben. Für Rists Autorschaft am Celler Ballet gibt es zwar keine eindeutigen Belege innerhalb des Textbuchs, dafür aber überzeugende Anspielungen in anderen Schriften
6 Sara Smart: Ballet in the Empire. In: Pierre Béhar, Helen Watanabe-O’Kelly (Hg.): Spectaculum Europaeum. Histoire du spectacle en Europe (1580–1750). Wiesbaden 1999 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 31), S. 547–570, insbes. über das Celler Ballet S. 561. 7 Oliver Huck: Schauspielmusik in Hamburg in der Frühen Neuzeit. In: Johann Anselm Steiger, Sandra Richter (Hg.): Hamburg. Eine Metropolregion zwischen Früher Neuzeit und Aufklärung. Berlin 2012 (Metropolis 1), S. 597–610. 8 Heins (Anm. 3), S. 153.
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des Autors, etwa im Schauspiel Das Friedejauchzende Teutschland, das ebenfalls 1653 gedruckt wurde: Am Ende von dessen „Vorbericht an den auffrichtigen Teutschen Leser“ bemerkt Rist, er müsse sich kurz fassen, denn man habe ihn befehligt, „etliche sonderbahre Erfindungen auf eim Hoch Fürstl. Fest unterthänigst aufzusetzen“.9 Der enge Zusammenhang des Ballets mit dem Schauspiel (das allerdings bereits ein Jahr vorher entstanden war) wird auch durch die allgemeine Thematik und einzelne Motive bestätigt: Der „Vorbericht“ zum Friedejauchzenden Teutschland enthält Hinweise auf Figuren, die im Ballet wieder begegnen, darunter heuchlerische Geistliche, ein Staatsmann bzw. eine „Staats-Person“ sowie ein auf einer Wolke über der Bühne sitzender und dabei ein Lied singender Engel; und das vorangestellte Titelkupfer stellt bereits die Allegorie der Fama dar, wie zu Beginn des Ballets, wenn auch dieser Figur eine andere Funktion innerhalb der Werke zugeschrieben wird. Zu Christian Ludwigs Beilager verfasste Rist zudem eine Unterthänigste Lobrede, die separat gedruckt und von demselben Verleger wie das Ballet publiziert wurde; Dort heißt es: „bald folgt ein fröhliches Spiel. Bald tanzet man Ballete.“10 Die Bezeichnung „Gelegenheitsstück“ für das Ballet11 scheint durchaus gerechtfertigt zu sein, und Rist bekam für seine „Mühe und Kosten“ eine Vergütung von zweihundert Reichstalern.12 Die erhaltene Quelle darf man jedoch nur bedingt als ‚Libretto‘ bezeichnen, denn der Sachverhalt ist viel komplizierter als angenommen.13 Das Textbuch, wie es uns heute überliefert ist, ist ein reiches, vielfältiges Dokument. Es enthält sowohl einen Textteil (teilweise in ungebundener, teilweise in gebundener Rede verfasst) als auch Kupferstiche sowie Notenmaterial. Auch enthält es genaugenommen zwei verschiedene „Cartels“, das Cartel zum Hauptballet Die Triumphirende Liebe und das Cartel zum Grand Ballet von den Römischen Helden, die den
9 Johann Rist: Das Friedejauchtzende Teutschland. (Nürnberg 1653). In: Ders.: Sämtliche Werke. Unter Mitwirkung von Helga Mannack und Klaus Reichelt hg. von Eberhard Mannack. Bd. 2: Dramatische Dichtungen (Das friedewünschende Teutschland. Das friedejauchtzende Teutschland). Berlin u. a. 1972 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 35), S. 205–459, Zitat S. 233 f. Da die Widmung des Druckes an den schwedischen Residenten Vincent Möller am 24. August 1653 verfasst wurde, ist der Zusammenhang mit dem zwei Monate später aufgeführten Celler Ballet offensichtlich. 10 Johann Rist: Unterthänigste Lobrede/ an den Durchläuchtigen/ Hochgebohrnen Fürsten und Herrn H. Christian Ludowig/ Hertzogen zu Braunschweig und Lüneburg & amp: […] Als Seine Fürstliche Gnade Ihr HochFürstliches Beylager hielte/ Mit Fräulein Dorotheen/ Hertzogin zu Schleswig/ Holstein/ Storman und Der Dithmarschen […]/ am 9. Tag des Weinmonats/ Im 1653. Jahr. Hamburg/ Gedruckt bei Jakob Rebenlein. 11 Heins (Anm. 3), S. 153. 12 Linnemann (Anm. 3), S. 44. 13 Zu diesem terminologischen Problem siehe Schroedter: Tanzende Bären (Anm. 5), S. 16, Anm. 4.
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Zuschauern getrennt überreicht wurden: das erste von dem Zeremonienmeister zu Beginn der Aufführung und „mit gebührender Reverentz“ (so der ausdrückliche Hinweis am Anfang), das zweite nach dem 18. Aufzug vom Götterboten Mercurius, der somit den abschließenden Teil, das Grand Ballet einführt. Erst nach der Aufführung wurden sie zusammengebunden,14 als Erinnerung für die fürstlichen Gäste, wohl auch um das einmalige, prachtvolle Ereignis für die Nachwelt bzw. für die Zeitgenossen zu dokumentieren. Von dem Textbuch ließ Christian Ludwig hundertzwanzig Exemplare drucken. Die Kupferstiche hatte der Herzog bei dem Braunschweiger Konrad Buno bestellt; da Letzterer jedoch während der Arbeit erkrankte, wurde der Hamburger Kupferstecher August John durch die Vermittlung Rists mit der Fertigstellung der Illustrationen beauftragt.15 Der Textteil des Hauptballets ist auch nicht auf ein reines ‚Argumentum‘ zu reduzieren. Er enthält viele konkrete Bühnenanweisungen; zumal vor dem 15. Aufzug, der eine stumme, pantomimische Handlung darbringt, wird das ganze Bühnendispositiv erklärt. Was die gedichteten Texte angeht, wurden sie nicht auf der Bühne vorgetragen, wie Linnemann annimmt,16 sondern von den Zuschauern vor, während oder nach der tänzerischen Darbietung gelesen insofern, als sie die Bedeutung der allegorischen Figuren entschlüsseln bzw. einen moralischen Kommentar zum Bühnengeschehen bieten (so für das in einer fiktiven Briefform verfasste Cartel […] von den Römischen Helden, das von acht berühmten römischen Helden unterzeichnet ist). Teilweise jedoch handelt es sich um Lieder, die tatsächlich gesungen wurden, so z. B. im 12. Aufzug: Den guten Geist hört man zuerst nur singen, bevor er dann auftritt und zu tanzen anfängt (dabei konnte die Rolle von zwei verschiedenen Personen besetzt werden). Ebenso im 16. Aufzug, in welchem ein vom Himmel herunterfahrender Engel schweben bleibt und ein vierzehnstrophiges Lob- und Freudenlied singt, dessen Worte und Musik im Textbuch wiedergegeben werden. Überhaupt spielt die Musik eine große Rolle, ob Instrumentalmusik oder Gesang, wie bereits in Rists früheren Schauspielen, etwa in der 1630 aufgeführten Irenaromachia oder im Friedewünschenden Teutschland (1647/49) und Friedejauchzenden Teutschland (1653).17
14 So erklärt sich übrigens der Hinweis am Ende des 18. Aufzugs, nach dem Lied des Mercurius: „Alhier folget das Cartel des grossen Ballets/ welches nicht straks durch den CeremonienMeister mit übergeben/ sondern zuletst durch den Mercurium absonderlich ist ingehändiget worden/ welches aber an dem Ohrte kan beigebunden werden.“ Die Triumphirende Liebe […]. Hamburg 1653 (Anm. 1), fol. N 1v. 15 Linnemann (Anm. 3), S. 44. 16 Ebd., S. 46. 17 Johann Rist: Irenaromachia. Das ist Eine Newe Tragico-comoedia Von Krieg und Fried. Hamburg 1630. In: Ders.: Sämtliche Werke (Anm. 9), Bd. 1: Dramatische Dichtungen (Irenaromachia.
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Leider wird der Name des Komponisten im Textbuch nicht erwähnt. Heute wird meist angenommen, dass es sich um Stefan Körner handelte;18 jedoch war letzterer bei der Aufführung des Ballets schon seit anderthalb Jahren tot. Vielmehr kämen Rists alte Freunde in Frage: Entweder sein Hamburger Freund Johann Schop, der viele Gedichttexte Rists vertont hatte, oder wahrscheinlicher der Lüneburger Cantor Michael Jacobi, der Rist seine Stelle verdankte und bereits für die Melodien und Lieder in dessen Schauspiel Das Friedejauchzende Teutschland gesorgt hatte, was auf dem Titelblatt ausdrücklich vermerkt und im „Vorbericht“ betont wird.19 Rists Beziehungen zum nahen Lüneburg waren eng, hatte er doch viele seiner Werke (darunter Sammlungen geistlicher Lieder) im Verlag der mit ihm befreundeten Brüder Stern veröffentlicht.20 Und gerade bei diesem Verlag in Lüneburg erschien ja eine Fassung des Textbuchs. Michael Jacobi war ein begabter, vielgereister Musiker, der außerdem eine Begeisterung für das Theater und die Schauspiele hegte. Seinen Freund Rist machte er auf die Möglichkeit aufmerksam, sein Friedejauchzendes Teutschland, dessen längst vorgesehene Aufführung in Hamburg nicht hatte stattfinden können, nun im Lüneburger Schultheater aufführen zu lassen. Dennoch vereitelten moralische Bedenken der Geistlichkeit gegen theatralische Darbietungen dieses Vorhaben.21 Zu diesen Bedenken gesellte sich eine politische Umsicht, denn die Beziehungen zwischen der Stadt Lüneburg und dem seit 1648 im Fürstentum regierenden Herzog Christian Ludwig waren mehr als gespannt, hatte es doch der Rat der Stadt gewagt, bei dem Kaiser Anklage gegen den Fürsten zu erheben. Zum Glück wurde der Streit bald geschlichtet. So unmöglich scheint also Jacobis musikalische Beteiligung an dem Celler Ballet nicht,22 wenn auch sein Name im Textbuch nicht auftaucht und
Perseus). Berlin u. a. 1967 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 3), S. 1–115. Siehe dazu Huck (Anm. 7). 18 Diese Vermutung äußert z. B. Dünnhaupt (Anm. 4), S. 3410. Dagegen jedoch Karl Wilhelm Geck: Sophie Elisabeth Herzogin zu Braunschweig und Lüneburg (1613–1676) als Musikerin. Saarbrücken 1992 (Saarbrücker Studien zur Musikwissenschaft N.F. 6), S. 375, Anm. 529. 19 Rist: Das Friedejauchtzende Teutschland (Anm. 9), Vorbericht, S. 231. Siehe auch Linnemann (Anm. 3), S. 43. 20 Magnus (Anm. 3), S. 59. 21 Huck (Anm. 7) behauptet (S. 601), das Schauspiel sei 1652 in Lüneburg aufgeführt worden, erbringt aber keinen Beweis für diese Behauptung. Rists „Vorbericht“ zum 1653 gedruckten Friedejauchtzenden Teutschland lässt jedoch keinen Zweifel daran, dass das Schauspiel keine öffentliche Aufführung vor der Publikation erfuhr, trotz der Hoffnungen Rists, der gerade deswegen sein Werk über ein Jahr lang zurückgehalten hatte. 22 Magnus (Anm. 3), S. 62 f., hält auf Grund von Jacobis exponierter Stellung in Lüneburg diese Vermutung für ausgeschlossen. Sie würde jedoch erklären, warum der Name des Komponisten im Textbuch fehlt.
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die erhaltenen Unterlagen in Lüneburg diese Vermutung nicht bestätigen. Linnemann behauptet jedoch auf Grund von Archivquellen, der Kantor hätte neben einem Diskantisten aus Lüneburg bei der Hochzeitsfeier mitgewirkt und dafür eine Vergütung erhalten.23 Die an der Aufführung des Ballets Beteiligten werden ganz zum Schluss in einem (unvollständigen) Verzeichnis aufgezählt und meist mit Namen genannt (was sonst in Ballet-Drucken leider nicht immer der Fall ist). Zwei Hoftanzmeister werden namentlich erwähnt („Dantzmeister“: M. Du Haj, M. Van den Hoecke), ein Fechtmeister (der französische Exercitienmeister M. De Ville-Longue), der die Rolle des Soldaten im 7. Aufzug übernahm, vier anonyme „Springer“, denen die Rollen der tanzenden Bären zu Beginn zugewiesen wurden, sonst vor allem adelige Hofmitglieder (der Hofmeister, der Oberschenk usw.), auch ein nicht weiter identifizierter „Charles du Plessis“, im Grand Ballet ein ebenfalls nicht identifizierter „Comte de Montelbano“. Unter den Ausführenden begegnet der Name von „Johann Otto von Mandelschloh“[!], möglicherweise ein entfernter Verwandter des Holsteiners Johann Albrecht von Mandelsloh, der Adam Olearius auf dessen Orientreise begleitet hatte. Johann Otto von Mandelsloh (1624–1687) verwaltete damals die Stelle eines Hof-Richters in Celle.24 Somit lässt sich feststellen, dass es sich um ein reines Männerballet handelte, ganz im Sinne der französischen Praxis (und auch wie in Birkens späterem Ballet der Natur von 1662), mit relativ kleiner Besetzung, in welchem die Männer in verkleideten Rollen aufzutreten hatten. In diesem Schauspiel konnte sich die höfische Gesellschaft einem fürstlichen und aristokratischen Publikum präsentieren und vor diesem zugleich repräsentieren: Im Grand Ballet (aber eben nur dort) trat der regierende Herzog und Bräutigam Christian Ludwig als römischer Held auf, zusammen mit seinen drei jüngeren Brüdern aus der Lüneburger Linie, Georg Wilhelm, Johann Friedrich sowie dem vierundzwanzigjährigen Ernst August. Auffallend am anonymen Textbuch ist das wohl unübliche Fehlen einer expliziten Widmung an das Brautpaar bzw. an Herzog Christian Ludwig, welche die Identität des Autors preisgegeben hätte. Dafür ist auf der ersten Seite nach dem Titelblatt (allerdings nur in dem Hamburger Exemplar; in dem Lüneburger Druck fehlt er) ein kurioser Kupferstich zu sehen: Abgebildet wird im Profil eine kleine männliche Figur, die in der einen Hand eine Kopfbedeckung und in der anderen ein Manuskript hält, das dem Leser – oder dem Adressaten? – gleichsam
23 Linnemann (Anm. 3), S. 45. 24 [Johann Heinrich Zedler]: Grosses vollständiges Universal Lexicon Aller Wissenschafften und Künste […]. 64 Bde. Halle, Leipzig 1731–1750, Bd. 19 (1739), Sp. 489.
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überreicht wird (Abb. 1). Hinter dieser ungewöhnlichen, witzigen Figur darf man den Dichter Rist selber vermuten! Das Bild überrascht, denn eigentlich weist es auf eine im 17. Jahrhundert bereits überholte Form der fürstlichen Huldigung hin. Auf prachtvollen mittelalterlichen Konvoluten ließ sich der Hofdichter oft in einer Miniatur abbilden, und zwar in einer Haltung der Demut, vor dem König etwa hinkniend und ihm dabei sein Werk als Geschenk ehrfurchtsvoll anbietend.25 Aus dieser seltsamen Abbildung darf man nicht etwa auf eine Sehnsucht Rists nach altmodischen Gepflogenheiten schließen – dieser Hypothese widerspricht allein die stolze Pose. Vielmehr darf man in dieser selbstbewussten Selbstinszenierung eine ganz aparte Widmungsform sehen. Denn für eine größtenteils stumme Darbietung wie das Ballet hat sich der Dichter ganz konsequent eine stumme Widmung erdacht: Und zwar ein Selbstbildnis, ganz ohne Schrift (weder Verse noch Initialen oder subscriptio) und auch ohne Bildnis des Adressaten, wie es manchmal üblich war. Ebenso verhält es sich mit der zweiten Abbildung, welche Fama, die Allegorie des Ruhmes (das „Gerüchte“) darstellt26 und somit das erste Bild ganz natürlich ergänzt, stellt sich doch der Autor in den Dienst der Fama, um das Lob des Fürstenpaars zu verkünden. Das Fehlen einer schriftlichen Widmung erklärt sich übrigens aus einem konkreten Grund, da Rist ja der Aufführung des Ballets beiwohnte27 und außerdem eine separate Lobrede auf Christian Ludwig verfasst hatte. Eine solche Selbstinszenierung des Dichters war im 17. Jahrhundert im Kreis der Gelehrten beliebt – davon zeugen nicht zuletzt die Beinamen in den Sprachakademien – und Rist machte ausgiebig von der poetischen Fiktion Gebrauch; z. B. benutzte er in seinen ersten Liederbüchern Galathee (1642) und Florabella (1651) den Schäfernamen „Dafnis aus Cimbrien“ sowohl für seine Autorenidentität als auch als poetische Ich-Instanz. In seinen fiktiven Unterredungen, den Monatsgesprächen, inszenierte er sich als der „Rüstige“, wobei er auf seinen Gesellschaftsnamen in der Fruchtbringenden Gesellschaft zurückgriff. Für das Celler Ballet entschied er
25 So z. B. in Frankreich für Joinville oder Fourquet. Für diesen wertvollen Hinweis auf eine im 17. Jahrhundert längst überholte literarische Praxis gilt Roland Béhar mein aufrichtiger Dank. 26 Zur Verwendung der Allegorie der Fama in den Schauspielen der Frühen Neuzeit siehe Françoise Siguret: Les Fastes de la Renommée. XVIe et XVIIe siècles. Paris 2004. 27 Vgl. eine Aussage Rists („der Rüstige“) über Musiker: „Ich habe gehöhret auff dem gleichfals Ansehnlichen HochFürstlichem Beilager/ Herren Christian Ludowigs/ Hertzogen zu Braun schweig und Lüneburg/ viele herrliche Männer/ ja wol über zwantzig/ welche alle dazumahl über die Mahsse kunstreich auff der Viole spileten […].“ In: Johann Rist: Die Alleredelste Belustigung. In: Ders.: Sämtliche Werke (Anm. 9), Bd. 5: Epische Dichtungen (Die alleredelste Torheit. Die alleredelste Belustigung). Berlin u. a. 1974 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 51), S. 329.
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Abb. 1: Die Triumphirende Liebe […]. Hamburg 1653 (HAB Wolfenbüttel Textb. 4° 49), Vorblatt, unpag.
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sich den Gattungsmerkmalen entsprechend für eine stumme, bildliche Selbststilisierung, wie übrigens bereits auf dem Titelkupfer des Gedichtbandes Florabella, der ihn auf dem Berg Parnass zeigt, umgeben von den größten Dichtern der Zeit.28 Mit dieser zweiteiligen Dedikation im Bild,29 welche die traditionelle rhetorische captatio benevolentiae durch ein witziges Bilderrätsel ersetzt, fängt schon die von Rist angestrebte Kunst der ‚sonderbaren‘ Erfindungen an, die im Laufe des Ballets durch andere, bühnenwirksame Erfindungen wie etwa die pantomimische Vereinigung der zwei Herzen im 15. Aufzug fortgesetzt werden.
2 Form und Struktur, Stil und Ästhetik Dieses Werk weist die damals gängige, lose Form des ‚Ballet à entrées‘ auf, ohne einheitlich durchgeführte dramatische Handlung – ein regelrechtes ‚Handlungsballett‘ wird sich erst im 18. Jahrhundert durchsetzen und dabei das Hofballet verdrängen.30 Nach einem episch-erzählenden Moment zu Beginn des Schauspiels, das eine Art Prolog bildet (die auf dem Schauplatz erscheinende Allegorie der Fama verliest den Inhalt, d. h. das ‚Argument‘ des Ballets, nachdem der Zeremonienmeister den anwesenden hohen Personen das Cartell überreicht hat), sowie einem „Loblied der Tugenden“, das das topische Motiv des Hercules bivium explizit thematisiert, folgt der getanzte Teil nach dem Prinzip der kontrastvollen Aufreihung von Figuren und Situationen, welche die Grundgedanken von der Lasterhaftigkeit und Eitelkeit der Welt sowie von dem Sieg der fürstlichen Tugenden veranschaulichen. Diese Aufreihung bedeutet jedoch nicht, dass der pantomimische Anteil fehlte,31 im Gegenteil: Einige Aufzüge komisch-grotesker Natur setzen das Mimische geradezu voraus. Das Werk besteht aus insgesamt achtzehn Auftritten (was der Definition eines stattlichen Ballets entspricht)32, die jeweils als „Aufzug“ bezeichnet werden, sowie einem abschließenden „Grand Ballet“,
28 Zu den Selbstinszenierungsstrategien der Autoren vgl. Katharina Hottmann: ‚Die alte und die neue Liebe‘. Das schäferliche Lied in der Hamburger Liedkultur von 1640 bis 1760. In: Steiger, Richter (Anm. 7), S. 579–595. 29 Jutta Breyl: Dedikation in Wort und Bild. In: Albert Meier (Hg.): Die Literatur des 17. Jahrhunderts. München u. a. 1999 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2), S. 255–265. 30 Stephanie Schroedter: Vom „Affect“ zur „Action“. Quellenstudien zur Poetik der Tanzkunst vom späten Ballet de Cour bis zum frühen Ballet en Action. Würzburg 2004 (Tanzforschungen 5). 31 So Heins (Anm. 3), S. 154. 32 Im Schlussverzeichnis werden allerdings nur sechzehn Aufzüge erwähnt. Dies könnte sich daraus erklären, dass einige Aufzüge nicht getanzt wurden, sondern lediglich aus einer stum-
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das allerdings nicht wie sonst üblich alle Tänzer auf der Tanzfläche versammelt, sondern zwölf andere Personen, die zum ersten Hauptballet nicht gehören. Es fehlt auch eine explizite, strenge Gliederung in Akten33 wie etwa beim Drama oder sonstigen Schauspielen; vielmehr betont die fortlaufende Nummerierung der Aufzüge die innere Geschlossenheit des Ganzen. Dennoch wird eine implizite Strukturierung in drei Hauptteile durch die Bühnenbilder sichtbar: Der dunkle Wald auf dem ersten Bühnenprospekt illustriert zunächst eine finstere, weil ‚wilde‘ Natur (dies trotz der wohlgeordneten, symmetrischen Reihe der Bäume, welche die Perspektivbühne impliziert), in welcher die grimmigen Tiere und die Laster herrschen, während die Gartenanlage vor dem Auftritt des guten Geistes bzw. des Engels im 12. Aufzug eine durch Menschenkunst gezähmte und ‚zivilisierte‘ Natur veranschaulicht und somit den Sieg der Tugenden und der fürstlichen Liebe über die Eitelkeit der Welt. Nach dem Auftreten des Hirtengottes Pan im 17. Aufzug (zusammen mit Waldgöttern, Schäfern und Schäferinnen) bildet die Säulenarchitektur bzw. Kolonnade nach antikem Muster den passenden Rahmen für das Auftreten des Götterboten Mercurius, der in seinem Lied die baldige Ankunft ruhmreicher Helden ankündigt, was sowohl (sensus litteralis) auf den folgenden Tanzauftritt verweisen kann als auch (sensus allegoricus) auf die erwünschte Nachkommenschaft (die Ehe sollte jedoch kinderlos bleiben). In diesem grandiosen Rahmen vollzieht sich dann das abschließende „große Ballet“ von den Römischen Helden, in dem – wie es sich gehörte – der Bräutigam auftrat. Dieses Grand Ballet wird von einem Kupferstich in doppelter Größe illustriert. Zur inneren Strukturierung trägt ferner die Musik bei: Vor jedem großen Teil erklingt ein Instrumentalstück, eine Art Ouvertüre, dem ein von der jeweiligen Hauptfigur – von Fama, dem Engel oder dem guten Geist, Mercurius – gesungenes Lied folgt. Von diesen Liedern wird am Ende des Textbuchs das Notenmaterial (für eine Singstimme und Generalbass) wiedergegeben, so dass der Besitzer des Textbuchs auch lange Zeit nach der Aufführung in der Lage war, die gesungenen Partien zu rekonstruieren. Das allgemeine Thema, der Sieg der Tugenden über die in aller Welt und bei allen Ständen herrschenden Laster, wurde damals sowohl literarisch als auch in Schauspielen häufig behandelt; ein paar Jahre später (1663) sollte am Dresdner Hof ein Ballett[!] der Tugenden und Laster gegeben werden. Im Celler Ballet wird
men Pantomime bestanden. Dadurch verschiebt sich jedoch die Nummerierung der Aufzüge ab der Nummer 13. 33 Diese an sich falsche Bezeichnung wird von Linnemann (Anm. 3) eingeführt, S. 26. Etwas weiter (S. 46) verwendet er außerdem den Terminus „Aufzug“, was eine irritierende Verwechslung mit der Bezeichnung der Tanzauftritte im Textbuch zur Folge hat.
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das Thema jedoch in expliziter Anlehnung an die exemplarische Parabel des Hercules bivium ausgeführt, was eine Zentrierung auf die Hauptfigur des fürstlichen Helden erlaubt. In der Ökonomie des Werkes fällt das Missverhältnis zwischen beiden Polen auf, denn es werden vielmehr Laster vorgeführt als Tugenden; letztere allerdings beherrschen den zweiten Teil des Ballets, das somit in einer Art Apotheose endet, dem Titel entsprechend, der den Triumph der Liebe mit dem Sieg der Tugenden verbindet. So erklärt sich auch die am Ende des Textbuchs beigebundene große Abbildung, die Herkules’ siegreichen Kampf gegen die vielköpfige Hydra darstellt, wobei oben in der Mitte ein Salamander im Feuer thront. Der emblematische Sinn wird in der subscriptio entschlüsselt: Der Salamander verweist auf die Tugend der Beständigkeit – der Spruch „Sincère et constant“ steht übrigens ausdrücklich in der Mitte des Bildes. Neben der primär panegyrischen Funktion des Werkes ist dessen erbaulich-belehrende Ausrichtung unüberhörbar. Der Ton des Grundgedankens, wie er in der von Fama verlesenen einleitenden Erklärung erklingt, hört sich sehr pessimistisch an: Die wilden und unbändigen Thiere kan man endlich zähmen/ etliche mit Liebkosen und freundlichen Worten/ etliche mit harter Straffe/ Peitschen und Schlägen: Die verwildete Menschen aber lassen sich weder durch freundliches bitten/ noch hartes schelten oder zorniges Zusprächen aus der verfluchten Lasterbahn leiten/ und befinden sich die Untugenden nicht nur in einem/ sondern in allen Ständen/ bey Geistlichen und Weltlichen/ bey Stat- und Hofeleuten/ bey Gelehrten und Ungelehrten/ bey Soldaten und Advokaten/ bey Bürgern und Bauren/ bey Kauf- und Handwerkersleuten […].34
Zu bemerken ist ferner die Brisanz der kaum verdeckten Kritik in den Texten, die die jeweiligen Figuren aufschlüsseln und deuten, insbesondere die bissige Satire gegen die Geistlichen. Seit 1635 war Rist Pastor im kleinen Dorf Wedel, einem Ort, an dem er wegen seiner Neigungen zum Synkretismus weniger als im streng orthodoxen Hamburg angefeindet war.35 Dennoch klagt er im Vorbericht zum Friedejauchzenden Teutschland, er hätte „die grösseste und hefftigste Verfolgung […] gantz unverschuldeter Weise von den Geistlichen müssen erleiden.“36 Inwieweit man da auch an die unangenehme Erfahrung mit der Geistlichkeit in Lüneburg denken darf, muss dahingestellt bleiben. Im 3. Aufzug des Ballets tritt ein Geistlicher in Begleitung seiner drei personifizierten Laster auf, die als „Heuchelei“, „Ketzerei“ und „Eigensinnigkeit“ im Text eindeutig decodiert werden – zwei davon werden außerdem bildlich durch einen Eselskopf und einen Löwenkopf
34 Die Triumphirende Liebe […]. Hamburg 1653 (Anm. 1), fol. B 2r. 35 Dieter Lohmeier, Klaus Reichelt: Johann Rist. In: Harald Steinhagen, Benno von Wiese (Hg.): Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Berlin 1984, S. 347–364, hier S. 349. 36 Rist: Das Friedejauchtzende Teutschland (Anm. 9), S. 223.
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charakterisiert! Von den vier im 11. Aufzug auftretenden Narren (bzw. zwei Narren und zwei Närrinnen) greift der erste die „Pfaffen“ an und lässt „Pfaffe“ auf „Heuchelaffe“ zusammenreimen. Dann werden die verschiedenen Standesangehörigen, so wie sie zuvor präsentiert wurden und „in geziemender Ordnung“ (so hatte es Fama zu Beginn vermeldet) für ihre jeweiligen Laster gegeißelt: der Soldat im 7. Aufzug zusammen mit seinen drei Lastern „Unbarmherzigkeit“, „Ungerechtigkeit“ und „Aufschneiderei“ im 8. Aufzug, der Advokat, der Medikus, der Kaufmann, der Handwerksmann, der Bürger und ein Bauer im 9. Aufzug. Der 11. Aufzug rekapituliert gleichsam die Narrheiten der Welt, indem er all ihre Vertreter Revue passieren lässt, bevor die Wende eingeleitet wird; denn danach kommt mit dem neuen Bühnenprospekt, welcher eine schöne, streng symmetrische Gartenanlage darstellt, und nach einer „gahr lieblichen Instrumental-Music“ der gute Geist oder Engel, der seinen Sieg erklärt („Endlich hab’ Ich obgesieget/ Und den Preiß davon getragen“) und den zweiten, positiven Teil ankündigt, in welchem die Tugenden, insbesondere die des fürstlichen Paars, vorgeführt werden sollen. Trotz der relativen Starrheit dieses strukturellen Musters, das auf einer linearen Progression von den Lastern zu den sieghaften Tugenden beruht, trägt die angenehme Abwechslung von Solo-Auftritten und bunten Aufzügen mit mehreren Figuren zur Ausgewogenheit der Komposition bei, ebenso wie sie auch Langeweile vorbeugt und für Unterhaltung sorgt. Auch weisen Stil und Ästhetik eine ganz aparte Verbindung von ‚Scherz‘ und ‚Ernst‘, von Erhabenem und Groteskem auf. Diese Stilmischung war in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts nichts Ungewöhnliches, denn die Tanzkunst war weder technisch streng kodifiziert noch poetisch-ästhetisch reglementiert; erst später bemühten sich der Jesuit ClaudeFrançois Ménestrier und nach ihm in Deutschland der gebürtige Franzose Louis Bonin vor allem um eine Klärung der Tanzarten und Abgrenzung der jeweiligen Stilebenen und -merkmale („komisch/grotesk“, „satyrisch“, „die Crotesque“) in ihren Poetiken.37 In der Bühnenpraxis herrschten die überaus beliebten, sehr freien komisch-burlesken Ballets in Frankreich vor, auch am königlichen Hof: 1627 war im Pariser Hôtel de Ville ein Ballet du Sérieux et du Grotesque zur Aufführung gekommen, an dem der König mitwirkte. Von besonderem Interesse sind in dieser Hinsicht die vier Narrenfiguren des Celler Ballets, wobei die männlichen Narren deren traditionelle Attribute (Narrenkappe und Schellen) tragen (Abb. 2).
37 Stephanie Schroedter: Ballet comique et crotesque – ballet comique ou crotesque? ‚Barocker‘ Bühnentanz zwischen bewegter Plastik und choreographiertem Schauspiel. In: Hilde HaiderPregler (Hg.): Komik. Ästhetik, Theorien, Strategien. Wien 2006 (Maske und Kothurn 51, 4), S. 377–391.
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Abb. 2: Die Triumphirende Liebe […]. Hamburg 1653 (HAB Wolfenbüttel Textb. 4° 49), fol. H 2r (11. Aufzug).
Stephanie Schroedter zufolge erinnern sie an Jacques Callots groteske Figuren, insbesondere an die Balli di Sfessania (1620–1622). Wenn dieser Einfluss nicht auszuschließen ist, darf man jedoch eher auf Grund der Kostüme sowohl der weiblichen Figuren als auch der Narren an den französischen Bühnenbildner und Kostümzeichner Daniel Rabel denken,38 der für die Hofballets unter Ludwig XIII. verantwortlich war und dem man die schönsten grotesk-burlesken Balletkostüme verdankt wie etwa für das Ballet des Fées de la Forêt de Saint Germain (1625), das Ballet de la Douairière de Billebahaut (1626) oder noch das Ballet du Château de Bicêtre (1632).39
38 John Astington: Daniel Rabel and the Grotesque. In: Early Theatre 4 (2001), Heft 1, S. 101–109. 39 Zu dieser Frühphase des französischen Hofballets siehe die Arbeiten von Henry Prunières: Le ballet de cour en France avant Benserade et Lully. Paris 1914, sowie Margaret M. McGowan: L’art du ballet de cour en France (1581–1643). Paris 1963 (Le Choeur des muses), bes. Kap. 8: „Le ballet burlesque“, S. 133–153.
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Abb. 3: Die Triumphirende Liebe (HAB Wolfenbüttel Textb. 4° 49), fol. K 1r (14. Aufzug).
Abb. 4: Der Androgyne, aus: Ballet de la Douairière de Billebahaut. [Paris] 1626.
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Ein anderes Beispiel ist noch überzeugender: Die Ähnlichkeit zwischen der Allegorie der Unbeständigkeit in Rists Ballet (im 10. Aufzug) und einer androgynen Figur im Pariser Ballet de la Douairière de Billebahaut ist frappierend (Abb. 3 und 4). Beide Figuren, halb weiblich, halb männlich, tragen ein zweiteiliges Kostüm, das auf ihre vermeintlichen Eigenschaften verweist (cross dressing), wobei die Figur im Pariser Ballet außerdem mit den jeweiligen emblematischen Requisiten eines Mannes und eines Weibes (einem Schwert bzw. einem Spinnrocken) versehen ist. Möglich wären auch andere Inspirationsquellen, so z. B. Henry de Gissey, der kaum zwei Jahre vor dem Celler Ballet die Kostüme für das königliche Ballet Royal des fêtes de Bacchus (1651) gezeichnet hatte. Auf jeden Fall war Rist, der 1640 Francesco Andreinis Capitan Spavento übersetzt hatte, mit einer breiten Groteske-Tradition recht gut vertraut. Zu den „sinnreichen“, „sonderbaren Erfindungen“, die Rist hier ins Werk setzte, gehört ferner ein einfallsreicher Kunstgriff im 14. Aufzug, der wahrscheinlich nicht getanzt war, sondern nur aus einer stummen Handlung bei Instrumentalmusik bestand: Zwei menschengroße, brennende Herzen werden von den Kulissenseiten aus bis in die Mitte der Bühne geschoben, wobei die sechs Tugenden, mit ihren emblematischen Requisiten versehen, sich in einem Chor um diese wundersame Erscheinung versammeln (Abb. 5). Anschließend werden die beiden Herzen von dem tanzenden Liebesgott Cupido vereinigt („also/ daß das grösseste Hertz Sich öffnet gegen dem Schauplatze oder Theatro/ und das kleinere gahr geschwinde in das ander hinein fähret“), wobei die brennenden Flammen sich in Lorbeeren und Palmzweige verwandeln und die Herzen zu blühen anfangen. Die Kernbotschaft des Ballets, die Liebesvereinigung, kann man kaum subtiler und zugleich witziger visualisieren (Abb. 6). Die Frage der Aufführbarkeit der Schauspiele und der technischen Machbarkeit bestimmter szenischer Einfälle stellt sich immer wieder bei der Rekonstruktion der damaligen Aufführungspraxis, wie hier am Beispiel des 16. Aufzugs zu ersehen ist, in welchem ein Engel aus dem Himmel herunterkommt und in der Schwebe bleibt, bevor er wieder hinauffährt. Bekannt ist nur, dass zur Aufführung ein provisorisches „Ballethaus“ aus Holz in dem großen Burgsaal des Celler Schlosses errichtet worden war, das durch „gläserne Lampen“ beleuchtet wurde.40 Über die Beschaffenheit der Bühne und etwa das Vorhandensein einer Doppelbühne (mit Vorder- bzw. Hinterbühne) ist nichts Näheres bekannt (außer den Seitenkulissen), aber die Anweisungen im Textbuch belegen, dass die Bühne durch einen Vorhang abgeschlossen war. Wahrscheinlich existierten über der
40 Linnemann (Anm. 3), S. 44.
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Abb. 5: Die Triumphirende Liebe (HAB Wolfenbüttel Textb. 4° 49), fol. L 1r (14. Aufzug).
Spielfläche technische Anlagen und Aufhängevorrichtungen, die es erlaubten, versenkbare bzw. drehbare Bühnenmaschinen anzubringen und somit die beliebten Flugbewegungen der Darsteller zu realisieren, denn auch die drei perspektivisch gemalten Bühnenprospekte, die im Ballet vorgeschrieben sind, mussten mit solchen Vorrichtungen in Verbindung stehen.41 Was die Kostüme angeht, ist uns nichts Konkretes über die Künstler, die dafür verantwortlich waren, überliefert. Einige Figuren (vor allem die Allegorien) tragen traditionelle, nach emblematischen Prinzipien gestaltete Kostüme (der Chor der Tugenden, der Ehrgeiz als Frau mit Pfauenfedern und einem Spiegel, der Engel mit dem Lorbeerkranz, Mercurius und sein Stab mit zwei stilisierten Schlangen, usw.), andere hingegen deutlich der neuesten Pariser Mode entsprechende Kleidungsstücke, z. B. der „Demon der Laster“ im zweiten Aufzug, der ein französisches Habit mit Spitzen und breitem Kragen, hohe Stiefel mit breiten Rändern und einen Hut mit Federbüschen trägt (Abb. 7).42
41 Heins (Anm. 3), S. 180 f. 42 Zu den Kostümen in dem späteren Ballet der Riesen (1664) siehe Magnus (Anm. 3), Kap. „Kostüme“, S. 154–161.
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Abb. 6: Die Triumphirende Liebe (HAB Wolfenbüttel Textb. 4° 49), fol. D 1r (16. Aufzug).
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Abb. 7: Die Triumphirende Liebe (HAB Wolfenbüttel Textb. 4° 49), fol. C 2r (2. Aufzug).
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Während die Perücken vor Ort angefertigt wurden, hatte man die bei der Aufführung eines Ballets unerlässlichen Masken eigens in Paris bestellt, wie es sich damals gehörte. Jedoch wurden sie bei der Rückfahrt geraubt.43 Es ist nicht bekannt, wie man einen Ausweg aus dieser misslichen Situation fand. Auf den Kupferstichen erscheinen die Figuren aber ohne Masken. Die Stellungen und Haltungen der Tänzer, so wie sie abgebildet sind, bestätigen, dass sich die neueste französische Tanztechnik allmählich durchsetzte, zumal durch eine leichte Auswärtsdrehung der Beine und Füße, auch eine sehr schöne sog. „vierte Position“ (der Geistliche), aber auch durch Hände- und Fingerstellungen sowie Armhaltungen (sog. „hohes Port de Bras“), die dem Bühnentanz vorbehalten waren. Diese Merkmale entsprechen einem Entwicklungsstadium der Tanzkunst, das auf François de Lauzes Apologie de la danse (1623) folgt. Dagegen weisen einige Figuren eine parallele Fußhaltung auf, die typisch für die frühere Praxis der Renaissancetänze war, etwa bei Thoinot Arbeaus Orchésographie (1588).44 Inwieweit die beiden im Textbuch genannten Tanzmeister, M. Du Haj und Van den Hoecke, die auch für die Choreographie verantwortlich zeichneten, in der neuesten französischen Tanzkunst ausgebildet waren, muss dahingestellt bleiben. Belegt ist jedoch, dass andere Tanzmeister am Ballet beteiligt waren, darunter der Wolfenbütteler Tanzmeister Pascal Bence, der bei der Einstudierung des Ballets mithalf; in den Akten findet sich sein Name, mit Angabe der „für geleistete Dienste und Aufwartung“ erhaltenen Vergütung.45 Die musikalischen Kompositionen, sowohl die Instrumentalsätze als auch die Tanzsätze, die hauptsächlich geradetaktig, aber auch im Dreiermetrum sind (was viele Sprünge voraussetzt), wurden von Schroedter analysiert. Auf Grund der rhythmischen Merkmale hebt sie die Nähe der Tänze zu französischen Branle-Kompositionen und zur alten Gavotte sowie zu Gaillarde-Kombinationen hervor, was den teilweise ‚altmodischen‘ Charakter des ganzen Ballets bestätigt.46
43 Linnemann (Anm. 3), S. 44. 44 Thoinot Arbeau (i. e. Jean Tabourot): Orchesographie et traicte en forme de dialogve, par leqvel tovtes personnes pevvent facilement apprendre & practiquer l’honneste exercice des dances. Lengres 1588. ND Hildesheim 1989. 45 Linnemann (Anm. 3), S. 45. Außer MM. Du Haj und Van den Hoecke wird in den Akten ein Tanzmeister aus Helmstedt erwähnt. 46 Schroedter: Tanzende Bären (Anm. 5), stützt sich auf ein vollständig erhaltenes Exemplar (TU Darmstadt). Anhand der rhythmischen Charakteristika betont sie die auffallenden Ähnlichkeiten der Tänze aus dem Celler Ballet Die Triumphirende Liebe sowohl mit dem Pariser Concert à Louis XIII par les 24 Viollons et les 12 Grands hautbois von 1627 als auch mit dem Ballet du Roy des Festes de Bacchus von 1651 (ebd., S. 10, sowie S. 17, Anm. 36).
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Die Liedtexte weisen einen großen Formenreichtum auf. Rist macht von allen möglichen Versarten und Reimschemata Gebrauch, um den einzelnen Figuren und Charakteren eigentümliche Merkmale zu verleihen. So verwendet er auch den damals noch nicht völlig legitimierten Daktylus, den jedoch in der Nachfolge von August Buchner Poetiker wie Zesen oder Schottelius wegen seiner „hüpfenden Art“ inzwischen aufgewertet hatten. So heißt es im 6. Aufzug des Hofmanns mit seinen vier Lastern in schönem daktylischem Metrum: Hei lustig zu singen. Auf welsche Manier/ und nach dem Klavier Die beste Couranten zu tantzen und springen.47
Auch die Allegorie der Wollust (im 10. Aufzug) wird im Text mit daktylischen Versen veranschaulicht, die allerdings auf die einfachen Freuden des Alltags verweisen: LUstig zu fressen/ zu sauffen/ zu schlingen/ Lustig zu singen/ zu tantzen/ zu springen/ Lustig zu spielen/ […].48
Und im 17. Aufzug singen, tanzen und hüpfen vor Freude die Schäfer und Schäferinnen, zusammen mit den Waldgöttern, nach daktylischen Rhythmen. Solche textuell-metrischen Merkmale könnten auf die konkrete Tanzart verweisen, denn die frühe Form der Courante wurde damals relativ schnell und lebhaft ausgeführt, eben mit kleinem Hüpfen. Dieser enge Zusammenhang zwischen Dichtund Tanzkunst dürfte kein Zufall sein. In seinem Band Himmlische Lieder (1642) hatte Rist festgestellt: Denn als mir ungefehr eine lustige Sarabande (welches eine sonderbahre art ist der Frantzösischen Couranten) […] zu Handen kam/ und ich einen Text auff selbige fröhliche Melodey zu setzen ward gebeten/ befand sichs/ daß nach Verfertigung desselben/ ein recht Dactylisch Lied daraus war geworden/ unangesehen/ ich zu der Zeit noch keinen eintzigen Dactylischen Vers weder gesehen noch etwas davon gehöret hatte.49
47 Die Triumphirende Liebe […]. Hamburg 1653 (Anm. 1), fol. F 1v. 48 Ebd., fol. H 1v. 49 Johann Rist, Johann Schop: Himmlische Lieder (1641/42). Kritisch hg. und kommentiert von Johann Anselm Steiger. Kritische Edition des Notentextes von Konrad Küster. Mit einer Einführung von Inge Mager. Berlin 2012, S. 185. Zu der Stellung zum Tanz der wichtigsten Barockpoetiker, siehe Marie-Thérèse Mourey: Danser dans le Saint Empire (XVIIe–XVIIIe siècles). Habilita-
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Was die panegyrische Dimension des Werkes angeht, lässt sie der Text des Cartels des großen Ballets […] von den Römischen Helden, das ja unter anderem von den vier Welfen-Herzögen getanzt wurde, ganz deutlich zum Ausdruck kommen. Dort behaupten die antiken Heroen in Anlehnung an die „edlen Römer“, die „den schändlichen Lastern jederzeit hertzlich feind gewesen“ seien und hingegen „die hochpreißliche Tugenden vor Ihren höhesten Schatz gehalten und denselben mit allen Vermögens-Kräfften nach getrachtet“ hätten, sie würden sich anheischig machen, […] das verjagte und vertriebene Laster weiters zu verfolgen/ und von diesem Ohrte abhalten/ die schönen liebreichen Tugenden aber kräftiglich schützen/ fohrtpflanzen und erhalten wollen.50
Inhaltlich verweist das Ballet auf dieselbe Ideologie und Kosmologie wie zahlreiche andere Schauspiele der Zeit. Allein der Titel ist ein Topos, der Vorbilder hatte und danach unzählige Male wieder verwendet werden sollte.51 Das Thema von der Zivilisierung der wilden Menschen durch eine gelungene Selbstkontrolle rückt das Werk in unmittelbare Nähe zu dem Gottorfer Ballet von der Unbeständigkeit von 1650,52 dessen Textbuchautor nachweislich Adam Olearius war. Dieses großartige Ballet gipfelte ebenfalls in einer Apotheose der Tugend (verkörpert durch die Herzoginmutter Maria Elisabeth selbst!), während die gefesselten Laster ihr zu Füßen lagen. Weit davon entfernt, bloße Unterhaltung zu sein, ist das Hofballet – zumal im Kontext von Fürstenhochzeiten – ein anspruchsvolles, selbstreferentielles Schauspiel, das die Hofgesellschaft für sich selbst inszeniert, in welchem sie zugleich Akteur, Veranstalter und Zuschauer ist, das von ihr also ein ausgeprägtes Rollenbewusstsein verlangt. Daher geht die moralische Botschaft immer mit einem didaktischen Zug einher.53
tionsschrift Paris-Sorbonne 2003 (wird derzeit für den Druck überarbeitet), Teil II: „Écrire sur et pour la danse“, S. 199–209. 50 Die Triumphirende Liebe […]. Hamburg 1653 (Anm. 1), Cartel Des grossen Ballets/ Welches von den Römischen Helden wird getantzet, [unpag.]. 51 So z. B. für Deutschland: Kleines Ballet/ genant Liebes-Triumph […] In Carolsburg Den Jenner/ Deß 1655sten Jahrs (Straßburg 1655); oder noch: Der Sieghaffte Hymen (Stuttgart 1662). Für Frankreich sei Jean-Baptiste Lullys Le triomphe de l’Amour (Paris 1681, Textbuch Isaac de Benserade/Philippe Quinault) stellvertretend für viele andere Hofballets genannt. 52 Adam Olearius: Von Vnbeständigkeit der Weltlichen Dinge Vnd Von Herrligkeit vnd Lobe der Tugend. In einem Fürstlichen Ballet Auff dem Hoch Fürstlichen Beylager Des […] Herrn Ludowigen/ Landgraffen zu Hessen/ etc. Mit […] Mariae Elisabeth/ geborne Hertzogin zu Schleßwig/ Holstein/ etc. Auff der Fürstl. Residentz Gottorff vorgestellet/ den 27. Novemb. 1650. [s. l. 1650]. 53 Helga Meise: „tanzten den gantzen Tag“. Der höfische Tanz als Didaxe und Botschaft. In: Morgen-Glantz 12 (2002), S. 207–230.
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3 Rists Beitrag zur Gattung des Hofballets Der Grad der künstlerisch-ästhetischen Vollendung des Celler Ballets besticht, ebenso dessen enge Verwandtschaft mit französischen „ballets de cour“ der ersten Jahrhunderthälfte, insbesondere mit denen aus der Zeit Ludwigs XIII., so dass sich die Frage stellt nach der Selbständigkeit der Adaptation. Inwieweit führt die Übernahme des Vorbilds weiter bzw. erneuert sie die Bühnenpraxis? Eigentlich steht Rists Beitrag im Spannungsfeld von Tradition und Innovation. Das Ballet kann man gewissermaßen auf eine ältere Praxis zurückführen, nicht zuletzt wegen der allegorischen Auftritte bzw. „Aufzüge“: Der benutzte Terminus verweist auf die einheimische Tradition der allegorischen Darbietungen mit moralisierender Dimension, wie sie etwa in Kassel 1601, in Dessau 161354 und selbstverständlich am Dresdner Hof stattgefunden hatten. Im Kasseler Schauspiel55 findet man einen „Aufzug oder inventio von den Lastern“. Auch die Musikinstrumente, Pauken und Trompeten, Schalmeien, Leier usw., die den Waldgöttern zugeordnet werden, bestätigen diesen Befund. Das Ballet entsprach daher im europäischen Kontext nicht ganz dem allerneuesten Standard: Im Februar und März desselben Jahres hatte der ganz junge französische König Ludwig XIV. seine erste große Rolle als Sonne bzw. Gott Apoll im viel komplexer angelegten Ballet Royal de la Nuit getanzt, dabei aber auch zwielichtigere, teilweise burleske Rollen übernommen.56 Dennoch fällt das Celler Ballet durch innovative Züge auf, die von der Suche nach Überraschungseffekten im Sinne einer Bühnenwirkung zeugen. Ungewöhnlich, wenn auch keine regelrechte Innovation, ist allemal der erste Auftritt in diesem Ballet, der von vier fackeltragenden Bären getanzt wird (Abb. 8). Gewiss: Damit wird dem Geschmack des Publikums nach Spektakulärem entsprochen. Schroedter widerlegt zu Recht Linnemanns Annahme,57 es würde sich um einen spezifisch deutschen Topos handeln. Bärentänze – wie generell Schau-
54 Tobias Hübner: Cartel, Auffzüge/ Vers und Abrisse/ So bey der Fürstlichen Kindtauff/ vn[d] frewdenfest zu Dessa[u]/ den 27. vnd 28. Octob. vorlauffenden 1613. Jahrs/ In gehaltenem Ringel vnd Quintanen Rennen/ Auch Balletten vnd Täntzen/ […] praesentiret worden. Leipzig 1614. 55 Wilhelm Dilich: Beschreibung vnd Abriß dero Ritterspiel/ so der Durchleuchtige/ […] Herr Moritz/ Landgraff zu Hessen/ etc. auff die Fürstliche Kindtauffen Frewlein Elisabethen/ vnd dann auch Herrn Moritzen des andern/ […] am Fürstlichen Hoff zu Cassel angeordnet/ vnd halten lassen. Kassel 1601. 56 Hendrik Schulze: Französischer Tanz und Tanzmusik in Europa zur Zeit Ludwigs XIV. Identität, Kosmologie und Ritual. Hildesheim 2012 (Terpsichore. Tanzhistorische Studien 7). 57 Schroedter: Tanzende Bären (Anm. 5), S. 3; Linnemann (Anm. 3), S. 46.
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tänze mit dressierten Tieren58 – waren schon im Mittelalter eine Tradition; in der Renaissance findet man sie überall an europäischen Fürstenhöfen, nicht nur in Frankreich, sondern auch in Italien und Deutschland,59 an großen Residenzen wie etwa bei den Hochzeitsfestlichkeiten von 1568 in München oder noch viel später, 1671, im Ballet Die Lust der Music am kleinen Hof von Güstrow.60 Diesen ersten Aufzug darf man jedoch unter einem besonderen Licht interpretieren, als glückliche Fusion zweier Traditionen, einer volkstümlichen und einer aristokratisch-fürstlichen. Denn der Fackeltanz wurde bei fürstlichen Hochzeiten immer ausgeführt, und zwar unter der Leitung eines Zeremonienmeisters. Dieser Tanz war ein typisches, unentbehrliches Ritual bei den Hochzeitsfeierlichkeiten der Eliten (in Württemberg um 1616/18,61 in München oder Berlin62), das übrigens bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei den Hohenzollern, insbesondere unter Kaiser Wilhelm II., im Gebrauch blieb.63 Im Celler Ballet handelt es sich um einen höchst originellen, deutlichen Wink: Denn dieser Tanz wird nicht etwa durch die Mitglieder der höfischen Gesellschaft ausgeführt, sondern eben durch Bären, angeblich ‚wilde‘ Tiere, hinter denen sich jedoch „vier Springer“, d. h. professionelle Gaukler, verstecken. Außer dem besonderen und aparten Charakter der inventio (einer kunstvollen Mischung aus volkstümlicher Belustigung und aristokratischhöfischem Ritual) illustriert dieser Tanz, der nicht zufällig das Ballet eröffnet, das von der Allegorie der Fama ausgedrückte Postulat, wonach durch eine ‚disziplinierende‘ Tätigkeit wie das Tanzen sogar wilde Tiere gezähmt, d. h. ‚zivilisiert‘
58 Walter Salmen: Tanz und Tanzen vom Mittelalter bis zur Renaissance. Hildesheim 1999 (Terpsichore. Tanzhistorische Studien 3), S. 66–68. Außer Bären wurden auch dressierte Affen und Hunde zumal von umherziehenden Gauklern in Osteuropa (Ungarn, Böhmen, Polen) zum Tanzen ausgenutzt. Sonst sind auch die Pferdeballette bekannt, die sich insbesondere am Wiener Hof großer Beliebtheit erfreuten. 59 Einen guten Überblick über diese Tradition bei fürstlichen Festlichkeiten bietet der französische Jesuit und Ballettheoretiker Claude-François Ménestrier: Des Ballets anciens et modernes, selon les règles du théâtre. Paris 1682, S. 156, 230, 244 und 248. 60 Die Lust der Music. Ballett [!] Auff befehl des Fürsten und Herrn Gustaff Adolphen zu Mecklenburg/ […] inventiret von C. P. D. Fürstlichen Archit. Güstrow 1671. 61 So in: Des Getrewen Ritters Balleth (Stuttgart 1616). Dazu siehe: Ludwig Krapf, Christian Wagenknecht (Hg.): Stuttgarter Hoffeste. Texte und Materialien zur höfischen Repräsentation im frühen 17. Jahrhundert. Tübingen 1979 (Neudrucke deutscher Literaturwerke N. F. 26), S. 284–291. 62 Siehe den Bericht über die „Fürstliche Hochzeit zwischen der kurbrandenburgischen Prinzessin Lise Dorothea und Friedrich Karl von Hessen-Cassel im Jahre 1700“ in: Des Herrn von Besser Schrifften, Beydes in gebundener und ungebundener Rede […] ausfertiget von Johann Ulrich König. 2 Bde. Leipzig 1732, Bd. 2, S. 649 f. 63 Rudolf Braun, David Gugerli: Macht des Tanzes, Tanz der Mächtigen. Hoffeste und Herrschaftszeremoniell 1550–1914. München 1993, S. 275–278.
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Abb. 8: Die Triumphirende Liebe (HAB Wolfenbüttel Textb. 4° 49), fol. C 2r (1. Aufzug).
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und zum Guten gewendet werden können. Im Begleittext wird die leise Mahnung hörbar: DEr Bähren Grausahmkeit läst endlich Sich bezwingen/ Seht/ Wie Sie nach dem Tact so zier- und künstlich springen/ Wie? das Ein grimmigs Thier noch bändig werden kan/ Und der so kluge Mensch nimt keine Bessrung an?64
Somit wird klar, dass das Ballet zum Vehikel eines religiös-moralischen Diskurses wird, der nicht nur die Eitelkeit der Welt und ihre vielen Laster generell anprangert, sondern auch für eine positive Selbstdisziplin als anthropologisches Korrektiv plädiert.65 Zugleich wird durch die symbolische Bedeutung der jeweiligen Bühnenbilder (dunkler Wald vs. Lichte, symmetrische Gartenanlage bzw. antikisierende Kolonnade) und deren Progression ein optimistischer anthropologischer Diskurs deutlich, der einen möglichen ‚Fortschritt‘ nahelegt. Während die belehrende, paränetische Ausrichtung schon immer präsent war (so z. B. im Gottorfer Ballet) und von Rist geradezu gefordert wird – versteht er doch die Schaubühne als eine moralische Anstalt –, besticht das Celler Ballet durch das Unterhaltsame, die Lust am Spektakel, welche die burlesk-grotesken Auftritte in den Vordergrund stellen. Dies gehört wohl zu Rists pragmatisch inspirierter Auffassung von den Schauspielen, seine stete Bemühung um einen Ausgleich zwischen docere und delectare, die Sorge um Lust und Ergötzung der Gemüter zugleich. Die gelungene Gliederung des Ballets mit einer angenehmen Abwechslung von kontrastierten Tanzauftritten wirft die Frage auf, inwiefern Rist von der kleinen Schrift von M. De Saint Hubert, Sur la manière de composer et de réussir les ballets (1641), Kenntnis gehabt haben konnte.66 Deren Autor, ein Adeliger, der am französischen Hof unter Ludwig XIII. lebte und sich an zahlreichen Ballets beteiligte, war einer der ersten, der zwischen zwei stilistischen Tendenzen unterschied und außerdem ausdrücklich empfahl, beide Tanzarten innerhalb einer Darbietung zu alternieren, wegen der angestrebten, doppelten Wirkung: der Bewunderung und der Erheiterung. Die kontrastreiche Abwechslung von komisch-grotesken und ernsthaft-würdevollen Aufzügen mit belehrendem Cha-
64 Die Triumphirende Liebe […]. Hamburg 1653 (Anm. 1), fol. C 2r. 65 Das Argument begegnet zur Legitimation der Tanzkunst und des Tanzens überhaupt noch bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts. Vgl. Marie-Thérèse Mourey: Gibt es eine Aufrichtigkeit des Körpers? Zu den deutschen Tanzlehrbüchern des späten 17. Jahrhunderts. In: Claudia Benthien, Steffen Martus (Hg.): Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert. Tübingen 2006 (Frühe Neuzeit 114), S. 329–341. 66 M. de Saint Hubert: La manière de composer et faire réussir les ballets. Paris 1641. Kommentierter ND von Marie-Françoise Christout. Genf 1993.
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rakter kann jedoch auch auf einen englischen Einfluss zurückgeführt werden, ist doch diese Polarität ebenfalls ein strukturelles Merkmal der englischen masques mit ihren anti-masques.67 Und schließlich ist die komisch-groteske Dimension der Performanz, die Komik der Körper,68 ohne das italienische Vorbild der commedia dell’arte bzw. der italienischen Wandertruppen und Jahrmarktskünstler nicht zu denken. Somit wird klar, wie Rist an der Schnittstelle verschiedener Aufführungsstile steht und ihm eine ausgewogene Synthese gelingt. Was die Rezeption französischer Vorbilder in Norddeutschland und den Prozess der Akkulturation fremder Formen und Gattungen angeht, stellt sich die Frage nach den möglichen Vermittlern Rists, der nachweislich nie nach Frankreich reiste. Ähnlich ist auch in Bezug auf die Kenntnis der neuesten französischen Dichter (darunter Theophile de Viau) zu fragen, deren Werke Rist ins Deutsche übertrug – Rists Hamburger Freund Eberhard Möller könnte hier eine Rolle gespielt haben,69 ebenso der schwedische Resident Vincent Möller, den Rist in seiner Widmung des Friedejauchzenden Teutschlands überschwänglich lobt, weil er „viele fremde Länder/ Königreiche und Völker in seinen kostbaren Reisen gesehen/ […] unterschiedliche fremde Sprachen erlernet und gefasset“ und vor allem ihn „mit unterschiedlichen neuen/ und […] niegesehenen Bücheren in mehrerley Sprachen beschencket“ habe.70 Eine andere Möglichkeit wäre der damalige Tanzmeister von Sophie Elisabeth von Braunschweig-Lüneburg, Pascal Bence, der von 1640 bis ca. 1654 am Wolfenbütteler Hof tätig war und regelmäßig nach Paris fuhr, um sich die „airs à la mode“ zu holen.71 Die recht engen Verbindungen zwischen den Welfenhöfen und Bences Mitwirkung an der Einstudierung des Celler Ballets würden somit auch das Vorhandensein der Musikpartitur „Courante la Lunebourg“ innerhalb des Textbuchs erklären, obwohl dieser Tanz nicht zum Ballet gehörte, wie dort ausdrücklich vermerkt ist. Auffallend ist zudem die große Nähe des Celler Ballets zu dem zwei Jahre später (1655) in Wolfenbüttel aufgeführten Ballet der Zeit, das eine ähnliche Figurenkonstellation sowie vergleichbare strukturelle Merkmale aufweist, einen Tanz der Narren, einen Geist, der herauffliegt, einen Mercurius, der die Cartels verteilt, ja sogar ein „Cartel der
67 Marie-Claude Canova-Green: The English Court Masque. In: Béhar, Watanabe-O’Kelly (Anm. 6), S. 523–546. 68 Mark Franko: Dance as Text. Ideologies of the Baroque Body. Cambridge u. a. 1993 (RES monographs on anthropology and aesthetics), Kap. 4: „Political Erotics of Burlesque Ballet. 1624– 1627“, S. 63–107. 69 Siehe den Beitrag von Volker Klostius in vorliegendem Band. 70 Rist: Das Friedejauchtzende Teutschland (Anm. 9), Widmung, S. 214. 71 Geck (Anm. 18), S. 317–331.
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Tugendliebenden Helden“ usw.72 Die Tanz- und Balletkultur sollte allerdings in Wolfenbüttel, Celle und Lüneburg ganz unterschiedliche Entwicklungen erfahren.73 Der Wolfenbütteler Hof erlebte eine Glanzzeit mit den von Herzog Anton Ulrich verfassten und von dem neuen Tanzmeister Ulrich Roboam de la Marche einstudierten Ballets, die sich ausdrücklich nach dem französischen höfischen Vorbild richteten.74 Für den Celler Hof sind nur wenige Hinweise überliefert: Im Februar 1664 wurde ein anderes Ballet aufgeführt, das Ballet der Riesen.75 In seiner Poetik erwähnt Daniel Morhof ein Ballet von der Eitelkeit, das zu Celle gehalten worden sei76 – damit könnte aber aufgrund der Thematik gerade Rists Ballet gemeint sein. Herzog Christian Ludwig engagierte kurz nach seiner Hochzeit einen französischen Tanzmeister, Michael Du Breuil, der sich bald durch seine arrogante Haltung und grenzenlosen Forderungen unbeliebt machte. Sein eigens aus Frankreich herbeigeholter Bruder Jean erteilte Tanzunterricht an der 1656 gegründeten herzoglichen Ritterschule zu Lüneburg.77 Nach dem frühen Tod des Herzogs 1665 blieb Michael Du Breuil in Celle, trotz wiederholter Konflikte mit dem neuen regierenden Herzog Georg Wilhelm. 1684 findet man ihn als Mitwirkenden in Berlin wieder, anlässlich der Hochzeit des Kurprinzen Friedrich mit Sophie Charlotte von Hannover: La Réjouissance des Dieux war das erste Ballet überhaupt, das am kurbrandenburgischen Hof aufgeführt wurde.78 Dagegen bleibt Rists Ballet Die Triumphirende Liebe aus dem Jahre 1653 das älteste nachweisbare Bühnenwerk für Niedersachsen.79
72 Ballet der Zeit/ Wie nemblich dieselbe übel und wol angeleget werde […]. Wolfenbüttel 1655. Eine ausführliche, komparativ angelegte Studie beider Ballets würde jedoch den begrenzten Rahmen dieses Beitrags sprengen. 73 Für einen Überblick siehe Rosenmarie Elisabeth Wallbrecht: Das Theater des Barockzeitalters an den welfischen Höfen Hannover und Celle. Hildesheim 1974 (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 83), bes. die Kap. „Französisches Schauspiel“ (S. 123–165) und „Ballett“ (S. 196–208). 74 Sara Smart: Doppelte Freude der Musen. Court Festivities in Brunswick-Wolfenbüttel 1642– 1700. Wiesbaden 1989 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 19), Kap. III „The Ballet of the Mid-seventeenth Century“, S. 97–146. Siehe auch Marie-Thérèse Mourey: Tanzkultur am Wolfenbütteler Hof. In: Dies., Giles Bennett, Stephanie Schroedter (Hg.): Barocktanz im Zeichen französisch-deutschen Kulturtransfers. Quellen zur Tanzkultur um 1700. Hildesheim u. a. 2008 (Tanzforschungen. Derra de Moroda Dance Archives 9), S. 199–225. 75 Magnus (Anm. 3), S. 125–130. Von den drei heute erhaltenen Exemplaren konnte keines eingesehen werden. 76 Daniel Morhof: Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie/ Deren Uhrsprung/ Fortgang und Lehrsätzen […]. Kiel 1682, S. 743. 77 Linnemann (Anm. 3), S. 22. 78 Über die Tanzmeister Du Breuil siehe ebd. sowie Magnus (Anm. 3), S. 94–104. 79 Linnemann (Anm. 3), S. 23.
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Im Mittelpunkt von Rists Versuch in der Gattung des Ballets steht sein reges Interesse, über den Text hinaus, für das Performative der Bühnenkunst, aufgrund der durch die Synästhesie von Musik, Gesang, Kostümen, Beleuchtung, Tanz und Gestik erreichten Wirkung.80 Gerade das Hofballet charakterisiert sich durch seine grundsätzliche Multimedialität, verbindet es doch außer Musik theatralisches Auftreten, Gestik, Mimik und Tanz sowie symbolisch-emblematische Kostüme und Bilder. Neben zahlreichen Anekdoten über die praktischen Erfahrungen des jungen Autors in Hamburg enthält Die Alleredelste Belustigung grundsätzliche Überlegungen über das Wesen der Schauspiele, über die Musik und die „Kunst des Agierens“ als mächtige ‚Beweggründe‘ zur Erregung starker Affekte. Als Dichter und Dramatiker war sich Rist der vielfältigen Schwierigkeiten bewusst, die in der Komposition von Schauspielen zu überwinden waren: In Summa, es gehöhret über alle Mahsse viel dazu/ wenn man ein rechtschaffenes Trauroder Freudenspiel […] gedencket fürzustellen […]. Ein solcher Poete nun […] muß die Baukunst/ die Perspectiv oder Sehe-Kunst/ die Mahlerey/ die Musik/ den dantz/ auch sonst viele andere Dinge mehr verstehen/ auch endlich aller Personen Geberden zierlich nachzuahmen wissen.81
Aufgrund seiner langjährigen Erfahrung beherrschte Rist viele Verfahren und Kunstgriffe, wie z. B. die Notwendigkeit, eine Wolke über der Bühne schweben zu lassen, aus der ein Engel oder Geist herunterkommen und somit für Bewunderung sorgen kann:82 Gerade im Celler Ballet wird diese Technik eingesetzt. Aber ihm ging es vor allem um das Wirkungspotential einer sinnvoll angewandten Bühnenkunst, um die Erweckung von Affekten bei den Zuschauern, zumal über eine richtig angewandte Schauspielerkunst: „es ist trauen kein geringes/ das ein Mensch den anderen durch seine Rede/ Sitten und Bewegung kan zwingen/ daß er seine Neigung nach des Spielers eigenen Belieben muß richten […].“83 Neben der Kunst der Deklamation und dem Gesang, dem Rist einen sehr hohen Wert beimisst,84 sollte ein guter Schauspieler den Tanz und die Pantomime als Kunst der feinen Bewegungen und Gebärden und die nach Stand, Alter, Anlass und Affekt sorgfältig differenzierten Konventionen der stummen Körpersprache beherrschen. Rist selber hatte eine sehr gute Kenntnis der Gebärdensprache,
80 Heins (Anm. 3), S. 186–189. 81 Rist: Die Alleredelste Belustigung (Anm. 27), S. 309. 82 Ebd., S. 308: „Oben über dem Schauplatze/ müssen auch schöne und künstlich verfärtigte Wolcken schweben/ aus welchen man Engel/ Geister/ Adler und derogleichen kan herab bringen […]“. 83 Ebd., S. 281. 84 Ebd., S. 318–321.
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wie anhand der Bühnenanweisungen zu seinen ersten Stücken (Irenaromachia, Perseus) zu ersehen ist,85 und ihm war die spezifische Körpersemiotik, die auf der Bühne eine maßgebliche Rolle für die Dekodierung des intendierten Sinns durch den Zuschauer spielt, sehr vertraut.86 Auch von der Tanzpraxis hatte er eine recht gute Kenntnis, durch professionelle Vermittler. In Altona sah er z. B. den holländischen Schauspieler Jan Baptista,87 der später im Dienste des Statthalters Wilhelm von Oranien stand und Tanzmeister an der Akademie Franeker in den Vereinigten Provinzen werden sollte.88 Schließlich hatte Rist von den Jesuiten wichtige Anregungen bekommen, ja er bewunderte sie, weil sie den vielfältigen Nutzen des Theaters begriffen hätten und insbesondere die Kunst des Agierens vortrefflich verstünden.89 Somit kann der kunstästhetische Bedeutungshorizont des Ballets näher umrissen werden. Das Primat hat allemal die visuelle und akustische Spektakularität der Performanz, die durch Pracht, Pomp und Überraschungseffekte auf die fünf Sinne einwirkt und sie als Erkenntnisorgane benutzt. Denn genauso wie das höfische Fest ist das Ballet weder eine primär intellektuelle Lustbarkeit noch ein Handlungsdrama, das die aristotelischen Regeln streng zu befolgen hat, sondern vielmehr eine ‚bewegte Bilderschau‘, wobei sich die Autoren einer teilweise enigmatischen Bildersprache nach dem Muster der in der italienischen Renaissance wieder entdeckten Emblematik und Allegorik bedienen. Das Ballet ist ein lustiges und zugleich seriöses Bilderrätsel, das es zu dechiffrieren gilt. Die lebenden und beweglichen Bilder, die die Tänzer sind, dienen zur Versinnlichung abstrakter Inhalte durch Rolleninszenierung; sie sollen Emotionen und Affekte beim Publikum bewirken, dadurch ein rationelles Verständnis ermöglichen, und die Zuschauer von den Lastern ab- und den Tugenden zuwenden. Aus diesen Erklärungen erhellt, dass Otto Heins’ Urteil, wonach Rists „lyrisch-dramatische[s] Werkchen“ nur durch Inhalt und Illustration „kulturund theatergeschichtlich interessant“ sei,90 zu revidieren ist. Vielmehr ist das
85 Heins (Anm. 3), S. 186 f. 86 Vgl. Marie-Thérèse Mourey: Körperrhetorik und -semiotik der volkstümlichen Figuren auf der Bühne. In: Stefanie Arend, Thomas Borgstedt, Nicola Kaminski u. a. (Hg.): Anthropologie und Medialität des Komischen im 17. Jahrhundert (1580–1730). Amsterdam 2008 (Chloe 40), S. 105– 141. 87 Heins (Anm. 3), S. 178. Rist, Die Alleredelste Belustigung (Anm. 27), S. 281. 88 Zum historischen Kontext der Tanzkultur in Europa, insbesondere in Holland, siehe Mourey, Danser dans le Saint Empire (Anm. 49), Prolog. 89 Rist: Die Alleredelste Belustigung (Anm. 27), S. 276: „[…] wie auch bey den Herren Patribus der Societät Jesu (als welche in dieser nützlichen Übung übertreflich sind erfahren/)“. 90 Heins (Anm. 3), S. 157.
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eigenartige „Werkchen“ der Beweis dafür, wie Rist, der seine Dichterlaufbahn als Dramatiker angefangen und übrigens auf eine vielfältige wie auch solide Bühnenerfahrung im städtischen Kontext zurückblicken konnte, mit seinem Ballet einen wichtigen Beitrag zur Etablierung einer ausdifferenzierten Bühnenkunst in Norddeutschland lieferte. Ganz ‚modern‘ war diese Bühnenkunst allerdings nicht: Denn sie wurzelt sowohl im Schuldrama als auch in älteren Moralitätentraditionen, von dem Einfluss der einheimischen Fastnachtspiele zu schweigen. Dies alles vermengt sich mit ausländischen Anregungen, sei es der englischen Komödianten, der holländischen Theaterkunst91 oder der italienischen Bühnenpraxis – ohne die Jesuiten zu vergessen. Mit seinem Beitrag zum Hofballet französischer Prägung steht Rist also mitten in einer wichtigen Entwicklungsphase der deutschen Theaterkunst, am Schnittpunkt sehr unterschiedlicher Traditionen und Vorbilder, was jedoch nicht dazu führen darf, an seinem Werk eine etwaige „ästhetische Unreife“ zu rügen.92 Abbildungsnachweise Abb. 1–3, 5–8: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Abb. 4: Victoria and Albert Museum London.
91 Dazu Dirk Niefanger: „Von allen Kunstverständigen hoch gepriesen“. Thesen zur Wirkung des niederländischen Theaters auf die deutsche Schauspielkunst des 17. Jahrhunderts. In: Jan Konst, Inger Leemans (Hg.): Niederländisch-deutsche Kulturbeziehungen 1600–1830 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 7), S. 153–166. 92 Heins (Anm. 3), S. 197.
Thomas Rahn
Das Freudenspiel als Ritualvorlage Rists Depositio Cornuti Typographici Ein Schinken aus Pappmaché, eine gehörnte Mütze und allerlei überdimensionales Handwerkszeug aus Holz sind die Requisiten,1 die noch erhalten sind von der Aufführung eines Freudenspiels, das vielleicht nicht als die subtilste Dichtung Johann Rists gelten kann, jedoch für einen Zeitraum von rund hundert Jahren als wichtigste codifizierte Ritualvorlage bei der Gesellenmachung von Buchdruckern fungierte. Die Erstaufführung der Depositio Cornuti Typographici fand wohl im Jahr 1654 im Haus der Lüneburger Verleger- und Druckerfamilie Stern statt.2 Rist, dessen geistliche Texte zum größten Teil bei Stern erschienen, war der Familie freundschaftlich verbunden und fand sich bereit,3 aus Anlaß der Gesellenweihe des jungen Johann Heinrich Stern ein älteres Depositionsspiel des Danziger Buchdruckers Paul de Vise aus dem Jahr 1621 inhaltlich und vor allem metrisch zu überarbeiten.4 Die Erstausgabe der Depositio erschien 1655;5 es folgten noch acht Drucke des Schauspiels bis zum Jahr 1743.
1 Vgl. die Abbildungen in William Blades: An Account of the Morality-Play, Entitled Depositio Cornuti Typographici, As Performed in the 17th and 18th Centuries. London 1885, S. 39–42; Hans Dumrese: Der Sternverlag im 17. und 18. Jahrhundert. In: Ders., Friedrich Carl Schilling: Lüneburg und die Offizin der Sterne. Lüneburg 1956, S. 1–132, hier S. 76. 2 Vgl. Dumrese (Anm. 1), S. 79 und 127 f. 3 Vgl. zu Rists Gelegenheitsdichtungen für die Familie Stern Otto Heins: Johann Rist und das niederdeutsche Drama des 17. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur deutschen Literaturgeschichte. Marburg 1930 (Beiträge zur deutschen Literaturwissenschaft 38), S. 159. 4 Paul de Vise: DEPOSITIO CORNUTI, ZU LOB VND EHREN Der Edlen, Hochlöblichen vnd Weitberhümbten Freyen Kunst Buchdruckerey, IN KURTZE REIMEN VERFASSET. O. O. o. J. [1621]. In: Blades (Anm. 1), S. 101–113. 5 Johann Rist: Depositio Cornuti Typographici, Das ist: Lust- oder Freuden-Spiel: Welches bey Annehmung vnd Bestättigung eines Jungen Gesellen/ der die edle Kunst der Buchdrukkerei redlich hat außgelernet/ ohne einige Ärgernisse kan fürgestellet/ vermittelst/ welches auch künfftiger Zeit/ Junge angehende Personen nach Verfliessung Jhrer Lehr-Jahre/ zu Buchdrukker-Gesellen können ernennet/ bestättiget/ an- und auffgenommen werden. Auff freundliches Ansuchen und sonderbahres Begehren/ wie denn auch der hoch- und weitgerühmten BuchdrukkerKunst zu unvergänglichen Ehren/ wolmeinentlich abgefasset von Johann Rist/ Und von einer gantzen Kunst- und Ehrliebenden Lüneburgischen Gesellschafft zum Druck befördert. O. O. [Lüneburg: Johann und Heinrich Stern] 1655. Das einzige bekannte Exemplar des Drucks ist in der Staatsund Universitätsbibliothek Hamburg nicht mehr vorhanden; daher Titelaufnahme nach Gerhard
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Thomas Rahn
Die Handlung des Stückes ist im Kern eine fortgesetzte Behandlung – eine Aneinanderreihung von Maßnahmen und Prüfungen, die der Cornut, der mit Hörnern ausgestattete Initiand, erdulden muß: Auf dem Schauplatz erscheint zuerst der Depositor und wundert sich über die festliche Dekoration des Hauses und die zahlreichen Gäste. Als er – im Kontrast zum hohen decorum des Ortes – einen üblen Gestank wahrnimmt, schickt er seinen Knecht Urian, um nach der Ursache zu forschen. Dieser kommt mit dem Cornuten zurück, von dem der Depositor zunächst nicht weiß, ob es sich um ein Tier oder einen Waldgeist handelt. Um den Status des unbekannten Wesens zu bestimmen, starten Depositor und Knecht eine ruppige Untersuchung und Prüfung, bei der an Beleidigungen und Mißhandlungen nicht gespart wird. Der Cornut muß nach der Peitsche tanzen und seine Fertigkeiten im Lesen, Singen, Kartenspiel und Würfeln zeigen. Durch Anrede und Inhalt zweier an den Cornuten gerichteter Liebesbriefe, die ihm aus der Tasche gezogen werden, wird klar, daß er ein Buchdruckergeselle ist, dem die Deposition bevorsteht. Im eigentlichen Depositionsakt wird der endgültige Übergang vom Lehrling zum Gesellen durch die symbolische Begradigung und Glättung des Gesellenkörpers in Szene gesetzt, der nunmehr als ein unebenes Stück Holz behandelt und durch grobe Instumente wie Axt, Raspel und Kneifzange zugerichtet wird. Das Opfer wird herumgestoßen, geohrfeigt, behauen, behobelt und beraspelt, die Nägel werden gefeilt, ein Zahn abgekniffen, die Haare geschnitten und pomadisiert, der Bart balbiert und der Hintern mit der Pritsche traktiert. Nach dieser gewaltsamen Erneuerung schwört der von seinen Hörnern Befreite, in Zukunft ein tugendhaftes Leben führen zu wollen. Nachdem er zudem den Eid geleistet hat, sich für die zugefügte Behandlung nicht zu rächen, tritt der Depositor von der Bühne ab und überläßt nun dem Lehrmeister die Ritualführung. Dieser nimmt zuerst vom Gesellen eine Beichte seines früheren lasterhaften Lebens ab und vermittelt ihm dann eine Reihe von moralischen und sittlichen Maximen für den weiteren Lebensweg. Zum Abschluß wird der neue Geselle bekränzt und im Namen der ganzen Druckerzunft konfirmiert.
Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. Zweite, verbesserte und wesentlich vermehrte Auflage des Bibliographischen Handbuchs der Barockliteratur. Teil V: Praetorius – Spee. Stuttgart 1991 (Hiersemanns Bibliographische Handbücher 9, V), S. 3413. Einen Neudruck der Erstausgabe bietet Karl Theodor Gaedertz: Gebrüder Stern und Ristens Depositionsspiel. Neudruck der ersten Ausgabe 1655. Mit Abbildung der Postulationsgeräte. Lüneburg 1886. Zitiert wird im folgenden der Dramentext nach dem Druck von 1714 (vgl. Anm. 13) und lediglich einige Paratexte der Erstausgabe nach der Edition von Gaedertz. – Vgl. zur Depositio Cornuti Typographici Karl Theodor Gaedertz: Johann Rist und sein Deposition-Spiel. In: Akademische Blätter. Beiträge zur Litteraturwissenschaft 1 (1884), S. 385–412 und 441–470; Heins (Anm. 3), S. 157–172.
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Wenngleich Rists Depositio Cornuti Typographici ein älteres Handwerkerspiel literarisch ‚modernisiert‘,6 bleiben die rituellen Kernhandlungen unangetastet. Im Rahmen des agierten Freudenspiels vollzieht sich ein konkreter Initiationsritus. Hier hebt sich Rists Schauspiel entscheidend ab von der theatralen Abbildung bzw. handlungsmäßigen Einbettung einer (akademischen) Deposition in den Dramenfassungen des bekannten Cornelius relegatus.7 In der Depositio changieren Aufführung und Durchführung eines Ritus. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf diesen spezifischen Charakter des Schauspiels und nehmen (1.) die Ambivalenz zwischen Ritualabsicherung und Ironisierung des Rituals, (2.) das Verhältnis von Theatralität und Ritualität in der Aufführungssituation, (3.) die Ausstellung eigener Ritualleitungskompetenz durch den Autor und (4.) die Offizialisierung und Historisierung des Stückes als Ritualformular im Rahmen frühneuzeitlicher Druckerhandbücher in den Blick.
1 Ritualtransfer – Ritualzensur – Ritualpersiflage Das Schema des Buchdruckerrituals,8 das Rist in seinem Freudenspiel präsentiert, ist eng an dem Modell der akademischen Deposition ausgerichtet, welche ein angehender Student als Voraussetzung der Erstimmatrikulation über sich ergehen lassen mußte.9 Der ‚Ritualimport‘ in das Brauchtum der Buchdrucker
6 Vgl. zu den Handwerkerspielen der Frühen Neuzeit Johannes Bolte: Von Wanderkomödianten und Handwerkerspielen des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Phil.-Hist. Klasse 19 (1934), S. 446–487, hier S. 37–44 (speziell zu Depositionsspielen S. 37–40). 7 Vgl. die Depositionsszene in Johannes Sommer: Cornelius relegatus (1605) [= deutschsprachige Bearbeitung von Albert Wichgreves Cornelius Relegatus (1600)]. Kritische Ausgabe. Hg. von Moritz Ahrens u. a. Mit einer Einleitung von Thomas Wilhelmi u. a. Sandersdorf-Brehna 2011, S. 61–67. 8 Vgl. zur Deposition bei den Buchdruckern Oskar Schade: Über Jünglingsweihen. Ein Beitrag zur Sittenkunde. In: Weimarisches Jahrbuch für Deutsche Sprache, Litteratur und Kunst 6 (1857), S. 241–416, hier S. 369–383; Heinrich Klenz: Die deutsche Druckersprache. Straßburg 1900, S. 27–31. 9 Vgl. Wilhelm Fabricius: Die akademische Deposition (Depositio cornuum). Beiträge zur Deutschen Litteratur- und Kulturgeschichte, speciell zur Sittengeschichte der Universitäten. Frankfurt a. M. 1895; Marian Füssel: Gewalt im Zeichen der Feder. Soziale Leitbilder in akademischen Initiationsriten der Frühen Neuzeit. In: Gewalt in der Frühen Neuzeit. Beiträge zur 5. Tagung der Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit im VHD. Hg. von Claudia Ulbrich, Claudia Jarzebowski, Michaela Hohkamp. Berlin 2005 (Historische Forschungen 81), S. 101–116; ders.: Riten der Gewalt. Zur Geschichte der akademischen Deposition und des Pennalismus in der frühen Neuzeit.
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hinein ist wohl als Distinktionsgestus eines Handwerks zu verstehen, das sich einen genuin höheren Bildungsstand zuschrieb und in Universitätsstädten sogar das akademische Bürgerrecht innehaben konnte. Aus der akademischen in die Buchdruckerdeposition übernommen sind unter anderem die topische Leitdifferenz des Ritus zwischen Mensch und Tier sowie zwischen Natur und Kultur,10 in der Ritualaktion sinnfällig gemacht als Unterschied zwischen grobem Holzklotz und bearbeitetem Holz. Übernommen sind ferner die Entdeckung von Liebesbriefen und die Tanz-, Sing- und Spielprüfungen, die den Cornuten auf der scala naturae immerhin vom Tier zum ‚tierischen‘ Menschen aufsteigen lassen. Und übernommen sind ferner in Auswahl die Traktierungen des Cornuten mit dem Riesenwerkzeug und seine Eidesleistungen nach der Verwandlung. Mitte des 17. Jahrhunderts, als Rists Depositio Cornuti Typographici zum ersten Mal erschien, war das interrituelle Vorbild des Handwerkerbrauchs, die akademische Deposition, bereits ob ihrer Gewalttätigkeit in die Kritik geraten. Dem entgegen steuerte ein legitimatorischer Diskurs, der unter anderem auf die Anciennität und damit besondere Würde des Rituals verwies, sowie eine universitäre Steuerung des Rituals im didaktischen Interesse. „Mit der stärkeren Institutionalisierung der Deposition an den Universitäten des 16. und 17. Jahrhunderts, die nun eigene Depositeure beschäftigten und das Ritual dem Einflussbereich der Bursen zu entziehen versuchten, ging auch eine zunehmende Didaktisierung der Gesten und Symbole einher.“11 Dazu gehörte auch das Verfahren, die ‚handwerklichen‘ Gewalthandlungen am Körper des Cornuten durch eine explizite Ritualallegorese zu entschärfen. Ein Beispiel aus einer Vorlage für „Depositions-Ceremonien“ von 1714 (Abb. 1): Dort wird das Ausbrechen eines applizierten Eberzahns zugleich als ganz konkrete moralische Korrektur des Cornuten ausgewiesen; der Schein-Schmerz der Zahnbehandlung wird mnemonisch gekoppelt mit dem moralischen Befehl, hinfort nicht schlecht über andere zu reden. Rist folgt in seiner Bearbeitung des Depositionsspiels hinsichtlich der Diskursivierung der Gewalthandlungen dem Prätext von Paul de Vise, d. h. er ver-
In: Zeitschrift für Historische Forschung 32 (2005), S. 605–648; Ulrich Rasche: Cornelius relegatus und die Disziplinierung der deutschen Studenten (16. bis frühes 19. Jahrhundert). Zugleich ein Beitrag zur Ikonologie studentischer Memoria. In: Frühneuzeitliche Universitätskulturen. Kulturhistorische Perspektiven auf die Hochschulen in Europa. Hg. von Barbara Krug-Richter, Ruth-E. Mohrmann. Köln u. a. 2009 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 65), S. 157–221, hier S. 175–181. 10 Vgl. Füssel: Gewalt (Anm. 9), S. 111. 11 Ebd., S. 109.
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Abb. 1: Ritualsegment aus der akademischen Deposition in: Erasmi Roterdami Civilitas Morum Puerilium […]. Wobey noch ein Anhang von Depositions-Ceremonien. Leipzig 1714, S. 167 (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz – Abteilung Historische Drucke – Ng 8590).
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zichtet beim Ritualsegment des Zahnziehens, wie an ähnlichen Stellen auch, auf eine moralisierende sinnbildliche Ausdeutung. Die Rede des Depositors repräsentiert, man kann vielleicht auch sagen: vermehrt nur die gezeigte Gewalt auf der sprachliche Ebene:12 Mach’ auf das Maul/ du Hörnermann/ Laß sehn/ ob ich dir helffen kan/ Hier find’ ich tolle Sachen/ Ein Zahn/ der ist schier Ellen lang/ Knecht/ gib mir eilends her die Zang/ Ich muß ihn kürtzer machen.13
Rists Freudenspiel bindet die detaillierte moralische Unterweisung des Gesellen nicht an die Rede des Depositors, sondern an den Lehrherrn als den zweiten zentralen Ritualagenten. Das Spiel teilt sich in drei große Ritualsequenzen, deren letzte erst der expliziten Didaxe vorbehalten ist: (1.) die Untersuchung und Prüfung des Cornuten auf seinen Status hin, (2.) die Inszenierung der eigentlichen Deposition, d. h. der Zurichtung des Körpers, in welcher die ‚rohe Gewalt‘ des Depositors und seines Knechts zum Zuge kommt, und (3.) die rituelle Integration des angehenden Gesellen in die Gemeinschaft, in welcher der Diskurs herrscht, zum einen als Beichte des Gesellen, zum andern in 23 ermahnenden Sechszeilern des Lehrherrn. In der dritten Ritualsequenz hat Rist eine entscheidende Zensurmaßnahme gegenüber dem Prätext durchgeführt: In de Vises Depositionsspiel tritt der Lehrherr unter der ‚Amtsbezeichnung‘ Pfaffe auf und wird von einer Gruppe von Taufpaten um Absolution für den Gesellen gebeten. Der Pfaffe nimmt nun dem Gesellen zunächst eine Beichte ab und hält sodann eine lange anti-moralische Belehrungsrede, in der ein differenziertes Programm der Laster und decorum-
12 Vgl. zur sprachförmigen Gewalt in der Frühen Neuzeit Jutta Eming, Claudia Jarzebowski (Hg.): Blutige Worte. Internationales und Interdisziplinäres Kolloquium zum Verhältnis von Sprache und Gewalt in Mittelalter und Früher Neuzeit. Göttingen 2008 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 4). 13 Johann Rist: DEPOSITIO CORNUTI TYPOGRAPHICI, Das ist: Lust- oder Freuden-Spiel Vermittelst welches junge angehende Personen/ so die Edle Kunst der Buchdruckerey redlich ausgelernet/ nach Verfliessung ihrer Lehr-Jahre/ zu Buchdrucker-Gesellen bestätiget/ an- und auffgenommen/ und ohne einige AErgerniß dabey vorgestellet werden kan. Auf freundliches Ansuchen und sonderbahres Begehren/ wie dann auch der Hoch- und weitgerühmten Buchdrucker-Kunst Zu unvergänglichen Ehren/ wohl-meynentlich abgefasset von Johan Rist. Zum Erstenmahl gedruckt in Lüneburg. Anitzo aber aufs neue neben der Nieder-Sächsischen Rede die Hochteutsche gesetzt/ und zum Druck befördert. Lübeck 1714. Neudruck Hamburg 1925, S. 31.
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Sünden entfaltet und propagiert wird. Danach wird der neue Geselle im Namen der Dreifaltigkeit Venus, Ceres und Bacchus getauft,14 und ganz zuletzt noch gießt der Assistent des Pfaffen, der das Taufbecken hält, den Rest des Wassers über den Kopf des Gesellen mit den Worten: Der Pfaff hat noch vergessen was, Ich muss jhn tauffen desto bass.15
In der Bearbeitung des Geistlichen Rist ist die Anti-Ethik des Buchdruckers aus dem Munde des Pfaffen ganz und gar zu einer Ethik aus dem Mund des Lehrherrn umgeschrieben. Die Taufparodie ist verschwunden; eine Taufallusion wird gänzlich vermieden, indem der Einsatz des Wassers sich durch den säkularen Zeremonialakt der Bekränzung des Gesellen ersetzt findet. Mit der Einführung des Lehrherrn als eines ‚ernsten‘ Ritualherrn werden die gewalttätigen Ritualsequenzen am Ende diskursiv und durch anständige Handlungen abgefedert. Das derb-komische Agieren des Depositors und seines Knechts erhält durch diesen ‚Ausgleich‘ eine Lizenz. An den Universitäten waren die Depositionen häufig als Programmpunkt in einen größeren actus publicus, etwa ein Universitätsjubiläum, integriert.16 Die Depositoren agierten unter den Augen des Dekans der Philosophischen Fakultät, an der sich die Erstsemester ja zunächst einzuschreiben hatten. Der Ritus hatte einen ‚offiziellen‘ Status und forderte kompetente Ritualagenten. In Rists Spiel dagegen ist der namenlose Depositor zunächst kaum als eine ernstzunehmende Instanz zu bezeichnen. Er erscheint, in wichtigtuerischer Gravität, wie zufällig auf dem Schauplatz der Deposition und kann nicht einmal den Anlaß der Veranstaltung erkennen: Was mags wol für ein Ursach seyn/ Daß alles hier so nett und rein Jm Hause wird gefunden? Wo läufft doch dieses Volck itzt her/ Es kommt ja nicht von ungefehr/ Voraus in dieser Stunden? Jedoch/ daß ichs erfahre recht/
14 Solche religiösen Ritenparodien konnten ein Fall für die Obrigkeit werden – so 1688 in Frankfurt, wo das Geistliche Ministerium sich beim Magistrat darüber beschwerte, daß Handwerker, besonders Buchdrucker, unter dem Namen des Bacchus, der Ceres und der Venus im römischen Priesterhabit auftraten. Vgl. Schade (Anm. 8), S. 374. 15 de Vise (Anm. 4), S. 112. 16 Vgl. Füssel: Riten (Anm. 9), S. 614.
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so will ich ruffen meinen Knecht/ Er kans vielleicht wol sagen/ […].17
Aber auch der Knecht, Herr Urian, kann die Frage nicht beantworten, „warum es hie so fein | Geschmücket“.18 Als der Knecht wenig später den Cornuten anschleppt, den er und der Depositor von weitem gerochen haben, ist letzterer schon wieder ratlos: Was ist das vor ein Wunder-Thier? Es ist kein Bock/ kein Hirsch/ kein Stier/ […] Gewiß/ es soll mich wundern noch/ Wie man diß Thier wird nennen doch/ Jch kan mich kaum drein finden. Der Kopff ist hart/ der Bauch ist weich/ Die Hörner sind dem Teufel gleich/ […].19
Herr Urian erklärt seinem Herrn, man habe es mit einem Cornuten zu tun. Der Depositor ist aber überfordert: Cornut? O Knecht/ was soll das seyn/ Sinds Esel/ Rehböck’ oder Schwein/ Was sol man damit machen?20
Der zentrale Ritualagent, der die Depositio cornuum durchzuführen hat, erkennt nicht den Ritualort, er erkennt nicht den Cornuten und er weiß nicht, was er mit ihm anfangen soll. Statt zu wissen, was ein Cornut ist, kann er ihn anfangs lediglich wittern – das Tier gleichsam nur selbst als Tier identifizieren. Kurzum: Der Depositor ist, was seine Kompetenz angeht, zunächst einmal das satirische Zerrbild eines Ritualleiters. Es ist denn auch der Knecht, der die erste Ritualsequenz der Statusüberprüfung des Cornuten und damit den gesamten Ritualverlauf anstößt. Nachdem der Depositor sich schon damit zufriedengeben will, das Monstrum zur Belustigung des Publikums nur auf der Bühne auszustellen, schlägt Urian vor, ein solch langbeiniges Wesen einer Tanzprüfung zu unterziehen, oder,
17 Rist: Depositio 1714 (Anm. 13), S. 17. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 18 f. 20 Ebd., S. 19.
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falls es ein Geist sei, ihm die nur mit Geist zu verrichtenden Tätigkeiten Lesen, Singen und Spielen abzuverlangen. Der Knecht fungiert immer wieder als heimliche Lenkungsinstanz des Rituals – und ist vordergründig doch der Mann für’s Grobe. Die – wohlgemerkt realen – Mißhandlungen des Cornuten werden teilweise als komisches Mißverständnis motiviert. Als der Depositor Herrn Urian bei der Kartenspielprobe mit den Worten „Mein Knecht/ schlag jetzt nur lustig aus“21 zum Ausspielen seiner Karten auffordert, gibt dieser dem Cornuten „eine lustige Maulschelle“,22 und als beim anschließenden Würfelspiel der Knecht die Würfel rollen lassen soll – Zitat Depositor: „Nun/ Knecht/ wirff aus/ doch in der Hast“23 –, wirft Urian den Cornuten gleich „mit der Banck gantz und gar übern Hauffen“.24 Dem Ritualtheater implementiert sind Simulationen einer versagenden Kommunikation zwischen dem Ritualherrn und seinem Diener, die zu einer Potenzierung der realen Gewalt im Spiel führen. Damit steht die Buchdruckerdeposition in de Vises und auch in Rists Fassung gegen die institutionell gesteuerte Tendenz an den Universitäten, die Deposition von den (nicht sinnträchtigen) Gewalthandlungen zu befreien und auf „[ä]rgerliche und unnüze ritus wie auch Backenstreiche und Schläge“25 zu verzichten, wie es 1681 in einem Bericht der Universität Jena an den Landesherrn heißt. Rists Ritualtheater hat einen ambivalenten Charakter, was sein decorumKonzept betrifft. Einerseits werden problematische Elemente der Vorlage – die Taufparodie und die Anti-Ethik des Lehrherren – getilgt, andererseits werden die Gewaltakte nicht durch moralisch deutende Kommentare der Ritualagenten entschärft und komische Momente einer Ritualpersiflage zugelassen. Das Ritual wird gegen ethische und religiöse Kritik gesichert, damit der kalkuliert ‚unanständige‘ Ritualverlauf problemlos durchgehen kann.
21 Ebd., S. 27. 22 Ebd. 23 Ebd., S. 28. 24 Ebd. 25 Zit. nach Theodor Lockemann: Zur Geschichte der Deposition an der Universität Jena. In: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 42 (1940), S. 249–265, hier S. 261.
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2 Theatrale Fiktion und ‚Realität‘ des Rituals In einem Prolog an das Publikum, das einer postumen Ausgabe des Ristschen Freudenspiels aus dem Jahr 1684 hinzugefügt wurde, thematisiert der Herausgeber in legitimatorischer Absicht den theatralen Sonderstatus des Stückes: DJeser Saal/ den wir itzund werden betreten/ wird ein Schau-Spiel ihren günstigen Augen vorstellen/ nicht zwar ein Spiel von sonderbarlicher Ergetzlichkeit einer anständigen anmuthigen Comoedien/ welche Augen und Ohren ihrer beliebigen Gegenwart wird annehmlich machen und belustigen können. Nein/ eine solche haben sie hier nicht zu gewarten. Unsere Intention und Vorhaben ist allein dahin gemeynt/ der Löblichen Kunst Buchdruckerey einen Gesellen/ ein Mitglied/ nach altem wolhergebrachten Teutschen Kunst-Gebrauch zu Ehren und Redlichkeit zu bringen/ anzunehmen und zu bestätigen. Bitten derowegen/ uns zu beehren/ und diesem unserm Actu mit gedultigem Zuschauen und Gehör biß zum Ende beyzuwohnen.26
Statt Verheißung von Augen- und Ohren-Lust die Bitte um geduldige Konzentration der Sinne – der Prolog macht dem Publikum klar, daß es nicht zum Spaß hier ist, sondern vor allem um seiner wichtigen Ritualzeugenschaft willen. Rists Depositio nimmt durch seine kommunikative Anlage eine Sonderstellung ein. Das Stück bewegt sich zwischen Drama und Initiationsritus, d. h. zwischen der Präsentation einer fiktionalen Spielhandlung und einem realen faktenschaffenden Ritual. Das Publikum fungiert nicht (nur) als bloßer Zuschauer einer erfundenen Welt, sondern auch als involvierte Gruppe von Zeugen bei einer Prüfung, deren Prüfling es kennt, denn die Rolle des Cornuten wird bei der Erstaufführung von dem jungen Johann Heinrich Stern ausgefüllt. Dieser spielt den Cornuten nicht nur, er ist in der Logik des Rituals der Cornut. Ähnliche Konstellationen sind im Theater der Frühen Neuzeit (insbesondere im höfischen Theater) bekanntermaßen keine Seltenheit. Zum einen kann die Grenze zwischen der Bühnensphäre und der Publikumssphäre aufgelöst werden, wenn etwa Figuren eines Schauspiels das Publikum oder einzelne Personen daraus im Rahmen eines spezifischen Anlasses direkt adressieren. Zum anderen können fiktionale Spielrahmen für Prüfungssituationen genutzt werden, wenn etwa – als Teil der Fürstenerziehung – Fürstenkinder vor den Augen des Hofes bestimmte Rollen in Trionfi und Balletten übernehmen. In den angeführten theatralen Dispositionen bilden Spielsphäre und Publikumssphäre eine kommunizierende Gemeinschaft. Die Anlage der Depositio weist im Gegensatz dazu einen fundamentalen Unterschied auf. Der Cornut alias sein Darsteller, erkannt als reale Person, muß zuallererst aus der Gemeinschaft aus-
26 Rist: Depositio 1714 (Anm. 13), S. 15.
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gestoßen sein, um schließlich in sie integriert werden zu können.27 Seine Hauptaufgabe ist es nicht, aktiv eine Prüfung zu bestehen, d. h. sich durch Handlungen zu beweisen, sondern passiv – als stinkendes, gehörntes Tierwesen ohne Namen – zum verfremdeten Lachobjekt des Publikums zu werden, um dann – nach seiner gewaltsamen Verwandlung – im Status erhöht und in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Das Publikum ist dazu da, die schließlich erreichte Erneuerung und Integration des Cornuten zu bestätigen; es kann – als Gruppe von Ritualzeugen – vor allem auch die Echtheit der Verwandlung bestätigen. Und diese Echtheit ist nicht zuletzt auch durch die Ohrfeigen und das brutale Herumgestoßen-Werden, d. h. durch jene im Spiel eingeschalteten Mißhandlungen verbürgt, die als reale zu erkennen sind. Der ambivalente Status der Person auf der Bühne, die Cornut genannt wird: ein Darsteller zu sein, der ein fiktionales Wesen verkörpert, und zugleich der allen Anwesenden bekannte Johann Heinrich Stern, der hier und jetzt als Objekt eines Rituals zum Gesellen gemacht wird – dieser besondere Status der Person zwischen theatraler Fiktion einerseits und ritueller Realität andererseits wird an einer zentralen Stelle der Handlung, nämlich am Übergang der Prüfungssequenz zur Depositionssequenz, ironisch reflektiert und für die gesamte Ritualgemeinschaft markiert. In seiner Bearbeitung fügt Rist in der Würfelspielszene eine Bemerkung des Cornuten ein: Soeben wurde der Geselle samt der Bank, auf der er sitzt, von Herrn Urian umgeworfen. Der Depositor befiehlt dem Cornuten, die Würfel zu werfen. Im Werfen klagt der Cornut: „Ach/ hätte doch das Spiel ein End!“28 Was auf der Ebene der Handlung auf das Würfelspiel und die damit verbundenen Mißhandlungen und Demütigungen bezogen werden kann, läßt sich zugleich als Wunschaussage über das agierte Freudenspiel als Ganzes verstehen. Der Geselle Johann Heinrich Stern tritt mit dem Wunsch, der actus möge zu Ende sein, für einen Moment aus seiner Rolle heraus und wird eben dadurch als das Ritualobjekt sichtbar, dem Geduld und Leidensfähigkeit abverlangt wird. Der Wunsch des Gesellen wird in Erfüllung gehen, freilich in einem dritten Wortsinn, den er nicht bedacht hat. Denn wo das Spiel endet, beginnt der Ernst, sprich die eigentliche Depositio cornuum – die der Depositor nun in Gang setzt mit den Worten: „Wir müssens schärffer fangen an“.29
27 Dabei folgt das Ritual der Geselleninitiation dem dreiteiligen Ablaufschema, das nach van Genneps klassischer Studie bei den Übergangsriten Geltung hat: 1. Trennungsphase, 2. Schwellen- bzw. Umwandlungsphase, 3. Angliederungsphase. Vgl. Arnold van Gennep: Übergangsriten (Les rites de passage). Aus dem Französischen von Klaus Schomburg und Sylvia M. SchomburgScherff. Mit einem Nachwort von Sylvia M. Schomburg-Scherff. Frankfurt a. M. u. a. 1999, S. 21. 28 Rist: Depositio 1714 (Anm. 13), S. 28. 29 Ebd.
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3 Der Autor als Depositor Als es darum ging, das Freudenspiel, das Rist auf Bitten der Familie Stern für die Gesellenweihe des Jahres 1654 verfaßt hatte, auch im Druck herauszubringen, stellte sich für den Autor das Problem, wie es zu begründen war, daß ein Akademiker und bekannter Dichter seine wertvolle Arbeitszeit für die Neufassung eines derb-komischen Handwerkerschauspiels aufgewendet hatte. Zur Legitimation wurde der Dramentext mit Paratexten umgeben, die das Lob der Buchdruckerkunst als der höchsten Kunst, sprich als des edelsten Handwerks anstimmen bzw. auf die Altehrwürdigkeit des Depositionsbrauches hinweisen. Das Vorredenlied thematisiert die Abhängigkeit aller Institutionen und der gesamten Wissenschaftskommunikation vom Buchdruck, mehr noch: Das Medium wird anthropologisch als Bedingung des Menschseins bestimmt: Daß Menschen können Menschen sein, Daß schafft die Drukker-Kunst allein.30
In der Widmung an die Familie Stern macht Rist Andeutungen, die ihn dem weiteren Feld der Druckkunst quasi einverleiben. Wenn er die Verhandlungen mit dem Korrektor der Sternschen Buchdruckerei über die Umarbeitung des Stückes schildert, setzt er sich implizit selbst als literarischen Korrektor. Wenn er die Bitte referiert, er möge „das gantze Werck/ von Anfang biß zum Ende/ in eine gar andre und neue Form giessen“,31 fällt ihm im konkreten Kontext quasi die Rolle des Schriftstellers als eines Schriftgießers zu. Und wenn er von Verächtern der edlen Buchdruckerei als „ungeschliffenen Esel[n]“32 spricht, so ist damit bereits seine Rolle als ‚Depositor auf zweiter Stufe‘ angedeutet, die auch in der Vorrede „An seinen gahr zu fleissigen Auffwahrter den verlogenen Buben, Meister Hämmerling“33 zur Sprache kommt. Es ist nicht entscheidbar, ob sich Rist in diesem Paratext, der in allen späteren Ausgaben des Freudenspiels weggelassen wurde, gegen einen konkreten Widersacher wendet oder ganz grundsätzlich gegen mißgünstige Poeten- und Amtskollegen. Dieser „Schatten“ jedenfalls,34 wie Rist den maskierten Gegner bezeichnet, werde gegen das Freudenspiel ins Feld führen:
30 Rist: Depositio 1655 (Ed. Gaedertz) (Anm. 5), S. [48]. 31 Rist: Depositio 1714 (Anm. 13), S. 4. 32 Ebd. 33 Rist: Depositio 1655 (Ed. Gaedertz) (Anm. 5), S. [44]. 34 Ebd.
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Sehet doch, was nun gutes aus Risten wird! Nun kan er einen ahrtigen Depositorem abgeben, nun wird Er auch Buchdrukkergesellen helffen mit machen: Vielleicht wird dieses auch mit in Seinem Käiserlichen Diplomate, Freiheits- oder Gnaden-Briefe, Krafft welches Jhme, nach deme Er zu einem Comite Palatino, oder Käiserlichem Pfaltz- und HoffGrafen allergnädigst ist erklähret und bestättiget, die Macht und Gewalt gegeben worden, daß er Doctores, Licentiatos, Magistros, Poeten, Baccalaureos könne und müge machen, setzen und ordnen, sein begriffen: […].35
Der imaginierte Spott dient dazu, ausgerechnet den Gegner das Faktum betonen zu lassen, daß der Poet, der 1644 mit der Dichterkrönung geehrt wurde, damit auch das akademische Promotionsrecht innehatte und in der Tat den Anspruch erheben konnte, aus eigener Macht als Ritualinstanz zu fungieren. Rist hebt denn auch in einer Auflistung seiner Amtsgeschäfte zuallererst die Einsetzungs- und Erhöhungsakte hervor: Jch setze, kröhne und ordne auch zu zeiten Käiserliche, gute Poeten, Jch mache Käiserliche Notarios, offene Schreiber und Richter, ich verleihe Wapen und Zeichen […].36
Das impliziert, so darf und soll man im Kontext hinzudenken, zugleich das Recht auf Durchführung der Deposition, die ihre Herkunft im akademischen Bereich hat, mit dem Rist verbunden ist. – Die Vorrede an „Meister Hämmerling“ mündet schließlich in die Drohung, daß dafern die Herrn Buchdrucker dich [d. h. den Lästerer] nur einmal recht unter ihre Presse kriegen, Sie dir deinen gifftigen NatternKopff dergestalt werden zudrücken und zerquetschen, daß du hinführo als ein Lahmer, ohnmächtiger Phantast, beydes sie und mich wol wirst zu frieden lassen müssen.37
Die Gewaltphantasie wirkt wie ein Echo der Brutalität, die im Freudenspiel gezeigt wird bzw. zur Anwendung kommt. Rist, der Depositor auf zweiter Stufe, schickt die Buchdrucker als Folterknechte aus.
35 Ebd. 36 Ebd. 37 Ebd., S. [46].
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4 Offizialisierung und Historisierung des Ritualformulars Rists Freudenspiel wurde für einen Zeitraum von rund hundert Jahren zum dominierenden Ritualformular für Buchdruckerdepositionen. Als dafür geeignet wird es bereits im Titel der Erstausgabe angepriesen: Freuden-Spiel: Welches bey Annehmung vnd Bestättigung eines Jungen Gesellen […] ohne einige Ärgernisse kan fürgestellet/ vermittelst/ welches auch künftiger Zeit/ Junge angehende Personen […] zu Buchdrukker-Gesellen können […] auffgenommen werden.38
Daß das Stück sich „ohne einige Ärgernisse“ aufführen lasse, verdankt sich nach Rists Auffassung wohl der spezifischen Ritualzensur, die er durchgeführt hat, d. h. insbesondere der Ausmusterung der Taufparodie in der Vorlage. Rist habe, so schreibt er in der Vorrede an „Meister Hämmerling“, alles dasjenige außgemustert und an die Seite gesetzet, was etwan Christlichen Ohren und Hertzen ärgerlich müchte fallen […].39
Das Indecorum der exzessiven Gewalt, das Rist aus dem Prätext übernimmt, gehört ganz offenbar nicht zu dem, woran ein Christ Anstoß nehmen und was einer Ritualrevision unterzogen werden müßte. Voraussetzung der weiten Verbreitung des Freudenspiels war dessen Aufnahme in die zeitgenössische typographische Fachliteratur. Sieben von insgesamt neun Drucken der Depositio erschienen als Anhang zu Druckerhandbüchern: Johann Ludwig Vietors und Jacob Redingers Neu-auffgesetztes Format-Büchlein (Frankfurt a. M. 1679), Daniel Michael Schmatz’ Neu-vorgestelltes […] FormatBuch (Sulzbach 1684), Samuel Strucks Neu-verfassetes […] Format-Buch (Lübeck/ Leipzig 1715), zwei Auflagen von Johann Heinrich Gottfried Ernestis Die wol-eingerichtete Buchdruckerey (Nürnberg 1721 und 1733), J. N. Tschernigs Neu-verbessertes […] Format-Buch (Lübeck/Leipzig 1724) und Christian Friedrich Geßners Der in der Buchdruckerei wohl unterrichtete Lehr-Junge (Leipzig 1743). In Redingers FormatBüchlein wird die Zusammengehörigkeit von Anweisungsliteratur und Ritualformular auch auf dem Kupfertitel (Abb. 2) ausgewiesen: Zwei Bildregister präsentieren die Tätigkeiten von Setzer und Drucker über einer Depositionsszenerie; das Brauchtum dient in der Disposition der Tafel quasi als Basis der Arbeitspraxis.
38 Rist: Depositio 1655 (Ed. Gaedertz) (Anm. 5), Titel 39 Rist: Depositio 1655 (Ed. Gaedertz) (Anm. 5), S. [45].
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Abb. 2: Buchdruckerwerkstatt und Depositionsszenerie. Kupfertitel in: Johann Ludwig Vietor (Verf.), Jacob Redinger (Bearb.): Neu-auffgesetztes Format-Büchlein. Frankfurt a. M. 1679 (Privatbesitz).
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Die Offenheit der Druckerhandbücher für die Erweiterung durch ein Depositionsspiel war dadurch bedingt, daß in ihnen ein historischer Selbstverständigungsdiskurs der Buchdruckerzunft seinen Platz finden konnte.40 So enthält etwa das Format-Buch von Struck eine Vorrede mit mediengeschichtlichen Passagen zu Schrift, Schriftträgern und Buchdruckkunst und zudem mit Ausführungen zur Herkunft der Buchdruckerdeposition.41 Ernestis Wol-eingerichtete Buchdruckerey beginnt mit einer historischen Galerie berühmter Buchdrucker und einer Geschichte des Nürnberger Buchdrucks.42 Rists Stück und das Medienlob der Paratexte, die es an sich band,43 boten sich für eine Verkoppelung mit den Handbüchern an. Die häufige Ergänzung der Druckerhandbücher durch Rists Freudenspiel zeigt, daß offenbar ein Desiderat bestand. Während die akademische Deposition bereits frühzeitig im Rahmen eines eigenen Diskurses codifiziert
40 Dieses besondere historische Bewußtsein vom eigenen Handwerk findet sich übrigens auch im Druck des Depositionsspiels aus der Feder des Buchdruckers Paul de Vise, angezeigt durch die frappierende Setzung der Jahreszahl im Kolophon: „CLXXXI.“ – „nach Erfindung der Buchdruckerey“ nämlich. Vgl. de Vise (Anm. 4), S. 113. 41 Vgl. [Samuel Struck:] Neu-verfassetes/ Auff der Löbl. Kunst Buchdruckerey Nützlich zu gebrauchendes Format-Buch/ Worinn nicht allein alle und jede bißhero übliche Formaten […]/ sondern viele andere/ welche etwan noch vorkommen möchten/ richtig verzeichnet; Dabey eines jeden Formats Breite und Länge/ und wie nach einigen Formaten zweyerley Gattungen/ auch nach allen und jeden die Hebräischen Formaten ausgeschossen werden können/ gezeiget wird. Deme beygefüget Etliche Orientalische Alphabeten, Griechische und Lateinische Abbreviaturen/ Medicinisch-Chymische Characteren und Apothecker-Gewicht; Abdruck einiger Schrifft-Proben/ Samt vier Taffeln/ worin eines jeden Bogens erste Colum-Zieffer nachzuschlagen und gleich zu finden ist/ Und Verzeichniß eines Griechischen u. Hebräischen Kastens; Nebst dem gebräuchlichen DEPOSITION-Büchlein in Nieder- und Ober-Sächsischer Sprache. Mit einer Vor-Rede/ vom Ursprung der Buchstaben/ Sprachen/ Schulen/ Pergament und Papier/ Jnsonderheit von Erfindung der Buchdrucker-Kunst Form-Schneiden und Kupffer-Stechen etc. Allen Ehrliebenden Kunst-Verwandten zu diensamer Nachricht in Druck ausgefertiget. Lübeck, Leipzig 1715, S. 3–70 (speziell zur Geschichte des Depositionsbrauchs: S. 63 f.). 42 Vgl. Johann Heinrich Gottfried Ernesti: Die Wol-eingerichtete Buchdruckerey, mit hundert und achtzehen Teutsch- Lateinisch- Griechisch- und Hebräischen Schrifften, vieler fremden Sprachen Alphabeten, musicalischen Noten, Calender-Zeichen, und Medicinischen Characteren, Jngleichen allen üblichen Formaten bestellet, und mit accurater Abbildung der Erfinder der löblichen Kunst, nebst einer summarischen Nachricht von den Buchdruckern in Nürnberg, ausgezieret. Am Ende ist das gebräuchliche DEPOSITIONS-Büchlein angefüget. Nürnberg 1721, fol. b 2r–h 1v. 43 Vgl. die diversen, je nach Ausgabe der Depositio unterschiedlich zusammengestellten Loblieder auf den Buchdruck und den langen aus Philipp von Zesens Lob der Buchdruckerkunst gezogenen Prolog, der in der zweiten Ausgabe von 1672 aufgenommen wird.
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war,44 sollten Handwerkerbräuche erst im 18. Jahrhundert auf breiter Basis aufgezeichnet werden.45 Zur ‚Autorität‘ der literarischen Supplementierung sei angemerkt: Das Ritualformular, das die Handbücher mit Rists Depositio Cornuti Typographici zur Verfügung stellten, war wohl nicht als völlig verbindlich in jedem Detail, aber doch als ‚offizielle‘ Ritualvorlage zu verstehen. Überliefert ist eine Handschrift von 1699, welche eine Buchdruckerdeposition in der Reyherschen Druckerei in Gotha dokumentiert.46 Der Text erweist sich als eine stark gekürzte Version des Ristschen Freudenspiels. Die individuelle Bearbeitung des Ritualformulars nach Maßgabe bestimmter Umstände und Bedürfnisse dürfte kein Einzelfall gewesen sein. Rists Freudenspiel füllte bezüglich der Buchdruckerdeposition eine ritualpragmatische Lücke. Die Erstausgabe der Depositio von 1655, ein ‚Gelegenheitsdruck‘ der Buchdruckerfamilie Stern, der im Kontext der Deposition eines Familienmitgliedes entstanden war, annonciert im Titel noch allein die Möglichkeit eines Nachspielens; mit dem Freudenspiel würden „auch künfftiger Zeit/ Junge angehende Personen nach Verfliessung Jhrer Lehr-Jahre/ zu Buchdrukker-Gesel-
44 Vgl. etwa Johannes Dinkel: De origine causis, typo et caeremoniis illius ritus, qui vulgo in scholis depositio appellatur. Magdeburg 1582; Wilhelm Weber: Außführliche Erzehlung/ wie es mir Wilhelm Weber zu Aldorff/ Jn der Deposition ergangen ist/ Anno 1636. den 29. Junij. [o. O.] 1637; ORATIONES DVAE, De RITV & MODO DEPOSITIONIS BEANORVM, Sive Demonstratio quae dam cur Tyrones & Novitii Studiosi antequam ad Dignitatem Academicam evehantur, Studiosorumque Privilegiorum & Juris participes fiant, deponendi & vexandi sint. Quibus in fine Germanica quaedam Depositoris Peroratio acceßit. & nunc denuo in lucem prodiit. Straßburg 1680; DEPOSITIONS-CEREMONIen/ Oder/ die auf Universitäten gewöhnliche Handleitung zum Reputirlichen Studenten-Leben. In: ERASMI ROTERDAMI CIVILITAS MORUM PUERILIUM, Latinis & Germanicis Quaestionibus in novum tenerae aetatis usum eleganter disposita; Das ist: Galante Höfligkeit/ Wodurch Fürnemlich die grünende Jugend für den politischen Augen der heutigen Welt sich also aufführen kan/ daß sie allenthalben beliebt und angenehm werde. Anitzo aufs neue durch Frag- und Antwort ins Hoch-teutsche übersetzet von M. A. S. Wobey noch ein Anhang von Depositions-Ceremonien, oder von der auf Universitäten gewöhnlichen Handleitung zum reputirlichen Studenten-Leben. Leipzig 1714, S. 143–192. 45 Vgl. Marian Füssel: Von der Visitation zur Feldforschung? Praktiken zeremonialwissenschaftlicher Informationsgewinnung in Friedrich Frieses Ceremonial-Politica der Künstler und Handwerker. In: Information in der Frühen Neuzeit. Status, Bestände, Strategien. Hg. von Arndt Brendecke, Markus Friedrich, Susanne Friedrich. Berlin, Münster 2008 (Pluralisierung & Autorität 16), S. 237–256. 46 Auszug aus der sonst üblichen DEPOSITION wie solche Bey Annehmung und Bestätigung eines Jungen-Gesellens, der die löbliche Kunst Buchdruckerey redlich erlernet, verrichtet wird. Eingerichtet im Jahre Christi 1699. In: Das Postulat der Buchdrucker. Abdruck einer älteren Original-Handschrift nebst einer Vorerinnerung. Frankfurt a. M. 1921, fol. [4r]–[11r].
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len können ernennet/ bestättiget/ an- und aufgenommen werden“.47 Die Gothaer Handschrift von 1699 weist sich bereits als „Auszug aus der sonst üblichen DEPOSITION“,48 d. h. als basierend auf einer althergebrachten Praxis aus. Man darf eine gattungsbedingte Dynamik der Offizialisierung des Textes als Ritualvorlage annehmen: Als Rists Depositio 1679 zum ersten Mal mit einem Druckerhandbuch verkoppelt wurde, startete diese Publikation einen fortlaufenden Wechsel von Historisierung und Zeremoniell-Aktualisierung. Im Kontext des Handbuchs war dem Text in besonderem Maße ein historischer Status zugewiesen, der zugleich eine Anciennität des Rituals suggerierte – eine nunmehr medial fokussierte Anciennität, die als würdige Eigenschaft der Zeremonie ein Fortschreiben der Tradition einforderte. So wie Handbücher die Tradition speisten, so speiste die Tradition die Anlage der Handbücher und verlangte ein Wieder- und WiederDrucken des Ritualformulars. Codifizierung und rituelle Praxis hielten sich für einige Zeit wechselseitig im Gange. Zu einem Ende mußte die Kanonisierung des Ritualformulars wohl spätestens in dem Moment kommen, in dem die historische Archivierung den Text als altes Brauchtum erscheinen lassen konnte: Im Anhang zu Geßners Der in der Buchdruckerei wohl unterrichtete Lehr-Junge von 1743 wird Rists Depositionsspiel zusammen mit einer anonymen „DEPOSITIO Jn ungebundener Rede“ abgedruckt,49 in der die Gewaltakte am Körper des Cornuten im Gegensatz zu Rists Fassung jeweils durch eine ausführliche sinnbildliche Moralisatio durch den Depositor ‚rationalisiert‘ werden. Im Vergleich mit der ‚aufgeklärten‘ Ritualversion erscheint Rists Depositio als veraltete Handwerkerposse. Die Stoßrichtung der Historisierung ändert sich. Als gängiges Ritualformular hat das Stück nun vielleicht ausgedient. Dafür ist es jetzt aber aufhebenswert als Dokument eines historischen Brauchtums, das auf eine lange Buchdrucker-Geschichte an sich verweist. Abbildungsnachweise Abb. 1: Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz – Abteilung Historische Drucke – Ng 8590. Abb. 2: Privatbesitz.
47 Rist: Depositio 1655 (Ed. Gaedertz) (Anm. 5), Titelblatt. 48 Postulat (Anm. 46), fol. [4r] (Titelblatt). 49 Vgl. Christian Friedrich Geßner: Der in der Buchdruckerei wohl unterrichtete Lehr-Junge Oder: bey der Löblichen Buchdruckerkunst Nöthige und nüzliche Anfangsgründe, Darinnen alles, was bey selbiger in Acht zu nehmen und zu lernen vorfällt, von einem Kunstverwandten mitgetheilet wird. Leipzig 1743, S. 44–62 des Anhangs.
Irmgard Scheitler
Die Rezeption der Lieder Rists im Schauspiel des 17. Jahrhunderts Die Verbreitung von Liedern pflegt man – mit gutem Recht – durch Nachweis ihrer Aufnahme in Sammelwerke zu belegen. So sucht etwa die Hymnologie nach jenen geistlichen Liedern Johann Rists, die in Gesangbücher mit ihren Melodien oder noch öfter ohne dieselben eingegangen sind. Freilich ist diese Weiterverbreitung zunächst papieren. Sie sagt viel über Achtung und Wertschätzung des Dichters und seiner Poesie durch die jeweiligen Herausgeber, aber zunächst noch nichts über die Popularität und den tatsächlichen praktischen Gebrauch der Gesänge aus. Klarer ist der Befund, fragt man nach einem performativen Kontext. Insofern ist für die Verwendung von Liedern sowie für die Bekanntheit ihrer Melodien und Texte ihr Auftreten in Schauspielen eine sehr gute Erkenntnisquelle.1 Sei es, dass sie dort als ganze übernommen oder dass sie in Kontrafaktur erscheinen: Beides setzt Bekanntheit voraus. Die Lieder müssen dem Autor eines Stückes, dem Regisseur und den Schauspielern sowie – jedenfalls bei Kontrafakturen – auch dem Publikum geläufig sein. Da die Mehrzahl der frühneuzeitlichen Schauspiele im Zusammenhang mit einer Aufführung gedruckt wurde, bedeutet die Aufnahme eines Liedes in ein Drama häufig sogar einen praktischen Rezeptionsbeleg. Im Folgenden soll es um geistliche und weltliche Lieder Rists aus den Liedersammlungen gehen. Anders als Heinrich Albert und die Königsberger hielt Rist Geistlich und Weltlich möglichst streng getrennt und führte nur im Neuen teutschen Parnass (1652) beide Gruppen vorsichtig zusammen. Die beiden weltlichen Liedsammlungen veröffentlichte der Wedeler Pastor nicht unter seinem bürgerlichen Namen.2 Er hatte sie zudem mit publikumswirksamen Titelkupfern geschmückt, die für einen Geistlichen wohl nicht so recht passend waren. Als
1 Vgl. Irmgard Scheitler: Musikwissen in der Frühen Neuzeit. In: Natur – Religion – Medien. Transformationen frühneuzeitlichen Wissens. Hg. von Thorsten Burkard, Markus Hundt, Steffen Martus, Steffen Ohlendorf, Claus-Michael Ort. Berlin 2013 (Diskursivierung von Wissen in der Frühen Neuzeit 2), S. 305–321. 2 Des Daphnis aus Cimbrien Galathee. Hamburg: Rebenlein 1642. Das Kupfer zeigt Daphnis mit seiner Liebsten hingelagert. Des Edlen Daphnis aus Cimbrien besungene Florabella. Mit gantz neuen und anmuhtigen Weisen ausgeziert und hervorgegeben von Peter Meiern. Hamburg: Rebenlein 1651. 2. Auflage: Anjetzo aber mit verschiedenen schönen Stückchen vermehret. Hamburg: Pfeiffer 1656. Das Titelkupfer zeigt Daphnis griechisch gekleidet und die Theorbe spielend auf dem Parnass. Anders verfuhr Rist mit den Gedichtsammlungen ohne Noten: Musa Teutonica.
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Irmgard Scheitler
Herausgeber schickte er Freunde vor. Im Falle von Galathee (1642) war dies ein gewisser „A. von S.“, der in der „Nachrede“ angibt, die Jugendwerke des Daphnis „hinter seinen Wissen und Wollen“ ans Licht gegeben zu haben; bei Florabella ließ Rist für die Erstveröffentlichung 1651 den Komponisten Peter Meier zeichnen, dessen Name in den weiteren Auflagen aber nicht mehr erscheint. Der wahre Autor ließ sich trotz dieser Vorkehrungen dennoch leicht erraten, denn das Pseudonym „Daphnis aus Cimbrien“, das bei Galathee und Florabella auf dem Titelblatt stand, war seit 1645 der Ordensname Rists bei den Nürnberger Pegnitzschäfern. Dass es unter den weltlichen Liedern ausgesprochene Publikumslieblinge gab, hat Werner Braun in seiner schönen und wertvollen Monographie Thöne und Melodeyen dargestellt.3 Diese Favoriten entstammen sämtlich der Galathee, nicht der späteren Sammlung.
1 „Ach Amaryllis hastu denn die Wälder gar verlassen“4 ist nicht durch ein Monogramm bei den Noten einem Komponisten zugewiesen und ist auch keine Originalkomposition. Vielmehr handelt es sich um die Textierung eines Tanzes, ein in der Barockzeit sehr häufiges Verfahren.5 Die Aufbereitung zur gewohnten Zweistimmigkeit hatte wohl Rists Schwager Hinrich Pape vorgenommen.6 Die Vorlage, ein „Ballett joly“, findet sich in Tabulaturbüchern des in Basel ansässigen Komponisten Samuel Mareschal aus den Jahren 1639 und 1640.7 Dass Mareschal das
Hamburg: Rebenlein 1634; Poetischer Lust-Garte. Hamburg: Rebenlein 1638 (hierin sind einzelne geistliche Gedichte enthalten); Poetischer Schauplatz. Hamburg: Werner 1646. 3 Werner Braun: Thöne und Melodeyen, Arien und Canzonetten. Zur Musik des deutschen Barockliedes. Tübingen 2004 (Frühe Neuzeit 100). 4 Diskantstimme: „sehr verlassen“. Die Noten fol. C 5v. 5 Braun (Anm. 3), S. 202; Alan Curtis: Nederlandse Klaviermuziek uit de 16e en 17e eeuw. Amsterdam 1961 (Monumenta Musica Neerlandica 3), S. XXXIV f. 6 Von ihm, dem „nicht unverständigen Organisten H. P. v. A“, stammen laut Nachrede die meisten Kompositionen der Galathee. Wilhelm Krabbe: Rist und das deutsche Lied. Ein Beitrag zur Geschichte der Vokalmusik des 17. Jahrhunderts. Bonn 1910, S. 147, möchte den von ihm hochgeschätzten Tonsatz zu „Amaryllis“ aus Qualitätsgründen Johann Schop zuschreiben. Dessen Tonsätze, insgesamt vier, sind aber mit dem Namenszeichen versehen. 7 Handschriftliche Orgeltabulatur, Psalmen Davids 1639 (S. 23); 1640 (S. 42). Eine Transkription bei Samuel Mareschal: Selected Works. Hg. von Jean-Marc Bonhôte. New York 1967 (Corpus of Early Keyboard Music 27), S. 1 f.
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Ballett anonym ließ, war im sittenstrengen Basel, in dem das Tanzen verpönt war, ratsam; wahrscheinlich ist er aber selbst der Schöpfer. Die Melodie machte eine unglaubliche Karriere.8 Die Frankfurter Praxis Pietatis Melica parodierte sie 1662 geistlich für „So wünsch ich nun ein gute Nacht“.9 Text und Weise gingen von diesem zentralen Gesangbuch in zahlreiche weitere über. Noch erstaunlicher ist die katholische Rezeption. Zwar nicht die ganze Melodie, aber doch eindeutig ihr zweiter Teil diente Georg Joseph 1657 für den Tonsatz von „O treuer Jesu der du bist“ in Johann Schefflers Heiliger Seelen-Lust.10 Wahrscheinlich zielt der Hinweis „Auff eine bekandte Melodey“ auf „Amaryllis“. Aber schon 1650, acht Jahre nach dem ersten Erscheinen von Galathee, hat der Münchner Dichterkomponist Johann Khuen die „Amaryllis“-Weise kontrafaziert. Er wendete sie trochäisch um und verzeichnete sie als „Die vierte Melodey“, auf die in seinem Erbauungsbuch Tabernacula Pastorum mehrere Lieder gesungen werden sollten.11 Khuen war insgesamt im Liederschatz seiner Zeit sehr bewandert; er gibt selbst an, die Melodien „maistenthails von weltlichen Gesängern genommen“ zu haben, weil die Bekanntheit das Singen der neuen Texte erleichtere.12 In der reformierten Schweiz wurde die mehrstimmige Privatmusik besonders gepflegt. 1656 erschien in Schaffhausen eine vierstimmige Bearbeitung der Galathee durch Kaspar Dietbold. Der Schweizer ergänzte den Titel um eine Reihe positiver Attribute, die den amourösen Charakter entschärfen und die Schäferin Galathee nun über allen Zweifel erhaben erscheinen lassen: Deß Daphnis auß Cymbrien Hirten Lieder und Gedichte, In Vierstimmen auffgesezet. An Die Aller-
8 Eine Neuvertonung des Ristschen Textes durch Christoph Antonius: Weltliche Liebes-Gesänge (1643) konnte sich hingegen nicht durchsetzten. Abdruck bei Braun (Anm. 3), S. 425. 9 Johannes Zahn: Die Melodien der deutschen evangelischen Kirchenlieder aus den Quellen geschöpft. 6 Bde. Gütersloh 1889‒1893. Hildesheim 1963, Nr. 4407. 10 Angelus Silesius (Johann Scheffler): Heilige Seelen-Lust/ Oder Geistliche Hirten-Lieder der in ihren Jesum verliebten Psyche. Breslau: Baumann 1657, II. Buch, Nr. 21; Heilige Seelen-Lust. Ndr. der fünfteiligen Ausgabe Breslau 1668. Hg. von Michael Fischer, Dominik Fugger. Kassel u. a. 2004, S. 191. 11 Hinweis bei Braun (Anm. 3), S. 239. Johannes Khuen: Tabernacula Pastorvm Die Geistliche Schäfferey/ Mit villerley Newen Gesänglein. Dem Hirten aller Hirten/ Zu sonderbaren Ehren/ Dem Lämblein Gottes/ welches hinwegk nimbt die Sünd der Welt. München: Straub 1650, Melodieanhang. Siehe das Digitalisat des Exemplars der Bayr. Staatsbibl. München [Asc. 4816] Scan 459–461. 12 Khuen (Anm. 11), Anmerkung am Ende des Registers, letztes Blatt. Zu Khuens Beziehungen zur Liedliteratur vgl. Bernd Genz: Johann Kuen. Eine Untersuchung zur süddeutschen geistlichen Lieddichtung im 17. Jahrhundert. Dissertation ms. Köln 1957, S. 196‒211.
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fortrefflichste Tugendreicheste und Hoechstbegaabete Schaefferin Galathea.13 Der Herausgeber hat dabei die meisten Lieder auch mit neuen Melodien versehen. Übernommen hat er nur sechs Singweisen aus der Ristschen Galathee, darunter „Amaryllis“ und „Daphnis ging“ und zwar mit der Begründung: „weil sie sonsten jederman bekant“ (Vorrede). Die Tonsätze lassen sich vokal und instrumental ausführen. Für die enorme Verbreitung der „Amaryllis“-Melodie spricht auch ihr Erscheinen in Tabulatur-Sammlungen in ganz Europa.14 Damit kehrte sie zur Instrumentalmusik zurück, aus der sie ursprünglich stammte. Wie bei Rist üblich sind in der Galathee die Kompositionen als Diskant und Bass notiert, wobei die Bässe textiert gedruckt werden. Dies ist im Generalbass zeitalter zunächst erstaunlich. Man erwartet einen Instrumentalbass, vielleicht sogar mit Bezifferung zum leichteren Auffinden der Harmonien. Rist bestand aber offenbar auf dieser Art der Notierung, vielleicht weil sie die Option einer vierstimmigen Realisierung offenhielt. Nun tut die Textierung dem Charakter eines Generalbassliedes und somit einer Aufführung durch eine Singstimme mit Akkordinstrument nicht von vornherein Abbruch. Aber „Amaryllis“ ist auch von seiner Faktur her kein gewöhnliches Generalbass-Sololied. Der sequenzierende Wechsel zwischen Unter- und Oberstimme im ersten Teil nach dem Doppelstrich (im B-Teil angesichts der Liedform A :‖: B A’ :‖:)15 geht weit über die Funktion einer harmonischen Stütze hinaus. Er ist ein Relikt der instrumentalen Herkunft der Komposition. Man könnte sich den Bass tatsächlich gesungen vorstellen, was aber der fiktiven Aufführungssituation bei Rist widerspricht. Allenfalls ist die Bassstimme als Echo auf die Klage der Figur des verliebten Myrtillo aufzufassen. Angesichts der überwältigenden Rezeption ist es nicht verwunderlich, wenn das Lied auch in Schauspielen eingesetzt wurde. 1677 verwendete eine postume Frankfurter Ausgabe von Rists Depositio Cornuti Typographici16 die Melodie für ein Lob der Buchdruckerei: „Die Mutter aller Künste frey“. Der Textdichter ist
13 Schaffhausen: Suter 1656. 14 Alan Curtis (Anm. 5), S. 62, Nr. XXXIX „Amerillis“ aus einem Leningrader Manuskript. Rists Lied war in verschiedenen Bearbeitungen für Tasteninstrument im Umlauf und auch in den Niederlanden sehr verbreitet. 15 Vgl. Braun (Anm. 3), S. 379. 16 Depositio Cornuti Typographici, Daß ist: Lust- oder Freuden-Spiel/ Welches bey Annehmung und Bestetigung eines Jungen Gesellen/ der die Edle Kunst der Buchdruckerey redlich hat außgelernet/ ohne einige Aergernüsse kan fürgestellet […] werden. Auff freundliches Ansuchen […] wolmeinentlich abgefasset Von Johann Rist. Zum Erstenmahl gedruckt in Lüneburg. Anjetzo aber zu der Niedersächsischen Rede die Hoch-Teutsche anbey gesetzt; und mit schönen Liedern vermehret/ und also wiederumb zum Druck befördert. Frankfurt a. M.: Drullmann 1677, fol. d 7v. Vgl. hierzu den Beitrag von Thomas Rahn in vorliegendem Band.
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unbekannt. Dem Depositionsspiel ist schon 1655 von Rist ein Lied zur freien Verwendung beigegeben worden („Lebe, schwebe güldne Kunst“). Diese „Zugabe“ wurde in späteren Auflagen vermehrt.17 Die „Amaryllis“-Melodie ist aber die einzige Anleihe, die man dabei bei Rist machte. Im Jahr 1652 wurde in der kleinen Grafschaft Liebenstein (heute Landkreis Heilbronn) Theater gespielt: Tugent und Laster Spiegel. Vorgestellet unter den Fünff Haupt-Tugenten/ und denen entgegen gesetzten Lastern.18 Initiator und Dichter war der ansonsten nicht mit schöner Literatur hervorgetretene Pfarrer Johann Bernhard Zehe. Dank der Angaben im Textdruck können wir uns ein ziemlich genaues Bild machen. Pfarrer Zehe führte das Stück „Mit der lieben Schuljugent/ theils auch mit etlichen erwachsenen und betagten Personen“ im Schloss zu Ehren und zum Vergnügen der Grundherren auf. Dass die gräfliche Familie die Aufführung unterstützte, geht daraus hervor, dass sie ihre jüngere Generation mitwirken ließ. Unter den Darstellern sind adelige und bürgerliche Kinder beiderlei Geschlechts, zwei Pfarrherren und die Magd des Autors, die mehrere Rollen übernahm und dabei als Sängerin eingesetzt wurde. 1652 bedeutet eine Frau auf der Bühne in einem protestantischen Ort Deutschlands bei einem öffentlichen Schauspiel eine wirkliche Rarität. Wie zu zeigen sein wird, gab es für dieses Kuriosum rein praktisch-musikalische Gründe. Pfarrer Zehes Anlage der Akte erinnert noch sehr an das 16. Jahrhundert, aber seine Intermedien sind durchaus modern. Nach dem ersten Akt, der die Nichtigkeit einer irdischen Gesinnung zeigt, „ist nachfolgender Schäfers Auffzug/ die Eytelkeit der thörichten Wollust/ und unordentlichen Liebe für Augen stellend/ eingeführt worden“. Der Dichter erfindet eine Schäferszene, die zeigen soll, wie die weltliche Liebe einen Menschen unglücklich machen kann. In ihr klagt der Schäfer Myrtillo um Amaryllis. Seine Freunde raten ihm, sich mit Singen aufzumuntern.19
17 Vgl. Irmgard Scheitler: Schauspielmusik. Funktion und Ästhetik im deutschsprachigen Drama der Frühen Neuzeit. Bd. I: Materialteil. Tutzing 2013 (Würzburger Beiträge zur Musikforschung 2.1), Nr. 859; 862‒865. 18 Tugent und Laster Spiegel. Vorgestellet unter den Fünff Haupt-Tugenten/ und denen entgegen gesetzten Lastern: In einer schönen unnd anmuthigen Comoedi vom wahren und falschen Christenthumb/ auch deren beyderley End und Außgang/ durch die zehen Jungfrawen Matth 25. vorgebildet. Welche also concipirt und gestellet/ auch offentlich gehalten worden den 1. und 2. Martii Anno 1652. zu Liebenstein in dem obern Schloß Saal: Durch Johann Bernhard Zehe/ Parrherrn [sic] daselbsten. Und jetzo auff vieler guthertzigen Christen Begeren in Truck gegeben. Heilbronn: Kraus 1652. Vgl. Scheitler: Schauspielmusik (Anm. 17), Nr. 1227. 19 Zehe (Anm. 18), S. 54 f.
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[Myrtillo:] so thut mir die Freundschafft und helffet mir singen ein Liedlein/ so ich in Abwesenheit meiner Amaryllis selber gedichtet habe und euch wol bekandt ist. Allhier ist auß dem Cimbrischen Daphni folgendes Liedlein gesungen worden. Ach Amaryllis hast du denn Die Wälder gar verlassen/ Die ich zum allerbesten kennt/ Und wandelst frembde Strassen/ Gedenkst du nicht/ O du mein Liecht/ Wie sehr Myrtillo klaget/ Und stetigs nach dir fraget. 2. Ob ich die Wisen schon bey Nacht/ In Trawrigkeit durchgehe/ So fühl ich dannoch deine Macht/ Ob ich dich gleich nicht sehe/ Du bist zwar dort/ an frembdem Ort/ Und kanst dannoch mich zwingen/ Ein Klaglied dir zusingen.
Zehe folgt ziemlich genau dem Ristschen Text. Abweichungen gibt es nur in den hier wiedergegebenen ersten beiden Strophen, in den sämtlichen folgenden aber nicht mehr. Eine grundsätzliche Differenz besteht im Zeilenumbruch: Galathee trennt, was hier als fünfte Zeile erscheint, gemäß dem Reim in zwei Zeilen. I,3 ist bei Zehe der Text von „kenn“ zu „kennt“ verderbt; I,7 ist „täglich“ zu „stetigs“ verändert; aber in II,1 hat Zehe den Druckfehler „Weisen“ bei Rist zu „Wisen“ verbessert. Vier Freunde singen das Lied in diesem Intermedium zusammen. Die entsprechenden Rollen hatten inne: Der Amtmann zu Liebenstein, der Präzeptor der Liebensteiner Grafenfamilie, die erwähnte Magd und ein Liebensteiner adeliger Knabe. Nehmen wir an, dass die Erwähnten Bass, Tenor, Alt und Sopran sangen, eine Hypothese, die durch den sonstigen musikalischen Einsatz der betreffenden Schauspieler unterstützt wird, so ergibt sich ein Gesangsquartett. Die bei Galathee gedruckten Noten ließen sich dafür als Außenstimmen verwenden. Um einen vierstimmigen Satz zu erhalten, musste man lediglich die Mittelstimmen einpassen, was für einen gewandten Musiker kein Problem darstellte. Rist selbst verweist im Vorbericht zu Das Friedejauchtzende Teutschland auf die Möglichkeit hin, selbst die dort als Generalbasslieder notierten Musikstücke „in Partitur“ zu bringen.20 Im Fall von „Amaryllis“ liegt diese mehrstimmige Ausführung umso
20 Das Friedejauchtzende Teutschland/ Welches/ Vermittelst eines neuen Schauspieles/ theils in ungebundener/ theils in gebundener Rede und anmuthigen Liederen Mit neuen/ von Herrn
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näher, als sie der Anlage der Komposition Rechnung trägt. Es ist gut möglich und auch wahrscheinlich, dass die Sänger durch Instrumente oder wenigstens ein Harmonieinstrument hinter der Bühne unterstützt wurden.
2 Der zweite ‚Evergreen‘ unter Rists weltlichen Gesängen war zweifellos „Daphnis gieng vor wenig Tagen über die begrünte Heid“, das erste Lied aus der Sammlung Galathee.21 Die anonyme Melodie wurde schon 1643 in Philipp von Zesens FrühlingsLust II,6 für „Ferdinand du großer Kaiser“ verwendet22 und irrlichtert noch weiter durch Zesens Werk.23 Da ebenso wie schon im Fall von „Amaryllis“ bei dem Tonsatz in Galathee das Namenskürzel eines Komponisten fehlt, wird die Einrichtung von Heinrich Pape stammen. Geistlich verwendet erschien die Melodie in der Frankfurter Praxis Pietatis Melica von 1662 mit dem Harsdörffer-Text „Wachet doch, erwacht ihr Schläfer“. Später wurde sie fast in allen Gesangbüchern für Rists „Jesu der du meine Seele“ verwendet.24 Mit dem Strophenmuster hatte Rist einen Glücksgriff getan. Er hatte es in seinen Himlischen Liedern (I,7) „erfunden“ und zwar für das erwähnte „Jesu der du meine Seele“. Das Modell machte eine ungeahnte Karriere.25 Weil es so verbreitet war, ist es schwierig zu beweisen, dass ein Liedtext in einem Schauspiel mit diesem Muster auch tatsächlich in der „Daphnis“-Melodie gesungen wurde. Eine sichere Verwendung liegt aber wieder in Zehes Tugent und Laster Spiegel vor.
Michael Jakobi/ bey der löblichen Stadt Lüneburg wolbesteltem Cantore und fürtrefflichem Musico, künst- und lieblich gesetzten Melodeien, Denen/ mit guter Ruhe und Frieden nunmehr wolbeseligten Teutschen Teutsch und treumeinentlich vorstellet. Nürnberg: Endter 1653, Vorbericht; Johann Rist: Sämtliche Werke. Hg. von Eberhard Mannack. Berlin, New York 1972, Bd. 2, S. 231, sowie Scheitler: Schauspielmusik (Anm. 17), Nr. 857. 21 Galathee (Anm. 2), fol. B 2v–3r. Im Diskant „über die begrünten Heid“. 22 Philipp von Zesen: FrühlingsLust oder Lob- und Liebes-Lieder. Hamburg 1642, II,1. Sämtliche Werke. Hg. von Ferdinand van Ingen. Bd. I, 1. Berlin, New York 1980 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts), S. 79 f. 23 Zur weiteren Verwendung der Melodie bei Zesen vgl. Braun (Anm. 3), S. 82. 24 Zahn (Anm. 9), Nr. 6804. 25 Allein die Einträge bei Zahn (Anm. 9), ab Nr. 6767 umfassen 73 Nummern. Vgl. ferner Horst J. Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen. 2. durchgesehene Auflage. Tübingen, Basel 1993 (Uni Taschenbücher 1732), Nr. 8.27.
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Dort halten im Intermedium nach dem dritten Akt drei Jungfrauen ein „holdseeliges Gespräch“ „von der reinen Liebe zu Christo.“ „Nach diesem Gespräch ist von diesen dreyen Jungfrawen folgendes Lied gesungen worden“:26 Als ich gar für wenig Tagen/ Schwebend in groß Trawrigkeit/ Bey mir selbst fieng anzuklagen/ Über mein sehr schweres Leyd/ So sich fand in meinem Hertzen/ Wegen grosser Liebes Schmertzen/ Da ward mir von Hertzen weh/ Weil ich meinen Freund nicht seh.
Daphnis gieng für wenig Tagen Ueber die begrünte Heid Heimlich fieng er an zuklagen Bei sich selbst sein schweres Leid Sang aus hochbetrübten Herzen Von den bittern Liebesschmerzen: Ach, daß ich dich nicht mehr seh’, Allerschönste Galathe!27
Die Gegenüberstellung demonstriert die Ähnlichkeit zwischen Kontrafaktur und Original, die sich v. a. auf die Reime bezieht. Die weiteren Strophen (insgesamt acht) sind nicht mehr von Rist abhängig, sondern folgen Motiven aus dem Hohenlied Salomos. So eigenständig der Bass in „Amaryllis“ ist, so wenig sanglich erscheint er in „Daphnis gieng“. Es handelt sich um einen Instrumentalbass. Das wird allein schon beim Blick auf den Intervallsprung F–g deutlich (Mitte des zweiten Systems), der zugleich den Ambitus der Stimme darstellt. Was Wunder, dass dieser Bass in Liebenstein nicht gesungen wurde. Die Besetzung bei Zehe ist nämlich: der Präzeptor (Tenor) und zwei Liebensteiner Adelskinder. Der dabei mögliche dreistimmige Gesang ließ sich leicht etwa durch ein tiefes Streichinstrument zur Vierstimmigkeit ergänzen, wobei wieder harmonische Unterstützung durch einen Generalbass anzunehmen ist.
3 In Rists Œuvre sind die geistlichen Lieder wesentlich stärker vertreten als die weltlichen. Entsprechend öfter kommen sie in zeitgenössischen Schauspielen vor. An der statistischen Spitze steht „O Trawrigkeit! O Hertzeleid“ aus den Himlischen Liedern,28 ein Gesang, der bekanntlich gar nicht vollständig Rists Eigentum
26 Zehe (Anm. 18), S. 151 f. 27 Galathee (Anm. 2), fol. B 2v–3r. 28 Johann Rist: Himmlische Lieder (1641/42). Kritisch hg. und kommentiert von Johann Anselm Steiger. Kritische Edition des Notentextes von Konrad Küster. Mit einer Einführung von Inge Mager. Berlin 2012, S. 37–41.
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ist. Es gereicht dem Dichter zur Ehre, dass er diesen Umstand auch ganz offen zugibt. In einer „Erinnerung an den Leser“ teilt er mit: „es ist mir der erste Verß dieses GrabLiedes benebenst seiner andächtigen Melodey ohne gefehr zu Handen kommen“.29 Die Quelle freilich gab Rist nicht an; vielleicht fürchtete er doch Schwierigkeiten. Es handelt sich, wie ich an anderer Stelle zu zeigen versuchte,30 mit hoher Wahrscheinlichkeit um Gregor Corners Groß Catolisch Gesangbuch.31 Aus diesem holte sich Rist nämlich noch eine Anregung.32 Rätselhaft freilich ist die Angabe in eben der „Erinnerung“, er habe „der anderen Verß gar nicht theil hafft werden können“ und deshalb die weiteren Strophen selbst gedichtet. Der weitere Text war wohl doch zu katholisch und hätte sich schon aus prosodischen Gründen nicht übernehmen lassen. Spees oberdeutsche Apokopierungen ließen sich nicht mit den Regeln des Opitz vereinbaren.33 „O Trawrigkeit“ ging vielleicht als erstes Lied Rists in den offiziellen Kirchengesang über.34 Wesentlich früher aber erschien es schon in sogenannten Kirchen- und Hausgesangbüchern. 1649 verband die Sammlung Geistliche Kirchen-Melodien mit dem Text eine neue Singweise von Johann Crüger, die in die Praxis Pietatis Melica überging.35 Sie verblieb in der Berliner Ausgabe bis wenigstens einschließlich der 12. Ausgabe von 1666.36 Die neue Singweise konnte sich aber keineswegs überall durchsetzen; die Frankfurter Ausgabe der Praxis Pietatis Melica 1668 rehabilitierte die Melodie aus den Himlischen Liedern für „O Trawrig-
29 Ebd., S. 41, Z. 1 f. 30 Irmgard Scheitler: Frömmigkeit ohne Konfessionsgrenzen. Spee-Rezeption in der protestantischen Erbauungsliteratur. In: Spee-Jahrbuch 13 (2006), S. 87–112, hier S. 107. Für die Übernahme aus Corner spricht auch die Melodiefassung. 31 David Gregor Corner: Groß Catolisch Gesangbuch Darin fast in die fünff hundert alte und neue Gesang und Ruff […]. Zusammen getragen und jezto aufs Neue Corrigirt. Nürnberg: Endters Erben 1631, S. 297. 32 Scheitler: Frömmigkeit (Anm. 30), S. 107. 33 Die beiden Textfassungen des Liedes bei Friedrich Spee: „Ausserlesene Catholische Geistliche Kirchengesäng“. Ein Arbeitsbuch. Hg. von Theo G. M. van Oorschot. Bei den Melodien unter Mitarbeit von Alexandra Herke. Sämtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. IV. Tübingen, Basel 2005, S. 357–360. 34 Vgl. Irmgard Scheitler: Das Geistliche Lied im deutschen Barock. Berlin 1982 (Schriften zur Literaturwissenschaft 3), S. 238. 35 Johann Crüger: Geistliche Kirchen-Melodien über die von Herrn D. Luthero Sel. und anderen vornehmen und Gelehrten Leuten/ auffgesetzte Geist- und Trost-reiche Gesänge und Psalmen. […] In vier Vocal- und zwey Instrumental-Stimmen als Violinen und Cornetten übersetzet. Leipzig, Berlin: Reichel, Ritzsch 1649, Nr. 63. Diese Melodie wurde auch noch für „O Angst und Leid, o Traurigkeit“ verwendet, Kirchen-Melodien Nr. 20. 36 Freundliche Auskunft von Herrn Dr. Hans-Otto Korth, Edition und Dokumentation von Praxis Pietatis Melica, Halle.
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keit“. Die alte Weise, die Rist von den Katholiken übernommen hatte, herrscht seither ziemlich unangefochten. Das Lied sollte in den deutschen Passionen und Passionsoratorien zur Grablegung Christi unverzichtbar werden.37 In diesem Zusammenhang finden wir es auch in Schauspielen. Eigentlich war die Darstellung der Leidensgeschichte Jesu auf dem Theater im Luthertum verpönt. Deshalb gibt es nur wenige einschlägige Werke. Zu ihnen gehört eine hochinteressante Görlitzer Aufführung von 1688, über die wir durch ein Schulprogramm und den handschriftlichen Spieltext informiert sind. Beides befindet sich in der Milichschen Sammlung in Breslau: Jesus in Leiden/ Jesus in Freuden/ durch ein mehrentheils Musicalisches Trauer- und Freuden-Spiel.38 Nach Jesu Tod (III,4) singt der ganze Chor „Jesus Begräbnis-Aria Consummatum est. Im Thon O Traurigkeit! O Hertzeleid etc.“ Das Lied mit dem Textbeginn „Es ist vollbracht“ lehnt sich strukturell an die pseudo-bernhardinische Membra Christi-Dichtung an: In zwölf Strophen werden die einzelnen Körperteile des toten Jesus betrauert. Es handelt sich um die einzige Rist-Kontrafaktur in dem ganzen, außerordentlich liederreichen Passions-Schauspiel. Dieser Umstand zeigt umso nachdrücklicher, wie obligatorisch das Lied zu Jesu Begräbnis war. 1676 wurde durch die Schule in Gera das Passionsspiel Die Verlohrne doch Neu-gebohrne Unschuld von Christian Zeidler aufgeführt, das der Autor selbst ein paar Jahre später unter verändertem Titel selbst edierte.39 Da sich eine direkte Darstellung der ehrwürdigen Vorgänge auf der Bühne verbietet, werden sie bei Zeidler durch Tableaux mouveants und Laterna Magica-Projektionen ersetzt. Dazu wird musiziert. So wird auch die Grablegung Jesu im zweiten Akt pantomimisch dargestellt. „Bey Verrichtung dieser Leichen-Sepultur wird Musiciret und von einem Knaben abgesungen: O Traurigkeit! O Hertzeleid!“40 Nähere Angaben zu dem Lied konnten wegbleiben; offenbar kannte es jeder. Dass aber zu dem
37 Vgl. die zahlreichen Belege bei Irmgard Scheitler: Deutschsprachige Oratorienlibretti. Von den Anfängen bis 1730. Paderborn 2005 (Beiträge zur Geschichte der Kirchenmusik 12), Kirchenliedregister S. 428. 38 Jesus in Leiden/ Jesus in Freuden/ durch ein mehrentheils Musicalisches Trauer- und Freuden-Spiel in gebundenen Reden/ am Karr-Freytage alten Calenders des 1688 Jahres/ Gott zu Ehren und schuldigstem Dancke/ von der Studirenden Jugend/ auf der Görlitzischen SchauBühne/ mit Bewilligung der Oberen/ und unter gewöhnl. Anführung Christian Funckens/ SchulRegirers/ offentlich vorgestellet. Scheitler: Schauspielmusik (Anm. 17), Nr. 305 f. 39 Die durch Adam Zwar Verderbete/ Doch in Christo Wieder ererbete Unschuld und Seeligkeit/ In einem Einfältig-abgefasseten Poetischen Schau-Spiel/ Ubungs-Weise kürtzlich entworffen von Christian Zeidlern/ Phil. Stud. von Ronnenburg. Saalfeld: Ritter 1680. Scheitler: Schauspielmusik (Anm. 17), Nr. 1229, Geraer Version ebd., Nr. 1230. 40 Ebd. II,8 S. 30.
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Gesang auch Instrumentalmusik erklang, entnimmt man dem Ausdruck: „wird Musiciret“. Genauere Angaben macht hierzu die Geraer Edition des gleichen Schauspiels: „Bey Verrichtung dieser Leich-Bestattung wird mit Violijammen musiciret/ und von einem Discantisten gesungen“ [nämlich O Traurigkeit …].41 Eine dritte, handschriftliche Quelle der dramatischen Passion Zeidlers führt an dieser Stelle das Ristsche Lied mit allen acht Strophen an.42 Der Singknabe trug es als Generalbass-Sololied vor; die Gamben, deren Verwendung zur Unterstützung trauriger Affekte zeittypisch ist, spielten im Ritornell oder auch zum Vortrag der Strophen als obligate Instrumente. Zwei weitere Schauspiele setzen die Melodie von „O Trawrigkeit“ auch außerhalb von Passionen ein, um Angst und Not auszudrücken. Der Zittauer Rektor Christian Hoffmann ließ 1710 aufführen: Das Beste und Köstlichste der ietzigen Zeit/ Das ist: Der Krieg und Sieg Der Gläubigen Hoffnung Über Die knechtische und sündliche Furcht für künfftigen Dingen.43 Nachdem im ersten Akt die Ängste verschiedener Personen vor Schrecknissen wie Pest, Krieg, Hunger und Glaubensverlust dargestellt worden waren, wird angekündigt: „Das Chor exprimiret dieser furchtsamen Hertzen ängstliche Passiones durch folgendes Lied.“ O Seelen-Noth! Wir sind halb todt! Wir müssen doch verderben/ und ohn alle Hülff und Trost in dem Jammer sterben.
Es war nicht nötig anzugeben, auf welche Melodie die vier Strophen dieser Zwischenaktmusik zu singen seien. Das unverwechselbare Strophenmuster und der festgefügte Verwendungszusammenhang von „O Trawrigkeit“ mit Jesu Grablegung bewirkten eine Seman-
41 [Christian Zeidler:] Die Verlohrne doch Neu-gebohrne Unschuld/ Zu gottseligen Andencken des Hochverdienstlichen Leidens/ Sterbens und siegreichen Auferstehung Jesu Christi/ In einer Geistlichen Comödie vorgestellet und Auf Begehren zum Druck befördert durch M. Johann Caspar Zopfen/ des Hochgräfl. Gymnasii zu Gera Conrectorem. Gera: Müller 1676. Scheitler: Schauspielmusik (Anm. 17), Nr. 1230, II,7 S. 37. 42 Die durch Adam zwar verderbete doch in Christo wieder ererbete Unschuldt und Seeligkeit in Einem einfältig abgefaßten Schauspiel übungsweise kürtzlich entworffen von Christian Zeidlern Bon. Art. Cult. Saalfeld 1680. Ms. Unpaginiert. Landesbibliothek Coburg: MS Cas 80. 43 Das Beste und Köstlichste der ietzigen Zeit/ Das ist: Der Krieg und Sieg Der Gläubigen Hoffnung Über Die knechtische und sündliche Furcht für künfftigen Dingen/ Wird in einem Actu Dramatico Von Der studirenden Jugend im Zittauischen Gymnasio Anno 1710. den 15. Septbr. Nach 4. Uhr vorgestellet […]. Zittau: Hartmann. Scheitler: Schauspielmusik (Anm. 17), Nr. 511 f.
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tisierung der Melodie und des Text-Incipit. Ohne viele erklärende Worte stellte sich ein metaphorischer Bezug zu Leid und Tod, aber auch noch genauer zu Jesu Passion her. Dies beobachten wir in Christian Hallmanns Liberata von 1699. Kurz nach dem Martyrium der Hauptfigur wird eine Kontrafaktur von „O Trawrigkeit! O Hertzeleid“ durch den Chor der Streitenden Kirche gesungen. Damit verdeutlicht Hallmann die Parallele zwischen dem Martyrium Liberatas und der Passion Jesu.44 Nachdem Hallmann schon für den Auftritt des Chors eine „lamentirliche Musik“ fordert, muss es sich dabei um ein Anfangsritornell oder eine Sinfonia zum Lied handeln. Auch die bei Zeidler erwähnten Gamben spielten wohl schon zur Einleitung des Gesanges. Nun ist aber ein Ritornell bei Rist nicht notiert. Wir müssen den improvisations- und satztechnisch erprobten Musikern der Frühen Neuzeit die Fähigkeit zuerkennen, instrumentale Vor-, Zwischen- oder Nachspiele aus der Melodie heraus zu entwickeln. Freilich könnte man auch zu einer der vorhandenen Kompositionen gegriffen haben, die bereits ausgeschriebene Ritornelle besaßen, sei es die von Samuel Capricornus (1660) mit Ritornellen für vier Gamben45 oder die von Christian Geist mit zwei Gamben.46 Wiederum sind also in diesen Stücken die auch im Schauspiel geforderten Violen mit ihrem besonders weichen Ton eingesetzt.
44 Die Unüberwindliche Keuschheit Oder Die Großmüthige Prinzeßin Liberata, Von Johann Christian Hallmann/ Juris-Consulto, Erfundenes Und In Hochteutscher Poësie Gesetztes TrauerSpiel. Breslau: Baumann, Jancke 1700; Johann Christian Hallmann. Sämtliche Werke. Hg. von Gerhard Spellerberg. Bd. 2. Berlin 1980 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts), S. 348, sowie Scheitler: Schauspielmusik (Anm. 17), Nr. 428 f. Das siebenstrophige Lied ist eine Initialkontrafaktur, die nur die erste Zeile mit Rists Lied gemeinsam hat. Die Bezeichnung „Chor der Streitenden Kirche“ sagt nichts über die Ausführung aus; es kann sich genauso gut um ein Sololied gehandelt haben, da die Bezeichnung „Chor“ einfach für Zwischenakt steht. Vgl. Scheitler: Schauspielmusik (Anm. 17). Bd. 2. Darstellungsteil, Kap. Zwischenakt. Im Druck. 45 Samuel Capricornus: Zwey Lieder von dem Leyden und Tode Jesu. In 6. Stücke getheilet/ und mit 2. Stimmen/ wie auch 4. Violen (welche doch nach belieben können außgelassen werden) auf besondere Concerten Art gesetzt. Nürnberg: Gerhard 1660, Nr. 2. Capricornus hat zwar die Lied-Strophen selbstständig behandelt und durchkomponiert, aber seine Ritornelle hätten sich verwenden lassen. 46 Christian Geist: Da nahmen sie den Leichnam Jesu. Kirchenkonzert für SemiCantus (Tenor oder Bassetto), zwei Gamben und Basso continuo. Sammlung Düben, Uppsala, Universitätsbibliothek: Vok.mus.ihs. 26:8. RISM ID no: 190008778.
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4 Die meisten anderen geistlichen Lieder Rists tauchen in Schauspielen nur in Einzelfällen auf. „O Ewigkeit du DonnerWort“ (Himlische Lieder IV,9), obgleich im 18. Jahrhundert eines der am meisten rezipierten Lieder in den Gesangbüchern von Hamburg, Lübeck und Lüneburg,47 wird im 17. Jahrhundert in Schauspielen gar nicht verwendet. Erst im Reformations-Jubeljahr 1717 setzte es der Zittauer Rektor Johann Christoph Wentzel in seinem Weihnachtsspiel für die Anfangsszene ein, dort freilich mit durchschlagender Wirkung: Der Sünder hört den Gesang der Strophe IX „Ach Gott wie bist du so gerecht“, der hinter der Bühne, sozusagen aus dem Off erklingt, und erschaudert bis in Mark. Er ändert sein Leben, macht aber, da ohne Einsicht in die reformatorische Rechtfertigungslehre, mit Selbstgeißelung und guten Werken alles falsch.48 Ein Rist-Verehrer war offenbar der Neuruppiner Rektor Christian Rose. Für sein ausgedehntes Weihnachtsspiel Theophania (1647) hatte er einen großen Bedarf an Liedern, die er den Figuren der biblischen Geschichte in den Mund legte. Der Gesang wurde in der Regel von einem Generalbass begleitet; zusätzlich fordert Rose häufig vorhergehende und nachfolgende Instrumentalmusik. Aus Rists Sammlung Himlische Lieder, die erst 1642 vollständig erschienen war, übernahm Rose mit vollem Text „Ich wil den Herren ewig loben“ (II,10) und ließ es Zacharias singen, der das Lied nach den Lobgesängen von Maria und Elisabeth bei der Heimsuchung anstimmte. Die Eltern des zwölfjährigen Jesus aber verkürzten sich die Heimreise von Jerusalem mit „Ermuntre dich mein schwacher Geist“ (Himlische Lieder I,1).49 1648 bezog Rose für sein Schauspiel Holofern nicht nur sämtliche Zwischenspiele aus Rists Perseus, sondern ließ für Judiths Festzug auch „Spielet auff und singt dem Herren“ aus den Himlischen Liedern (II,6) mit Text und Melodie abdrucken.50
47 Vgl. den Beitrag von Ada Kadelbach in diesem Band. 48 Jesus Der Anfang und das Ende des Evangelischen Jubel-Jahres/ Wird/ mit Gott An statt einer Christlichen Vorbereitung Zum Heiligen Weyhnacht-Feste/ Den 22. Dec. dieses zu Ende eilenden 1717ten Jahres In einem gottseeligen Dramate vorgestellet/ Und zu solcher Andacht Alle hohe Patroni […] eingeladen von Joh. Christ. Wentzeln/ D. Gymn. Direct. Zittau: Michael Hartmann o. J.; Scheitler: Schauspielmusik (Anm. 17), Nr. 1200. 49 S. Theophania Rhetoricè disponiret, Schrifftmässig außgeführet Und In einem new- sehr anmutig- Fünff-fachen Actu mit gutem Nutze öffentlich vorgestellet Zu Newen Ruppin/ Im Jahr/ nach Christi Geburt 1646. Berlin: Runge 1647, S. 41; 237; Scheitler: Schauspielmusik (Anm. 17), Nr. 882. 50 Holofern/ Aus heiliger Schrifft Anweisung/ Allen/ des Teutsch-Landes/ Frieden-Störern und Blut-gierigen Kriegern/ In einem lustigen Schau-Spiel/ Zur andern Probe der Rhetorischen
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Judith gantz herrlich geschmücket […] und sind umb derselben mehr Jungfrawen/ die mit Fr. Judith ihr Triumph-Lied singen/ aus des Johann Risten Andern-Zehn; Welches am Ende dieses Werckleins ist angefüeget!
Damit war Rose ein früherer Mediator von Rists Himlischen Liedern als jedes Gesangbuch. „Spielet auff und singt dem Herren“ wurde ohnedies nur ganz selten aufgenommen,51 ebenso wie „Ich will den Herren ewig loben“52; „Ermuntre dich“ hat sich erst 1648, also ein Jahr nach Roses Theophania, in der Umbildung durch Johann Crüger durchgesetzt.53 „Werde munter mein Gemüte“ (Himlische Lieder III,8) wurde insbesondere durch die Aufnahme in die Berliner und Frankfurter Praxis Pietatis Melica-Reihen mit ihren zahlreichen Auflagen sehr bekannt.54 Die Paradoxie zwischen dem Incipit, das zur Wachheit auffordert und der Bestimmung des Gesamttextes als Abendlied vor dem Schlafengehen schlägt auch bei der Schauspielverwendung durch. In dem schönen und liederreichen Christ-rühmenden Schau-Spiel (1668) des nicht näher bekannten Johann Rudolph Karst von Frankfurt singen die Heiligen Drei Könige „vor dem Kindgen stehend“ eine Kontrafaktur, bevor sie sich wieder auf den Weg machen. Wenn es zur Ausführung heißt „darunter freudig kan gespielet werden“, so sind mitgehende Instrumente und/oder Ritornelle gemeint.55
Mutter-Spraache vorgestellet! In welchem/ (nebst vielen wol-merklichen Lehr-Puncten und Seufftzerlein/ die in bedrangten Zeiten zugebrauchen) auch etzlich-anmutige Concerten/ von 3. Stimmen/ sampt einem Basso Continuo/ sein mit-einverleibet/ so dem Wercke gleichsam eine Seele geben! Hamburg: Rebenlein 1648, S. 419; 428–433; Scheitler: Schauspielmusik (Anm. 17), Nr. 883. 51 Zahn (Anm. 9), Nr. 3686. 52 Ebd., Nr. 6077. 53 Ebd., Nr. 5741a; 5741b. 54 Ebd., Nr. 6551a. Kleine Veränderung der ursprünglichen Melodie durch Johann Crüger, Zahn (Anm. 9), Nr. 6551b. Das Lied gehört zugleich zu den am meisten rezipierten Liedern in den Gesangbüchern von Hamburg, Lübeck und Lüneburg. Vgl. den Beitrag von Ada Kadelbach in diesem Band. 55 Christ-rühmendes Schau-Spiel/ Darinnen: 1. Die huldreiche Verkündigung […]. II. Die Himmelfreudige Bottschafft von der […] Wunder-Geburt […] an die arme Schaaf-Hirten auf dem Bethlehemitischen Feld. III. Die Lob-Würdige […] Erscheinung der Morgenländischen Weisen. IV. Das Erbärmliche Blutbad/ das über die […] unschuldige Bethlehemitische Knäblein ergangen. V. Der grausame […] Höllen-Gang/ den der […] unsinnige tolle Herodes endliche wohlverdient genommen. In anmuthiger Poesie gespielet, besungen und vorgestellet Durch Joh. Rudolph Karsten von Franckfurt am Mayn. Frankfurt a. M.: Hummen 1668, Akt III, S. 41; Scheitler: Schauspielmusik (Anm. 17), Nr. 544.
Die Rezeption der Lieder Rists im Schauspiel des 17. Jahrhunderts
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Das Lied war so verbreitet, dass ich nicht zögere, es für eine Ulmer Schulaufführung der Geschichte von Elias in Anspruch zu nehmen.56 Der Autor nennt seinen Namen nicht. Vermutlich war er ein Schulmann am Ulmer Gymnasium. Jedenfalls beweist er in dem Stück an mehreren Stellen seinen Humor. Der jüdische König Ahab wird im ersten Akt durch eine Offenbarung vor dem verderblichen Götzendienst seiner Gemahlin gewarnt. Wie wenig ernst Ahab seine Situation nimmt, zeigt, dass er sorglos in seinem „Cabinet“ schläft. Dabei aber ruft ihm ein „Engel singend in den Wolcken“ zu: Jetzt ist es nicht Zeit zu schlaffen. König Ahab wache du.57
Das vierstrophige Lied des himmlischen Warners folgt dem Strophenmuster von „Werde munter mein Gemüte“. Es wäre also eine launige und zugleich geistreiche Kombination, den Text auf die Melodie singen zu lassen, deren Ursprungstext sicher vielen Zuhörern bekannt war. Das Schlafen Ahabs hat hier zugleich die metaphorische Bedeutung des Sündenschlafes, denn nach dem Lied des Engels kommt der Teufel und flüstert Ahab ein, er solle weiterschlafen.
5 Vermutlich in Hamburg entstand das durch und durch satirische und skurrile Alamodisch Technologische Interim, das zum Schluss der Betrachtungen über Ristsche Lieder auf der Bühne noch einen ganz neuen Akzent setzt.58 Der außer-
56 Der wunder-thätige und gen Himmel fahrende Elias/ in einem öffentlichen Schau-Spiel/ von der dess löbl. Ulmischen Gymnasii Schul-Jugend/ anno 1680 den 19. Aprilis vorgestellet. Gedruckt im Jahr 1680; Scheitler: Schauspielmusik (Anm. 17), Nr. 1340. Aufführung unter Konrektor Eberhard Rudolf Roth. 57 Ebd., I,5 S. 21. 58 Alamodisch Technologisches Interim Oder: Des Ungeistlichen Geistlichen Statistisch Scheinheiliges Schaffskleid/ mit begierigem Fuchs- und Wolffspeltze/ an statt des rechten Futters façoniret/ und/ gleich dem Pedantischen imaginations und Hasenfälle durch die Satyram abgezogen. Ihrer Feindin der Superstitiosen Schein-reverentz, zum Possen entdecket/ und offentlich auf dem Schauplatze/ gleich einer Sisamnischen Warnungs-Haut/ gezeiget. Sampt angehencktem Possenspiele/ Der Viesirliche Exorcist, als/ fleischlicher Geister/ nicht spiritualer Außtreiber/ genandt. Rappersweil: Liebler 1675 [Verlagsort und Verleger vermutlich fingiert]; Scheitler: Schauspielmusik (Anm. 17), Nr. 1366.
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ordentlich belesene anonyme Autor59 macht sich einen Spaß daraus, bekannte und weniger bekannte Kirchenliedmelodien für seine absurden und ziemlich weltlichen Reime zu kontrafazieren. Die Melodien gibt er mitsamt ihrem Fundort penibel an. Von Rist verwendet er: „Werde munter mein Gemüte“ sowie „Gott/ der du den Klooß der Erden“ und „Wie lieblich ist dein Nam O Gott“. Die beiden letzten aus den Neuen Himlischen Liedern (I,9; III,6)60 gingen nicht in Gesangbuch und Kirchenlied ein. Für eine Aufführung musste der Regisseur also das Liederbuch Rists zur Hand haben und am besten vor einem Publikum spielen, das sogar diese seltenen Gesänge des berühmten Pastors kannte, um die Parodien goutieren zu können. In Hamburg war das vielleicht sogar möglich. Die Lieder werden in der angegebenen Reihenfolge nach den drei Akten des Stückes gesungen. Der Verfasser hat die Chöre seines Stückes nach Art der allegorischen Reyen eingerichtet. Er war nicht nur mit der zeitgenössischen Liedliteratur vertraut, sondern ahmte in dieser Hinsicht offensichtlich Dramen bekannter Autoren wie Lohenstein nach. In den Chören lässt er jeweils zwei antagonistische Personifikationen auftreten, eine Tugend und ein Laster, „Hoffart“ und „Demuth“, „Geitz“ und „Freygebigkeit“, „Weißheit“ und „Eigensinnigkeit“. Die allegorische Bedeutung dieser Figuren wird aber durch die Texte konterkariert; sie nämlich sind ziemlich wüst und wirken auch durch ihre metrische Verrücktheit, z. B. absurde Enjambements und Verstöße gegen die natürliche Wortbetonung, lächerlich. Zu dieser sprachlichen Pointierung könnte nun eine zwar nicht beweisbare, aber naheliegende musikalische kommen. Die genannten Lieder sind, wie bei Rist üblich, in Diskant und Bass textiert. Nehmen wir an, die Figuren sangen sie in der Art, wie es für das Zwischenspiel im dritten Akt angegeben ist. Dort reden Engel und Teufel auf eine schlafende Figur ein und singen auf die Melodie von Heinrich Alberts „Ich steh in Angst und Pein“. Zur Ausführung heißt es: „Singen beyde/ der Engel den Discant/ Teuffel den Baß“.61 Wofern nun bei den Zwischenliedern auch die Tugend den Diskant, das Laster aber den Bass gesungen hätte, so hätte man einen sehr erheiternden Effekt erzielt. Ausgewählt sind nämlich just solche Lieder, deren Bassstimmen sehr unsanglich sind.
59 Vgl. die anderen, ebenfalls sehr witzigen Stücke des Autors, Scheitler: Schauspielmusik (Anm. 17), Nr. 1367; 1427; 1428; 1433; 1434. 60 Johann Rist: Neuer Himlischer Lieder Sonderbahres Buch. Lüneburg: Stern 1651. 61 Alamodisch Technologisches Interim (Anm. 58), Akt III S. 362 Zwischenspiel. Heinrich Albert: Arien. Hg. von Eduard Bernoulli. In Neuauflage hg. u. kritisch revidiert von Hans Joachim Moser. 2 Bde. Wiesbaden, Graz 1968 (Denkmäler Deutscher Tonkunst 12 f.), IV,5A und B. Die Fassung A ist als Generalbass-Sololied notiert, die Fassung B als leicht figurierter fünfstimmiger Satz. Ein Vortrag allein der Außenstimmen hat auch hier einen widrigen Effekt.
Die Rezeption der Lieder Rists im Schauspiel des 17. Jahrhunderts
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Der Bass von „Werde munter mein Gemüte“ zeigt schon durch die (wiewohl sehr sparsame) Bezifferung durch den Komponisten Johann Schop an, dass die Stimme als Generalbass gedacht war.62 Entsprechend wenig Freude macht sie einem Sänger. Mit ihren zwei Achtelnoten im Auftakt, den weiten Intervallsprüngen und ihrem Abtauchen bis zum D ist sie nicht sanglich. „Gott der du den Klooß der Erden“63 hat keinen bezifferten Bass, aber die Sprünge sind unbequem und der Ambitus geht über eine Duodezim. Wahrscheinlich handelt es sich bei dem Tonsatz mit seinem wiegenden Rhythmus um die Adaptation eines Tanzliedes. Die Basslinie von „Wie lieblich ist dein Nam“ ist an einer einzigen Stelle beziffert.64 Die Sprünge sind erträglich, aber die Lage ist für einen Bassisten ungemütlich hoch, denn die Stimme geht bis zum b. Der Autor des Alamodisch Technologischen Interims war ein Spaßvogel. Die von ihm gewählten Lieder eignen sich bestimmt nicht zum Singen der Bassstimme. Vielleicht also waren seine Parodien nicht nur prosodisch verrückt, sondern auch noch musikalisch bewusst unsachgemäß. Dabei hätte er sich die altmodische Eigenart Rists zu Nutze machen können, die Bässe textiert drucken zu lassen.
6 Überblickt man die Verwendung Ristscher Lieder im Schauspiel des 17. Jahrhunderts, so ergibt sich für einen Quotation-Index ein eindeutiges Bild: Die Favoriten entstammen den beiden frühen Sammlungen, Galathee und Himlische Lieder, und heißen „Ach Amaryllis“ und „O Trawrigkeit! O Hertzeleid“. Die beiden Lieder scheinen auch sonst zu den beliebtesten zu gehören. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass sie beide nicht recht original sind: Das eine beruht auf einer vorgefundenen Tanzweise, das andere stammt gar mit Melodie und Text der ersten Strophe aus einer katholischen Quelle. Ob nun in einem Schauspiel ein Lied des Wedeler Pastors direkt übernommen oder, was wesentlich häufiger vorkam, kontrafaziert wurde: Der Einsatz von Rists Liedern oder Melodien hat in den Schauspielen nichts zu tun mit Zeitfüllung und Ornamentierung, sondern dient jeweils und oft sogar unersetzbar der Informationsvergabe.
62 Rist: Himmlische Lieder (Anm. 28), S. 238. 63 Rist: Neuer Himlischer Lieder Sonderbahres Buch (Anm. 60), S. 55. Keine Komponistenangabe. 64 Ebd., S. 171. Komponistenangabe: Jacob Kortkamp.
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Das Lied als solches oder seine Kontrafaktur kann im Mund von dramatischen Personen zur Replik werden – siehe das „Amaryllis“-Lied bei Zehe oder die Verwendung geistlicher Gesänge bei Rose. Die Melodie kann durch ihre Bekanntheit die Erläuterung zum richtigen Verständnis eines Dramentextes liefern, wie bei der Verwendung der Weise von „O Trawrigkeit“ für das erwähnte Märtyrerspiel Hallmanns. Die semantisch aufgeladene Melodie schlägt, ohne weitere Erklärung, eine Assoziationsbrücke zwischen dem gewaltsamen Tod der Heldin Liberata und Jesu Passion. In Ausnahmefällen kann allein schon das Strophenmuster als Hinweis auf den Einsatz einer sehr bekannten Melodie genügen. Dies gilt vornehmlich für sehr auffallende Muster wie gerade „O Trawrigkeit“ oder auch dann, wenn sich die Situationen des Originaltextes und der Kontrafaktur entsprechen – wie im Beispiel König Ahabs, der mit „Werde munter mein Gemüte“ aufgerüttelt werden soll. Schließlich eröffnet die für Rist typische Notierung der Lieder noch ganz eigene Aspekte. Die Noten sind eben nicht so abzusingen wie sie stehen; dies doch zu tun, zeugt offenbar von parodistisch-ironischer Absicht. Liest man das Notenbild sinngemäß und nicht ‚wörtlich‘, so zielt es auf eine Darbietung als Generalbass-Sololied oder allenfalls als mehrstimmiges Lied. Dass bei Verwendung in Schauspielen sehr häufig Ritornelle gefordert werden, wiewohl sie nicht ausgeschrieben sind, ist ein Phänomen, das wir in Dramen auf Schritt und Tritt antreffen. Offenbar war es ganz selbstverständlich, Ritornelle aus dem musikalischen Material heraus zu entwickeln oder in freier Kombinatorik zu erfinden. Eine historisch informierte Aufführungspraxis wird dies mit bedenken.
Rist im theologischen Kontext
Sven Grosse
Sterbens-Kunst Eine Anleitung aus den Himmlischen Liedern des Johann Rist
1 Hinführung Rists Himmlische Lieder (1641/42) sind kein stringent gegliedertes Werk. Doch findet sich jedenfalls ein Lied, das doch recht passend an seiner Stelle steht, nämlich am Ende. Es ist das Beschluß-Lied zu Gott, in dem das lyrische Ich, wie in der zweiten Zeile des Titels gesagt wird, Umb ein seliges Sterb-Stündelein bittet.1 Der Tod steht am Ende des menschlichen Lebens, darum soll diese Sammlung von Liedern auch mit einem Lied von der Sterbestunde ihr Ende nehmen. Rist nennt die Sterbestunde selig, weil sie aus einem Leben, das schlecht ist, in ein Leben führt, das gut ist. Das künftige Leben, das er in diesem Lied begehrt, ist darum gut, weil es ein Leben bei Gott ist: O lieblichs/ seligs Stündelein Wie trag’ ich doch so groß’ Verlangen Nach dir allein/ bey Gott zu seyn/
heißt es in der dritten Strophe.2 Rist schreibt dieses Lied nicht, damit es erst in der Sterbestunde gesungen oder zumindest gelesen würde. Er schreibt es vielmehr, damit das ganze Leben, das auf diese Sterbestunde zuläuft, geprägt werde von dem Verlangen, das in dieser Stunde endlich erfüllt wird: Was solt’ ich denn mit Furcht und Scheu’ Erwarten erst der Todes-Stunden? Ach nein ich wil mit grossem Danck’ Aus dieser Welt zum Himmel eilen/ Mein Hertz ist schon vor Liebe kranck/ Es kan durchaus sich nicht verweilen.3
Rists Lied übt somit die ars moriendi ein, die Kunst des Sterbens, und zwar als eine solche, die mit der ars vivendi, der Kunst des Lebens, verknüpft ist. Von
1 Johann Rist/Johann Schop: Himmlische Lieder (1641/42). Kritisch hg. und kommentiert von Johann Anselm Steiger. Kritische Edition des Notentextes von Konrad Küster. Mit einer Einführung von Inge Mager. Berlin 2012, S. 449. 2 Ebd, Z. 17–19. Hervorhebung S. G. 3 Str. 5, 3–8; ebd., S. 450, Z. 35–40.
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Kunst kann hier gesprochen werden, weil es um etwas geht, worauf man sich versteht, weil es geübt ist. Worauf ein Mensch sich verstehen kann, ist, so zu sterben, daß das Ziel des menschlichen Lebens erreicht wird: bei Gott zu sein. Worauf ein Mensch sich verstehen kann, ist auch, so zu leben, daß er dieses Ziel im Sterben erreicht. Dieses Können wird geübt, indem man beispielsweise ein solches Lied wie das von Rist singt.
2 ars moriendi – vorreformatorisch – reformatorisch Rist steht hier in einer Traditionslinie der christlichen Frömmigkeit, die genau betrachtet nicht erst mit dem hohen Mittelalter beginnt. Ps 90,12 („Lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden“) und die Erwägungen des Apostels Paulus, ob es besser sei, am Leben zu bleiben oder zu sterben („Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn“, Phil 1,20–24) sind Beispiele dafür. Ab dem frühen 12. Jahrhundert, vermehrt im späten Mittelalter, entstanden allerdings Texte, die sich eigens mit dem Sterben befassen, und zwar so, daß in ihrem Gebrauch das gute Sterben geübt wird, so daß man hier von einer ars moriendi spricht. Zu denken ist dabei an die Ermahnung eines Sterbenden und zu sehr sich wegen seiner Sünden Fürchtenden (Admonitio morienti et de peccatis suis nimis formidanti), die Anselm von Canterbury zugeschrieben wird,4 und an die um 1400/1401 entstandene Schrift Johannes Gersons De arte moriendi.5 Die Prägung dieser Literatur bekam in der Reformationszeit eine entscheidende Wendung durch Martin Luthers Sermon von der Bereitung zum Sterben (1519). Es zeigt sich dabei, wie Luthers vielzitiertes Wort zu Beginn der InvokavitPredigten von 1522 zu verstehen ist:
4 Patrologiae cursus completus. Series Latina. Ed. Jacques-Paul Migne (im folgenden zit. als Migne PL mit Band- und Seitenzahl), hier Bd. 158, Sp. 685–688, Nr. 194. Diese Zuschreibung ist zwar in Frage gestellt, aber wohl bislang nicht widerlegt worden. Vgl. Sven Grosse: Heilsungewißheit und Scrupulositas im späten Mittelalter. Studien zu Johannes Gerson und Gattungen der Frömmigkeitstheologie seiner Zeit. Tübingen 1994 (Beiträge zur Historischen Theologie 85), S. 221 f., Anm. 39. 5 In der lateinischen Fassung so oder De scientia mortis genannt. Johannes Gerson: Opera Omnia. Ed. Louis Ellis Du Pin. Antwerpen 1706. Bd. 1, Sp. 447–450, in der französischen Fassung: La science de bien mourir ou la médicine de l’âme. In: Jean Gerson: Œuvres Complètes. Ed. Palémon Glorieux. Bd. 7. Paris 1968, S. 404–407, sowie die Ausgabe: De arte moriendi, lat. ediert, komm. u. dt. übers. von Fidel Rädle. In: Literatur – Geschichte – Literaturgeschichte. Beiträge zur mediävistischen Literaturwissenschaft, FS Volker Honemann. Hg. von Nine Miedema, Rudolf Suntrup. Frankfurt a. M. 2003, S. 721–738.
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Wir seindt allsampt zů dem tod gefodert und wirt keyner für den andern sterben, Sonder ein yglicher in eygner person für sich mit dem todt kempffen. In die oren künden wir woll schreyen. Aber ein yeglicher můß für sich selber geschickt sein in der zeyt des todts: ich würd denn nit bey dir sein noch du bey mir.6
Es geht gerade nicht darum, den Sterbenden allein zu lassen. Eben weil nicht die anderen mit ihm sterben und weil es dann auf seinen Glauben ankommt und nicht auf den der anderen, bedarf er anderer Menschen, die ihm beistehen und ihm helfen, sich recht in den Tod zu schicken. Mit Luther entsteht eine reformatorische, eine in diesem Sinne evangelische ars moriendi. Wir werden zu sehen haben, ob und in welcher Weise sich Rists Beschlußlied um ein seliges Sterbestündlein als eine solche ars moriendi auffassen läßt. Zunächst aber ist zu sagen, was grundlegend für jegliche christliche ars moriendi, ob vorreformatorisch oder reformatorisch, gilt. Voraussetzungen sind allemal diese: Es gibt ein Leben nach dem Tod, näher: es gibt zwei Formen des Lebens: eines in Verdammnis, eines in Seligkeit. Dem Menschen ist bestimmt zu sterben, dann kommt das Gericht (Hebr 9,27). Das Gericht entscheidet – um es sehr offen auszudrücken – nach der Haltung, die der Mensch gegenüber Gott eingenommen hat. Um die Einübung der rechten Haltung bemüht sich die ars moriendi. Was man sich wünscht, ist also nicht ein „schneller guter Tod“,7 sondern ein Tod, den man zuvor gut bedenken kann.
3 Der Luthersche Fokus: Der Glaube allein hilft Bei der Näherbestimmung dieser rechten Haltung unterscheiden sich vorreformatorische und reformatorische ars moriendi.8 Ein entscheidender Punkt ist
6 Martin Luther: Werke. Kritische Gesamtausgabe. 73 Bde. Weimar 1883–2009 (im folgenden zit. als WA mit Band-, Seiten- und Zeilenzahl), hier WA 10/III,1,7–2,1. 7 Dieser Titel in einem kritischen Beitrag zu der aktuellen Diskussion um sogenannte „Sterbehilfe“: Robert Spaemann, Bernd Wannenwetsch: Guter, schneller Tod? Von der Kunst, menschenwürdig zu sterben. Basel 2013. 8 Zu diesen Fragen s. Grosse (Anm. 4), S. 215–241, und Berndt Hamm: Luthers Anleitung zum seligen Sterben vor dem Hintergrund der spätmittelalterlichen Ars moriendi. In: Ders.: Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorientierung. Tübingen 2010, S. 115–163. Untersuchungen reformatorischer ars moriendi liegen vor von Austra Reinis: Reforming the Art of Dying. The ars moriendi in the German Reformation (1519–1528). Abingdon 2007 (St. Andrews Studies in the Reformation History Series) und Claudia Resch: Trost im Angesicht des Todes. Frühe reformatorische Anleitungen zur Seelsorge an Kranken und Sterbenden. Tübingen, Basel 2006 (Pietas Liturgica 15), dazu die Rezension von Sven Grosse. In: Zeitschrift für historische Forschung 35
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Sven Grosse
dabei dieser: In der vorreformatorischen ars moriendi hat der Mensch an seiner rechten Haltung selbst zu arbeiten, damit er angemessen vorbereitet ist für den Tod. Mit dieser richtigen Disposition kann er dann Gott begegnen. So haben viele vorreformatorische ars moriendi-Schriften Titel mit den Begriffen „praeparatio“, „dispositorium“ usw.9 Die Blickrichtung ist somit reflexiv: Der Mensch betrachtet sich selbst und arbeitet an sich selbst. Luther bringt hier mit seinem Sermon von der Bereitung zum Sterben die Wende, die man aber auch als eine Konzentration auf ein Element der bisherigen ars moriendi auffassen kann. Er sagt: Alßo mustu die sund nit ansehen yn denn sundern/ noch yn deynem gewissen […] sondern abkeren deyn gedancken/ und die sund/ nit dan yn der gnaden bild ansehen und dasselb bild mit aller crafft yn dich bilden und vor augen haben. Der gnade bild ist nit anders dan Christus am creutz und alle seyne lieben heyligen. […] Das ist gnade und barmhertzickeit, das Christus am creutz deyne sund von dir nymmet, tregt sie fur dich und erwurget sie; und dasselb festiglich glauben und vor augen haben, nit drann zweyfelnn: das heyst das gnaden bild ansehen und ynn sich bilden […].10
Was der Mensch im Sterben haben soll, ist der Glaube, und der Glaube wird hier als ein Blick beschrieben, den der Mensch auf Christus richtet, Christus am Kreuz, der durch diesen Tod den Menschen von dem ewigen Tod der Verdammnis erlöst. Man kann zwar auch hier noch sagen, daß der Glaube eine Disposition ist – die notwendige Disposition, die der Mensch mitbringen muß, um Gott so zu begegnen, daß er von Gott empfangen wird. Diese Disposition ist aber dann eine, deren Wesen gerade darin besteht, daß sie den Menschen von sich weg blicken läßt auf den erlösenden Christus hin, und der Mensch sich nur noch so begreift, wie er von Christus gesehen und neu gestaltet wird.11
(2008), S. 142 f. Claudia Resch kommt bis zur zweiten Generation der Reformation mit Heinrich Bullinger und Andreas Osiander. Es gibt zwar Studien zu Epicedien und Leichenpredigten des Barockzeitalters, eine umfassende Untersuchung der ars moriendi der altprotestantischen Orthodoxie liegt aber, soweit ich sehe, noch nicht vor. Siehe Rudolf Mohr: Art. Ars moriendi II. 16.–18. Jahrhundert. In: Theologische Realenzyklopädie 4 (1979), S. 149–154. Eine jüngere, sehr materialreiche Arbeit von Lukas Lorbeer: Die Sterbe- und Ewigkeitslieder in deutschen lutherischen Gesangbüchern des 17. Jahrhunderts. Göttingen 2012 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 104), geht ausdrücklich S. 263–266, im weiteren Kontext S. 259–272, auf die ars moriendi-Thematik ein (sowie S. 550–556 auf Rist), bringt aber keinerlei nennenswerte Vertiefung der historischen Perspektive, aus welcher sich die ars moriendi in den Sterbeliedern des 17. Jahrhunderts entwickelt hat. 9 Vgl. Grosse (Anm. 4), S. 219 f. 10 WA 2,689,24–28. 11 Dazu Hamm (Anm. 8), S. 145–150; 161, im Vergleich zur vorreformatorischen ars moriendi: S. 142–144, und S. 135 f.
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Luther hat diesen Grundgedanken seiner ars moriendi nicht nur in einem Traktat vorgetragen wie diesem Sermon, sondern auch im Lied. Es ist sein Lobsanck. Mitten wir ym leben synd/ mit dem todt umbfangen12 von 1524. Angesichts des Todes, der Hölle und der Sünde kann der Mensch, der dieses Lied singt, sich immer nur raten: „Wer wil vns aus solcher not | frey vnd ledig machen? | Das thustu, herr, alleyne.“ (Str. 2). Das Gegeneinander von drohendem Tod, Hölle, Sünde und dem helfenden Herrn Christus kann Luther auch als Gegensatz von Gesetz und Evangelium ausdrücken: „Legis vox terret, cum occinit securis: ,Media vita in morte sumus.‘ At euangelii vox iterum erigit et canit: ,Media morte in vita sumus.‘“13 Man kann hier auch sehen, daß Luther nicht einen Bruch, sondern eine Konzentration vollzieht auf einen Punkt, der schon in manchen Zeugnissen des vorreformatorischen Sterbetrostes als der entscheidende erkannt wurde. Ist doch dieser Lobsanck die Nachdichtung der mittelalterlichen Antiphon Media vita in morte sumus, und auch dort heißt es: „Quem quaerimus adiutorem | nisi te, domine?“14 Und in dem abschließenden Stück einer Folge von sieben Passionssalven, in denen Teile des Körpers des am Kreuze hängenden Christus meditiert werden, einem Werk des Zisterziensers Arnulf von Löwen († 1250), wird in den letzten Strophen Christus gebeten zu erscheinen: Das Bild des Gekreuzigten, im Glauben angeblickt, ist, was hilft.15
12 Philipp Wackernagel (Hg.): Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zu Anfang des XVII. Jahrhunderts. 5 Bde. Leipzig 1864–1877. Bd. 3, Nr. 12, S. 10 f. Martin Luther: Die deutschen geistlichen Lieder. Hg. von Gerhard Hahn. Tübingen 1967 (Neudrucke deutscher Literaturwerke NF 20), S. 3 f., Nr. 3. WA 35,126–132; 515 f.; 614; Martin Luther: Geistliche Lieder und Kirchengesänge. Vollständige Neuedition in Ergänzung zu Bd. 35 der Weimarer Ausgabe. Hg. von Markus Jenny. Köln 1985 (Archiv zur Weimarer Ausgabe der Werke Luthers 4), S. 58 f.; 160–162. 13 Enarratio Psalmi 110 (1534/35), WA 40/III,496,16 f., vgl. 496,3–5; vgl. Ein Sermon D. M. Luthers auf das Evangelium Luk. 1 (1523), WA 12,609,17. 14 Siehe diese Vorlage bei Luther, Lieder, hg. von Hahn (Anm. 12), S. 70 f. Sie ist Notker d. Ä. († 912) zugeschrieben in: Wackernagel (Anm. 12). Bd. 1. Leipzig 1864, Nr. 141, S. 94; dieses Lied wurde 1503 im Hortulus animae gedruckt. Übertragungen ins Deutsche vom 15. Jh. bis Anfang des 17. Jh.s sind wiedergegeben bei Wackernagel (Anm. 12). Bd. 2. Leipzig 1867, Nr. 991–999, S. 749–752. 15 Dum me mori est necesse, Noli mihi non deesse; In tremenda mortis hora Veni, Jesu, absque mora, Tuere me et libera. Cum me jubes emigrare Jesu chare, tunc appare: O amator amplectende,
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4 Rists poetische ars moriendi Daß die ars moriendi auch in lyrischer Form vorgetragen und eingeübt werden konnte, zeigt sich bereits an den soeben genannten Beispielen bei Luther und aus dem Mittelalter. Rist befindet sich in einem breiten Strom barocker Dichtung, die der ars moriendi lyrischen Ausdruck verschafft. Voraussetzung ist eine Poetik, die im Anschluß an Horaz und im Gefolge von Opitz’ Poetik in den Worten von Rist so zu bestimmen ist: Die edle Dichtkunst aber hat beides: Sie nutzet sehr viel/ und ergetzet danebenst das Menschliche Gemühte durch Jhre sonderbahre Liebligkeit nicht ein geringes/ fürnehmlich wenn Sie zur Ehre Gottes und Fortpflantzung des wahren Christenthums von Jhren rechtmässigen Liebhabern wird angewendet.16
Für die geistliche Poesie, die Rist zufolge den Vorrang vor der weltlichen hat,17 besteht dieses „Nützen“ darin, daß „die Betrübte könten getröstet/ die Schwache gestärket/ die Jrrende gelehret/ die Ruchlose gewarnet/ und sonst jedermänniglich erbauet“ werden.18 Das Nützen schließt also eine Mitteilung der christlichen
Temetipsum tunc ostende In cruce salutifera. Diese Passionssalven wurden bis ins 17. Jh. Bernhard von Clairvaux zugeschrieben; so sind sie ediert als: Rhythmica Oratio ad unum quodlibet membrorum Christi patientis et a cruce pendentis. Ad faciem, Str. 9 f., S. Bernardi Opera Omnia. Bd. 3, Migne PL (Anm. 4), Bd. 184, Sp. 1324. 16 Johann Rist: Neue Himmlische Lieder (1651). Kritisch hg. und kommentiert von Johann Anselm Steiger. Musik von Andreas Hammerschmidt, Michael Jacobi, Jacob Kortkamp, Petrus Meier, Hinrich Pape, Jacob Praetorius, Heinrich Scheidemann, Sigmund Theophil Staden. Kritische Edition der Notentexte von Konrad Küster. Berlin 2013, S. 11, Z. 21–25. Rist spielt damit auf das berühmte Wort des Horaz an: „aut prodesse volunt aut delectare poetae“ (De arte poetica, Z. 333). Diese Definition wird auch übernommen von Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624). In: Ders.: Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe. Hg. von George Schulz-Behrend. Bd. II/1. Stuttgart 1978, S. 331–416, hier S. 351, Z. 8 f. Vgl. Klaus Garber: Literarischer und kulturpolitischer Statthalter im Norden Deutschlands. Ein Portrait Johann Rists. In: „Ewigkeit, Zeit ohne Zeit“. Gedenkschrift zum 400. Geburtstag des Dichters und Theologen Johann Rist. Hg. von Johann Anselm Steiger. Mit einem Geleitwort von Hans Christian Knuth. Neuendettelsau 2007 (Testes et testimonia veritatis 5), S. 9–36, hier S. 18: „An der Akkulturation Norddeutschlands, der Ingangsetzung und Verbreitung der deutschen Literatur im neuen, dem Opitzschen Gewande, hat Johann Rist Anteil wie niemand sonst vor und nach ihm.“ 17 Der rechte Gebrauch der Poesie „fürnehmlich bestehet in Geistlichen und Himlischen Sachen/ ob wol wir nicht läugnen sollen/ daß die Dichtkunst bißweilen auch in Weltlichen Geschäften rühmlich/ nützlich und ergetzlich könne angewendet und wol gebraucht werden […].“ Rist: Neue Himmlische Lieder (Anm. 16), S. 12, Z. 51–53. 18 Ebd., S. 13, Z. 104 f.
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Lehre ein, aber so, daß das Gemüt des Hörers oder Lesers bewegt wird – es wird getröstet oder auch gewarnt – und daß es mit dem Gefallen durch die „Liebligkeit“, die Schönheit der Sprache verknüpft wird.19 Das Anrühren des Gemütes läßt sich durchwegs in Rists Liedern nachvollziehen, so in dem Beschluß-Lied der Himmlischen Lieder, in dem das singende Ich seine Sehnsucht ausdrückt, bei Gott zu sein, eine Sehnsucht, die sich noch steigert, wenn es von „Quaal“ des gegenwärtigen Lebens spricht (ab Str. 4) und dabei das Schaudern davor erkennen läßt, und dann den Tod nennt (Str. 6), was das Erschrecken noch intensiviert: „Du bist zwar greulich anzusehen“, aber sofort wieder überwindet, indem es hinzufügt: „Mir aber nicht […]“. Es folgt eine Passage mit der Rückschau auf das eigene Leben, in dem das singende Ich zur Sünde verführt wurde (Str. 9 f.). Hier werden Jammer und Beschämung ausgedrückt (ähnlich Str. 12 f.), was zu einem neuen Aufschwung der Sehnsucht zu Gott führt, die sich mit der beruhigenden Gewißheit der Erlösung verbindet (Str. 13 f.). Das singende Ich gibt damit ein Beispiel, durch das die Affekte desjenigen mitbewegt werden, der das Lied liest, hört oder mitsingt. Diese Affektbewegung ergibt sich aus der entsprechenden sprachlichen Darbietung des Lehrgehaltes des Liedes. Dieser Lehrgehalt ist im geistlichen Lied ein theologischer. Der Theologe Rist entwickelt in seinen geistlichen Liedern eine ars moriendi in dezidierter Beerbung der ars moriendi, wie sie sowohl in frömmigkeitstheologischen Traktaten als auch in Liedern der vorangegangenen Epochen vorgetragen wurde. Es stehen ihm dabei verschiedene poetische Genera zu Verfügung. Ganz allgemein kann man davon sprechen, daß überall, wo das in der barocken Literatur so weit verbreitete vanitas-Motiv mit einer geistlichen Wendung verknüpft wird – also nicht aus der Eitelkeit der Welt der Schluß eines Carpe diem gezogen wird und auch nicht der, in der Standhaftigkeit seine Tugend zu zeigen, sondern in Gott den allein beständigen Trost zu finden – die Thematik der ars moriendi aufscheint. Während Rists Zeitgenosse Paul Gerhardt seinen Sterbetrost vorwiegend in Kasualpoesie, vor allem in Epicedien vortrug,20 stößt Rist in seiner viel breiteren literarischen Produktion an verschiedenen Stellen auf das Thema des Todes und der Hilfe angesichts des Sterbens. So, wenn er in dem „Hertzbeweglichen Bittlied Einer kreistenden/ oder/ in Kindes-Gebuhrt arbeitenden Frauen“ diese
19 Zu docere, affectum movere und delectare als den wesentlichen Aufgaben der Poesie nach der barocken Poetik s. Sven Grosse: Gott und das Leid in den Liedern Paul Gerhardts. Göttingen 2001 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 83), S. 194–197. Grundsätzlich zum Verhältnis von theologischer Lehre und Poesie in der barocken Dichtung s. ders.: Theologie und Schönheit. Überlegungen zur geistlichen Poetik in den Liedern Paul Gerhardts. In: Theologische Beiträge 31 (2000), S. 294–309. 20 Grosse (Anm. 19), S. 139, bei Anm. 150.
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sprechen läßt: „Ja hilff aus dem so nahen Tod’“.21 Ein besonderes Genus ist das der Passionslieder: in der Nachdichtung der oben aufgeführten letzten Strophen des siebten Stücks der Passionshymnen übernehmen sowohl Rist als auch Gerhardt die darin enthaltene ars moriendi. In den Neuen Himmlischen Liedern von 1651, die wie die Himmlischen Lieder von 1641/42 nicht in erster Linie für den Gemeindegesang verfaßt wurden22 und sich nicht an die Gattungseinteilung halten, welche in der Rubrizierung der Kirchengesangbücher vorgegeben wird,23 hat Rist einen eigenen Teil – Teil IV – von „Sterbens- und Gerichtsliedern“, in dem wie auch in dem letzten Teil, Teil V, „Höllen- und Himmelslieder“ die ars moriendi-Thematik zum Stoff seiner Lieder wird. Rist variiert dabei dieses Thema in einer Vielzahl von Aspekten. Teil IV setzt ein mit: „Christliche Betrachtung und Vorbereitung zum Seligen Abscheide aus disem/ in das andere und ewige Leben“. Es folgen: „Betrachtung der Nichtigkeit/ Flüchtigkeit/ Trübsahls und Elendes des gantzen Menschlichen Lebens“, „Ernstlihe Betrachtung des Elenden Zustandes Menschlichen Leibes im Tode und Absterben/ auch wen Er in der Rede ist verscharret“, „Treühertzige Ermahnung an seine Seele/ daß sie sich nunmehr freüdig zu einem seligen Abscheide solle schikken und bereit machen“, „Lied/ Eines Christen/ welcher mit Todesängsten hefftig wird gedrükket“, „Andächtige letste Seüftzer eines fast in Todensnöthen ligenden Menschen“, „Ernstliche Betrachtung der Gewißheit deß herannahenden Jüngsten Tages/ und waß für ein Gericht daran sol geheget werden“, „Treühertzige Ermahnung und Warnung an die sichere Welt/ daß sie sich gegen dem herannahendem Jüngsten Tag mit wahrer Bußfertigkeit wolle bereit und gefast machen“. Die beiden letzten Lieder dieses Teils betreffen unmittelbar das Jüngste Gericht, aber auch sie mit der Absicht, die im achten Lied ausgedrückt wird: Der Mensch soll sich rechtzeitig in der Kunst des guten Sterbens üben. Dieselbe Absicht steht auch hinter den Höllen- und Gerichtsliedern des fünften Teils. Man kann also fast schon von einer Enzyklopädie der ars moriendi in Rists geistlichen Liedern sprechen.
21 Johann Rist: Frommer und Gottseliger Christen Alltägliche Haußmusik […]. Lüneburg 1654, S. 173. 22 Vgl. Johann Anselm Steiger: Einführung. In: Rist: Neue Himmlische Lieder (Anm. 16), S. 413– 425, hier S. 419. Steiger weist allerdings auch darauf hin, daß Rist dafür gesorgt hat, daß diese Lieder zusätzlich mit bereits bekannten Melodien versehen, also für den Gebrauch im Kirchenoder Hausgottesdienst geeignet gemacht wurden. 23 So gibt es in der von dem Berliner Kantor Johann Crüger in mehreren Auflagen herausgegebenen und sehr weit verbreiteten Praxis pietatis melica eine Rubrik „Sterbegesänge. Vom jüngsten Tage und Auferstehung der Toten. Litanei“. Vgl. Grosse (Anm. 19), S. 92.
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5 Rists Aufnahme der lutherischen ars moriendi-Konzeption In Rists Liedern, die vom Tode handeln, ist die Befreiung aus der Sünde durch den Glauben an den heilbringenden Tod, den Christus am Kreuz für uns gestorben ist, gleichsam eine durchlaufende Melodie. In dem Beschluß-Lied heißt es: Jch weis was mein Erlöser sagt: Wer gläubig ist/ wird nicht verlohren. (Str. 13).
Dies ist der Abschluß einer Folge von Ausrufen der singenden Seele (ab Str. 9), in dem sie sich mit dem Menschen in dem Gleichnis Jesu vom barmherzigen Samariter vergleicht, der unter die Räuber gefallen ist (Lk 10,30–35). Die Not, in welche dieser Mensch dadurch gerät, wird als die Not der Sünde bestimmt (Str. 10), und so tritt Jesus, den sie anruft, an die Stelle des Samariters. In einem anderen Lied, den Andächtige[n] Hertzen-Seufftzer[n] zu Gott/ um ein seliges Ende24 heißt es (Str. 14): Gib meiner Seelen Stärck’ und Krafft Daß ich den Todt verlache/ Gib das mich deiner Wunden Safft Am End’ auch frölich mache/25
Die Kontinuität dieses reformatorischen Sterbetrostes mit bestimmten Zeugnissen der vorreformatorischen ars moriendi wird bei Rist wie bei anderen lutherischen Dichtern seiner Zeit greifbar darin, daß er die Passionssalven des frühen 13. Jahrhunderts nachgedichtet hat; in der letzten Hymne, die an das Angesicht des am Kreuze hängenden Jesus Christus gerichtet ist, heißt es (Str. 10):26 Jesu/ stehe Mir zuer Seiten/ Zu begleiten Meine Seel in Gottes Hand/
24 Rist: Himmlische Lieder (Anm. 1), S. 245–248, mit der Ergänzung zum Titel: „Dieses Lied kann auch in sehr schweren Krankheiten gesungen oder gebetet werden.“ 25 Hervorhebung – wie auch bei dem Zitat zuvor –: S. G. Johann Rist: Neue Hoch-heilige Paßions-Andachten […]. Hamburg 1664, Str. 14; Rist: Neue Himmlische Lieder (Anm. 16), S. 228, Z. 37–42; S. 289, Z. 61 – S. 290, Z. 77. 26 Johann Rist: Der zu seinem allerheiligsten Leiden und Sterben hingeführter und an das Kreütz gehefteter Christus Jesus/ Jn wahrem Glauben und Hertzlicher Andacht besungen […] Jtzo auffs neüe übersehen und an vielen ohrten merklich verbessert. Nunmehr auch in der lateinischen Sprache übergesetzet von M. TOBIA PETERMANO. Hamburg 1655. Vgl. o. Anm. 15.
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In dem viel bekannteren Pendant aus der Feder seines Zeitgenossen Paul Gerhardt, O Haupt voll Blut und Wunden, tritt die Vorstellung des rettenden Bildes Christi noch stärker hervor:27 Erscheine mir zum Schild, Zum Trost in meinem Tod Und laß mich sehn dein Bilde In deiner Kreuzesnot. Da will ich nach dir blicken Da will ich glaubensvoll Dich fest an mein Herz drücken Wer so stirbt, der stirbt wohl.
Wesentlich am Glauben, wie ihn Luther versteht, ist das Von-sich-Wegblicken auf Gott hin, das Sich-ganz-von-Gott-her-Verstehen. Dem entspricht eine Redeweise, die nicht mehr primär reflexiv ist. Der Sterbende – oder derjenige, der sich auf sein Sterben vorbereiten will – wird nicht dazu angehalten, zunächst auf sich selbst zu blicken, sondern Gott anzureden. Die Redeweise Rists ist darum eine bekennende: „Jch weis was mein Erlöser sagt“, oder sie ist eine Anrede an Gott wie in den beiden zuletzt gebrachten Zitaten. Besonders kennzeichnend für Rists dialogische Auffassung des Sterbetrostes wie des Trostes überhaupt ist seine Neüe Musikalische Kreutz- Trost- Lob- und DankSchuhle von 1659.28 Dort bilden immer drei Lieder zusammen eine Gruppe: ein Ausrufen der Not, in welche ein Mensch in einer bestimmten Lage gerät, und die er Gott klagt, ein Trostzuspruch Jesu Christi, der an ihn gerichtet ist als Kräftiges Trostlied und schließlich ein Herzliches Lob-, Dank- und Freudenlied, das die getröstete Seele Jesus entgegenbringt.29
27 Paul Gerhardt: Wach auf, mein Herz und singe. Gesamtausgabe seiner Lieder und Gedichte. Hg. von Eberhard von Cranach-Sichart. Wuppertal 21991, Nr. 24, Str. 10, S. 64. 28 Johann Rist: Neüe Musikalische Kreutz- Trost- Lob- und DankSchuhle/ Worinn befindlich Unterschiedliche Lehr- und Trostreiche Lieder/ in mancherlei Kreutz/ Trübsahl und Wiederwärtigkeit hochnützlich zu gebrauchen […]. Lüneburg 1659. 29 Um den Trost im Sterben geht es in: ,Schmertzliches Klag und Jammerlied Einer höchstbetrübten Seelen/ welche mit unaußsprächlicher furcht und Angst des heran nahenden Todes ist ümgeben und gequählet, Inc. Mein Seelichen/ Du must die Welt, Lied 68, S. 412; Der Herr Jesus tröstet die/ von heftiger Todes-Angst schmertzlich geplagete/ und schier dem Würger selber in dem Rachen stekkende Seele/ mit nachfolgendem/ Hertzerquikkendem Liede, Inc. Du mein Hertzlibstes Seelichen/, Lied 69, S. 420, und schließlich: Die/ in der äussersten Todes Angst/ mit überreichem Trost hertzlich erquikkete/ und wieder aufgerichtete Seele/ erfreuet sich in Gott ihrem Heilande/ preiset desselben Gühte/ und wünschet nur bald der Ewigen Seligkeit zu geniessen/, Inc.: Lob/ Preiß und Dank sei Dir von mir, Lied 70, S. 426.
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Dieses Auf-Gott-Blicken ist auch ein Aus-sich-herausgerissen-Werden in Gott, in Christus hinein.30 Der Glaube kann daher kein fester Besitz sein, so wie ein Wissen, das man sich angeeignet hat. Rist hat das offenbar sehr wohl begriffen, und er konnte diese Wahrheit in sehr origineller Weise ausdrücken, die damals auch Widerspruch provoziert hat.31 So läßt er in einem „Lied/ Eines Christen/ welcher mit Todesängsten hefftig wird gedrükket“ diesen sagen:32 Jch weiß/ daß wer in JEsu stirbt/ Und sich an disen Heyland hält/ Derselbe nimmer zwahr verdirbt Wen Er gleich lassen mus die Welt/ Mich aber hat der Sünden Koht So gahr beschwehret/ daß Jch nicht Mich reissen kan auß dieser Noht/ Wo Gott des Todes Macht nit bricht.
Hier bezieht das sprechende Ich also die Katechismus-Wahrheit, daß der errettet wird, der glaubt, nicht auf sich selbst, oder vielmehr: indem es sich unterscheidet von denen, von denen es lediglich weiß, daß sie glauben, vollzieht es seinen eigenen Glauben: als Hilferuf an Jesus Christus in der Anfechtung.
30 In Auslegung von Jer 1,10 sagt Luther in der Römerbriefvorlesung (1515/1516) zu Röm 1,1: „[Deus] ,et edifices et plantes‘ Scil. omnia, que extra nos sunt et in Christo.“ WA 56,158,8 f. Dazu Karl-Heinz zur Mühlen: Nos extra nos. Luthers Theologie zwischen Mystik und Scholastik. Tübingen 1972 (Beiträge zur Historischen Theologie 46). 31 Inge Mager verweist auf Reaktionen auf solche Verse Rists wie: „Gott der hat mich gar verlassen | keinen Trost weis ich zu fassen“ oder „Nein: Vergeblich ist mein weinen | Mein Gebet das hilft mir nicht“. Rist: Himmlische Lieder (Anm. 1), Hertzliches Klag- und Trost-Lied/ Einer angefochtenen hochbetrübten Seelen/ so mit Angst und Verzweiffelung ringet“, S. 213, Z. 5 f. (Str. 1,5 f.); S. 215, Z. 59 f. Solche Reaktionen werden erwähnt in dem Brief des Generalsuperintendenten Stephan Klotz an Rist vom November 1650, unter den Ehrenschriften abgedruckt in: Rist: Neue Himmlische Lieder (Anm. 16), S. 44. Vgl. Inge Mager: Johann Rists ,Himmlische Lieder‘. Eine Einführung In: Rist: Himmlische Lieder (Anm. 1), S. 567–576, hier S. 576, mit Anm. 74. Mager nennt für die erste Stelle versehentlich Str. 2 und nicht Str. 1, 5 f. 32 Rist: Neue Himmlische Lieder (Anm. 16), S. 283, Z. 17–24. Hervorhebungen S. G.
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6 Ist die Sterbestunde das größte Drama des Lebens? In einigen Texten der vorreformatorischen ars moriendi, so in der berühmten Bilder-Ars – deren Text sich mit Holzschnitten ergänzt33 – und auch in Luthers Sermon ist die Sterbestunde eine dramatische Zuspitzung des Lebens, die einen plötzlich überrascht und in welcher der Teufel den Menschen mit einer Macht überfällt wie sonst nie. Bei Rist finden sich auch diese Elemente. So in der Ernstliche[n] Betrachtung der unendlichen Ewigkeit (Str. 13):34 Jch bitte dich von Hertzen O sichers Menschenkind/ Erwege dise Schmertzen/ Und sei doch nicht so blind/ Fürwahr die Zeit wird kommen Daß du von diser Welt Wirst plötzlich hingenommen/ Die Stund ist schon bestelt.
Und in den Andächtige[n] letste[n] Seüftzer[n] eines fast in Todessnöthen ligenden Menschen (Str. 8):35 Beschütze Mich mit deinem Schild’/ Jn dem der Satan frech und wild Mich armen wil erschrekken/
33 Das Incipit des Textes lautet „Quamvis secundum philosophum“. Ein Abdruck des lateinischen Textes und der Holzschnitte findet sich bei: Alberto Tenenti: La Vie et la Mort a travers l’art du XVe Siècle. Paris 1952 (Cahier des Annales 8), S. 98–120. Der Text ist auch ediert von Dick Akerboom: Only the Image of Christ in us. Continuity and Discontinuity between the Late Medieval ars moriendi and Luther’s Sermon von der Bereitung zum Sterben. In: Hein Blommestijn u. a. (Hg.): Spirituality Reviewed. Studies on Significant Representatives of the Modern Devotion. Leuven u. a. 2003, S. 250–260. Eine Übersetzung des lateinischen Textes bei Jacques Laager: Ars moriendi. Die Kunst, gut zu leben und gut zu sterben. Texte von Cicero bis Luther. Zürich 1996. Zur Textgeschichte s. Hamm (Anm. 8), S. 117 f. – Eine Wiedergabe der Bilder findet sich auch im Anhang von Grosse (Anm. 4), S. 249–259, und bei dems.: Die Macht der Bilder an der Schwelle zum Jenseits. Sterbetrost im Dialog Axiochos, in der Bilder-Ars und bei Martin Luther. In: Ps.-Platon: Über den Tod. Hg. von Irmgard Männlein-Robert. Tübingen 2012 (SAPERE 20), S. 183–206, hier S. 196–206. 34 Rist: Neue Himmlische Lieder (Anm. 16), S. 342, Z. 97–104. Hervorhebung S. G. 35 Ebd., S. 289, Z. 43–45; sowie Rist: Himmlische Lieder (Anm. 1), S. 421, Z. 73–80.
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Man kann aber doch nicht sagen, daß Rist diese Gedanken pauschal übernimmt. Meist ist bei ihm vom Schrecken des Todes die Rede, auch von der Anfechtung durch das Bewußtsein der Sünde, aber nicht so sehr vom Erscheinen des Teufels. Man muß vor allem beachten, daß er in der oben genannten Strophe den Menschen anspricht, der ‚sicher‘ ist. Über diese ‚Sicherheit‘ als der menschlichen Haltung, gegen die Rist vor allem ankämpft, wird noch zu reden sein. Hat man nicht mit diesen ‚sicheren‘ Menschen zu tun, sondern mit Gläubigen, d. h. mit Menschen, die bei sich und in der Welt gar keine Geborgenheit erwarten und suchen, sondern nur bei Gott, dann ist die Sterbestunde zwar eine Stunde der Bedrängnis, aber doch nicht das große, entscheidende Drama. Der Glauben ist nämlich eine Übung für das ganze Leben, nicht erst für die Sterbestunde. Nur für die Menschen, welche den Glauben vergessen, kann die Sterbestunde etwas überraschendes sein. Das bekannte Motiv, daß nichts gewisser ist als der Tod, nichts ungewisser als die Stunde des Todes,36 erhält bei Rist darum eine andere Akzentuierung, wenn er die gläubige Seele sprechen läßt. In dem Beschluß-Lied ist der vorherrschende Tenor die Sehnsucht danach, zu sterben und bei Gott zu sein. Es wird zwar auch die Bitte ausgedrückt, Daß ich in meiner letzten Stunde Bey dir ja werde nicht zu Spott Auch mich der Satan nicht verwunde/ […].37
Aber es ist nicht Furcht vor der Überraschung durch die ungewisse Sterbestunde, sondern die ruhige Gewißheit, daß sie kommt, die abwarten kann, und die zugleich so sprechen läßt:38 Zwar/ meine Zeit ist ungewiß/ Doch weis ich/ Gott der wird erstatten Mein Leid/ das mich so sehr geplagt
Bei Rist wird ars bene moriendi mit ars bene vivendi verknüpft. Das ist nichts Neues. Bereits ein ars moriendi-Autor des 15. Jahrhunderts, Jakob der Kartäuser, tat dies.39 Denn die Anfechtungen in der Todesstunde haben nach seiner Ein-
36 Als Nachweis in Rist: Himmlische Lieder (Anm. 1), S. 453, Anm. 44 werden Cicero und Johann Gerhard genannt; bei Grosse (Anm. 4), S. 220, Anm. 31 Anselm von Canterbury u. a. 37 Rist: Himmlische Lieder (Anm. 1), S. 453, Z. 106–108; Rist: Kreutz-Schuhle (Anm. 28), Lied 68, Str. 2, S. 413. 38 Rist: Himmlische Lieder (Anm. 1), S. 453, Z. 99–101. Hervorhebung S. G. 39 Jakob der Kartäuser (auch: Jakob von Jüterbog, Jakob von Paradies, Jacobus de Clusa), De arte moriendi. Dazu Grosse (Anm. 4), S. 235 f.
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schätzung eine solche Wucht, daß man ihnen nicht standhalten könnte, würde man sein ganzes Leben nicht damit verbringen, sich darauf vorzubereiten. Die ars moriendi dieses Kartäusers ist darum von strengster mönchischer Zucht bestimmt. Auch Luther sieht die Anfechtungen der Todesstunde als die stärksten an, so sehr, daß er zwar sagt, daß man im Leben sich das Sterben vorstellen solle, um sich zu üben, im Tod hingegen das Bild des Todes sich aus dem Sinn schlagen müsse.40 Luthers Antwort auf die Anfechtung besteht nicht in einer um so strengeren Lebensführung, sondern im Glauben. Der Glauben soll den Menschen aber nicht nur im Sterben leiten, sondern auch im Leben. Die Kunst, gut zu leben, besteht für Luther und für Rist so wie die Kunst, gut zu sterben, im Glauben. Zu der Kunst des guten Lebens gehört nun die Betrachtung, daß die Todesstunde sich nähert, aber nicht unbedingt, daß sie plötzlich kommt.41 Offenbar machten Menschen in der Zeit Johann Gerhards und Rists nicht in einem solchen Maße die Erfahrung des plötzlich hereinbrechenden Todes mit seinen Anfechtungen wie die Verfasser der ars moriendi-Schriften des 15. Jahrhunderts und auch noch Luther. Das kennzeichnende Bild ist nicht so sehr der Tod mit dem Pfeil – die mors subita – sondern die Sanduhr, deren Sand langsam verrinnt.42
40 „Im leben/ solt man sich mit des todts gedancken uben vnd zu vnß foddern/ wan er noch ferne ist/ und nicht treybt. Aber ym sterben/ wan er von yhm selbs schon alzu starck da ist/ ist es ferlich vnd nichts nutz/ Da muß man seyn bild außschlagen vnd nit sehen wollen […].“ WA 2,687,11–15. 41 Siehe Johann Gerhard: Meditationes sacrae, Meditatio XLIII: De Quotidiana mortis consideratione. Mortis meditatio, vita est. In: Ders.: Meditationes sacrae (1606/07). Lateinisch-Deutsch. Kritisch hg., kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Johann Anselm Steiger. Bd. 1. Stuttgart-Bad Cannstatt 2000 (Doctrina et Pietas I.3), S. 234–238. 42 Vgl. Günter Ott: Die ,Vier letzten Dinge‘ in der Lyrik des Andreas Gryphius. Untersuchungen zur Todesauffassung des Dichters und zur Tradition des eschatologischen Zyklus. Frankfurt a. M. u. a. 1985 (Europäische Hochschulschriften I/174), S. 39–46, bes. S. 39 f.: „Diese Todesart [die mors subita] spielt auch im Barock noch eine Rolle, wenn auch nicht mehr ganz in dem Maße, wie es in einer aufgewühlten Zeit der Fall sein mußte.“ Vgl. auch ebd., S. 41 mit Anm. 72. Berndt Hamm (Anm. 8), S. 161 erklärt, daß in Luthers Sermon zwar sogar noch die „traditionelle Vorstellung vom Kampf der jenseitigen Mächte zugespitzt“ sei, andererseits aber durch den Hinweis auf den Glauben „prinzipiell das belastende Gewicht von der Todesstunde genommen und die extreme Finalisierung der spätmittelalterlichen Sterbeanleitungen aufgegeben“ sei. Der Hinweis auf den Glauben kann aber dafür kein hinreichender Grund sein – es wäre ja denkbar, daß der Glaube in der Sterbestunde noch stärker herausgefordert würde als je zuvor. Hinzukommen mußte a) eine konsequente Verknüpfung von ars vivendi und ars moriendi und b) doch auch ein Abnehmen – wenngleich nicht gänzliches Verschwinden – der Erfahrung besonderer Anfechtungen in der Todesstunde.
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7 Ist das Sterben an sich schon Erlösung? Neben dem Gedanken der Erlösung durch den Glauben an den Gekreuzigten in der Sterbestunde findet sich in Rists Liedern allerdings noch ein anderes Motiv, das für sich genommen besagen würde: Das Sterben an sich ist schon etwas Gutes. Es ist Erlösung von dieser vergänglichen und von Leid erfüllten Welt. So heißt es im dem Beschluß-Lied der Himmlischen Lieder (Str. 4): Errette bald aus aller Quaal Und aus dem Kercker meine Seele/
Dies gemahnt in der Tat an die platonische Auffassung, wonach der Leib der Kerker der Seele sei.43 In Rists Neüe[r] Musikalische[n] Kreutz- Trost- Lob- und DankSchuhle wird sogar die ganze Welt ein Kerker genannt.44 In Platons Phaidon spricht Sokrates: „Heißt aber dies nicht Tod, Erlösung und Absonderung der Seele von dem Leibe? […] Und sie [diese Bande des Leibes] zu lösen streben immer am meisten […] und allein die wahrhaft Philosophierenden […]“ (67d).45 In dem Dialog Kratylos (400b) führt Sokrates aus: „Der Name [σώμα – Leib] hat ja, scheint es, eine vielfache Bedeutung; und zwar noch in hohem Grade, auch wenn man nur wenig abändert. Denn einige halten ihn für das Grabmal (σῆμα) der Seele, als wäre sie im jetzigen Leben begraben.“46 Wenn dieser platonische Gedanke bei Rist völlig losgelöst stünde, dann würde er damit ein grundlegend anderes Konzept vertreten als dasjenige, das der reformatorischen wie auch der vorreformatorischen ars moriendi zugrunde liegt.
43 Vgl. den Kommentar des Herausgebers zu dieser Stelle im „Beschluß-Lied“. Rist: Himmlische Lieder (Anm. 1), S. 450, Anm. 15. 44 Rist: Kreutz-Schuhle (Anm. 28), Lied 70, Str. 1,5, S. 426. 45 Platon: Sämtliche Werke, in der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher. Hg. von Walter F. Otto, Ernesto Grassi, Gert Plambröck. Bd. 3. Hamburg 1958, S. 20. 46 Platon: Sämtliche Werke. Hg. von Erich Loewenthal, 8., durchgesehene Aufl. der Berliner Ausgabe von 1940. Bd. 1. Heidelberg 1982, S. 565 (übers. von Julius Deuschle). Allerdings ist zu beachten, daß Sokrates an dieser Stelle noch weitere Etymologien des Wortes σώμα in Bezug auf das Verhältnis von Seele und Leib gibt, die nicht in derselben Weise einseitig negativ sind: „Wiederum heißt er [der Leib] auch darum mit Recht ein σῆμα (Zeichen), weil durch ihn die Seele zeige, was sie zeigen solle. Doch haben meiner Ansicht nach eigentlich die Anhänger des Orpheus diesen Namen aufgestellt, weil nach ihnen die Seele für ihre Vergehen zu büßen hat. Sie habe aber im Leibe einen Umbau, nach dem Bilde eines Gefängnisses, damit sie darin aufbewahrt werde (σώζηται). Es sei also, wie man es nenne, das σώμα (Gewahrsam) der Seele so lange, bis sie die verdiente Strafe abgebüßt habe; so brauche man auch nicht einen einzigen Buchstaben abzuändern.“
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Dieses besagt: Der Tod an sich ist mitnichten Befreiung, sondern er stellt erst in die Entscheidung hinein, durch welche die Wege sich endgültig teilen: der eine in die höchst möglich beste, der andere in die höchst möglich schlechteste Form des Daseins. Das – nennen wir es einmal – platonische Konzept besagt: Der Tod ist Befreiung der Seele aus dem Leib und aus der Welt – der Welt, welche unserer sinnlichen Wahrnehmung zugänglich ist. Leib und Welt sind für die Seele wie ein Kerker. Wenn sich die Seele nur auf das wahre Sein richtet, das rein geistig ist, dann ist der Tod für sie eine Befreiung. Leid und Welt sind vergänglich und von Leid geprägt, das wahre Sein hingegen ist ewig und von Seligkeit erfüllt. Dazu paßt Rists wiederholte Beschwörung der Eitelkeit, der vanitas dieser Welt. Er variiert dieses Thema ebenso unermüdlich wie andere Barockdichter. So spricht der Mensch, der bereut, daß er die Welt geliebt hat: Ein Blümlein war es aus dem Garten Ein Gräßlein das verdorren muß/ Ein Schatten der ja nicht kan warten Ein schwartzer Pful voll Uberdruß Ein lauter Koth Ein steter Tod Ein Rauch/ den man kaum findet […].47
Am Schluß seines Liedes Wider die Furcht und Schrecken des grausamen Todes. Trost-Lied heißt es nach einer langen Ausbreitung der Eitelkeit dieser Welt: Gläubstu nur diß/ was ich allhie geschrieben/ Wirstu den Todt mehr als das Leben lieben.48
Dieses platonische Motiv ist allerdings bei Rist nicht selbständig. Es ist im Grunde nur ein Teil des Konzeptes, in dem der Glaube die entscheidende Hilfe in der Sterbestunde ist. Zunächst sei aber darauf verwiesen, daß auch für Platon das Jenseits des Todes nicht einfach ein Reich der Seligkeit ist. Er erzählt im Phaidon einen Mythos, wonach nur die Verstorbenen, welche „schön und heilig gelebt haben“ (113d; 114b–c), an einen Ort gelangen, der schön, der Vergänglichkeit und Krankheit entzogen ist (110b–111c), während diejenigen, deren Wandel mittelmä-
47 Rist: Himmlische Lieder (Anm. 1), S. 226, Z. 9–15. Genannt sei hier, neben vielen möglichen Belegen bei Rist, sein Werk: Die verschmähete Eitelkeit Und Die verlangete Ewigkeit […]. Lüneburg 1658. 48 Rist: Himmlische Lieder (Anm. 1), S. 322, Z. 87 f. Oder solche Verse wie: „Der Tod macht mir kein Grauen/ Den Sterben ist mein Glück.“ Rist: Neue Himmlische Lieder (Anm. 16), S. 372, Z. 23 f. Siehe des weiteren in dieser Ausgabe: S. 346–350; 352–356; 371–375; 378–381.
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ßig war, sich reinigen müßten (113d), der Zustand einer dritten Gruppe aber als unheilbar bezeichnet wird. Sie stürzen in den Tartaros (113e). Auf diesen Mythos zu vertrauen – wiewohl man vernünftigerweise nicht behaupten soll, daß alles sich genau so verhalte – wird als „ein schönes Wagnis“ bezeichnet (114d–115a), weil es den Menschen dazu ermutigt, sich am Guten zu orientieren.49 Für Rist ist der Tod als Befreier nur ein untergeordnetes Motiv, weil sein zentrales Motiv die Orientierung des Menschen nach Gott hin ist. Die ganze Ausbreitung der vanitas hat nur dies als Ziel: dem Menschen die richtige Orientierung zu geben, ihn zu veranlassen, in Gott sein einziges und wahres Gut zu erkennen. Umgekehrt: der Tod ist nicht an sich etwas Gutes, denn er kann auch in eine Ewigkeit führen, welche die Ewigkeit der Verdammnis ist. In dem Gebet um Verschmähung der Welt und ihrer Eitelkeiten heißt es als Schlußfolgerung:50 Dich wil ich mir allein behalten O Gott du bist das wahre Gut Dein Gnadenfewr kan nicht erkalten Es wärmet Leben/ Hertz und Muth/ Die Seligkeit Gerechtigkeit Vergebung meiner Sünden Sind all’ in dir zu finden.
Mit der Betonung von Gnade, Gerechtigkeit, Vergebung wird auch klar gemacht, daß nicht die Freude an sich als höchstes Gut erachtet wird – bei Gott gibt es eben unendliche Freude –, sondern die Stimmigkeit der persönlichen Beziehung zu Gott. Dann und nur dann wird die Ewigkeit eine gute sein. Von dieser richtigen Orientierung aus kann Rist durchaus in anderen Liedern die Schönheit der irdischen Welt preisen, die von Gott geschaffen ist und erhalten wird.51 Die andere Seite besteht darin, daß die Ewigkeit auch furchtbar sein kann. Rists berühmtes, durch Bach vertontes Lied O Ewigkeit du DonnerWort spricht genau davon. Es ist eine Ernstliche Betrachtung/ Der unendlichen Ewigkeit.52
49 Wobei auch andere Übeltäter in den Tartaros geworfen werden, deren Untaten nicht so schlimm sind. Sie erhalten die Chance, diejenigen, an denen sie gesündigt habe, um Vergebung zu bitten. Wenn diese ihnen Vergebung gewähren, werden sie befreit: 113e–114b. Die Zitate aus der Übersetzung von Schleiermacher (Anm. 45), S. 62 f. 50 Rist: Himmlische Lieder (Anm. 1), S. 228, Z. 65–72. 51 So etwa Ein herrlicher Lob-Psalm Gottes/ Wegen seiner grossen Allmacht und Barmherzigkeit. Rist: Himmlische Lieder (Anm. 1), S. 430–434, vgl. Christlicher Lob-Gesang/ Wenn uns Gott mit Speise und Tranck so reichlich hat gesättiget. Rist: Himmlische Lieder (Anm. 1), S. 437–440. 52 Rist: Himmlische Lieder (Anm. 1), S. 341–346.
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Es ist die Ewigkeit der ewigen Verdammnis, und diese Ewigkeit macht traurig (Str. 1, 5 f.) und sie ist schrecklich (Str. 3). Die Absicht dieser Betrachtung kommt in den abschließenden Strophen heraus (Str. 14 f.): „Laß ab, die Welt zu lieben“ (Str. 15, 3) – d. h. die Welt als den Orientierungspunkt für das hier und jetzt zu führende Leben zu nehmen.53 Der Tod ist also nur dann ein guter Freund, wenn der Mensch sich im Glauben Gott wieder zugewandt hat. Nur aus der Orientierung des Glauben heraus kann Rist in dem Beschluß-Lied sagen: O vielbegehrter lieber Todt Du bist zwar greulich anzusehen/ Mir aber nicht/ […] du tröstest mich/ Weil du mich friedlich wilt bedecken / […].54
8 Wider die Sicherheit Rists Auffassung von ars moriendi in ihrem Kontext im 17. Jahrhundert, ihrer Verbundenheit mit der Todesauffassung Luthers, aber auch mit der ars moriendi der vorreformatorischen Epoche wird schließlich besonders deutlich, wenn man fragt, wen er als den gefährlichsten Feind ansieht, der ihm im Sterben zum Verhängnis werden kann. Wir sind schon mehrmals auf die Antwort auf diese Frage gestoßen. Ich will aber zunächst noch auf das Tableau von Anfechtungen zurückgehen, welches die Bilder-Ars des 15. Jahrhunderts entwirft.55 Es sind deren fünf: erstens die Versuchung zum Unglauben, zweitens die Versuchung zur Verzweiflung angesichts der Sündenschuld: man glaubt, nicht mehr von ihr befreit zu werden, drittens die Versuchung, das Leiden nicht mehr aushalten zu wollen, unleidlich zu werden (impatientia), viertens, der zweiten Versuchung entgegengesetzt, der hohle Wahn, die vana gloria, man hätte durch ein gutes Leben die Krone des ewigen Lebens verdient und vor Gott Anspruch darauf, fünftens die Versuchung, an den Gütern dieses Lebens, aber auch an den menschlichen Beziehungen festzuhalten, die einem dieses Leben lieb machen (avaritia). Es sind wohl hier exemplarisch die Gefährdungen zusammengestellt, denen ein Mensch beim Weg aus diesem Leben ausgesetzt sein kann.
53 Auch hier nur unter vielen möglichen Verweisen: Rist: Neue Himmlische Lieder (Anm. 16), S. 339–343: Warnung vor der Ewigkeit der Hölle. 54 Rist: Himmlische Lieder (Anm. 1), S. 450, Z. 41 – S. 451, Z. 48. 55 S. o. Anm. 33.
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Man sieht, daß Luthers Sermon von der Bereitung zum Sterben die Fokussierung auf eine dieser Anfechtungen vollzieht: die Versuchung zur Verzweiflung. Die Antwort darauf ist der Glaube.56 Dem schließt sich, wie wir sahen, Rist an, doch wird auch deutlich, daß für ihn ein anderer Gegner mehr in den Vordergrund tritt als für Luther. Rist sieht vor sich den Fall, daß ein Mensch sich gar nicht von Verzweiflung wegen der eigenen Sünde bedroht sieht. Er hat mit einem Menschen zu tun, der sich sicher ist – „sicher“ nicht im Sinne der vana gloria, die sich das ewige Leben erhofft, sondern sicher aufgrund der Überzeugung, im irdischen Leben hinreichend geborgen zu sein. Ich stimme hier Inge Mager zu, die analysiert: „Anders als Luther, der seine Zeitgenossen in ihrer auf fromme Werke, Ablässe und Heiligenfürsprache gegründeten Heilssicherheit aufschreckte, rüttelt Rist an der auf Todes-, Jenseits- und Gottesvergessenheit beruhenden [Diesseits]-,Sicherheit‘ vieler seiner Zeitgenossen, die sich ungeachtet aller widrigen Gegenwartserfahrungen an irdische und materielle Güter klammern.“57 Im Tableau der fünf Anfechtungen der Bilder-Ars ist es also die avaritia, das Festhalten-Wollen am Diesseits, das so stark wird, daß man das Ende des Lebens, die Verantwortung vor Gottes Gericht und den doppelten Ausgang in Seligkeit und Verdammnis gar nicht mehr wahrnimmt. Im Vorwort zu dem vierten Zehnt seiner Himmlischen Lieder verweist Rist auf zwei der darin enthaltenen Lieder – das tut er sonst nicht – und nennt O Sicherheit, du Pest der Seelen und O Ewigkeit du Donnerwort.58 Rist greift wiederholt diesen Wahn von „Sicherheit“ an.59 In einem anderen Lied, Ernstliche Betrachtung/ Der ruchlosen Sicherheit der Menschen/ Jn deme sie sich für der höllischen Pein so gar nicht fürchten, entwirft er die Existenzhaltung eines Menschen, der so lebt, als ließe sich die Sicherheit des Diesseits beliebig in das Jenseits hinein verlängern:
56 Der Glaube geht bei Luther im Umfang über den Glauben hinaus, von dem die Bilder-Ars spricht. Denn er schließt bei ihm wesentlich die Zuversicht ein, daß der Glaubende errettet wird und nicht verzweifeln muß. 57 Inge Mager: Einführung. In: Rist: Himmlische Lieder (Anm. 1), S. 567–576, hier S. 575, für den Kontext dieser These s. S. 574 f. 58 Rist: Himmlische Lieder (Anm. 1), S. 271 f. 59 Rist: Himmlische Lieder (Anm. 1), S. 58, Z. 19 f.; S. 285, Z. 25–40; S. 293, Z. 33–40; sowie Rist: Neue Himmlische Lieder (Anm. 16), S. 293, Z. 9–15; S. 300–304; S. 333–337; S. 339–343; S. 307–310; S. 313–316; S. 346–350; Uber das Evangelium am sieben und zwanzigsten Sontage nach dem Feste der H. Dreyfaltigkeit, Str. 6. In: Sabbahtische Seelenlust […]. Lüneburg 1651. Das Motiv, durch die Darstellung der Hölle diese Sicherheit anzugreifen, wird von Rist in der Vorrede seiner Kreutz-Schuhle (Anm. 28), S. 94 ausdrücklich genannt. Vgl. das Zitat daraus bei Hans-Henrik Krummacher: Lehr- und trostreiche Lieder. Johann Rists geistliche Dichtung und die Predigtund Erbauungsliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts. In: „Ewigkeit, Zeit ohne Zeit“ (Anm. 16), S. 37–76, hier S. 57 f.
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Als wär’ auch nach dem Sterben Zu fürchten kein Verderben. […] Ach/ wilt du das was zeitlich ist Und schnell doch kan veralten Des eitlen Lebens kurtze Frist So trefflich gern’ erhalten/60
Eine solche in sich abgeschlossene Welt, die nur Diesseits ist oder das Diesseits über den leiblichen Tod hinaus verlängern will, verlangt vor allem nach dem Geld als dem Mittel, mit dem sie sich den Anschein erwecken kann, daß dieses Unterfangen gelingen wird. Dementsprechend polemisiert Rist in der erwähnten Vorrede zum vierten Zehnt wie auch in seinen Liedern gegen die Sucht nach Geld und Mammon: „Lauffet doch hin/ sage ich“, schreibt er in dieser Vorrede, „jhr Mammons-Diener/ jhr Menschen-schinder/ jhr Geitzhälse und Geld-verschlucker/ lauffet hin/ und quälet euch Tag und Nacht/ wie jhr grosse Schätze möget samlen; Geitzet/ wuchert/ schindet und schabet/ plaget die Armen und Elenden […]. Wisset aber/ daß biß morgen oder übermorgen/ wenn man im vorüber gehn nach euch fraget/ so gar nichts von euch übrig seyn wird/ als die verfluchte Gedächtnisse eures gottlosen und bößlich geführten Lebens und Wandels.“61 Es wird hier noch einmal deutlich, warum Rist so ausgiebig von der Eitelkeit der diesseitigen Welt und der Gewißheit und Ewigkeit der Hölle redet. Er tut dies gerade im immer heftigeren Einspruch gegen ein immer stärkeres SichVerschließen der Menschen seiner Zeit in die Vorstellung einer Erfüllung durch das Diesseits und eine Sicherheit dieses Diesseits. Das alles sind keine völlig neuen Motive (man denke nur an Mt 5,19–21.24–33). Man kann im Vergleich Rists mit Luther und mit seinen eigenen Zeitgenossen aber auch annehmen, daß der Kontext, in dem Rist spricht, ein eigentümlich neuzeitlicher ist – wenn „Neuzeit“ hier heißen soll: ein Zusammenhang von Gedanken und Mentalitäten, wonach die diesseitige Existenz des Menschen dasjenige ist, worauf alles bezogen werden soll. Rists eigene Signatur zeichnet sich hier ab: Er bleibt in Übereinstimmung mit Luthers Konzentration auf den Glauben an den Gekreuzigten als das, was in der Sterbestunde hilft. Wie er diese Überzeugung vorträgt, ist aber geprägt von dem Kampf gegen eine Existenzhaltung, die allein im Diesseits die Erfüllung des menschlichen Lebens sucht.
60 Rist: Himmlische Lieder (Anm. 1), S. 333, Z. 15 f.; S. 334, Z. 25–28. Es folgt, S. 334, Z. 29–40, die Benennung des Wahns, es würde keine Hölle geben. 61 Rist: Himmlische Lieder (Anm. 1), S. 270, Z. 63–77, vgl. S. 247, Z. 50–56; S. 285, Z. 33–40; S. 307, Z. 51–60; S. 418, Z. 9–16.
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Lyrische Katechismus-Predigt, Städtelob und Lob der Buchdruckerei Zu Johann Rists Katechismus-Andachten (1656) Im Jahre 1656 publizierte der Wedeler Pastor, poeta doctus und äußerst umtriebige Literaturmanager Johann Rist (1607–1667)1 seine siebte größere Sammlung geistlicher Lieder unter dem ebenso umfänglichen wie informativen Titel: Neüe Musikalische Katechismus Andachten/ Bestehende Jn Lehr- Trost- Vermanung und Warnungs-reichen Liederen über den gantzen heiligen Katechismum/ oder die Gottselige Kinder-Lehre/ welchen zugleich zwölf Erbauliche Gesänge über die Christliche Haustaffel/ sind beigefüget/ Die den Alle/ so wol auf bekante/ und in unseren Evangelischen Kirchen gebräuchliche; als auch auf gantz Neüe/ von Herrn Andreas Hammerschmid/ fürtreflichem Musico, und bei der Löblichen Statt Zittau weitberühmtem Organisten/ sehr fleissig und wolgesetzete Melodien können gespielet und gesungen werden. Dem Grossen Gott zu allerschuldigsten Ehren/ Frommen Christlichen Hertzen aber zu nohtwendiger und fruchtbahrer Erbauung abgefasset/ und zum Drukke übergeben […].2 Wie nicht wenige der Ristschen Publikationen zuvor erschien dieses Werk im Verlag der Gebrüder Stern zu Lüneburg. 38 Lieder widmet Rist in den Katechismus-Andachten den fünf katechetischen Hauptstücken (Dekalog, Apostolisches Glaubensbekenntnis, Vaterunser, Taufe, Abendmahl), während sich 12 weitere Lieder mit der dem Kleinen Katechismus beigegebenen Haustafel befassen. Das Werk wird eröffnet mit einer Widmungs-
1 Vgl. Klaus Garber: Literarischer und kulturpolitischer Statthalter im Norden Deutschlands. Ein Portrait Johann Rists. In: J. A. Steiger (Hg.): „Ewigkeit, Zeit ohne Zeit“. Gedenkschrift zum 400. Geburtstag des Dichters und Theologen Johann Rist. Neuendettelsau 2007 (Testes et testimonia veritatis 5), S. 9–36. Vgl. überdies Eberhard Mannack, J. A. Steiger: Art. Rist, Johann. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Hg. von Wilhelm Kühlmann u. a. Bd. 9 (2010), S. 668–670. Thomas Diecks: Art. Rist, Johann. In: Neue Deutsche Biographie 21 (2003), S. 646 f. J. A. Steiger: Art. Rist, Johann. In: Religion in Geschichte und Gegenwart4 7 (2004), Sp. 528. Eberhard Mannack: Johann Rist. Gelehrter, Organisator und Poet des Barock. Festvortrag zur 89. Jahresversammlung der Gesellschaft der Bibliophilen e. V. am 5. Juni 1988 in Kiel. München 1988. Dieter Lohmeier, Klaus Reichelt: Art. Rist, Johann. In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Hg. von Harald Steinhagen, Benno von Wiese. Berlin 1984, S. 347–364. Klaus Reichelt: Art. Rist, Johann. In: Biographisches Lexikon für Schleswig-Holstein und Lübeck. Bd. 6. Neumünster 1982, S. 250–259. 2 Lüneburg 1656.
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vorrede Rists an die Bürgermeister und den Rat der Hansestadt Lüneburg, mit deren politischer, geistlicher und musikalischer Elite er in engem Kontakt stand. Daß Rist die Adressaten seiner Widmungen planmäßig und wohlbedacht auszusuchen pflegte, macht er selbst zum Thema seiner Vorrede und weist darauf hin, daß mit der Dedikation der Katechismus-Andachten an die Stadtobrigkeit Lüneburgs die Würdigung einer „Triangel“3 zur Vollendung komme, nachdem er zuvor zwei andere geistliche Werke „den zweien grossen und Weltberühmten Stätten/ Lübek und Hamburg“4 zugeschrieben habe. Es handelt sich um die Sabbahtische Seelenlust (1651),5 die Rist den „Bürgermeisteren und Rahtmannen/ auch sämtlichen Herren Oberalten und AchtMännern/ benebenst der gantzen/ hochlöblichen Bürgerschafft/ der trefflichen und weitberühmten Statt Hamburg“6 gewidmet hatte, während die Frommer und Gottseliger Christen Alltägliche HAußmusik (1654)7 den „Burgermeistern Und Rahtmannen/ wie auch der gantzen/ hochlöblichen Bürgerschafft/ der Käiserlichen/ freien/ und des Heiligen Römischen Reichs Statt Lübek“8 dediziert ist. Mit dieser Trilogie der Widmungen werde nicht nur der Tatsache Rechnung getragen, daß alle drei Städte Hansestädte seien, sondern auch der Umstand gewürdigt, daß diese durch das gemeinsame lutherische Bekenntnis miteinander verbunden sind. Dies finde, wie Rist hervorhebt, u. a. darin seinen institutionellen Ausdruck, daß die drei Handelsmetropolen durch das ‚Consistorium Tripolitanum‘, das heißt durch den gemeinsamen Konvent der Kirchenbehörden (der sog. Geistlichen Ministerien) Hamburgs, Lübecks und
3 Rist: Katechismus-Andachten (Anm. 2), S. 7. 4 Ebd. 5 Johann Rist: Sabbahtische Seelenlust/ Daß ist: Lehr- Trost- Vermahnung- und Warnungsreiche Lieder über alle Sontägliche Evangelien deß gantzen Jahres/ Welche/ so wol auf bekante/ und in reinen Evangelischen Kirchen gebräuchliche/ alß auch gantz Neue/ Vom Herren Thoma Sellio/ bei der hochlöblichen Statt Hamburg bestaltem Cantore/ wolgesetzete Melodeien können gesungen und gespielet werden/ Gott zu Ehren und Christlichen Hertzen zu nützlicher Erbauung abgefasset und herausgegeben […]. Lüneburg 1651. 6 Rist: Sabbahtische Seelenlust (Anm. 5), fol. a 1v. 7 Johann Rist: Frommer und Gottseliger Christen Alltägliche HAußmusik/ Oder Musikalische Andachten/ Bestehend Jn mancherlei und unterschiedlichen/ gantz neüen/ Geistlichen Liederen und Gesängen/ Welche von Allen/ und Eines jetweden Standes Personen/ in allen und ieglichen/ Leibes und der Seelen Angelegenheiten erbaulich können gebrauchet/ und deroselben grössester Theil auf bekante/ und in reinen Evangelischen Kirchen übliche; Sämtlich aber/ auf gahr neüe/ von dem fürtreflichem und weitberühmten Musico/ Herren Johann Schopen/ wol- und anmuhtig-gesetzte Melodien füglich gesungen und gespielet werden/ Gott zu Ehren/ WiederErbauung des zerfallenen Christenthumes/ und Erneürung des inwendigen Menschen mit sonderm Fleisse aufgesetzet und hervor gegeben […]. Lüneburg 1654. 8 Rist: Haußmusik (Anm. 7), fol. )( 1v.
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Lüneburgs, eng miteinander verbunden sind. Dieses Dreistädte-Konsistorium trat, u. a. in Fällen von Lehrauseinandersetzungen, recht häufig zusammen, so bereits im Zuge des Streites um das sog. Interim im Jahre 1548.9 Ähnlich wie in den Widmungsvorreden zu den beiden früheren Werken befleißigt sich Rist auch in der Dedikation der Katechismus-Andachten unter Beachtung der einschlägigen rhetorischen Kunstregeln des frühneuzeitlichen Städtelobs,10 das ihm sehr ausführlich gerät und im Zuge dessen er zahlreiche Aspekte der Lobwürdigkeit Lüneburgs in den Blick nimmt. Freilich ist dieses kunstvolle Städtelob, das ein hohes Maß an detaillierten Kenntnissen Rists bezüglich Lüneburgs verrät, nicht Selbstzweck, sondern korreliert mit dem Lob, das dem Katechismus zu zollen ist. Rist eröffnet seine praefatio mit dem „Sprichwohrt/ das heisset: MAGNOS MAGNA DECENT; Für Grosse Leüte gehören auch Grosse und herrliche Sachen.“11 Wahre Größe (nicht nur, aber auch) der politisch Verantwortlichen einer Stadt wie Lüneburg hat ihren Grund Rist zufolge in der unverrückbaren Liebe zu Gott und seinem heiligen Wort sowie in dem Bestreben der weltlichen Obrigkeiten, „Pfleger und Nährer der Kirchen und Schulen“12 zu sein. Da Großen Großes gebührt, widmet Rist den Adressaten ein in seiner Sicht wahrhaft großes Werk, nämlich die Katechismus-Andachten, deren Größe allerdings nicht aus deren Umfang herrühre, mithin nicht quantitativ zu bestimmen sei, sondern qualitativ: Die Katechismus-Andachten seien ein grosses/ ja kostbahres Werk […] wegen der überaus hohen und grossen Dinge/ ja/ wegen der überirdischen/ geistlichen und himlischen Sachen/ welche es in sich begreift: Denn der heilige Katechismus oder die Kinderlehre ist ein Schatz über alle Schätze/ und die Christliche Haustaffel ist ein Kleinoht über alle Kleinohter.13
9 Vgl. Johann Georg Bertram: Das Evangelische Lüneburg: Oder REFORMATIONS- Und KirchenHistorie, Der Alt-berühmten Stadt Lüneburg. Darinne Die Kirchen und Klöster dieser Stadt kürtzlich, doch hinlänglich beschrieben, Der Anfang der REFORMATION und Fortpflantzung der Evangel. Lutherischen RELIGION gründlich vorgestellet, Das Leben, Tod und vornehmste Schrifften der Superintendenten, Pastoren und Prediger, nebst andern Kirchen-Geschichten, biß aufs Jahr 1717. richtig erzehlet, Die COLLOQUIA des Drey-Städtischen MINISTERII, Lübeck, Hamburg und Lüneburg fleißig angemercket, Und Von den Theologischen Streitigkeiten unpar theyische Nachricht gegeben wird. Alles mit beygedruckten raren Documenten, untrieglichen Uhrkunden hoher Standes-Personen und vornehmer Theologen Briefen, Responsis &c. bestär cket und ans Licht gegeben […]. Braunschweig 1719, S. 170. 10 Vgl. zur Sache Klaus Arnold: Städtelob und Stadtbeschreibung im späteren Mittelalter und in der frühen Neuzeit. In: Städtische Geschichtsschreibung im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. Hg. von Peter Johanek. Köln 2000, S. 247–268 (Städteforschung A47). 11 Rist: Katechismus-Andachten (Anm. 2), S. 4. 12 Ebd. 13 Rist: Katechismus-Andachten (Anm. 2), S. 5 f.
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Erst nachdem Rist dies klargestellt hat und die Größe der Stadtobrigkeit nicht nur gerühmt, sondern auch die Verpflichtungen namhaft gemacht hat, die aus solcher herausgehobener Position resultieren, nimmt er heterogene lobenswerte Aspekte der Stadt Lüneburg in Augenschein. Berücksichtigung finden deren günstige geographische Lage, die gleichermaßen „anmuhtige“ wie fruchtbare Umgebung, der „in der nähe gelegene Elbestrohm/ schöne Gebäu“,14 wie die zahlreichen Kirchen und das „wolgezierte Rahthaus“,15 aber auch ökonomische ‚Standortfaktoren‘ wie die Saline, die entscheidend zu Lüneburgs wirtschaftlichem Aufschwung und Wohlstand beigetragen hat. Doch nicht nur mit irdischem Salz sei Lüneburg gesegnet, sondern auch mit geistlich-himmlischem, wie Rist mit treffsicherem, emblematisch-allegorisch geschultem Blick und unter Referenz auf Mt 5,13 feststellt: Schon vor, insbesondere aber seit der im Jahre 1530 unter Herzog Ernst I. von Braunschweig-Lüneburg (1497–1546) eingeführten Reformation16 sei Lüneburg auch mit dem himlischen Saltze gantz reichlich und überflüssig […] begabet und versehen. Es sind ja getreüe Lehrer und Prediger das rechte Saltz der Erden/ wie solches unser allerlibster Seligmacher Christus selber bezeüget: An solchen fürnehmen und rechtschaffenen Lehrern nun/ hat es diser alten und edlen Statt niemahls (Gott Lob) gefehlet/ und hat Sie/ sonderlich von der Zeit an/ da der Päpstliche Saurteig der thörichten Menschensatzunge von Jhnen ist außgeschaffet/ und das helle Licht des Evangelii aufgestellet worden/ fürtref liche Männer gehabt […].17
Rist zufolge gebührt aber nicht allein den geistlichen Lehrern und Predigern hinsichtlich der Produktion des himmlischen Salzes Anerkennung, sondern auch den Lehrern an den in der Stadt ansässigen Schulen, näherhin den „wolgelehrten Herren Rectoribus, Conrectoribus, Cantoribus, und andern Schulbedienten“, die die Jugend „in der wahren Erkäntnisse Gottes/ Ubungen allerhand Christlicher Tugenden/ Erlernung unterschiedlicher nohtwendigen Sprachen/ und Ergreiffung mehrerlei rühmlichen Künste und Wissenschaften/ so fleissig und getreülich“18 unterweisen. Eingehende Belobigung erfährt sodann „das wolbe-
14 Rist: Katechismus-Andachten (Anm. 2), S. 9. 15 Ebd. 16 Vgl. zur Lüneburger Reformation Bertram (Anm. 9), S. 38–56. Uwe Plath: Der Durchbruch der Reformation in Lüneburg. In: Reformation vor 450 Jahren. Eine lüneburgische Gedenkschrift. Lüneburg 1980, S. 95–111. Carsten Keune: Die Durchsetzung der Reformation in den Territorien. Landesherrliche Maßnahmen auf dem Weg zum Territorialstaat in der Zeit von 1520 bis 1555 in dem Fürstentum Lüneburg und in der Landgrafschaft Hessen. Diss. iur. Bonn 1999, bes. S. 119– 136. 17 Rist: Katechismus-Andachten (Anm. 2), S. 10. 18 Rist: Katechismus-Andachten (Anm. 2), S. 11.
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stelte Regiment und Policeiwesen diser hochlöblichen Statt“,19 dessen näherer Beschreibung „ein gantzes Büchlein“20 gewidmet werden müßte. Der Kürze halber stellt Rist seinen Freund, den um das Gemeinwesen verdienten Lüneburger Ratsherrn und Gerichtssekretär Joachim Pipenburg (1596–1661),21 in den Fokus, in dem sich exemplarisch veranschauliche, daß das politische Gemeinwesen Lüneburgs ein wahres Kleinod sei. Rist versagt es sich, dieses Kleinod in allen seinen prächtigen Bestandteilen einer erschöpfenden Analyse und Würdigung zu unterziehen, versäumt es jedoch nicht, einen einzelnen „sehr theüre[n] und helgläntzende[n] Diamant[en]“ – mithin wiederum exemplarisch – in Betrachtung zu nehmen. Es handelt sich um die Druckerei und den Verlag der Gebrüder Johann Stern (1582–1656) und Heinrich Stern (1592–1665),22 deren Verdienste namhaft zu machen Rist zufolge nicht unterlassen werden darf, wenn man ein Städtelob auf Lüneburg zu singen hat. Unter (paradoxer) Kombination der rhetorischen Strategien der praeteritio auf der einen Seite und der enumeratio partium auf der anderen hebt Rist die Bedeutung des florierenden Wirtschaftsunternehmens mit Blick auf die Produktion und Distribution von Printmedien hervor: Jch wil hie nicht sagen von der fürtreflichen Ordnung und kluger Anstalt/ welche von vorwolgenanten fürnehmen Buchdrukkerherren/ den Edlen Sternen/ in mehrgedachter Jhrer Kunstreichen Officin oder Werkstätte ist gemachet. Jch gehe hier wissentlich mit stillschweigen vorbei/ wie das gantze Werk mit so wolerfahrnen und vernünftigen Bedienten/ gelehrten und treüfleissigen Correctoren, aufmerkigen Setzern/ arbeitsahmen und saubern Drukkern/ sinreichen Schriftgiessern/ und anderen mehr derogleichen Kunsterfahrnen Leüten reichlich ist versehen: Jch wil auch hie nicht einmahl gedenken der überaus zierlichen Letteren/ derer gleichen andere Drukkereien in Teütschland schwehrlich werden aufweisen können/ des klahren und weissen Papirs/ der deütlichen und beständigen Farbe/ und was sonst mehr zu den preiswürdigen Buchdrukkereien gehöret/ welche Sachen alle in der vielgerühmten Lüneburgischen Drukkerei so vollenkömlich und überflüssig zu finden/
19 Ebd. 20 Ebd. 21 Pipenburg war am 8.3.1649 zum Lüneburger Ratsherrn gewählt worden. Anläßlich dieses Ereignisses veröffentlichte der Nürnberger Dichter Sigmund von Birken (1626–1681) folgende Gelegenheitsschrift: Ehrenzuruf/ auf H. Joachim Pipenburgs in Lüneburg betrettene Rahtstelle/ Jn welche Er/ nächstverwichenen Jahrs am 8. Tag des Lenzen-Monds durch einhällige Wahl erhoben worden, Jn einer Geistlichen Schäferey zugeschrieben. Nürnberg o. J. [1650]. 22 Vgl. Josef Benzing: Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. Wiesbaden 21982 (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 12), S. 304 sowie Christoph Reske: Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. Auf der Grundlage des gleichnamigen Werkes von Josef Benzing. Wiesbaden 2007 (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 51), S. 570.
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das Jhre Schutzherren/ alle andere Buchdrukker in gantz Teütschland/ Sie mögen auch heissen wie Sie wollen/ damit trotzen/ und mit höhestem Rechte den Vorzug können haben und behalten.23
Doch ist es Rist nicht allein darum zu tun, dem überregional berühmten und hervorstechenden Knowhow des Lüneburger buchproduzierenden Gewerbes Wertschätzung zuteil werden zu lassen. Vielmehr würdigt er – mit Blick auf die spezifische Schwerpunktbildung innerhalb des Sternschen Verlagsprogramms – insbesondere den Umstand, daß die Gebrüder auf ihre Art einen wesentlichen Beitrag zur Ausbreitung des christlichen Glaubens in und außerhalb des Standortes ihres Betriebes leisten. Unbestreitbar sei – und hiermit reiht sich Rist in die in der Frühen Neuzeit äußerst verbreitete Gattungstradition des Lobes der Buchdruckerei ein,24 die er mit derjenigen des Städtelobs souverän verbindet –, daß es sich bei der Sternschen Druckerei um eine solche handele, aus welcher so viele köstliche Bücher/ absonderlich der Ahrt/ welche zu Befoderung der Seelen ewigen Heil und Seligkeit dienlich/ in die allgemeine Christenheit sind verschikket/ ja gleichsahm in alle Länder außgetheilet/ und verhandelt [= verkauft] worden/ das man sich billig zum höhesten darüber mus verwunderen.25
Buchproduktion ist so betrachtet Gottesdienst, zumal wenn Verlage wie derjenige der Sterne sich derart intensiv und konsequent um die Produktion von Bibeldrucken26 verdient gemacht haben. Dieses „allerköstlichste Buch/ welches unter
23 Rist: Katechismus-Andachten (Anm. 2), S. 13. 24 Vgl. hierzu Dorothea Seeber: „In Officin und Bett: GOtt laß den Druck gelingen“. Buch drucker und -händler im Spiegel der Gelegenheitsdichtung des Stettiner Pastors Friedrich Fabricius. In: Stadt und Literatur im alten deutschen Sprachraum der Frühen Neuzeit. Hg. von Klaus Garber. Tübingen 1998 (Frühe Neuzeit 39), S. 752–768. J. A. Steiger: Der Mensch in der Druckerei Gottes und die imago Dei. Zur Theologie des Dichters Simon Dach (1605–1659). In: Daphnis 27 (1998), S. 263–290. Misia Doms: „Wer spricht daß fort vnd für die Welt nur ärger werde?“ Andreas Tschernings Lob der Buchdruckerey als Beitrag zur zeitgenössischen Diskussion über den Lauf der Geschichte und die Bewertung der Gegenwart. In: Realität als Herausforderung. Literatur in ihren konkreten Kontexten. Festschrift für Wilhelm Kühlmann zum 65. Geburtstag. Hg. von Ralf Bogner, Ralf Georg Czapla, Robert Seidel und Christian von Zimmermann. Berlin, New York 2011, S. 279–288. 25 Rist: Katechismus-Andachten (Anm. 2), S. 13. 26 Zu den zahlreichen Bibelausgaben der Sterne s. Klaus Dumrese: Der Sternverlag im 17. und 18. Jahrhundert. In: Lüneburg und die Offizin der Sterne. Lüneburg 1956, S. 1–132 sowie Deutsche Bibeldrucke 1601–1800. Beschrieben von Stefan Strohm unter Mitarbeit von Peter Amelung u. a. Teil 1: 1601–1700. Stuttgart-Bad Cannstatt 1993 (Die Bibelsammlung der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart Abt. 2, Bd. 2, Teil 1). Laut Dumrese (S. 70) publizierte Johann Stern 20 verschiedene Bibelausgaben.
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dem Himmel mag gefunden werden/ nemlich die heilige Bibel“ haben die Sterne, wie Rist berichtet, „in unterschiedlichen Formaten/ gantzer achtzehenmahl […] gedrukket“.27 So sei nicht nur ein Auflagenrekord erzielt worden, der seines gleichen suche, sondern auch, wie Rist an dieser Stelle zum wiederholten Male feststellt, ein wichtiger Beitrag zur Promulgation des verbum Dei geleistet worden, dem die Menschen alleine ihr Heil verdanken. Darum sei Gott zu danken/ das durch dises herliche Mittel der alleredelsten Buchdrukkerkunst/ Sein heiliges Wohrt so gewaltig bekant gemacht/ und aus diser löblichen Statt Lüneburg/ der liben unschätzbahren Bibel viele tausend Exemplar in fast unzehlichen Ländern/ Fürstenthümeren/ Herschaften/ Stätten/ Flekken und Dörfferen sind ausgetheilet/ und ümb ein gahr schlechtes Geld [= für einen günstigen Preis] verkauffet worden.28
Doch ist es Rist zufolge nicht nur das Verdienst der Sterne, Lüneburg zu einem florierenden Zentrum der Bibelproduktion gemacht zu haben, sondern auch zu einem solchen der Herstellung und Verbreitung von Meditations- und Gebetsliteratur sowie von Gesangbüchern. Auch diesen Sachverhalt nimmt Rist gewissermaßen im Vorbeigehen in den Blick, nicht ohne hiermit jedoch einen tatsächlichen verlegerischen Schwerpunkt des Sternschen Unternehmens präzise zu bestimmen, wenn er sagt: Solten wir ferner auch noch andere mehr unvergleichliche Schriften und Bücher/ als des weiland Geistreichen/ Hoch- und GOttesgelehrten Herrn Johannis Arndten/ des Sonthoms/ des Baili/ Möllers/ Rösners/ Scheerertzen/ Wudrians/ und anderer dergleichen hochbegabten Männer/ imgleichen der unterschiedlichen vielen Handbücher/ Gesang- und Behtbücher/ welche ebenmässig in grosser Anzahl aus der hochlöblichen Sternischen Buchdrukkerei herfür kommen/ und viel tausend Gottlibenden Seelen mitgetheilet worden/ an disem Ohrte rühmen/ so würden Mir nebenst den Wohrten/ auch Zeit und Papir gebrechen […].29
Diese Passage dürfte aufschlußreich sein hinsichtlich der Frage, welche Schwerpunkte nicht nur der Verlag der Sterne bei der Gestaltung seines Verlagsprogramms, sondern auch Rist in der Rezeption meditativ-geistlicher Literatur setzte. Unbestreitbar ist, daß sich das Sortiment des Verlags an ein dezidiert lutherisches Käuferpublikum richtete. Gleichwohl ergibt die nähere Analyse der Sternschen Verkaufsschlager, daß es sich um eine durchaus facettenreiche Angebotslage handelte, die sich nicht nur heterogenen Strömungen innerhalb des
27 Rist: Katechismus-Andachten (Anm. 2), S. 14. 28 Ebd. 29 Ebd.
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frühneuzeitlichen Luthertums, sondern auch unterschiedlichen konfessionellen Herkünften verdankte. Gewiß nicht von ungefähr nennt Rist an erster Stelle den Erbauungsschriftsteller, Prediger und kirchenleitenden Theologen Johann Arndt (1555–1621),30 der in seiner letzten Lebensphase (seit 1611) als Generalsuperintendent des Fürstentums Braunschweig-Lüneburg im nicht weit entfernten Celle gewirkt hatte. Schon zu seinen Lebzeiten sind im Sternschen Verlagshaus zahlreiche Schriften Arndts (erneut) gedruckt worden, unter ihnen auch Neuauflagen der Bücher von wahrem Christentum (11605/1610)31 und des Paradiesgärtleins (11612). Es ist keineswegs übertrieben, zu behaupten, daß das Verlagshaus der Sterne entscheidend dazu beigetragen hat, daß Arndt zu einem der am breitesten rezipierten lutherischen Erbauungsschriftsteller avancierte und dies auch nach seinem Tod blieb, obgleich seinen Werken nicht selten vorgehalten worden war, heterodoxen (insbesondere spiritualistischen und paracelsistischen) Mentalitäten das Wort zu reden. An einer kirchlich-orthodoxen Rezeption des literarischen Schaffens dieser schillernden Gestalt des Luthertums an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert war bekanntermaßen auch Rist beteiligt, der neun seiner Himmlischen Lieder (1641/42) Prätexte Arndts zugrundelegte.32 An zweiter Stelle nennt Rist in seinem recht opulenten Autorenkatalog Emanuel Sonthom(b). Hinter diesem Anagramm verbirgt sich der englische Kaufmann E. Thom(b)son, dessen Lebensdaten unbekannt sind und der zeitweise in Danzig und Stade lebte. Unter dem Titel Güldenes Kleinot der Kinder Gottes publizierte Thomson im Jahre 161233 eine Übersetzung des First Booke of the Christian
30 Vgl. Hans Schneider: Art. Arndt, Johann. In: Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon. Hg. von Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Michael Schilling, J. A. Steiger und Friedrich Vollhardt. Bd. 1. Berlin u. a. 2011, Sp. 146–157. 31 Vgl. Johann Arndt: Von wahrem Christenthumb. Die Urausgabe des ersten Buches (1605). Kritisch hg. und mit Bemerkungen versehen von J. A. Steiger. Hildesheim u. a. 2005 (Philipp Jakob Spener: Schriften, Sonderreihe 4 = Johann Arndt-Archiv 1). Johann Arndt: Vier Bücher Von wahrem Christenthumb. Die erste Gesamtausgabe (1610) [Reprint]. Hg. von Johann Anselm Steiger. Hildesheim u. a. 2007 (Philipp Jakob Spener: Schriften, Sonderreihe 5.1–3 = Johann ArndtArchiv 2.1–3) 32 Vgl. Johann Rist, Johann Schop: Himmlische Lieder (1641/42). Kritisch hg. und kommentiert von J. A. Steiger. Kritische Edition des Notentextes von Konrad Küster. Mit einer Einführung von Inge Mager. Berlin 2012, hier die entsprechende synoptische Textdokumentation S. 473–543. 33 Vgl. Robert Parsons: Güldenes Kleinot der Kinder Gottes/ Das ist/ Der wahre Weg zum Christenthumb. Darinn Von vnserm elendigen Zustand/ der gestrengen Rechnung vor GOtt/ der Sünden Art/ der Mayestet GOttes/ der Härtigkeit der Hertzen/ der Qual vnd Straff der Sünden/ der ewigen Seligkeit/ den Hindernussen deß Christenthumbs/ Sehr schön vnd tröstlich auß dem Englischen an Tag gegeben […]. Frankfurt a. M. 1612.
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Exercise aus der Feder des Jesuiten Robert Parsons (bzw. Persons; 1546–1610), das 1582 erstmals gedruckt worden war. Grundlage für Thomsons Übersetzung bildete eine protestantische Bearbeitung des römisch-katholischen Ausgangstextes, die Edmund Bunny 1584 veröffentlicht hatte.34 Anhand dieser Konstellation zeigen sich exemplarisch die im ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhundert – insbesondere auf dem Gebiet der Erbauungsliteratur – recht zahlreichen interkonfessionellen Austauschprozesse. Die deutsche Fassung erfuhr zahlreiche Auflagen und Nachdrucke. Im Sternschen Verlag wurde der erste nachweisbare Druck des Werkes 1630 produziert.35 Offenbar war für einen guten Absatz gesorgt, denn die Sterne veranstalteten zahlreiche Auflagen bis zum Ende des 17. Jahrhunderts. Das in unterschiedliche Richtungen weisende interkonfessionelle Gepräge der Sternschen Verlagsproduktion wird sichtbar auch anhand des dritten Verfassers in Rists Liste: Es handelt sich um den Puritaner Lewis Bayly (1565 oder ca. 1573–1631),36 der seit 1616 als Bischof von Bangor fungierte. Sein Erbauungsbuch The practice of piety war wohl erstmals 1612 (und 1613 bereits in dritter Auflage) im Druck erschienen, wurde sehr häufig erneut aufgelegt, in mehrere europäische Sprachen übersetzt und zählt unstreitig zu den erfolgreichsten Erbauungsschriften des 17. Jahrhunderts. Erste deutsche Versionen des Bestsellers wurden Ende der zwanziger Jahre des 17. Jahrhunderts in der Schweiz publiziert. Bei den Gebrüdern Stern erschien das Werk seit 163137 in mehreren Auflagen.38
34 Vgl. Udo Sträter: Art. Sonthom(b), Emanuel. In: Religion in Geschichte und Gegenwart4 7 (2004), Sp. 1453 sowie ders.: Sonthom, Bayly, Dyke und Hall. Studien zur Rezeption der englischen Erbauungsliteratur in Deutschland im 17. Jahrhundert. Tübingen 1987 (Beiträge zur historischen Theologie 71), S. 60–76. 35 Robert Parsons (Verf.), Emanuel Sonthom (Übers.), Justus Gesenius (Bearb.): Gülden Kleinodt der Kinder Gottes. Das ist: DEr wahre Weg zum Christenthumb/ Zu erst aus dem Englischen ins Deutsche vbergesetzet/ Durch EMANVEL SONTHOMB. Jetzo aber auffs newe in etlichen vndeutschen/ vnd der Lehre halber verdächtigen Reden/ aus Liebe gegen diß Buch/ wie auch vmb der willen/ so dasselbe in Händen haben/ an vielen Orten geendert/ vnd mit einem nützen vnd nötigen Zusatz vermehret vnd verbessert/ Durch einen Liebhaber des wahren vnd reinen Euangelischen Christenthumbs. Lege totum & releges. Lüneburg 1630. 36 Vgl. Friedrich Wilhelm Bautz: Art. Bayly, Lewis. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 1 (1990), Sp. 434. William L. McClelland: Art. Bayly, Lewis. In: Religion in Geschichte und Gegenwart4 1 (1998), Sp. 1193. 37 Lewis Bayly: PRAXIS PIETATIS. Das ist: Vbung der Gottseligkeit: Anfänglich in Englischer Sprache beschrieben/ Durch Herrn D. Ludwig Baili, Bischoffen zu Bangoot [sic!]; Vnd vber dreyssig mal gedruckt: Jetzt seiner Würde halb vmbgesetzt/ vnd hervor geben. 2 Teile. Lüneburg 1631. 38 Vgl. Sträter 1987 (Anm. 34), S. 76–83.
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Der vierte Erbauungsliterat, den Rist nennt, ist der zuletzt in Görlitz als Pfarrer tätig gewesene Martin Moller (1547–1606), dessen Erbauungsschriften u. a. wichtige Dokumente der frühen lutherischen Mystik- und insbesondere Tauler-Rezeption sind. Sie fanden in der Frühen Neuzeit breite Rezeption und wurden in viele europäische Sprachen (ins Schwedische, Dänische, Norwegische, Isländische und Französische) übersetzt.39 Drei von Mollers Werken – die Praxis Evangeliorum (11601),40 das Manuale de praeparatione ad mortem (11593)41 und die Meditationes sanctorum patrum (11584/1592)42 –, deren Erstauflagen ausnahmslos in Görlitz erschienen waren, wurden von den Lüneburger Gebrüdern Stern erneut gedruckt (besonders häufig die Praxis Evangeliorum43). Neben dem weniger bekannten Johann Rosner (1589–1661), dessen erstmals 1634 erschienenes Beichtbuch Rosae poenitentiae44 im Verlag der Sterne seit 1642 in einer vom Autor revidierten Fassung mehrfach wieder aufgelegt wurde, nennt Rist auch Sigismund Scherertz (1584–1639).45 Scherertz war im Jahre 1622 nach der Schlacht am Weißen Berg (1620) und der Eroberung Prags durch die Truppen der katholischen Liga wie viele andere lutherische Geistliche aus Prag,
39 Vgl. J. A. Steiger: Art. Moller, Martin. In: Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon. Hg. von Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Michael Schilling, J. A. Steiger und Friedrich Vollhardt. Bd. 4. Berlin u. a. 2015 (im Druck). 40 Erster Druck bei den Sternen: Martin Moller: PRAXIS EVANGELIORVM, FÜR ALLE FROMME HERTZEN, die sich in ietzigen letzten zeiten von sundtlichem Weltlauff absendern vnd auff die erscheinung vnsers Hernn Jesu mit freiden warten […]. 4 Teile. Lüneburg 1629. 41 Erster Druck bei den Sternen: Martin Moller: Manuale. De Praeparatione Ad Mortem. Heilsame und sehr nützliche Betrachtung/ wie ein Mensch christlich leben/ und seliglich sterben sol […]. Lüneburg 1630 [erschienen 1631]. 42 Erster Druck bei den Sternen: Martin Moller: MEDITATIONES Sanctorum Patrum. Das ist: SChöne/ Andächtige Gebet/ tröstliche Sprüche/ gottselige Gedancken/ trewe Bußvermahnungen/ hertzliche Dancksagungen/ und allerley nützliche Ubungen des Glaubens/ Aus den heiligen Altvätern: Augustino, Bernhardo, Taulero, vnd andern/ fleissig und ordentlich zusammen getragen und verdeutschet […]. Lüneburg 1654. 43 Nämlich in den Jahren 1629, 1636, 1651, 1661, 1667 und 1681. 44 Verzeichnet in: CATALOGUS UNIVERSALIS, Hoc est: DESIGNATIO omnium librorum, qui hisce Nundinis Autumnalibus FRANCOFURTENSIBUS & LIPSIENSIBUS Anno 1634. vel novi vel emendatiores & auctiores prodierunt. Verzeichnüß aller Bücher/ so zu Franckfurt in der Herbstmeß/ vnd Leipzigischen MichaelisMarckt/ dieses jetzigen 1634. Jahrs/ entweder gantz new/ oder sonsten verbessert wiederumb auffgeleget vnd gedruckt worden sind/ auch in Gottfried Grossens vnd Henning Grossens Buchläden zu befinden. […]. Leipzig o. J. [1634], fol. C 3v, bislang kein Exemplar ermittelt. 45 Vgl. Alexander Bitzel: Anfechtung und Trost bei Sigismund Scherertz. Ein lutherischer Theologe im Dreißigjährigen Krieg. Göttingen 2002 (Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens 38).
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wo er als Pfarrer tätig gewesen war, vertrieben worden und kam im selben Jahr nach Lüneburg. Hier entfaltete er eine beachtlich breite erbauungsliterarische Produktivität, die einesteils dazu angetan war, seinen verwaisten Prager Gemeindemitgliedern Trost zu spenden und geistlichen Beistand angedeihen zu lassen, und andererseits darauf zielte, das Lesepublikum darin zu unterstützen, mit den leiblichen und psychischen Nöten zu Rande zu kommen, die der Dreißigjährige Krieg hervorgerufen hatte.46 Der letzte Autor in Rists Aufzählung ist Valentin Wudrian d. Ä. (1584–1625), der seinen letzten Wirkungsort seit 1621 als Hauptpastor an St. Petri in Hamburg hatte.47 Wudrians erfolgreichstes Werk war die Schola Crucis, die postum erstmals 1627 in Hamburg erschienen war48 und hernach zahlreiche Neuauflagen und Nachdrucke erfuhr. Laut Titelblatt hat Wudrian das Werk lediglich herausgegeben und erweitert; der eigentliche Verfasser ist der Hamburger Domkanonikus Lorenz Langermann (1556–1620).49 Bereits 1634 soll in Lüneburg ein Nachdruck des Buches erschienen sein.50 Die erste nachweisbare Ausgabe des Sternverlags stammt aus dem Jahre 165151 und ist von Wudrians Schwiegersohn Johann Neukrantz (1602–1654)52 veranstaltet worden, der Pastor in Kirchwerder war.53 Es
46 Vgl. J. A. Steiger: Melancholie, Diätetik und Trost. Konzepte der Melancholie-Therapie im 16. und 17. Jahrhundert. Heidelberg 1996, S. 73–79. 47 Vgl. Deutsches Biographisches Archiv I, 1396, 102–108 sowie Johann Heinrich Zedler: Großes vollständiges Universal-Lexikon. 64 Bde. und 4 Supplementbde. Halle/S., Leipzig 1732–1754 (Reprint Graz 1961–1964), hier Bd. 59 (1749), Sp. 776–778. 48 Verzeichnet in: CATALOGUS UNIVERSALIS, Hoc est: DESIGNATIO omnium Librorum, qui hisce Nundinis Vernalibus FRANCOFURTENSIBUS & LIPSIENSIBUS Anno 1627. vel novi, vel emendatiores & auctiores prodierunt. Verzeichnüß aller Bücher/ so zu Franckfurt in der Fastenmeß/ vnd Leipzigischen Ostermarckt dieses jetzigen 1627. Jahres entweder gantz new oder verbessert widerumb auffgelegt vnd gedruckt worden sind/ auch in Gotfried Grossens/ vnd Henning Grossen des jüngern S. Erben/ Buchläden zu befinden. […]. Leipzig o. J. [1627], fol. D 1v/2r, kein Exemplar ermittelbar. 49 Vgl. Deutsches Biographisches Archiv I, 739, 44–50. 50 Vgl. Zedler (Anm. 47), Bd. 59 (1749), Sp. 778. 51 Johann Rist: Neüer Teütscher Parnass/ Auff welchem befindlich Ehr’ und Lehr Schertz und Schmertz Leid- und Freüden-Gewächse/ Welche zu unterschiedlichen Zeiten gepflantzet/ nunmehr aber Allen/ der Teütschen Helden-Sprache und deroselben edlen Dichtkunst vernünfftigen Liebhaberen/ zu sonderbarem Gefallen zu hauffe gesamlet und in die offenbahre Welt außgestreüet […]. Lüneburg 1652 (Reprint Hildesheim u. a. 1978), S. 760–764. 52 Friedrich Hammer, Herwarth von Schade (Bearb.): Die Hamburger Pastorinnen und Pastoren seit der Reformation, ein Verzeichnis. 2 Teile. Hamburg 1995, I, S. 131. 53 Valentin Wudrian: SCHOLA CRUCIS ET TESSERA CHRISTIANISMI. Das ist: Ein außführlicher/ Christlicher Unterricht/ von dem lieben Kreutz/ welches ist aller wahren Christen Hoff-Farbe/ wie nutz/ heilsam und nötig es sey/ und wie sich ein ieglicher darinn schikken und verhalten
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folgten mehrere weitere Auflagen bei den Sternen. Ein Gedicht Rists über die von Neukrantz besorgte Neuausgabe findet sich im Neüen Teütschen Parnass (1652). Doch ist der Verlag der Sterne Rist zufolge nicht nur darum zu loben, weil er sich um die Verbreitung von Bibeldrucken und geistlicher Literatur derart verdient gemacht hat, sondern auch als ‚Hausverlag‘ des Wedeler Dichters und Pastors.54 In der Tat unterhielt Rist zum Zeitpunkt des Erscheinens der Katechismus-Andachten bereits eine langjährige Geschäftsbeziehung zu den Sternen: Schon die Himmlischen Lieder (1641/42),55 Rists erste größere Sammlung von geistlichen Gedichten, waren hier publiziert worden. Diese Kooperation setzte sich bis zu Rists Tod fort: Zwar wirkte Rist auch mit einer Reihe von anderen, z. B. Hamburger Verlagen, zusammen, doch sämtliche geistliche Gedichtsammlungen wurden (mit Ausnahme der früheren56 und der späteren, erweiterten Fassung der Passionslieder57) von den Sternen produziert.58
solle: Allen frommen Christlichen Hertzen/ die mit Kreutz und Trübsahl beladen sind/ zu Trohst und Unterweisung aus Gottes Wort/ und der berühmten Kirchenlehrer TrohstSchrifften zusammen getragen von einem wolversuchten Kreutzbruder und Nachfolger Christi. Mit fleiß übergesehen/ und in richtige Ordnung gebracht/ auch mit etlichen Capiteln vermehret/ Durch M. VALENTINUM WUDRIAN, Sehl. gewesenen Pastorn der HaubtKirchen S. Peters in Hamburg. Ietzo aber auffs Neue zugerichtet/ von denen ohn-gebührlichen Zusätzen und ohn-zählichen Drukfehlern befreyet/ auch mit außerlesenen SchriftSprüchen erläutert/ durch desselben Eydam/ M. Johann Neukrantz/ Pfarrern in Kirchwärder. Lüneburg 1651. 54 Vgl. Rist: Katechismus-Andachten (Anm. 2), S. 14 f. 55 S. o. Anm. 32. 56 Johann Rist: Der zu seinem allerheiligsten Leiden und Sterben hingeführter und an das Kreütz gehefteter Christus Jesus/ Jn wahrem Glauben und Hertzlicher Andacht besungen […]. Hamburg 1648. Der Druck wurde von dem Hamburger Drucker Jakob Rebenlein († 1662) besorgt und in Hamburg von Johann Naumann (1627–1668) in Verlag genommen. 57 Johann Rist: Neue Hoch-heilige Paßions-Andachten Jn Lehr- und Trostreichen Liedern/ (welche von dem weitberühmten Musico/ und dieser Zeit Hochfürstlichen Brunschwigischen Kapell Meister zu Wolfenbüttel/ Herrn Martino Colero, mit sehr anmutigen und beweglichen Sangweisen sind außgezieret) bey diesen trübseeligen und recht jämmerlichen Zeiten/ allen des gekreutzigten JEsu getreusten Liebhabern/ zu sonderbahren Gefallen auch hertzlichem Trost und Erquickung aufgesetzet und wohlmeinentlich herfür gegeben von Johann Rist. Hamburg 1664. Vgl. die kritische Edition: Johann Rist, Martin Coler: Neue Hochheilige Passions-Andachten (1664). Kritisch hg. und kommentiert von J. A. Steiger. Kritische Edition des Notentextes von Oliver Huck und Esteban Hernández Castelló. Berlin u. a. 2014. 58 Rists letztes geistliches Werk, der zweite Teil der Verschmäheten Eitelkeit Und Der verlangeten Ewigkeit, erschien erst postum (1668) in Frankfurt a. M. Offenbar ist diese Schrift unvollendet geblieben, da sie untypischerweise keine Vorrede(n) des Autors enthält und auch keine Ehrenschriften. Vgl. Johann Rist: Der verschmäheten Eitelkeit Und Der verlangeten Ewigkeit/ Ander Theil/ Jn vier und zwantzig erbaulichen Seelengesprächen/ Und eben so viel Lehr-reichen Liedern/ Welche so wol auf bekante/ und in den Evangelischen Kirchen übliche/ als auf gantz
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Mit der zweiten Vorrede, die an den „Christlichen/ Gott- und die Warheitlibenden Leser“59 gerichtet ist, wechselt Rist die Adressatengruppe, knüpft aber dennoch an das Ende der ersten praefatio an, indem er im Sinne einer Autobibliographie sein bisher geschaffenes, sieben Liedsammlungen umfassendes geistlich-lyrisches Werk Revue passieren läßt und es als ‚geistliche Woche‘ apostrophiert. Wisse demnach/ aufrichtiger/ liber Leser/ das von mehrgedachten Meinen Sieben Tagwerken/ oder Geistlichen Büchern gewesen sei/ Das I. Neüe Himlische Lieder60 in fünf Theile unterschieden/ mit neüen/ von Herrn Johann Schopen/ liblich- und wolgesetzeten Melodeien/ erstlich im 1644.61 Jahre/ hernach im Jahre 1652 zu Lüneburg/ durch die Herren Sterne gedrukket und verleget. Das II. Der/ zu Seinem allerheiligsten Leiden und Sterben hingeführter/ und an das Kreütz gehefteter Jesus Christus62/ in wahrem Glauben und hertzlicher Andacht besungen/ mit beweglichen/ von H. Henrico Papen wolbestalten Organisten des Stättleins Altonah/ fleissig gesetzeten Melodien/ im 1648 Jahre zum ersten mahl/ folgends aber mit der Lateinischen Ubersetzung Herrn M. Tobiae Petermans im 1654 Jahre zu Hamburg63/ in Verlegung Herrn Johann Naumans/ von Jacob Rebenlin gedrukket. Das III. Neüer Himlischer Lieder sonderbahres Buch64/ in Sich begreiffend Fünf Theile/ als Buhss- Lob- und Dank- Sonderbahre/ Todes- und Gerichtes- Höllen- und Himmelslieder/
neue/ lieblich gesetzte Melodien können gespielet und gesungen werden/ Mit besonderm Fleisse zu Papir Gebracht/ Nunmehr aber/ dem allerhöhesten GOTT zu schuldigsten Ehren/ Erbawung seiner Kirchen/ und wieder aufrichtung des leider! gahr zerfallenen Christenthumes/ öffentlich herfür gegeben […]. Frankfurt a. M. 1668. 59 Rist: Katechismus-Andachten (Anm. 2), S. 17. 60 Gemeint sind nicht Rists Neue Himmlische Lieder, die 1651 publiziert wurden (vgl. u. Anm. 64). Im Blick ist vielmehr die 1652 im Sternverlag publizierte und überarbeitete Sammelausgabe der 1641/42 in fünf Teilen erschienenen Himmlischen Lieder. Der Kupfertitel dieser Ausgabe lautet Neüe Himlische Lieder. Vgl. Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. 6 Teile. Stuttgart 21990–1993 (Hiersemanns Bibliographische Handbücher 9), hier Bd. 5 (1991), S. 3389, Nr. 17.VI.2. 61 Eine Sammelausgabe der Himmlischen Lieder aus dem Jahr 1644 ist nicht bekannt. 62 Rist: Der zu seinem allerheiligsten Leiden und Sterben hingeführter und an das Kreütz gehefteter Christus Jesus (Anm. 56). 63 Johann Rist (Verf.), Tobias Petermann (Übers.): Der zu seinem allerheiligsten Leiden und Sterben hingeführter und an das Kreütz gehefteter Christus Jesus/ Jn wahrem Glauben und Hertzlicher Andacht besungen von Jahan Risten. Jtzo auffs neüe übersehen und an vielen ohrten merklich verbessert. Nunmehr auch in der lateinischen Sprache übergesetzet von M. TOBIA PETERMANO. Hamburg 1655. Vgl. hierzu den Beitrag von Andreas Betz in vorliegendem Band. 64 Gemeint sind Rists Neue Himmlische Lieder, die 1651 erstmals erschienen sind. Vgl. Johann Rist: Neue Himmlische Lieder (1651). Kritisch hg. und kommentiert von J. A. Steiger. Musik von Andreas Hammerschmidt, Michael Jacobi, Jacob Kortkamp, Petrus Meier, Hinrich Pape, Jacob Praetorius, Heinrich Scheidemann, Sigmund Theophil Staden. Kritische Edition der Notentexte von Konrad Küster. Berlin 2013.
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mit neüen/ von unterschiedlichen fürnehmen Meistern der edlen Singekunst wolgesetzeten Melodien/ gedrukket und verleget zu Lüneburg von den Herren Sternen/ im 1651 Jahre. Das IV. Sabbahtische Seelenlust65/ oder Lehr- Trost- Vermahnung- und Warnungsreiche Lieder über alle Sontägliche Evangelien des gantzen Jahres/ mit neüen/ von Herren Thoma Sellio wolgesetzeten Melodien/ ebenmässig gedrukket und verleget zu Lüneburg von den Herren Sternen/ im 1651 Jahre. Das V. Frommer und Gottseliger Christen Altägliche Hausmusik66/ mit neüen/ von H. Johann Schopen wol und anmuhtig gesetzeten Melodien/ gedrukket und verleget zu Lüneburg von den Herren Sternen/ im 1654 Jahre. Das VI. Neüe Musikalische FestAndachten/ auf alle Evangelia und sonderbare Texte/ welche das gantze Jahr über an hohen und gemeinen/ Fest- Apostel- und anderen Feirtagen werden erklähret und außgeleget67/ mit neüen/ von Herren Thoma Sellio, sonders wolgesetzeten und gahr liblich klingenden Melodien/ gedrukket und verleget zu Lüneburg von den H. Sternen/ im 1655 Jahre. Das VII. Heilige KatechismusAndachten/ nebenst beigefügten erbaulichen Liederen über die Christliche Haustaffel/ mit neüen süsklingenden/ von H. Andrea Hammerschmieden und Herrn Michael Jakobi darauf gemachten Melodien/ gedrukket und verleget zu Lüneburg bei den Herren Sternen/ im 1656 Jahre. Dise/ freündlicher/ liber Leser/ sind nun die Sieben Tage Meiner Geistlichen Wochen […].68
Ziel der Vorrede an den Leser ist es freilich nicht nur, diesem vor Augen zu führen, in welch’ umfänglichem Kontext des Ristschen geistlichen Œuvre die Katechismus-Andachten ihren Ort haben. Vielmehr ist es auch Rists Bestreben, eine grundsätzliche Legitimation seines geistlich- und weltlich-schriftstellerischen Schaffens zu dokumentieren. Wie in zahlreichen Schriften zuvor beklagt Rist auch in dieser Vorrede den Umstand, der „leidige Teüfel“ habe ihm viele boshafte Neider/ Lügner/ Misgönner und Verläumder erwekket/ welche bald Meine Person/ bald Mein Amt/ bald Meine Arbeit/ Bücher und Schriften zu tadlen/ Sich gröslich bemühet/ ob Sie Mir etwan das Ziel/ welches Ich mir fürgesetzet/ das Ich nemlich durch sothane Meine Arbeit/ des Allerhöchsten Ehre/ Erweiterung Seiner Kirchen/ Wiederaufbauung des jämmerlich zerfallenen Christenthumes/ und schließlich vieler Menschen Seelen Heil und ewige Seligkeit möchte befoderen/ gäntzlich verrükken/ und also mein Christliches Vorhaben durchaus könten zu nichte machen.69
65 Rist: Sabbahtische Seelenlust (Anm. 5). 66 Rist: Haußmusik (Anm. 7). 67 Johann Rist: Neüe Musikalische Fest-Andachten/ Bestehende Jn Lehr- Trost- Vermahnungsund Warnungsreichen Liederen/ über Alle Evangelien und sonderbahre Texte/ welche Jährlich/ an hohen und gemeinen Fest- Apostel- und anderen Feirtagen/ in den Evangelischen Kirchen werden erklähret und ausgeleget/ Die den/ Grössern Theils/ auf gewöhnliche und bekante; Alle aber auf gantz Neüe/ von Herren Thoma Sellio/ berühmten Musico, und bei der hochlöblichen Statt Hamburg treüfleissigstem Cantore, wolgesetzete Melodyen können gespielet und gesungen werden. Dem Grossen GOtt zu schüldigsten Ehren/ und frommen Christlichen Hertzen zu fruchtbahrer Erbauung abgefasset und zum Drukke übergeben […]. Lüneburg 1655. 68 Rist: Katechismus-Andachten (Anm. 2), S. 18–20. 69 Rist: Katechismus-Andachten (Anm. 2), S. 20 f.
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Wie auch andernorts echauffiert sich Rist über die „abscheüliche Lügen“, die „von Meiner Person/ Leben und Wandel erdichtet“, sowie über die „Gottlose[n] Pasquillen“, die „von leichtfertigen Buben und Landläufferen [= Landstreichern] heimlich unter die Leüte gestreüet/ und herüm getragen“70 worden seien. Leider konnten derlei Schmähschriften – gedruckte oder handschriftliche – bislang nicht ausgemacht werden; und man wird hinter den von Rist erwähnten Verunglimpfungen nicht allein Philipp von Zesen (1619–1689) ausmachen wollen, mit dem er zunächst eng befreundet gewesen war, seit 1653 aber in einem heftigen (und recht gut erkundeten) Konflikt stand.71 Jedenfalls holt Rist in seiner Vorrede zu einer ausführlichen Rechtfertigung seiner literarischen Produktion aus, deren Details an dieser Stelle nicht zu erörtern sind, und bezieht sich hierbei auch auf die ansehnliche Schar derjenigen, die seinen bislang erschienenen Werken in Form von Ehrenschriften Approbation und Wertschätzung haben zuteil werden lassen. Insgesamt 72 solche Personen nennt Rist, die er in sechs Gruppen unterteilt: 1. kirchenleitende Theologen, 2. Literaten (unter ihnen Mitglieder der Fruchtbringenden Gesellschaft, gekrönte Poeten und Adlige), 3. Juristen (und weitere Literaten), 4. Ärzte, 5. pastorale Amtskollegen und schließlich 6. Professoren, Schulrektoren, Lehrer (sowie einige weitere poetae laureati). Man mag dies aus heutiger Sicht für übertrieben halten und vielleicht auch als einen Ausdruck von Rists nicht immer nur sympathisch wirkendem Geltungsbedürfnis werten. Klar aber ist zweierlei. Erstens: An keiner anderen Stelle seines Œuvre legt Rist in vergleichbar übersichtlicher Weise die Bandbreite seiner Netzwerkbildung innerhalb der respublica litteraria offen, die den gesamten deutschsprachigen Kulturraum umfaßt. Zweitens: Hier spricht, verantwortet sich und heischt Anerkennung ein lutherischer Theologe des 17. Jahrhunderts (vielleicht gar der einzige seiner Art), in dessen publizistischer Tätigkeit die üblicherweise erwartbaren literarischen Gattungen (vom Lehr- bis hin zum Erbauungsbuch, vom Traktat bis hin zu Predigten) überhaupt keine Rolle spielen72 – ein Theologe zumal, der mit achtbarem Erfolg das Ziel verfolgt, das Gesamte der Theologie ausschließlich im Medium der geistlichen Dichtung zur Darstellung zu bringen und in die Aneignung seiner Leser zu überführen. Bezüglich dieses Großprojektes, „die gantze Theologiam, oder die Lehre von Gott/ in lauter erbaulichen Liedern zu begreiffen/
70 Rist: Katechismus-Andachten (Anm. 2), S. 21. 71 Vgl. hierzu Ferdinand van Ingens Beitrag in vorliegendem Band. 72 Selbst bei Paul Gerhardt, an den man hier denken könnte, liegen die Dinge anders, insofern von ihm vier gedruckte Leichenpredigten überliefert sind. Vgl. zu diesen Elke Axmacher: Die Kunst der Leichenpredigt. Annäherungen an Paul Gerhardt als Prediger. In: Arbeitsstelle Gottesdienst. Zeitschrift der Gemeinsamen Arbeitsstelle für gottesdienstliche Fragen der Evangelischen Kirche in Deutschland 20 (2006), S. 21–29.
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und der Kirchen Gottes wolmeinentlich mitzutheilen“,73 reklamiert Rist selbstbewußt und zu Recht Originalität, denn hierbei handele es sich um eine „Arbeit“ der sich „Meines wissens/ unter uns Teutschen/ […] bishero noch niemand“74 unterzogen hat. Auch den Katechismus-Andachten sind zahlreiche Ehrenschriften beigegeben, die auf die beiden Ristschen Vorreden folgen. Es handelt sich um 17 lyrische Texte und acht Episteln. Das erste Wort hat der Zittauer Organist Andreas Hammerschmidt (1611–1675),75 der gemeinsam mit dem Lüneburger Kantor Michael Jacobi (1618–1663)76 für die Liedkompositionen in den Katechismus-Andachten gesorgt hatte. Hierauf folgt eine Epistel aus der Feder des Braunschweig-lüneburgischen Generalsuperintendenten Michael Walther (1593–1662),77 die sich schon angesichts ihrer Länge von den übrigen Ehrenschriften deutlich abhebt. Im Zentrum von Walthers Text steht erneut das dem Kleinen Katechismus Luthers gebührende Lob, bezüglich dessen Walther eine ganze Reihe von testimonia anführt, nämlich von Georg III., dem Fürsten von Anhalt-Plötzkau (1507–1553), Philipp Melanchthon (1497–1560), Justus Jonas (1493–1555), Johannes Bugenhagen (1485–1558), Martin Chemnitz (1522–1586), Joachim Mörlin (1514–1571), Polykarp Leyser d. Ä. (1552–1610), Zacharias Schilter (1541–1604) und Johann Förster (1576–1613). Vergleichbar mit der von Rist systematisch betriebenen und in der zweiten Vorrede präzise deskriptiv-rückblickend erfaßten Verortung seiner literarischen Produktion in den weitverzweigten Netzwerken der geistigen Eliten des deutschsprachigen Raumes ist es Michael Walther darum zu tun, Rists extensive
73 Johann Rist: Neues Musikalisches Seelenparadis/ Jn sich begreiffend Die allerfürtreflichste Sprüche der heiligen Schrifft/ Alten Testaments/ Jn gantz Lehr- und Trostreichen Liederen und HertzensAndachten/ (welche so wol auf bekante/ und in den Evangelischen Kirchen gewöhnliche/ als auch gantz Neue/ von dem fürtreflichem Musico, Herren Christian Flor/ der Kirchen zu Sanct Lambrecht in Lüneburg/ wolbesteltem Organisten/ so künst- als lieblich- und andächtig gesetzete Melodien können gespielet und gesungen werden) richtig erklähret und abgefasset/ Nunmehr aber/ zu Befoderung Göttlicher Ehre/ und Fohrtpflantzung des heiligen und allein seligmachenden Wohrtes/ wie auch Wideraufrichtung unseres leider! fast gantz zerfallenem Christenthumes/ an das offene Licht gebracht/ und mit einem dreifachen Register oder Blattweiser hervor gegeben […]. Lüneburg 1660, fol. a 8v. 74 Ebd. 75 Vgl. Diana Rothaug: Art. Hammerschmidt, Andreas. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart2, Personenteil. Bd. 8 (2002), Sp. 486–494. 76 Vgl. Martin Ruhnke: Art. Jacobi, Michael. In: Neue Deutsche Biographie 10 (1974), S. 232 f. sowie Arndt Schnoor: Art. Jacobi, Michael. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart2, Personenteil. Bd. 9 (2003), Sp. 807 f. 77 Vgl. Hans-Peter Hasse: Art. Walther, Michael. In: Religion in Geschichte und Gegenwart4 8 (2005), Sp. 1300 f.
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lyrische Befassung mit dem Kleinen Katechismus zu charakterisieren 1. als Konkretion der bereits von Luthers engsten Mitarbeitern artikulierten laus catechismi und 2. als integraler Bestandteil einer im frühneuzeitlichen Luthertum äußerst breit angelegten theologia catechetica, an deren Herausbildung sich im Reformationzeitalter selbst und in der nachfolgenden Zeit die prominentesten Theologen beteiligt haben. Selbstverständlich versäumt es Walther nicht, darauf hinzuweisen, daß bereits der Wittenberger Reformator selbst den Katechismusstoff in sieben Liedern einer lyrischen Bearbeitung unterzogen hat,78 mithin als Begründer der protestantischen Gattungstradition des Katechismusliedes zu gelten hat. Zwar gebühre Luthers Katechismusliedern das „Prae“ und der „Vorzug“,79 genauso deutlich aber sei auch, daß Rist und all diejenigen, die sich auf diesem speziellen Gebiet der geistlichen Lyrik betätigen, in die Fußstapfen des Reformators treten. Als Exempel einer jüngeren lyrischen Befassung mit dem Katechismusstoff führt Walther ein Lied aus der Feder des Königsberger Theologen Bernhard von Derschau (1591–1639) an.80 Walther und von Derschau hatten gemeinsam in Jena studiert.81 Walther zitiert das gesamte Lied, das freilich (vielleicht infolge
78 Vgl. Rist: Katechismus-Andachten (Anm. 2), S. 43: „[…] als da sind/ von dem Ersten Hauptstük/ die beiden herlichen Hymni, Diß sind die heiligen Zehen Gebot/ und Mensch wilst du leben seliglich/ vom Andern/ Wir gläuben all an einen Gott/ vom Dritten/ Vatter unser im Himmelreich/ vom Vierten/ Christ unser HErr zum Jordan kam/ vom Fünften/ Jesus Christus unser Heiland/ der von uns den Zorn Gottes wand/ und Gott sei gelobet und gebenedeiet:“ 79 Rist: Katechismus-Andachten (Anm. 2), S. 43. 80 Vgl. Daniel Heinrich Arnoldt: Ausführliche und mit Urkunden versehene Historie der Königsbergischen Universität. 2 Teile. Neudruck der Ausgabe Königsberg 1746. Aalen 1994, hier II, S. 495 f. sowie Deutsches Biographisches Archiv I, 231, 3–8; 1427, 269; II, 264, 117 f.; III, 171, 43. Die an manchen Stellen begegnende Information, von Derschau sei Professor für Theologie in Königsberg gewesen, ist unzutreffend. 81 Von Derschau wurde im Wintersemester 1616 in die Matrikel eingetragen. Vgl. Die Matrikel der Universität Jena. Bd. 1: 1548 bis 1652. Bearb. von Georg Mentz in Verbindung mit Reinhold Jauernig. Jena 1944 (Veröffentlichungen der Thüringischen Historischen Kommission 1), S. 77b. Walther kam 1617 nach Jena. Vgl. Ditericus Culemann: Πρῶτον Εὐαγγέλιον, Das ist/ Die erste/ tröstliche/ gute Botschafft von Jesu Christo/ dem Heyland aller Menschen/ so von GOTT selbst unsern ersten Eltern gebracht/ daß derselbe dem Teuffel seine Macht nehmen/ und den Menschen vergebung der Sünden/ Ewiges Leben und Seeligkeit schencken würde/ Aus dem 1. Buch Mosis 3. Capit. 15. Vers. Bey beerdigung/ und Ansehnlich-Volckreicher Leichbegängniß/ Des Weiland Wol-Ehrwürdigen/ und Hochgelahrten Herrn/ MICHAELIS WALTHERI, Weitberühmten Theologi, und in denen Fürstenthümern Braunschweig und Lüneb. Zellischen theils/ Wolverdienten Superintendentis Generalissimi, Welche am 14. Martii Anno 1662. in der PfarrKirchen zu Zell geschehen/ Erklähret und auff begehren dem Truck übergeben […]. Wittenberg o. J. [1662], fol. G 1r/v. Walther ist in der Jenaer Matrikel jedoch nicht genannt.
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einer von diesem vorgenommenen Überarbeitung) von der Textversion erheblich abweicht, die sich in der Königsberger Sammlung Ausserlesene Geistreiche Lieder (1638) findet,82 die von Bernhard von Derschau herausgegeben und bevorwortet worden war. Michael Walthers Textversion
Bernhard von Derschaus Text
1. HErtzlich deine Zehn Gebott Jch lib’/ O Herr/ du heiligster Gott mir gib Dein Geist darnach zu leben. Das Jch Dir übr alle Ding vertrau/ Nicht neben Dir auf andre Götter bau: Noch in Misbrauch thu geben Mit meiner Zung den Namen Dein: Las mir deinen Sabbaht heilig sein: Das Jch mein’ Eltern ehr’ alzeit: Den Todschlag: Ehbruch: Diebstal meid. Herr Jesu Christ/ Wehr Falschheit/ List ://: Lust/ und was dir zu wider ist!
1. DJe zehn Geboth/ HErr hab ich lieb/ Jch bitte mir die Gnade gieb Daß ich darnach mag leben/ Dir vber alle ding vertraw Vnd nicht auff ander Götter baw/ So dir gantz wieder streben/ Hilff/ daß ich deinen Nahmen ehr’ Vnd heilig halte deine Lehr/ Sey meinen Eltern Vnterthan/ Mord/ Ehbruch/ Diebstal laß anstahn/ HErr JEsu CHrist/ Für Falschheit/ List :/: Auch für der bösen Lust mich rüst.
2. GOttes Eifer dreüt zwar Zorn und Tod/ Doch gläub’ Jch an mein Vater und Gott/ Schöpfer Himmels und der Erden.
2. Es bringt die Sünd zwar Zorn vnd Todt/ Doch gläub ich an den wahren Gott Des Himmels vnd der Erden/
82 Ausserlesene Geistreiche Lieder/ Welche auff die fürnembsten Feste des Jahrs/ vnd sonsten/ in den Kirchen vnd Häusern zu Königsberg Christlich gesungen werden. Auffs new vbersehen/ vermehrt vnd zum andernmahl gedruckt. […]. Königsberg 1638, S. 47–50. Das Lied hat die Überschrift „Ein ander Geistlich Lied/ darinnen die 5. Häuptstück des Lutherischen Catechismi verfasset seyn/ Jm Thon: Hertzlich lieb hab ich dich O HErr:“ Text auch Albert Friedrich Wilhelm Fischer, Wilhelm Tümpel: Das deutsche evangelische Kirchenlied des 17. Jahrhunderts. 6 Bde. Gütersloh 1904–1916 (Reprint Hildesheim 1964), Bd. 3, S. 17 f. (mit der fehlerhaften Angabe, es sei 1639 erstmals gedruckt worden). Der früheste Abdruck des Textes in einem Lüneburger Gesangbuch hat erst 1663 stattgefunden und zwar in: Neu Lüneburgisch-Vollständig-wolverbessertes Gesangbuch/ D. MARTINI LUTHERI, ERASMI ALBERI. PAUL EBERI. NICOL. HERM. PHILIP. NICOLAI. BART. RINGWALD. D. SELNECCERI. Und anderer reinen Lehrer/ und Gotts-gelehrten Männer/ (derer Namen und Melodei/ so viel zu erfahren müglich/ stracks beygefügt/) Mit den Sonn- und Fest-Tags Evangelien und Episteln/ durchs gantze Jahr. Wie auch Herrn D. Johann Habermans andächtigem Gebetbüchlein/ und H. Matthesii Bericht/ vom Christlichen Haußhalten; […]. Lüneburg 1663. Die hier zu findende Textversion geht allerdings auf Walthers Darbietung des Liedes in den Katechismus Andachten zurück, wie die ebd., S. 93 f. zu lesende Überschrift zeigt, in der es in enger Anlehnung an Walthers Formulierung (Rist: Katechismus-Andachten [wie Anm. 2], S. 44) heißt: „Der gantze Catechißmus von dem Sel. Königbergischen wolfrommen und grundgottfürchtigen Luth. Theol. D. Bernh. Derschovio füglich ineinander gekammert/ im folgenden schönen Gesange:“
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Michael Walthers Textversion
Bernhard von Derschaus Text
Jch gläub’ an Sein Einigen Sohn Jesum Christ/ Der Mensch empfangn und gebohren ist: Must leiden und kreützigt werden: Starb: ward begrabn: Fuhr in die Hell: Stund wieder auf vom Tode schnel: Fuhr auf gen Himmel: zues Vatern Hand Jtzt sitzt/ wird richten alle Land/ HErr Jesu Christ Dein Geist mich führ’ ://: An den Jch gläub/ durchs Wohrt zu Dir!
Der mir Leib/ Seel gegeben hat/ Mich Väterlich beschirmt aus Gnad/ Danck sol jhm dafür werden. Jch gläub auch fest an JEsum CHrist/ Der GOtt vnd Mensch gebohren ist Vnd mich durch sein Blut hat erlöst/ Daß ich Jhm dien’ auffs allerbest. HErr JEsu CHrist/ Dein Geist führ :/: An den ich gläub/ durchs Wort zu dir.
3. O Vater unser im Himmelsthron/ Geheiliget werd dein Name schon/ Bei uns durch reine Lehre: Dein Reich zukomme durch deinen Geist: Dein Will gescheh’ und alls was du heist/ Dem Fleisch und Teüfel wehre: Gib täglich Brod/ ohn Krieg und Noht/ Behüt für Hunger und jähem Tod: All’ unser Schuld aus Gnadn erlass’: Und versuch’ uns nicht über Mahss: HErr Jesu Christ/ Vom Ubl und Gefahr ://: Lös’ uns. Amen/ das werde wahr.
3. O Vater in dem Himmels Thron/ Dein Nahme Heilig werde schon Bey vns durch reine Lehre. Dein Reich zukom durch deinen Geist/ Dein Will gescheh’/ vnd was du heist/ Dem Fleisch vnd Teuffel wehre/ Gib vns auch heut das Täglich Brot/ Behüt vor Krieg vnd Hungers noht/ Der Sünden Schuld vns gantz erlaß/ Versuch vns doch nicht übermaß/ HErr JEsu CHrist Vom vbel gahr :/: Löß vns/ Amen/ das werde wahr.
4. Und das solches hoff’ ein jeder Christ/ Er drauf mit Wasser getauffet ist/ Mit Gottes Wohrt verfasset. Wer nun gläubt/ und so getauffet wird/ Der selig ist/ und gahr wol geziert/ Das Jhn GOtt nimmer hasset. Der Glaub dem Wohrt’ im Wasser traut/ Und in der Tauff ausgiessen schaut Den lebendigen Gnaden Geist/ Der uns auf den Tod Christi weist/ HErr Jesu Christ/ Ertödte mich ://: Für GOtt zu leben ewiglich.
4. Vnd das diß hoff’ ein jeder Christ/ Die Tauffe nicht schlecht Wasser ist/ Jm Wort ist Sie verfasset: Wer gläubet vnd getauffet wird/ Der ist gerecht/ vnd so geziert/ Das jhn Gott nimmer hasset. Der Glaub im Wort dem Wasser trawt/ Vnd in der Tauff außgiessen schawt Den Lebendigen Gnaden-Geist/ Der vns auff Christi sterben weist/ HErr JEsu CHrist Ertödte mich :/: Für GOtt zu leben Ewiglich[.]
5. Wer Sich aber noch was schwach empfind/ Dem zur Erquikkung gegeben sind Der Leib und Bluht des Herrn/ Da Christus in und mit Brod und Wein
5. Wer sich hiebey noch schwach befind/ Dem zur erquickung geben sind Der Leib vnd Blut des Herren/ Da CHristus dann im Brodt vnd Wein/
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Michael Walthers Textversion
Bernhard von Derschaus Text
Wil Selber wird und zugegen sein/ Die kranke Seel zu nehren/ Zum Leben und zur Seligkeit. Das Wohrt/ Für Eüch gegeben/ deüt/ Wer gläubt von Hertzen festiglich/ Das Sakrament braucht würdiglich. HErr JEsu Christ/ Du Lebens Brod ://: Mach’ uns hier und dort ewig satt!
Die Speiß vnd Tranck wil selber seyn/ Vnd vnser Seele nehren Zum Leben vnd zur Seligkeit. Das Wort: Für Euch gegeben/ däut/ Die solchs im Hertzen gläuben fest/ Seyn vnserm Heyland werthe Gäst’ HErr JEsu CHrist/ Du Lebens Brodt :/: Wer dich geneust/ schmeckt nicht den Todt.
Stellt der Katechismus nach Auffassung Luthers und seiner Erben ein Summarium dessen dar, was jedem Christenmenschen zu wissen notwendig ist, so ist von Derschaus Katechismuslied gewissermaßen ein Summarium in Potenz, da es alle fünf Hauptstücke des Kleinen Katechismus in nur fünf Strophen kontrakt zusammenfaßt und in die memoria der Singenden überführt. Deutlich im Vergleich von von Derschaus Lied mit Rists in den Katechismus-Andachten vorgeführtem Ansatz ist: Der Wedeler Dichter strebt nicht eine nochmalige Kontraktion des ohnehin im Katechismus bereits zusammenfassend Dargestellten an, sondern befleißigt sich einer sehr ausführlichen Behandlung der einzelnen Stücke des Katechismus (unter Einschluß der Haustafel), die auf eine detaillierte Einübung der jeweiligen Stoffe bedacht ist. Gilt mit Blick auf Rists geistliches Gesamtœuvre, daß er stets als im Medium der Lyrik predigender Autor auftritt, so ist hinsichtlich der Katechismus-Andachten unübersehbar: Seine Pflichten als Katechismusprediger bzw. -examinator,83 denen der Wedeler Pastor gemäß der für ihn gültigen Kirchenordnung – der sog. Ernestina84 – „am Sontag zur Vesper“85 nachzukommen hatte, nimmt Rist in der Öffentlichkeit der respublica litteraria dichtend wahr. Daß zwi-
83 Zur Gattung vgl. Werner Jetter: Art. Katechismuspredigt. In: Theologische Realenzyklopädie 17 (1988), S. 744–786 sowie Heiner Kücherer: Katechismuspredigt. Analysen und Rekonstruktion ihrer Gestaltwerdung. Waltrop 2005 (Predigt in Forschung und Lehre 2). 84 In der Grafschaft Holstein-Pinneberg war seit 1614 die von dem Bückeburger Superintendenten Johannes Michelbach und seinem Stadthagener Kollegen Jakob Bernhardi verfaßte sog. Ernestina gültig: Kirchen Ordnung, Vnser von Gottes gnaden Ernsts Graffen zu Holstein Schawenburg vnd Sternberg […] Wie es mit lehr vnd Ceremonien in vnsern Graffschafften und landen Hinführo mitt Gottlicher Hilff gehalten werden soll. Stadthagen 1614. Die Ernstina löste die zuvor maßgebliche Mecklenburgische Kirchenordnung ab. Vgl. Erwin Freytag: Die Reformation in der Grafschaft Holstein-Pinneberg. In: Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte. Bd. 3: Reformation. Unter Mitarbeit von Walter Göbell u. a. Neumünster 1982, S. 227–239, hier S. 235–237. 85 Kirchen Ordnung (Anm. 83), S. 179: „Von insonderheit sol in der Visitation Befehl geschehen/ das in allen Städten vnd Dörffern die Pastores vnd Diaconi am Sontage zur Vesper die Kinder
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Abb. 1: Johann Rist: Neüe Musikalische Katechismus Andachten […]. Lüneburg 1656 (UB Rostock Fm-4028), Frontispiz von Hans Martin Winterstein.
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schen diesen unterschiedlichen Wirkweisen in der Öffentlichkeit – dem öffentlichen Gottesdienst in der Kirche und der durch das Printmedium adressierten literarisch-lyrischen Publizität – dennoch ein tiefer sachlicher Zusammenhang besteht, zeigt das von Hans Martin Winterstein86 geschaffene Frontispiz der Katechismus-Andachten (Abb. 1). Hier blickt der Betrachter in einen voll besetzten Kirchenraum. Über dem teilweise verdeckten Altar befindet sich, flankiert von Emporen, die Kanzel, wie an den links angebrachten Sanduhren erkennbar ist. Doch auf der Kanzel steht kein Pastor, vielmehr wird diese verdeckt durch ein Medaillon, das am höchsten Punkt des im Vordergrund sichtbaren Bogens aufgehängt ist. Dieses Medaillon verbirgt und zeigt zugleich den, der auf der Kanzel zu stehen hätte, doch in übergroßer Porträt-Gestalt: Nämlich Rist im Habit des Pastors mit Talar und Halskrause. Gleichwohl sind auch Rists Katechismus-Andachten bei aller Ausführlichkeit der Versifikation und Singbarmachung des Lutherschen Katechismus bestrebt, ähnlich wie von Derschaus Katechismuslied ein Summarium des Summariums zu bieten – und zwar an einer in jedem Falle unübersehbaren Stelle des Bandes. Nur bedient sich Rist hierfür eines anderen Mediums, nämlich des Bildes, genauer: eines mehrere Bildmotive zusammenfassenden Bildes. Die Rede ist vom Titelkupferstich (Abb. 2), der dem Haupttitelblatt vorangestellt ist und ebenfalls von Hans Martin Winterstein sowohl entworfen als auch gestochen wurde, wie der betreffenden Signatur zu entnehmen ist.87 Winterstein, dessen Lebensdaten nicht ermittelbar sind, war in den Jahren 1650 bis 1680 in Hamburg und später in Göteborg (Schweden) tätig.88 Der Kupferstich gewährleistet die Zusammenfassung des gesamten katechetischen Stoffes und ist so gestaltet, daß der Inhalt des Katechismus dem Betrachter im Medium Bild auf einen Blick faßbar und ins visuelle Gedächtnis überführbar wird. In der Mitte des Stiches ist auf einem mit Fransen versehenen Behang der Titel der Katechismus-Andachten in Kurzform zu lesen: „Johan Risten Catechismus Andachten nebenst Erbaulichen liedern über die Christliche Haustaffel. Lüneburg. bey den Sternen.“ Darüber ist mittig Mose mit den beiden Gesetzestafeln zu sehen, die mit römischen Ziffern von I bis X beschrieben sind. Getreu der lutherischen Zählweise der Zehn Gebote enthält die erste Tafel die Ziffern I
ordentlich vnterweisen im Catechismo, also/ daß sie die Kinder nacheinander fragen/ vnd öffentlich in der Kirchen antwort von jhnen anhören.“ 86 Zu ihm vgl. das folgende. 87 Sie lautet, verteilt auf das Frontispiz und den Titelkupferstich: „Hans Martin Winterstein delineavit et Sculpsit Hamburg.“ 88 Vgl. Deutsches Biographisches Archiv I, 1380, 55; II, 1415, 328 und 337.
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Abb. 2: Johann Rist: Neüe Musikalische Katechismus Andachten […]. Lüneburg 1656 (UB Rostock Fm-4028), Titelkupferstich von Hans Martin Winterstein.
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bis III und die zweite Tafel die Ziffern IV bis X. In seiner linken Hand hält Mose den Stab, der seit seiner Berufung mit besonderen wunderwirksamen Qualitäten ausgestattet war (vgl. Ex 4,2ff.). Im Hintergrund links ist erneut Mose abgebildet, der kniend auf dem Sinai die Gesetzestafeln empfängt, während rechts das Volk Israel ins Bild gesetzt ist, das sich um die von Mose in der Wüste erhöhte Schlange (Num 21,8 f.) versammelt hat. Das zweite Hauptstück, das apostolische Glaubensbekenntnis, ist in der oberen linken Kartusche des Stiches in Gestalt einer Frau mit einem Kreuz in der Hand repräsentiert, während das Vaterunser in der gegenüberliegenden Kartusche rechts vertreten ist: Hier ist der am Ölberg außerhalb Jerusalems kniend ins Gebet vertiefte Sohn Gottes, mithin der Autor und Gebetslehrer des Vaterunser, zu sehen. Das vierte Hauptstück ist unterhalb der Prosopopöie der fides zu erblicken in Form eines Taufbeckens, dessen Deckel abgehoben ist, während das Sakrament des Altars rechts gegenüber visualisiert ist: mittels eines Kelches und einer über ihm befindlichen Oblate, auf der – im Sinne eines Bildes im Bild – der Gekreuzigte gezeigt wird. Das Bild in der untersten Kartusche steht für die dem Katechismus beigegebene Haustafel, die sich bekanntermaßen an alle Stände wendet: an die Geistlichen, die weltliche Obrigkeit und die Untertanen. Die weltliche Obrigkeit ist in der Bildmitte vertreten durch den Kaiser mit Herrschaftsinsignien, links neben ihm ein Vertreter der Geistlichkeit und ein Hausvater, dessen Ehefrau und zwei Kinder am rechten Bildrand plaziert sind. Der Titelkupferstich ist somit geeignet, den Gesichtssinn des Menschen in die Memorierung des Katechismus einzubeziehen und diese durch einen Medienwechsel zu unterstützen. Der Erleichterung des Memorierprozesses in gesanglicher Aneignung dienen auch die 50 Katechismuslieder, die die KatechismusAndachten zu bieten haben, in denen, wie wir sahen, der Wedeler Pastor sein Amt als Katechismus-Prediger wahrnimmt. Doch wäre es verfehlt, die Katechismuslieder Rists bloß als eine andere Spielart der praktischen Katechismus-Homiletik anzusehen, weil damit ein entscheidender Gattungsvorteil der Lieder übersehen würde. Denn dadurch, daß die Gemeinde die Katechismuslieder singt – sei es unter Nutzung der von Rist stets angegebenen Lehnmelodien, sei es unter Verwendung der Kompositionen Hammerschmidts und Jacobis – wird diese selbst zur Predigerin und verleiht so dem Priestertum aller Glaubenden Gestalt. Abbildungsnachweise Abb. 1 und 2: J. A. Steiger, Hamburg.
Sabrina Heintzsch
„Die Wohrte sind doch gahr zu klahr“ Das Abendmahl als Thema interkonfessioneller Auseinandersetzungen in der geistlichen Lyrik am Beispiel eines Abendmahlsliedes Johann Rists
1 Vorbemerkungen Die geistliche Lyrik der Frühen Neuzeit ist entgegen geläufiger Einschätzung1 (auch) ein Ort der Konfessionspolemik. Zwar ist diese nicht identisch mit polemischen Äußerungen in Streitschriften und dogmatischen Traktaten, aber es lässt sich doch an vielen Stellen eine deutliche Abgrenzung der Dichter von den jeweils anderen Konfessionen beobachten. Offenbar herrschte die Überzeugung, dass analog zum usus elenchticus, dem widerlegenden Zweck der Predigt, auch der geistlichen Lyrik die Aufgabe zukomme, sogenannte Irrlehren abzuwehren.2
1 Vgl. Inge Mager: Johann Rists „Himmlische Lieder“. Eine Einführung. In: Johann Rist: Himmlische Lieder. Kritisch hg. und kommentiert von Johann Anselm Steiger. Kritische Edition des Notentextes von Konrad Küster. Berlin 2012, S. 567–576, hier S. 574; Johann Anselm Steiger: „Geh’ aus, mein Herz, und suche Freud’“. Paul Gerhardts Sommerlied und die Gelehrsamkeit der Barockzeit (Naturkunde, Emblematik, Theologie). Berlin 2007, S. 1. Krummacher bezieht sich explizit auf die Perikopen- und Katechismusandachten. So sei es auf Rists „mehrfach bekundete Abneigung gegen kontroverstheologische Auseinandersetzungen“ zurückzuführen, dass er dort „konsequent auf den homiletischen usus elenchticus“ verzichte. Hans-Henrik Krummacher: Lehr- und Trostreiche Lieder. Johann Rists geistliche Dichtung und die Predigt- und Erbauungsliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Johann Anselm Steiger (Hg.): „Ewigkeit, Zeit ohne Zeit“. Gedenkschrift zum 400. Geburtstag des Dichters und Theologen Johann Rist. Neuendettelsau 2007 (Testes et testimonia veritatis 5), S. 37–76, hier S. 61. Es ist jedoch gerade bei den genannten Liedgattungen die höchste Dichte an polemischen Aussagen zu beobachten. 2 So spielen polemische Äußerungen im Allgemeinen eine große Rolle in der theologischen und geistlichen Literatur der nachreformatorischen Generationen, weil die Konfessionsgrenzen noch nicht festgelegt sind, sondern sich erst noch erweisen müssen. Die einzelnen Konfessionen grenzen sich nach außen sowie nach innen von vermeintlichen Irrlehren ab und beanspruchen dabei für sich, die wahre christliche Lehre zu vertreten. Rist polemisiert allerdings auch häufig innerkonfessionell, indem er sich vor allem gegen die schwache Frömmigkeit der Christen wendet. Die Bevölkerung wird wegen ihres lasterhaften Lebenswandels kritisiert, den weltlichen und geistlichen Obrigkeiten mangelnde Vorbildlichkeit und fehlende Durchsetzungskraft hinsichtlich der Bekämpfung dieser Missstände vorgeworfen. Vgl. dazu seine Vorrede in: Neue Hoch-heilige Paßions-Andachten Jn Lehr- und Trostreichen Liedern/ (welche von dem weitberühmten Musico/ und dieser Zeit Hochfürstlichen Brunschwigischen Kapell Meister zu Wolfenbüttel/ Herrn
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Sabrina Heintzsch
Dabei muss eine Aussage zumindest in der kontrakten Sprachform der Dichtung immer dann als polemisch gelten, wenn die inner- oder interkonfessionellen Differenzen hinsichtlich verschiedener Lehrmeinungen nicht nur kontrastierend wiedergegeben, sondern diese auch eindeutig als falsche Ansicht dargestellt werden. Vor allem in Bezug auf strittige Themen wie die Deutung der Passion Christi und des Abendmahls begegnet eine solche Art der polemischen Abgrenzung nicht selten. Wie sich diese im Vergleich zur theologischen Streitliteratur etwas ‚sanftere‘ Polemik vollzieht, wird im Folgenden zu zeigen sein. Johann Rist erweist sich – dem Ideal des poeta doctus gemäß – als in vielen Bereichen der Gelehrsamkeit versiert. Er war sowohl in der Medizin, als auch in Poetik und Rhetorik, in der pagan- und christlich-antiken Literatur sowie in den zeitgenössischen theologischen Diskursen bewandert. Vor allem aber ist Rist Exeget: nicht darum, weil er ausführliche Kommentare zu biblischen Büchern veröffentlicht hätte, sondern indem er im Medium der geistlichen Lyrik Bibeltexten eine Auslegung angedeihen lässt, die für sich den Anspruch erheben darf, der zeitgenössisch-theologischen Gelehrsamkeit auf Augenhöhe zu begegnen. Darüber hinaus lassen Rists Texte den geistlichen Dichter auch als Seelsorger sichtbar werden, dem daran gelegen ist, seine Leserschaft zu warnen, zu ermahnen und zu trösten. Zumindest diese drei ‚Rollen‘ – die des Pastors, des Dichters, des Universalgelehrten – machen das Spannungsfeld aus, in dem die Lieder Rists zu interpretieren sind, um ihrer Vielschichtigkeit gerecht zu werden. Die geistlichen Dichtungen Rists weisen dabei auffällige Gemeinsamkeiten mit der Predigtpraxis seiner Zeit auf. Dass die Poetik als Sonderform der Rhetorik zu gelten hat,3 dürfte mittlerweile Konsens sein – so kann analog dazu angenommen werden, dass die geistliche Lyrik eine Sonderform der Homiletik bildet. Beide Gattungen dienen den gleichen usus. Sie sollen gemäß 2Tim 3,16, Röm 15,4 sowie 1Tim 4,13 und 1Kor 14,3 ihre Rezipienten lehren (doctrina), dienen der Mahnung und Warnung (adhortatio, exhortatio), dem Trost (consolatio) und der Erbauung. Zu der Lehre gehört nicht nur die Darstellung theologischer Sachverhalte, sondern auch die Widerlegung irriger Ansichten bzw. Behauptungen (usus elenchticus). Dabei genießt die Lieddichtung im Vergleich mit der nicht gebundenen Rede zahlreiche Vorzüge. Zu erwähnen sind die hier mögliche kontrakte Darstellungs-
Martino Colero, mit sehr anmutigen und beweglichen Sangweisen sind außgezieret) bey diesen trübseeligen und recht jämmerlichen Zeiten/ allen des gekreutzigten JEsu getreusten Liebhabern/ zu sonderbahren Gefallen auch hertzlichem Trost und Erquickung aufgesetzet und wohlmeinentlich herfür gegeben […]. Hamburg 1664, v. a. fol. c 1v–7r. 3 Vgl. dazu grundlegend Stefanie Arend: Einführung in die Rhetorik und Poetik. Darmstadt 2012, v. a. S. 78–97.
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weise der zu vermittelnden Inhalte sowie die durch Reim, Rhythmus und Melodie gegebene leichtere Memorierbarkeit. Hinzu kommen gemäß zeitgenössischer poetologischer Reflexion die hohen Potentiale der Wirkung lyrischer und bildlicher Sprache auf die Affekte der Adressaten: Die Inhalte werden den Hörenden sprichwörtlich ins Herz gemalt. Rist betont zudem immer wieder die sprachlichen Herausforderungen der Dichtung als einer Kunstform, die Gott zum Lob gereichen soll. Nicht nur, um möglichst viele Menschen zu erreichen, ist ihm eine verständliche Sprache wichtig. Vielmehr ist ihm auch daran gelegen, eine geistliche Dichtung zu etablieren, die „nach den richtigen Gesetzen unserer hochgestiegenen Poësey“4 verfasst ist – gemeint ist eine Dichtung nach den Regeln Martin Opitz’, den Rist als „König und Adler aller Poeten/ dieser Zeit“5 lobt. In diesem Sinne kann der Lüneburger Generalsuperintendent Michael Walther in der Vorrede zu Rists Katechismusandachten das Werk als „Breve-Longum“6 bezeichen, als ein Buch, in dem in Kürze viel gesagt wird. Er hebt hervor, dass darin die Inhalte der geistlichen Lieder „den wahren Christen/ die/ als vernünftige Menschen/ zu der HochEdlen Musik und Poesi/ Sing- und Reimkunst von Natur eine starke Inclination und Zuneigung tragen/ desto tiefer und beharrlicher eingepflantzet werden mögen.“7 Rist bedient sich ausschließlich der Dichtung, um literarisch in Erscheinung zu treten – von ihm sind weder Predigten noch schultheologische Schriften veröffentlicht. Als Lutheraner verfolgt er dabei die theologischen Linien Luthers derart
4 Rist: Himmlische Lieder (Anm. 1), S. 98. 5 Rist: Himmlische Lieder (Anm. 1), S. 363. 6 Michael Walther: Vorrede. In: Johann Rist: Neüe Musikalische Katechismus Andachten/ Bestehende Jn Lehr- Trost- Vermanung und Warnungs-reichen Liederen über den gantzen heiligen Katechismum/ oder die Gottselige KinderLehre/ welchen zugleich zwölf Erbauliche Gesänge über die Christliche Haustaffel/ sind beigefüget […]. Lüneburg 1656, S. 43. 7 Ebd. Auch Rist selbst hebt die Knappheit von Gedichten als deutlichen Vorteil gegenüber der ungebundenen Rede hervor, deren zuweilen kontraproduktive Ausführlichkeit er eindrucksvoll in seiner Kritik derselben abbildet: „Jch kan zwahr nicht läugnen/ das viele/ ja fast alle Biblische Sprüche/ von manchem gelehrten Mann/ fleissig genug erklähret/ und in deroselben Postillen und Büchern (gleichwol nur in ungebundener Rede) fast häuffig sind zu finden: Alleine/ Jch habe auch gespühret/ das die meisten Ausleger/ in solchen ihren Schrifften und Bücheren/ oft mehr auf weitläuffige Erklährung/ zierliche/ und mit vielen weltlichen Geschichten unnd Gedichten angefüllete Reden/ anmuhtige Gleichnüsse/ theils auch wol auf verwirrete Gedanken/ Disputationes und Zänkereien/ als auf die wahre Wiedergebuhrt und Erneurung des alten Menschen in Christo Jesu haben gesehen/ zu geschweigen/ daß solche und derogleichen weitläuffige Erklährunge/ dem gemeinem Manne nicht weiniger verdrieslich fallen zu lesen/ oder zu hören/ als beschwehrlich/ ja fast unmüglich/ alles aus demselben zu fassen und recht zu behalten.” Johann Rist: Neues Musikalisches Seelenparadiß/ Jn sich begreiffend Die allerfürtreflichste Sprüche der heiligen Schrifft/ Alten Testaments […]. Lüneburg 1660, fol. B 2r.
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konsequent, dass einige Spitzensätze auch für die Zeitgenossen nahezu anstößig klingen mussten. An dieser Stelle sei nur an Rists bekannten Spitzensatz „O grosse Noth! | GOtt selbst ligt todt“8 aus dem Kläglichen Grablied erinnert, der in seiner Schärfe für einige Diskussion um die Rechtgläubigkeit dieser Aussage sorgte.9 Indem er solche Aussagen trifft, greift Rist, obwohl er sich in den Vorreden zu seinen Gedichtsammlungen häufig dagegen verwahrt, in den theologischen Diskurs ein; zuweilen verschärft er diese durch polemische Abgrenzungen von den anderen Konfessionen.
2 Abendmahlslieder als Austragungsort konfessioneller Streitpunkte – Rists 36. Katechismuslied Ein Beispiel für die Strategie, seine lutherischen Kernaussagen durch polemische Äußerungen zu ergänzen, ist Rists 36. Katechismuslied. Es ist das erste von drei Liedern zum Abendmahl innerhalb der Katechismus Andachten, einer Liedsammlung Rists, die sich mit Blick auf den Aufbau sowie den Inhalt an Luthers Großem Katechismus orientiert. An diesen Liedern lässt sich zum einen exemplarisch zeigen, dass die Dichtung in Methodik und Zielsetzung mit der Gattung ‚Predigt‘ vergleichbar ist, zum anderen, wie Rist mit seinen literarischen Vorlagen (hier: dem Großen Katechismus) umgeht, und zum dritten, wie sich Konfessionspolemik in der Dichtung artikuliert. Das Gedicht ist nicht nur ein Katechismuslied, sondern kann auch als Perikopenlied bezeichnet werden, also als ein Lied, dem ein bestimmter Bibeltext zugrunde liegt, der lyrisch ausgelegt wird.10 In diesem Fall handelt es sich um
8 Rist (Anm. 1), S. 38, V. 6 f. 9 Hinweise darauf finden sich im Ehrenbrief Stephanus Klotz’ zu Rists Neuen Himmlischen Liedern, in dem er die Rechtgläubigkeit der Aussagen Rists in den Himmlischen Liedern betont. Vgl. Johann Rist: Neue Himmlische Lieder (1651). Kritisch hg. und kommentiert von Johann Anselm Steiger. Musik von Andreas Hammerschmidt, Michael Jacobi, Jacob Kortkamp, Petrus Meier, Hinrich Pape, Jacob Praetorius, Heinrich Scheidemann, Sigmund Theophil Staden. Kritische Edition der Notentexte von Konrad Küster. Berlin 2013, S. 43 f. 10 Krummacher hat die Tradition der Perikopendichtung wegweisend nachgezeichnet. Vgl. Hans-Henrik Krummacher: Der junge Gryphius und die Tradition. Studien zu den Perikopensonetten und Passionsliedern. München 1976, S. 13–164, bes. S. 91–135. Zwar ist das vorliegende Gedicht kein Perikopenlied im engeren Sinne, das sich mit einem Text, der einem bestimmten
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die Einsetzungsworte Jesu zum Abendmahl, die in der vorliegenden Form eine Kompilation aus den vier Abendmahlsberichten der drei synoptischen Evangelien sowie des Apostels Paulus sind, wie sie bis heute in der Abendmahlsliturgie verwendet wird. Damit hat das Lied zwei Vorlagen: Zum einen legt es den vorliegenden biblischen Text aus, zum anderen folgt es in dieser Auslegung auch einer bereits vorhandenen Interpretation, nämlich der des Katechismus. So werden dem Leser der Bibeltext und der Katechismus gleichermaßen vergegenwärtigt. Das Lied liegt also in seiner Gattung in einem Grenzbereich zwischen der Perikopen- und Katechismusdichtung und kann daher als exemplarisch für Rists geistliche Dichtung herangezogen werden.11 Fernerhin zeigt sich auch hier deutlich die Parallelität zur Predigt, da neben den Perikopen- auch Katechismuspredigten üblich und häufig waren. Luther beantwortet in seinem Katechismus im Abschnitt zum Abendmahl drei Fragen: Was ist das Abendmahl? Was nützt es? Wer soll und wie ist es zu gebrauchen?12 Das 36. Katechismuslied nimmt alle drei Fragen kurz auf und orientiert sich auch bei der Beantwortung an Luthers Argumenten, wie im Folgenden deutlich werden wird. Das Lied lässt sich in vier Teile gliedern, denen die zugrunde liegende Perikope vorangestellt wird. Der Aufbau im Einzelnen folgt dabei nicht dem Text des Großen Katechismus, sondern lässt sich abschnittsweise mit den einzelnen Teilen einer Predigt parallelisieren:
Sonntag im Kirchenjahr zugeordnet ist, befasst. Dennoch kann es als ein solches im weiteren Sinne bezeichnet werden. Ein tragfähiger Begriff für diese Untergattung hat sich bislang nicht durchsetzen können. 11 Man kann zu Recht fragen, ob die Katechismusandachten überhaupt als exemplarisch für die geistliche Dichtung Rists heranzuziehen seien. Sie weisen wie Katechismuspredigten sicher einige Spezifika auf. Dass Texte über den Katechismus per se polemischer seien als solche, die sich mit anderen Themen und Vorlagen auseinandersetzen, lässt sich m. E. nicht beobachten. Es lässt sich zwar eine Dominanz des lehrenden usus gegenüber den übrigen feststellen, allerdings keine so bestimmende, dass die Auslegungen des Katechismus – homiletischer wie poetischer Art – als Sonderfall zu behandeln wären. Eine ausführlichere Diskussion muss an dieser Stelle unterbleiben und zu einem späteren Zeitpunkt fortgesetzt werden. 12 Vgl. Martin Luther: Werke. Kritische Gesamtausgabe. 73 Bde. Weimar 1883–2009, im Folgenden zit. als WA mit Band-, Seiten- und Zeilenzahl, hier WA 30/I,222,23 f. (Deudsch Catechismus, 1529).
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Perikopentext
Textverlesung
I
Strophe 1–2
Einleitung
exordium
II.1
Strophe 3–4
rechte Deutung der Abendmahlsworte
doctrina
II.2
Strophe 5–8
Widerlegung von Irrlehren und Richtigstellung 5–6 römisch-katholische Auffassung 7–8 reformierte Auffassung
infirmatio
III
Strophe 9
Aufforderung der Gläubigen zur Nießung des Abendmahls
applicatio
Es fehlt eine partitio, die Ankündigung der zu behandelnden Themen in der Predigt. Rist verzichtet in allen seinen Liedern darauf: In der kontrakten Form der Dichtung kann ein vorheriger Überblick über den Aufbau im Gegensatz zu einem langen Text wie der Predigt entfallen. Aus dem gleichen Grunde fehlt eine abschließende Rekapitulation der Inhalte, die peroratio, wenn man nicht die letzte Strophe als Zusammenfassung des Gedichtes deuten will. Da es sich um ein Katechismuslied handelt, liegt es nahe, dass vorrangig der usus der Lehre in dem Gedicht zu Tage tritt, schließlich ist ein Katechismus ein Lehrbuch. Die anderen usus werden dabei freilich nie ganz vernachlässigt, zumal sie nicht voneinander losgelöst bestehen können. Dass in einem Gedicht die usus in stark komprimierter Form zu finden sind, liegt aufgrund der Gattung nahe und kann damit auch im frühneuzeitlich-homiletischen Sinne als angemessen gelten, da ja auch eine Predigt nicht immer alle usus ausführlich bedienen muss.
2.1 Der Text des Gedichtes Das Sechs und dreissigste Katechismuslied/13 Von dem heiligen Abendmahl/ Aus den Wohrten der Insetzung/ beschrieben von den H. Evangelisten Mattheo/ Marko/ Luka/ und dem Apostel S. Paulo: Unser HErr Jesus Christus in der Nacht/ da Er verrahten ward/ nahm Er das Brod/ dankete/ und brachs/ und gab es seinen Jüngern/ und sprach: Nehmet hin/ und esset/ das ist mein Leib/ der für Eüch gegeben wird. Solches thut zu meinem Gedächtnisse.
13 Rist: Katechismus Andachten (Anm. 6), S. 214–219.
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Desselbigen gleichen nahm Er auch den Kelch nach dem Abendmahl/ danket/ und gab Ihnen den/ und sprach: Nehmet hin/ und trinket Alle daraus. Diser Kelch ist das Neüe Testament in meinem Bluht/ das für Eüch vergossen wird zu Vergebung der Sünden. Solches thut/ so oft Ihr es trinket/ zu meinem Gedächtnisse. Dises kan man auch singen nach der Melodie unseres bekanten Passionliedes: O Mensch bewein dein Sünde gros/ u. s. w. 1. SO bald die Zeit fürhanden war/ Das Jesus Christus offenbahr Den Tod erleiden solte/ Und gleichwol Er das Osterlam Als ein recht Seelen Bräutigam Noch erst verzehren wolte/ Da gieng Er mit den Jüngern hin/ Welch’ Er geliebt von Anbeginn’/ Und als Er die gespeiset/ Da fieng Er an ein neües Werk/ Das uns des Glaubens grosse Stärk’ Und wahre Lieb’ erweiset. 2. Es ward der Schatten abgethan/ Sein Nachtmahl lies Er auf die Bahn Ohn einigs Fürbild kommen/ Darin nun wird Sein Leib und Bluht (O welch ein unvergleichlichs Guht!) Zur Seligkeit genommen/ Wer disen Schatz hält wol in acht/ Dem wird Versichrung zugebracht Der theüren Himmelsgaben/ Die wir auch in der höchsten Noht Durch Christus Leiden/ Bluht und Tod Stets zu geniessen haben. 3. Nehmt hin und esset/ (spricht Er klahr) Das ist Mein Leib/ der offenbahr Für Eüch nun wird gegeben/ Wol uns! Hie läst uns Seel’ und Geist/ Nicht aber das/ was Fleischlich heist Zu GOtt allein erheben Und lernen/ wie das Irdische/ Das Brod/ das Ich da für mir seh’ Auch Irdisch wird genommen/
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Danebenst mus die Himmels Speis’ Als Christus Leib/ auf Himmelweis’ Uns auch zu guhte kommen. 4. Als Er nun das gesegnte Brod/ Wobei verkündigt wird Sein Tod/ Hatt’ erstlich ingesetzet; Da reicht Er Ihnen auch den Wein/ Der solt’ ein Seelen Labtrunk sein/ Der Seelen/ so verletzet Gahr hart durch manchen Sündenstraus/ Er sprach: Nehmt hin/ trinkt Alle draus Mein Bluht für Eüch vergossen/ Mein Bluht im Neüen Testament/ Das zur Vergebung/ wen Eüch brennt Die Sünde/ wird genossen. 5. Trinkt Alle draus/ spricht Jesus Christ/ Weil niemand ausgeschlossen ist/ Hie mag ein Jeder nehmen/ Doch gibt Er nicht den Wein allein; Sein Bluht mus hie zugegen sein/ Ey! Das sich den nicht schämen Die/ welche dises höchste Guht/ Des Herren Jesu Leib und Bluht Vom Abendmahl ausschliessen/ Die Wohrte sind doch gahr zu klahr/ Und spricht man noch: Es sei nicht wahr/ Mus GOtt es Selbst verdriessen. 6. Es ist auch dis zu merken wol/ Das man sich stets erinnern sol Des HErren Jesu leiden/ Als oft Ihr trinket (spricht der Herr) So lehrt Eüch Selbst als Prediger Von meinem Tod’ und Scheiden. Ja nöhtig ist es/ das Ihr oft/ Wen Ihr der Sünd Entfreiung hoft/ An meinen Tod gedenket/ Durch Ihn wird Eüch im Abendmahl Errettung aus der Höllen Quahl Und ewigs Guht geschenket.
„Die Wohrte sind doch gahr zu klahr“ 7. Drauf zweifle nun kein frommer Christ/ Wen Er das Brod im Nachtmahl isst/ Das Er den Leib geniesse/ Und wo man nimt und trinkt den Wein/ Da müsse Christus Bluht auch sein/ Das reichen Trost ingiesse/ Dis hat des Herren Jesu Mund/ Das Licht der Welt/ der Wahrheit Grund Bald sterbend ausgesprochen/ Und diser Herr thut was Er wil/ Sein Almacht heist hie halten stil Der Tadler Witz und Pochen. 8. Was nun das Nachtmahl wird genennt/ Heist hier der Herr ein Testament Und zwahr mit dürren Wohrten: Nun mus ein Testament ja rein/ Verständlich/ hell und deütlich sein Und zwahr an allen Ohrten; Wie solte doch den Jesus Christ/ Der frei von aller Falschheit ist/ So schändlich uns betriegen? Er hats gesagt/ Ich gläub’ es frei/ Das Fleisch und Bluht im Nachtmahl sei/ Er kan fürwahr nicht liegen. 9. Wollan/ so tretet All’ herzu/ Zu setzen Eüre Seel’ in Ruh’ Jhr hochbetrübte Sünder/ Komt Alle/ welch’ Ihr traget Leid/ Komt die Ihr stark im Glauben seid/ Ihr Schwachen auch nicht minder/ Euch öffnet sich das Gnadenthor/ Der Herr wil das zerstossne Rohr Nicht gantz und gahr zerbrechen/ Drüm nehmt Sein Fleisch und trinkt Sein Bluht/ So wird dis Allerhöchste Guht Eüch Fried’ und Trost insprechen.
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2.2 Doctrina. Die Definition des Abendmahls und ihre Rückbindung an die lutherische Dogmatik Die Einleitung in der ersten Strophe ordnet die Institution des Abendmahls in die Passionserzählung ein: „So bald die Zeit fürhanden war/ | Das Jesus Christus offenbahr | Den Tod erleiden sollte“ (V. 1–3), stiftete dieser das Altarsakrament. Dieses wird sodann als ein „neües Werk“ (V. 10) dargestellt, das die Stärke des Glaubens einerseits und die wahre Liebe Gottes andererseits erweist. Zudem ist das Abendmahl eine Zusage „der theüren Himmelsgaben/ | Die wir auch in der höchsten Noht | Durch Christus Leiden/ Bluht und Tod | Stets zu geniessen haben“ (V. 20–24). Hier wird deutlich, dass das richtige Verständnis des Abendmahls nur im Lichte der Passion zu erlangen ist: Der sündige Mensch, der eigentlich die Strafe Gottes verdient hätte, erlangt durch das Leiden und Sterben Christi am Kreuz die „theüren Himmelsgaben“, nämlich Gerechtigkeit, Erlösung und ewiges Leben. Das Abendmahl ist damit auch stets zugleich Erinnerung und Vergegenwärtigung des einmaligen Geschehens auf Golgatha. Die darin gewonnene Vergebung der Sünden wird im Abendmahl zugesagt, sodass der angefochtene Mensch sich dessen immer wieder vergewissern kann. Dieser kann die Bedeutung des Kreuzesgeschehens aber nur im Glauben erfassen: Gottes Liebe erweist sich gerade in der Niedrigkeit und der Demütigung des einzigen Sohnes am Kreuz. In diesem Blick auf die Passion wird deutlich, wie die verschiedenen usus der Predigt miteinander verwoben sind: Die Passion Christi ist nach Luther eine höchst vielschichtige Angelegenheit. Der Zorn Gottes über die Sündhaftigkeit des Menschen führt zu einem tiefen Erschrecken des Menschen, indem dieser seine eigene Schuld eingesteht. Sodann offenbart sich aber im Blick auf das Kreuz die Gnade Gottes, der sich in seinem Sohn selbst hingibt, damit der Mensch von seiner Sünde befreit werden kann.14 Folglich enthält das Reden von der Passion in der Predigt – oder in der geistlichen Dichtung – stets zwei miteinander verbundene Aspekte: einen warnenden, der die aus eigener Kraft unüberwindbare Sündhaftigkeit des Menschen aufdeckt, sowie einen tröstenden, der den Blick und die Hoffnung des sündigen Menschen auf die Gnade Gottes lenkt. Der usus der Lehre tritt darin stets zu Tage und bildet die sachliche Basis für die anderen usus, ohne dabei ihnen gegenüber eine herausgehobene Stellung einzunehmen. Dies trifft auch auf das vorliegende Gedicht zu, in dem die Lehre des rechten Abendmahlsverständnisses als zugleich tröstlich dargestellt wird: Von der Nießung von Brot und Wein kann sich nur aufrichten lassen, wer um
14 Vgl. Luther: WA 2,136–142 (Eyn Sermon von der Betrachtung des heyligen leydens Christi, 1519).
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die sündenvergebende Wirkung des Abendmahls und der Anwesenheit Christi in demselben weiß. Indem der Leser dazu aufgefordert wird, das Abendmahl zu bedenken und daraufhin auch daran teilzunehmen, wird er ermutigt, sich der Gnade Gottes, die sich im Abendmahl konkretisiert, anzuvertrauen und sich von ihr trösten zu lassen. Daher kann im späteren Verlauf des Gedichtes der Wein im Abendmahl auch als „Labtrunk“ (V. 41) für die von der Sünde verletzten Seele bezeichnet werden. ‚Laben‘ bedeutet nicht nur ‚erquicken‘, sondern hat auch ein tröstendes, medizinisch wirksames, mithin (wieder-) belebendes Moment.15 Der Begriff gibt damit eine kürzest mögliche Zusammenfassung der Heilswirksamkeit des Abendmahls: Die im Sakrament geschenkte Labung bringt Heilung von der Sünde, Befreiung vom ewigen Tod und der Verdammnis und stiftet Trost im irdischen Leben durch die Aussicht auf das ewige. Dass diese Zusage und die heilvolle Wirklichkeit, die dadurch erzeugt wird, von unermesslich großem Wert sind, drückt auch das Bild des Schatzes (V. 19) aus. Alle genannten und folgenden Bilder – das sei hier nur am Rande erwähnt – finden sich auch in den lutherischen Predigten des 17. Jahrhunderts, was nicht verwundert, da es sich zumeist um zum Teil seit dem frühen Christentum geprägte Metaphern handelt.16 Interessant ist auch die Alternativmelodie, die, wie es in Rists Liedsammlungen mit Ausnahme der Himmlischen Lieder stets der Fall ist, zusätzlich zu den im Druck dargebotenen Kompositionen angegeben wird. Es handelt sich hierbei um Sebald Heydens „O Mensch, bewein dein Sünde groß“ von 1526.17 Damit ist das Lied auch mit Blick auf die Melodie in einen deutlichen Zusammenhang mit der Passion gestellt. Rist beantwortet die Frage, was das Abendmahl sei, indem er sich eng an Luthers Großem Katechismus orientiert. Dort heißt es: „Was ist nu das Sacrament des Altars? Antwort: Es ist der ware leib und blut des HERRN Christi ynn und unter dem brod und wein durch Christus wort uns Christen befohlen zu essen und zu trincken.“18 Rist verkürzt die Definition zunächst: „[Im Abendmahl] nun wird Sein Leib und Bluht | […] | zur Seligkeit genommen“ (V. 16–18). Er erweitert
15 Vgl. Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. 33 Bde. Leipzig 1854–1971 (Reprint München 1984), Bd. 12, Sp. 5–7 (im Folgenden zit. als DWb mit Band- und Spaltenzahl). 16 Auch Luther bedient sich in seinen Katechismuspredigten dieser Metaphorik. So bezeichnet auch er das Abendmahl als einen „Schatz“. Luther: WA 30/I,23,28 (Die erste Reihe Katechismuspredigten, 1528). 17 Vgl. Johannes Zahn: Die Melodien der deutschen evangelischen Kirchenlieder aus den Quellen geschöpft und mitgeteilt. Gütersloh 1889–1893 (Reprint Hildesheim 1963), Bd. 5, Nr. 8303 sowie Bd. 6, Nr. 24. 18 Luther: WA 30/I,223,22–24.
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sie aber im Folgenden um die Rückbindung an den Nachahmungsbefehl Jesu, den er im Hauptteil des Liedes durch eine Komposition aus den Einsetzungsworten in wörtlicher Rede und zahlreichen Imperativen sowie Modalverben des Sollens und Müssens entfaltet. Die Definition des Abendmahls bildet in den folgenden Strophen die Grundlage der Kritik an den anderen Konfessionen: Während nach lutherischer Auffassung irdisch gesehen das Brot Brot bleibt, ist es geistlich – auf „Himmelweis‘“ (V. 35) – Christi Leib. Mit dem Wein, der geistlich Christi Blut ist, bewirkt es die Vergebung der Sünden. In der 4. Strophe heißt es dazu: „Mein Bluht für Eüch vergossen/ | Mein Bluht im Neüen Testament/ | Das zur Vergebung/ wenn Eüch brennt | Die Sünde/ wird genossen“ (V. 45–48). Die anaphorische Wiederaufnahme in V. 45 f. legt den Fokus auf das Blut und seine Bedeutung. Es wird hier als eine Flüssigkeit verbildlicht, die einen Brand löscht. Dieser steht für die Sünde, die den Menschen „brennt“. Das Motiv eines Brandes, der durch das Blut Christi gelöscht wird, begegnet in der geistlichen Literatur des 17. Jahrhunderts häufiger. So finden sich beispielsweise in Paul Gerhardts Ist Gott für mich, so trete aus seinen Geistlichen Andachten folgende Verse im Übergang von Strophe 4 zu 5, die ein weiteres Bild verwenden, nämlich das des Reinwaschens aus Apk 7,14: „Jch müste [wenn Jesus nicht in mir wäre] stracks vergehen | Wie Wachs in Feuers-Hitz. || Mein JEsus hat gelöschet | Was mit sich führt den Tod: | Der ists/ der mich rein wäschet/ | Macht Schnee-weiß was ist roht“.19 Jesus hat die Flammen der Sünde gelöscht und damit den Menschen aus der ihm drohenden Pein des höllischen Feuers errettet. Jesu Blut wird hier in doppelter Weise die Wirkung von frischem Wasser zugeschrieben: Beide haben die Fähigkeit, ein Feuer zu löschen und den Menschen rein zu waschen. Dies ist nur mit Blick auf das lutherische Sakramentsverständnis zu verstehen, welches bei Rist vor allem in der 3. und 4. Strophe entwickelt wird. Luther zitiert in seinem Großen Katechismus Augustin: Accedat verbum ad elementum et fit sacramentum, Wenn das wort zum eusserlichen ding kompt, so wirds ein Sacrament. […] Das ist wol war, wenn du das wort davon thuest odder on wort ansihest, so hastu nichts denn lauter brod und wein, wenn sie aber dabey bleiben, wie sie sollen und muessen, so ists lauts derselbigen warhafftig Christus leib und blut.20
19 Paul Gerhardt: Geistliche Andachten Bestehend in hundert und zwantzig Liedern/ Auff Hoher und vornehmer Herren Anfoderung in ein Buch gebracht/ Der göttlichen Majestät zu foderst Zu Ehren/ denn auch der werthen und bedrängten Christenheit zu Trost/ und einer jedweden gläubigen Seelen Zu Vermehrung ihres Christenthums Also Dutzendweise mit neuen sechsstimmigen Melodeyen gezieret […]. Berlin 1667, S. 38. 20 Luther: WA 30/I,223,30–224,11.
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Indem Rist die Einsetzungsworte zitiert und diese mit den Beschreibungen von Brot und Wein verbindet, verdeutlicht er wie Luther, dass es das performative Wort Christi ist, das aus Brot und Wein Leib und Blut Christi macht: „Nehmt hin und esset/ (spricht Er klahr) | Das ist Mein Leib/ der offenbahr | Für Eüch nun wird gegeben“ (V. 25–27). Indem Christus das dargereichte Brot durch die Formulierung „das ist“ mit seinem Leib identifiziert, ist das Brot auch realiter Leib Christi. Gleiches gilt für den Wein, der in der fiktiven Rede Christi als sein Blut bezeichnet wird. „Da reicht Er Ihnen auch den Wein/ | […] | Er sprach: Nehmt hin/ trinkt Alle draus | Mein Bluht für Eüch vergossen“ (V. 40–45) Rist zitiert in seinem Katechismuslied nicht nur mehrfach die Einsetzungsworte, sondern spielt auch auf zahlreiche weitere Bibelstellen an oder zitiert sie. Als nur ein Beispiel seien hier die V. 79–81 genannt. Durch Bezugnahmen auf Joh 8,12 und Joh 14,6 beschreibt Rist Jesus als Licht und Wahrheit und nimmt sodann im folgenden Vers den weiteren Verlauf der Passionsgeschichte in den Blick. Die Dichte an biblischen Referenzen ist charakteristisch für Rists Lieder und bildet eine weitere Parallele zur Predigtliteratur seiner Zeit. Rist ordnet sich damit in eine lange homiletische Tradition ein, in der die Exegese biblischer Texte und deren Entfaltung zumeist durch eine Fülle von expliziten und impliziten biblischen Anspielungen sowie durch Verweise auf die Kirchenväter, mittelalterliche und zeitgenössische Theologen ausgeschmückt, diskutiert und gefestigt werden.
2.3 Infirmatio. Rists Polemik gegen die katholische und reformierte Tradition Basierend auf diesem Verständnis des Abendmahls entwickelt Rist nun seine zum Teil auch polemische Abgrenzung gegen die anderen Konfessionen. Wie Luther beruft er sich dabei stets auf das rechte Verständnis der Einsetzungsworte. Mit den Versen „Trinkt Alle draus/ spricht Jesus Christ/ | Weil niemand ausgeschlossen ist/ | Hie mag ein Jeder nehmen“ (V. 49–51) wendet er sich gegen die katholische Praxis des Kelchentzuges: Nur der Priester trinkt aus dem Kelch, während die Laien lediglich das Brot gereicht bekommen. Dies bewertet Rist als eine unrechtmäßige Handlungsweise, in der die Priester die Laien von einem erheblichen Teil des Abendmahls ausschließen. Dagegen betont er, dass alle berechtigt seien, aus dem Kelch zu trinken: Nach lutherischer Überzeugung darf keinem der Kelch verwehrt werden, da die Einsetzungsworte „Trinket alle daraus“ wörtlich verstanden werden müssen. Demnach sind ausnahmslos alle, Priester und Laien, aufgefordert, aus dem Kelch zu trinken. Das Abendmahl erinnert zudem, wie in der folgenden Strophe deutlich wird, an das Leiden und den
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Tod Jesu Christi am Kreuz, mithin an die Vergebung der Sünden, die Christus für alle Menschen erworben hat. Die Einsetzungsworte sagen diese Vergebung nicht nur zu, vielmehr wird sie im Abendmahl auch real. Diese Zusage besitzt vor allem erhöhte Wichtigkeit für die Menschen, die sich selbst als sündig und schwach empfinden. Bereits Luther führt in seinem Katechismus das Gefühl der Unwürdigkeit aufgrund der eigenen Unzulänglichkeit als eine Ursache an, warum die Christen bislang selten am Abendmahl teilgenommen haben: „unter dem Bapst, da man sich so zu martert hat, das man gantz rein were und Gott kein tedlin an uns fuende, davon wir so schuchter dafur worden sind, das flugs sich yderman entsetzt und gesagt hat: O weh du bist nicht wirdig.“21 Die Würdigkeit des Menschen habe jedoch gerade nichts mit der Wirksamkeit des Abendmahls zu tun, so Luther, da das Wort Gottes, das ja das Abendmahl konstituiert, unabhängig vom Menschen wirke. Vielmehr müsse man die Christen „teglich vermanen“,22 das Abendmahl oft zu gebrauchen, wie die Abendmahlsworte durch die Wendung „so oft ihr’s trinkt“ nahe legen: Zu jeder Gelegenheit, wenn Trost und Stärkung gegen die Anfechtung der Sünde nötig sind, kann das Abendmahl gefeiert werden – entgegen der katholischen Praxis, die Luther scharf als zu sehr an äußere Umstände und feste Termine gebunden kritisiert. Jesus Christus, so Luther, wil das Sacrament frey haben, ungebunden an sonderliche zeit wie der Jueden Osterlamb, welches sie alle iar nur ein mal und eben auff den vierzehenden tag des ersten vollen monds des abends musten essen und keinen tag uberschreiten. Als er damit sagen wolt: ich setze euch ein Osterfest odder abendmal, das yhr nicht eben diesen abend des iars einmal sondern offt sollet geniessen, wenn und wo yhr woellet, nach eines yglichen gelegenheit und notdurfft, an keinen ort odder bestympte zeit angebunden, wiewol der Bapst hernach solchs umbkeret und widder ein Juden fest draus gemacht hat.23
Rist verfolgt in der 6. Strophe die gleiche Argumentationsstrategie, bindet diese an dieselbe Passage der Einsetzungsworte zurück und kommt zu dem gleichen Ergebnis, wenn er Jesus Christus in einer oratio ficta die Worte in den Mund legt: „Ja nöhtig ist es/ das Ihr oft/ | Wen Ihr der Sünd Entfreiung hoft/ | An meinen Tod gedenket“ (V. 67–69). Seine Kritik wendet sich hier allerdings sowohl gegen die katholische als auch die reformierte Konfession, wenn er die Notwendigkeit betont, häufig das Abendmahl zu feiern. Auch hier kommt der Verknüpfung mit der Passion große Wichtigkeit zu: Der Tod Christi ist es, der den Menschen „Errettung aus der Höllen Quahl | Und ewigs Guht“ (V. 71 f.) erwirkt hat. Dies wird
21 Luther: WA 30/I,229,18–21. 22 Luther: WA 30/I,228,3. 23 Luther: WA 30/I,228,17–25.
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im Abendmahl nicht nur in Erinnerung gebracht, sondern auch realisiert. Es ist Sündenvergebung und Predigt von derselben in einem: Wie Gott sich im Wort zu erkennen gibt – oder anders ausgedrückt – wie Gott im Wort anwesend ist, so ist Christus auch in Brot und Wein real präsent. Beides, Wort und Sakrament, sind die Medien, die Gott gewählt hat, um sich darin den Menschen zu offenbaren und in denen sich sein Heil vermittelt. Im Abendmahl geschieht tatsächliche Vergebung der Sünden. Gleichzeitig erzählen Brot und Wein von dieser heilvollen Realität: Brot und Wein, mithin Leib und Blut, geben gleichsam als versinnlichte Worte ein beredtes Zeugnis von der Heilswirksamkeit, die den Menschen durch Christi Leib und Blut geschenkt wird. Rist spielt gemäß der Lehre vom Priestertum aller Gläubigen in Abgrenzung zu der katholischen Auffassung auf die Fähigkeit eines jeden Christen an, das auch für ihn wirksame Heilsgeschehen des Leidens und Sterbens Christi am Kreuz im Glauben zu erfassen und sich predigend zuzusagen, ohne auf die Vermittlung durch einen Priester angewiesen zu sein, wenn er ebenfalls in der fiktiven Rede Christi den Lesern empfiehlt: „Als oft Ihr trinket (spricht der Herr) | So lehrt Eüch Selbst als Prediger | Von meinem Tod’ und Scheiden“ (V. 64–66). Dass alle Christen zum Abendmahl eingeladen sind, wird außer in der fünften auch in der letzten Strophe noch einmal aufgenommen: Die Aufforderung zur Nießung des Abendmahls „Wollan/ so tretet All’ herzu“ (V. 97) wird kurz darauf durch die Wendung „Komt Alle“ (V. 100) wiederholt. Die anaphorische Wiederaufnahme des „Komt“ im folgenden Vers bekräftigt die Einladung noch einmal. Sie gilt allen: denen, die „Stark im Glauben“ sind, den „Schwachen auch nicht minder“. Alle Menschen, unabhängig von der Stärke ihres Glaubens und ihrer Lebenssituation, bedürfen aufgrund der ihnen eigenen Sündhaftigkeit des Abendmahls. Ihnen allen wird darin Frieden und Trost zugesprochen. Es lässt sich also eine deutliche Abgrenzung gegen die katholische Tradition feststellen – freilich ohne dass die Konfession beim Namen genannt würde. Zuweilen erwähnt Rist nicht einmal die Lehre, von der er sich gerade abgrenzt. Er entwickelt stattdessen in knappen Worten die ‚richtige‘, lutherische Auslegung der Einsetzungsworte und was daraus für die Glaubenspraxis resultiert. So verzichtet er darauf, zu kritisieren, dass das Abendmahl in der katholischen und reformierten Tradition seltener gefeiert wurde. Daran, dass es besonders wichtig sei, das Abendmahl häufig zu feiern, lässt er jedoch keinen Zweifel: Dem Wörtchen „stets“ in V. 61 folgt das doppelte „oft“ in V. 64 und 67. Durch die Formulierung in V. 61 „Es ist […] zu merken“ in Verbindung mit dem Modalverb „sollen“ in V. 62 ist deutlich, dass der Leser eindringlich aufgefordert werden soll, möglichst häufig das Abendmahl zu feiern und dabei des Todes Christi zu gedenken, dessen rettende Wirkung sich im Abendmahl realisiert. Rists Argumentation ist dabei an jeder Stelle eine, die auf der Auslegung des biblischen Zeugnisses basiert: Auf das
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rechte Verständnis der Einsetzungsworte kommt es an, um die Bedeutung des Abendmahls für die Rechtfertigung des sündigen Menschen zu verstehen. Die Abgrenzung gegen die reformierte Deutung des Abendmahls fällt etwas schärfer aus als die gegen die katholische. Hier wird deutlich gewettert: „Ey! Das sich den nicht schämen | Die/ welche dises höchste Guht/ | Des Herren Jesu Leib und Bluht | Vom Abendmahl ausschließen/ | Die Worte sind doch gar zu klahr/ | Und spricht man doch: Es sei nicht wahr/ | Mus Gott es Selbst verdriessen“ (V. 54–60). Rist kritisiert hiermit die reformierte tropische Auslegung des Abendmahls, der zufolge im Abendmahl lediglich die geistliche, aber keine leibliche Nießung stattfindet, sondern Brot und Wein lediglich Leib und Blut Christi symbolisieren. Nach Luthers wörtlicher Deutung ist aber das Brot zugleich ganz Leib, der Wein ganz Blut Christi. Rist formuliert es so: „Drauf zweifle nun kein frommer Christ/ | Wen Er das Brod im Nachtmahl isst/ | Das Er den Leib geniesse/ | Und wo man nimt und trinkt den Wein/ | Da müsse Christus Bluht auch sein/ | Das reichen Trost ingiesse“ (V. 73–78). Und noch einmal in Strophe 8: „Er hats gesagt/ Ich gläub’ es frei/ | Das Fleisch und Bluht im Nachtmahl sei/ | Er kann fürwahr nicht liegen“ (V. 94–96). Christi Worte sind demnach in Bezug auf das Abendmahl als performativ zu verstehen: Weil und indem er Wein und Brot als sein Blut und seinen Leib bezeichnet und einsetzt, ist es auch der Fall: Das Brot ist Christi Leib, der Wein ist Christi Blut. Der Aspekt des Nicht-Lügen-Könnens findet sich auch in Luthers Großem Katechismus wieder: „Denn wie Christus mund redet und spricht, also ist es, als der nicht liegen noch triegen kan.“24 Dass Christus als „Licht der Welt/ der Wahrheit Grund“ (V. 80), der „frei von aller Falschheit ist“ (V. 92), die Wahrheit auf seiner Seite hat, bedeutet in Rekurrenz auf die simplicitas und claritas der Schrift, dass seine Worte „rein/ | Verständlich/ hell und deütlich“ (V. 88 f.) sind. Die Einsetzungsworte können damit nach lutherischer Auffassung gar nicht missinterpretiert werden, wenn man Christus beim Wort nimmt, anstatt seine Aussagen durch Herumdeutelei zu verfälschen. Wer den Worten Christi Glauben schenkt, steht damit auf der Seite der Wahrheit und braucht sich um „Der Tadler Witz und Pochen“ (V. 84) nicht zu kümmern, sondern kann die Anfechtung aushalten, die entsteht, wenn diejenigen, die die Einsetzungsworte ins Falsche verkehren, höhnen und spotten. Durch die Wahl dieser drei Begriffe „Tadler“, „Witz“ und „Pochen“ spitzt Rist seine Polemik noch einmal zu, indem die negative Konnotation der einzelnen Begriffe in der Häufung deutlich zu Tage tritt.25 Wer die Einsetzungsworte anders als wörtlich versteht, verdrehe nicht nur ihren Sinn, sondern bezichtige Gott der Lüge.
24 Luther: WA 30/I,224,11 f. 25 Vgl. zu ‚Tadler‘ DWb 21, Sp. 13; zu ‚Witz‘ DWb 30, Sp. 883 f.; zu ‚Pochen‘ DWb 13, Sp. 1958.
„Die Wohrte sind doch gahr zu klahr“
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Mit der Behauptung, dass Gottes Worte nicht wahr seien, verärgere man diesen jedoch (vgl. V. 59 f.). Damit folgt Rist einer Argumentationsstrategie, die sich auch in Predigten zum Abendmahl finden. Der von Luther übersetzte Begriff des Testaments ist ein klassischer Topos zur Beschreibung des Abendmahls und wird von lutherischen Autoren nicht selten herangezogen, um im Analogieschluss die wörtliche Deutung der Abendmahlsworte als die richtige zu bezeichnen. Nicht zufällig wählt unter anderem Johann Arndt, den Rist recht stark rezipiert hat, in seinen Katechismuspredigten beinahe die gleiche Zusammenstellung von Adjektiven. So „Gehören zu einem rechtmessigen Testament deutliche/ verständliche/ helle und klare Wort“.26 Auch Johann Michael Dilherr hebt die „deutliche letzte Testamentsworte Christi“27 im Abendmahl hervor, die Christus „selber so klar vnd deutlich hat auffgesetzet/ daß es auch ein junger Knab verstehen kan.“28 Die Betonung, dass Jesus Christus die Wahrheit selbst sei, dessen Wort nicht vergehen wird, findet sich ebenfalls bei Arndt, der sich auf Mt 24,35 und Joh 14,6 bezieht.29 Dilherr akzentuiert die Wahrheit des Wortes Christi in Rekurrenz auf Joh 17,17.30
2.4 Applicatio. Aufforderung zum Abendmahl und eschatologischer Ausblick Die letzte Strophe des Liedes spricht den Leser noch einmal direkt an. Sie beginnt bereits mit einem „Wollan“, dessen aufforderndes Moment mit einem dreifachen Imperativ („tretet herzu“ in V. 97, sodann das doppelte „Komt“ in V. 100 f.) gefüllt und durch die vierfache Ansprache „Ihr“ in den Versen 99–102 verstärkt wird. Hinzu tritt, wie bereits gezeigt, zweimal die Aussage, dass „alle“ angesprochen seien (V. 97.100). Damit kommt nicht nur die Bedürftigkeit aller, Vergebung der Sünden und Rechtfertigung im Abendmahl zu erlangen, zum Ausdruck, sondern der Skopus wird vor allem auf die Einladung und das Willkommensein der ange-
26 Johann Arndt: Der gantze CATECHISMUS, Erstlich in sechtzig Predigten außgelegt und er kleret/ mit schönen Exordiis gezieret/ und in nöhtige und nützliche Fragen und Antworten verfasset. Darnach kürtzer in acht Predigten zwey unterschiedliche mal begrieffen/ und bei grosser und volckreicher Versammlung zu Braunschweig gehalten und gepredigt […]. Jena 1620, fol. 241r. 27 Johann Michael Dilherr: Himmlisches Freudenmahl auff Erden/ Welches/ In Sechs kurtzen WochenPredigten/ über die Wort Pauli 1. Cor. XI. v. 23 & c. Von dem H. Abendmahl/ Jn der Kirchen Bey S. Sebald in Nürnberg gezeiget/ und selbigen nützliche Gebetlein und Gesänge beigefüget worden […]. Nürnberg 1647, S. 20. 28 Dilherr (Anm. 27), S. 143. 29 Vgl. Arndt (Anm. 26), fol. 239v–240v. 30 Vgl. Dilherr (Anm. 27), S. 25.
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sprochenen Christen gelegt. Das „Kommt“ lässt an die Aufforderung, nun am Abendmahl teilzunehmen, im Gottesdienst denken. Die conclusio, mit der das Lied schließt, „Drüm nehmt sein Fleisch und trinkt sein Bluht/ | So wird dis Allerhöchste Guht | Eüch Fried’ und Trost insprechen“ (V. 106–108) führt noch einmal – gleichsam als letzten Eindruck – vor Augen, welcher Trost im Abendmahl liegt: In der Feier des Abendmahls, wenn in Brot und Wein Christi Leib und Blut genossen werden, wird den Feiernden „Fried’ und Trost“ (V. 108) nicht nur zugesagt, vielmehr wird das Zugesprochene zugleich auch Wirklichkeit, deren Vollendung freilich noch aussteht. In Zusammenhang mit den drei mittleren Versen 103–105 der letzten Strophe endet das 36. Katechismuslied mit einem eschatologischen Ausblick unter Zitation von Jes 42,3: „Euch öffnet sich das Gnadenthor/ | Der Herr will das zerstossne Rohr | Nicht gantz und gahr zerbrechen/ | Drüm nehmt sein Fleisch und trinkt sein Bluht/ | So wird dis Allerhöchste Guht | Eüch Fried’ und Trost insprechen.“ Die Heilsrelevanz des Abendmahls wird damit noch einmal mehr hervorgehoben. Es werden damit in Rists Gedicht drei Zeitebenen als im Abendmahl miteinander vergleichzeitigt dargestellt: Die Gegenwart, in der das Abendmahl dem Befehl Jesu gemäß gefeiert wird, weist zum einen auf das Passionsgeschehen zurück, das mit dem letzten Abendmahl des irdischen Jesus beginnt und mit dem Tod Jesu am Kreuz seinen Höhepunkt findet. Der im Abendmahl anwesende Jesus Christus ist stets der Christus passus, der bereits für die menschliche Sünde gelitten hat, gestorben und auferstanden ist. Somit wird im Abendmahl die Gegenwart dieses auferstandenen Christus und die dem Menschen geschenkte Gnade gefeiert, die sich gleichzeitig erst im Vollzug des Abendmahls performativ realisiert. Zugleich weist es über sich hinaus auf die Zukunft des ewigen Lebens – indem die Rechtfertigung des Menschen im Abendmahl zugesagt und Wirklichkeit wird, wohnt der Feier des Abendmahls immer bereits ein Vorgeschmack dieser himmlischen Herrlichkeit inne. Derartige eschatologische Schlussstrophen sind typisch für Abendmahlslieder. Bei Rist enden sieben von neun Liedern dieser Gattung mit einem Ausblick auf die Vollendung des Menschen und die himmlischen Freuden. Auch in den Predigten über das Abendmahl ist dies nichts Ungewöhnliches – so schließt auch Arndt seine Katechismuspredigten häufig mit einer Ausführung über die im Abendmahl bereits gegenwärtig gewordene, in ihrer Vollendung aber noch ausstehende Rechtfertigung, die Erlösung vom Tod und die Auferstehung der Toten zum ewigen Leben.31
31 Vgl. z. B. Arndt (Anm. 26), fol. 342v.
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3 Fazit und Ausblick Es konnte in aller Kürze an diesem Beispiel gezeigt werden, an welchen Stellen die geistliche Lyrik Parallelen zur lutherisch-orthodoxen Predigt aufweist. Wenngleich nicht alle Gedichte in ihrem Aufbau so stringent den üblichen Teilen der Predigt folgen, bezwecken sie doch das gleiche wie eine Predigt – die Leser zu lehren, zu trösten, zu mahnen oder zu warnen. An verschiedenen Titelblättern Rists und anderer Dichter ist schon von Hans-Henrik Krummacher gezeigt worden, dass diese die usus der Predigt völlig selbstverständlich für ihre Dichtung beanspruchen.32 Gemeinsamkeiten lassen sich jedoch durchaus auch hinsichtlich der verwendeten Argumentationsstrategien und Bildwelten feststellen. Innerhalb des usus der Lehre, näherhin des usus elenchticus, der Widerlegung ‚falscher‘ Lehre, kann die geistliche Lieddichtung damit auch ein Ort für konfessionelle Polemik sein. Dieser fällt aufgrund der erhöhten sprachlichen Dichte der Lyrik naturgemäß knapper aus als bei ausführlicheren Textgattungen. Die einzelnen Konfessionen versichern sich der eigenen Grenzen per affirmationem et negationem. Das heißt zunächst einmal nichts weiter, als dass die eigenen Ansichten argumentativ plausibilisiert, fremde aber widerlegt werden. Statt den Begriff der Polemik nur auf feindseliges oder zumindest provokatives Streiten engzuführen, muss er m. E. zumindest für die Dichtung erweitert werden auf eine negative Abgrenzung, die zwei Kriterien erfüllen muss: Zum einen muss die Lehre, von der es sich abzugrenzen gilt, eindeutig identifizierbar sein. Zum anderen muss diese als falsch verworfen und nicht nur kontrastierend dargestellt werden. Ob es sich um eine Abgrenzung ‚nach außen‘, also eine interkonfessionelle Auseinandersetzung, oder ‚nach innen‘ gegen Ansichten innerhalb der eigenen Konfession handelt, spielt dabei zunächst keine Rolle. Legt man der Untersuchung der geistlichen Lyrik des 17. Jahrhunderts diesen etwas weiteren Begriff der Polemik zugrunde, ist zu vermuten, dass sich in einem Großteil der geistlichen Dichtung, die sich mit zwischen den Konfessionen strittigen Themen befasst, polemische Anteile finden lassen. Die Lieddichtung in der Tradition der lutherischen Predigt konstituiert zudem eine intensive Gott-Mensch-Beziehung: Weil geistliche Lieder in Zielsetzung, Argumentationsstrategie und Ästhetik zahlreiche Gemeinsamkeiten aufweisen, dürfen sie mit Recht als Sonderform der Predigt gelten. Damit wird jeder, der geistliche Lieder in der Gemeinde oder einzeln singt, sich und anderen ein Prediger – im Lesen und im Gesang aktualisiert sich die Predigt zu einem realen Predigtgeschehen. Die Lieder sind dann als Gotteswort anzusehen, das der Mensch
32 Vgl. Krummacher (Anm. 1), S. 47 f.
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verkündigen kann. Indem er sie singt, predigt er aber nicht nur sich selbst oder eventuellen Zuhörern, sondern er wird immer auch dem Auftrag gerecht, Gott durch die Musik zu loben.33 Der Sänger wird den jubelnden Engeln im Himmel ähnlich, der Gesang gewährt eine Vorschau auf das himmlische Jauchzen. Am Schluss sei Rist selbst noch einmal das Wort überlassen, der die Aufgabe seiner geistlichen Lieder und deren Verwendung in der Vorrede zu seiner Alltäglichen Hausmusik so zusammenfasst: Alle sind wir schuldig und verpflichtet/ das heilige/ Göttliche Wohrt mit hertzlicher Andacht anzuhören/ und wenn Uns solche grosse Gnade wiederfahren/ Wir auch durch den Diener Gottes von unsern Sünden sind frei/ loß und ledig gesprochen/ und darauff mit dem theüren und wehrten Pfand des wahren Leibes und Bluhtes Jesu Christi gespeiset und erquikket/ dem Allerhöhesten/ für solche unaussprechliche Gühte/ Lob/ Ehre/ Preiß und Dank zu singen und zu sagen.34
33 Vgl. etwa Kol 3,16. 34 Johann Rist: Frommer und Gottseliger Christen Alltägliche HAuszmusik/ Oder Musikalische Andachten/ Bestehend Jn mancherlei und unterschiedlichen/ gantz neüen/ Geistlichen Liederen und Gesängen/ Welche von Allen/ und Eines jetweden Standes Personen/ in allen und jeglichen/ Leibes und der Seelen Angelegenheiten erbaulich können gebrauchet/ und deroselben grössester Theil auf bekante/ und in reinen Evangelischen Kirchen übliche; Sämtlich aber/ auf gahr neüe/ von dem fürtreflichem und weitberühmten Musico/ Herrn Johann Schopen/ wolund anmuhtig gesetzte Melodien füglich gesungen und gespielet werden/ Gott zu ehren/ Wiedererbauung des zerfallenen Christenthumes/ und Erneürung des inwendigen Menschen mit sonderm Fleisse aufgesetzet und hervor gegeben […]. Lüneburg 1664, fol. )()( 3v.
Johann Anselm Steiger
Buße und Gesellschaftskritik in Zeiten der Pest, der Inflation und der Türkenbedrohung Zur literarisch-theologischen Konzeption von Johann Rists Passions-Andachten (1664) Johann Rists1 Passions-Andachten2 erschienen im Jahre 1664 in Hamburg im Verlag Johann Naumanns (1627–1668).3 Mit ihnen legte der Wedeler lutherische Pastor und in der literarischen Welt der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bestens vernetzte Literaturmanager Rist seine zwölfte großangelegte Sammlung von geistlichen Liedern vor.4 Rists am Ende seiner Vorrede an den Leser geäu-
1 Vgl. Klaus Garber: Literarischer und kulturpolitischer Statthalter im Norden Deutschlands. Ein Portrait Johann Rists. In: J. A. Steiger (Hg.): „Ewigkeit, Zeit ohne Zeit“. Gedenkschrift zum 400. Geburtstag des Dichters und Theologen Johann Rist. Neuendettelsau 2007 (Testes et testimonia veritatis 5), S. 9–36. Vgl. überdies Eberhard Mannack, J. A. Steiger: Art. Rist, Johann. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Hg. von Wilhelm Kühlmann u. a. Bd. 9 (2010), S. 668–670. Thomas Diecks: Art. Rist, Johann. In: Neue Deutsche Biographie 21 (2003), S. 646 f. J. A. Steiger: Art. Rist, Johann. In: Religion in Geschichte und Gegenwart4 7 (2004), Sp. 528. Eberhard Mannack: Johann Rist. Gelehrter, Organisator und Poet des Barock. Festvortrag zur 89. Jahresversammlung der Gesellschaft der Bibliophilen e. V. am 5. Juni 1988 in Kiel. München 1988. Dieter Lohmeier, Klaus Reichelt: Art. Rist, Johann. In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Hg. von Harald Steinhagen, Benno von Wiese. Berlin 1984, S. 347–364. Klaus Reichelt: Art. Rist, Johann. In: Biographisches Lexikon für Schleswig-Holstein und Lübeck. Bd. 6. Neumünster 1982, S. 250–259. 2 Johann Rist: Neue Hoch-heilige Paßions-Andachten Jn Lehr- und Trostreichen Liedern/ (welche von dem weitberühmten Musico/ und dieser Zeit Hochfürstlichen Brunschwigischen Kapell Meister zu Wolfenbüttel/ Herrn Martino Colero, mit sehr anmutigen und beweglichen Sangweisen sind außgezieret) bey diesen trübseeligen und recht jämmerlichen Zeiten/ allen des gekreutzigten JEsu getreusten Liebhabern/ zu sonderbahren Gefallen auch hertzlichem Trost und Erquickung aufgesetzet und wohlmeinentlich herfür gegeben von Johann Rist. Hamburg 1664. Vgl. die kritische Edition: Johann Rist, Martin Coler: Neue Hochheilige Passions-Andachten (1664). Kritisch hg. und kommentiert von J. A. Steiger. Kritische Edition des Notentextes von Oliver Huck und Esteban Hernández Castelló. Berlin u. a. 2015. Die folgenden Ausführungen basieren auf dem Nachwort zur Textedition. 3 Vgl. Josef Benzing: Die deutschen Verleger des 16. und 17. Jahrhunderts. Eine Neubearbeitung. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 18 (1977), Sp. 1077–1322, hier Sp. 1225. 4 Vgl. die 701 geistliche Lieder nachweisende Bestandsaufnahme: J. A. Steiger: Carmina spiritualia Ristiana. Bibliographie sämtlicher geistlicher Lieder Johann Rists (1607–1667). In: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 52 (2013), S. 171–204.
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ßerte Vermutung „Vileicht ist dises meine letste Schrift“5 bewahrheitete sich zwar nicht, insofern Rist bis zu seinem Tode am 31.8.1667 noch manches publizierte. Sein letztes geistliches Werk, das Soliloquien und zahlreiche Gesänge enthält, der zweite Teil der Verschmäheten Eitelkeit Und Der verlangeten Ewigkeit,6 erschien allerdings erst postum im Jahre 1668 und hinterläßt insofern einen nicht restlos vollendeten Eindruck, als es untypischerweise keine Vorrede(n) des Autors enthält und auch keine Ehrenschriften. Es ist indes gewiß kein Zufall, daß Rist in den Passions-Andachten als seinem letzten zu Lebzeiten veröffentlichten geistlichen Opus (erneut) Leiden und Sterben des Sohnes Gottes sowie deren fundamentale soteriologische Funktion in den Fokus rückte und überdies den mit ihm befreundeten Quickborner Pastor Andreas Gödeke (1613–1688) dafür gewann, ein zwölf Strophen umfassendes Ehrengedicht zu Papier zu bringen, in dem das geistlich-lyrische Œuvre Rists – gewissermaßen in einer ihrerseits lyrisch vorgetragenen und Vollständigkeit erstrebenden Bibliographie – vor Augen gestellt und gewürdigt wird. Die Widmungsvorrede in Rists Passions-Andachten richtet sich an sieben Persönlichkeiten, die der Hamburger politischen bzw. juristischen Elite zuzurechnen sind und mit denen Rist freundschaftlich verbunden war, nämlich an Barthold Twestreng (1612–1668), David Plocius (?–?), Hermann Langenbeck (gest. 1668), Peter Röver II. (gest. 1670), Jacob Sillem (1620–1693), Eberhard von Kampen (1619– 1675) und Jacob Rotenburg (1603–1667). Eine besonders enge Beziehung pflegte Rist mit David Plocius, übrigens dem einzigen der sieben Widmungsempfänger, der über kein politisches Amt verfügte, sondern Hamburger Rechtsanwalt war. Die Passions-Andachten stehen mit Blick auf die Wahl der Widmungsempfänger in einer Reihe mit der Alltäglichen HAußmusik (1654)7, den Neüen Musikalischen
5 Rist: Passionsandachten (Anm. 2), fol. g 1v. 6 Johann Rist: Der verschmäheten Eitelkeit Und Der verlangeten Ewigkeit/ Ander Theil/ Jn vier und zwantzig erbaulichen Seelengesprächen/ Und eben so viel Lehr-reichen Liedern/ Welche so wol auf bekante/ und in den Evangelischen Kirchen übliche/ als auf gantz neue/ lieblich gesetzte Melodien können gespielet und gesungen werden/ Mit besonderm Fleisse zu Papir Gebracht/ Nunmehr aber/ dem allerhöhesten GOTT zu schuldigsten Ehren/ Erbawung seiner Kirchen/ und wieder aufrichtung des leider! gahr zerfallenen Christenthumes/ öffentlich herfür gegeben […]. Frankfurt a. M. 1668. 7 Johann Rist: Frommer und Gottseliger Christen Alltägliche HAußmusik/ Oder Musikalische Andachten/ Bestehend Jn mancherlei und unterschiedlichen/ gantz neüen/ Geistlichen Liederen und Gesängen/ Welche von Allen/ und Eines jetweden Standes Personen/ in allen und ieglichen/ Leibes und der Seelen Angelegenheiten erbaulich können gebrauchet/ und deroselben grössester Theil auf bekante/ und in reinen Evangelischen Kirchen übliche; Sämtlich aber/ auf gahr neüe/ von dem fürtreflichem und weitberühmten Musico/ Herren Johann Schopen/ wol- und anmuhtig-gesetzte Melodien füglich gesungen und gespielet werden/ Gott zu Ehren/
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Katechismus Andachten (1656),8 der Neüen Musikalischen Kreutz- Trost- Lob- und DankSchuhle (1659)9 sowie mit dem Neuen Musikalischen Seelenparadis (1662).10 Diese Werke widmete Rist nicht fürstlichen Personen, sondern den Bürgermeistern und Räten der vier Hansestädte Lübeck, Lüneburg, Braunschweig bzw. Danzig. Rist ergriff hierbei nicht nur die Gelegenheit, seine literarischen Kompetenzen bezüglich des frühneuzeitlichen Städtelobs11 unter ebenso wortreichen
WiederErbauung des zerfallenen Christenthumes/ und Erneürung des inwendigen Menschen mit sonderm Fleisse aufgesetzet und hervor gegeben […]. Lüneburg 1654. 8 Johann Rist: Neüe Musikalische Katechismus Andachten/ Bestehende Jn Lehr- Trost- Vermanung und Warnungs-reichen Liederen über den gantzen heiligen Katechismum/ oder die Gottselige Kinder-Lehre/ welchen zugleich zwölf Erbauliche Gesänge über die Christliche Haustaffel/ sind beigefüget/ Die den Alle/ so wol auf bekante/ und in unseren Evangelischen Kirchen gebräuchliche; als auch auf gantz Neüe/ von Herrn Andreas Hammerschmid/ fürtreflichem Musico, und bei der Löblichen Statt Zittau weitberühmtem Organisten/ sehr fleissig und wolgesetzete Melodien können gespielet und gesungen werden. Dem Grossen Gott zu allerschuldigsten Ehren/ Frommen Christlichen Hertzen aber zu nohtwendiger und fruchtbahrer Erbauung abgefasset/ und zum Drukke übergeben […]. Lüneburg 1656. 9 Johann Rist: Neüe Musikalische Kreutz- Trost- Lob- und DankSchuhle/ Worinn befindlich Unterschiedliche Lehr- und Trostreiche Lieder/ in mancherlei Kreutz/ Trübsahl und Wiederwärtigkeit hochnützlich zu gebrauchen/ Welche grösseren Theils/ auf bekante/ und in den Evangelischen Kirchen gebräuchliche/ alle mit einander aber/ auf gantz neüe/ von dem fürtreflichem und weitberühmtem Musico/ Herrn Michael Jakobi/ bei der hochlöblichen Stadt Lüneburg wolbesteltem Cantore/ so lieb- als künstlich gesetzete Melodien/ können gespielet und gesungen werden/ Dem allerhöhesten Gott zu sonderbahren Ehren/ seiner angefochtenen Kirchen zur kräftigen Erbauung/ den auch sehr vielen hochbetrübten Hertzen/ in dieser jämmerlichen und gahr elenden Zeit/ zum hertzlichen Trost und Erquikkung/ wolmeinentlich aufgerichtet und angeordnet […]. Lüneburg 1659. 10 Johann Rist: Neues Musikalisches Seelenparadis/ in Sich begreiffend Die allerfürtreflichste Sprüche der H. Schrifft/ Neuen Testaments/ Jn Lehr- und Trostreichen Liederen/ und HertzensAndachten (welche so wohl auf bekante/ und in den Evangelischen Kirchen gewöhnliche; Als auch gantz neue/ von dem fürtrefflichem Musico, Herren Christian Flor/ der Kirchen zu S. Lambrecht/ in Lüneburg wolbestelten Organisten/ so künst- als liblich gesetzte Melodien/ können gespilet und gesungen werden) richtig erklähret und abgefasset/ Nunmehr aber zu Befoderung der Ehre Gottes/ und Fortpflantzung seines H. Wohrtes/ wie auch Wideraufrichtung unseres leider! fast gantz zerfallenen Christenthumes/ an das offene Licht gebracht/ und mit unterschiedlichen/ gahr nützlichen Registern hervor gegeben […]. Lüneburg 1662. 11 Vgl. zum Städtelob mit Blick auf Hamburg die folgenden Studien, die sich allerdings mit Quellen des 16. Jahrhunderts befassen: Dirk Werle: Contrafactur Hamburg. Städtelob und seine Intertexte am Beispiel eines Gedichts von Hans Sachs. In: Hamburg. Eine Metropolregion zwischen Früher Neuzeit und Aufklärung. Hg. von J. A. Steiger und Sandra Richter. Berlin 2012 (Metropolis. Texte und Studien zu Zentren der Kultur in der europäischen Neuzeit 1), S. 361–375. Hartmut Freytag: Hamburgum. Über einen Einblattdruck auf die Stadt von 1595. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte und Altertumskunde 83 (1997), S. 39–49. Kerstin Lüth-
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wie kunstvollen Beweis zu stellen, wobei er bestrebt war, die Tetrapolis hinsichtlich ihrer kulturellen, wirtschaftlichen und bildungspolitischen Bedeutung sowie ihrer Verdienste um das Erbe der Wittenberger Reformation in helles Licht zu rücken. Vielmehr dürfte Rist in literaturpolitischer Perspektive überdies bestrebt gewesen sein, neben den höfischen Zentren auch die städtischen Hochburgen im Norden des Reiches als Resonanzraum zu gewinnen. Daß Rist freilich einzig der Hamburgischen Obrigkeit zwei seiner geistlichen Werke dedizierte – schon die 1651 gedruckte Sabbahtische Seelenlust12 hatte er mit einer derartigen Widmung versehen – verrät eine besondere Wertschätzung der Hansestadt an Alster und Elbe, die der in Ottensen geborene Rist als seine Wahlheimat begriff und die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nicht nur mit Abstand die größte Metropole des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation war, sondern auch ein Handelszentrum, das den anderen Hansestädten längst den Rang abgelaufen hatte.13 Die literarische Produktion verstand Rist zeit seines Lebens als Tätigkeit mit hoher sozialer Relevanz – nicht nur hinsichtlich seiner Adressaten, deren Glauben durch geistliche Lieder gestärkt, deren Andacht genährt und deren Erbauung unterstützt werden sollten, sondern auch mit Blick auf den geistigen Austausch innerhalb der respublica litteraria, wie sie in heterogenen Gelehrtennetzwerken, u. a. in Form von Sprachgesellschaften, organisch verfaßt war. Vor diesem Hintergrunde erstaunt es nicht, daß Rist für die Passions-Andachten erneut Autoren suchte und fand, die bereit waren, durch „Etliche EhrenSchriften“14 – es handelt sich diesmal, anders etwa als in den Himmlischen und Neuen Himmlischen Liedern,15 ausschließlich um Lyrica – nicht nur ihre freund-
je, Hartmut Freytag: Dotata haec coelitus urbs est. ‚Diese Stadt ist vom Himmel beschenkt‘. Über ein Stadtporträt und Lobgedicht auf Hamburg aus dem Jahr 1587. In: Euphorion 91 (1997), S. 413– 430. Walther Ludwig: Multa importari, multa exportarier inde. Ein humanistisches Loblied auf Hamburg aus dem Jahre 1573. In: Humanistica Lovaniensia 32 (1983), S. 289–308. 12 Johann Rist: Sabbahtische Seelenlust/ Daß ist: Lehr- Trost- Vermahnung- und Warnungsreiche Lieder über alle Sontägliche Evangelien deß gantzen Jahres/ Welche/ so wol auf bekante/ und in reinen Evangelischen Kirchen gebräuchliche/ alß auch gantz Neue/ Vom Herren Thoma Sellio/ bei der hochlöblichen Statt Hamburg bestaltem Cantore/ wolgesetzete Melodeien können gesungen und gespielet werden/ Gott zu Ehren und Christlichen Hertzen zu nützlicher Erbauung abgefasset und herausgegeben […]. Lüneburg 1651. 13 Vgl. Hamburg. Eine Metropolregion (Anm. 11). 14 Rist: Passionsandachten (Anm. 2), fol. g 2v. 15 Johann Rist/Johann Schop: Himmlische Lieder (1641/42). Kritisch hg. und kommentiert von J. A. Steiger. Kritische Edition des Notentextes von Konrad Küster. Mit einer Einführung von Inge Mager. Berlin 2012. Johann Rist: Neue Himmlische Lieder (1651). Kritisch hg. und kommentiert von J. A. Steiger. Musik von Andreas Hammerschmidt, Michael Jacobi, Jacob Kortkamp, Petrus
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schaftliche Verbundenheit mit Rist unter Beweis zu stellen, sondern auch Zeugnis von ihrer engen Kooperation mit ihm abzulegen. Unter den Beiträgern, die für die Passions-Andachten zur Feder griffen, finden sich zwei in Rists Nähe tätige und mit ihm befreundete Pastoren – Andreas Gödeke (1613–1688) und Christian von Stökken (1633–1684) – sowie fünf poetae laureati: der Leipziger Poetikprofessor Johann Frentzel (1609–1674), der Brandenburger Konrektor Balthasar Kindermann (1636–1706), der lüneburgische Kandidat des Predigtamtes Franz Joachim Burmeister (1633–1672), der nachmalige Kronstädter Gymnasialrektor Johann Gorgias (1640–1684) sowie der Jenaer Student Martin Kempe (1637–1683). Drei dieser gekrönten Poeten (Kindermann, Burmeister, Gorgias) hatten den Lorbeer von Rist selbst empfangen, vier von ihnen (Kindermann, Burmeister, Gorgias, Kempe) waren Mitglieder des von Rist begründeten Elbschwanenordens. Weitere Beiträger sind ein aus Danzig stammender Jura-Student namens Johann Baumgart und der in Stade ansässige Johann Christoph Hermund, zu denen prosopographische Daten bislang nicht ermittelt werden konnten. Auffällig mit Blick auf diese, neun Personen umfassende Gruppe von Beiträgern ist, daß – anders als in zahlreichen früheren Publikationen Rists – keine kirchenleitenden Theologen wie etwa Vertreter der Hamburgischen Hauptpastorenschaft oder der höheren schleswig-holsteinischen Geistlichkeit zu Worte kommen. Somit entfällt auch der durch eben diese ehemals sichergestellte offensiv-apologetische Duktus der Ehrentexte, die in zahlreichen Fällen bestrebt gewesen waren, Rist gegen diverse Anfeindungen in Schutz zu nehmen.16 Die Passions-Andachten verfügen über einen klar gegliederten Aufbau und umfassen recht unterschiedlich umfangreiche Teilcorpora. Die insgesamt 47 geistlichen Lieder finden sich in sechs Rubriken. Deren erste umfaßt drei Lieder, die sich mit der seit alters her prominentesten prophetischen Weissagung des Leidens und Sterbens Jesu Christi, nämlich mit Jes 53,4 f., befassen und mithin einen Text des Alten Testaments ins Zentrum des Interesses rücken, dem der Stettiner lutherische Theologe Daniel Cramer (1568–1637)17 in seiner Schola prophetica im Anschluß an den Kirchenvater Hieronymus Stridonensis bescheinigte, hier spreche nicht eigentlich ein Prophet, sondern ein Evangelist: „IN hoc capite Propheta Esaias edit vaticinium de Christo, idque tam distinctè & perspicuè, ut
Meier, Hinrich Pape, Jacob Praetorius, Heinrich Scheidemann, Sigmund Theophil Staden. Kritische Edition der Notentexte von Konrad Küster. Berlin 2013. 16 Vgl. etwa den Rist in Schutz nehmenden Brief des schleswig-holsteinischen Generalsuperintendenten Stephan Klotz in den Neuen Himmlischen Liedern (Anm. 15), S. 43–45. 17 Vgl. Sabine Mödersheim: Art. Cramer, Daniel. In: Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon. Hg. von Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Michael Schilling, J. A. Steiger und Friedrich Vollhardt. Bd. 2. Berlin u. a. 2012, Sp. 23–30.
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D. Hieronymus ipsum hoc loco non Prophetam sed Euangelistam agere rectè judicet.“18 Es folgen, wie das Zwischentitelblatt formuliert, „Zwölf Gottselige Musikalische Andachten/ Uber unseren Allerlibsten HErren und Seligmacher JESUM/ Wie Derselbe/ zu Seinem Allerheiligsten Leiden ist hingeführet/ und grausahmlich/ an den Kreutz-Pfahl geheftet.“19 Diese Texte waren bereits Bestandteil von Rists 1648 gedruckter kleinerer Sammlung von Passionsliedern. Rist wählt in diesem Falle nicht die unterschiedlichen Orte, an denen sich die Leidensgeschichte abspielte, um deren Handlungsverlauf in entsprechende actus aufzuteilen, wie dies in zahlreichen zeitgenössischen Sammlungen von Passionspredigten üblich war, wobei sich häufig (etwa bei Johann Gerhard20) die Strukturierung in fünf actus (gemäß dem Merkvers „Hortus, Pontifices, Pilatus, cruxque, sepulchrum“21) findet, aber auch Vier-, Sechs- und Siebenakter durchaus vorkamen.22 Vielmehr wird die passio Christi von Rist in Wegesstrecken unterteilt. In den zwölf Gesängen begleitet das lyrische Ich den leidenden Sohn Gottes von seiner Gefangennahme im Garten Gethsemane bis hin nach Golgatha, wobei jeweils die einzelnen Etappen dieses Leidensweges der meditativ-poetischen Betrachtung zugeführt werden: Der Weg von Gethsemane zum Hohenpriester Hannas, von Hannas zu Kaiphas, von Kaiphas in den Raum der Geißelung, von dort aus weiter zu den „Hohenpriestern und Rahtsverwandten“,23 zu Pontius Pilatus, zu Herodes, zurück zu Pilatus, in das „Richthauß“ zur Verspottung und Dornenkrönung, vor das Volk, zurück ins Justizgebäude, erneut zu Pilatus und schließlich an die Schädelstätte. In allen zwölf Liedern steht neben der Rekapitulation der von den vier Evange-
18 Daniel Cramer: SCHOLAE PROPHETICAE, SECVNDA CLASSIS: De IESV CHRISTI INCARNATIONE, MINISTERIO, PASSIONE, MORTE, Sepultura, Descensu ad Inferos, Resurrectione, Ascensione ad coelos, Sessione ad Dexteram DEI, Missione Spiritus sancti. IN QVA METHODO HVNNIANA exponuntur alia gravißima Vaticinia Octo: De Siloh Gen. 49. v. 10. De filio Davidis 2. Sam. 7. v. 12. De Immanuele Esa. 7. v. 14. De Parvulo nobis nato Esa. 9. v. 6. De Doctore nec clamoso nec moroso Esa. 42. v. 1. De servo Dei justo & sapiente. Totum 53. caput Esaiae. De filio hominis translato ad Antiquum dierum Dan. 7. v. 13. De effusione Spiritus gratiae & precum Zach. 12. v. 8. […]. Hamburg 1607, S. 280. 19 Rist: Passionsandachten (Anm. 2), S. 21. 20 Vgl. J. A. Steiger: Art. Gerhard, Johann. In: Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon. Hg. von Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Michael Schilling, J. A. Steiger und Friedrich Vollhardt. Bd. 2. Berlin u. a. 2012, Sp. 557–571. 21 Johann Gerhard: Erklährung der Historien des Leidens vnnd Sterbens vnsers HErrn Christi Jesu nach den vier Evangelisten. Kritisch hg. und kommentiert von J. A. Steiger. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002 (Doctrina et Pietas I, 6), S. 16, Z. 57. 22 Vgl. J. A. Steiger: Nachwort, in: Ebd., S. 479–505, hier S. 492. 23 Rist: Passionsandachten (Anm. 2), S. 41.
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listen berichteten Passionsgeschichte der Umstand im Fokus, daß nicht erst und allein der Tod des Sohnes Gottes die allen Glaubenden geltende Sündenvergebung erwirkt hat, sondern dessen gesamte passio, die darum auch der Schritt für Schritt vorzunehmenden meditatio bedarf. In Übereinstimmung mit Luthers programmatisch in dessen Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi (1519) entfalteten Methodik rechter Passionsmeditation rückt Rist stets erneut das jedem Menschen abgeforderte Bekenntnis in den Mittelpunkt, er selbst und seine Sündhaftigkeit hätten das bittere Leiden Jesu Christi in Gottvaters Zornesgericht kausiert.24 Den umfänglichsten Teil der Passions-Andachten bilden die in einer dritten Rubrik dargebotenen 21 Lieder über die sieben Worte Jesu am Kreuz, wobei Rist jedem einzelnen Kreuzeswort drei Lieder widmet. In diesem Falle (und anders als bei den Hinführungen) nutzt Rist, dessen Anliegen und Anspruch es war, als erster Dichtertheologe überhaupt das Gesamte der Theologie nicht in Predigten oder vermittels einer anderen prosaischen Textgattung, sondern im Medium der geistlichen Dichtung vorzutragen und literarisch greifbar zu machen,25 ein in der
24 Vgl. J. A. Steiger: Zorn Gottes, Leiden Christi und die Affekte der Passionsbetrachtung bei Luther und im Luthertum des 17. Jahrhunderts. In: Passion, Affekt und Leidenschaft in der Frühen Neuzeit. 2 Bde. Hg. von dems. Wiesbaden 2005 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 43), Bd. 1, S. 179–201. 25 Vgl. Johann Rist: Neues Musikalisches Seelenparadis/ Jn sich begreiffend Die allerfürtref lichste Sprüche der heiligen Schrifft/ Alten Testaments/ Jn gantz Lehr- und Trostreichen Liederen und HertzensAndachten/ (welche so wol auf bekante/ und in den Evangelischen Kirchen gewöhnliche/ als auch gantz Neue/ von dem fürtreflichem Musico, Herren Christian Flor/ der Kirchen zu Sanct Lambrecht in Lüneburg/ wolbesteltem Organisten/ so künst- als lieblich- und andächtig gesetzete Melodien können gespielet und gesungen werden) richtig erklähret und abgefasset/ Nunmehr aber/ zu Befoderung Göttlicher Ehre/ und Fohrtpflantzung des heiligen und allein seligmachenden Wohrtes/ wie auch Wideraufrichtung unseres leider! fast gantz zerfallenem Christenthumes/ an das offene Licht gebracht/ und mit einem dreifachen Register oder Blattweiser hervor gegeben […]. Lüneburg 1660, fol. a 8v: „Hiebenebenst aber erinnerte Jch Mich nicht unbillig/ Meines/ durch Gottes Gnade schon längst gefasseten/ starken Vorsatzes/ und bis anhero angewendeter Bemühung/ Kraft welcher Jch Mich unterstanden/ die gantze Theologiam, oder die Lehre von Gott/ in lauter erbaulichen Liedern zu begreiffen/ und der Kirchen Gottes wolmeinentlich mitzutheilen/ welcher Arbeit/ Meines wissens/ unter uns Teutschen/ sich bishero noch niemand auf eine solche Ahrt und Weise unterstanden. Zu solchem Ende nun habe Jch anfänglich meine Himlische/ und bald darauf meine Sonderbahre Lieder zu Papir gebracht/ in welchen Jch die führnehmste Artikul und Haubtstükke unserer Christlichen Lehre/ als von Gott/ den Engeln/ deß Menschen Fall/ auch dessen/ durch Christum geschehene Erlösung/ von der wahren Buhsse und Bekehrung/ vom Gebeht und Anruffung Gottes/ von wahrer Christlicher Demuht/ Friedfärtigkeit/ Libe/ Sanftmuht/ Freundligkeit/ heiligem Leben und Wandel/ Hoffnung/ Gedult/ Kampf und Kraft des Glaubens/ von der Widergebuhrt und der wahren Er-
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zeitgenössisch praktizierten Passionshomiletik beliebtes Gliederungsprinzip, wie es z. B. die äußerst verbreitete Sammlung von Predigten zu den sieben Worten des Gekreuzigten aus der Feder des schlesischen Theologen Johann Heermann (1585–1647)26 verwendet.27 Im vierten Teil der Passions-Andachten bietet Rist seine lyrische Bearbeitung der sieben sog. Passionssalven dar.28 Auch sie waren bereits 1648 publiziert worden. Die von Rist verwendeten sieben Prätexte, deren ersten fünf aus der Feder Arnulfs von Löwen (?–?, 1240–1248 Subprior des Klosters Villers in Brabant) stammen,29 wurden in der Frühen Neuzeit Bernhard von Clairvaux (1090/91–1153) zugeschrieben, dessen umfangreiches Œuvre (und keineswegs nur die Sermones super Cantica) sich nicht nur im frühneuzeitlichen römischen Katholizismus, sondern auch im barocken Luthertum einer außerordentlichen, konfessionsübergreifenden Beliebtheit erfreute.30 Die Passionssalven adressieren die membra Jesu Christi und tragen im Sinne einer enumeratio partium meditativ der Tatsache Rechnung, daß ausnahmslos alle Körperteile Jesu in den Leidensprozeß einbezogen waren. Seiner Vorlage folgend, nimmt Rist in den sieben Gedichten im Zuge einer von unten nach oben voranschreitenden Bewegung Füße, Knie, Hände, Seite, Brust, Herz und Antlitz Jesu Christi in den Blick. Rists
neurung/ nach dem inwendigen Menschen/ von der Ruhe der Seelen/ vom seligem Abscheide aus disem vergänglichem Leben/ von der Auferstehung des Fleisches/ und dem/ bald darauf folgendem grossen Gerichtstage/ von der höllischen Pein und Quahl der Verdamten/ und den schlieslich/ von der unaussprächlichen Freude und Herligkeit der Kinder Gottes im anderen und ewigen Leben/ allen Christlichen und Gottergebenen Hertzen habe fürgestellet/ welche Lieder den auch mancher frommen/ und den Herren Jesum inniglich libenden Seelen/ ohne einigen eitlen Ruhm alhie zu erwähnen/ gahr lib und angenehm sind gewesen.“ 26 Vgl. Bernhard Liess: Art. Heermann, Johann. In: Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon. Hg. von Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Michael Schilling, J. A. Steiger und Friedrich Vollhardt. Bd. 3. Berlin u. a. 2014, Sp. 211–217. 27 Vgl. Johann Heermann: Heptalogus Christi, Das ist: Die Allerholdseligsten Sieben Worte Vnsers trewen vnd hochverdienten Heylandes JESU CHRISTI, Mit welchen Er am Creutze sein Leben geendet hat. Betrachtet/ vnd in VII. Lehr- vnd Trostreichen Predigten erkläret […]. Anjetzo von dem Autore selbst vbersehen/ corrigiret/ vnd zum dritten mal wol verbessert. Jena 1648 (11619; acht Auflagen bis 1670). 28 Vgl. Sven Grosse: Johann Rists Übertragung der lateinischen Passionssalven als Beispiel für die lutherische geistliche Dichtung des 17. Jahrhunderts. In: Hamburg. Eine Metropolregion (Anm. 11), S. 77–89. 29 Zu Arnulf von Löwens Verfasserschaft vgl. Franz Josef Worstbrock: Art. Arnulf von Löwen. In: Deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2. Aufl. Bd. 1 (1978), Sp. 500–502. 30 Vgl. Ernst Koch: Die Bernhard-Rezeption im Luthertum des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Bernhard von Clairvaux. Rezeption und Wirkung im Mittelalter und in der Neuzeit. Hg. von Kaspar Elm. Wiesbaden 1994 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 6), S. 333–351.
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Versifizierung der Passionssalven – bekanntermaßen versuchten sich an diesem ps-bernhardinischen Stoff auch andere barocke Autoren wie Andreas Gryphius, Georg Philipp Harsdörffer und Paul Gerhardt – war (freilich auf einem Umwege) eine vergleichsweise starke Wirkungsgeschichte beschieden. Denn Dietrich Buxtehude (ca. 1637–1707) legte einer seiner sieben Passionskantaten mit dem Titel Membra Jesu nostri patientis sanctissima (1680) die lateinische Übersetzung von Rists Passionssalven zugrunde, die Tobias Petermann angefertigt und im Jahre 1655 publiziert hatte.31 In einem fünften Teil schließen sich drei weitere Lieder an, die Rist als „Beschluß-Andachten“ tituliert und die dem weiterhin imaginär unter dem Kreuz Christi auf Golgatha stehenden lyrischen Ich in den Mund gelegt sind. Interessanterweise korrespondiert das erste Lied eng mit den vorangehenden Passionssalven insofern, als nun – gleichsam responsorisch – die einzelnen Körperteile des den leidenden Christus betrachtenden Menschen thematisiert werden, und zwar in nun umgekehrter Bewegung des Blickes, der von oben nach unten wandert: Haupt, Augen, Ohren, Mund, Brust, Herz, Seite, Hände, Knie und Füße. An allen Körperteilen werden je einzeln die Epiphänomene der den ganzen Menschen von dem Sohn Gottes abspenstig machenden Sündhaftigkeit entziffert, beklagt und gebeichtet, woraus der existentielle Hilferuf an den Gekreuzigten resultiert, der in ausnahmslos jedem Eingangsvers aller 22 Strophen redundant-insistierend wiederholt wird: „O Süsser Jesu hilff!“ Die Passions-Andachten enden mit „Klingende[n] Dankverse[n]“, dem einzigen der insgesamt 47 Lieder, dem weder Noten noch die Angabe einer Lehnmelodie beigefügt sind. Diese Verse dienen der abschließenden Artikulation des Dankes, den der Sänger und Beter dem Sohn Gottes für dessen Geburt und Passion zu zollen hat. Die Dankesgabe, die Christus vom lyrischen Ich für seine Errettung erhält, ist dessen Herz, das pars pro toto für die gesamte Existenz des Christenmenschen steht. Analysiert man die beiden Vorreden, die Rist seinen Passions-Andachten voranstellt, so fällt im Vergleich mit seinen früheren praefationes eine nochmals intensivierte Naherwartung des Jüngsten Tages sowie eine erheblich pointierter vorgetragene Sozial-, Obrigkeits- und Kirchenkritik in die Augen. Diese Gesellschaftskritik ist eingebettet in die Mahnung, im wahren Glauben Buße zu tun und zu Gott umzukehren, d. h. Zuflucht zu suchen bei dem für die sündige Menschheit und um willen von deren Versöhnung mit Gott gestorbenen Sohn Gottes und bei ihm Schutz zu finden vor den Verderbensmächten – näherhin vor der Sünde, dem Tod und dem Satan. Diese verderblichen Dynamiken seien, wie Rist mehr-
31 Vgl. hierzu den Beitrag von Andreas Betz in vorliegendem Band, bes. S. 155.
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fach betont, keineswegs nur im Verborgenen virulent, sondern in vielerlei Gestalt konkret-empirisch greifbar, etwa in der Bedrohung des christlichen Abendlandes durch die heranrückenden osmanischen Heere, die – und eben dies hat Rist in seiner Ende 1663 abgefaßten Vorrede an den Leser im Blick – seit Frühjahr 1663 unter der Führung des Großwesirs Ahmed Köprili Ungarn und Mähren unter ihre Botmäßigkeit zwangen, am 27.9.1663 das zwischen Preßburg und Budapest gelegene Neuhäusel eroberten und bis Preßburg vorrückten. Erst im darauf folgenden Jahr gelang es Kaiser Leopold I., die osmanische Armee bei Mogersdorf zu schlagen, und die drohende Gefahr durch den im August 1664 geschlossenen Frieden von Eisenburg abzuwenden.32 Wie viele seiner Zeitgenossen und durchaus in Kontinuität mit Luthers Sichtweise33 begreift Rist die osmanische Aggression als eine von Gott gesandte Krisensituation, die sowohl als göttliches Gericht und Strafe für die Sündhaftigkeit der Christen wie auch als empirisch wahrnehmbare Bußpredigt Gottes zu dekodieren ist. Die Dringlichkeit dieser in historischen Faktizitäten sichtbar und hörbar werdenden Mahnung Gottes zur Buße offenbart sich in deren Multimedialität. Neben der Türkenbedrohung ist Rist zufolge – und auch hier folgt der Wedeler Pastor einer verbreiteten Sicht der Dinge, die in umfassend-monographischer Form fast zeitgleich von dem in brandenburg-bayreuthischen Diensten stehenden Juristen Johann Friedrich Schweser (1606–1681) vorgetragen worden war34 – die im wesentlichen durch den Krieg, aber auch durch (nicht zuletzt höfische) Verschwendungssucht und obrigkeitliche Mißwirtschaft bedingte Inflation ein von Gott herrührendes signum, das die Menschen zur Umkehr bewegen will. Diese Inflation, der „Geldmangel“,35 wie man diese in der Frühen Neuzeit zu nennen pflegte, wurde im Hamburger Raum dadurch noch verschärft, daß mehrere
32 Vgl. Erich Zöllner: Geschichte Österreichs. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Wien u. a. 8 1990, S. 248. Johann Heinrich Zedler: Großes vollständiges Universal-Lexikon. 64 Bde. und 4 Supplementbde. Halle/S., Leipzig 1732–1754 (Reprint Graz 1961–1964), hier Bd. 24 (1740), Sp. 174. Martin Meyer: IRENICO-POLEMOGRAPHIAE CONTINUATIO II. Das ist: Der Historisch-fortgeführten Friedens- und Kriegs-Beschreibung Dritter- Oder deß THEATRI EUROPAEI Neundter Theil […]. Frankfurt a. M. 1672, S. 953–958. 33 Vgl. Martin Brecht: Luther und die Türken. In: Europa und die Türken in der Renaissance. Hg. von Bodo Guthmüller und Wilhelm Kühlmann. Tübingen 2000 (Frühe Neuzeit 54), S. 9–28. 34 [Johann Friedrich Schweser:] Geldmangel in Teutschlande und desselben gründliche Ursachen/ nach Anleitung des warhafften Verlaufs des/ in unserm Vaterlande/ von etlich vielen Jahren her/ verführten Wesens und Wandels/ an Tag gegeben; auch Mit alten und neuen anmuthigen Geschichten/ nutzbaren Politischen Regeln und Lehrensarten/ auch allerhand erbaulichen Nebendiscursen/ Rechts- und andern Fragen ausgezieret/ durch Gottlieb Warmund. Bayreuth 1664. 35 Rist: Passionsandachten (Anm. 2), fol. c 6v.
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Sturmfluten im Februar 1663 Deiche bersten ließen und die Elbmarschen unter Wasser setzten.36 Es folgten ein nasser Sommer und schlechte Ernten, wodurch die Lebensmittelpreise zusätzlich stiegen. Komplettiert wurde das Krisenszenario dadurch, daß im Sommer 1663 in Hamburg die Pest und andere Epidemien ausbrachen,37 worin Rist eine sich der klimaktischen amplificatio bedienende Verschärfung der göttlichen Gerichtsankündigung und des mit ihr verbundenen Bußrufes erkennt. Rist bittet Gott bereits in seiner ersten Vorrede (im Anschluß an die Pesterzählung des Alten Testaments par excellence, insbesondere an 2Sam 24,16) darum, daß „Er doch in disem neuangehendem 1664 Jahre seine Hand über uns wolle leichter werden/ und sich das Ubel gereuen lassen“.38 Diese Bitte freilich erfüllte sich nicht, da Hamburg im Mai 1664 von einer weiteren Pestepidemie heimgesucht wurde, die bis zum Jahresende grassierte.39 Das einzig zu Gebote stehende Mittel, das es erlaubt, auf die mit dieser Dringlichkeit vorgetragene Gerichts- und Bußpredigt Gottes angemessen zu reagieren, ist Rist zufolge die wahre, aus dem Glauben herrührende Buße, die freilich nicht bereits dann ins Werk gesetzt wird, wenn man die obrigkeitlich verordneten Bußtage und Bußpraktiken einhält. Vielmehr, so Rist, sei eine grundsätzliche Neuorientierung der gesamten Existenz der Menschen im Sinne der einem jeden Christen abverlangten Heiligung (sanctificatio) des Lebens unumgänglich: Unterdessen hat man gleichwol bei disen elenden Zeiten und hochgefährlichen Läuften/ alle Wochen gewisse Buhss- und Behtstunden angeordnet/ lassen sich auch etliche Christliche Haußväter nicht verdriessen/ des Tages zum weinigsten ein- oder zweimahl/ mit ihren Kinderen und Gesinde in ihren Häuseren niederzuknien/ andächtig zu behten/ und
36 Vgl. Wolfgang Heinrich Adelung: Kurtze Historische Beschreibung/ Der Uhr-Alten Käyserlichen und des Heil. Römischen Reichs Freyen-An-See-Kauff- und Handels-Stadt HAMBURG, Darinnen der Ursprung und Fortwachs dieser Löbl. Stadt/ was von CAROLO MAGNO an/ biß auff diese Zeit/ Denckwürdiges vorgegangen/ sampt vielen Antiquitäten/ so wohl den Einheimischen als Frembden zur nützlichen Nachricht: Nebst gründlichem Bericht/ wie und wann die Hn. Bürgermeister und Hn. des Rahts/ von ANNO 1189. biß 1696. hieselbst erwehlet/ an Hohe Potentaten Gesandsweise abgesandt/ und durch den Zeitlichen Todt abgefodert worden. Alles aus vielen Vornehmen Scribenten, alten Uhrkunden/ und Annalibus mit Fleiß zusammen getragen […]. Hamburg 1696, S. 139. [Michael Gottlieb Steltzner:] Versuch Einer zuverläßigen Nachricht von dem Kirchlichen und Politischen Zustande Der Stadt Hamburg Jn den neuen Zeiten/ Nehmlich von Käyser Ferdinand des II. biß auf die Zeiten Käyser Leopolds des I. Dritter Theil/ Nebst einem vollständigen Register. O. O. 1733, S. 809 f. Johann Gustav Gallois: Hamburgische Chronik von den ältesten Zeiten bis auf die Jetztzeit. Bd. 3: Vom Beginn der bürgerlichen Unruhen bis zur Vollendung des Hauptrecesses 1712. Hamburg 1862, S. 283. 37 Vgl. Gallois (Anm. 36), S. 296. 38 Rist: Passionsandachten (Anm. 2), fol. a 4v. 39 Vgl. Adelung (Anm. 36) sowie Steltzner (Anm. 36), S. 876 f.
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allerhand feine Buhßlieder zu singen. Nun wil ich dise wolgemeinete Anstalt gahr nicht getadelt/ sondern vielmehr gelobet und wehrt gehalten haben/ binn und verbleibe aber dennoch der gäntzlichen Meinung/ daß alles unser Kirchen gehen/ singen und behten/ nirgends zu wird nützen/ dafern wir nicht erstlich vom Bösen ablassen/ die Sünde und Laster meiden/ dagegen aber ein neues Leben führen/ in Heiligkeit und Gerechtigkeit/ so GOtt gefällig ist.40
Genau für diese authentische Bußpraxis, die ohne eine Vergewisserung eines jeden einzelnen mit Blick auf die durch Christi Leiden und Sterben erwirkte Sündenvergebung und Überwindung jeglicher Verderbensmächte nicht auskommen kann, stellt Rist mit seinen Passions-Andachten probate Mittel zur Verfügung. Diese geistlichen Lieder verstehen sich als Beiträge, die nötig sind, um das von Rist (und keineswegs von ihm alleine41) in extenso beklagte ‚Heuchelchristentum‘ zu beseitigen, das u. a. darin greifbar wird, daß die Menschen die Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders sola gratia und ohne das Tun verdienstlicher Werke gerne zur Kenntnis nehmen, ohne aber ihr Leben entsprechend zu ändern und Nächstenliebe zu praktizieren. Zwecks Überwindung des falschen, bloß geheuchelten Christentums und zwecks „Widererbauung unseres nunmehr leider! sehr verfallenen/ ja fast gahr über einen hauffen ligenden Christenthumes“42 reichen Rist zufolge einzelne Frömmigkeitsübungen freilich nicht hin. Hierzu bedarf es vielmehr einer nicht bloß innerkirchlichen und schon gar nicht im privaten Frömmigkeitsleben verbleibenden grundsätzlichen Neuorientierung, die sich gesamtgesellschaftlich zu vollziehen habe, die daher alle Institutionen betreffen und zu der ein jeder seinen Beitrag leisten müsse. Scharfe Kritik äußert Rist nicht nur im Gegenüber zur weltlichen Obrigkeit, die seiner (traditionell lutherischen) Sicht der Dinge zufolge die Pflicht habe, die politischen Rahmenbedingungen für die Realisierung wahrer christlicher Existenz zu schaffen. Vielmehr tadelt er auch seinen eigenen Berufsstand, die Geistlichkeit auf allen Ebenen der kirchlichen Hierarchie, indem er insbesondere den kirchenleitenden Theologen Duckmäusertum auch und gerade im Gegenüber zu den weltlichen Herrschaften vorhält, das sich u. a. darin offenbare, daß die Notwendigkeit der Sonntagsheiligung nicht mit dem notwendigen Nachdruck eingefordert werde.
40 Rist: Passionsandachten (Anm. 2), fol. f 5r. 41 In eine ähnliche Richtung gehen z. B. die Argumentationen des Rostocker Pastors und Theologieprofessors Heinrich Müller. Vgl. Helmut K. Krausse, Redaktion: Art. Müller, Heinrich. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Hg. von Wilhelm Kühlmann u. a. Bd. 8 (2010), S. 394–396. Johannes Wallmann: Art. Müller, Heinrich. In: Religion in Geschichte und Gegenwart4 5 (2002), Sp. 1570. 42 Rist: Passionsandachten (Anm. 2), fol. b 7v.
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Hie wünsche ich abermahl/ daß die jenige/ welche bei Hofe viel zu sagen haben/ worunter ich nicht nur die weltliche/ sondern auch die Herren Geistliche/ die Hoffprediger/ Bisschöffe/ General- und Special Superintendenten, Pröbste/ und wie sie mehr heissen mügen/ verstehe/ das Maul rechtschaffen aufthäten/ und den grossen Potentaten das dritte Geboht/ Memento, Gedenke darann/ daß du den Sabbaht heiligest/ aus dem Grunde erklähreten/ ihnen fürhielten die ungläubliche Wichtigkeit dises Gebohtes/ sie unterthänigst und üm CHristi willen ersucheten/ daß doch disem Gebohte zu merklicher Erbauung des wahren Christenthumes ernstlicher müchte nachgelebet/ der Sabbaht/ das ist/ alle Sonn- und Festtage/ Buhss- und Behttage/ innerlich und äuserlich recht gefeiret/ die Ubertreter aber dises Gebohtes mit ernstlicher Straffe angesehen werden […].43
Rist fordert daher, daß diejenigen, die der Sonntagsheiligung nicht nachkommen, mit Geldbußen belegt werden müssen, woraus im übrigen ein Beitrag zur Sanierung der maroden Staatsfinanzen resultieren werde. Weitere Forderungen Rists betreffen einen umfänglichen Lasterkatalog, den der Wedeler Pastor, an der ersten Tafel des Dekaloges entlanggehend, abhandelt. Im Zuge dessen klagt Rist die Abarbeitung eines detaillierten Maßnahmenkataloges ein, zu dem u. a. gehören: 1. die Verschärfung bzw. die konsequente Handhabung der „Kirchenbuhsse“,44 mithin der Kirchenzucht, 2. das obrigkeitliche Einschreiten gegen das in allen sozialen Schichten verbreitete Fluchen und Führen gotteslästerlicher Reden, 3. die Bekämpfung von Diebstahl, inbesondere die strafrechtliche Verfolgung von ‚Finanzhaien‘, die ihre Kunden mit faulen Geldgeschäften übervorteilen, betrügen und bestehlen, 4. die repressive Disziplinierung von „Lästerern/ Ehrendieben/ Verläumdern und Pasquillanten“,45 5. das konsequente Vorgehen gegen jegliche Form von Korruption in Politik und Kirche, die dazu geführt habe, daß „Munera, Moneta und Denarius sind Richter im geistlichen und weltlichen Hause“,46 6. die unnachsichtige Bestrafung von widergöttlichem Aberglauben, insbesondere in Gestalt von Wahrsagerei und anderen spiritistischen Praktiken. Rist wird nicht müde, zu betonen, daß „Zauberer/ Wikker [= Weissager]/ Wahrsager/ Nachweiser [= Hellseher] und Zeichendeuter“47 beiderlei Geschlechts nicht nur dem ersten Gebot zuwiderhandeln, sondern überdies ganze Regionen in ungeheure, zuweilen vertragsähnlich-dauerhaft vereinbarte finanzielle Bedrängnis geraten lassen. Die sowohl gedankliche als auch rhetorische Schärfe, mit der diese Forderungen eines gesamtgesellschaftlichen Reformprogramms vorgetragen werden, resultiert zum einen aus der Dringlichkeit, die sich Rist zufolge angesichts der
43 Ebd., fol. d 4v–5r. 44 Ebd., fol. e 8v. 45 Ebd., fol. e 3v. 46 Ebd., fol. f 3v. 47 Ebd., fol. c 7r.
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historische Realität gewordenen apokalyptischen Zeichen nicht in Abrede stellen läßt. Das Anliegen Rists, Klartext zu reden, hat zum anderen auch zu tun mit dem Umstand, daß er damit rechnet, diese Publikation könnte womöglich seine letzte sein. Und in der Tat ergriff Rist, wie bereits ausgeführt, in den Passions-Andachten letztmalig die Gelegenheit, sich im Rahmen einer programmatischen Vorrede zu derart grundlegenden Fragen des politischen, sozialen und kirchlichen Lebens angesichts des seiner Ansicht nach bald heranrückenden Jüngsten Tages zu äußern. Bemerkenswerterweise ist es Rist am Ende seiner Vorrede an den Leser darum zu tun, im Rahmen einer Selbstreflexion seines literarisch-rhetorischen Handelns Rechenschaft abzulegen über seine scharfe Redeweise und deren Motivation. Seine „ein wenig al zu harte[n] Reden“48 flössen nicht „aus einem bösen Gemühte“,49 sondern resultierten gewissermaßen aus einem legitimen, sehr gründlich reflektierten furor divinus, „aus einem recht Christlichem Eifer/ der von allen getreuen Lehrern und Dieneren GOttes ernstlich wird erfodert“.50 Dieser Eifer aber ziele einzig und allein darauf, daß dem „Schade[n] Josephs“51 (Am 6,6) abgeholfen und der Wiederaufbau des „nun mehrentheils gahr zu Grunde und Boden gerichtete[n] Christenthum[s]“52 bewerkstelligt werde.
48 Ebd., fol. g 1v. 49 Ebd. 50 Ebd. 51 Ebd. 52 Ebd.
Franziska May
Anmerkungen zu den Titelkupferstichen der Passionsandachten Johann Rists 1 Einleitende Bemerkungen Die Passionsandachten Johann Rists, deren Kupferstiche Gegenstand der folgenden Überlegungen sind, erschienen erstmals 1648 im Duodezformat unter dem Titel Der zu seinem allerheiligsten Leiden und Sterben hingeführter und an das Kreütz gehefteter Christus Jesus.1 Die relevanten Stiche, zwei an der Zahl, sind dem Titelblatt vorangestellt: Sie zeigen die Darstellung des Ecce homo und die Kreuzigung. Auf die Dedikationsschrift an Anna Eleonora, Herzogin zu Braunschweig und Lüneburg folgt eine Anrede „An den Getreüen Liebhaber unseres Gekreützigten HErren JEsu.“2 Des weiteren sind dem Werk zahlreiche sog. Ehrenschriften (mehrheitlich Ehrengedichte) beigegeben. Die Passionsandachten enthalten insgesamt 19 Lieder, die Rist in zwei Gruppen, zwölf Hinführungen und sieben Andachten, unterteilt und zu denen der Organist und Komponist Heinrich Pape (1609–1663)3 die Melodien beigesteuert hat. Zwölf Hinführungen sind es, weil Christus in seiner Passion zwölfmal hin- und hergeführt worden ist, angefangen mit seiner Gefangennahme im Garten Gethsemane, in deren Anschluß er zum Hohenpriester Hannas gebracht wurde, bis hin zu seiner Herausführung aus der Stadt Jerusalem auf den Hügel Golgatha, mithin sind sie, die Hinführungen, am Leidensweg des Heilandes orientiert.4 Gleichzeitig verbindet Rist in seiner
1 Johann Rist: Der zu seinem allerheiligsten Leiden und Sterben hingeführter und an das Kreütz gehefteter Christus Jesus […]. Hamburg 1648 (SUB Göttingen 8 P GERM II, 7344). 2 Ebd., fol. )( 10r. 3 Zu Heinrich (II.) Pape vgl. die Ausführungen Rists: „Betreffend die Melodeien dieser Lieder/ So hat Mir in Verfärtigung derselben mein freündlicher lieber Schwager H. Pape/ welcher die löbliche Sing- und Orgelkunst von dem weltberühmten Herren Jakob Schultzen/ bei der Peters kirchen in Hamburg wolverdienten Organisten in seiner Jugend emsig hat erlernet/ treülich und sehr willig gedienet.“ Ebd., fol. )( )( 1r. Vgl. ferner Schriftleitung (Kurt Gudewill): Pape, Heinrich. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart2 13. Personenteil (2005), Sp. 90 f. 4 Vgl. Johann Rist: Der zu seinem allerheiligsten Leiden und Sterben hingeführter und an das Kreütz gehefteter Christus Jesus/ […] Jtzo auffs neüe übersehen und an vielen ohrten merklich verbessert. Nunmehr auch in der lateinischen Sprache übergesetzet von M. TOBIA PETERMANO. Hamburg 1655 (SUB Hamburg Scrin. A 1902), fol. A 9r–v: „Zwölffmahl ist unser allerliebster Seligmacher zuer zeit seines leidens hin und her geführet: Daß erste mahl ward Er geführet auß dem
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Anrede „An den Getreüen Liebhaber“ damit die Aufforderung, an jeder der zwölf Stunden des Tages eine der Hinführungen andächtig zu betrachten: Wen du nun/ mein vielgeliebter Christ in einer ieden Stunde deß tages nur eine einzige dieser iämmerlichen hinführungen deines allerliebsten und unschüldigen Erlösers in rechter Andacht wirst betrachten/ So versichere Jch dich hiemit/ daß du negst dem Göttlichen Trost/ den du in aller Noht und Anfechtung daraus kanst schöpfen/ auch gahr ein anderer Mensch werden und eines Christlichen lebens und wandels dich ernstlich wirst befleissen: Den/ nichts wird gefunden/ daß einen Menschen von Sünden so kräfftig kan ab und zu rükke halten/ als die stäte Gedächtnisse deß bitteren Leidens und Sterbens unseres Seligmachers JEsu Christi.5
Die Siebenzahl der „Andachten Einer Christglaübigen Seele unter dem Kreütze Jhres Erlösers und Allerliebsten Seligmachers JEsu Christi“6 ergibt sich aus deren Vorlage, den an die Gliedmaßen Christi gerichteten Passionssalven des Arnulf von Löwen (1200–1250), als deren Verfasser in der Barockzeit noch Bernhard von Clairvaux galt7 und die im 17. Jahrhundert eine äußerst breite Rezeption erfuhren. Verwiesen sei an dieser Stelle nur auf die Bearbeitung des Stoffes von Paul Gerhardt.8 Die sieben Andachten Rists sind in ihrer Abfolge an den lateinischen Hymnen orientiert. Sie wenden sich an die Füße, die Knie, die Hände, die Seite,
Gahrten Gehtsemane/ zu dem hohenpriester Hanna; Daß ander mahl vom Hanna zuem Kaipha: Daß dritte mahl aus des hohenpriesters Sahl in daß beigemach der Diener: Daß vierte mahl/ vor daß Geistliche Gericht der Hohenpriester und Schrifftgelehrten: Daß fünffte mahl von Kaipha zu Pilato: Daß sechste mahl von Pilato zu Herode: Daß siebende mahl/ von Herode wieder zu Pilato. Daß achte mahl ward Er geführet in daß Richthauß: Daß Neunte mahl auß dem Richthause in daß Vorhauß: Daß zehende mahl auß dem Vorhause wieder in daß Richthauß: Daß elffte mahl wieder aus dem Richthause vor deß Pilatus Richterstuhl/ daß zwölffte und letste mahl ward Er zuer Stadt hinaus auff den Berg Golgatha geführet/ und daselbsten an den pfahl deß Kreützes gehefftet.“ Die hier zitierte Auflage von 1655 bietet einen gegenüber der ersten Auflage von 1648 verbesserten Text. In der Erstausgabe fehlt „Daß Neunte mahl“. Vgl. Rist: Leiden (Anm. 1), fol. )( 10r–v. 5 Ebd., fol. )( 10v. 6 Ebd., fol. D 1v. 7 Vgl. Rist: Leiden (Anm. 1), fol. )( 11r: „Sieben Andachten habe Jch diesen zwölf Hinführungen beigefüget/ deren gleichen in alten Lateinischen/ aber gantz unformlichen Reimen/ welche doch voll Christlicher und über die mahssen schöner Gedanken stekken/ ein Gottseliger Abt deß klarevallischen Klosters/ namens Sanct Bernhart ehemahls sol gesetzet haben.“ Vgl. Elke Axmacher: Johann Arndt und Paul Gerhardt. Studien zur Theologie, Frömmigkeit und geistlichen Dichtung des 17. Jahrhunderts. Tübingen, Basel 2001 (Mainzer hymnologische Studien 3), S. 189 sowie Sven Grosse: Gott und das Leid in den Liedern Paul Gerhardts. Göttingen 2001 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 83), S. 241. Vgl. auch den Beitrag von Claudia Benthien in vorliegendem Band. 8 Vgl. Grosse (Anm. 7), S. 240 f. sowie Axmacher (Anm. 7), S. 189.
Anmerkungen zu den Titelkupferstichen der Passionsandachten Rists
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die Brust, das Herz und das Antlitz Christi. Der Wedeler Pastor verbindet die Siebenzahl der Lieder mit den sieben Tagen der Woche und legt dem Leser ans Herz, jeden Tag eines derselben zu singen oder zu beten, um sein Leben in rechter Weise, d. h. im Vertrauen auf Christus, zu planen und zu ordnen: Wen du nun mein lieber Christ alle tage nur einen einzigen dieser heiligen Andachten in wahrem Glauben und hertzlichem Vertrauen auff daß theüre Verdienst deines Erlösers und Seligmachers singest oder behtest/ so wirst du alsden deine Zeit und die gantze Woche sehr wol angeleget haben.9
Abgeschlossen wird das Textkorpus durch „Klingende Danckverse/ Zuem Beschluss der heiligen Lieder und Andachten/ über Daß Bittere Leiden und Sterben unseres Allerliebsten Seligmachers Jesu Christi.“10 Im Jahre 1655 erschien eine korrigierte und verbesserte zweisprachige Ausgabe der Passionsandachten im Duodezformat, die neben der deutschen als Paralleltext eine von Tobias Petermann (gest. 1710)11 erstellte lateinische Fassung der 19 Lieder enthält.12 Die Kupferstiche vor dem Titelblatt sind mit denen der Erstausgabe identisch. In einer stark erweiterten und ergänzten Fassung erfuhren die Passions andachten 1664 eine Neuauflage unter dem Titel: Neue Hoch-heilige Paßions-An dachten Jn Lehr- und Trostreichen Liedern.13 Sie erschienen nun im Oktavformat, mit einer neuen Widmungsvorrede und einer völlig umgearbeiteten Vorrede an den Leser14, in die Teile der Anrede „An den Getreüen Liebhaber unseres Gekreü
9 Rist: Leiden (Anm. 1), fol. )( 11r. 10 Ebd., fol. E 6r. 11 Vgl. Inge Mager: Johann Rists ‚Himmlische Lieder‘. Eine Einführung. In: Johann Rist, Johann Schop: Himmlische Lieder (1641/42). Kritisch hg. und kommentiert von Johann Anselm Steiger. Kritische Edition des Notentextes von Konrad Küster. Mit einer Einführung von Inge Mager. Berlin 2012, S. 567–576, hier S. 576. Zu Tobias Petermann vgl. auch den Aufsatz von Andreas Betz in vorliegendem Band. 12 Vgl. Rist: Leiden 1655 (Anm. 4). 13 Johann Rist: Neue Hoch-heilige Paßions-Andachten Jn Lehr- und Trostreichen Liedern […]. Hamburg 1664 (SUB Hamburg Scrin. A/1597). 14 Rist: Paßions-Andachten (Anm. 13), fol. b 6v: „Nützlicher und Nohtwendiger Vorbericht/ Jn welchem außführlich wird gehandelt/ woher es doch eigentlich komme/ das heut zu Tage ein so gahr elendes/ falsches und heuchlerisches Christenthum bei den Menschen Kinderen werde gefunden/ und/ durch was für Mittel dasselbe in etwas widrum verbessert/ zu rechte gebracht/ und der Gekreutzigter HErr Jesus/ durch die Kraft eines wahren/ seligmachenden Glaubens/ von allen denjenigen/ die sich Christen nennen/ fruchtbahrlich könne ergriffen/ und biß an ihr seliges Ende standhaft erhalten und bewahret werden.“
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tzigten HErren JEsu“15 aus der Erstauflage eingegangen sind. Auch die Ehrenschriften entsprechen nicht mehr denjenigen der Auflage von 1648. Des weiteren ist das Liedkorpus von 19 auf 46 erweitert. Den zwölf Hinführungen sind nun „Drei Heilige und Gottselige Vorbereitungs-Andachten“16 über Jes 53,4 f. vorangestellt. Zwischen den Hinführungen und den sieben Andachten haben „Ein und zwantzig Musikalische Lieder über die Sieben Wohrte“17 Jesu am Kreuz ihren Platz gefunden. Auf die Andachten folgen in der Neufassung noch drei weitere „Beschluß-Andachten“.18 Die Lieder sind allesamt mit neuen Melodien versehen, die der Komponist Martin Coler (ca. 1630–1703/04) beigesteuert hat.19 Auch sind für diese Auflage neue Kupferstiche angefertigt worden, die vor dem Titelblatt situiert sind und damit die vorherigen ersetzen. Dabei handelt es sich um einen Portraitkupferstich, der Johann Rist zeigt, und eine Kreuzigungsdarstellung. Relevant sind im Rahmen einer Untersuchung der Bildausstattung der verschiedenen Auflagen die Stiche der Erstausgabe von 1648 und der Neufassung von 1664, weil erst bei letzterer eine Veränderung in der graphischen Ausstattung vorgenommen worden ist.
2 Die Kupferstiche der Passionsandachten in der Ausgabe von 1648 Die beiden sich gegenüberstehenden Kupferstiche sind dem Werk vorangestellt: links das Frontispiz, das den Ecce homo zeigt, und rechts das Titelkupfer mit der
15 Rist: Leiden (Anm. 1), fol. )( 10r. 16 Rist: Paßions-Andachten (Anm. 13), S. 1. 17 Ebd., fol. g 1r. 18 Ebd., S. 261. 19 Vgl. ebd., fol. g 1r–v: „Die Melodien betreffend/ so mag der Kunstlibende Leser wissen/ daß diselbe alle mit einander gantz neu/ und von dem fürtreflichen/ weitberühmtem Musico und Componisten, Herren MARTINO COLERO, von Dantzig/ diser Zeit Jhrer HochFurstlichen Durchläuchtigkeit Herren Augusten/ Hertzogen zu Brunschwig und Lüneburg/ des eintzigen wahren Phebus unseres gantzen Teutschlandes wolbesteltem Kapelmeister/ meinem sehr grossen und libwehrten Freunde/ mit sonderm Fleisse sind gesetzet worden/ wie dasselbe alle die jenige/ welche die edle Singekunst aus dem Grunde verstehen/ bald spühren auch ihme deßwegen ein wolverdientes und zwahr nicht gemeines Lob ertheilen/ auch nebenst mir für solche seine wol angewendete Mühe/ Kunst und Fleiß/ wodurch diser außbündiger Musicus, meine Lieder und Andachten erstlich recht hat beseelet/ hertzlich werden danken.“ Zu Coler vgl. Winfried Richter (Martin Ruhnke): Köler, Colerus, Martin. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart2 10. Personenteil (2003), S. 449 f.
Anmerkungen zu den Titelkupferstichen der Passionsandachten Rists
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Abb. 1: Johann Rist: Der zu seinem allerheiligsten Leiden und Sterben hingeführter und an das Kreütz gehefteter Christus Jesus […]. Hamburg 1648 (SUB Göttingen 8 P GERM II, 7344), Front ispiz.
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Kreuzigung (Abb. 1 und 2). Die Darstellung des Ecce homo, die in ihrer Konstruktion der des Emblems folgt, ist am rechten Bildrand oberhalb der subscriptio mit dem Monogramm des Stechers „D. D.“ versehen, hinter dem sich der Hamburger Kupferstecher Dirk Diricks (1613–1653)20 verbirgt. Diricks zeichnete mehrfach für die graphische Ausstattung verschiedener Werke des Wedeler Pastors verantwortlich und pflegte zuweilen seine Stiche nur mit seinem Monogramm zu signieren.21 Verwiesen sei z. B. auf die Titelkupferstiche der Erstausgabe der Himmlische[n] Lieder,22 erschienen 1641/42,23 und des Poetische[n] Schauplatz[es]24 von 1646. Der Vergleich der einzelnen Stiche macht evident, daß es sich bei allen um die gleiche künstlerische Handschrift handelt.
2.1 Das Ecce-homo-Andachtsbild Die pictura zeigt ein zweifiguriges Ecce-homo-Andachtsbild (Abb. 1).25 Christus steht dabei als Ganzfigur dem Betrachter in Frontalansicht gegenüber. Er ist mit einem Lendentuch bekleidet, trägt Dornenkrone, Spottmantel und Spottzepter. Das Blut rinnt von seinem Antlitz auf seinen Oberkörper herab, seine Hände sind gefesselt, und sein Haupt ist von einem Nimbus hinterfangen, der in einem ausladenden Strahlenkranz ausläuft. Hinter dem Heiland ist eine Figur situiert, deren Bekleidung sie als Soldat erkennen läßt. Damit nimmt sie die in der Tradition dem Pilatus zugewiesene Position innerhalb des zweifigurigen Andachtsbildes ein
20 Zu Dirk Diricks vgl. z. B. Theodor Raspe: Diricks (auch Diricksen, Dierksen od. Dietrichsen), Dirk. In: Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. von Ulrich Thieme. Bd. 9. Leipzig 1913, S. 326 sowie Susanne Geese: Diricks (Dietrich; Dietrichsen; Dircksen; Dirichsen; Diricksen), Dirk (Dirck). In: Saur. Allgemeines Künstlerlexikon. Die bildenden Künstler aller Zeiten und Völker. Bd. 27. München, Leipzig 2000, S. 542. 21 Vgl. Raspe (Anm. 20), S. 326. 22 Vgl. Rist: Himmlische Lieder (Anm. 11), S. 564. 23 Vgl. Mager (Anm. 11), S. 567: „Vom Sommer 1641 bis zum Ende des Jahres 1642 veröffentlichte der Wedeler lutherische Pfarrer Johann Rist (1607–1667) insgesamt fünfzig geistliche Lieder in fünf Einzellieferungen zu je zehn vielstrophigen Texten mit dazu gehörigen Melodien.“ 24 Vgl. Werner Kayser, Ernst Hauswedell (Hg.): Hamburger Bücher 1491–1850. Aus der Hamburgensien-Sammlung der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg. Hamburg 1973 (Mitteilungen aus der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg 7), S. 60 f., Nr. 41. 25 Vgl. Gertrud Schiller: Ikonographie der christlichen Kunst. Bd. 2: Die Passion Jesu Christi. Gütersloh 1968, S. 86 f. Vgl. auch Karl-August Wirth, Gert von der Osten: Ecce homo. In: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte 4 (1958), Sp. 674–700, bes. Sp. 692–698 sowie Anton Legner: Ecce homo. In: Lexikon der Christlichen Ikonographie 1 (1968), Sp. 557–561, hier Sp. 560 f.
Anmerkungen zu den Titelkupferstichen der Passionsandachten Rists
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Abb. 2: Johann Rist: Der zu seinem allerheiligsten Leiden und Sterben hingeführter und an das Kreütz gehefteter Christus Jesus […]. Hamburg 1648 (SUB Göttingen 8 P GERM II, 7344), Titelkupferstich.
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und ersetzt ihn damit, wie es im 17. Jahrhundert durchaus üblich war.26 Der Soldat hält mit beiden Händen den Spottmantel Jesu und öffnet ihn, um die geschundene Figur des Heilandes sichtbar werden zu lassen. Vor Christus am Boden hat kniend in gebeugter Haltung eine Frau, die Hände zum Gebet gefaltet, ihren Platz gefunden. Sie ist in tiefer Andacht versunken und hat ihre Augen geschlossen. Sie trägt ein schlichtes Gewand, und ihr Haar ist zu einem Knoten gebunden. Der Hintergrund ist bestimmt durch eine Parallelschraffur, von der in Kreuzschraffur die Schatten der Figuren abgesetzt sind. Eine angedeutete Horizontlinie ist zu erkennen. Als Motto ist der pictura der Ausruf des Pontius Pilatus „Sehet, welch ein Mensch!“ (Joh 19,5) beigegeben. Die subscriptio bietet folgenden Text: „O Jesu dein vergossnes Blut Jst meiner Sehlen höchstes Gut“. Unterfangen werden diese Verse von der Angabe des Druckortes, des Verlages und dessen Signet. Die subscriptio erweist die in Anbetung verharrende Frau (Proskynesis) als Personifikation der anima, die als Identifikationsfigur für den Betrachter fungiert. Die Tatsache, daß sie ihre Augen geschlossen hält, zeigt: Die Ecco-homoDarstellung, die im Stich präsentiert wird, ist ihre Imagination. In der Anschauung ist der einzelne gefordert, ihr zu folgen und in der andächtigen Betrachtung den leidenden und sterbenden Heiland vor dem geistigen Auge Gestalt werden zu lassen. Die Bedeutung und damit auch die Notwendigkeit eines solchen Imaginationsprozesses findet in der subscriptio, in der die Heilstat Christi als pro me geschehene bereits aufleuchtet, seine sprachliche Umsetzung.
2.2 Die Kreuzigung Auf der vertikalen Mittelachse des Titelkupfers ist Christus der Gekreuzigte in Frontalansicht positioniert (Abb. 2). Er ist mit drei Nägeln (Drei-Nagel-Typos27) an ein Tau-Kreuz geheftet, trägt ein festgebundenes Lendentuch, ist mit der Dornenkrone bekrönt und hat sein Haupt leicht nach links geneigt, seine Augen sind geschlossen – er ist bereits verschieden. Sein Nimbus läuft ebenfalls, wie auf dem Frontispiz mit der Ecce-homo-Darstellung, in einem ausladenden Strahlenkranz aus. Am Fuß des Kreuzes sind ein Schädel und Gebeine zu sehen, die den Ort der Kreuzigung – Golgatha – bezeichnen. Aus der Seitenwunde Jesu ergießt sich ein Blutstrahl auf eine neben dem Kreuz knieende leicht in den Bildvordergrund gerückte Figur, die in anbetender Haltung den crucifixus anschaut. Dem Betrachter wird sie in Seitenansicht dargeboten. Im Bildhintergrund ist eine Stadtan-
26 Vgl. Schiller (Anm. 25), S. 86. 27 Vgl. ebd., S. 158 f.
Anmerkungen zu den Titelkupferstichen der Passionsandachten Rists
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sicht, Jerusalem, in einer angedeuteten Landschaft auszumachen. Der Himmel ist durch eine Parallelschraffur abgesetzt. Unterfangen wird die Szenerie durch den verkürzten Titel des Werkes: „Der zu seinem heiligen leiden geführter und gekreützigter Jesus. Andächtig besungen von Johan Risten“. Zunächst ist auffällig, daß auf der Bildebene umgesetzt ist, was der Text sagt: Denn die Figur in anbetender Haltung, die am Fuß des Kreuzes zu sehen ist, ist ganz offensichtlich der Dichter selbst – Johann Rist.28 Was er betet, findet in den Passionsandachten seinen Ausdruck. Vermittels des Blutstrahls aus der Seitenwunde Jesu, der sich über sein Haupt ergießt, wird die iustificatio peccatoris, die Rechtfertigung des Sünders, exemplarisch ins Bild gesetzt. Mit dieser Konstruktion wird ikonographisch Bezug genommen auf den „Blutstrahl der Gnade“,29 der auf der Gnadenseite des Gothaer Typos der sog. Gesetz- und Evangelium-Bilder seine darstellerische Realisation gefunden hat. Die Differenz zwischen dem Gothaer Typos und dem Kupferstich besteht darin, daß bei letzterem eine bestimmte Person vom „Blutstrahl der Gnade“30 getroffen wird. Damit ist Rist selbst, der in diesem Zusammenhang als Exempel für die Allgemeinheit der Glaubenden fungiert, die Identifikationsfigur für den Betrachter. Die Glaubensgewißheit des Wedeler Pastors, daß Christus mit seinem Leiden und Sterben seine, nämlich Rists, Sündenschuld bezahlt hat, findet im Stich ihre bildhafte Umsetzung. Darin trägt er vorbildhaften Charakter: Für Rist ist Christus der Gekreuzigte – ganz im Sinne Luthers – das Gnadenbild.31 Mit den Passionsandachten bietet er seinen Lesern eine Anleitung, sich in Christus zu versenken und den Gekreuzigten als Gnadenbild andächtig zu betrachten, so daß er in ihnen Gestalt gewinnt.
28 Die Ins-Bild-Setzung Rists auf dem Titelkupferstich erscheint nicht nur aufgrund der Korrespondenz von visueller und verbaler Argumentation schlüssig, sondern durch die Eintragung des Autors in den Bildzusammenhang werden Titelkupferstich und Autorenportrait quasi zusammengefaßt, da das Erbauungsbuch kein eigenes Autorenportrait bietet. 29 Friedrich Ohly: Gesetz und Evangelium. Zur Typologie bei Luther und Lukas Cranach. Zum Blutstrahl der Gnade in der Kunst. Münster 1985 (Schriftenreihe der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster, NF 1). 30 Ebd. 31 Zum Gekreuzigten als Gnadenbild bei Luther vgl. Martin Luther: Studienausgabe. Hg. von Hans Ulrich Delius. Bd. 1. Berlin 1979, S. 236, Z. 16–20: „Der gnaden bild/ ist nit anders/ dan Christus am Creutz […]. Wie vorsteht man das? d(as) ist gnade vnd barmhertzickeit/ das Christ(us) am Creutz deyne sund von dir nymmet/ tregt sie fur dich vnd erwurget sie/ vnd dasselb festiglich glaube(n) vnd vor augen haben/ nit drann zweyfelln(n)/ das heyst das gnaden bild ansehen vn(d) ynn sich bilden“.
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2.3 Die Kupferstiche in ihrem kontextuellen Bezug Daß das, was die Kupferstiche in ihrem Bild-Text-Zusammenhang dem Betrachter präsentieren, im Buch selbst seine inhaltliche Entsprechung findet, läßt sich programmatisch an der Dedikationsschrift zeigen. Rist hebt damit an, dem Leser vor Augen zu führen, daß ihm in der Stunde seines Todes nichts von den Dingen, die ihm im Leben so viel bedeutet haben, Trost spenden kann, da sie, wie er selbst, vergänglich sind. Der Wedeler Pastor faßt diese Erkenntnis mit folgenden Worten zusammen: Und/ daß Jchs kurtz mache/ so findet man unter allen zeitlichen Dingen durch aus nichtes/ daß in der Stnnde [sic!] deß Todes mit Raht/ Hülffe oder Trost uns erquikken könte. Warum daß? Eben darum/ dieweil alles/ es sei Weißheit/ Verstand/ Kunst/ Macht/ Gewalt/ Ehre/ Reichthum/ Gesundheit/ Feündschafft/ ia es heisse wie es wolle/ gantz und gahr eitel ist und vergänglich.32
Es gilt also, die Dinge, die im Leben durchaus notwendig sind, in ihrer Begrenztheit zu erkennen, mithin ist das rechte Leben immer nur im Blick auf den Tod zu führen. Gleichzeitig bedingt diese Erkenntnis die Frage, was angesichts dieses Tatbestandes trägt. Eine Frage, die in der Dedikationsschrift sogleich beantwortet wird: „Daß kan und sol einzig und allein thun daß bittere leiden nnd [sic!] Sterben unseres allerliebsten Heilandes unnd Seligmachers JEsu Christi.“33 Dieses bittere Leiden und Sterben soll die Seele in einem Einbildungsprozeß in sich Gestalt gewinnen lassen und es damit imaginieren, denn, so Rist: Diesen Jhren Erlöser muß sich eine Christliche Seele in wahrem glauben/ als hienge Er da gegenwertig am Kreütze/ fästiglich vorstellen: Ja/ dieses Jhres süssen Bräutigams heftiges leiden/ grausahme Schläge/ hönische verachtung/ unbarmhertzige Kröhnung/ unmenschliche geiselung und erbärmliche Kreutzigung müssen Jhr dem allerhöhesten Trost alsden mittheilen/ wen in aller welt kein Raht noch Hülffe mehr ist zu finden.34
Die Forderung, die Rist hier an die christliche Seele erhebt, sich das Leiden und Sterben des Heilandes vorzustellen, so daß es vor dem geistigen Auge Gestalt gewinnt, findet ihre bildliche Umsetzung bereits in den beiden Kupferstichen, die dem Werk vorangestellt sind. In der Darstellung des Ecce homo, die den leidenden und geschundenen Körper des Heilandes präsentiert, wird der Leidensweg Christi in nuce zusammengefaßt, den die im Gebet versunkene Seele imaginiert
32 Rist: Leiden (Anm. 1), fol. )( 4v. 33 Ebd., fol. )( 5r. 34 Ebd.
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Abb. 3: Johann Rist: Neue Hoch-heilige Paßions-Andachten […]. Hamburg 1664 (UB Rostock Fm-4086), Portraitkupferstich.
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und sich meditierend aneignet. Diese Imagination wird dem Betrachter im Bild sichtbar gemacht, und gleichzeitig ist er vermittels dieser Komposition dazu aufgefordert, es ihr gleichzutun. In der Kreuzigung kulminiert das ins Bild gesetzte Leiden Christi und findet dort seine Vollendung. In bezug auf Rist trägt diese Darstellung Bekenntnischarakter: Er ist in anbetender Haltung mit Blick auf den Gekreuzigten dargestellt, als Ausweis dafür, daß in der Andacht Christus vor seinem geistigen Auge gegenwärtig ist. Im Kupferstich wird das innere Bild des Wedeler Pastors veräußerlicht und damit verobjektiviert. Seine Realisation findet dieser ins Bild gesetzte Ausdruck der Frömmigkeit im Textkorpus der Passionsandachten. Auch ist mit dieser Darstellung die Aufforderung an den Betrachter verbunden, Rist als exemplum pietatis zu folgen, mithin soll es dem Leser darum zu tun sein, sein geistliches Leben so zu organisieren, wie es ihm durch die Passionsandachten ans Herz gelegt wird.35
3 Die Kupferstiche der Passionsandachten in der Ausgabe von 1664 In der Neufassung der Passionsandachten von 1664 ist die Darstellung des Ecce homo ersetzt durch einen Portraitkupferstich, der Rist in geistlichen Standesgewändern und mit der Medaille der Fruchtbringenden Gesellschaft, als Ausweis für seine Zugehörigkeit zu derselben, zeigt (Abb. 3).36 Eine Kartusche unterhalb des Bildmedaillons präsentiert einen Text, aus dem Stand und Stellung des Dargestellten hervorgehen: „Johannes Rist XXVIII Jähriger Prediger Zu Wedel, an der Elbe, dero Röm[isch] Kaÿ[serlichen] Maÿest[et] verordenter Pfaltz-HoffGrafe, Fürstlicher Durchleuchtigkeit zu Mecklenburg bestelter Raht.“ Auch das Geburtsjahr Rists (1607) ist auf der Kartusche vermerkt. Die Inschrift „Pictus à Meriano Anno 1663“ weist Matthäus Merian d. J. (1621–1687)37 als den Portraitisten aus, auf den die Vorlage zu diesem Stich zurückgeht, und gibt zugleich deren Ent-
35 Herrn Prof. Dr. Ulrich Heinen (Bergische Universität Wuppertal) sei für seine Anregungen und Hinweise in bezug auf Frontispiz und Titelkupferstich herzlich gedankt. 36 Zum Portraitkupferstich vgl. auch die Ausführungen bei Erich Trunz: Nobilitas literaria. Dichter, Künstler und Gelehrte des 16. und 17. Jahrhunderts in zeitgenössischen Kupferstichen. Heide in Holstein 1990 (Schriften der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek 11), S. 79. Der Stich findet sich auf S. 2 (Abb. 1). 37 Zu Matthäus Merian d. J. vgl. Walther Karl Zülch: Merian, Matthäus d. J. In: Allgemeines Lexikon (Anm. 20). Hg. von Hans Vollmer. Bd. 24. Leipzig 1930, S. 413 f.
Anmerkungen zu den Titelkupferstichen der Passionsandachten Rists
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Abb. 4: Johann Rist: Neue Hoch-heilige Paßions-Andachten […]. Hamburg 1664 (UB Rostock Fm-4086), Titelkupferstich.
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stehungsjahr an. Unterhalb dieses Vermerkes ist „B. Kilian sc[ulpsit]“ zu lesen, mithin handelt es sich bei dem Stecher um Bartholomäus (II.) Kilian (1630–1696), der, nachdem er seine Lehre bei seinem Vater abgeschlossen hatte, drei Jahre in der Werkstatt Matthäus Merians d. J. tätig war, bevor er seine Technik in Paris vervollkommnete und deshalb als einer der geschicktesten Portraitstecher seiner Zeit galt.38
3.1 Die Kreuzigung Die der Erstauflage von 1648 beigegebene Kreuzigungsdarstellung ist in der Neufassung durch eine von Bartholomäus (II.) Kilian gestochene ersetzt worden (Abb. 4). Es ist evident, daß die Stiche der Neuausgabe von feinerer Machart sind als diejenigen des Hamburger Kupferstechers Diricks. Der Gekreuzigte ist mittig positioniert, in eine Landschaft hineingestellt und bietet sich dem Betrachter in Frontalansicht dar. Er hat sein mit der Dornenkrone bekröntes Haupt nach rechts geneigt, das von einem Strahlennimbus hinterfangen ist. Er ist bekleidet mit einem locker seine Hüften umschwingenden Lendentuch, und seine Wundmale sind in der Darstellung zurückgenommen. Am oberen Ende des vertikalen Kreuzbalkens ist die Inschrift „INRI“ zu lesen. Unter dem Kreuz ist Maria Magdalena situiert, die den Kreuzbalken sowie die Füße und Beine Jesu mit beiden Händen umgreift und den Heiland mit einem innigen Blick anschaut. Sie trägt ein weites, wallendes, vom Wind aufgeblähtes Gewand, und ihr offenes Haar fällt über ihre Schultern. Im Bildhintergrund setzt sich eine feingezeichnete Stadt-Silhouette, Jerusalem, vor einer schemenhaft angedeuteten hügeligen Landschaft ab, die sich in der Ferne verliert. Der crucifixus steht vor einem dunklen, bewegten, in feinziselierter Parallelschraffur dargebotenen Himmel, der in Richtung des Horizontes in Helligkeit übergeht. Unterhalb dieser Szenerie ist zu lesen: „So fest ergreiff ich Jesum Christ Der bloß mein Heil vnd Leben ist.“ Die Inschrift oberhalb des Kreuzes am oberen Bildrand verweist auf den Autor und den Inhalt seines Werkes: „Das bittere Leiden vnd Sterben unseres allerheiligsten Jesu, andächtigst besungen von Johann Rist.“ Mit der Wahl des Motivs, der Kreuzumarmung durch Maria Magdalena, wird auf einen in der Ikonographie gängigen Bildtypos zurückgegriffen, denn es ist der
38 Zu Bartolomäus (II.) Kilian vgl. Albert Hämmerle: Kilian, Augsburger Verleger- u. Kupferstecherfamilie des 16.–18. Jahrhunderts. In: Allgemeines Lexikon (Anm. 37). Bd. 20. Leipzig 1927, S. 288–305, hier S. 288–291.
Anmerkungen zu den Titelkupferstichen der Passionsandachten Rists
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Gestus, in dem sie am häufigsten zur Darstellung gebracht wurde.39 Diese Gebärde rückt ihre affektive Bindung zum Heiland in den Vordergrund. Gleichzeitig wird damit auf eine Szene rekurriert, die eine Interpretation der biblischen Passionserzählungen bietet, aber in dieser Form im Neuen Testament nicht zu finden ist, oder um es mit Frank O. Büttner auszudrücken: „Die biblischen Passionsberichte wissen nichts vom Gefühlsausdruck Magdalenas, nichts von einer Berührung des Kreuzes oder des Gekreuzigten.“40 Aber gerade diese affektiv aufgeladene Darstellungsweise der Maria Magdalena ist es, die stark appellativ auf den Betrachter wirkt, sich mit ihr zu identifizieren. Innerbildlich betrachtet, sind die Worte, die unterhalb des Bildes stehen, zunächst einmal Ausdruck der affektiven Bindung Magdalenas an den Heiland: Denn es sind ihre Worte. Damit wird das Geschehen unter dem Kreuz kommentiert. Gleichzeitig wird der Leser durch diese Formulierung in die dargestellte Szenerie eingebunden, indem er sich diesen Zweizeiler zu eigen macht und auf der Ebene der Imagination die Position Maria Magdalenas einnimmt und den Gekreuzigten als sein Heil und Leben umarmt. Des weiteren ist Maria Magdalena als Sünderin ein Spiegel der eigenen Sündhaftigkeit, der die Notwendigkeit der Erlösung durch den Opfertod Jesu Christi gegenwärtig macht. Eine Anleitung zur meditativen Aneignung des Heilsgeschehens im Sinne des pro me, das den Gekreuzigten Gestalt gewinnen läßt, bieten die Passionsandachten selbst, wie Rist in seinem „Vorbericht“41 ausführt: Es mag endlich einem Menschen so elend/ so kläglich und jämmerlich in disem betrübten Leben ergehen/ als es immer wil; So kan er doch zuletst Alles überwinden/ wen er die unaußsprächliche Noht/ Angst und Schmertzen/ die sein getreuster Heiland und Seligmacher zur Zeit seines bitteren Leidens hat außgestanden/ nur recht betrachtet: Darum/ es mag Theurung/ es mag Ungewitter/ es mag Krieg/ es mag Pestilentz/ es mag Türk/ es mag Teufel kommen; So werden doch alle Christgläubige/ wen sie nur ihre Seelen durch wahren Glauben und gottseliges Leben in die libreiche Arme/ ja in das getreuste Bruderhertz unseres Gekreutzigten JEsu schliessen/ wider alle Feinde/ auch in der äusersten Gefahr/ Noht und Tod kräfftiglich beschützet und gnädigst erhalten werden.42
Der tägliche Umgang mit diesem Passionsbüchlein – in dem das Leiden und Sterben Jesu Christi immer wieder bedacht wird –, den Rist dem Leser ans Herz legt, befördert einen Bildungsprozeß, in dem der Glaubende gebildet und damit Christus in ihm bildhaft wird. Dieser Bildungsprozeß bewirkt eine Veränderung,
39 Vgl. Frank O. Büttner: Imitatio Pietatis. Motive der christlichen Ikonographie als Modelle zur Verähnlichung. Berlin 1983, S. 143. 40 Ebd. 41 Rist: Paßions-Andachten (Anm. 13), fol. b 6v. 42 Ebd., fol. f 7v.
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so daß das Leben eine neue Gestalt gewinnt. Diesen Gedanken faßt Rist mit folgenden Worten zusammen: Hierzu komt auch dises/ daß alle die jenige/ welche mit hertzlicher Andacht/ die grosse Pein und Schmertzen/ die unser allerlibster und unschüldigster Erlöser zur Zeit seiner Passion hat außgestanden/ recht ansehen und betrachten/ bald gahr andere Menschen/ und sich eines Christlichen Lebens und Wandels mit grossem Ernst werden befleissen/ zumahlen unter dem Himmel nichtes wird gefunden/ daß einen Menschen von Sünden und Untugenden so kräftig kan ab- und zu rükke halten/ als die stete Gedächtnisse des bitteren Leidens und Sterbens unseres Seligmachers JEsu CHristi.43
4 Schlußbemerkung Die Kupferstiche der Passionsandachten beider Fassungen führen den Betrachter bzw. Leser in das auf sie folgende Textkorpus ein. Sie bieten gleichsam eine Art Leseanweisung, die dem Rezipienten vor Augen stellt, worum es in den Passionsandachten geht, nämlich um das Leiden Jesu Christi, das in der Kreuzigung seinen Kulminationspunkt hat, und dessen fundamentalhermeneutische Relevanz für das Heil des einzelnen. Mithin kann sich der Leser im wahrsten Sinne des Wortes ein Bild von der Sache machen, die in den Andachten verhandelt wird. Gleichzeitig bieten ihm die Stiche, die einen Bildungsvorgang initiieren und befördern sollen, eine Vorlage für die eigene Imagination. Das gilt unabhängig von den verschiedenen künstlerischen Ausführungen der Kupferstiche. Die einfachere Machart des Ecce homo und der Kreuzigung in der Erstauflage von 1648 schmälert die Eindringlichkeit der Aussage in keiner Weise, während die Kreuzigung in der Neufassung von 1664 durch den ästhetischen Reiz ihrer Ausführung besticht. Alle drei Kupferstiche – ausgenommen davon ist das Portraitkupfer, da es der Präsentation und Repräsentation dient – haben einen hohen Aufforderungsgehalt an den Betrachter auf ihre je eigene Weise. Sie laden ein zur Identifikation mit dem Dargestellten und der meditativen Aneignung desselben. Damit ist aber keine Aneignung im Sinne der compassio und der imitatio gemeint, die mit einer wie auch immer gearteten Verdienstlichkeit einhergehen könnte, sondern es gilt, im Angesicht des Gekreuzigten seiner eigenen Sündhaftigkeit innezuwer-
43 Ebd., fol. f 7v–8r.
Anmerkungen zu den Titelkupferstichen der Passionsandachten Rists
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den und die eigene Schuld am Leiden Christi zu erkennen.44 Das Resultat dieses Erkenntnisprozesses ist jedoch nicht das Mitleiden des Betrachters, sondern das Erschrecken über die eigene Sündhaftigkeit und die daraus folgende Einsicht, der Gnade Gottes schlechthin zu bedürfen, die dem Glaubenden durch Christi Leiden und Sterben zuteil wird.45 Festzuhalten ist, daß für Rist und für Luther in gleichem Maße gilt: Der crucifixus ist das Gnadenbild, weil der Opfertod Jesu Christi am Kreuz die Bedingung der Möglichkeit der Rechtfertigung des Sünders vor Gott ist. Abbildungsnachweise Abb. 1 und 2: Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen. Abb. 3 und 4: Photographien: Johann Anselm Steiger.
44 Vgl. z. B. Rist: Leiden (Anm. 1), fol. )( 10v–11r sowie Rist: Paßions-Andachten (Anm. 13), fol. 7v–8r. 45 Vgl. Inge Mager: Weshalb hat Martin Luther kein Passionslied geschrieben? In: Passion, Affekt und Leidenschaft in der Frühen Neuzeit. 2 Bde. Hg. von Johann Anselm Steiger. Wiesbaden 2005 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 43), Bd. 1, S. 405–422, hier S. 411–413.
Claudia Benthien
Rist und die Mystik Wie verschiedentlich betont wurde, ist Mystik ein wichtiges Element von Johann Rists Dichtung; konkrete Untersuchungen zu dieser Thematik liegen jedoch bislang nicht vor, wie ja die Forschungslage zu Rists geistlicher Lyrik insgesamt überschaubar ist. Dieser Beitrag untersucht Rists Himmlische Lieder (1641/42), die zusammen mit der Musik Johann Schops veröffentlicht wurden, und seine so genannten Passionsalven (1648) – also längst nicht alle der 7011 geistlichen Lieder Rists. Er behandelt drei für die Barockmystik zentrale Komplexe: Im ersten Abschnitt geht es um Paradoxien mystischen Sprechens zwischen Eloquenz und Verstummen, im zweiten werden konkrete Rekurse auf das biblische Hohelied und dessen brautmystische Bildlichkeit untersucht. Der dritte Abschnitt widmet sich Rists Motivik der Oralität und Gustatorik, speziell in der Wundenmystik. Unter Mystik soll „die von persönlichem Bekenntnis und von Begründung begleitete Suche nach Erfahrung von dem Einswerden des Menschen mit dem Numinosen (‚unio‘)“ verstanden werden, eine Suche, die „die Übung der Gottesliebe im Dienst an der Welt […] (‚contemplatio et actio‘)“2 mit einschließt. Mystik bezeichnet „jene religiöse Erfahrungsebene […], in der sich eine stringente Einheit dieser Erfahrung […] abzeichnet“.3 Der Begriff der Mystik umfasst aber nicht nur die Erfahrung selbst, sondern auch das mit ihr verbundene „Kommunikationsgeschehen“.4 Die Barockmystik greift viele Topoi auf, wie sie bereits die mittelalterlichen Mystiker/innen – Bernhard von Clairvaux, Mechthild von Magdeburg, Meister Eckhart, Johannes Tauler u. a. – entwickelt haben.5 Die
1 Zu dieser Zahl, die die ältere Forschung korrigiert, welche nur von 658–659 Liedern ausging, vgl. Johann Anselm Steiger: Carmina spiritualia Ristiana. Bibliographie sämtlicher geistlicher Lieder Johann Rists (1607–1667). In: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 52 (2013), S. 171–204. 2 Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der Frühen Neuzeit. Bd. 3: Barock-Mystik. Tübingen 1988, S. 4. 3 Alois M. Haas: Was ist Mystik? In: Abendländische Mystik im Mittelalter. Symposion Kloster Engelberg 1984. Hg. von Kurt Ruh. Stuttgart 1986 (Germanistische Symposien-Berichtsbände 7), S. 319–341, hier S. 319 f. 4 Ebd., S. 320. 5 Vgl. Alois Maria Haas: Nim din selbes war. Studien zur Lehre von der Selbsterkenntnis bei Meister Eckhart, Johannes Tauler und Heinrich Seuse. Freiburg i. Ü. 1971 (Dokimion 3); Gösta Wrede: Unio mystica. Probleme der Erfahrung bei Johannes Tauler. Uppsala 1974 (Acta Universitatis Upsaliensis. Studia doctrinae christianae Upsaliensia 14); Sibylle Rusterholz: Barockmystische Dichtung. Widerspruch in sich selbst oder sprachtheoretisch begründete Sonderform? In: Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985. Kontroversen, alte und neue.
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Spezifika dieser „Neumystik“6 liegen in ihren zum Teil überkonfessionellen Zügen und einer parallelen Bezugnahme auf das Menschenbild der Renaissance und das der christlichen Tradition, was in Korrespondenzen von mystischer und weltlichhumanistischer Dichtung resultiert.7 Insofern die Forschung zur protestantischen Barockmystik dem Begriff der unio mystica zum Teil kritisch gegenübersteht, wird hier der Vorschlag Sven Grosses aufgegriffen und alternativ der weniger emphatisch aufgeladene Begriff einer (temporären) „Seinsgemeinschaft“8 von Gläubigem und Gott gewählt. Diese wird, so die Annahme, in der geistlichen Dichtung sowohl dargestellt als auch vollzogen.9 Die Barockmystik ist durch eine starke ‚Ästhetisierung‘ der Frömmigkeit gekennzeichnet.10 Ihr liegt eine Spannung zwischen der mystischen Erfahrung selbst – als unmittelbarer, subjektiver Aussprache – und der dichterischen Gestaltung zugrunde. Verschiedentlich ist bemerkt worden, dass Mystik im 17. Jahrhundert nahezu ausschließlich in Form der Dichtung existiert.11 Im Anschluss an Ruth Liwerski spricht Sibylle Rusterholz daher von ‚medialer Mystik‘ und versteht darunter „eine Mystik, die den mystischen Annäherungsprozeß als bewußte Kunstübung mit den Mitteln ‚poetischen Scharfsinns‘ in Sprache umsetzte, eine Konzeption, die der des wesentlichen Sprechens aufs genaueste entspricht“.12 Die Sprachauffassung der Barockmystiker gehe von dem Grundsatz aus, dass die „Form […] dem Inhalt wesentlich zugehörig [ist]“ und dass „die sprachliche Formgebung […] als bewußte Kunstübung in die mystische Spekulation integriert [werde]“ – es handelt sich demnach um eine „logosmystische Begründung barocker Sprachkunst“, so ihre abschließende Formel.13 Bd. 7: Bildungsexklusivität und volkssprachliche Literatur. Literatur vor Lessing – nur für Experten? Hg. von Klaus Grubmüller, Günther Hess. Tübingen 1986, S. 185–195, hier S. 185; Ingrid Kasten: Jenseits der Sprache. Aspekte einer historischen Semantik des Schweigens. In: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 7.2 (1998), S. 61–80, hier S. 66–73. 6 Friedrich-Wilhelm Wentzlaff-Eggebert: Zur Mystik-Rezeption bei Andreas Gryphius und in seinem Freundeskreis. In: Belehrung und Verkündigung. Schriften zur deutschen Literatur vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Hg. von Manfred Dick, Gerhard Kaiser. Berlin, New York 1975, S. 152– 164, hier S. 152. 7 Vgl. Bettina Gruber: Das ‚Ich‘ und Gott in der Mystik des Barock. Zur literaturhistorischen Verortung vormoderner Individualisierungsstrategien. In: Text und Kritik 154: Barock (2002), S. 66–82, hier S. 67. 8 Sven Grosse: Gott und das Leid in den Liedern Paul Gerhardts. Göttingen 2001 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 83), S. 162. 9 Vgl. ebd., S. 272. 10 Vgl. Kemper (Anm. 2), S. XI. 11 Vgl. Rusterholz (Anm. 5), S. 185. 12 Ebd., S. 193. 13 Ebd., S. 194.
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1 Mystisches Sprechen zwischen Eloquenz und Verstummen bei Rist14 HErr’/ ich bitte dich/ erzeige Daß du reden wilt in mir Und die Welt gantz in mir schweige/ Treibe deinen Glantz herfür/ Daß ich bald zu dir mich kehre Und dein Wort der edle Schatz Find in meinem Hertzen Platz […].15
Rist argumentiert in dieser Strophe aus „Ein LobLied/ Von der hertzlichen Liebe und denen unaußsprechlichen Wolthaten unsers HErrn und Heylandes Jesu Christi“, dass um Gott zu hören die Welt – und auch der Gläubige – schweigen beziehungsweise still sein muss, denn nur so kann Gottes Wort, „der edle Schatz“, sich im Herzen ansiedeln. Der Begriff ‚Mystik‘ geht auf den griechischen Wortstamm ‚myo‘ zurück, was ‚schließen‘ und ‚verschweigen‘ bedeutet.16 Der Entzug von Sprache ist demnach eng mit Vorstellungen des Mystischen verbunden und die poetische Rede ist oft an die Figur der ineffabilitas gebunden, mittels deren die Unaussprechlichkeit der Gottesliebe bezeichnet wird.17 Mehrere Himmlische Lieder Rists tragen diesen Topos bereits im Titel, z. B. „Hertzliches Verlangen/ Nach dem himlischen Jerusalem/ und Erzehlung der grossen unaußsprechlichen Herrligkeit desselben“,18 „Hertzliche Frolockung eines gläubigen Christen/ Uber den unaußsprechlichen Schatz und die Gewißheit des ewigen himlischen Lebens“19 oder „Ein LobLied/ Von der hertzlichen Liebe und denen unaußsprech-
14 Dieser Abschnitt greift auf Ausführungen aus Kapitel V.2 „Ineffabilitas. Barockmystik und das Problem der Darstellung“ des folgenden Buches zurück: Claudia Benthien: Barockes Schweigen. Rhetorik und Performativität des Sprachlosen im 17. Jahrhundert. München 2006, S. 355–377. 15 Johann Rist, Johann Schop: Himmlische Lieder (1641/42). Kritisch hg. und komm. von Johann Anselm Steiger. Krit. Edition des Notentextes von Konrad Küster. Mit einer Einführung von Inge Mager. Berlin 2012, V.4, Str. 8, S. 414 f. Da sich der Beitrag nur auf die Liedtexte von Rist, nicht aber die Musik von Schop bezieht, werden die Himmlischen Lieder in den nachfolgenden Fußnoten unter dem Namen ‚Rist‘ zitiert. 16 Vgl. Josef Sudbrack: Art. Mystik. In: Wörterbuch der Mystik. Hg. von Peter Dinzelbacher. Stuttgart 1989 (Kröners Taschenausgabe 456), S. 367–370, hier S. 367; Kemper (Anm. 2), S. 20. 17 Vgl. etwa Bernhards von Clairvaux Ausführungen zu Unsagbarkeit und Unaussprechlichkeit: Bernhard von Clairvaux: Sermones super Cantica (1135–1153). In: Sämtliche Werke. Bd. 6. Hg. von Gerhard B. Winkler. Innsbruck 1995, S. 647. 18 Rist: Himmlische Lieder (Anm. 15), Titel Lied III.10. 19 Ebd., Titel Lied IV.10.
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lichen Wolthaten unsers HErrn und Heylandes Jesu Christi“.20 Das dichterische Schreiben über die mystische Liebe zu Gott wird wesentlich als ein ‚Sprechen‘ verstanden – als ein mündlicher Ausdruck, der sich in Jetztzeit vollzieht. Dies gilt auch für Rist, dessen Lieder ja zumeist nicht allein für den mündlichen Vortrag, sondern für die musikalische Darbietung geschrieben wurden. Leitender Begriff für das Problem affektiver Darstellung ist in der Mystik die besagte ‚Unaussprechlichkeit‘, welche vor den Akt der lautlichen Verbalisierung des Gefühls eine Art affektive Schwelle setzt, die inhaltlich mit dem Bereich des Tabus, formal mit dem Problem der Überfülle zu kämpfen hat. Die Mystik spricht zwar, um die Beziehung von Gott und Mensch zu beschreiben, vom ‚Unaussprechlichen‘, und dieses bleibt außerhalb der Glaubensgemeinschaft auch inkommunikabel. Doch innerhalb derselben ist es sehr wohl, und zudem auf sehr spezifische Weise, ‚aussprechbar‘.21 Denn der barocken rhetorica sacra ist eigen, „daß sie nicht trotz, sondern gerade wegen der Unaussprechbarkeit (ineffabilitas) Gottes und der göttlichen Dinge eine kunstvolle und beredte Wohlredenheit“22 ausbildet. Johann Anselm Steiger greift für diese These einen Gedanken Luthers auf, wonach Gott sich nicht erst im Neuen Bund, sondern schon im Alten erniedrigt habe, indem er sich „der stammelnden und stotternden Sprache des Menschen“ bediene, „um sein Wort kundzutun“.23 Demnach wäre jedes Reden über Gott unzulänglich, insofern es nur mit menschlichen, mithin also begrenzten und mangelhaften Mitteln geschieht. Am Beispiel der Rhetoriken Johann Matthäus Meyfarts zeigt Steiger, inwiefern sich dieses Argument aber auch umkehren lässt: gerade die „Knechtsgestalt“ der menschlichen Rede, ihre „rhetorische Defizitarität“24 sei angemessen, insofern sich ja Gott selbst ihrer bedient habe. Die in der Dichtung in Form poetologischer Reflexion benannten und beklagten Sprachmängel des Menschen sind also nicht nur gottgewollt, sie haben auch eine (indirekte) prophetische Funktion. So wil uns nun geziemen/ Wir haltens auch für recht/ Daß wir diß alles rühmen/ Doch sind wir viel zu schlecht/ Wir könnens nicht erreichen
20 Ebd., Titel Lied V.4. 21 Vgl. Haas: Nim din selbes war (Anm. 5), S. 115. 22 Johann Anselm Steiger: Rhetorica sacra seu biblica. Johann Matthäus Meyfart (1590–1642) und die Defizite der heutigen rhetorischen Homiletik. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 92.4 (1995), S. 517–558, hier S. 543. 23 Ebd., S. 527. 24 Ebd., S. 544.
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Obs gleich bleibt ewig wahr/ Denn Gott muss alles weichen/ Er ist es gantz und gar.25
An diese 19. Strophe eines der Himmlischen Lieder schließt sich nur noch eine weitere an, die mit den folgenden vier Versen endet: […] Kompt/ lasset uns jhn preisen Es wil der HErr’ allein Sich denen trew erweisen Die jhm’ ergeben seyn.26
Die eigentliche Preisung findet, wie dies in mystischer Lyrik immer wieder zu finden ist, außerhalb des Wortes beziehungsweise des Gesanges, im Jenseits verbalsprachlicher Repräsentation statt. Jede Thematisierung von religiöser Inkommunikabilität bleibt daher Kommunikation, ja selbst das vollendete mystische Schweigen wäre, wie Jacques Derrida betont hat, „eine Modalität des Sprechens“,27 denn die Möglichkeit zu schweigen ergibt sich erst aus der Sprachkompetenz: „Selbst wenn man spricht, um nichts zu sagen, selbst wenn eine apophatische Rede sich des Sinns oder des Gegenstands benimmt, findet sie statt.“28 Hierzu ein Beispiel – Rist beschreibt die Wunden des gekreuzigten Christus wie folgt: Fünff Perlen trefflich hoch von Schatz’ Erzeigen sich auff diesem Platz’ Jhr Glantz verjagt die Sonne/ Jhr Werth ist außzusprechen nicht/ O liebste Seel’ hie ist ein Liecht Hie ist dein’ höchste Wonne/ Hie ist die stärckste Himmels-Krafft Die uns den Himmel selbst verschafft.29
Der ‚Wert‘ der Wunden bleibt unsagbar, gleichwohl wird über sie ein Diskurs geführt, wird ihr Wert bildlich – als fünf edle, glänzende, leuchtende Perlen – dargestellt und mittels des deiktischen Pronomens ‚hier‘ zugleich evoziert. Die Rhetorik der Mystik lebt davon, dass sie den prinzipiellen Glauben an die Mög25 Rist: Himmlische Lieder (Anm. 15), II.8, Str. 19, S. 159. 26 Ebd., Str. 20. 27 Jacques Derrida: Wie nicht sprechen. Verneinungen. Übers. von Hans-Dieter Gondek. Wien 1989 (Edition Passagen 29), S. 29. 28 Ebd., S. 52. 29 Rist: Himmlische Lieder (Anm. 15), III.2, Str. 12, S. 204.
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lichkeit der sprachlichen Erfassung nicht aufgibt.30 Im Gegenteil, die Erfahrung des Ungenügens ist Auslöserin des fortwährenden Sprechens beziehungsweise Schreibens: „Aus dem Axiom der begrifflichen Unfassbarkeit Gottes wurde der Schluß gezogen, daß im Modus der Unbegrifflichkeit gleichwohl etwas über ihn ausgesagt werden könne, vor allem in der Negation, aber auch in sprachlichen Figuren der Übersteigung und des Widerspruchs.“31 Also kann auch das Stillsein als vollendete Form des Lobens vorgeschlagen werden. So lautet die vierte Strophe von Rists „Hertzliche[m] Lob- und Danklied, In welchem GOtt von gantzer Seele wird gepriesen, daß Er unser Gebeht so gnädig hat erhöret“: Man lobt dich in der Stille, Du hocherhabner Zions-Gott/ Des Rühmens ist die Fülle Für dir du starker Zebaoth/ Du bist doch HErr/ auff Erden Der Frommen Zuversicht, In Trübsahl und Beschwehrden Läßt du die Deinen nicht/ Drüm sol dich stündlich ehren Mein Mund für jederman/ Und deinen Ruhm vermehren, So lang’ er lallen kan.32
Eine konstitutive Alogik und (ungewollte) Paradoxie ist Liedversen wie diesen nicht abzusprechen – einerseits soll der Herr in der Stille gelobt werden, andererseits soll der Mund, stündlich, dessen Ruhm vermehren! Alois Haas bemerkt daher treffend: „Neben der apophatischen Sprechweise und der mit ihr gegebenen Thematik des Entzugs und der Sehnsucht findet sich im Christentum damit ebenso die breit dahinströmende positiv-symbolische, rhetorisch-allegorische Sprechweise.“33 Wie diese kurzen Ausführungen zeigen, partizipiert Rist an der traditionellen Rhetorik der mystischen ‚Unsagbarkeit’ und der mit ihr verbunde-
30 Vgl. Peter Fuchs: Von der Beobachtung des Unbeobachtbaren: Ist Mystik ein Fall von Inkommunikabilität? In: Ders. und Niklas Luhmann: Reden und Schweigen. Frankfurt a. M. 21992 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 848), S. 70–100, hier S. 92. 31 Kasten (Anm. 5), S. 68. 32 Johann Rist: Frommer und Gottseliger Christen alltägliche Hauszmusik/ Oder Musikalische Andachten […]. Lüneburg 1654, LXIV, S. 350. „Die Strophen 4–6 ‚Man lobt Dich in der Stille‘ werden oft als besonderes Lied gegeben.“ Albert Fischer: Das deutsche evangelische Kirchenlied des 17. Jahrhunderts. Bd. 2. Vollendet und hg. von Wilhelm Tümpel. Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Gütersloh 1905. Hildesheim 1964, S. 279. 33 Haas: Was ist Mystik? (Anm. 3), S. 331.
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nen Paradoxien, wie sie in der Barockzeit an Popularität gewann, ohne ihr jedoch auffällige Besonderheiten hinzuzufügen.
2 Rekurse Rists auf das Hohelied: Zu braut- und passionsmystischen Elementen Rist bezieht sich in mehreren Liedern stark auf das biblische Hohelied sowie vermutlich auch auf dessen zeitgenössische Nachdichtungen sowie auf mystische Lieder und Gebetbücher, zum Beispiel Johann Arndts Paradiesgärtlein (1612) und Josua Stegmanns SchwangenGesang zur Ubung der wahren Gottseligkeit (1633).34 Gegenüber Themen und Stillagen der Mystik hatte Rist „keine Berührungsängste“, vielmehr verstärkt er in seinen Dichtungen im Vergleich zu den Vorlagen „die sinnlich-erotische Komponente sogar“.35 Irmgart Scheitler hat betont, dass dieser persönliche, innerliche und panerotische Bezug zu den religiösen Gegenständen ein besonderes Charakteristikum gerade des geistlichen Liedes darstellt.36 Dieser Stillage und den konkreten Bezugnahmen Rists gilt es nachzugehen. Ein wichtiger Bereich ist dabei die „seraphisch-gefühlshafte[], durch nacherlebende Adaption der Bildwelt des Hohenliedes erotisch inspirierte[] (Braut)-Mystik“.37 In den insgesamt 86 sehr wirkmächtigen Predigten über das Hohelied38 – es sind zweifellos seine für die Theologie der Mystik wichtigsten Ausführungen39 – hat der Zisterzienserabt Bernhard von Clairvaux die Braut des alttestamentlichen 34 Vgl. Rist: Himmlische Lieder (Anm. 15), Kommentar S. 503–511 und 536–539. 35 Inge Mager: Johann Rists ‚Himmlische Lieder‘. Ihre Veröffentlichung und ihre Vorlagen. In: Orthodoxie und Poesie. Hg. von Udo Sträter. Leipzig 2004 (Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie 3), S. 63–83, hier S. 74. Mager schreibt dies allerdings bezogen auf ein konkretes Himmlisches Lied Rists, nämlich V.4, „Ein LobLied/ Von der hertzlichen Liebe und denen unaußsprechlichen Woltaten unsers HErrn und Heylandes Jesu Christi“. 36 Vgl. Irmgard Scheitler: Geistliches Lied und persönliche Erbauung im 17. Jahrhundert. In: Frömmigkeit in der frühen Neuzeit. Studien zur religiösen Literatur des 17. Jahrhunderts in Deutschland. Hg. von Dieter Breuer. Amsterdam 1984 (Chloe 2), S. 129–155, hier S. 132. 37 Kemper (Anm. 2), S. 10. 38 Vgl. Werner Williams-Krapp: Bernhard von Clairvaux. In: Gestalten des Mittelalters. Ein Lexikon historischer und literarischer Personen in Dichtung, Musik und Kunst. Hg. von Horst Brunner, Mathias Herweg. Stuttgart 2007 (Kröners Taschenausgabe 352), S. 35–38, hier S. 37; Ulrich Köpf: Hoheslied. In: Wörterbuch der Mystik. Hg. von Peter Dinzelbacher. Stuttgart 1989 (Kröners Taschenausgabe 456), S. 236 f., hier S. 236. 39 Vgl. Ulrich Köpf: Bernhard von Clairvaux. In: Wörterbuch der Mystik. Hg. von Peter Dinzelbacher. Stuttgart 1989 (Kröners Taschenausgabe 456), S. 53–55, hier S. 54.
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Textes bekanntlich als Kirche und den Bräutigam als Gott gedeutet.40 Gegenüber dieser schon bei frühmittelalterlichen Autoren zu findenden abstrakt verwendeten Metapher von der Brautschaft zwischen Kirche und Gott betont und beschreibt Bernhard die konkrete, sinnliche „Liebesgeschichte und de[n] Liebesdialog zwischen dem Sponsus Gott, dem Bräutigam, und der Sponsa Seele, der Braut“.41 Eben diese schon von Origenes herrührende „Auslegung der Braut des Hohenliedes als die Seele des einzelnen Gläubigen“ und damit „[d]ie Verlagerung weg von der Heilsgeschichte eines Kollektivs […] hin in den Bereich der seelischen Erfahrung des einzelnen“42 finden in der Barockmystik ihre Fortsetzung. Im Anschluss an Luthers häufigen Gebrauch des nuptial-mystischen Vokabulars43 dominiert im protestantischen Bereich der Treue-Aspekt gegenüber dem Aspekt der mystischen Vereinigung (unio).44 Arndts umfangreiche Postillen wie auch sein Paradiesgärtlein voller christlicher Tugenden (1612) gelten als promi40 Vgl. Peter Dinzelbacher: Bernhard von Clairvaux. Leben und Werk des berühmten Zisterziensers. Darmstadt 1998 (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance), S. 176. 41 Ebd., S. 177. Vgl. Bernhard (Anm. 17), S. 313: „Und wenn ihr an die Liebenden denkt, so dürft ihr sie euch nicht als Mann und Frau, sondern als das Wort und die Seele vorstellen. Und falls ich von Christus und der Kirche spreche, so ist es dasselbe, außer daß mit der Bezeichnung ‚Kirche‘ nicht eine einzelne Seele, sondern die Einheit oder besser Einmütigkeit der vielen dargestellt wird.“ Haas kommentiert und verallgemeinert: „Eine Form von mystischer Erfahrung, die gewissermaßen in allen Formen im Christentum immer wieder autonom durchbricht, ist die nuptiale Mystik, in der sich Gott und Mensch personal als Bräutigam und Braut begegnen. Diese erotische Mystik in Form einer ‚heiligen Hochzeit‘ ist so kostbar, weil sie das Personale in der Begegnung zwischen Gott und Mensch in äußerster Sichtbarkeit darstellt.“ Haas: Was ist Mystik? (Anm. 3), S. 333. 42 Dinzelbacher: Bernhard (Anm. 40), S. 177 f. Dies wird wesentlich bereits als Leistung des Origenes (3. Jh. n. Chr.) angesehen, denn dieser „vollzog den Übergang von der kollektiven (ekklesiologischen) zur individuellen Deutung der Braut als Seele des Gläubigen“, womit er „die Grundlage für eine Interpretation mystischer Erfahrungen durch das sprachliche Material des Hohenliedes geschaffen“ habe. Köpf: Hoheslied (Anm. 38), S. 236. 43 Vgl. Jens Wolff: Programmschriften. In: Luther Handbuch. Hg. von Albrecht Beutel. Tübingen 2006, S. 265–277, hier S. 268. Siehe auch Martin Luther: Auslegung des Hohenliedes. In: Dr. Martin Luthers sämtliche Schriften. Bd. 5. Hg. von Johann Georg Walch. Nachdruck der 2. überarb. Aufl. St. Louis, MO 1896. Groß Oesingen 1987, Sp. 1580–1659. Zur Brautmystik allgemein, wie sie seit dem 12. Jahrhundert praktiziert wird, vgl. Peter Dinzelbacher: Brautmystik. In: Wörterbuch der Mystik. Hg. von dems. Stuttgart 1989 (Kröners Taschenausgabe 456), S. 71 f. 44 Vgl. Kemper (Anm. 2), S. 18. „Die Wiederentdeckung der Mystik führt im Luthertum zur Überwindung jener Frömmigkeitskrise, die sich in der dritten nachreformatorischen Generation bemerkbar macht und die zugleich Teil einer allgemeinen geistigen Krise ist. Der Drang nach persönlicher Frömmigkeit, nach Aneignung und Eigenständigkeit in Glaube und Leben, mußte auch Sinn und Form des Gebets bestimmen.“ Winfried Zeller: Luthertum und Mystik. In: Theologie und Frömmigkeit. Gesammelte Aufsätze. Bd. 2. Hg. von Bernd Jaspert. Marburg 1978 (Marburger theologische Studien 15), S. 35–54, hier S. 43.
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nente Quellen mit Blick auf die Adaptation der bernhardinischen Jesusmystik im lutherischen Protestantismus des 17. Jahrhunderts.45 Die Bedeutung Arndts für Rists geistliche Dichtung ist nicht zuletzt durch die neue Ausgabe der Himmlischen Lieder genauestens dokumentiert. Unentwegt wird in Rists Liedern Christus als „meiner Seelen Bräutigamb“,46 „süsser Bräutigam“47 oder „Hertzens-Bräutigam“48 apostrophiert, auch „Braut“49 wird er bisweilen genannt, und Rekurse auf das biblische Hohelied finden sich in Hülle und Fülle.50 Drei Beispiele für solche brautmystischen Wendungen: […] Mein Bruder/ den ich lieber hab’ Als alle Schätz’ auff Erden/ Komm Schönster in mein Hertz’ hinein/ Komm’ eiligst/ laß die Krippen sein Komm/ Komm/ ich wil bey zeiten Dein Lager dir bereiten.51
In diesem Zitat wird Christus als Bruder (vgl. Hld 8,1) und Geliebter adressiert, dem das Ruhelager bereitet und der aufgefordert wird, das eigene Herz zu betreten. Ein zweites Textbeispiel Rists ist als Gleichnis gestaltet: Ein Bräutigam/ wenn er die Liebste schauet So wird sein Hertz der Freuden voll. Wenn JEsus meiner Seelen sich vertrauet/ Ach Gott wie ist mir denn so wol! […]52
45 Vgl. Johannes Wallmann: Johann Arndt und die protestantische Frömmigkeit. Zur Rezeption der mittelalterlichen Mystik im Luthertum. In: Frömmigkeit in der frühen Neuzeit. Studien zur religiösen Literatur des 17. Jahrhunderts in Deutschland. Hg. von Dieter Breuer. Amsterdam 1984 (Chloe 2), S. 50–74, hier S. 69. Wallmann betont aber auch, dass Arndt „nicht der einzige und auch nicht der erste Vermittler der bernhardinischen Jesusmystik“ sei. Ebd., S. 70. Siehe auch Martin Schmidt. Mystik VII. Prot[estantische] Mystik. In: Religion in Geschichte und Gegenwart3 4 (1960), Sp. 1253–1256. 46 Rist: Himmlische Lieder (Anm. 15), III.7, Str. 1, S. 234. 47 Ebd., I.1, Str. 1, S. 26. 48 Ebd., I.1, Str. 11, S. 29. 49 Ebd., I.1, Str. 4, S. 27. 50 „Die Bezeichnung Jesu als ‚Bräutigam‘ ist in den Himmlischen Liedern häufiger als in den späteren Sammlungen. Der Einfluß des Hohenliedes geht später zurück, ohne freilich ganz zu verschwinden.“ Irmgard Scheitler: Das Geistliche Lied im deutschen Barock. Berlin 1982 (Schriften zur Literaturwissenschaft 3), S. 259. 51 Rist: Himmlische Lieder (Anm. 15), I.1, Str. 10, S. 29. 52 Ebd., IV.10, Str. 13, S. 352.
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In einem dritten Textbeispiel wird, als Steigerung noch der erotischen Leidenschaftsdarstellung im Hohenlied und dem ‚krank sein vor Liebe‘ (Hld 2,5) eine intensive ‚geistige Wollust‘ artikuliert: […] O Lieb es brennet mein Gemüte/ ich lig’ und seufftze mit Begier/ O allerschönste Braut nach dir.53
Speziell das zehnte Himmlische Lied aus der dritten Dekade, betitelt „Hertzliches Verlangen/ Nach dem himlischen Jerusalem/ und Erzehlung der grossen unaußsprechlichen Herrligkeit desselben“ nimmt zahlreiche Hohelied-Motive wie auch narrative Strukturelemente desselben auf: Wie bist du doch so trefflich schön/ Weiß/ zierlich/ sonder Mackel Wie gläntzend bist du anzusehn Du Sions güldne Fackel Du edle Tochter unsers Fürsten Nach deiner Liebe muß ich dürsten Der König selbst hat grosse Freüd’ An deiner werthen Liebligkeit. Wie sieht dein Liebster/ sag’ es mir? Er ist gantz außerlesen/ Wie Rosen sind die Wangen schier Wie Gold sein prächtigs Wesen/ Er ist der schönste Baum in Wäldern/ Er ist die beste Frucht in Feldern Er ist wie lauter Milch so schön/ So ist mein Liebster anzusehn. Da sitz’ ich unter jhm’ allein Den Schatten zu erwehlen Denn seine Frucht wird süsser seyn Als Honig meiner Kehlen/ Da ich erst kam in seinen Orden Bin ich fast gar beweget worden/ Und als ich kaum vom Schlaff erwacht Da sucht’ ich jhn die gantze Nacht. Nun küß’ ich seiner Augen Liecht Nun hab’ ich jhn berühret Jch halt’ jhn fäst’ ich laß’ jhn nicht
53 Ebd., III.10, Str. 1, S. 251.
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Biß er mich schlaffen führet/ Denn wird er mir im FreüdenLeben Sein’ außerwehlte Brüste geben Denn wird er wunderbarer Weiß’ Erfüllen mich mit HimmelSpeiß’.54
Diese rhythmisch schlichten, paargereimten Strophen nehmen nicht nur Verse und Leitmotive des Hohenliedes ganz unmittelbar auf, sie orientieren sich auch an seiner dialogisch-szenischen Struktur,55 was auch für die zahlreichen, zum Teil vertonten Canticum-Nachdichtungen des Barock gilt.56 In der zweiten Strophe aus Rists Himmlischem Lied preist der Bräutigam die Schönheit der geliebten, edlen Fürstentochter Zions, in der dritten Strophe wird die Braut (von einer nicht identifizierten Sprechinstanz) gefragt, wie ihr Liebster aussieht, woraufhin sie ihn in preziöser Metaphorik (Rosen, Gold, schönste Pflanzen, Milch) beschreibt. In der vierten Strophe findet sich dann eine Paraphrase eines der meistzitierten Hohelied-Verse – „Jch sucht des nachts in meinem Bette/ den meine Seele liebt/ Jch sucht, aber ich fand jn nicht“ (Hld 3,157). In der fünften Strophe wird dieser konkrete Bezug dann in eine allgemeine mystische Rede über Christus, nunmehr ohne identifizierbare (gender-spezifische) Sprecherinstanz transformiert: Die Rede ist vom Licht seiner Augen, davon, dass das Ich ihn berührt, ihn nicht mehr loslässt, bis er es „schlaffen führet“ und ihm – in hermaphroditischer Vollkommenheit – wie eine Maria lactans, seine „außerwehlte[n] Brüste“ darbietet, um es auf „wunderbare[] Weiß’“ mit „HimmelSpeiß’“ zu nähren. Auffällig ist das in allen zitierten Strophen vorherrschende Präsens58 sowie die Zunahme deiktischer
54 Ebd., Str. 2–5, S. 251 f. 55 Vgl. Stefan Fischer: Das Hohelied Salomos zwischen Poesie und Erzählung. Tübingen 2010 (Forschungen zum Alten Testament 72), S. 238–241. 56 Zum Beispiel von Martin Opitz (1627), Gottfried Finckelthaus (1638), Johann Georg Albinus (1652), Philipp von Zesen (1641) und Ernst Müller (1666). Scheitler verweist auf Martin Goebel: Die Bearbeitungen des Hohen Liedes im 17. Jahrhundert. Diss. Leipzig 1914, der 14 Bearbeitungen des Hohenliedes nennt, die allerdings nicht sämtlich liedhaft sind. Vgl. Scheitler: Geistliches Lied (Anm. 36), S. 146, Fußn. 61. 57 Vorlage Rists für die Himmlischen Lieder war nicht der hebräische Urtext der Bibel, sondern die Lutherübersetzung, daher wird das Hohelied nach dieser zitiert. Vgl. Mager (Anm. 35), S. 67. D. Martin Luther: Die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Wittenberg 1545. Letzte zu Luthers Lebzeiten erschienene Ausgabe. Hg. von Hans Volz unter Mitarb. von Heinz Blanke, Textred. Friedrich Kur. München 1972. 58 Im Anschluss wandelt es sich in eine futurisch-antizipierende Rede, in der das sprechende Ich schon weiß, welche Gnaden – der himmlischen Nahrungsgabe – ihm noch erwiesen werden. Rist: Himmlische Lieder (Anm. 15), I.1, III.10, Str. 6, S. 252 f.
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und Lokal- und Temporaladverbien (‚hier‘, ‚da‘, ‚nun‘, ‚dann‘) in der am Schluss beschriebenen sinnlich-präsentischen communio. Für die ‚barockmystische Dichtung‘59 ist das Hohelied deswegen so wichtig, weil es erstens als das ‚mystischste‘ Buch der Bibel gilt und weil es zweitens selbst in einer hochgradig poetischen Sprache verfasst ist.60 Hohelied-Mystik und Passionsmystik stehen ferner aufgrund der beiderseitigen Betonung von Körperlichkeit und Sinnlichkeit in enger Relation, was sich etwa in Rists Nachdichtungen der sieben so genannten ‚Passionssalven‘ zeigt. Diese hat er erstmalig in der Sammlung Der zu seinem allerheiligsten Leiden und Sterben hingeführter und an das Kreütz gehefteter Christus Jesus (1648)61 publiziert, und zwar unter dem Titel Die Sonderbare Heilige Andachten/ über die Allerheiligste/ Jämmerlich geplagte/ und zermarterte Glieder Unseres liebsten Heilandes und Selig-Machers Jesu Christi, samt zweistimmiger Noten. Die Lieder werden ‚Salven‘ genannt, weil es sich um Anreden des Gläubigen an Christus am Kreuz handelt, und zwar an einzelne Teile seines Körpers, die jeweils mit einem Gruß adressiert werden.62 Rist hält sich an die verbreitete Zusammenstellung und Reihung der Glieder: Füße, Knie, Hände, Seite(nwunde), Brust, Herz, Antlitz. Im 17. Jahrhundert wurden die seiner Nachdichtung zugrunde liegenden mittelalterlichen Salven gemeinhin für ein Werk Bernhards von Clairvaux angesehen.63 Die zahlreichen Nachdichtungen dieser Salven durch protestantische Dichter im Barock seien, so Sven Grosse, „ein Zeugnis der großen Verehrung, die der Zisterzienser im Luthertum dieser Zeit
59 So die Titelformulierung von Rusterholz’ Aufsatz (Anm. 5). 60 Vgl. Kemper (Anm. 2), S. 9. Zur Bildlichkeit des Bibeltextes siehe auch Ottmar Keel: Deine Blicke sind Tauben. Zur Metaphorik des Hohen Liedes. Stuttgart 1984 (Stuttgarter Bibelstudien 114/115); Walter Haug: Zur Grundlegung einer Theorie des mystischen Sprechens. In: Abendländische Mystik im Mittelalter. Symposion Kloster Engelberg 1984. Hg. von Kurt Ruh. Stuttgart 1986 (Germanistische Symposien 7), S. 494–508, hier S. 500. 61 Zu dieser Publikation siehe Hans-Henrik Krummacher: Lehr- und trostreiche Lieder. Johann Rists geistliche Dichtung und die Predigt- und Erbauungsliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts. In: „Ewigkeit, Zeit ohne Zeit“. Gedenkschrift zum 400. Geburtstag des Dichters und Theologen Johann Rist. Hg. von Johann Anselm Steiger. Mit einem Geleitwort von Hans Christian Knuth. Neuendettelsau 2007 (Testes et testimonia veritatis 5), S. 37–76, hier S. 53. 62 Vgl. Sven Grosse: Johann Rists Übertragung der lateinischen Passionssalven als Beispiel für die lutherische geistliche Dichtung des 17. Jahrhunderts. In: Hamburg. Eine Metropolregion zwischen Früher Neuzeit und Aufklärung. Hg. von Johann Anselm Steiger, Sandra Richter. Berlin 2012 (Metropolis 1), S. 77–89, hier S. 80. 63 Inzwischen wurde diese Auffassung revidiert, man geht nunmehr davon aus, dass sie nicht im 12. Jahrhundert, sondern erst später entstanden. Die Salven an Jesu Füße, Knie, Hände, Seite und Antlitz werden Arnulf von Löwen zugeschrieben (13. Jh.), das Salve an das Herz stammt wahrscheinlich von Hermann Joseph von Steinfeld (ebenfalls 13. Jh.), der Verfasser des Salve an die Brust ist unbekannt, vgl. ebd., S. 79 f.; Grosse: Gott und das Leid (Anm. 8), S. 241.
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genoß“.64 Rist partizipiert mit seiner Übertragung der Passionssalven an einer traditionellen Frömmigkeitskultur, wie sie über die Konfessionsgrenzen hinweg bestand.65 Im Vorwort empfiehlt er dem Leser, die sieben Salven für den häuslichen Gebrauch auf die Wochentage zu verteilen, sich also pro Tag ein Salve vorzunehmen und sich jeweils einem Körperteil Christi andächtig zu widmen.66 Die Methode der frommen Andacht besteht in einem bedächtigen Fortschreiten von einem Körperteil zum nächsten, vom Fuß bis zum Haupt – wodurch strukturell der Schönheitspreis der mittelalterlichen Minne-Dichtung, der ja nach dem top-to-toe-Schema vorgeht (‚vom Scheitel bis zur Sohle‘), invertiert wird.67 Rists Körperschema entspricht den Hohelied-Predigten Bernhards, der „von einem Aufwärtssteigen der Seele“ ausgeht, „welche zuerst die Füße, dann die Hände und erst dann den Mund des geliebten Christus küßt“.68 Allerdings gehe es Bernhard dabei auch um ein „Voranschreiten vom Sinnlichen zum Geistigen“, was bei den Passionssalven der Frühen Neuzeit durchaus anders ist, insofern hier „[d]ie Gegenwart des leiblichen Christus […] nie verlassen [wird]“69 und eine erotisierte Christusminne dominiert.70 Wenn zuerst die Füße, dann die Knie, die Hände, der Brustbereich und schließlich das Haupt adressiert werden, wird überdies ein Körperschema erzeugt, das einem Kreuz ähnelt (und auch der Bewegungsgestik der Hand, wenn man sich bekreuzigt71). Die Minnepraxis erinnert ferner an christliche Figurengedichte des Barock – etwa Sigmund von Birkens oder Catharina Regina von Greiffenbergs – die mittels der unterschiedlich langen Verse visuell
64 Grosse: Rists Übertragung (Anm. 62), S. 81. 65 Vgl. ebd., S. 82. 66 Johann Rist: Die Sonderbare Heilige Andachten/ über die Allerheiligste/ Jämmerlich geplagte/ und zermarterte Glieder Unseres liebsten Heilandes und Selig-Machers Jesu Christi. In: Der zu seinem allerheiligsten Leiden und Sterben hingeführter und an das Kreütz gehefteter Christus Jesus. Hamburg 1648, S. 230–260, hier fol. )( 10v–11r. Die Ausgabe wird im Folgenden in der Kurzform als ‚Passionssalven‘ zitiert. 67 Auch im Hohenlied findet sich ein die Schönheit der Braut preisendes Körperteile-Schema, das von oben nach unten erfolgt, hier allerdings nur den Oberkörper umfasst; beschrieben werden Augen, Haare, Lippen, Wangen, Hals und Brüste (vgl. Hld 4,1–5). 68 Grosse: Rists Übertragung (Anm. 62), S. 83. 69 Ebd., S. 84. 70 Wenn es dort etwa heißt „Laß deine Brust mein Bräutigam/ Mein Bruder/ Freünd und Gotteslam | Mich armen Sünder laben. || Gib/ weil Du selbst die Liebe bist/ | Daß ich vor Liebe brenne“. Rist: Passionssalven (Anm. 66), fünftes Salve, S. 249. Zur erotisierten Christusminne allgemein siehe auch Burkhard Dohm: Poetische Alchimie. Öffnung zur Sinnlichkeit in der Hohelied- und Bibeldichtung von der protestantischen Barockmystik bis zum Pietismus. Tübingen 2000 (Studien zur deutschen Literatur 154). 71 Vgl. Grosse: Rists Übertragung (Anm. 62), S. 84.
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eine Kreuzform bilden und in denen die Körperteile Christi topologisch an ihren organisch korrekten Stellen benannt und beschrieben werden.72 Für das Hohelied und seine geistlich-poetische Auslegung ist insbesondere Rists viertes Salve, auf die Seitenwunde Christi, von Bedeutung. Das Salve besteht in einer an Bernhard angelehnten mystischen Innigkeit mit und Verehrung von Jesu Blut und Wunden.73 Bernhard hat sich in seinen Hohelied-Auslegungen besonders intensiv mit folgenden Versen aus Hld 2 befasst: MEin Freund antwortet/ vnd spricht zu mir/ Stehe auff meine Freundin/ meine schöne/ vnd kom her. […] Stehe auff meine Freundin vnd kom/ meine schöne kom her. Meine Taube in den felslöchern/ in den steinritzen/ Zeige mir deine gestalt/ Las mich hören deine stim/ Denn deine stim ist süsse/ vnd deine gestalt lieblich. (Hld 2,10–14)
Im 61. Sermo super Cantica Canticorum betont Bernhard, dass diese Passage zu Recht im Sinne einer Analogisierung der Felsenspalte mit den Wundmalen Christi interpretiert wird:74 Ich aber eigne mir voll Zuversicht, was mir von mir aus fehlt, aus dem Herzen des Herrn an, weil es von Erbarmen überfließt und die Spalten nicht fehlen, durch die es ausfließt. Sie haben seine Hände und Füße durchbohrt (Ps 21,17) und die Seite mit der Lanze durchstoßen: durch diese Ritzen darf ich Honig aus dem Felsen und Öl aus härtestem Gestein saugen, das heißt kosten und sehen wie süß der Herr ist (Ps 33,9). […] Offen liegt das Verborgene des Herzens durch die Öffnungen des Leibes, offen liegt jenes große Geheimnis der Güte […]. Steht das Herz denn nicht durch die Wunden offen)? […] [E]r hat uns sogar durch die geöffneten Höhlen in das Heiligtum eingeführt. Wieviel Süßigkeit findet sich in ihnen, welche Fülle der Gnade, welche Vollendung der Tugenden! Ich werde zu den für mich so reichen Vorratskammern gehen, nach der Mahnung des Propheten die Stadt verlassen und in den Felsen wohnen (Jer 48,28). Ich werde wie die Taube sein, die in der obersten Felsenhöhle nistet […].75
72 Vgl. Catharina Regina von Greiffenberg: Uber den gekreutzigten JESUS. In: Das Zeitalter des Barock. Texte und Zeugnisse. Hg. von Abrecht Schöne. München 1963 (Die Deutsche Literatur 1), S. 694; Sigmund von Birken: Ach! diese Stätt | das Sterbe-Bett | von JEsu war. In: Gedichte des Barock. Hg. von Ulrich Maché, Volker Meid. Stuttgart 1980 (Reclams Universal-Bibliothek 9975), S. 248. 73 Rist verweist selbst an einer Stelle auf Bernhards Rhythmica oratio; vgl. Scheitler: Das geistliche Lied im deutschen Barock (Anm. 50), S. 255, Fußn. 111. 74 Bernhard (Anm. 17), S. 313. „Die Stigmen des Gottessohnes, Zeichen seines Mitleidens mit seinen Geschöpfen, sind die Felsenklüfte, in denen die Taube, die Seele, süßen Honig und Öl saugt.“ Dinzelbacher: Bernhard (Anm. 40), S. 183. 75 Bernhard (Anm. 17), S. 315 und 317.
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Die Taube, die sich „mit ganzer Hingabe in den Wunden Christi birgt und in ständiger Betrachtung in ihnen verweilt“,76 steht für die Leidensbereitschaft der Märtyrer, die durch Christi Wunden geheilt werden oder aber ihre Wunden nicht mehr spüren, weil sie ja in einem sie schützenden Felsen wohnen.77 Korrespondierend mit dieser Allegorese heißt es im vierten Salve Rists, betitelt: „An die Seiten seines Allerliebsten HErrn Jesu“: „Ach ia/ es ist mein JEsulein/ | Dem gukk’ Ich in die Seit’ hinein/ | In welcher lauter Honig klebt“78 und weiter: „O werther Riß/ O süsser Fluß/ | Nim hin von Mir den Glaubenskuß“.79 Ähnlich formuliert es Rist in einem der Himmlischen Lieder: […] Kriech’ in des HErren Wunden ein/ Da kanst du frey und sicher seyn Daß dir der Sturm nicht schade/ Da trifft dich weder Blitz noch Zorn/ Ja du bist gäntzlich unverlohrn.80
Strophen 7 bis 12 des vierten Salve aber sind derart einschlägig für die skizzierte Bernhardsche Wundenmystik, dass sie hier vollständig zitiert werden. Es handelt sich um ein sehr schlichtes Versmaß – vierhebige Jamben mit Paarreim –, deren Besonderheit in einem jeweils angehängten fünften Halbvers besteht, der eine Art ‚Echo-Effekt‘ erzeugt (was auch musikalisch so umgesetzt wird): Du bist der rechte Lebenstrank/ Du heilest Mich/ wenn Ich bin krank/ Viel süsser Labsahl gibst Du Mir/ Wenn Mich HErr dürstest für und für. Allein nach Dir. Eröffne dich du Seiten Loch/ Daß Ich Sein Hertz begreiffe doch/ Ach JEsu/ kan es nicht geschen/ Daß ich mag in die Höhle gehen Dein Hertz zu sehn? HErr meine Lippen schliessen sich Dein Hertz zu küssen säuberlich/ Ich dringe mit Gewalt hinein/
76 Ebd., S. 319. 77 Vgl. die Auslegung Bernhards, ebd., S. 315. 78 Rist: Passionssalven (Anm. 66), viertes Salve, S. 243. 79 Ebd., S. 244. 80 Rist: Himmlische Lieder (Anm. 15), III.2, Str. 10, S. 204.
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Ich wil in deines Hertzen Schrein Verschlossen sein. O süsser Schmak/ O Himmels Brod! Auß Liebe wünsch’ Ich Mir den Tod/ Wer dich geschmekt/ du Heil der Welt/ Der hat sich selbst schon hingestelt Ins HimmelsZelt. In dieser Höhle sol kein Schmertz Betrüben mein zerschlagnes Hertz/ Hie fürcht Ich nicht der Höllen Gluht/ Des Höchsten Grim/ der Sünden Fluht/ Des Kreützes Ruht. O JEsu schliess’ itz meine Seel’ In diese deiner Seiten Höl Und lass Mich frei von allem Streit Erheben dich nach dieser Zeit In Ewigkeit.81
Das Ich richtet sich sprachlich direkt an die Seitenwunde (z. B. „Viel süsser Labsahl gibst Du Mir“), die als Medium des Kontakts zu Gott imaginiert wird: „Eröffne dich du Seiten Loch/ | Daß Ich Sein Hertz begreiffe doch“ heißt es zunächst, kurz darauf dann aber, „Daß ich mag in die Höhle gehn | Dein Hertz zu sehn“. Verwendet werden auch hier die für die Seinsgemeinschaft von Gott und Mensch prägende Tempusform des Präsens („Ich dringe mit Gewalt hinein“) sowie verschiedene Deiktika des hic et nunc zur Steigerung der Intensität, also etwa Lokaladverbien und Demonstrativpronomina („In dieser Höhle“, „In diese deiner Seiten Höl“; „Hie fürcht Ich nicht der Höllen Gluth“). Bemerkenswert ist jedoch, dass dem in Strophe 12 beschriebenen ‚Hier und Jetzt‘ im abgehobenen Halbvers am Schluss die „Ewigkeit“ kontrastiert.82
81 Rist: Passionssalven (Anm. 66), viertes Salve, Str. 7–12, S. 244 f. Ähnlich auch die letzte Strophe des sechsten Passionssalve: „O JEsu/ deiner Liebe Brunst | Erweise Mir doch diese Gunst/ | Daß ich Mich müge schliessen | In deines edlen Hertzen Schrein/ | So kann Jch HERR dadurch allein | Der Seligkeit geniessen.“ Ebd., sechstes Salve, S. 256. 82 Vgl. Marc Föcking: Meditation, Interkonfessionalität und geistige Lyrik im Barock (Angelo Grillo und Johann Rist). In: Paragrana. Zeitschrift für Historische Anthropologie 22.2 (2013), S. 143–158, hier S. 153.
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3 Das ‚Genießen Gottes‘: Oralität und Gustatorik der Wundenmystik Der letzte Abschnitt widmet sich der bereits angeklungenen Semantik und Bildlichkeit von Oralität und Gustatorik – dem Essen, Schmecken und Riechen Christi –, denn diese mystisch grundierte, der affektiven Steigerung dienende Semantik ist bei Rist ebenfalls zentral. Im Unterschied zu anderen zeitgenössischen Passionsdichtungen dieser Art, zum Beispiel den Passionssalven Paul Gerhardts (veröffentlicht 1653 bzw. 165683), wird der Aspekt der Trauer, des Leids und Mitgefühls mit dem gemarterten Heiland in Rists Wundenmystik, insbesondere seinen sieben Passionssalven, nachgerade unterdrückt zugunsten der sinnlichpräsentischen Kraft der Wunden, Gemeinschaft und Kontakt zu stiften. Auch hier ergeben sich enge Bezüge zu Bernhard, weil dieser zur genauen Beschreibung der religiösen Erfahrung eine dezidierte Metaphorik der interioren Sinne, insbesondere des inneren ‚Geschmacks‘, ausgebildet hat.84 Bei Rist ist diesbezüglich besonders das zweite Himmlische Lied der dritten Dekade aufschlussreich; es trägt den Titel „Geistreiche Erlustigung der Erleuchteten Seelen/ Jn den fünff Wunden/ jhres am Creutz hangenden allerliebsten Heylandes Jesu Christi“.85 In diesem Lied werden die fünf Kreuzeswunden eucharistisch als „Fünff Keller“ beschrieben, die „gantz voll Weins“ sind, von dem der Gläubige „zum Himmel truncken“ werde.86 Diß Honigsüsse Naß das kam Geflossen von des Creutzes Stamm’ Aus deines Jesu Seiten/ Sehr lieblich ist es anzusehn/ Drumb säume nicht hinein zu gehn Den Tranck dir zu bereiten/ Es ist dir ja zur jeden Zeit Vergönnet solche Trunckenheit.87
Passions- und Hoheliedmystik werden hier verschränkt: durch das Element Honig, durch die Lieblichkeit des Anblicks und durch den konkreten Eintritt in den ‚Keller‘ der Seitenwunde. Auch in den nachfolgenden Strophen werden Prozesse beschrieben, die der von Rist vertretenen Lehre der Realpräsenz Christi – 83 Vgl. Grosse: Gott und das Leid (Anm. 8), S. 240. 84 Vgl. Köpf: Bernhard (Anm. 39), S. 54. 85 Rist: Himmlische Lieder (Anm. 15), III.2, S. 201. 86 Ebd., Str. 2. 87 Ebd., Str. 3, S. 202.
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der wahren Gegenwart seines Blutes und Leibes in, mit und unter den Abendmahlselementen Brot und Wein – entsprechen, nun nicht mehr anhand des Vorgangs des Trinkens, sondern des Essens: Fünff Tische stehen wol besetzt Mit allem was die Seel’ ergetzt Mit außerlesnen Speisen/ […] […] Auch ist die Speise nicht zu kauff’ Umbsonst kanst du sie haben/ Ja sie erhält und nehret dich O Mensch zum leben ewiglich.88
Mit diesen Bildern von Speisung und oraler Einverleibung wird eine sinnliche Realpräsenz evoziert, mit der „der orthodoxe Rist“ den Gläubigen „unmißverständlich ein[schärft], daß Christus im Abendmahl ‚Sein Fleisch und Blut im Brodt und Wein‘ reicht“.89 Die ‚Weinkeller‘ der fünf Wunden werden in Rists Lied später zu „Fünff Apoteken“, die „[v]oll wundersüsser Liebligkeit | Voll edler Specereyen“ bereit stehen, wie im Schlaraffenland – „Ey liebe Seel’ halt’ auff den Mund | Und schmecke nur/ du wirst gesund“90 – und die gustatio, das Schmecken, wird zugleich zur Sinneswahrnehmung der Gotteserkenntnis: „Jetzt fühl’ ich O mein süsser Mund | Du liebest mich aus Hertzens Grund’“91 heißt es am Ende des Lieds. In weiteren gustatorischen Textstellen wird Christus mit den Worten angefleht „Laß Mich deine Liebe schmekken | Weil Ich sehnlich nach Ihr dürst“,92 er wird als Leckerei adressiert – „O du frische Lebens-Frucht | O du Himmel-süsser Bissen“93 – und der Sprecher argumentiert, dass durch den Geschmack seiner Liebe und Süßigkeit die Todesangst überwunden werde: „Du liebest Mich biß in den Tod/ | Du duldest gahr zu grosse Noht/ | Du stirbest/ daß Ich Glauben vol | Deß TodesAngst nicht schmekken sol.“94 Oder, wie schon zuvor zitiert: O süsser Schmak/ O Himmels Brod! Auß Liebe wünsch’ Ich Mir den Tod/
88 Ebd., Str. 4 und 5. 89 Mager (Anm. 35), S. 75. Auch in dem zuvor zitierten und besprochenen vierten Passionssalve wird Christus als „Lebenstrank“ und als „Himmels Brod“ bezeichnet. Rist, Passionssalven (Anm. 66), S. 244 f. 90 Rist: Himmlische Lieder (Anm. 15), III.2, Str. 11, S. 204. 91 Ebd., Str. 15, S. 205. 92 Rist: Passionssalven (Anm. 66), drittes Salve, S. 241. 93 Rist: Himmlische Lieder (Anm. 15), V.4, Str. 7, S. 414. 94 Rist: Passionssalven (Anm. 66), zweites Salve, S. 237.
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Wer dich geschmekt/ du Heil der Welt/ Der hat sich selbst schon hingestelt Ins HimmelsZelt.95
Rist orientiert sich hier erneut an Bernhard, der in einer seiner Hohelied-Predigten schreibt: Wo aber Liebe ist, da ist keine Mühe, sondern Genuß. Und vielleicht ist das Wort ‚Weisheit‘ von ‚Wohlgeschmack‘ abzuleiten, weil sie, wenn sie zur Tugend hinzutritt, diese wie eine Art Gewürz schmackhaft macht, die von sich aus salzlos und bitter schmeckte. […] Wenn die Weisheit eintritt, betört sie den fleischlichen Sinn, reinigt den Verstand, heilt den Gaumen des Herzens und stellt ihn wieder her. Dem geheilten Gaumen beginnt das Gute zu schmecken, die Weisheit selbst, besser als alles Gute, schmeckt ihm.96
Nicht nur einen feinen ‚Geschmackssinn‘ für die Weisheit, Güte und Schönheit Christi bildet der wahrhaft Gläubige aus, sondern auch einen entsprechend empfindsamen Geruchssinn: „Du riechest edler als der Wein“97 heißt es im vierten Passionssalve, und im sechsten dichtet Rist: Ach breite deine Blätter auß Du Hertzensrößlein schön und krauß/ Laß meine Seel empfinden Nur den Geruch der uns erhält/ Durch welchen wir Tod/ Teuffel/ Welt Gantz siegreich überwinden.98
Und in einem der Himmlischen Lieder fordert der Sprecher sein Gegenüber im Modus der Christusminne auf: Komm mein Liebster/ laß mich schauen Wie du bist so wol gestalt Schöner als die schönste Frauen Allzeit lieblich/ nimmer alt […] Komm du lieblichs Blümelein Laß mich deinen Balsam riechen/ Du mein Leben komm heran/ Daß ich dein geniessen kann.99
95 Ebd., viertes Salve, S. 245. 96 Bernhard (Anm. 17), 85. Predigt, S. 639 und 641. 97 Rist: Passionssalven (Anm. 66), viertes Salve, S. 244. 98 Ebd., sechstes Salve, S. 255. 99 Rist: Himmlische Lieder (Anm. 15), V.4, Str. 4, S. 413.
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In den Schriften der mittelalterlichen Mystik kommt der Begriff des Genießens (fruitio dei), anknüpfend an Augustinus, besonders stark zur Geltung, wenn von der Eucharistie die Rede ist, in der Gott gerochen, geschmeckt und ertastet wird: „Fruitio dei galt als Synonym für die Einheit mit Gott, die auch als unio mystica bezeichnet wurde und etwa als Seligkeit des Himmels und vollkommene Ruhe, als Süßigkeit oder Trunkenheit sowie als unendliche Milde oder Entrückung beschrieben wurde […].“100 Bernhard hebt in seinen Predigten aber auch hervor, dass dieses ‚Genießen Gottes‘ über das göttliche Wort ermöglicht werde. Es ergibt sich hier ein gemeinsamer, quasi-synästhetischer Sinneskomplex des Oralen, durch den Schmecken, Küssen und Sprechen verbunden werden. Möglicherweise adressiert Rist diesen in seinen Liedern auf so intensive Weise, weil er speziell im mündlichen Lied- und Andachtskontext polyvalent eingesetzt werden kann.
4 Resümee Rist hat bemerkt, dass er „so wol [den] einfältigen und ungelahrten Layen“ mit seiner Dichtung ansprechen möchte als auch „hochverständige[]/ und in der Singe Kunst erfahrne[] Leüte[]“.101 Im Unterschied zu zahlreichen protestantischen und auch katholischen Barockmystikern, wie z. B. Friedrich von Spee, Daniel Czepko, Johannes Scheffler (Angelus Silesius), Quirinus Kuhlmann oder Catharina Regina von Greiffenberg102 stehen die komplexen, auch poetologisch anspruchsvollen Paradoxien der Gottesverehrung bei Rist offensichtlich nicht hoch im Kurs.103 Er hält vielmehr „am Opitzschen Ideal der Reinheit und Klarheit
100 Stefanie Rinke: Das ‚Genießen Gottes‘. Medialität und Geschlechtercodierungen bei Bernhard von Clairvaux und Hildegard von Bingen. Freiburg i. Br., Berlin 2006 (Berliner Kulturwissenschaft 3), S. 26. 101 Johann Rist: Neue Himmlische Lieder (1651). Kritisch hg. und kommentiert von Johann Anselm Steiger. Musik von Andreas Hammerschmidt, Michael Jacobi, Jacob Kortkamp, Petrus Meier, Hinrich Pape, Jacob Praetorius, Heinrich Scheidemann, Sigmund Theophil Staden. Kritische Edition der Notentexte von Konrad Küster. Berlin 2013, S. 13 f. 102 Die namentliche Auswahl geht auf die entsprechenden Kapitel bei Kemper (Anm. 2) zurück sowie auf den Aufsatz von Rusterholz (Anm. 5). 103 Paradoxien finden sich bei Rist sehr wohl, aber im Vergleich zu anderen zeitgenössischen geistlichen Dichter/innen deutlich weniger ausgeprägt und weniger in arguten Wendungen; so zum Beispiel in seinem wohl bekanntesten Himmlischen Lied „Ernstliche Betrachtung der unendlichen Ewigkeit“ bezogen auf die Entitäten ‚Zeit‘ und ‚Ewigkeit‘. Rist: Himmlische Lieder (Anm. 15), IV.9, S. 341–346; der Hinweis darauf entstammt Grosse: Rists Übertragung (Anm. 62), S. 79.
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fest“104 und verteidigt dieses (stilistisch etwas monotone, durchgehend alternierende) ‚Opitzieren‘ sogar explizit in einer seiner Vorreden.105 Rists Rückgriffe auf die christliche Mystik sind zumeist konventioneller Art, sowohl die Inhalte als auch die sprachliche Gestaltung und die Bildlichkeit betreffend.106 Wenn viele Barockmystiker und -mystikerinnen durch die Subjektivität ihrer Aussagen und die Individualität des Gottesverhältnisses Intensität und Glaubwürdigkeit erzeugen wollen, so findet sich hier eher ein gegenteiliger Impuls: Rists mystische Poesie weist bewusst wenig Originalität und Innovationen auf; sie ist vielmehr auf Schlichtheit, Verständlichkeit und Eingängigkeit hin angelegt, um sie im Gemeindekontext, zum Beispiel für gemeinsames Singen, zum Sprechen und Memorieren, einsetzen zu können.107 Er knüpft damit an die lutherische Mystik als einer „Mystik des Hörens“ an, deren Bindung an das Wort gerade in der Musik das adäquate Ausdrucksmittel fand.108 Rists geistliche Dichtung ist „Gelegenheitsdichtung im weiteren Sinn“.109 Mittels der mystischen Aussagen wird demnach dezidiert kein persönliches Bekenntnis artikuliert, sondern sie werden im Rahmen einer Gebrauchslyrik eingesetzt, die sich für die affektive und imaginative Füllung durch die Gläubigen anbietet. Es sind daher wesentlich für den privaten und Hausgebrauch intendierte ‚geistliche Lieder‘ und von ihrer Intention her keine Kirchenlieder.110 Dies gilt ähnlich für Rists Passionsan104 Scheitler: Das Geistliche Lied im deutschen Barock (Anm. 50), S. 250. Seinen auf Einfachheit, Klarheit und Anschaulichkeit ausgerichteten Stil untersucht im Kontext der Barockpoetik anhand der Himmlischen Lieder: Donald Lee Madill: Johann Rist as Hymnwriter. A Study of his Life and Works with Particular Emphasis on his ‚Himlische Lieder‘ and ‚Sonderbahres Buch‘. Diss. Ann Arbor, MI 1984 (University Microfilms International), S. 222–303. 105 Johann Rist: Neüe Musikalische Katechismus Andachten/ Bestehende Jn Lehr- Trost- Vermanung und Warnungs-reichen Liederen über den gantzen heiligen Katechismus […]. Lüneburg 1656, S. 31. 106 „Die im eigentlichen Sinn mystische Diktion ist Rist fremd.“ Scheitler: Das Geistliche Lied im deutschen Barock (Anm. 50), S. 258. 107 Vgl. Rists Widmungsvorrede zur Sammlung Seelenparadis […] Alten Testaments, wo es heißt, dass „man das jenige/ was in wolklingende Reime wird verfasset/ viel leichter und besser in die Gedächtnisse kann bringen/ oder behalten/ als das/ was in ungebundener Rede wird beschriben“. Johann Rist: Neues Musikalisches Seelenparadis/ In sich begreiffend Die allerfürtreflichste Sprüche der heiligen Schrifft/ Alten Testaments/ In gantz Lehr- und Trostreichen Liederen und HertzensAndachten. Lüneburg 1660, fol. a 5v–6r; zit. nach Krummacher (Anm. 61), S. 63. 108 Zeller (Anm. 44), S. 48. 109 Klaus Garber: Literarischer und kulturpolitischer Statthalter im Norden Deutschlands. Ein Portrait Johann Rists. In: „Ewigkeit, Zeit ohne Zeit“ (Anm. 61), S. 9–36, hier S. 32. 110 Dies hat Irmgard Scheitler verschiedentlich und durchaus zu Recht betont; vgl. Scheitler: Das Geistliche Lied im deutschen Barock (Anm. 50), S. 235 f., wo sich auch mehrere Rezep tionszeugnisse finden, die diese These stärken, sowie S. 261, wo sie von der „Tatsache“ spricht, „daß das Lied kein Gemeindegesang, sondern ein Gespräch einer frommen Seele mit Gott ist
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dachten, die – im Unterschied etwa zu denen Greiffenbergs – zwar für die intime Privatandacht des Einzelnen konzipiert sind, gleichwohl aber keine dichterische ‚Subjektivität‘ auszudrücken suchen.111 Was Johannes Wallmann für Arndt formuliert hat, trifft grosso modo daher wohl auch auf Rist zu: „[E]r war kein Mystiker, aber ein Liebhaber der Mystik“.112
und insofern seinen eigentlichen Sitz im Leben in der persönlichen Erbauung und nicht in der öffentlichen Liturgie hat.“ 111 Dies eine Annahme, die der älteren Forschung zugrunde lag; vgl. etwa Max von Waldberg, der davon spricht, dass die „in der früheren kirchlichen Lyrik herrschende frische Unbefangenheit im Verkehr mit Gott […] einer weicheren unfreien und dabei doch familiär vertraulichen Demuth zu weichen“ und dass eine „Subjektivität der Empfindung sich vorzudrängen“ beginnt. Max von Waldberg: Art. Rist, Johann. In: Allgemeine deutsche Biographie 30 (1890), S. 79–85, hier S. 83. 112 Wallmann (Anm. 45), S. 74. „Einen eigenen Typ protestantischer Mystik hat er [Arndt] nicht ausgebildet. Er hat den nach der Reformation weithin verschütteten Strom mystischer Sprache und mystischer Bilder der lutherischen Frömmigkeit wieder zugänglich gemacht. […] Johann Arndt ist also kein Repräsentant protestantischer Mystik, sondern der Vermittler mystischer Frömmigkeit an den Protestantismus.“ Ebd. Siehe auch S. 61 f., wo Wallmann ausführt, inwiefern in Arndt „kein Mystiker aus eigenem Erleben [redet]“, sondern vielmehr ein Pfarrer, der dem „Kirchenchristentum“ neue Vitalität zuführen wollte. Wallmann wendet sich mit seinem Beitrag gegen die bestehende Forschung, die z. B. Arndts Vier Bücher vom Wahren Christentum (1605–1610) als „Standardwerk lutherischer Mystik“ bezeichnet; vgl. Zeller (Anm. 44), S. 45.
Rist und die Musik
Konrad Küster
Kein Geistliches Lied: Die Konzepte Rists und seiner Komponisten 1 Lied: Probleme eines Begriffs Was „Lied“ ist, bereitet größtmögliche Definitionsprobleme. Im Grundsatz bis heute zutreffend ist Walter Wioras nüchterne Bestandsaufnahme aus dem Jahr 1971, mit der er die Vieldeutigkeit der Begriffsverwendung („entweder zu weit oder zu eng“) grundsätzlich damit erklärte, „daß in der Musikwissenschaft wie in der Germanistik neben dem vagen Sammelnamen ein ziemlich bestimmter Begriff von Lied und zumal von Liedhaftigkeit weit verbreitet ist“. Doch dieser „ziemlich bestimmte Begriff“ sei im Einzelnen weder tragfähig noch begründbar. „Ziemlich bestimmt“ ist jedoch bei genauerer Prüfung nicht der Begriff, sondern eher nur eine unterschwellige Vorstellung, was mit ihm gemeint sein könne. Und so arbeitete Wiora heraus, dass unterhalb jenes Sammelnamens, mit dem das Lied im allgemeinsten Sinn auf „liod“ bzw. „lauda“ zurückgeführt werden könne, keine der weiteren Einschränkungen sich für eine Gattungsdeterminierung eigneten: weder eine Zurückführung auf strophischen Charakter von Text und Melodieverlauf noch die Anforderungen an Fasslichkeit bzw. Volkstümlichkeit oder die Knappheit der Formen. Denn für jede dieser Präzisierungen fänden sich Gegenbeispiele, mit denen Gestaltungsformen aus dem umfassenden Gattungshorizont ausgeschlossen würden, die in diesen aber einzubeziehen seien.1 Somit bleibt als einzige belastbare Begriffsschicht etwas übrig, das kaum enger gefasst ist als „Musik“. Folglich gibt es diesen ‚Liedbegriff im weiteren Sinne‘, der in sich so undifferenziert wirkt, dass er sich nicht für Gattungsbestimmungen eignet, und einen ‚Liedbegriff im engeren Sinne‘, der aber im Unbewussten gründet, dessen Verwendung auch emotional determiniert sein kann und der sich nicht argumentativ stützen lässt. Für historische Arbeit ist „Lied“ somit eine problematische Kategorie: Ermittelbar ist zwar die historische Verwendung des Begriffs, doch man gelangt auch damit nie zu Merkmalen, die sich als gattungsprägend begreifen lassen oder mit deren Hilfe historische Entwicklungslinien nachgezeichnet
1 Walter Wiora: Das deutsche Lied. Zur Geschichte und Ästhetik einer musikalischen Gattung. Wolfenbüttel, Zürich 1971, S. 15–21, Zitate S. 16 f.
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werden könnten – weil auch die historische Begriffsverwendung zwangsläufig wiederum entweder „im weiteren Sinne“ oder „emotional“ erfolgt. Jüngere Forschungsansätze machen zusätzlich deutlich, welches Problembewusstsein erforderlich wäre. Im Umfeld der „Lieder“ Johann Rists ist einerseits auf den Versuch Werner Brauns zu verweisen, in der historischen Überlieferung ein eigenes „Barocklied“ freizulegen und abzugrenzen, andererseits auf Forschungstendenzen der Popularmusikforschung, in denen für das deutschsprachige „Lied“ des 16. Jahrhunderts der Gedanke der Volkstümlichkeit2 relativiert wird. Der erste dieser Ansätze liegt in der umfassenden Barocklied-Studie Werner Brauns von 2004 vor. Auch Braun setzt sich an ihrem Anfang mit der Gattungssystematik auseinander, interpretiert Wioras differenzierte Überlegungen aber kaum sachgerecht, wenn er schreibt: „Die Sache ‚Lied‘ ist durch Walter Wiora idealtypisch bestimmt worden: als eine Aufeinanderfolge von Strophen gleichen Baus, die auf ein und dieselbe Melodie zu singen sind.“3 Dass Wiora unterhalb der Schicht „Lied“ keine gattungstragenden Aspekte mehr sah, wird von Braun in eine andere Richtung gewendet: Es ging ihm nicht um eine Einschränkung des Gattungsbegriffs als solchem, sondern um die Freilegung des „deutschen Barockliedes“ als eines eigenen Forschungsaspekts. Hierzu grenzte er sich auf nochmals andere Weise von Wiora ab; dessen Zurückhaltung in dieser Frage führte er auf die Formel „Heinrich Albert und dann nur ein halbes Jahrhundert“ zurück, die Braun jedoch als geradezu ideale Grundlage für die Feststellung von „Gattung“ erschien.4 So konnte er daraufhin seine Erfahrungen mit dem spezifischen Repertoire des „deutschen Barockliedes“ darstellen. Also tritt hier ein Gattungskonstrukt hervor, das als eine charakteristische Erscheinung der Kunstproduktion des 17. Jahrhunderts (genauer: in dessen Mitte und Schlussphase) anzusehen sei. Dem wird weiter nachzugehen sein. In der Popularmusikforschung zeigt sich ein benachbartes Resultat, aber aus anderer Perspektive. Ins Zentrum gerückt wird der Medienwechsel des 16. Jahrhunderts, der mit den zunehmend populär werdenden Drucktechniken für Musik
2 Gesprochen wird in ihnen vielmehr von „populärer Musik“; der Begriff, offensichtlich als Übersetzung von „popular music“ verstanden, mischt sich aber damit, dass mit „populär“ auch das wirkungsästhetische Resultat beschrieben wird (weite Verbreitung, Bekanntheit). Da dieses jedoch gerade nicht gemeint ist, sondern viel eher der Gebrauch von Kunstmitteln, die eine Breitenwirkung erst ermöglichen, wäre ein Adjektiv „popular“ zu verwenden – das sich allerdings von einem (nicht notwendigerweise romantisch überfärbten) „volkstümlich“ nicht trennen ließe. 3 Werner Braun: Thöne und Melodeyen, Arien und Canzonetten. Zur Musik des deutschen Barockliedes. Tübingen 2004, S. 5. 4 Braun (Anm. 3), S. 6 (zu Wiora [Anm. 1], S. 96).
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zusammenhängt.5 Das Schlüsselbeispiel für „deutsches Lied“ sind dabei die „Frischen teutschen Liedlin“ von Georg Forster, im Druck erschienen seit 1539; Liedsammler des 19. Jahrhunderts meinten in ihnen die zentrale Quelle für altes deutsches Volkslied erkennen zu können. Doch Forster brachte diese Werke in der Frühzeit des Notendrucks heraus, also als exklusive Publikationen, die somit nur auf ein aristokratisches Musizieren abzielen konnten; vielstimmig besetzt, handelt es sich zudem um Ensemblemusik. Postuliert man dennoch einen popularen Charakter auch schon für das 16. Jahrhundert, ergibt er sich allenfalls in der gebrochenen Sicht jener Oberschicht.6 Das Resultat ist insofern erstaunlicherweise nicht grundsätzlich entfernt vom „Kunst-Lied“ des frühen 19. Jahrhunderts. Für die Medienkultur zentral erscheint hier zudem der Vergleich mit der frühen italienischen Sammeldruck-Produktion weltlicher Musik, ausgehend von den elf Frottole-Büchern von Ottaviano Petrucci (erschienen 1504–1517): Auch hier ist artifizielle, ‚komponierte‘ mehrstimmige, populare Musik veröffentlicht worden, die trotz vermutlich geringer Auflagezahlen ein weites Publikum erreicht hat, allerdings auch hier vorrangig in der begüterten und kulturell interessierten Oberschicht. Auch das „Barocklied“ ist durch diese Medienkultur begünstigt und vielleicht sogar in seinen künstlerischen Zielsetzungen von diesen äußeren Bedingungen geprägt worden. Doch diese waren nicht auf den deutschen Sprachraum begrenzt: weder die medialen Möglichkeiten noch die Rezeption in einer gebildeten Oberschicht noch die potentielle Abstimmung der musikalischen Substanz auf diese Rezeptionsform und die damit ermöglichte Breitenwirkung. Diese Kriterien finden sich ähnlich für die französische Chanson des 16. Jahrhunderts, besonders aber für die italienische Aria des 17. Jahrhunderts – gleichfalls eine Entdeckung der Musikforschung erst im späten 20. Jahrhundert. Mit der Aria ist ein sensibler Punkt erreicht. Denn auch bei ihr handelt es sich um „eine Aufeinanderfolge von Strophen gleichen Baus, die auf ein und dieselbe Melodie zu singen sind“ – oder zumindest auf ähnliche Melodielinien. Und ebenso wie im „Lied“ des 16. Jahrhunderts oder im Kunstlied des 19. Jahrhun-
5 Zurückzuführen auf Ottaviano Petruccis Erfindung des Notensatzes mit beweglichen Lettern (1498). 6 Albrecht Classen: Georg Forster – ein Liedersammler als Zeuge des globalen Medienwandels. ‚Volkslieder‘ als späte Zeugen der kollektiv-populären Kultur des Spätmittelaters. In: Ders. u. a. (Hg.): Kultur- und kommunikationshistorischer Wandel des Liedes im 16. Jahrhundert. Münster i. W. u. a. 2012 (Populäre Kultur und Musik 3), S. 35–55, bes. S. 40 f. und 45 f.; Nils Grosch: Lied und Medienwechsel des 16. Jahrhunderts. Eine Einleitung. In: Ebd., S. 7–15, bes. S. 15; umfassend hierzu ders.: Lied und Medienwechsel im 16. Jahrhundert. Münster i. W. u. a. 2013 (Populäre Kultur und Musik 4).
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derts gibt es zunächst Aspekte, in denen das Volkstümliche durchzuschimmern scheint, jedenfalls aber in einer artifiziellen Brechung. Kurz zusammengefasst,7 gelang es in Italien um 1600, volkssprachige Texte in strophischer Anlage, wie es sie schon lange gab, als Kunstdichtung zu etablieren – neben dem (nichtstrophischen) Madrigal, für das dieser Schritt schon im frühen 16. Jahrhundert getan worden war. Madrigal muss für diesen Zugang strikt nach der italienischen Verslehre verstanden werden: als freier Wechsel zwischen 7- und 11-Silblern ohne Strophenbildung, vielfach auch ohne Reim und zudem ohne wiederkehrende Metrik in den einzelnen Versen. Deutsche Lyrik der gleichen Zeit hingegen, traditionell strophisch, ließ sich nach jenem Muster romanischer Sprachen trotz mehrfacher Versuche nicht als Madrigal ausformen, da die freie Behandlung des Versmetrums (Länge-Kürze) sich nicht in die regelmäßige Betonungsstruktur der deutschen Dichtung übertragen ließ. Insofern befand sich deutsche Dichtung hinsichtlich des Kunstcharakters im Hintertreffen gegenüber der italienischen. Inwiefern es für diese wiederum als Nachteil gesehen wurde, nicht auch über deutsche Vers- und Strophengestalten verfügen zu können, ist bislang nicht deutlich geworden; klar ist nur, dass vergleichbare Strukturen in der italienischen Dichtung (Canzonetta) durchaus vorlagen, aber vor 1600 nicht als kunstwürdig galten. Die Aufwertung wurde letzten Endes von einer klar fassbaren Erfinderpersönlichkeit (Gabriello Chiabrera) lediglich auf dem Definitionsweg bestimmt.8 Zur Madrigaldichtung stellt sich die italienische Aria als perfekter Gegenentwurf dar: Sie ist strophisch; deshalb sind die Verse sowohl in ihrer Länge als auch im metrischen Verlauf normiert. Die Entsprechungen der Verse ließen sich ferner mit Hilfe eines Endreims unterstreichen, anders als in der viel prosa-näheren Konstruktion des Madrigals. Der Gegensatz gegenüber diesem wurde für italienische Musikpraxis so elementar, dass in der Oper, ebenfalls ein poetologisches Resultat jenes frühen 17. Jahrhunderts, das Madrigal die rezitativisch-dialogische Ebene prägen konnte, die Aria hingegen die solistisch-gesungene. Nach der Aufwertung strophischer Dichtung in Italien ergab sich für den deutschen Sprachraum ein Dilemma, das nur pragmatisch überwunden werden konnte: War im 16. Jahrhundert die strophisch ausgerichtete deutsche Dichtung
7 Zu Details (mit Literaturhinweisen) vgl. Konrad Küster: „O du güldene Musik!“ Wege zu Johann Rist. In: Johann Anselm Steiger (Hg.): „Ewigkeit, Zeit ohne Zeit“. Gedenkschrift zum 400. Geburtstag des Dichters und Theologen Johann Rist. Neuendettelsau 2007 (Testes et testimonia veritatis 5), S. 77–177, hier S. 85–90. 8 Silke Leopold: Chiabrera und die Monodie. Die Entwicklung der Arie. In: Studi musicali 10 (1981), S. 75–106.
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gegenüber dem Kunstcharakter des italienischen Madrigals angeblich nicht konkurrenzfähig gewesen, arbeitete nun die aufgewertete italienische Strophendichtung mit ähnlichen Formen wie die traditionelle deutsche Lyrik; diese jedoch konnte nicht gleichsam umetikettiert werden, so dass ihr nun (als einst rückständigem Produkt) per Analogieschluss Kunstcharakter zugebilligt wurde. Sie musste also so revidiert werden, dass sie als etwas Neues, quasi Gereinigtes begriffen werden konnte. Hier kamen die Justierungsvorschläge Martin Opitz’ ins Spiel; dass Johann Rist ein glühender Verfechter dieser Ideen war, prägte bereits den Umgang seiner Zeitgenossen mit seinem Werk. Der Blick für eine Orientierung des „deutschen Barockliedes“ an Italienischem war so lange verstellt, wie seitens der Musikwissenschaft keine Zugänge zur Aria bestanden; die Ideen zur frühneuzeitlichen Medienkultur verbinden zudem beide künstlerischen Resultate miteinander. Vor diesem Hintergrund ist kaum erheblich, ob das deutschsprachige als Lied zu klassifizieren ist oder nicht und wie Rists eigene Benennungen zu bewerten sind; viel grundlegender (und somit von vorgelagerter Bedeutung) ist die historische Verortung der Kunstresultate im Wechselspiel europäischen Kulturaustauschs. Im Umgang mit Rist ist also eingehend zu bestimmen, ob und wo sich in dieser deutschen Strophendichtung das Erbe der jungen italienischen Aria findet – unabhängig von der Frage, ob der eine oder andere Begriff genutzt wurde.9 Bei dieser Klärung kommt der Musik eine Kronzeugenfunktion zu. Denn die Kompositionen, obzwar nicht von Rist selbst stammend, übernahmen in der Erstpublikation der Gedichte einen integralen Part, so dass sie als normal intendierte Realisierung erscheinen können, quasi als unmittelbare Konkretisierung der Texte; ohnehin lässt sich der Anspruch einer „parola per musica“ kaum deutlicher machen als durch diese Doppel-Publikationsform. Sie unterscheidet sich ferner von kirchlichen oder außerkirchlichen Gesangbüchern, in denen neben den Texten auch die Musik abgedruckt wird: Entscheidend ist, dass hier die Erstpublikation der Texte musikalisch begleitet wird. Und selbst wenn sich poetische
9 Hierzu die Ausführungen von Hartmut Krones, bezogen auf die Situation des Liedes in Österreich, vgl. http://www.musiklexikon.ac.at/ml/musik_L/Lied.xml (letzter Abruf am 14.06.2014): „Durch die Hinzufügung einer Generalbass-Stimme entsteht bald nach 1600 aus einer längst gepflogenen Aufführungspraxis eine De-facto-Gattung: das Sololied. Während P. Peuerl noch das (in verschiedener Weise ausführbare) mehrstimmige Lied vertritt, wenden sich der Vorarlberger Kapuziner L. v. Schnüffis, der in Dresden wirkende Tiroler Johann Kaspar Horn sowie die am Wiener Hof engagierten J. J. Prinner und J. H. Schmelzer bereits dem neuen Typus zu, der bis weit ins 17. Jh. hinein auch noch die Bezeichnung ‚Aria‘ trägt (die später den kunstvolleren Genres von Oper, Singspiel, Oratorium oder Kantate vorbehalten bleibt).“
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und kompositorische Ideen zu unterscheiden scheinen,10 bilden die Werkrealisierungen medial eine Einheit; Rist hat die Musik im bibliographischen Sinne de facto autorisiert. Insofern muss sein individueller Begriffszugang zu „Lied“ auch den umfasst haben, den seine Kooperationspartner vertraten. Rists „Lieder“ sind insofern eine interdisziplinäre Herausforderung, ähnlich wie die italienische Aria. Wenn Textpartien in dieser melismatisch vertont oder Ritornelle zwischen Strophen eingeschoben worden sind, resultiert dies nicht direkt aus den Texten, sondern ergibt sich im kompositorischen Umgang mit diesen; die regelmäßige Gestaltung der Verse und Versfolgen bleibt als textliche Grundlage unverändert, über weite Strecken des 17. Jahrhunderts auch das strophische Prinzip. Für die italienische Aria lassen sich beide Aspekte nicht voneinander trennen: Ebenso wie der Strophenbau die Musik prägt, trägt auch die differenzierte kompositorische Ausarbeitung zum Verständnis der Texte bei. Oder anders: „Aria“ ist ebenso Text, wie sie Musik ist, auch wenn der Begriff zunächst auf Musik zu verweisen scheint; wenn sich also im deutschen „Barocklied“ die gleichen kompositorischen Herausforderungen auswirken, wäre es folglich fatal, sie grundlegend anders zu bewerten – quasi als eigentlich nicht intendierten Überschuss jenseits einer volkstümlich ausgerichteten Dichtung. Gerade die „parola per musica“ Rists zwingt hier zu einer Betrachtungsweise analog zu italienischen Praktiken. Für Rists Dichtungen müssen also dichterische und musikalische Zuordnungen parallel erfolgen. Erst in zweiter Linie kann es darum gehen, zu welchem Zweck ein Lied genutzt werden soll: im Gottesdienst, in der Lateinschule, zu Hause in religiösem oder allgemeinerem Rahmen. Rist selbst betont jedoch diesen Nutzungsaspekt schon in den Titeln seiner Drucke, und seine Bezeichnungen erweitern das Bedeutungsfeld noch. Denn neben „Liedern“ spricht er vielfach von „Andachten“, einmal auch von „Gesprächen“.11 Auf die Gestalt der Texte hat dies offensichtlich keine Auswirkungen; die Begriffe bezeichnen nur genauer, worum es in der Summe der Texte inhaltlich geht – aber eben nur: der Texte. Im Untertitel sowohl der Sabbahtischen Seelenlust von 1651 spricht Rist ferner davon, es handele sich um „Lehr- Trost- Vermahnungs- und Warnungsreiche Lieder über die Sontägliche Evangelien deß gantzen Jahres“; tatsächlich kann ein Text warnungsreich oder über die Evangelien gestaltet sein, nicht aber die Musik. Ein Trostlied wäre musikalisch noch plausibel, weil der Textgehalt in einem etablierten musikalischen Affekt fortgeführt werden kann; doch das funk-
10 Zu der Bewertung, die Wilhelm Krabbe (1910) aus scheinbar kritischen Worten Rists über Schop ableitete, vgl. Küster (Anm. 7), S. 98–102. 11 Johann Rist: Die verschmähete Eitelkeit Und Die verlangete Ewigkeit […]. Lüneburg 1658.
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tioniert für „Lehre“ und „Warnung“ nicht. Rist hat hier also unmissverständlich den Textinhalt beschrieben. So hat eine Bestimmung von der Sache selbst auszugehen: nicht von den Implikationen, die sich mit Begriffen verbinden können, sondern zuallererst von der künstlerischen Substanz im historischen Kontext der Kompositionspraxis. Wie also sieht die Musik aus, die die Erstkomponisten Rists zu dessen Gedichten geschrieben haben?
2 Bestandsaufnahme 2.1 Sigmund Theophil Staden, „Wie tröstlich hat dein treuer Mund“ Relativ unproblematisch wirkt (aus einer emotionalen „Lied“-Perspektive betrachtet) der Umgang mit den zehn Kompositionen, die Sigmund Theophil Staden zu den Neuen Himmlischen Liedern beitrug. Ausgangspunkt ist hier die dritte, das „Flehentliche Buhßlied“, „Wie tröstlich hat dein treuer Mund“.12 Der Text ist in Barform gestaltet, und die Musik folgt dieser Vorgabe. Den jambischen Grundduktus setzt Staden in einer weitgehend durchlaufenden Viertelbewegung um; das Metrum des Textes kann ein Interpret lediglich durch Akzentuierung deutlich machen. Einzig in der Eröffnungszeile wird die Viertelbewegung zweimal (an korrespondierenden Stellen) durch eine Punktierung in der Singstimme variiert. Der Bass ist aufs engste an die Melodie gebunden und folgt ihr nach elementaren Satzregeln, so dass nicht einmal eine präzisierende Generalbassbezifferung erforderlich ist. Von dieser extremen Schlichtheit hebt sich nur der letzte Vers ab: Der Schluss der vorletzten Zeile wird gedehnt, daraufhin tritt eine Pause ein; der Text, der die Schlusszeile einnimmt, wird aus dem musikalisch-inhaltlichen Fluss herausgehoben. Sinnvoll ist dies auch in zahlreichen weiteren der insgesamt 13 Strophen, nicht aber in den letzten drei, in denen der Schlussvers keinen so abgeschlossenen Gedanken enthält. Dennoch widerspricht dies nicht den „emotionalen“ Ideen des Liedhaften: des Ebenmäßigen, Komplikationslosen, Popularen, Eingängigen. Und die Unterstimme ist
12 Notentext: Johann Rist: Neue Himmlische Lieder (1651). Kritisch hg. und kommentiert von Johann Anselm Steiger. Musik von Andreas Hammerschmidt, Michael Jacobi, Jacob Kortkamp, Petrus Meier, Hinrich Pape, Jacob Praetorius, Heinrich Scheidemann, Sigmund Theophil Staden. Kritische Edition des Notentextes von Konrad Küster. Berlin 2013, S. 87.
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offensichtlich nicht zwingend notwendig: Ist sie ein bloßer Vorschlag dafür, eine übergeordnete Melodie mit Hilfe elementarer satztechnischer Mittel zu stützen? Das Erscheinungsbild entspricht nicht den musikalischen Standards, die Rist umgaben, doch war auch dies eine Gestaltung, die er autorisiert und somit akzeptiert hat. Die Problemlagen werden also deutlicher, sobald die denkbaren Gestaltungsformen auseinanderdriften.
2.2 Johann Schop, „Wir haben eine feste Stadt“ Schops Gedichtvertonung wurde 1641 im zweiten Zehn der Himmlischen Lieder veröffentlicht.13 Schon in der Eröffnung werden Bass und Diskant voneinander getrennt geführt; dies wirkt weiter in der zweiten Liedzeile, die im Diskant analog zur ersten gestaltet wird, im Bass jedoch eine andere, neuerlich vom Diskant abweichende Führung erhält. Was die Melodie angeht, wird mit der dritten Zeile eine völlig neue Diktion gefunden; die Zeilen 4 und 5 sind wiederum gleich gestaltet, nicht aber nur als Analogie, sondern als Stufensequenz mit ihren klassischen intensivierenden Intentionen. In einer freien Gestaltung aus Vordersatz und Nachsatz endet die Komposition, erneut in freipolyphoner Führung der beiden Stimmen. Die Musik wird damit nicht regelmäßig deklamiert, sondern ist metrisch differenziert durchorganisiert; Reimpaare werden melodisch korrespondierend gestaltet, und insofern unterscheiden sich auch die musikalischen Gestaltungen von weiteren Versen. Mit den emotionalen Vorstellungen einer Liedhaftigkeit lässt sich dies nicht mehr korrelieren; lediglich der syllabische Vortrag des Textes – allerdings als Abstraktum – ist übrig geblieben. „Wir haben eine feste Stadt“ ist damit eine Komposition, die von allem Anfang auch nicht zum „Lied“ im Sinne eines volkstümlichen Gemeinde- oder Andachtsverständnisses mutieren konnte; sie setzt Erfahrungen im Aufführen von mehrstimmiger Musik voraus und ist nicht einmal auf Einstimmigkeit reduzierbar – die dritte Liedzeile etwa zeigte sonst plastisch, dass ihr andernfalls etwas fehlte.
13 Notentext: Johann Rist, Johann Schop: Himmlische Lieder (1641/42). Kritisch hg. und kommentiert von Johann Anselm Steiger. Kritische Edition des Notentextes von Konrad Küster. Berlin 2012, S. 127 f.
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2.3 „Auf meine Seel und lobe Gott“ Dies verschärft sich im Schlussstück des Ersten Zehn: „Auf meine Seel und lobe Gott“.14 Auch hier ist die Diktion der Bassstimme nicht an die des Diskants gebunden, und zwar ohne Anspielung auf Imitatorik; noch auffälliger sind die Taktwechsel. Ihre Umsetzung folgt nicht mehr strikt dem Proportionendenken der Mensuralnotation des 15. Jahrhunderts, zugleich noch nicht dem Taktbegriff des 18. Jahrhunderts; in jenem zeitlichen Zwischenraum ließ sich beim Aufführen die Relation zwischen einem schnellen Dreiertakt, der in scheinbar großen Notenwerten („tripla maior“) aufgezeichnet wird, und einem langsameren Vierertakt oft jedoch ad hoc bestimmen. Hier allerdings nicht: Die Abschnitte gehen ineinander über. Sinnvoll wird der Vortrag, wenn drei Halbe des Dreiertakts ebenso lang sind wie zwei Viertel des Vierertakts. Doch der musikalische Anschluss erfolgt sofort auf Basis von Achtelwerten: Die Achtel sind also etwas schneller als die Halben des Dreiertakts. Wer dieses Stück aufführt, muss in Takt 8 folglich zunächst die Verlangsamung beherrschen (quasi von Triolen auf Duolen), im selben Kontext aber in Takt 9 die Beschleunigung der Achtel (als Verhältnis Vier gegen Drei). Schops Komposition ist damit eine kunstmusikalische Miniatur, die, würde sie mit dem emotionalen Begriffsverständnis von „Lied“ verknüpft, nicht mehr verständlich wäre. Das Erscheinungsbild ist im Rist-Werkkorpus kein Einzelfall; zu denken ist besonders an die Rist-Vertonungen von Thomas Selle, einem Meister dieser Tempo-Differenzierungen.15 „Auf meine Seel und lobe Gott“ eröffnet jedoch noch weitere Perspektiven. Zehn Jahre später, für die Texte der Neuen Himmlischen Lieder, nennt Rist zu jedem Text an Stelle der Neukomposition noch eine alternative Melodie. In vielen Fällen rekurriert er auf traditionsreiche Kirchenlieder, in manchen jedoch auf Stücke aus den Himmlischen Liedern.16 Das erste erweckt den Eindruck, die Alternativen bezeichneten schlichtere Varianten als die Neukompositionen. Doch gerade auch „Auf meine Seel’ und lobe Gott“ nennt er, und hier ist das Verhältnis umgekehrt; denn Andreas Hammerschmidts Vertonung von „O höchster Gott gib mir Gehör“17 ist deutlich schlichter gehalten als diese Alternative. Folglich schlug Rist den Benutzern seines Bandes vor, hier entweder eine (unbekannte) Neukomposition oder eine kaum besser bekannte, vor allem aber komplexere Komposi-
14 Notentext: Ebd., S. 82 f. 15 Vgl. z. B. „O Finsternis! O Tunkelheit“; vgl. Küster (Anm. 7), S. 157 f. (mit Wiedergabe des Notentexts). 16 Vgl. hierzu den Beitrag von Oliver Huck in vorliegendem Band. 17 Notentext: Rist: Neue Himmlische Lieder (Anm. 12), S. 176 f.
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tion aus den Himmlischen Liedern zu musizieren. Damit ist keinerlei Trennung zwischen individuellen Intentionen Rists und solchen seiner Komponisten mehr denkbar; die Musizier-Alternative hat Rist eigenständig und quasi ohne Not eingesetzt, er war hier völlig frei. Ein Zugang zu Rist, der diesen Aspekt ausspart oder zur quantité négligeable erklärte, würde ihm nicht gerecht.
2.4 „Lebt doch ein jeder Mensch im Streit“ Ein weiterer, keineswegs liedhafter Aspekt kennzeichnet einige Kompositionen, die der Hamburger Organist Jacob Praetorius zu den Neuen Himmlischen Liedern beigetragen hat. In „Lebt doch ein jeder Mensch im Streit“18 erweitert er den syllabischen Vortrag, der für einen Lied-Ansatz ebenso essentiell wie ausreichend wäre; es ist satztechnisch einfach, die Strecken, für die Praetorius eine raschere Bewegung vorgesehen hat, auf die ihr zugrunde liegende Viertelbewegung zu reduzieren. Dieser Ansatz offenbart, dass die Sechzehntel-Anteile emphatischen Charakter haben, und tatsächlich finden sich Figuren wie diese in zeitgenössischen Lehrkonzepten der Gesangsverzierung;19 Virtuosen sollen und können sie frei in einen gegebenen musikalischen Fluss einbringen. Doch Praetorius lässt sie als etwas Obligates mit abdrucken; damit erklärt er, für jeden Nutzer der Zeit erkennbar, seine Werke zu virtuoser Musik. In Kompositionen Christian Flors zu den Musikalischen Seelengesprächen finden sich solche Elemente ebenso, dort jedoch noch dadurch gesteigert, dass die Musizierenden sie auch in so entlegenen Tonarten wie f-Moll umzusetzen haben; zudem gibt Flor eine eigene Erläuterung dafür, wie diese Verzierungstechnik zu verstehen ist.20
18 Notentext: Ebd., S. 266 f. 19 Johann Andreas Herbst: MVSICA MODERNA PRATTICA, ouero maniera del buon canto, Das ist: eine kurze Anleitung, wie Knaben und andere, so sonderbare Lust und Liebe zum Singen tragen, auf jezige Italienische Manier mit geringer Mühe recht gründlich können unterrichtet werden […]. Frankfurt a. M. 1658, Faks. in: Frieder Rempp (Hg.): Deutsche Gesangstraktate des 17. Jahrhunderts. Kassel u. a. 2006 (Documenta musicologica I/43), 2. Faszikel (ohne durchgängige Bandpaginierung). 20 Zur Tonartenfrage vgl. Konrad Küster: „… alle Claves durchgangen“. Vollchromatik bei Johann Rist und Christian Flor. In: Die Musikforschung 60 (2007), S. 333–348; zur Verzierungstechnik ders. (Anm. 7), S. 144–146.
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2.5 „Jesu, der du meine Seele“ Neben diesen vergleichsweise eklatanten Beispielen für Kunstansprüche gibt es auch die subtileren. Die Melodie zu „Jesu, der du meine Seele“, die schon Bach geläufig war, geht zwar von der Komposition Schops in den Himmlischen Liedern aus; eigentlich ist von ihr aber nicht mehr viel übrig geblieben – im Laufe weniger Jahrzehnte ist sie bis zur Unkenntlichkeit entstellt worden. Als Gemeindelied wirkt sie wie eine schematische, in getragenem Viervierteltakt gehaltene Deklamation, als deren Tempo Adagio-Werte angemessen erscheinen. Schop aber hat diese Melodie in einem Dreiertakt komponiert,21 den seine Zeit, wie erwähnt, grundsätzlich als „schnellen Dreier“ auffasste. Auf diese Weise liegt der Kern der jüngeren Adagio-Melodie im beschwingten Duktus eines Tanzliedes. Doch nicht nur das: Schop hat in diesen Duktus geradtaktige Störelemente eingebaut, die dem Lied einen ganz eigenen Charakter geben. Er wechselt also nicht nur zwischen den beiden Erscheinungsformen des sechszeitigen Metrums (3 + 3 neben 2 + 2 + 2), sondern er leitet aus den Quasi-Hemiolen (2 + 2 + 2) auch Verkürzungen als 2 + 2 ab. Wer behauptete, Schop habe hier den Liedduktus verfehlt, verkennt, dass Schop ihn offenkundig gar nicht intendierte.
3 Weiterungen: Heinrich Albert, Johann Wolfgang Franck und Georg Böhm Der Grund für Missverständnisse dieser Art muss in der Annäherung an den Gesamtkomplex „Kirchenlied“ im 19. Jahrhundert gesucht werden. Offensichtlich geprägt von einem dezidiert deutschen Reformationsverständnis, das für Einflüsse der übrigen europäischen Musikkultur keinen Blick hatte, und dem missverstandenen Ansatz, Popularmusik des 16. Jahrhunderts aus Notendrucken jener Zeit erschließen zu wollen, hätte niemand ernsthaft daran gedacht, Liedproduktion auf italienische Wurzeln zurückzuführen oder auch Notendruck für etwas Exklusives zu halten. Doch die italienischen Elemente waren für die Zeit insgesamt eine zentrale Orientierungsgrundlage, und man hat zu fragen, wie sich auf ihr die kompositorischen Resultate ergaben. Heranziehen lassen sich dabei die Beispiele, die Silke Leopold ihrer Studie, die zum Aria-Komplex die richtungweisenden Impulse gegeben hat, als Begleit-
21 Notentext: Rist: Himmlische Lieder (Anm. 13), S. 62 f.
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material beifügt.22 Auch in diesem Repertoire entstanden anfänglich zahlreiche streng syllabisch angelegte musikalische Konzepte, später (vor dem Hintergrund der weiteren Verwendung des Begriffs Aria nicht verwunderlich) rhythmisch und melismatisch fortentwickelte. Insofern zwingt nichts dazu, eine Gattungs-Unterscheidung zwischen Rist-Kompositionen Stadens und etwa Schops zu treffen; in beiden Fällen geht es um moderne vokale Kammermusik der Zeit, die sich – im Druck publiziert – zwangsläufig zunächst an privilegierte Kundenkreise richtete. Das aber gilt für das „Barocklied“ insgesamt, das insofern viel eher als deutschsprachiges Seitenstück der italienischen Aria erscheinen muss – desto mehr, da alle opernrelevanten Aspekte seit etwa 1630 ohnehin das gesamteuropäische Musikverständnis überformten. So müssen traditionelle Zugänge zur Vokalmusik und ihren Texten, die seit dem mittleren 17. Jahrhundert nördlich der Alpen entstanden, justiert werden, seitdem die Aria mit auf die Tagesordnung gesetzt worden ist. Rists Komponisten begannen ihre Vertonungs-Arbeiten minimal später als Heinrich Albert, der die erste große deutschsprachige Arienpublikation 1638 in Königsberg begründet hatte. Alberts Melodie zu „Ich steh in Angst und Pein“ auf einen Text von Simon Dach (aus dem 4. Teil von 1641) zeigt zu einem „Lied“ im „emotionalen“ Verständnis keine Unterschiede (letztlich ähnlich, wie für Staden gezeigt) und ist in deutsche Kirchengesangbücher aufgenommen worden.23 Lediglich der Satzverbund zwischen Singstimme und Generalbass, kompositorisch ebenso elementar wie in Werken der Komponisten Rists, weist in eine andere Richtung. Weitergehende Potentiale, die auch die Ansätze der Rist-Partner erklären, erschließen sich aus den Kompositionen der Gedichte Heinrich Elmenhorsts, des Predigers an der Hamburger Hauptkirche St. Katharinen, von 1681.24 „Welt ist Welt“ wurde von Johann Wolfgang Franck vertont, dem damaligen Hauptkomponisten der Hamburger Oper; tatsächlich sehen seine Arienkompositionen
22 Vgl. den umfassenden Werk-Teil in: Silke Leopold: Al modo d’Orfeo. Dichtung und Musik im italienischen Sologesang des frühen 17. Jahrhunderts. 2 Bde. Laaber 1995 (Analecta musicologica 29), hier Bd. 2: Notenbeispiele und Katalog. 23 Johannes Zahn: Die Melodien der deutschen evangelischen Kirchenlieder. 6 Bde. Gütersloh 1889–1893 (Nachdruck Hildesheim, New York 1963), Nr. 2127; Melodievarianten 2128–2131 (= Bd. 2, 1890, S. 21 f.). Keine Lieder dieser Gestalt in weiteren Gesangbüchern. 24 Edition: Joseph Kromolicki, Wilhelm Krabbe (Hg.): Heinrich Elmenhorsts Geistliche Lieder, komponiert von Johann Wolfgang Franck, Georg Böhm und Peter Laurentius Wockenfuß. Leipzig 1901 (Denkmäler deutscher Tonkunst 45), online: http://javanese.imslp.info/files/imglnks/ usimg/6/6e/IMSLP49031-PMLP103496-DDT045_-_Franck__Johann_-_Boehm__Georg_-_Sacred_ Songs.pdf (letzter Abruf am 14.06.2014); das im Folgenden genannte Lied auf S. 92.
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für diese Opern prinzipiell genauso aus wie seine Bearbeitungen der Gedichte Elmenhorsts.25 Gegenüber den meisten Werken der – ohnehin älteren – Rist-Komponisten ist der syllabische Textvortrag aufgehoben; gleichwohl ließen sich auch in seinen Stücken die melismatischen Bewegungen noch immer theoretisch auf elementare, syllabische Linienführungen reduzieren, ähnlich wie für das Werk Jacob Praetorius’ gezeigt. Noch eine Stufe weiter gehen die Vertonungen Georg Böhms, die in der Elmenhorst-Ausgabe von 1700 enthalten sind. In „Der Tod ist nun verschlungen“26 erlebt man zu Beginn eine imitatorische Koppelung der Generalbass- an die Melodiestimme, deren Pause mit diesem Generalbassbeitrag gefüllt wird; die Textzeile wird obendrein wiederholt. Mehrfach weitet sich der Satz zu Melismen, die nicht mehr nur als verzierte Vierteldiktion aufgefasst werden können, und innerhalb der Strophen gibt es – ähnlich wie in zahlreichen Rist-Urvertonungen – einen Taktwechsel. Wohl niemand käme vor dem Hintergrund der Gattungslehre (oder auch eines eher emotional gesteuerten Lied-Eindrucks) auf die Idee, Böhms Vertonung „Lied“ zu nennen; und doch ist sie dies zwingend, wenn man allein die Terminologie der Zeit zum Ausgangspunkt nimmt. Zu fragen wäre also, wo diese Definitionsgrundlage verlassen wird. Schon für eine Komposition Francks reklamiert Johannes Zahn:27 „Die Selbständigkeit in dem Gang des Basses erinnert an Seb. Bach, der 1685 geboren wurde.“ Doch solche „Selbständigkeit in dem Gang des Basses“ findet man bereits in den Kompositionen Johann Schops zum Zweiten Zehn der Himmlischen Lieder von 1641. Insofern bietet dieser erweiterte Rahmen, der auch die regionale Hamburger Arienpraxis im Elmenhorst-Kreis mit in den Blick nimmt, eine Erklärung dafür, weshalb die Texte Rists in den Bearbeitungen seiner Komponisten nie standardisiert im Gesangbuch heimisch werden konnten (sondern nur ausnahmsweise): Diese Lieder wurden nur dann zu populären Kirchenliedern, wenn sie redaktionell gezähmt werden konnten. Dieses aber war beim überwiegenden Anteil des verfügbaren Materials nicht möglich. Damit, vor allem auch durch die Gegenüberstellung von „O höchster Gott gib mir Gehör“ (Hammerschmidt) mit „Auf meine Seel und lobe Gott“ (Schop, als Alternativmusik zu Hammerschmidts Komposition bezeichnet), wird deutlich, dass die Intentionen nicht nur der Komponisten Rists auf einem anderen Sektor lagen, sondern auch diejenigen Rists selbst.
25 Helmuth Christian Wolff: Die Barockoper in Hamburg (1678–1738). Teil II. Wolfenbüttel 1957, S. 25–30. 26 Edition: Kromolicki, Krabbe (Anm. 24), S. 44 f. 27 Zahn (Anm. 23), Nr. 5177.
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Diese Glättungen setzten schon im 17. Jahrhundert an (etwa an „O Ewigkeit, du Donnerwort“), und daraus ließe sich – bei vorschneller Betrachtung – ableiten, dass Rist und seine Komponisten es nicht vermocht hätten, den Ton des Kirchenlieds zu treffen: so, wie er im mittleren 17. Jahrhundert in Mitteldeutschland formuliert wurde. Das offenbart den entscheidenden Denkfehler: Offenbar strebten Rist und seine Komponisten dieses Kirchenlied gar nicht an, sondern bedienten mit völlig anderen künstlerischen Absichten eine völlig andere Klientel. Auch Andreas Hammerschmidts „Freuet euch, ihr Christen, alle“ (EG 34) ist nicht als Gesangbuchlied entstanden, sondern als groß angelegtes Geistliches Konzert mit einer eingeschlossenen Aria.28
4 Forschungstraditionen Diese Beziehungen zwischen etwas Deutschsprachigem, Strophischem mit geistlichem Text zu etwas Italienischem sind erst durch die neuen Zugänge zur Aria und zur Medien-Situation des 16. Jahrhunderts möglich geworden; auf dieser Grundlage lässt sich zugleich die Plausibilität einer Ausgliederung des Barock„Liedes“ aus der Geschichte jener so schwer fassbaren Gattung verfestigen. Die Schwierigkeit, die aus dieser Situation resultiert, besteht nunmehr darin, sich von Grundfesten eines deutschen Denkmodells abzuwenden. Hierzu sind die Traditionen außerordentlich fest verwurzelt – noch dazu, wie eingangs aus Wioras Überlegungen abgeleitet, im Emotionalen. Dies zwingt dazu, die historische Verortung des Rezeptionsmodells weiter zu profilieren. Für Wiora, Brauns Lehrstuhlvorgänger an der Universität des Saarlandes, war die Beschäftigung mit deutschsprachigem Lied ein roter Faden der wissenschaftlichen Laufbahn. 1937 bei Wilibald Gurlitt in Freiburg mit einer Arbeit über Variantenbildung im Volkslied29 promoviert, habilitierte er sich 1941, nach Gurlitts nationalsozialistischer Amtsenthebung, bei dessen Nachfolger Joseph MüllerBlattau mit einer Studie über die Quellen großer deutscher Volksliedsammlungen des 19. Jahrhunderts. Bis dahin am (weitest möglich unpolitischen) Deutschen Volksliedarchiv in Freiburg arbeitend, übernahm er an diesem nach dem Krieg eine Leitungsfunktion; lebenslang ließ ihn die Liedthematik nicht los.30
28 Zum „Concerto cum Aria“ vgl. Mary E. Frandsen: Crossing Confessional Boundaries. The Patronage of Italian Sacred Music in Seventeenth-Century Dresden. Oxford 2006, S. 229. 29 Diss. (masch.). Freiburg i. Br. 1937; nur auszugsweise im Druck erschienen. 30 Im Überblick Laurenz Lütteken: Art. Gurlitt, Wilibald. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. 2. Ausgabe. Personenteil 17 (2007), Sp. 1032–1035, hier Sp. 1032.
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Wichtig hervorzuheben ist zunächst, dass Wiora wie sein Lehrer Gurlitt „sich gegenüber den Machthabern zurück[hielt]“;31 er ging von dem Gedanken aus, den bis dahin historisch fixierten Liedzugang ethnomusikologisch zu öffnen. Dennoch bleibt eines unverkennbar: Er wäre wohl nie auf die Idee gekommen, für die Gattung, mit der er sich beschäftigte, die unbedingte Verwurzelung im deutschen Sprachraum in Zweifel zu ziehen. Als Ausgangspunkt dieses Denkens lässt sich die Vorstellung heranziehen, die Eckhard John im Hinblick auf Denkmodelle im Umkreis Gurlitts 1933 herausgearbeitet hat.32 „Gurlitts Suche nach dem ‚Deutschtum in der Musik‘ trug erste Früchte“ – zuerst in der Dissertation Wilhelm Ehmanns,33 vor allem in den nur als Manuskript überlieferten Ausführungen Heinrich Edelhoffs: „Die Strenglinigkeit der polyphonen Melodik läßt keine individuellen Sonderbestrebungen zu, Gemeinwohl geht wirklich vor Eigenwohl, was man nicht von jeder Musik behaupten kann.“34 Schon die solistische Virtuosität italienischer Musik musste davon ausgeschlossen erscheinen. Der Ansatz Rists und seiner Komponisten ist mit der italienischen Bezugsform der Aria immerhin besser erklärbar, hat aber im Rezeptionsästhetischen auch andere Seiten (nicht zuletzt mit der Fokussierung auf Textinhalte, die – im traditionelleren italienischen Repertoire – dem Madrigale spirituale nahe stehen). Doch damit wird die Gattung noch nicht wieder zum Lied, es sei denn, man hielte an der so unpräzisen deutschen Begriffstradition von „Lied“ fest, die durch die jüngeren Überlegungen letztlich ihre Grundlage verloren hat. Umso weniger ließe sich von „Geistlichem Lied“ sprechen; denn eine Zusatzanforderung dieser Art wird durch die Unschärfen entwertet, die dem Ausgangsbegriff anhaften. Solange „Lied“ nur meint, ein zumeist gereimter, tendenziell strophischer Text werde auf eine beliebige Weise vertont, geht nahezu jede Definition auf. Doch die damit angesprochene „beliebige Weise“ bedeutet, dass weder Gattungszuordnungen noch Zweckbestimmungen möglich sind. „Geistliches Lied“ hingegen kombinierte mit jener Beliebigkeit der Gattungszuordnung eine deutlich klarere Zweckbestimmung; sie lässt noch immer offen, ob von Liturgie, Bibel oder individuellem Glauben gesprochen wird, engt das Feld aber auf einer viel konkreteren
31 Ebd., Sp. 1033. 32 Eckard John: Der Mythos vom Deutschen in der deutschen Musik: Musikwissenschaft und Nationalsozialismus. In: Ders. u. a. (Hg.): Die Freiburger Universität in der Zeit des Nationalsozialismus. Freiburg i. Br., Würzburg 1991, S. 163–190, das folgende Zitat S. 167. 33 Auf eine kürzest mögliche Formel gebracht ebd., S. 185, Anm. 15: „Ehmann grenzt die Musikanschauung des ‚nordisch-deutschen‘ Adam von Fulda gegen ‚südliche Humanistenmusik‘ (etwa Ludwig Senfl) ab. ‚Seinsmusik der Gemeinschaft‘ stehe gegen ‚Ichmusik‘.“ 34 Wie Anm. 32.
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Stufe ein, als der Begriff „Lied“ es ermöglicht. Ist es folglich nicht viel sinnvoller, die musikalischen Erstbearbeitungen der Gedichte Rists als vokale Kammermusik mit geistlichem Text zu sehen, die erst post festum bearbeitet worden ist: nach dem Gesichtspunkt des Kirchenliedhaften popularisiert, hierzu eigens bearbeitet oder zumindest in diesem Rahmen bewertet? Offenkundig kristallisierte sich in Rists Umkreis ein Gattungsverständnis heraus, in dem deutsche und italienische Zugänge miteinander verschmolzen wurden – quer über Grenzen hinweg, die eine zu stark national determinierte Gattungsauffassung gezogen hat. Ausgehend von der italienischen Aria (auch so, wie Heinrich Albert sie verstanden hatte) kam es zu einer regionalen Sonderform: Eine ihrer Spielarten ließe sich (lediglich emotional gesteuert) als Lied bezeichnen wie bei Albert und Staden. Die Hamburger und Lüneburger Komponistengruppe jedoch entwickelte diese Kunst eigenständig weiter, in der Generalbass praxis auch auf die Möglichkeiten des Geistlichen Konzerts reagierend. Letztlich ist die Gruppe in sich geschlossen: Kontakte Schops und der anderen Hamburger Komponisten waren selbstverständlich; diese Kunst wurde an die frühe Hamburger Oper weitergegeben, die ihrerseits erst Johann Wolfgang Franck prägte, später Georg Böhm – der seinerseits in Lüneburg Nachfolger Flors wurde. Die musikalische Zielgruppe muss zuallererst die gewesen sein, die sich gedruckte Bücher kaufte; das großstädtische Patriziat hatten alle diese Musiker ebenso vor Augen wie das agrarische Seitenstück in den Marschen an der Nordsee oder den holsteinischen Adel. Auch im weiteren Sprachraum des deutschen Protestantismus gab es entsprechende Kundenkreise einer strophischen Kammermusik mit geistlichem Text. Und letztlich ist es genau dies, was den Eindruck am klarsten prägt. Vor diesem Hintergrund ist zweifelhaft, ob es sachgerecht ist, die „Lied“Kunst des Rist-Kreises zudem aus rezeptionsästhetischem Blickwinkel zu charakterisieren: Widerspricht die Einschätzung als „deutsche barocke Aria“ – im Sinne italienischer Kunst der Zeit um 1630/40 – Titelbegriffen wie „Andacht“? Oder waren die Stücke lediglich „andächtig“ im Sinne von „nichtprofan“?35 „Geistliches Lied“ kann zudem im gegebenen Kontext ebenso wenig ein Gattungsbegriff sein, wie „geistliche Musik“ eine Gattung ist; „geistliches Lied“ implizierte einen systemischen Unterschied gegenüber etwas Weltlichem, den es aber gerade für Rist und seinen Kreis auf dem Feld dieser Kunstproduktion zweifellos nicht gab.
35 Adelung: http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=Adelung&lemid=DA 02003. Andächtig (vor allem im Niederdeutschen) = tiefsinnig; vgl. auch niederländisch „aandacht“ für „Aufmerksamkeit“, „Beachtung“ (die Institution „Andacht“ ist dort nicht in Sichtweite).
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In den Vordergrund zu rücken ist demnach das Artifizielle – hier weniger dasjenige der Dichtung Rists, sondern noch mehr das seiner musikalischen Kooperationspartner, die gegenüber dem, wozu die Texte im Sinne musikalischer Mindestanforderungen Anlass zu geben scheinen, einen weiten Überschuss bildeten. Im Gegenzug ist folglich zu fragen, ob das Strophische, das im Sinne des fragwürdigen Wiora-Zitats durch Braun scheinbar pauschal das Liedhafte implizierte, sich nicht auch auf der Seite des Textlichen auf der gleichen Stilhöhe bewegt wie die Musik: Für diese ist der Unterschied zur „Liedhaftigkeit“ offensichtlicher als für den Text – dem man mit einer solchen Bewertung aber möglicherweise nicht gerecht wird. Unzweifelhaft sind auf ihre Weise und in ihrer stilistischen Welt viele Rist„Vertonungen“ dezidiert Kunstmusik, zudem weit von jeder Volkstümlichkeit abgerückt – beides unbeschadet der strophischen Konzeption, beides zudem weitaus mehr als manches Kunstlied des 19. Jahrhunderts. Es war viel leichter, ein solches – den Volkstümlichkeits-Idealen des 18. Jahrhunderts folgend – zum Popularmusikalischen hin zu verengen („Am Brunnen vor dem Tore“), als dieses mit den „Rist“-Liedern möglich war: Die Eingriffe, die vor deren gottesdienstlicher Nachnutzung erforderlich schienen, waren weitaus gravierender.
Oliver Huck
„nach der Melodie meines aus den himlischen wolbekanten Liedes“ Rists Melodieverweise auf seine eigenen geistlichen Lieder Innerhalb des über 700 Texte umfassenden Korpus von Johann Rists Carmina spiritualia1 liegen zu 658 Texten insgesamt 678 Vertonungen vor.2 Rist hat zwar jedem Lied einen neu komponierten zweistimmigen Satz beigegeben,3 dennoch stellen jene Publikationen, die ausschließlich die Möglichkeit bieten, die Lieder auf neue und eigene Melodien zu singen, die Ausnahme dar. Lediglich in den ersten beiden Sammlungen, den Himlischen Liedern sowie dem Leiden und Sterben, verfährt Rist durchgehend und ausschließlich so. Alle künftigen Bände enthalten neben neu komponierten Melodien stets auch Verweise auf bekannte Melodien. Ausnahmen hiervon sind neben jenen 19 Liedern in den Paßions-Andachten, die
1 Vgl. Johann Anselm Steiger: Carmina spiritualia Ristiana. Bibliographie sämtlicher geistlicher Lieder Johann Rists (1607–1667). In: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 52 (2013), S. 171–204. Die dort verwendeten Abkürzungen für die Rist’schen Publikationen werden hier (vgl. Anhang I) übernommen. In vier der Sammlungen sind weder Vertonungen, noch Angaben zu Melodien enthalten, auf die die Texte zu singen wären, es sind dies: Poetischer Lust-Garte. Hamburg 1638; Starker Schild GOTTES. Hamburg 1644; Poetischer Schauplatz. Hamburg 1646 und Betrachtung/ Der überaus schweren Anfechtungen/ mit welchen offtmahls eine Christliche Seele biß auff die euserste Verzweiflung wird geplaget. O. O. 1665. Es handelt sich damit nicht um geistliche Lieder in einem musikalischen, sondern lediglich in einem textlichen Sinne. 2 Die Liedtexte aus HV und LS sind erneut in NHL bzw. PA vertont. Carl Winterfeld: Der evangelische Kirchengesang und sein Verhältnis zur Kunst des Tonsatzes. Teil 2. Leipzig 1845, S. 432, nennt 611 Texte und 629 Vertonungen, er unterschlägt dabei HV, VE I und VE II. 3 Folgende Kompositionen sind durch kritische Ausgaben verfügbar: Johann Rist/Johann Schop: Himmlische Lieder. Kritisch hg. und kommentiert von Johann Anselm Steiger. Kritische Edition des Notentextes von Konrad Küster. Berlin 2012; Johann Rist: Neue Himmlische Lieder. Kritisch hg. und kommentiert von Johann Anselm Steiger. Kritische Edition des Notentextes von Konrad Küster. Berlin 2013; Johann Rist/Martin Coler: Neue Hochheilige Passions-Andachten. Kritisch hg. und kommentiert von Johann Anselm Steiger. Kritische Edition des Notentextes von Oliver Huck und Esteban Hernández Castelló. Berlin 2015. Eine Ausgabe des Seelenparadises bereiten die letztgenannten derzeit vor. Zu den Kompositionen vgl. grundsätzlich Konrad Küster: „O du güldene Musik!“. Wege zu Johann Rist. In: „Ewigkeit, Zeit ohne Zeit“. Gedenkschrift zum 400. Geburtstag des Dichters und Theologen Johann Rist. Hg. von Johann Anselm Steiger. Neuendettelsau 2007 (Testes et testimonia veritatis 5), S. 77–180.
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bereits Hinrich Pape4 im Leiden und Sterben vertont hatte,5 nur wenige zu verzeichnen; lediglich neun der verbleibenden 570 Lieder können ausschließlich in ihrer „eigenen gantz neüen Melodei“ (NHL, S. 248) gesungen werden.6 Neben Kirchenliedern, die Rist jedoch vielfach als Haus- und Kirchenlieder bezeichnet, dienen ihm mit Ausnahme der Sabbahtischen Seelenlust dabei stets auch Vertonungen eigener Texte als Melodievorlagen. In Bezug auf die nahezu 500 Melodieverweise auf rund 80 Kirchenlieder ist noch zu klären, welche Melodiefassungen Rist intendiert hat. Für das Territorium, zu dem Wedel gehörte, gab es kein Gesangbuch, und die Kirchenordnungen von Paul Walther (1635) und Adam Olearius (1665) enthalten zwar Lieder, jedoch keine Melodien.7 Es zeichnet sich jedoch ab, dass sich Rist vielfach am Repertoire und wohl auch an den Melodiefassungen der Hamburgischen Gesangbücher, vor allem an David Wolders New Catechismus Gesangbüchlein (1598), orientierte.8 Daneben sind direkt oder
4 Pape wurde immer wieder mit seinem gleichnamigen Sohn verwechselt, vgl. etwa SL (Kurt Gudewill): Art. Pape, Heinrich. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart: Personenteil. 2. Aufl. 13 (2005), S. 90 f. Es ist sein Sohn Hinrich Pape (1634–1675) und nicht Pape selbst, der 1660 Lehrer und Organist in Glückstadt wurde und diese Tätigkeit für kurze Zeit 1662–1663 unterbrach, um das Organistenamt an St. Jacobi in Stockholm zu übernehmen. Vgl. Carl Johan Pape: Organisten und Musikanten des Namens Pape in Schleswig und Holstein. In: Zeitschrift für Niederdeutsche Familienkunde 60 (1985), S. 1–49, hier S. 15–18. Der Grund, warum Rist mit Martin Coler für die erweiterte Fassung des Leiden und Sterben als Paßions-Andachten einen neuen Komponisten suchte, ist schlicht darin zu suchen, dass Pape, der bereits seit längerem hinfällig war (vgl. ebd., S. 10 f.), nicht mehr zur Verfügung stand. 5 Vgl. die zwölf Andachten „Uber unseren Allerlibsten HErren und Seligmacher JESUM/ Wie Derselbe/ zu Seinem Allerheiligsten Leiden ist hingeführet/“ und die sieben Andachten über die „Allerheiligste/ Jämmerlich geplagte/ und zermarterte Glieder“. Rist: Passions-Andachten (Anm. 3), S. 131 ff., 343 ff. und 429 ff. 6 In den Neuen Himlischen Liedern sind dies lediglich „GOtt/ der du den Klooß der Erden“ (NHL I/9, S. 56), bei dem Rist zwar angibt, es sei „Jn unterschiedlichen neüen Melodeien andächtig und bußfertig zu singen“, jedoch weder auf die dem Erstdruck des Textes (HV) beigegebene Melodie, noch auf die dort angegebene Alternative (HL I/7) so verweist, dass sie für den Leser auffindbar wären, „WAch’ auf/ wach’ auf du sichre Welt“ (NHL V/8, S. 248) und „WJrd den nun der Tag anbrechen“ (NHL IV/10, S. 262), daneben „Wo flieh Jch armer hin/ wem sol ich Mich vertrauen?“ (AH Nr. 4, S. 14), „WAch’ auf Mein Geist mit Freuden/ Hinweg Sorg’/ Angst und Leiden“ (AH Nr. 70, S. 378), „O Fröliche Stunden!“ (NFA Nr. 27, S. 174), „WJe geh’ ich so gebückt“ (DSch Nr. 4, S. 22), „REcht wunderbahrlich stund gebauet“ (NMS.NT Nr. 34, S. 202) und „O Süsser Jesu hilff! Es ist zu groß mein Schade“ (PA, S. 284). 7 Vgl. Emil Brederek: Geschichte der schleswig-holsteinischen Gesangbücher. I. Teil: Die älteren Gesangbücher (bis 1771). Kiel 1919 (Schriften des Vereins für schleswig-holsteinische Kirchengeschichte I/9), S. 3 ff. 8 Vgl. auch die Einführung und den editorischen Bericht zur Edition der Musik in Rist: PassionsAndachten (Anm. 3), S. 496 ff.
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indirekt Ambrosius Lobwassers Psalter deß Königlichen Propheten Dauids (1573) und Philipp Nicolais FrewdenSpiegel deß ewigen Lebens (1599) zu nennen; einige weitere Lieder, die Rist verwendet, sind u. a. in Johann Crügers Neuem vollkömmlichen Gesangbuch (1640, ab 1647 unter dem Titel Praxis pietatis melica) enthalten. Hier sollen jedoch die 1169 Entlehnungen aus und Verweise auf Rists eigene Sammlungen geistlicher Lieder näher betrachtet werden. Wie stark Rist selbst – von dem kaum anzunehmen ist, dass ihm alle Melodien zu seinen Texten gegenwärtig waren – dabei selektiert, sei an zwei Zahlen verdeutlicht: 1658, im Jahr des Erscheinens der zweiten Gesamtausgabe der Himlischen Lieder, lagen insgesamt bereits 374 Kompositionen in Rists Publikationen geistlicher Liedern vor, für sämtliche erschienenen Publikationen (wovon allein die nach 1658 gedruckten 285 neue Texte enthalten) wählte er daraus lediglich 27 aus, auf die er neue Texte dichtete. Mit Ausnahme eines einzigen Liedes von Michael Jacobi, „O Schöpffer aller Dinge/ Du Väterliches Hertz“, aus der HAußmusik (Nr. 68, S. 368 f.) und drei Liedern von Heinrich Scheidemann – „WJe magst Du Dich so kränken“ und „NUn Welt/ du must zu rükke stehn“ aus den Neuen Himlischen Liedern (V/6 und V/10)10 sowie „LObet GOtt im Heiligtum“ aus dem ersten Teil der Verschmäheten Eitelkeit (Nr. 22, S. 384) – handelt es sich dabei durchweg um Lieder von Johann Schop11 aus den Himlischen Liedern, insgesamt 23 (vgl. Anhang II). Ob Rist sich später stets noch darüber im Klaren war, in welcher Sammlung sich die ihm geläufigen Melodien finden, darf bezweifelt werden, wenn er für eine Melodie aus der HAußmusik angibt, sie sei in den „Sonderbahren Liedern“ (PA, S. 224), also den Neuen Himlischen Liedern, zu finden und auf die Neuen Himlischen Lieder schlicht als „himlische Lieder“ (NMS.AT, S. 299 und NMS.NT, S. 294) verweist. Mit fortschreitender Verbreitung der Himlischen Lieder und der steigenden Zahl der Ausgaben änderte Rist die Bezeichnungen seiner Verweise, insbesondere die Erscheinungsjahre der beiden Gesamtausgaben (1652 und 1658)12 markieren hier Einschnitte. Hatte er 1648 zunächst das angegebene Lied gar nicht
9 Dreimal gibt Rist alternativ die Melodie eines Kirchenliedes und die eines eigenen Liedes an, vgl. „ALles was der HErr geschaffen“ (KA, S. 286) und „LJbster/ wilt du meiner wahrten“ (VE I, S. 365), die entweder auf „Wie nach einer Wasserquelle“ oder nach HL III/8 gesungen werden können, sowie „GUte Nacht du schnöde Welt“ (VE II, Nr. 24, S. 663), das entweder auf „Christus, der uns selig macht“ oder auf VE I, Nr. 22 gesungen werden kann. 10 Vgl. Rist: Neue Himmlische Lieder (Anm. 3), S. 351 f. und 376 f. 11 Vgl. zu Schop zuletzt Walter Jarecki: Neues aus dem Leben des Komponisten Johannes Schop († 1667). In: Die Musikforschung 62 (2009), S. 38–41. 12 Vgl. Johann Rist: Himlische Lieder. Lüneburg 1652 und Johann Rist: Himlische Lieder. Lüneburg 1658.
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als ein eigenes bezeichnet, sondern gleichsam aus den Himlischen Liedern zitiert (HV, G4r „auf die Melodei des siebenden Gesanges im Ersten Theil der himlischen Lieder“), so zitiert er in den Neuen Himlischen Liedern nur noch einmal, spricht nun jedoch explizit von „meinem“ Lied.13 An anderer Stelle der Sammlung gibt er die Quelle nicht mehr an, sondern bezeichnet die Melodie als jene „meines schon längst gesetzten“14 bzw. „meines bekanten“15 Liedes. Mit Ausnahme des einzigen Liedes aus dem zweiten Teil der Himlischen Lieder, das wiederum gleichsam zitiert wird („wird gesungen nach der Weise des Lobgesanges des Priesters Zacharias/ welches ist das Zehnde unter den Triumph=Liedern/ Meiner Himlischen“, NFA, S. 238) bezeichnet Rist dann in der HAußmusik und in den Fest-Andachten alle Lieder als „bekannt“16, je eines als „wolbekant“ (AH, S. 114 und NFA, S. 318). Hintergrund dafür dürfte sein, dass die Himlischen Lieder 1652 nach mehreren Ausgaben der einzelnen Teile erstmals als Gesamtausgabe gedruckt wurden, in deren Vorrede Rist feststellt, dass dise gegenwertige Weisen nunmehr durch gantz Teütschland dermahssen bekant sind, daß Sie auch von denen/ welche der Musik nicht eben kündig/ Ja so gahr von Weibespersonen/ Kinderen/ Knechten und Mägden gahr fein gesungen werden/ mahssen Jch eß Selber merhmahlen unbekanter weise angehöret und Mich höchlich habe verwundert/ wie doch solche Leütlein/ welche deß künstlichen Singens gantz unwissend/ gleichwol solche theils schwehre Melodeien haben fassen oder behalten können?17
In der DankSchuhle bezeichnet Rist dann nur noch zwei Lieder als „bekannt“ (DSch, S. 104 und 236), die Mehrzahl hingegen als „wolbekant“, je eines als „gantz wolbekannt“ (DSch, S. 218) und „nicht so gahr unbekant“ (DSch, S. 306),18 einmal spricht er so wie bei den Kirchenliedern von „unserem“ (DSch, S. 269) Lied. Hintergrund für diese selbstbewusste Haltung dürfte die zweite Gesamtausgabe von 1658 sein. In den vier weiteren Bänden (NMS.AT, NMS.NT, PA und VE II) setzt Rist dann konsequent alle Lieder als „wolbekant“ voraus. Nur selten quali-
13 Vgl. Rist: Neue Himmlische Lieder (Anm. 3), S. 131: „auf die Weise meines eignen Liedes/ welches das Vierte ist im dritten Theil meiner vor disem heraußgegebenen Himlischen Liedern“. 14 Ebd., S. 178. 15 Ebd., S. 159. 16 Mit der variierten Bezeichnung „bekante Melodei“ (AH, S. 208) trägt Rist der Tatsache Rechnung, dass er die Melodie von „O Trawrigkeit! O Hertzeleid!“ selbst nur übernommen hat. 17 Rist/Schop: Himmlische Lieder (Anm. 3), S. 470. 18 Nicht signifikant, da jeweils überhaupt nur ein Lied bzw. Lieder mit Verweis(en) auf eine Melodie aus den Himlischen Liedern in den entsprechenden Bänden enthalten sind, sind die diese Chronologie entgegenlaufenden Bezeichnungen „wolbekant“ (KA, S. 286 und VE I, S. 365) und „bekannt“ (VE I, S. 404).
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fiziert er die Melodien, die er in der Vorrede zur ersten Gesamtausgabe als „herliche und süsklingende Melodeien“ bzw. „übertrefliche Melodeien“19 bezeichnet hatte, durch zusätzliche Bezeichnungen als „schön“ (NHL, S. 92 und VE II, S. 581) bzw. „fein“ (DSch, S. 236 und VE II, S. 496), mit einer Ausnahme stehen diese alle gerade nicht im ersten Teil. Worauf verweist Rist, wenn er eigene Lieder angibt? Bei den Kirchenliedern steht außer Frage, dass er auf die Melodien verweist, seine eigenen Lieder liegen jedoch durchweg als zweistimmige Sätze vor. Wenn er bemerkt, das Lied sei „schon längst gesetzt“,20 dann dürfte die gesamte zweistimmige Faktur angesprochen sein, denn im Vorwort zum ersten Teil der Himlischen Lieder führt Rist aus, Schop habe auff etliche dieser Lieder sehr schöne/ vnd sich nach Gelegenheit der Worte trefflich wol schickende Melodeyen (wiewol nur auff der Eile) […] gesetzet/ vnd doch also/ daß dieselbe fast nach Art dero heut zu Tage üblichen Concerten/ mit zweyen Stimmen/ als einen Baß vnd Discant/ in eine Orgel/ Regal/ Clavicymbel/ Laute vnd dero gleichen Jnstrumente zu Lobe Gottes vnd Auffmunterung des inwendigen Menschen mit hertzlicher Lust vnd Andacht können gesungen werden.21
In aller Regel spricht Rist in den Verweisen auf eigene Lieder jedoch von der „Melodie“, „auf“ bzw. „nach“ der der Text gesungen werden könne. Dass auch damit keineswegs nur die Oberstimme gemeint sein muss, sondern ebenso der zweistimmige Satz angesprochen sein kann, wird deutlich, wenn er im Vorwort zur ersten Gesamtausgabe der Himlischen Lieder die Kompositionen ebenfalls schlicht als „Melodeien“22 bezeichnet. Terminologisch ist Rist hier nicht beizukommen, da er in den Neuen Himlischen Liedern die dort abgedruckten zweistimmigen Kompositionen auch als „wolgesetzte Weisen“23 bezeichnet. Wenn er also gelegentlich in den Verweisen auf eigene Lieder von der „Weise“ spricht, in der sie zu singen seien,24 dann kann dies ebenfalls auch den zweistimmigen Satz bezeichnen. Zwar gibt es Überschneidungen zwischen dem Korpus der von Rist selbst zitierten Melodien und jenem der in Gesangbücher aufgenommenen Lieder Rists, jedoch lassen sich letzteren keineswegs sämtliche von Rist angeführten Melodien
19 Rist/Schop: Himmlische Lieder (Anm. 3), S. 470 bzw. 471. 20 Rist: Neue Himmlische Lieder (Anm. 3), S. 178. 21 Rist/Schop: Himmlische Lieder (Anm. 3), S. 14. 22 Ebd., S. 470 bzw. 471. 23 Rist: Neue Himmlische Lieder (Anm. 3), S. 39. 24 Vgl. NHL, S. 64; AH, S. 82, 120, 294 und 336; NFA, S. 24, 48 und 238; KA, S. 286; DSch, S. 294, 336, 350 und 406; VE II, S. 269 und 213.
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entnehmen, zudem wäre der Verweis auf seine Himlischen Lieder nicht erforderlich, wenn er auf Gesangbücher Bezug nähme. Und nicht selten enthalten auch die Gesangbücher nicht nur die Melodie, sondern den zweistimmigen Satz, wie er etwa in dem bei den Sternen in Lüneburg 1661 gedruckten Vollständigen Gesangbuch von sieben Liedern enthalten ist.25 Im ersten Teil der Himlischen Lieder, aus dem Rist alle Melodien als Lehnmelodien heranzieht, stammen, wie aus den Vorworten sowohl zum ersten, als auch zum zweiten Teil hervorgeht, nur „etliche wenig“26 von Schop. Sicher nicht von Schop komponiert wurde „O Trawrigkeit! O Hertzeleid!“ (I/3), weil von Rist die erste Strophe von Friedrich Spee samt dem zweistimmigem Satz27 – wenn auch mit einer Reihe von Veränderungen in beiden Stimmen – aus der 1628 publizierten Himmlischen Harmony übernommen wurde;28 einige weitere Lieder stammen wohl von Rist.29 Konrad Küster hebt hervor, dass sich die ersten drei Lieder und das siebente durch mehrere typographische Merkmale von den anderen Kompositionen des ersten Teils unterscheiden und damit vermutlich aus anderen Vorlagen gesetzt wurden,30 damit könnten I/1-2 und I/7 – I/3 jedoch nur als Bearbeitung – von Rist31 (oder auch einem anderen Komponisten) herrühren. Damit wären die von Rist selbst komponierten Melodien die ersten, die er herangezogen
25 Vgl. Voll-ständiges Gesang-Buch: in welchem nicht allein di gewohnliche alte Kirchen-Lider, sondern auch vihl neue/ nüzliche Gesänge/ auf mancherlei Fälle zu befinden. Lüneburg 1661, S. 6 (HL II/10), 57 (HL III/1), 80 (HL I/3), 88 (HL I/4), 376 (HL III/10), 379 (HL IV/9) und 389 (HL III/8). 26 Vgl. das Vorwort zum ersten Teil der Himlischen Lieder, wonach diese dem Leser gefallen mögen, da Schop „auff etliche dieser Lieder sehr schöne/ vnd sich nach Gelegenheit der Worte trefflich wol schickende Melodeyen (wiewol nur auff der Eile) hat gesetzet […].“ Rist/Schop: Himmlische Lieder (Anm. 3), S. 14, und zum zweiten Teil, ebd., S. 101: „Betreffend die Weisen der Ersten Zehn/ so hat er [scil. Schop] selbige nicht alle/ besondern nur etliche wenig und zwar auff der Eil gesetzet/ wie die Music-Verständigen davon leicht werden urtheilen können.“ 27 Rist schreibt „benebenst seiner andächtigen Melodey“, Rist/Schop: Himmlische Lieder (Anm. 3), S. 41, als „Melodie“ bezeichnet Rist jedoch in den Vorworten die von Schop komponierten Sätze. 28 Vgl. Himmlische Harmony von vielerlei lieblich zusammenstimmenden Freud-, Leid-, Trostund Klagvöglein, das ist new mayntzisch Gesangbuch. Mainz 1628, S. 276. Vgl. dazu Werner Braun: Rist-Gesänge in der Passionshistorie. In: Tod und Musik im 17. und 18. Jahrhundert. Hg. von Günther Fleischhauer. Blankenburg 2001, S. 121–134, hier S. 123 ff. mit Synopse der beiden Fassungen. 29 Vgl. Küster: „O du güldene Musik!“ (Anm. 3), S. 98. 30 Vgl. Konrad Küster: Kritischer Bericht zur Notenedition. In Rist/Schop: Himmlische Lieder (Anm. 3), S. 604. 31 Zu Rists Kompositionen in seinen weltlichen Liedern vgl. Küster: „O du güldene Musik!“ (Anm. 3), S. 111–116.
„nach der Melodie meines aus den himlischen wolbekanten Liedes“
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hätte. Zudem hätte er von den Liedern aus dem ersten Teil der Himlischen Lieder seine eigenen Melodien in etwa genauso häufig verwendet wie jene Schops. Es ist aber keineswegs zutreffend, dass Rist aus Schops Liedern die schlichtesten ausgewählt hätte,32 denn bereits im ersten Teil enthalten dessen Lieder sowohl Wechsel des Metrums als auch eine asynchrone, teilweise imitatorische Behandlung der beiden Stimmen (gleiches gilt etwa für HL III/2 und III/10). Nicht nur aus dem dritten Teil, in dem Schops Melodien dann, wie Rist schreibt, „auff mein freundliches Bitten etwas deutlicher sind gesetzet“,33 und aus dem Rist zufolge „schlecht und deutlich“34 gesetzten vierten und fünften Teil zieht Rist Melodien heran, sondern auch aus dem vermeintlich kritisierten zweiten Teil greift Rist mit II/10 gerade nicht eine der weniger komplexen Melodien (wie etwa II/1 und II/3) auf. In der HAußmusik als dem ersten Band, in dem Rist in größerem Umfang auf Melodien aus den Himlischen Liedern verweist, greift Rist, abgesehen von Liedern aus dem ersten Teil, dem aufgrund seiner frühen großen Verbreitung eine Sonderstellung zukommt, ausschließlich Lieder im 3er-Takt auf (III/2, III/10, V/4 und V/8), daneben solche mit tänzerischem Rhythmus (III/5 und III/8); gleiches gilt auch für die folgenden Bände (NFA, KA und VE I). Erst mit der DanckSchuhle, in der Rist auf eine weitaus größere Zahl von Liedern verweist, kommen auch Lieder mit einem anderen Charakter aus den Teilen III bis V der Himlischen Lieder hinzu (III/4, IV/9 und V/7). Rist war nach den für ihn tragischen Ereignissen des Jahres 1658 jedoch keineswegs in eine musikalische Vanitas-Stimmung verfallen. Zwar betont er im 22. Seelengespräch der Verschmäheten Eitelkeit, es sei „bei dem Gebrauch diser sonst rühmlichen Wissenschafft/ auch etwas eitles Dinges vieleicht mit untergelauffen/ und nicht allzeit die Befoderung der Göttlichen Ehre dadurch […] gesuchet worden“.35 Dennoch – jene drei Himlischen Lieder (I/1, III/1 und V/10), die Rist in allen Publikationen nach 1658 heranzieht, stehen allesamt im tänzerischen 3er-Takt. Und hatte er im Vorwort zu dem von seinem Schwager vertonten Leiden und Sterben betont, „Diese Ahrt aber […] erfodert langsahme/ klägliche und zuer Andacht sonderlich bewegende Melodeien/ und wird daß bittere Leiden JEsu Christi nicht auff täntzerahrt sonderen mit einer grossen und gleich traurigen
32 Darauf hat bereits Konrad Küster: „… alle Claves durchgegangen“. Vollchromatik bei Johann Rist und Christian Flor (1662). In: Die Musikforschung 60 (2007), S. 333–348, hier S. 348, hingewiesen. 33 Rist/Schop: Himmlische Lieder (Anm. 3), S. 184. 34 Ebd., S. 273. 35 VE I, fol. )()( 12v.
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ernsthafftigkeit von Gottliebenden Christen billig besungen“36 – ein Gebot, an das sich sowohl Pape als auch später Martin Coler37 in den Paßions-Andachten gehalten hatten – so zog Rist selbst auch Himlische Lieder „auff täntzerahrt“ heran (I/1, III/1, III/2, III/8 und V/10). Nicht so sehr im dritten Beschlusslied der Paßions-Andachten, aber bei der dritten Andacht über das vierte Wort (Mt 27,46) ist der musikalische Charakter einer „Bourrée“,38 wie ihn die Melodievorlage „WErde munter mein Gemüte“ hat, dann doch überraschend. Dass bei der Auswahl der Melodien nicht allein musikalische Gesichtspunkte eine Rolle gespielt haben, sondern auch die Themen der Lieder,39 ist teilweise offensichtlich. „O Ewigkeit du DonnerWort“ ist eine der von Rist nur wenig herangezogenen Melodien. Dieser von ihm als „Lied von der Ewigkeit“ bezeichnete Gesang dient als Vorlage für „WAs ist dis eitle Leben doch?“, einem Lied über Phil 1,23 („Jch habe Lust abzuscheiden/ und bei Christo zu sein“ NMS.NT, S. 300), und für „Mein Seelichen/ Du must die Welt“, das Rist mit dem Titel „Schmertzliches Klag und Jammerlied Einer höchst betrübten Seelen/ welche mit unaußsprächlicher Furcht und Angst des heran nahenden ist ümbgeben und gequählet“ (DSch, S. 412) versah. Umgekehrt wäre erst noch zu prüfen, ob dort, wo eine solche offensichtliche Kongruenz nicht besteht, der Subtext der Vorlage einen Schlüssel zur Textinterpretation bietet, oder ob eher musikalische Gründe oder
36 Rist/Coler: Passions-Andachten (Anm. 3), S. 418. 37 Kein anderer Komponist ist in den das Kantorat Christoph Bernhards von 1664–1674 einschließenden, musikalisch äußert fruchtbaren Jahren 1660–1678, von der Gründung des Collegium musicum bis zur Eröffnung der Oper am Gänsemarkt in mehr Hamburger Musikdrucken vertreten als Coler. Vgl. Die Musik Hamburgs im Zeitalter Seb. Bachs. Hamburg 1921 und Heinrich Hüschen: Hamburger Musikdrucker und Musikverleger im 16. und 17. Jahrhundert. In: Beiträge zur Musikgeschichte Nordeuropas. Hg. von Uwe Haensel. Wolfenbüttel 1978, S. 255–270. Nachweisbar sind mit der Hochzeitlichen Ehrenfackel (1660), der Beteiligung an Kaspar von Stielers Geharnschter Venus (1660) und an Georg Heinrich Webers Poetischen Musen (1661), die als Abgewechselte Liebesflammen (1672) nachgedruckt wurden, Jacob Schwiegers Glückwünschung (1661), Brandanus Langejanus’ Opfern die Gott gefallen (1661), der Sulamithischen Seelenharmonie (1662), die in Albert Schops Exercitia vocis (1667) nachgedruckt wurde, sowie Rists Paßions-Andachten insgesamt neun Drucke, in denen 56 geistliche und 45 weltliche Lieder sowie 12 kleine geistliche Konzerte und zwei anlassbezogene Kompositionen enthalten sind. Vgl. zur Biographie auch die Einführung und den editorischen Bericht zur Edition der Musik in Rist: Passions-Andachten (Anm. 3), S. 496 ff. 38 Johann Mattheson: Der vollkommene Capellmeister. Hamburg 1739, S. 162, legt bei seinem Experiment, „aus Kirchen-Liedern allerhand Tänze“ zu machen, eine wie in den Gesangbüchern rhythmisch vollkommen abgeschliffene Version der Schop’schen Melodie zugrunde, die er in eine Bourrée verwandelt, deren Rhythmus dem Original ausgesprochen nahe kommt. 39 Vgl. Irmgard Scheitler: Das Geistliche Lied im deutschen Barock. Berlin 1982 (Schriften zur Literaturwissenschaft 3), S. 407.
„nach der Melodie meines aus den himlischen wolbekanten Liedes“
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schlicht die Assonanz von Textanfängen die Wahl der Weise bestimmt haben. So bezeichnet Rist zwar „LAsset vns den HErren preisen“ stets als Osterlied, weder „LAsset uns Jhr Christen singen“ als „Lob- und Dankliedlein nach überstandenem schwehren Sterbensleüften/ Pestilentischen und andern gifftigen Seüch- und Kranckheiten“,40 noch „LAsset uns dem Herren dienen“ als Lied über Tob 3,22 f. („Das weis Jch fürwahr/ wer GOtt dienet/ der wird nach der Anfechtung getröstet/ und aus der Trübsahl erlöset/ und nach der Züchtigung findet Er Gnade. Den/ du hast nicht Lust an unserm Verderben; den nach dem Ungewitter lässest Du die Sonne wieder scheinen/ und nach dem Heulen und Weinen überschüttest Du uns mit Freuden/ deinem Namen sei Ehre und Lob/ Du Gott Jsrael“ NMS.AT, S. 430) haben jedoch eine österliche Thematik, hingegen einen gleichklingenden Beginn. Auch weder „LOb und Dank sei dir gesungen“ als Lied für das Fest Michaelis über Mt 18,1–11 („Zu derselben Stunde traten die Jünger zu JEsu und sprachen/ u. s. w.“ NFA, S. 304 bzw. 296) noch „LOb und Dank sei dir gesungen“ als „Dank-Lied Eines Gottseligen Haußvatters/ Wenn Er seinen Gebuhrts-Tag in Frieden und Gesundheit abermahl hat erlebet“ (AH, S. 336) lassen sich als Osterlieder verstehen. Es ist wohl davon auszugehen, dass Rist seinen Komponisten nur die Texte, nicht aber die von ihm vorgesehenen Melodieverweise mitteilte. Im Falle Christian Flors ist belegt, dass dieser meist nur die erste Strophe (seltener auch die zweite) der Lieder kannte, wie er in einem Brief an Rist betont: „Sonst weis mein Edler Herr Rist/ das dem Ersten Theil seines Musikalischen Seelenparadises/ er mir gemeinlich nur eine/ und zwahr die erste Strophe/ selten die Andere mit gesendet, wornach ich die Sangweise gerichtet“.41 Damit war den Komponisten auch nicht gegenwärtig, dass sie selbst oder andere den Ton bereits komponiert hatten. Dennoch scheint Rist es zunächst mit Rücksicht auf die Komponisten, die er jeweils neu gewinnen wollte, vermieden zu haben, ihnen Texte zur Vertonung anzutragen, für die er im Druck auf Melodien aus den Himlischen Liedern verweist. In den Neuen Himlischen Liedern ist dies nur in den ersten beiden Teilen der Fall, die mit Sigmund Theophil Staden und Andreas Hammerschmidt von den auswärtigen Komponisten stammen. In der Sabbahtischen Seelenlust verzichtet Rist ganz darauf, Thomas Selle mit den Melodien seines Amtsvorgängers als Domkantor zu konfrontieren. Nach der Gesamtausgabe der Himlischen Lieder von 1652 mutet er dies Selle in den Fest-Andachten dann jedoch zu. Nach der zweiten Gesamtausgabe von 1658 nimmt Rist dann endgültig keine derartigen Rücksichten mehr.
40 Rist: Neue Himmlische Lieder (Anm. 3), S. 159. 41 NMS.NT, fol. [d 9]v.
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In der HAußmusik vertonte Jacobi Texte, die zu Melodien von Schop geschaffen wurden, und Schop Texte, die auf solche Melodien aus dem ersten Teil der Himlischen Lieder gedichtet waren, die wohl nicht von Schop stammten (HL I/1 und AH Nr. 55 sowie HL I/3 und AH Nr. 39). Und mehr noch: Dort, wo Schop bereits vermutlich (HL I/4 und AH Nr. 42, HL I/5 und AH Nr. 7 sowie HL I/9 und AH Nr. 22) bzw. in jedem Fall (HL III/10 und AH Nr. 19 bzw. HL III/2 und AH Nr. 10 sowie 23) der Komponist der Musik in den Himlischen Liedern ist, ergibt sich damit die Situation, dass Rist einen Text auf eine Melodie von Schop dichtet, den dieser dann mit einer neuen Melodie vertont. Die so entstandenen Melodien weichen in Metrum und Tonart deutlich von den ursprünglichen ab. Ähnlich verhält es sich mit den beiden von Jacobi komponierten Texten auf Melodien aus dem fünften Teil der Himlischen Lieder, die Rist erneut in der DankSchuhle zugrunde legt (HL V/4, AH Nr. 20 und DSch Nr. 30 bzw. HL V/8, AH Nr. 15 und DSch Nr. 39), so dass Jacobi hier jeweils noch eine zweite Komposition verfertigt. Die Kompositionen von Texten, die auf identische Melodien gesetzt sind, lassen sich zwar insofern vergleichen, als sie dasselbe metrische Schema und teilweise zudem die gleiche Thematik des Textes haben.42 Tatsächlich sind sie alle aber wohl ohne Kenntnis des Verweises auf die Melodie aus den Himlischen Liedern entstanden und damit unabhängig voneinander. Dass Rist Kompositionen von Schop, Scheidemann und Jacobi aufgreift, hat vermutlich teilweise auch Gründe, die weder mit der musikalischen Faktur noch mit den Themen der Texte zusammenhängen. Die lateinischen Übersetzungen der Rist’schen Werke könnten insofern Einfluss gehabt haben, als zwar der erste Teil der Geistlichen poetischen Schriften 1657 mit den Himlischen Liedern die ohnehin bereits verbreiteten Melodien enthält, nach dem Erscheinen der lateinischen Übersetzung der Neuen Himlischen Lieder 1658 als zweitem Teil verweist Rist jedoch erstmals auch auf Lieder dieser Sammlung. Dass er dabei unter den zahlreichen Komponisten Scheidemann auswählt, könnte neben seiner Wertschätzung für den Komponisten auch damit zusammenhängen, dass dieser im gleichen Jahr die Lieder aus der Verschmäheten Eitelkeit komponiert hat und insofern präsent war. Bemerkenswert ist – und dies nicht nur, weil Tobias Petermanns Übersetzung der Sabbahthischen Seelenlust als dritter Teil der Geistlichen poetischen Schriften 1659 erschienen ist – dass Rist keine einzige Komposition Selles heranzieht.
42 In einem einzigen Fall (HL III/10) haben alle drei Komponisten, auf deren Melodien Rist verweist, auf ein und dieselbe Melodie gesetzte Texte komponiert, Schop erneut in AH, Nr. 19, Jacobi in DSch, Nr. 52 und Scheidemann in VE I, Nr. 23.
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Als wahrscheinlich kann es zudem gelten, dass der Kontakt zwischen Rist und Flor als dem Komponisten der beiden Teile des Seelenparadises durch Jacobi, der auch ein Gedicht zum ersten Teil beisteuerte, vermittelt wurde, und es ist damit sicherlich kein Zufall, dass Rist hier erstmals auf ein von Jacobi komponiertes Lied verweist. „LObet GOtt im Heiligtum“ aus dem ersten Teil der Verschmäheten Eitelkeit (Nr. 22, S. 384) kommt schließlich insofern eine Sonderstellung zu, als es in ein Gespräch über „die Eitelkeit der Musik oder Singekunst“ (VE I, S. 368) eingebettet ist. Wenn Rist diese „Melodie“ auch an den Schluss des zweiten Teils und damit seines gesamten geistlichen Liedschaffens setzt (Nr. 24, S. 663 „GUte Nacht du schnöde Welt“), so ist die tatsächlich komponierte Musik Scheidemanns selbst – ebenso wie die neue Vertonung43 – sekundär gegenüber der Evokation der bereits in der „schnöden Welt“ zu erahnenden himmlischen Lieder.
43 Die Vermutung, dass Wolfgang Carl Briegel der Komponist sein könnte, wurde von Scheitler: Das geistliche Lied (Anm. 39), S. 247, geäußert. Sie gründet sich darauf, dass Briegel 1669 in Gotha einen Die verschmähte Eitelkeit betitelten Druck erscheinen ließ, der jedoch verloren ist. Der vollständige Titel – Die verschmähte Eitelkeit in etlichen geist- und weltlichen Liedern, vgl. Karl Friedrich Hirschmann: Wolffgang Carl Briegel 1626–1712. Marburg 1934, S. 63 – lässt einen Bezug zu Rists Schrift jedoch unwahrscheinlich erscheinen. Selbst wenn man annimmt, dass es sich um eine Vertonung von Rists Texten handelt, ist nicht gesichert, dass es die Lieder aus dem zweiten Teil der Verschmäheten Eitelkeit (und nicht etwa jene aus dem ersten Teil) waren. Auch wenn man Vertonungen des zweiten Teils annimmt, ist damit noch nicht gesichert, dass diese mit den im Druck des Rist’schen Werks von 1668 publizierten Liedern identisch sind.
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Anhang I: Erstausgaben von Rist Geistlichen Liedern mit Musik Sigle
Druck
Komponist(en)
HL
Himlische Lieder. Lüneburg 1641–1642
50 Lieder, Johann Schop und im ersten Teil auch Rist?
LS
Der zu seinem allerheiligsten Leiden und 19 Lieder, Hinrich Pape Sterben hingeführter und an das Kreütz gehefteter Christus Jesus. Hamburg 1648
HV
Holstein vergiß es nicht. Hamburg 1648
1 Lied, Komponist nicht genannt, Rist?
NHL
Neüer Himlischer Lieder Sonderbahres Buch. Lüneburg 1651
50 Lieder, Musik von Andreas Hammerschmidt, Michael Jacobi, Jacob Kortkamp, Petrus Meier, Hinrich Pape, Jacob Praetorius, Heinrich Scheidemann und Sigismund Theophil Staden
SSL
Sabbahtische Seelenlust. Lüneburg 1651 58 Lieder, Thomas Selle
AH
Frommer und Gottseliger Christen Alltägli- 70 Lieder, Johann Schop und Michael che HAußmusik. Lüneburg 1654 Jacobi
NFA
Neüe Musikalische Fest-Andachten. Lüne- 52 Lieder, Thomas Selle burg 1655
KA
Neüe Musikalische Katechismus Andach- 50 Lieder, Andreas Hammerschmidt und ten. Lüneburg 1656 Michael Jacobi
VE I
Die verschmähete Eitelkeit Und Die verlan- 24 Lieder, Heinrich Scheidemann gete Ewigkeit. Lüneburg 1658
DSch
Neüe Musikalische Kreutz- Trost- Lob- und 70 Lieder, Michael Jacobi DankSchuhle. Lüneburg 1659
NMS.AT Neues Musikalisches Seelenparadis/ Jn 82 Lieder, Christian Flor sich begreiffend Die allerfürtreflichste Sprüche der heiligen Schrifft/ Alten Testaments. Lüneburg 1660 NMS.NT Neues Musikalisches Seelenparadis/ in Sich begreiffend Die allerfürtreflichste Sprüche der H. Schrifft/ Neuen Testaments. Lüneburg 1662
82 Lieder, Christian Flor
PA
Neue Hoch-heilige Paßions-Andachten. Hamburg 1664
46 Lieder, Martin Coler
VE II
Der verschmäheten Eitelkeit Und Der ver- 24 Lieder, Komponist nicht genannt langeten Ewigkeit/ Ander Theil. Frankfurt a. M. 1668
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Anhang II: Verweise auf die Musik eigener Lieder in den geistlichen Liedern Rists Himlische Lieder ERmuntre dich mein schwacher Geist I/1
AH 294 (Nr. 55) ACh lieber HERR/ du grosser GOtt nach der Weise Meines bekanten Weihenacht-Liedes NFA 24 Weihenachtlied (Nr. 4) FRisch auf Jhr Christen/ freüet Euch nach der Weise Meines bekanten Weihenachtliedes DSch 269 (Nr. 45) WJe machst du doch mein Seelichen nach der Melodie unseres wolbekanten Weihenacht-Gesanges NMS.AT 424 (Nr. 69) WJe bitter ist mein Leben doch nach der Melodie Meines nuhnmehr wolbekanten Weihenachtliedes NMS.NT 52 (Nr. 9) WAs ist die Welt ? Ein Stall von Noht nach der Melodie Meines wolbekanten Weihenachtliedes NMS.NT 349 (Nr. 58) JCh nahe mich/ o Gott/ zu dir nach der Melodie Meines/ aus den himlischen wolbekanten Weihenacht-Liedes PA 124 ALs JEsus an deß Kreützes Stamm’ nach der Melodie meines/ auß den himlischen Liedern wolbekandten Weihenacht Gesanges PA 274 DJß ist der Tag/ HErrJEsu Christ nach der Melodie meines wolbekanten Weihenacht-Liedes VE II 269 (Nr. 10) WO hin soll dan die Reise gehn nach der Weise meines wohlbekanten Weynacht-Liedes
O Grosser Gott ins Himmels Trohn I/2
DSch 372 (Nr. 62) Jn Deinem Namen bin ich zwahr nach der Melodie meines sonst wolbekanten Passion-Liedes NMS.AT 174 (Nr. 29) VErdamter Satan/ trolle dich nach der Melodie/ Meines/ aus den Himlischen Liedern bekanten Passion Liedes NMS.AT 502 (Nr. 82) GRos ist die Noht/ bös’ ist die Zeit nach der Melodie/ meines/ in den ersten himlischen/ wolbekanten Liedes NMS.NT 283 (Nr. 47) WEr kan uns doch beschreiben recht nach der Melodie/ Meines/ aus den himlischen/ wolbekanten Passion-Liedes PA 211 HErzu/ Mein Gott ergebner Christ nach der Melodie meines/ auß den himlischen/ wolbekandten Passionliedes
O Trawrigkeit! O Hertzeleid! I/3
AH 208 (Nr. 39) O Frommer Gott auf die bekante Melodei Meines Passionsliedes/ von der Begräbnis Christi
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Himlische Lieder LAsset vns den HErren preisen I/4
NHL 92 (II/4) LAsset uns Jhr Christen singen auf die schöne Melodei meines bekanten Osterlides AH 336 (Nr. 62) LOb und Dank sei dir gesungen nach der Weise meines bekanten Oster-Liedes NFA 304 (Nr. 46) EHr und Dank sei dir gesungen nach der Melodie Meines/ unter den Himlischen/ bekanten Osterliedes NMS.AT 430 (Nr. 70) LAsset uns dem Herren dienen nach der Melodie Meines wolbekanten Osterliedes
DV LebensFürst Herr Jesu Christ I/5
AH 32 (Nr. 7) DU Lebensbrod HErr Jesu Christ auff Mein bekanntes Lied von der Himmelfahrt Jesu Christi NMS.AT 120 (Nr. 20) AUf meine Seel’/ und rüste dich nach der Melodie des/ aus unseren Ersten Himmelsliedern wolbekanten Himmelfahrts Gesanges NMS.NT 178 (Nr. 30) JHr Christen/ schickt euch in die Zeit nach der Melodie Meines/ aus den himlischen wolbekanten Himmelfahrt-Gesanges NMS.NT 472 (Nr. 79) ES seuftzet meine Seel’ in mir nach der Melodie Meines/ aus den himlischen wolbekanten Himmelfahrt-Gesanges
O Vater aller Güt/ Jch klage dir mit Schmertzen I/6
DSch 336 (Nr. 56) Mein Gott/ Du bist gerecht und liebst auch die Gerechten nach der Weise meines sonst wolbekanten H. Liedes NMS.AT 66 (Nr. 11) KOmt/ meine Kinder/ komt/ Mir fleissig zuzuhören nach der Melodie Meines sonst wolbekanten H. Liedes NMS.AT 243 (Nr. 40) DU schnöde Sündenfrucht/ wer mus dich nicht verfluchen? nach der Melodie Meines/ unter den Himlischen Liedern wolbekanten Gesanges NMS.NT 232 (Nr. 39) TRit auf/ du Menschenkind/ trit auf nach der Melodie Meines/ aus den himlischen wolbekanten Liedes
JEsu der du meine Seele I/7
HV G4r: GOtt der du den Klooß der Erden auf die Melodei des siebenden Gesanges im Ersten Theil der himlischen Lieder NMS.AT 224 (Nr. 37) LJebste Seele/ laß uns finden nach der Melodie Meines wolbekanten Buhsliedes NMS.NT 93 (Nr. 16) Endlich mus dis Rund der Erden nach der Melodie Meines/ aus den himlischen/ wolbekanten Liedes NMS.NT 214 (Nr. 36) Kommet All’ Ihr Christenleute nach der Melodie Meines aus den himlischen/ wolbekanten Buss-Liedes NMS.NT 382 (Nr. 64) CHristus Jesus/ unser Leben nach der Melodie Meines/ aus den himlischen wolbekanten Liedes NMS.NT 405 (Nr. 68) KAnn ein Mensch dis auch verstehen nach der Melodie Meines aus den himlischen wolbekanten Liedes
„nach der Melodie meines aus den himlischen wolbekanten Liedes“
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Himlische Lieder O Gottes Lamb/ das du die Schuld I/8
NMS.AT 250 (Nr. 41) REcht wird das Leben diser Zeit nach der Melodie Meines wolbekanten Himmels Liedes
GOtt/ der du selber bist das Liecht I/9
AH 114 (Nr. 22) HErr/ unser Artz und treüer Hohrt die Melodei Meines wohlbekanten Morgengesanges DSch 306 (Nr. 51) Ermuntre dich/ betrübte Seel’ nach der Melodie meines nicht so gahr unbekanten H. Liedes NMS.AT 15 (Nr. 3) ZU diser angenehmen Zeit nach der Melodie Meines/ aus den Himlischen Liedern wolbekanten Morgengesanges NMS.AT 399 (Nr. 65) GOtt/ der Du bist das höchste Guht nach der Melodie Meines wolbekanten Morgenliedes NMS.NT 124 (Nr. 21) STeh’ auf/ und las uns schleunig gehen nach der Melodie Meines/ aus den Himlischen Gesängen/ wolbekanten Morgenliedes NMS.NT 424 (Nr. 71) NUn merk’ ich erst der Libe Kraft nach der Melodie Meines/ aus den himlischen wolbekanten Morgen-Liedes
AVff meine Seel’ vnd lobe Gott I/10
NHL 112 (II/7) O Höchster GOtt gib mir Gehör auf die Melodei meines schon längst gesetzten Dankliedes DSch 350 (Nr. 58) Jch wil Mein Gott erhöhen dich nach der Weise meines sonst wolbekanten H. Liedes NMS.AT 11 (Nr. 2) ES handelt Gott sehr wunderlich nach der Melodie Meines sonst wolbekanten Freuden- und Himmelgesanges NMS.AT 318 (Nr. 52) ALs erst die Welt geschaffen war nach der Melodie Meines/ in den Himlischen Liedern wolbekanten Lobund Dankliedes
JCh wil den HErren ewig loben II/10
NFA 238 (Nr. 36) STeh’ auf du kühler Wind von Norden wird gesungen nach der Weise des Lobgesanges des Priesters Zacharias/ welches ist das Zehnde unter den Triumph-Liedern/ Meiner Himlischen
HJlff Herr Jesu laß gelingen III/1
NFA 82 (Nr. 13) WErde licht Du Statt der Heiden nach der Weise Meines bekanten Neüen Jahrliedes DSch 104 (Nr. 18) FReüdig ist nun widrum worden nach der Melodie meines sonst bekanten neüen Jahrsliedes DSch 406 (Nr. 67) JEsu/ meine Lust und Freüde nach der Weise Meines sonst wolbekanten Neüen Jahres Gesanges NMS.AT 34 (Nr. 6) JEsu solt’ Jch nicht befehlen nach der Melodie Meines wolbekanten Neuen Jahres Liedes NMS.AT 460 (Nr. 75) KOmmet all’/ ihr ChristenLeute nach der Melodie meines sonst wolbekanten Neu Jahrs-Liedes NMS.NT 63 (Nr. 11) GRosse Klugheit ists zu nennen nach der Melodie meines wolbekanten Neuen Jahrs Liedes
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Oliver Huck
Himlische Lieder NMS.NT 360 (Nr. 60) HOeret mich/ Ihr fromme Hertzen nach der Melodie Meines/ aus den himlischen wolbekanten Liedes PA 205 ALles ist zur Endschafft kommen nach der Melodie meines/ auß den himlischen/ wolbekanten Neüen Jahr Liedes VE II 581 (Nr. 21) LAsset uns zur Hochzeit eilen nach der schönen Melodie/ meines/ sonst wohlbekandten Newen Jahr-Liedes WAch’ auff mein Geist/ erhebe dich III/2
AH 48 (Nr. 10) WJe groß ist Deine Lieb’/ O Herr nach der Weise Meines bekanten Himmel Liedes DSch 294 (Nr. 49) AUf Leib und Seel’/ auf Hertz und Muth nach der Weise meines sonst wolbekanten H. Liedes NMS.AT 369 (Nr. 60) Sehr schwehr ist meiner Sünden Last nach der Melodie Meines/ aus den Himlischen Liedern wolbekanten Kahrfreitags Gesanges NMS.NT 106 (Nr. 18) Der Apfelbiß im Paradies nach der Melodie meines/ aus den himlischen Liedern wolbekanten/ Passionliedes PA 136 KAn auch wol grösser Freündligkeit nach der Melodie meines/ auß den himlischen/ wolbekandten Passion Liedes
JAmmer hat mich gantz umbgeben III/4
NHL 64 (I/10) GOTT des Trostes/ HErr der Gnaden auf die Weise meines eignen Liedes/ welches das Vierte ist im dritten Theil meiner vor disem heraußgegebenen Himlischen Liedern DSch 108 (Nr. 19) ACh/ wie weh’ ist meinem Leben nach der Melodie meines/ sonst wohlbekanten Traur- und Klag-Liedes DSch 116 (Nr. 20) TRrauten Seele/ was betrübet nach der vorhergehenden Melodie/ jedoch also/ daß die drey letste Vers eines jetweden Satzes in derselben widerhohlet werden NMS.AT 204 (Nr. 34) SEi zu frieden/ meine Seele nach der Melodie Meines bekanten Traurliedes unter den Himlischen
O GOtt/ was ist das für ein Leben III/5
AH 70 (Nr. 14) MEin Gott/ es hat dir ja gefallen nach der Melodei Meines bekanten Himmelgesanges NMS.AT 180 (Nr. 30) MUs nicht in disem Meer der Sünden nach der Melodie Meines wolbekanten Himmelsliedes
WErde munter mein Gemüte III/8
AH 120 (Nr. 23) MEinem [sic!] GOtt den wil Jch preisen auf die Weise Meines bekanten Abendsegens KA 286 ALles was der HERR geschaffen nach der Weise meines wolbekanten Abend-Liedes VE I 365 (Nr. 21) LJbster/ wilt du meiner wahrten auf die Melodie/ meines sonst wolbekanten Abendliedes DSch 218 (Nr. 36) EWigs Lob sei dir gesungen nach der Melodie meines gantz wolbekanten Abend Liedes
„nach der Melodie meines aus den himlischen wolbekanten Liedes“
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Himlische Lieder NMS.AT 256 (Nr. 42) Göttlichs Feur/ das mich entzündet nach der Melodie Meines nunmehr wolbekanten Abendliedes NMS.AT 330 (Nr. 54) SChweiget nun/ ihr lose Spötter nach der Melodie Meines wolbekanten Abendliedes PA 167 SChauet All’ Jhr Menschen Kinder nach der Melodie meines/ auß den himlischen/ wolbekandten Abend-Liedes PA 282 WAchet auff Jhr Meine Sinnen nach der Melodie/ Meines sonst wolbekanten Abend-Lied VE II 213 (Nr. 8) NUn/ Gott lob/ es ist geschehen nach der Weise meines wohlbekanten Abend-Gesangs O Gottes Stadt/ O himmlisch Liecht III/10
AH 97 (Nr. 19) GEtreuer Gott/ der du so wol auf die Melodei meines nunmehr bekanten andächtigen Himmelliedes NFA 318 (Nr. 48) WEr bin Jch doch du Grosser GOtt nach der Melodie Meines nunmehr wolbekanten Liedes unter den Himlischen VE I 404 (Nr. 23) DU tolle Welt/ was suchst Du dein Lob in eitlen Dingen? nach der Melodie meines bekanten [sic] DSch 312 (Nr. 52) Lob/ Ehr’ und Dank sei dir von mir nach der Melodie Meines sonst wolbekanten H. Liedes NMS.AT 344 (Nr. 56) Tritt itz herzu du schnöde Welt nach der Melodie Meines/ aus den Himlischen Liedern wolbekanten Gesanges NMS.AT 496 (Nr. 81) DJe Weißheit Gottes ruft uns zu nach der Melodie meines wolbekanten himlischen Liedes NMS.NT 154 (Nr. 26) O Schwehrer Fall/der Adam hat nach der Melodie Meines/ aus den himlischen wolbekanten/ Liedes NMS.NT 454 (Nr. 76) Demnach in disem Jammerthal nach der Melodie Meines aus den himlischen wolbekanten Liedes NMS.NT 491 (Nr. 82) HInweg itz Trauren/ Angst und Noth nach der Melodie Meines/ aus den himlischen wolbekanten Liedes
O Ewigkeit du DonnerWort IV/9
DSch 412 (Nr. 68) Mein Seelichen/ Du must die Welt nach der Melodie meines sonst wolbekanten H. Liedes von der Ewigkeit NMS.NT 300 (Nr. 50) WAs ist dis eitle Leben doch? nach der Melodie Meines sonst wolbekanten himlischen Liedes von der Ewigkeit
JSt das nicht ein Werck der Gnaden V/1
NMS.AT 375 (Nr. 61) NUn/ ich wil mich selbst erkennen nach der Melodie/ unseres aus den Himlischen Liedern wolbekanten Behtgesanges NMS.NT 239 (Nr. 40) PReiset doch/ ihr Christen Leute nach der Melodie/ Meines/ aus den himlischen/ wolbekanten Gebeht-Gesanges
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Oliver Huck
Himlische Lieder JEsu du mein liebstes Leben V/4
AH 102 (Nr. 20) STarker Herrscher/ GOtt im Himmel nach der Weise Meines bekanten Lobliedes DSch 180 (Nr. 30) JEsu/ nun hab’ ichs erfahren auf die Melodie meines sonst wolbekanten H. Liedes NMS.AT 126 (Nr. 21) SAgt mir doch ihr Menschenkinder nach der Melodie Meines/ auß den Himlischen/ wolbekanten Liedes NMS.AT 406 (Nr. 66) PAkket euch/ ihr Widersacher nach der Melodie/ Meines/ aus den ersten Himlischen Liedern wolbekanten Gesanges NMS.NT 251 (Nr. 42) CHristlichs Hertz/ las dich berichten nach der Melodie Meines/ aus den himlischen wolbekanten Liedes
VOn Gnade wil ich singen V/7
PA 148 O Himlisches Erbarmen nach der Melodie meines/ auß den himlischen wolbekandten Liedes DSch 140 (Nr. 24) JCh will den HErren loben nach der Melodie meines sonst wolbekanten H. Liedes DSch 160 (Nr. 27) O Freundlicher/O süsser nach der Melodie meines sonst wolbekanten H. Liedes DSch 254 (Nr. 42) HElff’ ich denn nicht aus Nöthen nach der Melodie meines sonst wolbekanten lobgesanges NMS.AT 169 (Nr. 28) ACh das mir Gott doch gönnte nach der Melodie Meines wolbekanten Gesanges/ welcher zu finden/ in Meinen Himlischen Liedern NMS.AT 448 (Nr. 73) NUn lass’ ich gäntzlich fahren nach der Melodie meines/ unter den himlischen Liedern wolbekanten Lobgesanges NMS.NT 135 (Nr. 23) SOlt’ Ich nicht stets bedenken nach der Melodie meines/ aus den himlischen/ wolbekanten Liedes NMS.NT 436 (Nr. 73) WAch’ auf mein Geist mit Freuden nach der Melodie Meines/ aus den himlischen wolbekanten Liedes
NVn lobet alle GOTT V/8
AH 76 (Nr. 15) WJe selig ist der Mann nach der Melodei Meines bekanten Tischgesanges DSch 236 (Nr. 39) SOlt’ ich nicht frölich sein nach der feinen Melodie meines bekanten Tisch- und Lobgesanges NMS.AT 40 (Nr. 7) JN diser letsten Zeit nach der Melodie Meines Christlichen Tischgesanges
SO wündsch’ ich mir DSch 426 (Nr. 70) Lob/ Preiß und Dank sei Dir von mir zu guter letzt nach der Melodie meines sonst wolbekanten Liedes V/10 NMS.AT 262 (Nr. 43) WJe sol ich doch/ O Gott/ zu Dir nach der Melodie Meines Beschlussgesanges in den Himlischen Liedern NMS.NT 76 (Nr. 13) Jhr Sünder/ tretet All’ herann nach der Melodie meines wolbekanten Sterbeliedes NMS.NT 388 (Nr. 65) AUf Gott/ wo bleibt der falsche Ruhm nach der Melodie meines/ sonst wolbekanten Sterbeliedes
„nach der Melodie meines aus den himlischen wolbekanten Liedes“
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Himlische Lieder PA 161 KAn auch wol grösser Trübsal sein nach der Melodie meines/ auß den Sonderbahren Himlischen/ nunmehr wolbekandten Sterbeliedeleins VE II 496 (Nr. 18) LAß/ liebste Seel’/ in dieser Zeit nach der gar feinen Melodie meines sonst wohlgekandten Sterbe-Liedes Neue Himlische Lieder WJe magst Du Dich so kränken V/6
DSch 398 (Nr. 66) Waß Jch dir längst versprochen nach der Melodie Meines sonst wolbekanten Liedes NMS.AT 299 (Nr. 49) WEm sol ich Dich vergleichen nach der Melodie Meines/ unter den himlischen Liedern wolbekannten Gesanges NMS.NT 294 (Nr. 49) O Der verruchten Hertzen nach der Melodie Meines/ aus den himlischen wolbekannten Trost-Liedes
NUn Welt/ du must zu rükke stehn V/10
NMS.AT 157 (Nr. 26) TRotz’ immerhin du schnöde Welt nach der Melodie unsers aus den Sonderbahren Himlischen wolbekannten Valet-Gesangs
HAußmusik O Schöpffer aller Dinge/ Du Väterliches Hertz 68
NMS.AT 218 (Nr. 36) MJt Trähnen wird gebohren nach der Melodie Meines wolbekannten Sterbeliedes NMS.NT 225 (Nr. 38) JHr Christen komt zu hören nach der Melodie Meines wolbekannten Sterbe-Liedes PA 224 JCh weiß/ die Zeit wird kommen nach der Melodie meines/ auß den Sonderbahren Liedern wolbekanten Sterbe-Gesanges
Verschmähete Eitelkeit I LObet GOtt im Heiligtum 22
VE II 663 (Nr. 24) GUte Nacht du schnöde Welt Nach der Melodie meines erbawlichen Danck-Liedes
Ivana Rentsch
Klingende Gottseligkeit Die geistlichen Lieder von Johann Rist und Thomas Selle – zwischen Athanasius Kircher und Martin Luther Die Bedeutung, die Johann Rist der Musik einräumte, übertrifft das für einen evangelischen Geistlichen des frühen 17. Jahrhunderts zu erwartende Ausmaß bei weitem. Deutlich greifbar wird dieser besondere Stellenwert in den Liederbüchern mit neukomponierten Melodien zeitgenössischer Komponisten, die Rist ab 1643 veröffentlichte und mit denen er gleichsam eine neue Gattung etablierte. Es ist jedoch nicht allein die empirische Tatsache der umfangreichen geistlichen Sammlungen, die Rists musikalisches Interesse so ungewöhnlich erscheinen lässt, sondern mehr noch der theoretische Kontext sowie die Art der künstlerischen Umsetzung. Hinter der nur vermeintlich schlichten Faktur der Sätze verbirgt sich eine Musikauffassung,1 die aktuellste theoretische Konzepte aufgreift und mit zeitgenössischen kompositorischen Mitteln verbindet. Das ebenso kohärente wie anspruchsvolle Bild, das sich dabei ergibt, soll im Folgenden entfaltet werden, wobei der Blick vor allem den beiden Sammlungen gilt, deren Vertonungen ausnahmslos von Thomas Selle stammen: die 1651 in Hamburg erschienene Sabbahtische Seelenlust sowie die 1655 in Lüneburg gedruckten Neuen Musikalischen Fest-Andachten. Allein die Tatsache, dass mit Selle der damalige Hamburger Kantor – und folglich der Inhaber einer der begehrtesten musikalischen Stellen im norddeutschen Raum2 – die kompositorischen Sätze zu den Gedichten beisteuerte, zeugt vom künstlerischen Anspruch des musikalisch gebildeten Rist. Zugleich dokumentiert der Umstand, dass Selle seine Vertonungen in den Dienst der Rist’schen Lyrik stellte, den kompositionstechnischen Spielraum der geistlichen Lieder, ohne den der versierte Musiker schwerlich zu einer solch umfang-
1 Gegen eine Einschätzung von Rists Liedern als musikalisch einfach und volkstümlich wendet sich dezidiert auch Konrad Küster, „O du güldene Musik!“ Wege zu Johann Rist. In: „Ewigkeit, Zeit ohne Zeit“. Gedenkschrift zum 400. Geburtstag des Dichters und Theologen Johann Rist. Hg. von Johann Anselm Steiger. Neuendettelsau 2007 (Testes et testimonia veritatis 5), S. 77–179. 2 Zum Hamburger Kantorat im 17. Jahrhundert siehe u. a. Liselotte Krüger: Die Hamburgische Musikorganisation im XVII. Jahrhundert. Baden-Baden 1981 (Sammlung musikwissenschaftlicher Abhandlungen 12), S. 11–105; Dieter Krickeberg: Das protestantische Kantorat im 17. Jahrhundert. Studien zum Amt des deutschen Kantors. Berlin 1965, S. 123–126; Hugo Leichsenring: Hamburgische Kirchenmusik im Reformationszeitalter (Diss. Berlin 1922). Hg. von Jeffery T. KitePowell. Hamburg 1982 (Hamburger Beiträge zur Musikwissenschaft 20), S. 128–145.
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reichen Zusammenarbeit bereit gewesen wäre. Von Bedeutung ist zudem, dass die geistlichen Lieder in doppelter Hinsicht nach Süden verweisen und zentrale Bezüge zu italienischen Modellen aufblitzen lassen. Dabei treten gleich zwei Grenzüberschreitungen zutage, die für einen evangelischen Geistlichen bemerkenswert anmuten: erstens eine konfessionelle Grenzüberschreitung zu katholischen – genauer: jesuitischen – Modellen und zweitens eine musikalische Grenzüberschreitung hin zu weltlichen Techniken.
1 „Dreimahl Heilig“ Eure Kunst vergehet nicht/ wie andere eitele Wissenschaften/ sondern sie bleibt ewig/ wir wollen und werden uns/ den helleuchtenden Choren der grossen Himmels Fürsten/ den grossen Engeln zugesellen/ und mit denselben/ das Dreimahl Heilig/ in alle ewige Ewigkeit lassen erklingen.3
Die Künstler, denen Rist 1660 im Vorbericht zum Neuen Musikalischen Seelenparadis eine Ausnahmestellung jenseits ‚eitler Wissenschaften‘ attestierte, waren die „fürtrefliche[n] Musici“, die ‚ewige‘ Kunst folglich die Musik.4 Das in der Lobpreisung evozierte Bild erscheint dabei in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich, erinnert es doch an eine tatsächliche ikonographische Darstellung, nämlich an das Frontispiz in der neun Jahre zuvor erschienenen Sabbahtischen Seelenlust (Abb. 1). Dort halten zwei Engel den mit einer Melodie versehenen Schriftzug „Heilig, Heilig, Heilig“ den Engelschören entgegen – eine Konstellation, die in der Beschreibung auf der Weltkugel, „Die himmel erzehlen die Ehre Gottes“, ihre Erklärung findet. Die ganze Tragweite des Kupferstichs von 1651 und des Rekurses darauf im Vorbericht von 1660 eröffnet sich jedoch erst, wenn eine weitere Vorstufe berücksichtigt wird, die nun ihrerseits der Abbildung in Rists Sabbahtischer Seelenlust vorangegangen ist: das Frontispiz im ersten Teil der Musurgia universalis von Athanasius Kircher (Abb. 2).5 Auch bei Kircher halten zwei Engel einen Schriftzug den himmlischen Chören entgegen, und zwar genau dieselbe Melodie wie bei Rist, noch dazu über denselben Text – „Sanctus, Sanctus,
3 Johann Rist: Neues Musikalisches Seelenparadis. Lüneburg 1660. Nützlicher und nothwendiger Vorbericht, fol. d 2v. 4 Ebd. 5 Dass das Frontispiz in Rists Sabbahtischer Seelenlust auf dasjenige in der Musurgia universalis rekurriert, erwähnt bereits Rolf Dammann: Der Musikbegriff im deutschen Barock. Laaber 31995, S. 408, Anm. 38.
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Abb. 1: Johann Rist: Sabbahtische Seelenlust. Lüneburg 1651, Frontispiz.
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Sanctus“. Darunter ruht auf einer von Tierkreiszeichen umschlossenen Weltkugel eine lorbeerbekränzte allegorische Figur, die eine Lyra auf den Oberschenkel stützt und eine Syrinx in die Luft hält. Während die Deutungen bei Kircher zwischen der Heiligen Cäcilie und Apollon schwanken,6 dürfte es sich bei Rist eindeutig um eine Frauenfigur handeln. Rists Bezugnahme auf Kircher, und dies überhaupt nur ein Jahr, nachdem die Musurgia universalis erstmals erschienen ist, wirkt evident. Wenig überraschend, erwähnt Rist den jesuitischen Gewährsmann zwar in seiner Vorrede zur Sabbahtischen Seelenlust mit keinem Wort, indirekt lässt sich aber dennoch die Rezeption aktuellster Strömungen über konfessionelle Gräben hinweg gleich an mehreren Stellen greifen. So streicht Rist etwa die eigene Belesenheit und die Aktualität seines umfangreichen Wissens hervor, das er aus einem regelrechten europäischen Netzwerk schöpfe. […] daß Ich nicht nur Wochentlich/ sondern fast täglich auß vielen unterschiedlichen Ohrten von meinem liebsten und besten Freunden Vertrauliche Schreiben und Briefe erhalte/ durch welche Ich außführlich werde berichtet/ waß es mit den Kirchen- Religionund Glaubenssachen/ mit hohen und nideren Schuhlen/ auch denen am selbigen Ohrten befindlichen Lehreren/ Professoren und hochgelehrten Leuten/ im gleichen mit Bestellung Veränderung/ Auf und Ansetzung der Regimenter/ […] und mehr anderen schier tausenterlei/ dergleichen Wissens würdigen Händlen fast in der gantzen Welt für Eine Beschaffenheit habe/ welches alles zu erfahren Mich/ wen Ich offtmahls durch Meine beschwerliche AmtsGeschäffte und andere vielfältige Verrichtungen fast gantz und gahr bin abgemattet/ über die Mahsse kräfftig zu erquikken.7
Rist umreißt sein Wissenschaftsverständnis als ein universales, das offenkundig keine konfessionellen Beschränkungen zulässt, sondern im Gegenteil von einem allgemeinen Interesse an ‚Kirchen- Religion- und Glaubenssachen‘ zeugt. Die Priorität neuer Erkenntnisse vor der Frage nach Religionszugehörigkeit der Autoren, die im konkreten Fall selbst die ikonographische Reverenz eines evangelischen Liederbuchs vor der jesuitischen Universalharmonik möglich macht, spiegelt sich in einer dezidierten Ablehnung von „Streitschrifften“, von denen
6 Die Deutung als Heilige Cäcilia findet sich bei Dammann (Anm. 5), S. 407, sowie bei Christina Boenicke: Das zehnte Buch der Musurgia universalis. Traditionelle und moderne Einflüsse im musikalischen Weltbild Kirchers. In: Ars magna musices – Athanasius Kircher und die Universalität der Musik. Vorträge des deutsch-italienischen Symposiums aus Anlass des 400. Geburtstages von Athanasius Kircher (1602–1680). Hg. von Markus Engelhardt, Michael Heinemann. Laaber 2007 (Analecta musicologica 38), S. 96; die Deutung der Figur als Apollon findet sich bei Melanie Wald: Welterkenntnis aus Musik. Athanasius Kirchers Musurgia universalis und die Universalwissenschaft im 17. Jahrhundert. Kassel u. a. 2006 (Schweizer Beiträge zur Musikforschung 4), S. 56. 7 Johann Rist: Sabbahtische Seelenlust. Lüneburg 1651, Zuschrifft, S. 12.
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Abb. 2: Athanasius Kircher: Musurgia universalis. Rom 1650, 1. Teil, Frontispiz.
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Rist „gantz und gahr nichts“ halte.8 Entsprechend gilt auch die für eine Vorrede durchaus topische Stellungnahme gegen die eigenen Kritiker genau diesem Aspekt. So kan Ich doch der neidigen Splitterrichter giftigen Lästerern/ und unzeitigem Richten auch hierin schwerlich entfliehen: Den/ da finden Sich Leute/ welche ihre eigene thöricht gefassete Inbildung ohn einiges gründliches Wissen/ gelehrt und klug machet/ dieselbe geben für/ daß Sie zwahr den Zwek Meiner Geistlichen Bücher und Schrifften an und für Sich selber guhtheissen/ daß aber/ sagen Sie/ könne man nicht loben/ daß Ich Mich so wol auf der Kantzel/ und in meinem Lehramte/ alß auch in meinen Büchern oder Schrifften aller Streitsachen schier gänzlich entschlage/ und fast nimmer/ oder doch gahr selten die irrige Meinungen in den unterschiedlichen Religionen angreiffe und bestreite/ welches doch von einem Diener Gottes werde erfordert.9
Indem Rist seinen Kritikern, die von ihm eine Verurteilung religiöser Irrlehren erwarten, ‚gründliches Wissen‘ abspricht, impliziert er im Umkehrschluss, dass eine umfassende Bildung die Veröffentlichung von Streitschriften verbiete. Darüber hinaus zeigt sich sein bemerkenswert entspanntes Verhältnis zu katholischen Kreisen auch darin, dass er für die übliche Volte, das Selbstlob in die Äußerungen von Bewunderern zu fassen, ausgerechnet eine katholische Majestät bemüht. So hätten dem Kaiser in Wien Rists Himlische Lieder „dermahssen wolgefallen/ daß Sie gleich Lachend sol gesaget haben: Ey dises ist gahr Ein schönes herrliches Lied/ welches man noch einmahl widerhohlen müste/ were gleichwol immer Schade/ daß der Verfasser desselben noch solte zum Teufel fahren.“10 Ungeachtet der engen Verbindungen des kaiserlichen Hofes nach Rom führt Rist als namentlichen Fürsprecher nur Ferdinand III., den komponierenden Fürsten mit vielgepriesenem Kunstverstand, ins Feld. Dies fügt sich insofern ins Bild, als Rist vom Kaiser bereits 1646 zum Dichter ernannt sowie 1653 als Comes Palatinus Caesareus in den Stand eines kaiserlichen Hofpfalzgrafen erhoben wurde. Mit Blick auf Rists Kircher-Rezeption ist die Wertschätzung des Kaisers umso bemerkenswerter, als nicht nur eine von Ferdinand III. komponierte vierstimmige „Musica Caesarea“ in das letzte Kapitel des ersten Teils der Musurgia universalis Eingang gefunden,11 sondern Kircher darüber hinaus auch seinen Traktat dem
8 Ebd., Vorbericht an den Gottlibenden Leser, S. 22. 9 Ebd., S. 21. 10 Ebd., S. 24. 11 Die Komposition Ferdinands III. findet sich in Athanasius Kircher: Musurgia universalis. Rom 1750, 1. Teil, S. 685–689. Zur Verbindung Kirchers zum Wiener Hof siehe Felicia Englmann: Sphärenharmonie und Mikrokosmos. Das politische Denken des Athanasius Kircher (1602–1680). Köln u. a. 2006, S. 103–109; Wald: Welterkenntnis aus Musik (Anm. 6), S. 31.
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Bruder des Kaisers, dem mehrfachen Bischof und österreichischen Erzherzog Leopold Wilhelm, gewidmet hatte (Abb. 2). Die Anlehnung des umfassend gebildeten Rist an Kirchers Musurgia universalis wird im Frontispiz und zwischen den Zeilen auch im Vorbericht der Sabbahtischen Seelenlust greifbar, nur stellt sich unweigerlich die Frage, ob und in welcher Form sich überhaupt Parallelen zwischen dem evangelischen Liederbuch und dem jesuitischen Traktat erkennen lassen. Wenngleich von einer tatsächlichen Überführung des universalharmonischen Gedankenguts in die Liedpraxis schwerlich die Rede sein kann, so lässt sich doch Rists Musikideal im Spiegel von Kirchers Schrift deutlicher fassen. Aufschlussreich erscheint in dieser Hinsicht insbesondere das Frontispiz der Sabbahtischen Seelenlust, und zwar nicht allein wegen dessen ikonographischen Analogien zur Musurgia universalis, sondern mehr noch wegen der Differenzen zwischen den Stichen. Der Hauptunterschied besteht zweifellos darin, dass die Darstellung bei Rist nur die beiden oberen Bereiche, nicht aber die unterste Bildebene übernimmt. Die ‚musica coelestis‘ mit der am höchsten stehenden Trinität und der göttlichen Ziffer 9 in jeder der drei Ecken ist – abgesehen von einer Reduktion der neun Engelschöre auf je eine Gruppe links und rechts – weitgehend analog angeordnet, wenngleich das Bandeau mit dem ‚Dreimahl Heilig‘ an beiden Seiten beschnitten ist. Im Gegensatz zu Kirchers Leser, der darüber informiert wird, dass es sich um einen 36stimmigen Kanon der neun Engelschöre handle – „canon angelicus 36 vocum in 9 choros distributos“ –, dürfte Rists Leser in Ermangelung genauerer Angaben darin nur einen einstimmigen Gesang erkannt haben. Offenkundig verzichtet Rist bewusst auf die vielstimmige Dimension von Romano Michelis kunstvollem Kanon, dessen kontrapunktische Auflösung hingegen Kircher im siebtem Buch der Musurgia universalis unter dem Stichwort „canonicus stylus“ detailliert abgehandelt hatte.12 Weitgehend analog findet sich die mittlere Ebene der ‚musica mundana‘ im Frontispiz von Rists Liedersammlung wieder, mit der kleinen Differenz allerdings, dass die Syrinx aus neun statt wie bei Kircher – in Übereinstimmung mit der Flöte des mythologischen Pan – aus sieben Pfeifen besteht. Im Gegensatz zu Kircher scheint Rist bei der Darstellung der Instrumente keinen gesteigerten Wert auf wissenschaftliche Genauigkeit gelegt zu haben. Dieser Eindruck findet seine Bestätigung schließlich in dem augenfälligen Umstand, dass in Rists Frontispiz die komplette untere Ebene der ‚musica instrumentalis‘ fehlt: Weder Pythagoras und die Schmiede, dank deren Hämmern dieser überhaupt auf die Schwingungsverhältnisse gestoßen ist, noch der Schäfer mit dem Echo oder die auf ihre
12 Kircher: Musurgia universalis (Anm. 11), S. 584 f.
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Instrumente deutende Frauenfigur – sei es die Muse Erato oder Athene13 – in der unteren rechten Ecke sind Teil von Rists Kircher-Rezeption. So sehr das Fehlen dieses essenziellen Aspektes von Kirchers Gedankengebäude in Anbetracht der noch in den 1660er-Jahren geäußerten Vorzüge der Musurgia universalis erstaunen mag,14 so genau fügt sich die damit verbundene theoretische Umdeutung der universalharmonischen Parameter in Rists praktisches Liedideal.
2 „Musica pathetica“ Paradoxerweise bewirkt ausgerechnet der Verzicht auf die gesamte ‚musica instrumentalis‘ und somit auf alle menschgemachte Musik im Frontispiz der Sabbahtischen Seelenlust eine noch engere Anbindung der musikalischen Praxis an die Trinität. Durch den Wegfall der ‚musica instrumentalis‘ erfährt die ‚musica mundana‘, die in universalharmonischem Sinne die harmonische Beschaffenheit irdischer Phänomene umfasst, bei Rist eine markante Umdeutung. Während bei Kircher die ‚musica instrumentalis‘ durch die ‚musica mundana‘ von der ‚musica coelestis‘ getrennt und die beiden Sphären bloß indirekt über die universalharmonischen Gesetzmäßigkeiten miteinander verbunden sind, fällt bei Rist diese Zwischenstufe weg, infolgedessen der analogen Darstellung einer auf der Weltkugel ruhenden, nun eindeutig weiblichen Figur eine neue symbolische Bedeutung zukommt: Aus Kirchers theoretischer ‚musica mundana‘ wird bei Rist ‚Frau Musica‘. Im Gegensatz zu Kirchers Konzeption, die der komponierten Musik eine nur unvollkommene Annäherung an die göttliche Harmonie zuerkennt,15 führt bei Rist die musikalische Praxis unmittelbar zu Gott. Mit seiner modifizierten Bezugnahme auf die Musurgia universalis dokumentiert das Frontispiz der Sabbahtischen Seelenlust nichts Geringeres als eine lutherische Umdeutung der jesuitischen Musikauffassung.
13 Zu einer detaillierten Deutung von Kirchers Frontispiz siehe u. a. Dammann (Anm. 5), S. 406– 412. Dammann deutet die Frauenfigur unten rechts als Athena, Boenicke: Das zehnte Buch der Musurgia universalis (Anm. 6), S. 96, als Erato. 14 Siehe dazu den Beitrag von Bernhard Jahn in vorliegendem Band – Johann Rist: Sämtliche Werke. Unter Mitwirkung von Helga Mannack und Klaus Reichelt hg. von Eberhard Mannack. Bd. 5: Epische Dichtungen (Die alleredelste Torheit, die alleredelste Belustigung). Berlin, New York 1974, S. 344. 15 Vgl. Ulf Scharlau: Zur Einführung in Athanasius Kirchers „Musurgia universalis“. In: Athanasius Kircher: Musurgia universalis. Hg. von Ulf Scharlau. Hildesheim, New York 1970, S. IX.
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Während Rists interkonfessionelle Bezugnahme auf Kircher im Kupferstich hervortritt, belegt die Vorrede wiederum eine klare Anlehnung an Luther. Darin knüpft er an die lutherische Vorstellung an, dass sich durch die „Musica“ der „Sathan“ in die Flucht schlagen lasse, so wie bereits David mit seiner Harfe bei König Saul den bösen Geist vertrieben habe.16 Da sich die Botschaft durch Klang zusätzlich steigern lasse, haben die heiligen Veter und Propheten nicht vergebens das wort Gottes in mancherley Gesenge, Seitenspiel gebracht, davon wir denn so mancherley köstliche Gesenge und Psalm haben, welche beide mit worten und auch mit dem gesang und klang die hertzen der Menschen bewegen.17
In eben diese lutherische Tradition stellt sich Rist, wenn er in der Sabbahtischen Seelenlust die Hoffnung zum Ausdruck bringt, selbst einmal in die Reihe „Davidische[r] Nachfolger“ aufgenommen zu werden.18 Als entscheidend erweist sich in diesem Zusammenhang, dass die Parallele zwischen den Psalmen Davids und Rists Liederbüchern keineswegs bloß eine metaphorische ist. Ich stelle aber zu Vermeidung aller Weitläuffigkeit dem Christlichen Leser nur den einstigen Königlichen Dichter und Mann Gottes David für die Augen: Daß desselben hocheilige Psalmen anders nichtes als in Reimen gesetzete Lider und Gesänge sind/ solches ist auch den schlechtgelehrten gahr wohl wissend/ man spüret aber in denselben mit höhester Verwunderung/ wie dieser heiliger und Geistreicher Dichter beides daß Docere & Delectare, lehren und belustigen/ so fleissig und klüglich habe in acht genommen.19
Ebenso wie es sich bei der Definition der Psalmen als ‚in Reime gesetzte Lieder‘ im Grunde um eine praktische Gleichsetzung mit Rists eigenen Dichtungen und deren Vertonungen handelt, spiegelt sich in Davids „Docere & Delectare“ die eigentliche Funktion der Liedersammlungen wider. Analog zu David bestehen auch „der führnehmste Zwek und Ziel“ eines zeitgenössischen „rechtschaffenen Dichters/ und geübeten Poeten“ unverändert darin, „dises beides“ zu erfüllen: die Leser zu „unterrichten und lehren“ sowie zu „belustigen“.20 Durch die Verbindung von Belehrung mit Belustigung soll „die Gottseligkeit“, die „himlische Mutter aller andern Tugenden“ und Inbegriff des Glaubens, erregt werden, deren Qualitäten – „lieblich/ süß und angenehm“ – das Herz als
16 Martin Luther: Praefatio zu den Symphoniae iucundae. 1538. In: D. Martin Luthers Werke (Weimarer Ausgabe), Abteilung Schriften/Werke, 1536–1539. Bd. 50. Weimar 1914, S. 371. 17 Ebd. 18 Rist: Sabbahtische Seelenlust (Anm. 7), Zuschrifft, S. 6. 19 Ebd., S. 5. 20 Ebd., S. 3.
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Bezugspunkt ins Zentrum rücken.21 Für diesen Zweck erscheint die Musik prädestiniert, weshalb nicht nur Luther sie als „Herrin und Regiererin des menschlichen Hertzen“ apostrophierte,22 sondern auch Rist das „Singen“ im selben Atemzug wie das „Behten“ zu der wichtigsten „Ubung aller Gottseligkeit“ zählt.23 Die Vorstellung, mit musikalischen Mitteln den Glauben zu stärken, tritt im Vorbericht zu den 1655 erschienenen Neuen Musikalischen Fest-Andachten, deren Vertonungen ebenfalls von Thomas Selle stammen, besonders deutlich hervor. Die Fokussierung auf das Herz als Bindeglied zu Gott spiegelt sich sogleich im Frontispiz der Sammlung, das gegenüber der Sabbahtischen Seelenlust und indirekt der Musurgia universalis eine weitere Zuspitzung erfährt (Abb. 3). Hatte Rist bei der Sabbahtischen Seelenlust die ikonographische Darstellung von Kirchers ‚musica mundana‘ in eine lutherische ‚Frau Musica‘ umgedeutet, so zeigt sich in den Musikalischen Fest-Andachten nun eine gezielte Verengung der praktischen Musik auf ihre religiöse Wirkungsmacht. „Johan Risten Musicalische Festandachten“ lassen das Herz hin zur Trinität überströmen und sind als direktes Bindeglied zu Gott auf derselben Ebene wie die musizierenden Engel angesiedelt – in den Kategorien Kirchers gesprochen, zählen Rists Lieder nun gleichsam zur ‚musica coelestis‘. Mit Kirchers universalharmonischer Konzeption ist diese Verschiebung schwerlich in Einklang zu bringen, weshalb sich umso mehr die Frage nach den Gründen für Rists Interesse an dem jesuitischen Traktat aufdrängt. Es ist davon auszugehen, dass Rist als studierter Arzt Gefallen an den anatomischen Beschreibungen der Hörorgane – „perfect[a] organi acustici phonicique notitia“24 – im ersten Buch der Musurgia universalis gefunden hat.25 In erster Linie verantwortlich für die auffallend positive Rezeption über konfessionelle Gräben hinweg dürfte jedoch das siebte Buch gewesen sein, in dem Kircher die „musica pathetica“ entfaltet, mit deren wunderbarer Kraft die Hörer zu den verschiedensten Affekten bewegt werden können.26 Diese Vorstellung deckt sich direkt mit der
21 Ebd., S. 4. 22 Luther: Praefatio zu den Symphoniae iucundae (Anm. 16), S. 370 f. 23 Johann Rist: Neue Musikalische Fest-Andachten. Hamburg 1655, Nothwendiger Vorbericht, fol. B 3r. 24 Kircher: Musurgia universalis (Anm. 11), Praefatio I. Ad lectorem, S. [XVII]. 25 Zu Rists Studium der „Artznei“ siehe auch Rist: Sabbahtische Seelenlust (Anm. 7), Vorbericht an den Gottlibenden Leser, S. 22. 26 Zu Kirchers „musica pathetica“ im 7. Buch der Musurgia universalis siehe u. a. Susanne Schaal-Gotthardt: Musica pathetica: Kirchers Affektenlehre. In: Ars magna musices (Anm. 6), S. 141–154; Ulf Scharlau: Athanasius Kircher und die Musik um 1650. Versuch einer Annäherung an Kirchers Musikbegriff. In: Athanasius Kircher und seine Beziehungen zum gelehrten Euro-
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Abb. 3: Johann Rist: Neue Musikalische Fest-Andachten. Hamburg 1655, Frontispiz.
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auch von Luther geteilten, allgemein-medizinischen Überzeugung, dass nichts als „die Musica“ geeigneter dazu sei, „die Traurigen frölich, die Frölichen traurig, die Verzagten hertzenhafftig zu machen“.27 Im Sinne der von Kircher detailliert beschriebenen kompositorischen Möglichkeiten, gezielt Einfluss auf die Geistesverfassung der Hörer zu nehmen, verspricht das Frontispiz der Neuen Musikalischen Fest-Andachten eine zu Gott hinführende Erregung des Herzens. Die hierfür angestrebte Stimmung lässt sich mit Blick auf den Vorbericht leicht erahnen: Rists Gedichte in der Vertonung von Selle dienen als ‚musica pathetica‘ dem idealen Affekt der ‚Gottseligkeit‘.
3 Musik für „Gott- und Kunstliebende Hertzen“ Ein zentrales Moment, ohne das sich die Rolle der Musik in Rists Liedersammlungen nicht befriedigend fassen lässt, ist der Stellenwert der Kunst. Während die affektive Wirkungsmacht erheblich zur Legitimierung von Musik für geistliche Zwecke beigetragen hat, stellt sich durchaus die Frage, inwieweit umgekehrt die Schlichtheit von Luthers Kirchenliedern in Rists Verständnis den künstlerischen Spielraum einschränkte. Bei einem genaueren Blick stellt sich leicht heraus, dass dieses Repertoire zwar für die Sabbahtische Seelenlust eine gewisse Rolle spielte, jedoch nicht im Sinne einer stilistischen Modellhaftigkeit wirksam war. Für die musikalische Umsetzung scheint vielmehr ein abstraktes Denkmodell Pate gestanden zu haben, das sich ebenfalls auf Luther zurückführen lässt: „Wo aber die natürliche Musica durch die Kunst gescherfft und polirt wird, da sihet und erkennet man […] mit grosser verwunderung die grosse und volkomene weisheit Gottes in seinem wunderbaren werck der Musica“.28 Ohne genauer auf die stilistischen Eigenheiten einer solcherart ‚polierten‘ Musik einzugehen, eröffnen sich für eine praktische Anwendung die vielfältigsten Möglichkeiten und steht im Falle von Rists Liedersammlungen der zeitgenössischen „edlen Singekunst“ selbst für geistliche Zwecke nichts im Wege.29 Wie bereits die Himlischen Lieder richtet sich denn auch die Sabbahtische Seelenlust an die „Gott- und Kunstlibenden Hertzen“ – Herzen, die durch affektive Kunst zu ‚Gottseligkeit‘ animiert
pa seiner Zeit. Hg. von John Fletcher. Wiesbaden 1988 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 17), S. 53–67. 27 Luther: Praefatio zu den Symphoniae iucundae (Anm. 16), S. 371. 28 Ebd., S. 372. 29 Siehe u. a. Rist: Sabbahtische Seelenlust (Anm. 7), Vorbericht an den Gottlibenden Leser, S. 26.
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werden sollen.30 In diesem Sinne rechtfertigt sich schließlich auch Rists Zusammenarbeit mit Thomas Selle, dessen fortschrittlicher Standpunkt sich etwa in seiner Kurtzen doch gründtlichen anleitung zur Singekunst niedergeschlagen hat, die er zur Niveausteigerung des Musikunterrichts am Johanneum spätestens 1643 verfasste.31 Die auf Selle bezogene Passage in Rists Vorbericht zur Sabbahtischen Seelenlust dokumentiert entsprechend sowohl die kunstbeflissenen Adressaten als auch Selles musikalischen Stellenwert im damaligen Hamburger Musikleben. Damit aber auch die Liebhaber der edlen Singekunst nicht zu klagen haben/ so sind hieselbst auch gantz Neue von meinem liebwehrten Freunde/ Herren Thoma Sellio der wolbestalten Musik bei der hochlöblichen Statt Hamburg verordentem Führer/ und Regierer/ fleissig/ beweglich und künstlich gesetzete Melodeien zu finden/ welche von einem ietweden Gesangmeister und anderen hieser Kunst zugethanen/ auf Orgeln/ Regaln/ Lauten/ Geigen und dergleichen Musikalischen Instrumenten nützlich und anmuhtig können gespielet/ und mit lebendigen Stimmen dazu gesungen werden.32
Die von Rist beschriebene musikalische Umsetzung verweist analog zu seinen Liedersammlungen auf eine Generalbasspraxis hin, die je nach Möglichkeiten auch eine instrumentale Doppelung der Gesangsstimmen umfasst haben wird.33 Mit Blick auf die Bedeutung des Generalbasses dürfte sich zudem eine weitere Differenz zwischen den Frontispizen der Sabbahtischen Seelenlust und der Musurgia universalis erschließen (Abb. 1 und 2): Kirchers Engelschöre singen einen hochkomplexen 36-stimmigen Kanon, während bei Rist – infolge der abgeschnittenen Schriftzüge – dieselbe Melodie nur als einstimmige erscheint, was im Kontext der Liedersammlung eine potenzielle Generalbassbegleitung impliziert. Im Gegensatz zu Kircher, der das Bindeglied in der analogen harmonischen Konstruktion von Universum und Musik erkennt, ereignet sich bei Rist die Annährung an Gott über die ‚beweglichen‘, also bewegenden Melodien. Und die hierfür prädestinierte Satztechnik war im Verständnis des frühen 17. Jahrhunderts selbstredend
30 Ebd., Zuschrifft, S. 6. 31 Zur musiktheoretischen Bewertung von Selles Traktat, in dem er etwa das moderne „Clavisieren“ anstelle der traditionellen Solmisation einfordert, siehe die Einleitung von Joanna Carter in: Anleitung zur Singekunst of Thomas Selle. An Introduction, Edition, Translation and Facsimile. Ottawa 2006 (Musical Theorists in Translation 17), S. 1–26. Zu Selles Musikalischer Ausbildung an der Thomasschule in Leipzig siehe Franz Josef Ratte: Thomas Selle. Leben und Werk zwischen Tradition und Innovation. In: Thomas Selle (1599–1663). Beiträge zu Leben und Werk des Hamburger Kantors und Komponisten anläßlich seines 400. Geburtstages. Herzberg 1999, S. 195–198. 32 Rist: Sabbahtische Seelenlust (Anm. 7), Vorbericht an den Gottlibenden Leser, S. 26 (Hervorhebung original). 33 Zur Aufführungspraxis, bei der wahrscheinlich auch die textierte Bassstimme gesungen worden ist, vgl. Küster: „O du güldene Musik!“ (Anm. 1), S. 126 f.
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nicht der intellektuell konstruierte Kontrapunkt, sondern der affektive Generalbass. Obwohl Kircher in der Musurgia universalis auf eine beeindruckende Reihe an zeitgenössischen italienischen Komponisten bis hin zu Monteverdi oder Kapsberger zu sprechen kommt,34 bleiben die Ausführungen der Ebene der ‚musica instrumentalis‘ – als nur unvollkommenem, menschgemachtem Abbild der ‚musica coelestis‘ – verhaftet. So bedeutsam die beschriebenen aktuellen Beispiele für damalige Musiker gewesen sein müssen – auch Selle besaß nachweislich den Erstdruck der Musurgia universalis von 165035 –, so wenig wäre für Kircher die Anwendung in geistlichen Kontexten denkbar gewesen. Ganz anders bei Rist: Da die praktische Musik unmittelbar zur Gottseligkeit führt, verschwimmen zwangsläufig die Grenzen zwischen Kirchenlied und geistlichen Generalbassgesängen.36 Konkret schlägt sich eine solche Gleichsetzung in den von Rist dargelegten Zwecken der Sabbahtischen Seelenlust und den Neuen Musikalischen Fest-Andachten nieder, die sowohl in der musikalischen Stillage als auch funktional mit einer direkten Bezugnahme auf das Kirchenjahr – gleichsam im Sinne des Propriums37 – demselben Modell entsprechen. Trotz dieser grundsätzlichen Gemeinsamkeiten scheint Rist für die beiden Sammlungen jedoch unterschiedliche Aufführungskontexte vorgesehen zu haben: die Lieder der Sabbahtischen Seelenlust seien „nicht eben der Würden […]/ daß sie öffentlich in der Kirchen mügen gesungen und gespielet werden“, und gehörten in die Hausmusik,38 die Neuen Musikalischen Fest-Andachten dienten wiederum der erklärten Absicht, einen kirchenmusikalischen „Mangel“ in „unseren Evangelischen Kirchen“ zu beheben.39
34 Monteverdi-Bezüge finden sich in Kirchers Musurgia universalis im 1. Teil, S. 310, 331, 594, Kapsberger-Bezüge im 1. Teil, S. 315, 476, 586–594. 35 Siehe Jürgen Neubacher: Die Musikbibliothek des Hamburger Kantors und Musikdirektors Thomas Selle (1599–1663). Rekonstruktion des ursprünglichen und Beschreibung des erhaltenen, überwiegend in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky aufbewahrten Bestandes. Neuhausen 1997 (Musicological Studies & Documents 52), S. 70. 36 Für eine Relativierung der Differenz zwischen Kirchenlied und geistlichem Lied im 17. Jahrhundert plädiert auch Küster: „O du güldene Musik!“ (Anm. 1), S. 111. Einen wiederholt kritisierten Versuch, zwischen geistlichem Lied und Kirchenlied klar zu unterscheiden, unternimmt Irmgard Scheitler: Das Geistliche Lied im deutschen Barock. Berlin 1982 (Schriften zur Literaturwissenschaft 3), S. 230–239. Zur Kritik an Scheitler siehe u. a. Joachim Kremer: Der „kunstbemühte Meister“. Christian Flor als Liedkomponist Johann Rists. In: Christian Flor (1626–1697) – Johann Abraham Peter Schulz (1747–1800). Texte und Dokumente zur Musikgeschichte Lüneburgs. Hg. von Friedrich Jekutsch u. a. Hamburg 1997 (Musik der frühen Neuzeit. Studien und Quellen zur Musikgeschichte des 16.–18. Jahrhunderts 2), S. 57. 37 Vgl. Küster: „O du güldene Musik!“ (Anm. 1), S. 105. 38 Rist: Sabbahtische Seelenlust (Anm. 7), Zuschrifft, S. 16. 39 Rist: Neue Musikalische Fest-Andachten (Anm. 23), Nohtwendiger Vorbericht, S. [1].
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Umrissen ist mit dem anscheinenden Gegensatz jedoch nicht eine tatsächliche Differenzierung, sondern die Bandbreite des Verwendungszweckes: Ebenso wie in der Hausmusik diente der Gesang schließlich auch in der Kirche der Erregung von ‚Gottseligkeit‘. Diese doppelte Bestimmung spiegelt sich nicht zuletzt in der Vorrede zur Sabbahtischen Seelenlust, deren Zuordnung zur Hausmusik sich als bloßer Ausdruck eines typischen Bescheidenheitstopos entschlüsseln lässt. Rist insistiert zwar auf der mangelnden Würde der Gesänge für die Kirche, aber nicht, ohne ihnen umgehend mit einer Klammerbemerkung – „(wiwol solches ins Werk stellen zu lassen/ grosse Theologen Sich haben erbohten;)“ – die Tauglichkeit dafür einzuräumen.40 Nach dem Gottesdienst soll die von der Kanzel vernommene Botschaft dadurch ihre größtmögliche Wirkung entfalten, dass das für den jeweiligen Tag im Kirchenjahr bestimmte Generalbasslied aus der Sabbahtischen Seelenlust zuhause musiziert wird – eine Verknüpfung von Hausmusik und Predigt, die sich an dieser Stelle direkt in Rist Bezeichnung des Generalbassgesangs als „Evangeliumslied“ niederschlägt.41 Dank des auf ‚Gottseligkeit‘ ausgerichteten Affektes sind die Generalbasslieder nicht nur grundsätzlich für den Gottesdienst zulässig, sondern sogar aufs Engste mit der Predigt verknüpft – mehr noch: Sie versinnlichen deren Kernaussage. In welchem Maße die Wirkung durch eine musikalische Affizierung verstärkt werden soll und diese Zielsetzung selbst die Konzeption der Gedichte bestimmt, verdeutlicht Rists Verzicht darauf, die „Evangelien in gebundener Rede“ zu verfassen, was nicht „sonderlich würde nützen“.42 […] weßwegen Ich auf andere Gedanken bin gerahten/ und nach fleissiger/ mit Mir selber gehaltenen Rahtschlagung der gäntzlichen Meinung worden/ daß es zu Heiligung des Sabbahts/ und fernerer Erbauung deß wahren Christenthumbs viel ersprießlicher sein würde/ wen man auß Einem jetweden Evangelio die führnehmsten Haubtlehren/ Ermahnung/ Warnung und Trost nehmen/ selbige in gewisse Lider verfassen/ auff gebräuchliche Melodeien setzen/ und also den Christlichen Gemeinen mit der Zeit würde bekant machen.43
Während sich Rist in poetologischer Hinsicht explizit auf Opitz’ Psalter bezieht,44 sucht er nach einer inhaltlichen Fokussierung auf die ‚Hauptlehren‘. Dass sich trotz dieser Konzentration dennoch lange Gedichte ergeben, weil sich die Botschaft nicht beliebig kürzen lasse, wird ebenso ins Positive gewendet wie die damit verbundene Klage, bei zu vielen Strophen auf dieselbe Melodie zu ermüden;
40 Rist: Sabbahtische Seelenlust (Anm. 7), Zuschrifft, S. 16. 41 Ebd., Vorbericht an den Gottlibenden Leser, S. 20. 42 Ebd., S. 18. 43 Ebd. 44 Ebd.
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die „Seelenspeise“ wird durch die Ausdehnung umso wirkungsvoller.45 Zentrale Voraussetzung hierfür ist die Funktion der Musik, deren Affektwirkung im Sinne der ‚musica pathetica‘ in einer Weise unabdingbar ist, dass Rist einerseits für die Vertonungen avancierte Mittel befürwortet, andererseits bei den „Reimahrten“ aber bewusst auf die neuesten Modelle verzichtet, obwohl damit „auch der Kunstbegierigen Jugend vielmehr were gedienet gewesen“.46 Die dichterische Beschränkung erweist sich als Kehrseite der unbedingten Musikalisierung. Um einem größtmöglichen Adressatenkreis den Weg zur klingenden ‚Gottseligkeit‘ und zur Festigung des Glaubens zu ebnen, was selbstredend das Ziel des Geistlichen sein musste, entschied er sich für ein bemerkenswertes Vorgehen. Anstatt seine Dichtungen unabhängig von der nachträglichen Vertonung zu verfassen, schrieb er sie „auf bekante/ und in den Evangelischen Kirchen gebräuchliche Melodeien“.47 Daraus resultierte eine empfindliche Einschränkung der schriftstellerischen Freiheit, was der dichterisch zweifellos ambitionierte Rist zu einer ganz besonderen Kunst erklärte, da die Schwierigkeiten, die Umtextierung „nach der Dichtkunst Grundrichtigkeit“ vorzunehmen, ungleich größer seien, als nach den „allerneuesten Reimahrten zu arbeiten“.48 Im Gegensatz zur Dichtkunst, die zugunsten einer allgemeinen Singbarkeit durch präexistente Melodien eingeschränkt erscheint, findet sich auf der musikalischen Ebene kein vergleichbarer Kompromiss. Wer in der „Singekunst“ ungeübt war, konnte auf bestehende Alternativmelodien, von deren Reimschemata die Dichtungen ja abgeleitet worden sind, zurückgreifen. Zugleich wurden jedoch derselben ‚kunstbegierigen Jugend‘, der in sprachlicher Hinsicht die allerneuesten Formen vorenthalten blieben, in der Sabbahtischen Seelenlust ebenso wie in den Musikalischen Fest-Andachten „dermahssen wol/ anmuhtig/ künstlich und geschicklich“ gesetzte Vertonungen geboten, dass sie überhaupt nur „Gelehrte und Musikverständige“ würdigen konnten.49 Daraus ergibt sich paradoxerweise, dass die überlieferten Kirchenlieder in den Neukompositionen allein in der sprachlichen Versstruktur ihre Spuren hinterlassen haben, nicht aber auf der vollkommen neuen musikalischen Ebene. Die in der Sabbahtischen Seelenlust und den Musikalischen Fest-Andachten enthaltene „Singekunst“ – eine Charakterisierung, die der Dichter nur in seinen beiden Selle-Sammlungen verwendet – zeichnet sich genauso wie Rists übrige
45 Ebd., S. 23. 46 Ebd., S. 25. 47 Ebd. 48 Ebd., S. 26. Siehe auch Rist: Neue Musikalische Fest-Andachten (Anm. 23), Nohtwendiger Vorbericht, fol. B 4r. Zu Rists Selbstverständnis als Dichter vgl. Scheitler: Das Geistliche Lied im deutschen Barock (Anm. 36), S. 249–268. 49 Rist: Neue Musikalische Fest-Andachten (Anm. 23), Nohtwendiger Vorbericht, fol. B 4r.
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Abb. 4: Johann Rist/Thomas Selle: Sabbahtische Seelenlust (1651), Nr. VII „Waß klagst du viel betrübter Christ“ (Discantus, Bassus und Beginn des Liedtextes – über Discantus und Bassus stehen noch die letzten Strophen des vorangegangenen Liedes).
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Liederdrucke durch eine an der italienischen Aria ausgerichtete musikalische Faktur aus.50 Ganz im Geiste der affektiven Wirkung, die mit der Entstehung des Generalbasses aufs Engste verbunden ist, zeigen Selles Vertonungen eine starke Ausrichtung der Harmonik am Textinhalt sowie kleingliedrige inhaltliche Bezüge in der Melodik. Die Bandbreite der von Selle genutzten Möglichkeiten ist erheblich und reicht bis zu harmonischen Konzeptionen, bei denen optische Momente mitentscheidend gewesen sein dürften. So zieht etwa in der Vertonung des siebten Gedichtes der Sabbahtischen Seelenlust („Uber das Evangelium am Sontage nach dem Fest der Beschneidung Christi“) der Beginn in a-Moll mit einer äußerst präsenten fünften Stufe E-Dur zu einer entsprechenden Häufung von Kreuzen in der Bassbezifferung (Abb. 4).51 Insbesondere der unvermittelte A-DurKlang auf dem Wort „Kreutz“ spricht für eine gezielte symbolische Verwendung des Vorzeichens, lässt sich doch nur mit dem Terzton cis statt c in der Diskantund Bassstimme ein Kreuz setzen. Ebenfalls auf den Text der ersten Strophe bezogen wirkt der Bass am Übergang von der zweiten zur dritten Gedichtzeile:52 Analog dazu, wie die „Noht dein Hertz abreist“, reißt der äußerst unsangliche Sprung von A in die übermäßige Oktave as mit einem unvermittelten As-Dur den harmonischen Faden ab. Aufgefangen werden die kunstvollen und unmittelbar textbezogenen Wendungen durch einen großformalen harmonischen Bogen, der seinerseits ebenfalls dem Inhalt verpflichtet ist: Er führt vom a-Moll-Beginn des ‚betrübten Christen‘ hin zum tröstenden C-Dur-Schluss des ‚getreuen Gottes‘. Durch eine detaillierte Bezugnahme der Musik auf den Wortlaut des Gedichts sollen die ‚Gott- und Kunstliebenden Hertzen‘ gezielt in diejenige Stimmung versetzt werden, die dem jeweiligen Tag im Kirchenjahr angemessen ist. Dieser Zweck rechtfertigt die in ihrem Ursprung genuin weltlichen Mittel der Generalbasskomposition, die bei Rist gleichsam eine geistliche Nobilitierung erfahren. Wie der Vorrede zu den Musikalischen Fest-Andachten zu entnehmen ist, bestehe Selles Meisterschaft explizit darin, dass er „mit den Sangweisen/ Sich sehr wol und gahr vernünfftig nach dem Text und Wohrten hat gerichtet und geschikket“.53 Die entscheidende Qualität besteht hierbei nicht nur in einer poetologisch korrekten Überführung der Verse in Musik, sondern mehr noch in einer adäquaten affektiven Wirkung.
50 Zur Bedeutung der italienischen Aria für Rists Liederdrucke vgl. Küster: „O du güldene Musik!“ (Anm. 1), S. 111–163. 51 Rist: Sabbahtische Seelenlust (Anm. 7), S. 38–44 (Nr. VII). 52 Dank eines Schreibens Christian Flors kann erschlossen werden, dass Rist seinen Komponisten in der Regel nur die erste Strophe der Dichtungen für die Vertonung zukommen ließ. Siehe dazu Kremer: Der „kunstbemühte Meister“ (Anm. 36), S. 66. 53 Rist: Neue Musikalische Fest-Andachten (Anm. 23), Nohtwendiger Vorbericht, fol. B 4r.
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Abb. 5: Johann Rist/Thomas Selle: Musikalische Fest-Andachten (1655), Nr. XXVII „O Fröliche Stunden“ (Discantus, Bassus und Beginn des Liedtextes).
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Als zum Exempel: Man nehme Ein Kahr-Freitages-Andacht/ lasse diselbe auf Einem Instrumente/ Es sei Eine Orgel/ Laute/ Theorbe/ Pandor oder dergleichen Einem spielen/ und den Text fein beweglich dazu singen/ was gilts/ ob Sie nicht manchem viele Seuftzer aus dem Hertzen/ ja wol gahr bittere Trähnen aus den Augen sollen treiben und lokken? Disem zugegen laß Dir Ein Osterliedlein mit Seiner neuen/ frölichen Melodie singen und spielen: Was gilt es/ ob du nicht gleichsahm im Geiste entzükket/ wirst jauchtzen/ hüpfen/ springen und von gantzer Seele dich erfreuen? Welche verwunderliche Wirkung der alleredelsten/ ja recht Göttlichen Musik fürwahr allein genug sein sollte/ dise ausbündige Wissenschaft biß an den Himmel zu erheben/ und deroselben vernünftige Liebhaber.54
Während die in E-Dur stehenden und entsprechend reich mit Kreuz-Vorzeichen versehenen drei Karfreitags-Gesänge der Musikalischen Fest-Andachten durch geschärfte chromatische Vorhalte geprägt sind,55 gehört das Ostersonntagslied Nr. XXVII, „O Fröliche Stunden“, zweifellos zu den von Rist erwähnten Melodien, die den Geist ‚entzücken, jauchzen, hüpfen und springen‘ lassen (Abb. 5).56 Dieses zweite Osterlied steht – genauso übrigens wie der vorangehende Gesang zum Ostersonntag – in einem mit D-Dur changierenden, dorisch gefärbten d-Moll. Abgesehen von dieser ‚reinen‘ Tonart, die bei der Textstelle „Trotz Feinden/ Trotz Teufel/ Trotz Hölle/ Trotz Tod“ im Skalenabstieg nur kurzzeitig in Abgründe weist, ist es insbesondere das Dreiermetrum, das den musikalischen Charakter prägt. Die im 17. Jahrhundert längst weniger mit der Trinität, als vielmehr mit Tanzmusik assoziierte Dreizeitigkeit lässt im damaligen Verständnis buchstäblich den Geist springen und hüpfen.57 Es sind allerdings ausgerechnet diese, die Freude über die Auferstehung ausdrückenden, tänzerischen Konnotationen, die an die Grenzen des Zulässigen stoßen und die immanente religiöse Problematik von Rists affektivem Musikbegriff offenlegen. Einerseits werden die kompositorischen Topoi zweifellos bewusst den aktuellen weltlichen Praktiken aus dem Umfeld der frühen Oper entlehnt, andererseits bergen genau diese musikalischen Mittel ein moralisches Dilemma in sich. Wie sehr Rist um eine Lösung gerungen haben muss, lässt die Vorrede zu seiner Frommer und Gottseliger Christen Alltäglichen Haußmusik erahnen, die 1654, drei Jahre nach der Sabbahtischen Seelenlust und ein Jahr vor den Musikalischen Fest-Andachten, erschienen ist.
54 Ebd., fol. B 4r–v. 55 Ebd., S. 144–164. 56 Ebd., S. 172–179. 57 Zur Bedeutung von Rhythmus und Metrum in der frühneuzeitlichen Tanzmusik siehe auch Ivana Rentsch: Die Höflichkeit musikalischer Form. Tänzerische und anthropologische Grundlagen der frühen Instrumentalmusik. Kassel u. a. 2012, S. 260–309.
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In deme Sie die Weise dieser Gesänge/ nit gleichsam üppig springend und (so zu sagen), weltlich/ oder nach der eitlen Täntzer Ahrt Sondern fein andächtig/ leicht/ beweglich und anmuhtig gemachet, wodurch Sie denn ein nit geringes Lob bei allen kunstliebenden erworben.58
Die Gesänge sind laut Rist nicht nach Art der ‚eitlen Tänzer‘ verfasst, sondern genau am anderen Pol der Skala angesiedelt. Indem die bewegende geistliche Musik faktisch denselben musikalischen Prinzipien wie die weltliche Praxis verpflichtet ist und allein die Grenzen der Andacht über die Zulässigkeit für geistliche Zwecke bestimmen, wird ein kategorialer Unterschied zwischen weltlicher und geistlicher Musik obsolet. Rists Musikauffassung birgt den doppelten Widerspruch in sich, erstens weltliche Tonkunst für geistliche Zwecke einzusetzen, und zweitens die im Sinne Luthers angestrebte Affektwirkung mit Kirchers jesuitischem Traktat zu flankieren. Der Zweck, die Musik und deren „vernünftige Liebhaber“ bis „an den Himmel zu erheben“, heiligt alle Mittel.59 Abbildungsnachweise Abb. 1, 3–5: Bayerische Staatsbibliothek München. Abb. 2: Archiv der Autorin.
58 Johann Rist: Frommer und Gottseliger Christen Alltägliche Haußmusik oder Musikalische Andachten. Lüneburg 1654, Nohtwendiger Vorbericht an den Leser, S. [IX]. 59 Rist: Neue Musikalische Fest-Andachten (Anm. 23), Nohtwendiger Vorbericht, fol. B 4r–v.
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Himmlische Lieder in Hamburg, Lübeck und Lüneburg Zur Rezeption von Johann Rist in Gesangbüchern norddeutscher Hansestädte
1 Einleitung Johann Anselm Steiger hat im Kontext seines großen Rist-Editionsprojekts ein Verzeichnis von 701 geistlichen Liedern erstellt, die dem fruchtbaren Barockdichter Johann Rist zugeschrieben werden dürfen. Das Incipit-Register mit Quellennachweisen „führt nicht nur vor Augen, wie umfänglich Rists geistlich-lyrische Produktion war, sondern schafft auch im Sinne bibliographischer Grundlagenforschung ein wichtiges Fundament für die spezifisch hymnologisch-historische (und bislang keineswegs auch nur annähernd beantwortete) Fragestellung, welchen Liedern Rists wann und in welchen Regionen bevorzugt die Aufnahme in die offiziellen Gesangbücher oder in andere Liedsammlungen gewährt wurde.“1 Ein solches Desiderat greift ein Hymnologe gerne auf! Die neue, vorbildliche Kritische Edition der 50 Himmlischen Lieder von 1641/422 ist ein zusätzlicher Ansporn.3
1 Johann Anselm Steiger: Carmina spiritualia Ristiana. Bibliographie sämtlicher geistlicher Lieder Johann Rists (1607–1667). In: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 52 (2013), S. 171–204, hier S. 171 f. Zur Vorbereitung dieses Vortrags stellte mir der Autor das Verzeichnis freundlicherweise vorab zur Verfügung. 2 Johann Rist, Johann Schop: Himmlische Lieder (1641/42). Kritisch hg. und kommentiert von Johann Anselm Steiger. Kritische Edition des Notentextes von Konrad Küster. Mit einer Einführung von Inge Mager. Berlin 2012. Die 50 Lieder erschienen zunächst in fünf Einzelheften zu je zehn Liedern, wurden mehrfach nachgedruckt und in überarbeiteter und neu geordneter Form 1652 von Rist als Gesamtausgabe herausgegeben (DKL 165205). 3 „Ein gewiß lohnenswertes Forschungsfeld stellt die reichhaltige Wirkungsgeschichte von Rists ‚Himmlischen Liedern‘ dar: in den Gesangbüchern (nicht nur des norddeutschen Raumes), in der Kirchenmusik (nicht nur bei Johann Sebastian Bach) und darüber hinaus, etwa im schulischen Lehrbetrieb.“ Inge Mager: Johann Rists ‚Himmlische Lieder‘. Eine Einführung. In: Rist, Schop: Himmlische Lieder 2012 (Anm. 2), S. 576.
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Vorweg vier Bemerkungen zur Eingrenzung des Themenfelds: 1. Allein wegen der bereits seit 1976 vorliegenden Faksimileausgabe4 (vgl. Abb. 1) und der neuen Kritischen Edition liegt die Konzentration auf die Himmlischen Lieder nahe. Darüber hinaus waren und sind die überaus erfolgreichen ‚Himmelslieder‘ – so wurden sie von Zeitgenossen auch genannt – bis heute für Rists Wirkungsgeschichte von größter Bedeutung. 2. Systematische Untersuchungen zur Rezeption Rists stehen selbst für seinen Lebensraum Norddeutschland noch aus. Im Sinne eines ersten Beitrags zur regionalen Wirkungsgeschichte werden die Hansestädte Hamburg, Lübeck und Lüneburg in den Blick genommen. Diese Städte waren eng miteinander verbunden: geistlich, dogmatisch und kirchenpolitisch. Wesentlich dazu beigetragen hat das Ministerium Tripolitanum, die Zusammenarbeit der drei Geistlichen Ministerien, also der drei Vollversammlungen aller Pastoren.5 Enge Verbindungen bestanden aber auch durch kulturell-musikalische Netzwerke. 3. Dabei liegt der Schwerpunkt meiner Untersuchung auf den ‚amtlichen‘ Gesangbüchern in den genannten Städten, die zugleich die Druckorte sind. Bekanntlich erschienen Rists Lieder – wie die vieler seiner Zeitgenossen – zunächst als Autorendrucke in Sammlungen zur Privatandacht und zum häuslichen Musizieren. Damit erreichten sie aber zunächst nur eine relativ kleine privilegierte Minderheit. Breitere Bevölkerungskreise hatten eigentlich nur die Chance, Rists geistlicher Lyrik zu begegnen, wenn diese im Rahmen gottesdienstlicher Kirchenmusik erklang – oder als Gemeindegesang, dann allerdings wohl mehr zu allgemein bekannten Lehnmelodien aus dem Gesangbuch und weniger zu den von Rist in Auftrag gegebenen Sololiedern. Der dichtende Pastor orientierte sich zunehmend an den Strophenformen bekannter Kirchenlieder und wies in seinen Drucken alternativ auf die Lehnmelodien hin, damit seine Texte „so wohl von einfältigen und ungelehrten Laien auf die in unseren evangelischen Kirchen gebräuchliche Weisen als [auch von] hochverständigen und in der Singe
4 Johann Rist, Johann Schop: Himlische Lieder. Ndr. der Ausgabe Lüneburg 1641–1642. Hg. von Siegfried Kross. Hildesheim, New York 1976 (Documentation zur Geschichte des deutschen Liedes 2). 5 Das Ministerium Tripolitanum von Lübeck (Ehrenvorsitz), Hamburg und Lüneburg spielte im Reformationsjahrhundert und noch einmal von 1632 bis ca. 1690 eine bedeutende kirchen- und theologiepolitische Rolle. Durch Konsultationen und Absprachen auf der geistlichen Leitungsebene setzten sich die drei Geistlichen Ministerien gemeinsam für die Erhaltung der reinen lutherischen Lehre und u. a. gegen das Eindringen z. B. von ‚Mystikern‘ ein. Vgl. Theodor Schulze: Das Ministerium Tripolitanum (1535–1712). Ein Stück Lübecker Kirchengeschichte. In: Lübeckische Blätter 38 (1896), S. 369–371, 377 f., 387–389, 393–396, 399–402.
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Abb. 1: Titelblatt des Ersten Zehen der Himmlischen Lieder von Johann Rist und Johann Schop. Lüneburg 1641.
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Ada Kadelbach
Kunst erfahrnen Leuten auf fremde wohlgesetzte Melodeien täglich könnten gesungen“6 werden. Belege für den gottesdienstlichen Gebrauch sind aber vor allem die von der geistlichen und der weltlichen Obrigkeit autorisierten Gesangbücher. Neben diesen hochoffiziellen gab es auch noch offiziöse Liedersammlungen, die ebenfalls im Gottesdienst benutzt wurden und wirkungsgeschichtlich vergleichbar aussagekräftig sind. Deshalb wird am Schluss der Untersuchung ein solches ‚halbamtliches‘ Liederbuch aus Lüneburg einbezogen. 4. Schließlich wurden, um einen Referenzrahmen zu schaffen, Dutzende von Gesangbüchern nach 1641 auf ihren Rist-Bestand hin untersucht und miteinander verglichen – neben autorisierten und privaten aus Schleswig-Holstein und Niedersachsen die epochalen Berliner Editionen Praxis Pietatis von Johann Crüger7 und der offizielle ‚Porst‘,8 sogenannte ‚verbesserte‘ Gesangbücher der Aufklärungszeit ebenso wie das einflussreiche Gesangbuch des Halleschen Pietismus von Freylinghausen.9
2 Zur tabellarischen Darstellung Die Ergebnisse meiner Untersuchung wurden tabellarisch dargestellt (Tabelle 1 auf S. 486 f.). Nur der Vergleich sagt etwas aus, z. B. darüber, ob zehn oder 20 Rist-Lieder in einem Gesangbuch wenig sind oder viel. Horizontal und senkrecht gelesen gibt die Tabelle Antwort auf folgende Fragen: 1. In wie vielen und in welchen Gesangbüchern kommen die 50 Himmlischen Lieder von 1641/42 vor bzw. nicht vor? 2. Wie viele und welche der Himmlischen Lieder sind in einem bestimmten Gesangbuch enthalten? Kursiv gedruckte Jahreszahlen und Liednummern verweisen auf spätere Anhänge. In jeder Spalte ist die Anzahl Himmlischer Lieder in Beziehung gesetzt zu der Anzahl aller Rist-Lieder in dem jeweiligen Gesangbuch und zu dessen gesamtem Liedbestand. Mit einem Blick sehen wir: Nur gut die Hälfte der 50 Himmlischen
6 Zit. nach Martin Rößler: Liedermacher im Gesangbuch. Liedgeschichte in Lebensbildern. Stuttgart 2001, S. 491. 7 Praxis Pietatis Melica […]. Berlin 1647 u. ö. (DKL 164708). 8 [Johann Porst:] Geistliche Und Liebliche Lieder […]. Berlin 1709, 1713 u. ö. 9 [Johann Anastasius Freylinghausen:] Geist-reiches Gesangbuch […]. Halle/S. 1704 u. ö. (DKL 170404); Neues Geist-reiches Gesang-Buch […]. Halle/S. 1714 u. ö. (DKL 171406).
Himmlische Lieder in Hamburg, Lübeck und Lüneburg
485
Lieder taucht überhaupt jemals in einem Gesangbuch auf. Genau 27 sind es, nicht mehr, aber auch nicht weniger! Das gilt auch für alle anderen untersuchten Sammlungen – offizielle, offiziöse und private. Manche Lieder findet man nur in einem einzigen, andere in allen oder doch in sehr vielen Gesangbüchern.10 Sehr früh bildet sich ein Kanon von sechs bis zehn Liedern, die bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, aber vor allem um die Wende zum 18. zum Kernbestand eines Gesangbuchs gehören. Sie sind in der Tabelle durch Fettdruck hervorgehoben: Nr. 6 ERmuntre dich mein schwacher Geist (Weihnachten), Nr. 12 HJlff HErr Jesu laß gelingen (Neujahr), Nr. 22 LAsset vns den HErren preisen (Ostern), Nr. 26 O Ewigkeit du DonnerWort (Die letzten Dinge), Nr. 38 O Trawrigkeit! O Hertzeleid (Karfreitag) und schließlich das besonders beliebte Abendlied Nr. 48 WErde munter mein Gemüte.11 Dieses an Luthers Abendsegen und seine Litanei angelehnte Lied fand schon kurz nach seinem Erscheinen den Weg in die Gesangbücher: in Crügers Praxis Pietatis ebenso wie – allerdings in stark bearbeiteter Form – 1646 in das offizielle Hannoversche Gesangbuch von Gesenius und Denicke12 und dessen Lüneburger Variante von 166113 (Sp. 9), auf die wir später noch zurückkommen.14
3 Hamburg und Lübeck In den Spalten 1–8 der Tabelle sind alle amtlichen Gesangbücher der – bis 1937 – beiden freien Hansestädte Hamburg und Lübeck aufgelistet sowie in den drei letzten Spalten die deutschen Einheitsgesangbücher des 20. Jahrhunderts mit
10 Vgl. auch Albert Fischer: Kirchenlieder-Lexicon. Gotha 1878 f. (Ndr. Hildesheim 1967) sowie ders., Wilhelm Tümpel: Das deutsche evangelische Kirchenlied des 17. Jahrhunderts. Bd. 2. Gütersloh 1905 (Ndr. Hildesheim 1964), S. 167–323. 11 Im Folgenden werden die in Tabelle 1 alphabetisch geordneten und durchnummerierten 50 Himmlischen Lieder mit „Tab.Nr.“, die Gesangbücher mit „Sp.“ und Lied-Nr. angegeben. 12 New Ordentlich Gesang-Buch […]. Hannover 1646 (DKL 164603). 222 Nummern, 12 Melodien. 13 Voll-ständiges Gesang-Buch […]. Lüneburg 1661 (DKL 166108). 422 Lieder, davon 27 in zwei Fassungen. 52 Melodien mit unbeziffertem Bass. 14 Die Beliebtheit von Rists Abendlied zeigt sich auch in der großen Anzahl von Parodien. So widmet der Hofprediger der schleswig-holsteinischen Herzoginwitwe Maria Elisabeth ihr auf die bekannte Melodie ein „DanckLied am Geburts-Tage“. Wegen des Strophenakrostichons auf den Namen der Widmungsträgerin wurde hier bereits das Incipit parodiert: MAche munter mein Gemüthe. ‚Husumer Hofgesangbuch‘ (DKL 167605), Nr. 307. Vgl. Ada Kadelbach: Das Husumer Hofgesangbuch (Schleswig 1676). Ein verloren geglaubtes Gesangbuch und seine Quellen. In: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 27 (1983), S. 83–111, hier S. 106–109.
129
4 Hmb 1842
81*
5 Hmb 1912* 162
6 Lüb 1703 1748
328
[575]b
503*
376
398*
943
30 O Gott/ sehr reich von Güt IV,3
29 O Gott der du mit grosser Macht III,9
28 O GOtt der du geschworen hast V,5
27 O Gott der du der Menschen Hertz und Sinn III,3
866*
1917
590
185
2071 283
277
106*
26 O Ewigkeit du DonnerWort IV,9
190
838
1377*
25 NVn lobet alle Gott V,8
24 NAch der grossen FewersNoth II,9
156
535
572
23 MErck auff O sündigs Menschen-Kind V,2
316
42
731
1658
22 LAsset vns den HErren preisen I,4
131*
[234]
231
272
153
91
1965
162*
610
8
757
11 Lün 1686* 1702*
21 JEsu du mein liebstes Leben V,4
20 JEsu der du meine Seele I,7 b = nur 12. Herr, ich glaube
19 JAmmer hat mich gantz umbgeben III,4
18 JSt etwas in der grossen Welt IV,8
17 JSt das nicht ein Werck der Gnaden V,1
16 JHr Völcker kommt mit mir II,2
15 JCh wil für allen Dingen/ Gott selber II,8
8*
72*
686
66
196
584
10 Lün 1767 3 1771
688
316
237
9 Lün 1661*
14 JCh wil den HErren ewig loben II,10
403*
21
8 Lüb 1859 1877
640*
311
1
[92]
354
7 Lüb 1790 1821
13 JCh trage groß Verlangen IV,2
12 HJlff HErr Jesu laß gelingen III,1
11 HErr du bist groß und starck mein Gott II,7
10 GOtt/ der du selber bist das Liecht I,9
9 GEtrost ist mir O Gott mein Hertz’ in Nöthen IV,10
8 FRölich ist mein Hertz im HERren II,3
7 FOlget mir/ rufft uns das Leben IV,1
11
[72]
194
3 Hmb 1787
56 72
368
2 Hmb 1710 1712
5 DV LebensFürst HErr Jesu Christ I,5 46
1 Hmb 1700
6 ERmuntre dich mein schwacher Geist I,1
4 DEm HErren wil ich singen II,1
3 AVff meine Seel’ vnd lobe Gott I,10
2 ALs mich die grosse Noth der Kranckheit II,5
1 ACh höchster Gott/ verleyhe mir IV,4
Liedincipit und Fundstelle in den Himmlischen Liedern
Tabelle 1: Rezeption der Himmlischen Lieder 1641/42 von Johann Rist in Gesangbüchern von Hamburg, Lübeck und Lüneburg
321*
376*
23*
352*
12 DEG 1916 1930*
324*
417*
437*
41*
24*
13 EKG 1950* 1954*
61*
[33]*
14 EG 1993* 1994*
486 Ada Kadelbach
734
438*
7
3
408
8
170
10
1920
11
410*
994
319
Rist-Lieder insgesamt
Lieder des Gesangbuchs insgesamt
9 600 632
27 441
5?
3? 784
7
4 548 +3
8
5
8+1 303 409
12+4
3 458 496
7+1
8 422
45
1020 1176
20
10
27 2002 2101
112
342 575
8+3
6
279*
394 499
8+3
5+2
360*
73*
13
535 643
5+1
4
475*
80*
14
DEG 1916/1930: Deutsches evangelisches Gesangbuch, Anh. Schleswig-Holstein-Lauenburg, Hamburg, Mecklenburg-Schwerin, Lübeck, Mecklenburg-Strelitz, Eutin: 233 Lieder EKG 1950/1954: Evangelisches Kirchengesangbuch, Regionalteil SH, Ham, Lüb etc.: 100 Lieder EG 1993/1994: Evangelisches Gesangbuch, Regionalteil Nordelbien: 108 Lieder
Lün 1661: Voll-ständiges Gesang Buch 1661 (Teilfürstentum Lüneburg) Lün 1767/1771: Vermehrtes Lüneburgisches Kirchen-Gesang-Buch 1767/31771 (offizielles Gesangbuch bis 1893: 1020+156 Lieder) Lün 1686/1702: Lüneburg. [‚Stadt‘-]Gesang-Buch 1686/1702 (2002/2101 Lieder)
563 589
10
1288
43*
12
Himmlische Lieder in Hamburg, Lübeck und Lüneburg
Lüb 1703/1748: Lübeckisches Gesang-Buch 1703, Anhang 1748: 106 Lieder Lüb 1790/1821: Neues Lübeckisches Gesangbuch 1790, Anhang 1821: 26 Lieder Lüb 1859/1877: Lübeckisches evang.-luth. Gesangbuch 1859, Anhang 1877: 38 Lieder
Hmb 1700: Hamburgisches Gesang-Buch 1700 Hmb 1710/1712: Neu-Vermehrtes Hamburgisches Gesang-Buch 1710, Anh. 1712: 32 Lieder Hmb 1787: Neues Hamburgisches Gesangbuch 1787 (Aufklärungsgesangbuch) Hmb 1842: Hamburgisches Gesangbuch 1842 (August Jacob Rambach) Hmb 1912: Hamburgisches Gesangbuch 1912
fett = Kernlied * = mit Noten kursiv = Anhang [ ] = Lied wurde mit neuem Incipit stark umgeformt/nachgedichtet
8 20
Himmlische Lieder 1641/42
50 WJr haben eine feste Stadt II,4
49 WJe bin ich doch so gar betrübet III,6
2053
293
1281 23
525
2088
502
48 WErde munter mein Gemüte III,8
21
92*
396*
9
47 WEr Christum recht wil lieben V,3
46 WAs darffstu doch/ O meine Seel’ erschrecken IV,6
45 WAch’ auff mein Hertz’ es klinget IV,7
44 WAch’ auff mein Geist/ erhebe dich III,2
43 VOn Gnade wil ich singen V,7
42 SPielet auff und singt dem HErren II,6
41 SO wündsch’ ich mir zu guter letzt V,10
40 SO brech ich auff von diesem Ort’ V,9
39 O Vater aller Güt’/ Jch klage dir mit Schmertzen I,6
38 O Trawrigkeit! O Hertzeleid I,3
37 O Sicherheit du Pest der Seelen IV,5 36
274
6
492
[383]
5
987
121
4
36 O Jesu unbeflecktes Lamb III,7 89
3
484*
600
2
35 O Grosses Werck Geheimniß voll V,6
318
1
34 O Grosser Gott ins HimmelsThron I,2
33 O Gottes Stadt/ O himmlisch [güldnes] Liecht III,10
32 O Gottes Lamb/ daß du die Schuld I,8
31 O GOtt/ was ist das für ein Leben III,5
487
488
Ada Kadelbach
den relevanten Regionalanhängen. Mehr waren es – bis auf die eine oder andere Probeedition und spätere Auflagen – tatsächlich nicht: fünf in Hamburg, drei in Lübeck plus DEG,15 EKG16 und EG!17 Das zeigt etwas von den Beharrenskräften in diesen Städten. Man machte eben nicht jede Mode mit. Nachdem viele Territorien – Fürstentümer wie Reichsstädte – bereits jahrzehntelang ihre eigenen offiziellen Gesangbücher besaßen, erschienen solche auch in den beiden Hansestädten. Bis dahin wurden – wenn überhaupt – beliebige Liedersammlungen mit in den Gottesdienst gebracht. Hauptmotiv für ein amtliches Gesangbuch war die Vereinheitlichung und die Verbesserung des Gemeindegesangs. Auch wollte man die Liederflut eindämmen, die gegen Ende des 17. Jahrhunderts Sammlungen von 1.000 bis 2.000 Texten hervorbrachte.18 So erschienen 1700 in Hamburg19 und 1703 in Lübeck20 (vgl. Abb. 2) recht konservative Gesangbücher (Sp. 1 und 6) mit jeweils nur knapp über 300 Liedern ohne Noten, die den Kernbestand aus dem 16. und 17. Jahrhundert etwa hälftig präsentieren. Pietistische Lieder, wie sie zeitgleich bereits in Darmstadt, Gotha oder Halle erschienen, fehlten ganz. Aber auch der Typ des barocken Andachtsliedes war nur spärlich vertreten – Rist mit jeweils acht seiner Himmlischen Lieder, von denen sechs identisch sind (Tab.Nr. 6, 20, 26, 33, 38, 48). Die ersten offiziellen Gesangbücher Hamburgs und Lübecks ernteten massive Kritik. Vermisst wurden viele vertraute alte Lieder, angemahnt wurde aber vor allem neueres Liedgut. Die Antwort darauf war in Hamburg 1710/12 ein Vermehr-
15 Deutsches evangelisches Gesangbuch [Stammteil Berlin 1916]. Einheitsgesangbuch der Evangelisch-lutherischen Landeskirchen in Schleswig-Holstein-Lauenburg, Hamburg, Mecklenburg-Schwerin, Lübeck, Mecklenburg-Strelitz, Eutin. Lübeck u. a. 1930 (DEG). 16 Evangelisches Kirchengesangbuch [Stammteil Kassel 1950]. Ausgabe für die Evangelischlutherischen Landeskirchen Schleswig-Holstein-Lauenburg, Hamburg, Lübeck und Eutin. Hamburg 1954 (EKG). 17 Evangelisches Gesangbuch [Stammteil Hannover 1993]. Ausgabe für die Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche. Hamburg und Kiel 1994 (EG). 18 Besonders in Lübeck befürchtete die orthodoxe Pastorenschaft, dass man die Kontrolle über die Fülle des gedruckten, gelesenen und gesungenen Liedguts verlieren könnte. Pikanterweise wurde in Hamburg der orthodoxe Hauptpastor Johann Friedrich Mayer von dem pietistisch gesinnten Senior Dr. Johann Winckler mit der Liederauswahl beauftragt, die vom Geistlichen Ministerium auch so gebilligt wurde. 19 Hamburgisches Gesang-Buch Zum Heiligen Gebrauch Des öffentlichen GottesDienstes Als auch derer HaußAndachten Heraus gegeben Von Den [!] Hamburgischen Ministerio. Hamburg 1700. Beschreibung auch der nachfolgenden Hamburgischen Gesangbücher bei Herwarth von Schade: Zu Gottes Lob in Hamburgs Kirchen. Eine Hamburgische Gesangbuchgeschichte. Herzberg 1995 (Arbeiten zur Kirchengeschichte Hamburgs 20), hier S. 159–193. 20 Lübeckisches Gesang-Buch/ […] Auff Verordnung Eines Hoch-Edlen Hochweisen Raths/ Von Einem Ehrwürdigen Ministerio Ausgegeben. Lübeck 1704 [11703] u. ö.
Himmlische Lieder in Hamburg, Lübeck und Lüneburg
Abb. 2: Lübeckisches Gesang-Buch. Lübeck 1709 [11703], Titelblatt.
489
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Ada Kadelbach
tes Gesangbuch mit 600 bzw. 632, also fast doppelt so vielen Liedern (Sp. 2).21 Das Lübeckische Buch wurde nach vielen Diskussionen erst 1748 durch einen Anhang von 106 Liedern um ein Drittel erweitert (Sp. 6 kursiv).22 Dabei stieg der Rist-Anteil in Hamburg von 20 auf 27, in Lübeck von 12 auf 16 – darunter der bis heute bekannte Neujahrsgesang Hilf, HErr JEsu! laß gelingen23 (vgl. Tab.Nr. 12). Besonders auffällig ist es, dass zwei der nunmehr neun Himmlischen Lieder den Liederstamm des Vermehrten Hamburgischen Gesangbuchs als Nr. 1 und Nr. 600 einrahmen: zu Beginn das Morgenlied GOtt der du selber bist das Licht (vgl. Abb. 3), sogar mit der Melodieangabe: „In Joh. Ristens Himmels-Liedern“,24 und O GOttes Stadt O güldnes Licht25 als letztes in der Rubrik „Vom Himmel und der Seligkeit“. Beide Lieder wurden mit allen 15 bzw. 16 Strophen aufgenommen – selbst typographisch: Die Friedensbitte im Schlussvers des Morgenlieds ist nach Rists Vorbild – auch in späteren Ausgaben – durch größere Lettern hervorgehoben: „Der Friede GOttes sey mit mir!“ Überdies findet sich unter beiden Liedern der voll ausgeschriebene Name des Verfassers. Das alles wird kein Zufall sein, sondern ist gewiss Ausdruck einer sichtlichen Wertschätzung. Allerdings relativiert sich dieser Eindruck im Rezeptionsvergleich: die Zahl der Lieder Paul Gerhardts wurde in derselben Hamburger Ausgabe von 44 auf 80 fast verdoppelt. Das sind zwei Drittel des damals bekannten Œuvres von zehn Dutzend geistlichen Liedern26 – ein Phänomen, dem gegenüber die Rezeption des Ristschen Liedschaffens, das ein Vielfaches beträgt, doch erstaunlich gering ausfällt.
21 Neu-Vermehrtes Hamburgisches Gesang-Buch […]. Hamburg 1716 [1710/12] u. ö. 22 Der Lübecker Rat hatte immer wieder ‚neue‘ Lieder angemahnt – gemeint waren damit zunächst einmal die ‚geistreichen‘ aus der ersten Frömmigkeitsbewegung, die in den sog. ‚Vollständigen Gesangbüchern‘ der Barockzeit den traditionellen Liederkanon der lutherischen Orthodoxie ergänzten. 23 Lübeckisches Gesang-Buch […]. Lübeck 1748 u. ö., Nr. 316. Vgl. Tab.Nr. 12. Auch die übrigen zusätzlichen Rist-Lieder im Anhang waren weit verbreitet: das andere Neujahrslied Abermahl ist eins dahin (Nr. 318) und das Tauflied O welch ein unvergleichlichs gut (Nr. 353) aus Rist: Alltägliche HAußmusik […]. Lüneburg 1654 (DKL 165404) sowie das Pfingstlied Heut ist das rechte jubel-fest (Nr. 344) aus Rist: Neüe Musikalische Fest-Andachten […]. Lüneburg 1655 (DKL 165510). 24 Dieser Hinweis fehlt in den späteren Auflagen. 25 Rist änderte das ursprüngliche Incipit O Gottes Stadt/ O himmlisch Liecht (1642) später in O Gottes Stadt/ o güldnes Licht (1652). In fast allen Gesangbüchern wurde die spätere Fassung rezipiert. 26 Pauli Gerhardi Geistliche Andachten Bestehend in hundert und zwantzig Liedern […]. Hervor gegeben und verlegt Von Johan Georg Ebeling […]. Berlin 1667 (DKL 166705). Ndr. mit 14 zusätzlichen deutschen Liedern und den lateinischen Gedichten hg. von Friedhelm Kemp. Bern, München 1975.
Himmlische Lieder in Hamburg, Lübeck und Lüneburg
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Abb. 3: Neu-Vermehrtes Hamburgisches Gesang-Buch. Hamburg 1716 [1710/12], Lied Nr. 1: GOtt der du selber bist das Licht von Rist mit der Melodieangabe „In Joh. Ristens Himmels-Liedern“.
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Bis zu den Aufklärungsgesangbüchern gut 80 Jahre später (Sp. 3 und 7)27 blieb die Zahl der Himmlischen Lieder mit knapp unter zehn sowohl in Hamburg als auch in Lübeck konstant. Das sieht in anderen Regionen durchaus anders aus. 1712 hat der Rist-Anteil in Crügers Praxis Pietatis28 und im ‚hochfürstlichen‘ schleswig-holsteinischen Gesangbuch29 mit 18 bzw. 20 ‚himmlischen‘ von etwa 60 Rist-Liedern insgesamt einen Höchststand erreicht – mehr als in jedem anderen Gesangbuch in den Herzogtümern, allerdings auch bei insgesamt über 1000 Liedern. Der Seitenblick ist aufschlussreich: In den beiden Gesangbüchern aus Berlin und Kiel sind neben Vorbereitern des Pietismus – wie Johann Scheffler, Ernst Christoph Homburg, Ahasverus Fritsch – bereits zahlreiche Vertreter des Spenerschen und des Halleschen Dichterkreises zu finden. Meine Beobachtung auch in anderen Quellen ist, dass immer da, wo neueres pietistisches Liedgut aufgenommen wird, auch der Anteil von Rists Liedern wächst – ein Zeichen für die ‚Pietismusfähigkeit‘ der Liedschöpfungen des barocken Dichterfürsten. Andererseits haben sich auch die orthodoxen Gesangbuchmacher ihrer bedient, um dem Wunsch nach mehr Modernität mit Liedern aus dem eigenen ‚Lager‘ nachkommen zu können. Dieses Phänomen ist sicher auch, vielleicht sogar vor allem, dem neuen Musikstil zu verdanken, in dem Rists Texte vertont wurden. Die liedhaften und ariosen generalbassgestützten Melodien von Schop und anderen wurden auch in Gesangbüchern bzw. in den dazugehörigen Choral- und Choralmelodienbüchern abgedruckt – allerdings meist stark vereinfacht und geglättet (vgl. die Notenbeispiele auf S. 507–511).
27 Neues Hamburgisches Gesangbuch zum öffentlichen Gottesdienste und zur häuslichen Andacht ausgefertiget von dem Hamburgischen Ministerio. Hamburg 1787 u. ö.; Neues Lübeckisches Gesangbuch zum öffentlichen Gottesdienste und zur häuslichen Andacht auf Verordnung Eines Hochedlen Hochw. Raths ausgefertiget von dem Lübeckischen Ministerio. Lübeck 1790. – Die vollständige Zahl der Rist-Lieder in den Aufklärungsgesangbüchern lässt sich nur schwer ermitteln, da sie teilweise bis zur Unkenntlichkeit bearbeitet bzw. nachgedichtet sind und häufig sogar ein ganz neues Incipit haben. Melodieangabe und Rubrizierung können die Identifizierung aber erleichtern, z. B. Auf, o Seele, werde munter | und bezahl des Dankes Pflicht. „M. Werde munter mein Gemüthe.“ Rubrik: „Von besondern Pflichten. Zu gewissen Zeiten: Am Abend, in der Woche.“ Hamburg 1787 (Nr. 383). Vgl. auch das Beispiel für Textbearbeitung in der Synopse auf S. 495 (Tabelle 2). 28 Editio XXXV. DKL 171210 (Anm. 7). 29 Hoch-Fürstl. Schleswig-Hollsteinisches Gesang-Buch zum GOttgeheiligten Nutzen des öffentlichen GOttes-Dienstes, Wie auch der Hauß-Andachten verfertiget. Kiel 21736 [11712] u. ö. Hier übertrifft Rist Paul Gerhardt ausnahmsweise einmal um 11 Lieder!
Himmlische Lieder in Hamburg, Lübeck und Lüneburg
493
Häufig steht in den untersuchten Gesangbüchern über den Texten „In eig. Mel.“ oder „In bek. Mel.“ Bei den Himmlischen Liedern im Hamburger Gesangbuch von 1710/12 wird jedoch ganz auf Melodieangaben verzichtet.30 Das wird mit dem Bekanntheitsgrad dieser Lieder und ihrer Weisen zu erklären sein. Es könnte aber auch bedeuten, dass sie eher zum Lesen gedacht waren, zu Hause oder auch in der Kirche. Diese Funktion des Gesangbuchs als Lesebuch zur privaten Andacht – auch im Gottesdienst, z. B. während der Kirchenmusik – wird immer wieder in den Vorreden betont.31 Insgesamt ist die Rist-Rezeption in den offiziellen Gesangbüchern Hamburgs und Lübecks ab 1700 enttäuschend. Das könnte vorher anders gewesen sein. Denn 1677 war ein Außzug Etlicher geistlicher Lieder für das Zucht-Hauß in Hamburg32 aus einem verschollenen Gesangbuch erschienen, der vermuten lässt, dass die verloren gegangenen Gesangbücher aus dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts mehr Ristsche Lieder enthielten als die amtlichen der folgenden 300 Jahre. Denn von den nur 25 Liedern des Zuchthaus-Auszugs stammen sieben von Rist, allein sechs aus den Himmlischen Liedern.33 Aber nur zwei davon werden 1700 und 1710/12 noch als gesangbuchfähig angesehen: LAsset vns den HErren preisen (Tab.Nr. 22) und JEsu der du meine Seele (Tab.Nr. 20), beide aus dem Ersten Zehn der Himmlischen Lieder. Ersteres gelangte erst über die Einheitsgesangbücher des 20. Jahrhunderts nach Lübeck, letzteres wurde nach 1703 nie mehr aufgenommen. Es verschwand auch in Hamburg schnell wieder und war 1842 nur noch mit der 12. Strophe als eigenes Lied in der Rubrik „Beständigkeit und Wachstum im Glauben“ willkommen: Herr, ich glaube; hilf mir Schwachen! (vgl. Tab.Nr. 20/Sp. 4).34 Die Bearbeitung von Kirchenliedtexten bis hin zu Nachdichtungen und Parodien ist für die Rezeptionsgeschichte von immenser Bedeutung und verlangt eine eigene Darstellung. Viele geistliche Lieder des 16. und 17. Jahrhunderts haben die Sprachreformen der Barockzeit, der Aufklärung und des Rationalismus nur in ‚verbesserter‘ Form überlebt, konnten im 19. und 20. Jahrhundert restauriert werden und blieben so für den Gemeindegesang bewahrt. Die Beispiele für Rists
30 Ausnahme ist Ach höchster GOtt verleihe mir. „Mel. Durch Adams Fall ist gantz [verderbt] etc.“ (Nr. 368). 31 Z. B. Hannover 1646 (Anm. 12). Vgl. Hans-Christian Drömann: Das Hannoversche Gesangbuch 1646. In: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 27 (1983), S. 164–191, hier S. 168. 32 DKL 167705. Vgl. von Schade (Anm. 19), S. 148–151. 33 Tab.Nr. 13, 20, 22, 34, 36, 44 sowie O Jesu Meine Wonne aus Rist: Alltägliche HAußmusik 1654 (Anm. 23). 34 Hamburgisches Gesangbuch für den öffentlichen Gottesdienst und die häusliche Andacht. Hamburg 1843 [1842] u. ö. (Nr. 575).
494
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Weihnachtslied Ermuntre dich, mein schwacher Geist in der Synopse auf S. 481 (Tabelle 2) geben einen kleinen Einblick in Verfahren und Ausmaß sprachlicher, ästhetischer und theologischer Veränderungen und ihrer Revision.
4 Lüneburg Selbst in Lüneburg, am Druckort fast aller seiner geistlichen Lieder, werden die Erwartungen an eine umfangreiche und nachhaltige Rist-Rezeption nur bedingt erfüllt – jedenfalls, was die offiziellen Gesangbücher des Herzogtums Braunschweig-Lüneburg betrifft. Denn kurz vor dem Erscheinen der ersten Himmlischen Lieder bei Johann und Heinrich Stern hatte Lüneburg nach 245 Jahren seinen Status als freie Reichsstadt verloren. Alle Entscheidungen in offiziellen Gesangbuchfragen fielen ab 1637 in den Residenzstädten Hannover und Celle. 1646 erschien in Hannover das berühmte New Ordentlich Gesang-Buch35 von Justus Gesenius und David Denicke, Oberhofprediger und Generalsuperintendent der eine, Konsistorialrat der andere – und beide Mitglieder der Fruchtbringenden Gesellschaft. Es wurde aber in dem Teilfürstentum Lüneburg nicht akzeptiert. Dessen Landesherrn Herzog Christian Ludwig – seit 1641 ebenfalls Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft – und seinem Hofprediger in Celle missfielen vor allem die vielen Lieder und ‚Liedverbesserungen‘ der Hannoverschen Herausgeber. Die Folge war das fürstlich-lüneburgische Vollständige Gesangbuch von 1661. Es enthielt mehr zeitgenössisches Liedgut und zahlreiche wenig überzeugende Bearbeitungen des Celler Konrektors Ernst Sonnemann.36 Von Rist, der Beziehungen zum Celler Hof pflegte,37 stammen allein 45 der 422 Lieder des fürstlichen Gesangbuchs, darunter acht Himmlische Lieder (Sp. 9) – sieben mit Melodie und unbeziffertem Bass – und zwölf Neue Himmlische Lieder.38 22 Texte wurden seinen neuesten, ebenfalls bei Stern erschienenen Publikationen entnommen: 14 aus der Alltäglichen Hausmusik (1654) sowie
35 Anm. 12. 36 Anm. 13. Beschreibung der komplizierten hannoverschen und lüneburgischen Gesangbuchgeschichte bei Wilhelm Bode: Quellennachweis über die Lieder des hannoverischen und des lüneburgischen Gesangbuches samt den dazu gehörigen Singweisen. Hannover 1881, hier S. 23–26. 37 So verfasste er für die prunkvolle Hochzeit des Herzogs 1653 am Hof zu Celle ein Ballett. Vgl. Klaus Conermann: Die Mitglieder der Fruchtbringenden Gesellschaft 1617–1650. Leipzig, Weinheim 1985, S. 434, sowie Marie Moureys und Günter Dammanns Beiträge in vorliegendem Band. 38 Rist: Neüer Himlischer Lieder Sonderbahres Buch […] 1651 (DKL 165105-07). Drei weitere aus Sabbahtische Seelenlust […]. 1651 (DKL 165108-09).
Dies ist die Nacht, darin es kam dadurch die Welt mit Treuen als seine Braut zu freien.
Dies ist die Nacht, darin es kam damit sich seiner Treue die ganze Welt erfreue […] Held aus Davids Stamm, du König aller Ehren!
2. Willkommen, Held aus Davids Stamm, du König aller Ehren!
1. Brich an, du schönes Morgenlicht = Str. 9, 2, 12 original
EG 33
Himmlische Lieder in Hamburg, Lübeck und Lüneburg
Willkommen, süßer Bräutigam, du König aller ehren, …
ein Kind, das Ewigvater heißt
ein Kind, das Ewigvater heißt,
Rist original Str. 1, 2, 6, 9, 10, 12
EKG 24
2. fehlt (Bearbeitung: Joh. Samuel Diterich, Berlin 1765)
1. Gott, deine Gnade sey gepreist! sie schuf uns Heil und Leben. Ermuntre dich, mein träger Geist, ihr Wohlthun zu erheben. Denk an die Nacht, da auf der Welt des Höchsten Sohn sich dargestellt, [eingestellt] um sein so theures Leben für Sünder hinzugeben.
Ham 1787, Nr. 72. Mel. ermuntre dich, Lüb 1790, Nr. 92 mein schwacher Geist.
DEG 1930, Anh. Nr. 352
2. Willkommen theurer bräutigamm, Du könig aller ehren!
Dis ist die zeit, darin es kam, Und menschlich wesen an sich nahm, Mit uns und unseren seelen Sich ewig zu vermählen.
Lün 1767, Nr. 66. Melodey 6.
Lüb 1859, Nr. 21
… umfangen
Ham 1712
1. Ermuntre dich, mein schwacher Geist, und trage groß Verlangen, den Heiland, den der Himmel preist, mit Freuden zu empfangen. Dies ist die Nacht, darin er kam, und menschlich Wesen an sich nahm, damit sich seiner Treue die ganze Welt erfreue.
Ham 1842, Nr. 129 Ham 1912, Nr. 81
2. Willkomm O süsser Bräutigam Du König aller Ehren/ …
1. ERmuntre dich mein schwacher Geist Vnd trage groß Verlangen/ Ein kleines Kind das Vater heisst/ Mit Frewden zu empfangen/ Diß ist die Nacht darin es kam/ Vnd menschlich Wesen an sich nam/ Dadurch die Welt mit Trewen/ als seine Braut zu freyen.
Rist 1641 Lün 1686 (alle 12 Str.)
Tabelle 2: Beispiel für Textbearbeitung/Nachdichtung und Restaurierung
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jeweils vier aus den Neuen Musikalischen Festandachten (1655) und den Neuen Musikalischen Katechismusandachten (1656).39 Auch als das kleine Fürstentum – nach einer beachtlichen Blütezeit am Hof zu Celle – 1705 mit dem Kurfürstentum Hannover (offiziell Braunschweig-Lüneburg) vereinigt wurde und damit seine Selbständigkeit verlor, ging es gesangbuchpolitisch weiter eigene Wege. Das nachfolgende – schon unter dem Einfluss der Aufklärung stehende – Vermehrte Lüneburgische Kirchengesangbuch von 1767 ohne Noten (Sp. 10; vgl. Abb. 4)40 blieb in zahlreichen Auflagen bis zur Einführung des ersten Hannoverschen Provinzialgesangbuchs 188341 fast 120 Jahre lang offiziell in Gebrauch. Der Rist-Anteil darin ging nun wieder deutlich zurück: 20 von 1020 Nummern – darunter wieder die bereits aus Hamburg und Lübeck bekannten ‚Himmlischen‘! Neu ist nur das besonders in pietistischen Gesangbüchern rezipierte Lied über die Nachfolge Christi: Nr. 686 Folget mir! ruft uns das leben (vgl. Tab.Nr. 7).42 Obwohl das Lüneburgische Kirchengesangbuch in mancher Hinsicht besser war als das Hannoversche, fand es wenig Zustimmung. Besonders die Stadt Lüneburg wurde nie recht glücklich mit dem in Celle konzipierten und fürstlich verordneten Gesangbuch. Zu viele vertraute Lieder, alte wie neue, fehlten – besonders in ihrer ursprünglichen Gestalt. So erschien auf Initiative und eigenes Risiko des renommierten Verleger-Druckers Johann von Stern, der auch die fürstlichen Gesangbücher druckte, 1686 ein Lüneburgisches Gesangbuch/ Darinn 2000. so wol alte als neue geistreiche Lieder/ Aus den besten Autoren gesamlet (Sp. 11; vgl. Abb. 5).43 Über 2000, in der Regel ungekürzte und von Stern persönlich „zusammengelesene“44 Lieder wurden mit 110 „neuen und wolgesetzten Melodeyen“ versehen und „mit Kupffern gezieret“ – so heißt es weiter im Titel. Das bei
39 Vgl. Anm. 23 sowie Rist: Neüe Musikalische Katechismus-Andachten […]. Lüneburg 1656 (DKL 165607). 40 Vermehrtes Lüneburgisches Kirchen-Gesang-Buch […] Auf Sr. Königl. Groß-Britannischen Majestät und Chur-Fürstl. Durchl. zu Braunschweig-Lüneburg etc. Allergnädigsten Befehl herausgegeben. Lüneburg 1767 u. ö. Vgl. Bode (Anm. 36), S. 28–31, 135 f. Mir liegt die Aufl. 31771 vor, deren Anhang von 156 Nummern aber keine weiteren Rist-Lieder enthält. 41 Evangelisch-lutherisches Gesangbuch der Hannoverschen Landeskirche. Hannover 1883 u. ö. Das königlich-kurfürstlich verordnete Lüneburgische Kirchengesangbuch existierte bis zur Ablösung durch das erste gemeinsame immer parallel zu den Hannoverschen Ausgaben – natürlich nicht ohne Spannungen zwischen den Höfen und ihren leitenden Geistlichen. 42 Allerdings wurde auch dieses Lied nur stark bearbeitet aufgenommen. Rists 16 Strophen wurden auf 11 verkürzt; manche fielen ganz weg, andere wurden zusammengezogen. 43 DKL 168606. Weitere Auflagen DKL 169407, 169506, 170210, 170303. Die mir vorliegende Auflage von 1702 (Privatbesitz), nach der auch zitiert wird, enthält 2.101 Texte und 108 Melodien. 44 So Johann Stern in seiner Widmungsvorrede zur Erstauflage von 1686, fol. 1v.
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Abb. 4: Vermehrtes Lüneburgisches Kirchen-Gesang-Buch. Lüneburg 31771 [1767 etc.], Titelblatt.
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über 1300 Seiten immer noch handliche opus magnum ist ein verlegerisches Meisterwerk. In der hymnologischen Forschung wird Sterns Privatunternehmung als erstes Beispiel für den Typ des enzyklopädischen Universalgesangbuchs bezeichnet, der für den kirchlichen Gebrauch kaum noch praktikabel war und vorrangig der Privatandacht in Kirche und Haus dienen sollte.45 Dennoch gab ihm Stern einen offiziösen Anstrich, indem er Stadtsuperintendent Caspar Herrmann Sandhagen um ein geistliches Vorwort bat. Das war insofern besonders geschickt und verkaufsfördernd, als das offizielle Lüneburger Gesangbuch – wohl wegen der Querelen mit Hannover – bis 1696 keine Vorrede besessen hat. Nach der üblichen Apologie des Singens lobt Sandhagen die Buchhändler allgemein für die Herausgabe ‚vollständiger‘ Gesangbücher und den Dienst, den sie damit für die Evangelische Kirche tun. So habe fast eine jede vornehme Stadt ein sonderbahr Gesang-Buch […] lassen ans Licht kommen. Weil aber keines bißher außgekommen/ worinn nicht eine ziemliche Anzahl geistlicher Lieder gemangelt/ so bald hie bald da in der Evangelischen Kirche in Teutschland gebrauchet werden/ so hat Herr Johann Stern […] auß den in Ubung gebrachten Psalm-Büchern eine solche Anzahl geistlicher Lieder lassen zusammen bringen/ als bißher in keinem Buche zu finden sind. […] So gebe GOtt […] daß sich viele/ so wol in der Christlichen Versammlung/ als in ihren Häusern und auff Reisen darauß erbauen mögen. Hierzu gebe GOTT sein Amen.46
Mit der Vorrede und dem Segenswunsch des leitenden Geistlichen Lüneburgs ist das Gesangbuch, dessen gottesdienstlicher Gebrauch immerhin an erster Stelle genannt wird, zwar nicht amtlich eingeführt, aber doch zumindest befürwortet und quasi autorisiert. So wird es in der älteren hymnologischen Literatur zur Unterscheidung von dem offiziellen fürstlichen Gesangbuch auch das Lüneburger ‚Stadtgesangbuch‘ genannt und deshalb hier mit behandelt.47 Das voluminöse Buch sprengt den Rahmen der bisher vorgestellten Quellen nicht nur wegen des Gesamtumfangs von über 2000 Liedern, sondern auch wegen der Anzahl von 112 (!) Rist-Liedern – die sonst nirgendwo erreicht wird. Die meisten auch der 27 Himmlischen Lieder waren bis dahin kaum in Gesangbüchern publiziert worden und wurden auch später nicht kirchlich rezipiert – wenn
45 Zur Definition des Universal-Gesangbuchs vgl. Konstanze Grutschnig-Kieser: Der „Geistliche Würtz- Kräuter- und Blumen-Garten“ des Christoph Schütz. Ein radikalpietistisches „UniversalGesang-Buch“. Göttingen 2004 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 49), S. 33–83, hier S. 53 f. 46 DKL 170210 (Anm. 43), Vorrede, fol. 4v. 47 Vgl. auch Lukas Lorbeer: Die Sterbe- und Ewigkeitslieder in deutschen lutherischen Gesangbüchern des 17. Jahrhunderts. Göttingen 2012 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 104), S. 67–77.
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Abb. 5: Vollständiges Lüneburgisches Gesang-Buch (‚Stadtgesangbuch‘), 41702 [1686 etc.], Frontispiz.
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überhaupt, dann pietistisch. Fast alle Lieder erscheinen im ‚Stadtgesangbuch‘ in voller Länge von sieben bis 20 Strophen. Die üblicherweise in den zeitgenössischen Gesangbüchern ausgelassenen sind mit einem Asterisken gekennzeichnet – als praktischer Hinweis für diejenigen, die das 2000-Lieder-Buch auch im Gottesdienst benutzten.48 Die mehr oder weniger stark bearbeiteten Textfassungen basieren auf Rists erster Gesamtausgabe von 1652.49 Bei 19 Liedern ist Rist als Verfasser angegeben, meistens mit den Initialen J. R. Die übrigen acht sind als anonym gekennzeichnet, obwohl man sie im Hause Stern dem Dichter leicht hätte zuordnen können.50 Von besonderem Wert für die hymnologische und die musikologische Forschung sind die 110 fein gestochenen Notendrucke im Lüneburger ‚Stadtgesangbuch‘. Deshalb soll an dieser Stelle abschließend auch die musikalische Seite in den Blick genommen werden. Bei 11 der 27 Himmlischen Lieder sind Melodien bekannter Kirchenlieder angegeben, die manchmal der Strophenform erst angepasst werden müssen. So steht bei dem Himmelfahrtslied DU lebens-fürst, HErr JEsu Christ!, dessen Schopsche Originalmelodie für Laien nicht ganz leicht zu singen ist, der Melodiehinweis „Nun freut euch/ lieben [Christen gmein]“ (Nr. 610). Da Rists Text aber 8-zeilig ist, muss die letzte Zeile der 7-zeiligen Lehnmelodie wiederholt werden.51 Dreimal wird auf andere – leichtere und bekanntere – von Schops Vertonungen der Himmlischen Lieder verwiesen.52 Elf weitere sollen „In eigener“ oder „In
48 Ein solcher Asterisk steht auch bei Str. 7–9 des allerersten der Himmlischen Lieder: ERmuntre dich/ mein schwacher geist (Nr. 162). Die heute vor allem aus Bachs Weihnachtsoratorium bekannte Str. 9 „Brich an/ du schönes morgen-licht“ wurde im gegenwärtigen Evangelischen Gesangbuch (EG 33) zur Kopfstrophe eines recht zusammenhanglos erstellten Liedfragments von drei der insgesamt 12 Strophen von Rists Weihnachtslied. 49 Vgl. Anm. 2. 50 „Anon.“ oder „Inc.Aut.“ bei Tab.Nr. 3, 13, 14, 25, 30, 33, 47. Bei Tab.Nr. 19 fehlt die Verfasserangabe ganz. Insgesamt sind von den 109 Rist-Liedern im Lüneburger ‚Stadtgesangbuch‘ 60 mit dem vollen Namen oder den Initialen des Verfassers unterschrieben, 42 mit ‚anonym‘ bzw. ‚Incerto autore‘ sowie 4 mit anderen Verfasserangaben (B. R., J. S., H. Held, H. H.). Dreimal steht unter Rists Liedern das auch in anderen Gesangbüchern des 17. Jahrhunderts erscheinende Kürzel L. B. Dieses bezieht sich nicht auf einen Autor, sondern auf das ‚Lüneburger Buch‘, das einflussreiche fürstlich-lüneburgische Gesangbuch von 1661 (Anm. 13). 51 In anderen Gesangbüchern, z. B. Lübeck 1703 (Anm. 20), steht dagegen die passende Melodieangabe „Ermuntre dich, mein [schwacher Geist]“, die aber wohl noch nicht überall als bekannt vorausgesetzt werden konnte. 52 Z. B. Mel. „O ewigkeit/ du donner[wort]“ auf den Text GOtt! der du selber bist das licht (Nr. 1965) und Mel. „JEsu du mein liebstes leben“ auf LAsset uns den HErren preisen (Nr. 572).
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Abb. 6: ICh trage groß verlangen von Rist in der Vertonung von F. F. [Friedrich Funcke] aus dem Lüneburger ‚Stadtgesangbuch‘ 1702.
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bekannter Melodey“ gesungen werden. Wie weit der Gesang in der Praxis aber mit den Kompositionen von 1641/42 übereinstimmte, ist ungewiss. Choral- und Melodienbücher des 18. und 19. Jahrhunderts geben zumindest einen Eindruck davon, wie sehr sich der Gemeindegesang von den ursprünglichen Tonschöpfungen entfernt hatte. Die acht Beispiele für „Ermuntre dich, mein schwacher Geist“ auf S. 493–497 zeigen exemplarisch die Variantenvielfalt und die unterschiedliche Notations- und Singpraxis von 1641 bis 1930. Nur fünf der 27 Himmlischen Lieder sind mit Noten versehen – für ‚Cantus‘ und ‚Bassus‘, teils mit, teils ohne Bezifferung. Drei Sätze stammen aus der Schopschen Vorlage von 1641/42, davon einer in Crügers Bearbeitung von 1653.53 Die beiden anderen sind Originalkompositionen ebenfalls von Johann Crüger (1648)54 und von Friedrich Funcke (1642–1699).55 Funcke hatte kurz nach dem Tod von Michael Jacobi (1618–1663), Thomas Selle (1599–1663) und Johann Schop (1590–1664), aber noch zu Lebzeiten Rists (1607–1667), das Johanniskantorat in Lüneburg übernommen und war mit Christian Flor (1626–1697) der führende Musiker in dem städteübergreifenden literarisch-musikalischen Netzwerk. Da in der Erstauflage des ‚Stadtgesangbuchs‘ über 40 der 110 Vertonungen von Funcke selbst stammen, darf davon ausgegangen werden, dass der Lüneburger Kantor nicht nur als langjähriger Korrektor für Stern gearbeitet hat, sondern auch die musikalische Seite des Gesangbuchs betreute.56 Seine drei Vertonungen von Texten Rists sind mit den Initialen „F. F.“ signiert (vgl. Abb. 6), wie Funcke dies auch bei anderen Werken zu tun pflegte.57
53 „ERmuntre dich/ mein schwacher geist“ (Nr. 162; Z 5741a), „JAmmer hat mich gantz umgeben“ (Nr. 1377; Z 4895) und „O GOtt! sehr reich von güt“ (Nr. 866; Z 7202b Bearbeitung Johann Crüger). Die Sigle Z mit Nr. bezieht sich auch im Folgenden auf die durchnummerierten Melodien bei Johannes Zahn: Die Melodien der deutschen evangelischen Kirchenlieder, aus den Quellen geschöpft und mitgeteilt. 6 Bde. Gütersloh 1889–1893. 54 Z 5618 statt 5617 (Schop?) zu O Grosser GOtt im himmels-thron (Nr. 484). 55 Z 5238 statt 5237 (Schop) zu ICh trage groß verlangen (Nr. 640). 56 Wegen verschiedener ‚Nebentätigkeiten‘ und Streitigkeiten mit den Behörden wurde Funcke gezwungen, sich um eine neue Stelle zu bewerben. Seine letzten sechs Lebensjahre versorgte er die Pfarrstelle in Römstedt. Vgl. Joachim Kremer: Art. Funcke, Friedrich. In: Musik in Geschichte und Gegenwart2, Personenteil 7 (2002), Sp. 272 f. 57 Martin Ruhnke: Art. Funcke, Friedrich. In: Musik in Geschichte und Gegenwart 4 (1955), Sp. 1147. Bei den drei Liedern handelt es sich um ICh trage groß verlangen (Nr. 640, vgl. Tab.Nr. 13), BLeiches antlitz/ sey gegrüsset (Nr. 392) und DAs urtheil ist gesprochen (Nr. 401). Die letzten beiden waren zuvor mit Tonsätzen von Rists Schwager Hinrich Pape erschienen in Rist: Der zu seinem allerheiligsten Leiden und Sterben hingeführter und an das Kreütz gehefteter Christus Jesus/ Jn wahrem Glauben und Hertzlicher Andacht besungen […]. Hamburg 1648, fol. C 11v.
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Notenbild und Grafik von ERmuntre dich/ mein schwacher geist im Lüneburger Stadtgesangbuch (Nr. 162) entsprechen der Vorlage in den Himmlischen Liedern (Nr. 1; Tab.Nr. 6) exakt bis auf zwei Töne im Bass und einige Bindebögen (Bsp. 1 und 2, S. 507 f.). Schops Autorschaft für diese Komposition wurde in jüngster Zeit auf der Grundlage von Notationsvergleichen in Abrede gestellt.58 Die markante, in lateinischen Lettern gesetzte Signatur „J. S.“ am Ende des Notensatzes (Bsp. 2) spricht allerdings eher für die Urheberschaft Schops, der in allen Auflagen zusammen mit Rist auf den Titelblättern genannt wird (vgl. Abb. 1).59 Es ist schwer vorstellbar, dass Funcke die Initialen des „weitberühmten“ Hamburger Ratsmusikers irrtümlich gesetzt oder unkorrigiert aus anderer Quelle übernommen hätte.
5 Fazit Gemessen an der Berühmtheit des geadelten, lorbeergekrönten Poeten sowie an der Fülle mehrerer tausend Strophen geistlichen Inhalts, die er in über 20 Werken mit mehr als 60 Auflagen publizierte,60 bleibt die Aufnahme seiner Liedschöpfungen in die Gesangbücher der letzten 350 Jahre weit hinter den Erwartungen zurück. Doch der früh gebildete Kern von sechs bis zehn Himmlischen Liedern blieb über die Jahrhunderte hinweg stabil. Selbst in den Einheitsgesangbüchern des 20. Jahrhunderts – DEG, EKG und EG (Sp. 12–14) – ist Rist, wenn auch rückläufig, noch mit insgesamt acht bis fünf Liedern im Stammteil und einigen weiteren in den norddeutschen Regionalteilen vertreten.61
58 „Doch muss gerade für drei besonders bekannte Stücke der Himmlischen Lieder davon ausgegangen werden, dass Schop mit ihnen kompositorisch nichts zu tun hat: für die Nummern 1, 3 und 7 des Ersten Zehn.“ Küster (Anm. 2), S. 604. 59 Das einschränkende „mehreren theils von Herrn Johann: Schopen gesetzt“ auf dem Titelblatt der Erstausgabe des ‚Ersten Zehen‘ (DKL 164105) entfällt in allen folgenden Ausgaben (DKL 164205, 164408, 164810, 165010), erst recht in den Gesamtausgaben. Stattdessen heißt es dort mindestens gleichrangig: Johann Risten Himlische Lieder/ Mit sehr lieblichen und anmuhtigen/ von dem fürtrefflichen und weitberühmten H. Johann Schop/ wolgesetzeten Melodeien […] (DKL 165205). 60 Vgl. DKL I/2 (Registerband), S. 98, 166 f. 61 Im EG-Stammteil findet sich neben den vier ‚Himmelsliedern‘ (Tab.Nr. 6, 12, 38, 48) auch Man lobt dich in der Stille (EG 323). Die drei Schluss-Strophen des von Rist mehrfach bearbeiteten Psalmlieds Ich will den Herren loben, Sein [herrlichs] Lob soll immerdar (1651/1654) gelangten schon ab 1695 – u. a. vermutlich wegen der Signalwörter „Stille“ und „Fromme“ – als selbständiges Lied zunächst in pietistische Gesangbücher. Vgl. Fischer-Tümpel II (Anm. 10), Nr. 231 u. 269 sowie Dianne Marie McMullen, Wolfgang Miersemann (Hg.): Johann Anastasius Freylinghausen. Geistreiches Gesangbuch. Edition und Kommentar I/3. Halle/S., Berlin 2013, Nr. 490. Zu Brich an, du schönes Morgenlicht (EG 33) vgl. Anm. 48. Sechs Regionalteile des EG enthalten außerdem
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Jede Generation hat Mittel und Wege gefunden, um beliebte Lieder des Barockdichters gesangbuchgemäß zu bearbeiten und auf diese Weise zu bewahren. Von Anfang an, sogar von Rist selbst und lange vor der Aufklärung, wurden seine Texte inhaltlich und sprachlich mehr oder weniger gravierend verändert. Insbesondere wurden sie von – selbst für zeitgenössische Maßstäbe – allzu drastischen oder als ‚mystisch‘ empfundenen Bildern befreit. Ein bis heute häufig angewandtes Mittel der Bearbeitung ist die Strophenauswahl. So wurden von den 58 Originalstrophen der fünf Rist-Lieder im EG-Stamm 33 gestrichen. Auch wurden die Originalmelodien für die Gemeinde sangbar gemacht oder durch andere, meistens bekannte Lehnmelodien ersetzt. An dieser Stelle drängt sich noch einmal der Vergleich mit Paul Gerhardt auf. Seinem bereits zu Lebzeiten herausgegebenen schmalen Œuvre von 120 deutschen geistlichen Liedern sind auch nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung lediglich 19 Widmungs- und Gelegenheitsgedichte hinzuzufügen, von denen aber kaum eines für den gottesdienstlichen Gemeindegesang verwendbar ist.62 Zwei Drittel seiner Werke erschienen – in der Regel ungekürzt – in den einflussreichsten Liedersammlungen des 17. und 18. Jahrhunderts, darunter Praxis Pietatis, ‚Freylinghausen‘ und ‚Porst‘, aber auch in den vorgestellten und in weniger bekannten norddeutschen Gesangbüchern.63 40 Lieder erlebten eine besonders nachhaltige Wirkungsgeschichte. Über 25 davon werden in den gegenwärtigen evangelischen und zunehmend auch in katholischen Gesangbüchern rezipiert. Geradezu phänomenal ist der weltweite Gebrauch in fast allen Sprachen.64 Bemerkenswert ist ein zeitgenössisches Urteil über Rist im Vergleich zu Paul Gerhardt, das der angesehene Dichter und Historiograph Martin Kempe (1642–
noch Rists Adventslied Auf, auf, ihr Reichsgenossen aus den Neuen Himmlischen Liedern (DKL 165105), jetzt aber mit dem veränderten Incipit Auf, auf, ihr Christen alle (EG-Nord [Anm. 17] 338). 62 Vgl. Ndr. der Ebelingschen Gesamtausgabe (Anm. 26). Anhang, S. 15–22 (Paul Gerhardts deutsche Gedichte aus Einzeldrucken) sowie Paul Gerhardt: Wach auf, mein Herz, und singe. Vollständige Ausgabe seiner Lieder und Gedichte. Hg. von Eberhard von Cranach-Sichart. Wuppertal 4 2007, S. 376–380 (Neu gefundene Gedichte Nr. 135–139). 63 Z. B. 90mal Gerhardt und 12mal Rist in Praxis Pietatis, Editio X (1661); 84mal Gerhardt und 37mal Rist im ‚Freylinghausen‘ (1704/1714); 67mal Gerhardt und 23mal Rist im ‚Porst‘ (1713). Im ‚Husumer Hofgesangbuch‘ (DKL 167621), das im Todesjahr Paul Gerhardts erschien, stammen 76 (= 20 %) der Lieder von ihm, 32 von Rist. Vgl. Kadelbach (Anm. 14), S. 85, 99 f. 64 Vgl. Christian Bunners: Paul Gerhardt. Weg, Werk, Wirkung. Überarbeitete und ergänzte Neuausgabe. Göttingen 2006, S. 121, 213–224; Ada Kadelbach: „I denne fagre sumarstid gå ut, mi sjel …“. Paul Gerhardt in skandinavischen Gesangbüchern. In: I. A. H. Bulletin. Publikation der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Hymnologie 35/36 (2007/2008), S. 411–421. Korrektur von S. 421 im I. A. H. Bulletin 38 (2010), S. 399 f.
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1683) abgab. Anders als Gerhardt, der nie einem Dichterbund angehört hatte, war Kempe Mitglied in allen namhaften Sprachgesellschaften, darunter auch in Rists Elbschwanenorden.65 Durch Georg Neumark (1621–1681) erhielt er den Dichterlorbeer, 1665 wurde er in den Pegnesischen Blumenorden aufgenommen, 1668 – also erst nach dem Tode Rists – auch in die Fruchtbringende Gesellschaft. Der 1677 von Kaiser Leopold Geadelte schrieb in seinem Literaturlexikon Schrifften derer bekantesten Poeten hochdeutscher Sprache, Königsberg 1681: Paul Gerhard, gewesener Prediger zu S. Nicolai in Berlin/ hat viele Geistliche Lieder geschrieben/ welche von Geistes Krafft seind […]. Er thut es Hrn. Risten weit zuvor/ und seind seine Lieder voller hertzbewegender Andacht/ haben derohalben verdienet in die vollständigen Gesang-Bücher/ als Hern. Krügers/ hernach Hern. D. Geyers zu Dreßden/ Hrn. D. Olearii in Halle/ gebracht zu werden. Es hat dieser selige und um die Christliche Kirche mit seiner Poesie wolverdienter Mann/ sonderliche Gaben von GOtt gehabt/ was ihm beliebet hat/ in wolklingende und ungezwungene Verse zu binden […].66
Kempe betont also nicht nur die ‚Geisteskraft‘, die ‚herzbewegende Andacht‘, den ‚Wohlklang‘ und die ‚Ungezwungenheit‘ in Gerhardts Versen, sondern auch, dass er es Rist ‚weit zuvor tue‘ und dass seine Lieder verdientermaßen Aufnahme in wichtige und einflussreiche Gesangbücher seiner Zeit gefunden hätten. Auch Rist sind meisterhafte geistliche Verse, Strophen und ganze Lieder gelungen, die immer noch gern im Gottesdienst gesungen werden. Weit über den kirchlichen Gebrauch hinaus gehören einige seiner Texte zum allgemeinen Kulturgut. So wurden Kopfzeilen aus den Himmlischen Liedern zu Werkbezeichnungen bei Bach und Buxtehude wie O Ewigkeit, du Donnerwort (BWV 20, BWV 60) und O Gottes Stadt, o güldnes Licht (BuxWV 87). Am populärsten aber sind wohl Kirchenliedstrophen in Johann Sebastian Bachs Oratorien. An besonders markanten und bewegenden Stellen der biblischen Erzählung erklingen ‚Choräle‘ von Rist und Schop in Bachscher Bearbeitung. Im zweiten Teil des Weihnachtsoratoriums, unmittelbar vor der Engelsbotschaft an die Hirten, singt der Chor als ‚Stimme der Gemeinde‘:
65 Vgl. Renate Jürgensen: Art. Kempe, Martin. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. 2., vollst. überarb. Aufl. Hg. von Wilhelm Kühlmann u. a. Berlin, New York 2009. Bd. 6, S. 357 f. 66 Zit. nach Jörg-Ulrich Fechner: Matthias Claudius und Paul Gerhardt. In: Pietismus und Neuzeit 38 (2012), S. 218. Dieser nach dem Repr. in: Die Fruchtbringende Gesellschaft unter Herzog August von Sachsen-Weißenfels. Die preußischen Mitglieder Martin Kempe (der Erkorene) und Gottfried Zamehl (der Ronde). Reihe II, Abt. C. Halle. Hg. von Martin Bircher, Andreas Herz. Tübingen 1997. Bd. 1, S. 345–378. Zitat im Orig. S. 61.
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Brich an, o schönes Morgenlicht, und laß den Himmel tagen! Du Hirtenvolk, erschrecke nicht, weil dir die Engel sagen, daß dieses schwache Knäbelein soll unser Trost und Freude sein, dazu den Satan zwingen und letztlich Frieden bringen!67
Und in der Matthäuspassion folgt auf die Verleugnung des Petrus mit der „Erbarme dich“-Arie der ‚Choral‘: Bin ich gleich von dir gewichen, stell’ ich mich doch wieder ein. Hat uns doch dein Sohn verglichen durch sein’ Angst und Todespein. Ich verleugne nicht die Schuld, aber deine Gnad’ und Huld ist viel größer als die Sünde, die ich stets in mir befinde.68
Das geistliche Lied ist die einzige Textsorte aus Rists vielfältigem literarischem Schaffen, die nicht nur auf historisch-wissenschaftliches Interesse stößt, sondern bis heute in lebendigem Gebrauch ist.
67 Str. 9 aus dem Weihnachtslied ERmuntre dich, mein schwacher Geist. Vgl. Tab.Nr. 6 und Anm. 48. 68 Str. 6 aus dem Abendlied WErde munter mein Gemüte. Vgl. Tab.Nr. 48 und EG 475,5.
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Bsp. 1: Rist/Schop: Himmlische Lieder. Lüneburg 1641.
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Bsp. 2: Vollständiges Lüneburgisches Gesang-Buch. Lüneburg 41702 [11686].
Bsp. 3: Georg Philipp Telemann: Fast allgemeines Evangelisch-Musicalisches Lieder-Buch. Hamburg 1730.
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Bsp. 4: Matthias Andreas Bauck: Lübeckisches Choral-Melodienbuch. Lübeck 21826 [11821].
Bsp. 5: Johann Hermann Thomas Jimmerthal: Melodienbuch zu dem Neuen Lübeckischen Gesangbuche. Lübeck 51912 [11859].
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Bsp. 6: Johann Friedrich Schwencke: Vollständiges Choral-Melodienbuch zum Hamburgischen Gesangbuche. Hamburg 161889 [11832].
Bsp. 7: Hamburgisches Gesangbuch. Hamburg 1912.
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Bsp. 8: Deutsches Evangelisches Gesangbuch. Lübeck u. a. 1930 (DEG).
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Ada Kadelbach
Abbildungsnachweise Abb. 1 und Bsp. 1: Faksimile-Nachdruck der Ausgabe Lüneburg 1641–1642. Hg. von Siegfried Kross. Hildesheim, New York 1976 (Documentation zur Geschichte des deutschen Liedes 2). Abb. 2–6: Privatbesitz. Bsp. 2, 5–8: Privatbesitz. Bsp. 3: Georg Philipp Telemann: Fast allgemeines Evangelisch-Musicalisches Lieder-Buch. Hamburg 1730. Faksimile-Nachdruck Hildesheim, New York 1977. Bsp. 4: Matthias Andreas Bauck: Lübeckisches Choral-Melodienbuch. Lübeck 21826 [11821]. Bibliothek der Hansestadt Lübeck Mus. T 7a.
Abkürzungen DKL Konrad Ameln, Markus Jenny, Walther Lipphardt (Hg.): Das deutsche Kirchenlied (DKL). Kritische Gesamtausgabe der Melodien. Bd. I/1: Verzeichnis der Drucke von den Anfängen bis 1800 (RISM. Internationales Quellenlexikon der Musik, B/VIII/1). Kassel u. a. 1975. ‒ Die der Sigle DKL folgenden Jahreszahlen verweisen auf die bibliographischen Angaben in dem chronologisch geordneten Quellenverzeichnis. Z
Johannes Zahn: Die Melodien der deutschen evangelischen Kirchenlieder. 6 Bde. Gütersloh 1889‒1893. ‒ Die der Sigle Z folgenden Ziffern beziehen sich auf die laufenden Nummern bei Zahn.
DEG Deutsches evangelisches Gesangbuch. [Stammteil Berlin 1916]. Einheitsgesangbuch der Evangelisch-lutherischen Landeskirchen in Schleswig-Holstein-Lauenburg, Hamburg, Mecklenburg-Schwerin, Lübeck, Mecklenburg-Strelitz, Eutin. Lübeck u. a. 1930. EKG Evangelisches Kirchengesangbuch. [Stammteil Kassel 1950]. Ausgabe für die Evangelischlutherischen Landeskirchen Schleswig-Holstein-Lauenburg, Hamburg, Lübeck und Eutin. Hamburg 1954. EG Evangelisches Gesangbuch. [Stammteil Hannover 1993]. Ausgabe für die Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche. Hamburg, Kiel 1994.
Wolfgang Hirschmann
Des Daphnis aus Cimbrien Galathee Musik und Performanz in der weltlichen Lyrik Johann Rists Barocke Liederbücher sind komplexe Phänomene: Medial-drucktechnische Vorgaben verbinden sich in ihnen mit textlich-literarischen und musikalisch-kompositorischen Gestaltungsdimensionen, allesamt Komponenten, die erst in der Realisierung der Lieder – also in der performativen Dimension1 – ihre Daseinsberechtigung und letztendliche Begründung finden. Die Liederdrucke sind auf das Singen und Musizieren hin erfunden; insofern ist das Reden über die Musik in den weltlichen Liederdrucken Rists, das ich mir vorgenommen habe, ein Reden über den Kern des Sache. Dieser Sachverhalt, der der modernen, disziplinär aufgespaltenen Forschung zum Problem geworden, den damaligen Protagonisten hingegen eine völlige Selbstverständlichkeit gewesen ist, zeigt sich gleich, wenn wir die erste der genannten Komponenten, die medial-drucktechnischen Rahmenbedingungen, betrachten. Ich werde mich hier und im Folgenden von den beiden weltlichen Liedersammlungen Rists auf die besonders erfolgreiche erste, Des Daphnis aus Cimbrien Galathee, konzentrieren. Der Druck erschien 1642 bei Jacob Rebenlein in Hamburg und fand so großen Anklang, dass die erste Ausgabe mindestens neunmal nachgedruckt wurde. Erik Sønderholm schätzt die Anzahl der gedruckten Exemplare nach sieben Auflagen auf etwa 1000; danach war das Titelkupfer „so schlecht, daß es durch ein neues ersetzt werden mußte“.2 Die im Typendruckverfahren erstellten Noten und Texte wurden stets neu gesetzt, wobei die jeweils letzte Auflage der neuen zur Vorlage diente, so dass sich die Zahl der Druckfehler immer weiter erhöhte. Der nachfolgenden Darstellung sowie den beigegebenen Notenbeispielen und Übersichten liegt das Exemplar der Erstauflage (bei Sønderholm A1), das in der Hochschul- und Landesbibliothek Fulda unter der Signa-
1 Die Begriffe ‚performativ‘ und ‚Performanz‘ werden hier im Sinne der Sprachtheorie von Noam Chomsky als Bezeichnungen für die „tatsächliche Verwendung der Sprache in konkreten Situationen“ (vgl. Claudia Riehl: Performanz und Kompetenz. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hg. von Ansgar Nünning. Stuttgart, Weimar 5 2013, S. 592) gebraucht, übertragen auf das Lied also für dessen sprachlich-musikalischen Vollzug im Vorgang der Aufführung. 2 Erik Sønderholm u. a. (Hg.): Søren Terkelsen. Astree Siunge-Choer. Første Snees 1648. Die dänischen Lieder mit ihren deutschen Vorlagen von Gabriel Vogtländer und Johann Rist. Neumünster 1976, S. 133.
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tur Spr. u. Lit. Cb 827/10 aufbewahrt wird, zu Grunde. Verglichen habe ich es mit einem im Internet zugänglichen Exemplar der neunten Auflage (A9) aus der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen.3
1 Ein erster Blick zeigt, dass die Galathee zwei Arten von Texten in einer unregelmäßig verschlungenen Doppelhelix miteinander verbindet (dazu die Übersicht 1 auf S. 534–542): einerseits 40 strophische Lieder mit ihren Noten, andererseits 32 nicht musikalische Dichtungen; dabei handelt es sich um Epigramme verschiedener Länge – bis auf eine Ausnahme (Nr. XXVII) in paarig reimenden Alexandrinern geschrieben – und ein Sonnett (Nr. VI). Auffällig ist die ganz und gar unregelmäßige Abfolge der beiden Textsorten. Zu Beginn etwa stehen jeweils ein oder zwei Epigramme zwischen den Liedern, ab Lied Nr. 9 aber bis Lied Nr. 15 begegnen keine Dichtungen der zweiten Gruppe mehr im Druck, so dass die Lieder unmittelbar aufeinander folgen. Der Grund für diese Eigentümlichkeit liegt in den Prinzipien der medialen Disposition dieses Liederdrucks. Die Noten der Lieder – also Melodie und Bass linie, beide textiert mit der ersten Strophe – stehen stets auf einer Verso-Seite, so dass auf der gegenüberliegenden Recto-Seite die nochmals abgedruckte erste Strophe und die Folgestrophen zu stehen kommen. Es geht offenbar darum, die Notentexte so im Druck zu repräsentieren, dass beim Musizieren ein Umblättern, so weit dies möglich ist, vermieden wird; eine Aufteilung mit den Noten auf der linken Seite des aufgeschlagenen Buches ist hier die ideale Lösung. Unvermeidlich ist das Umblättern aufs Ganze gesehen freilich nicht, da nur in seltenen Fällen die gesamten Strophen auf eine Recto-Seite passen, so etwa bei dem Lied Nr. 12 (Abb. 1 auf S. 526). In der Regel benötigt die Textwiedergabe noch die nachfolgende Verso-Seite oder eine weitere Recto-Seite. Bei der Nr. 5 etwa (Abb. 2 auf S. 527) ist der Lieddruck mit der Schlussstrophe auf der Mitte einer Verso-Seite abgeschlossen; nach den Regularien des Drucks (Noten stehen stets auf einer Verso-Seite) bleiben eineinhalb Seiten Raum, bis wieder ein neues Lied einsetzen kann. Diesen Zwischenraum überbrückt hier das Sonett Nr. VI auf der unteren Verso- und der nachfolgenden oberen Recto-Seite. Es ist zwar keineswegs so, dass jeder nach diesem medialen Dispositiv freistehende Platz im Druck gefüllt worden wäre, aber in jedem Fall werden gänzlich leere Seiten vermieden,
3 Signatur: 8° Poet. Germ. II 2768.
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und es ist völlig evident, dass diese Vorgabe die Verteilung der unterschiedlich langen Epigramme über den Druck hinweg bedingt und steuert. Wie hat man sich hier den Gestaltungsvorgang vorzustellen? Auf keinen Fall so, dass Rist (und gegebenenfalls seine Mitarbeiter) eine handgeschriebene Vorlage geliefert hätten, die dann in den Druck umgesetzt worden wäre. Vielmehr muss man von einer dichten Verzahnung von Druckvorgang und Anordnung der Epigramme zwischen den Liedern ausgehen. Erik Sønderholm zufolge setzt der Sachverhalt, dass „der verbleibende Raum vielfach mit epigrammatischen Gedichten gefüllt“ wurde, „Rists Beteiligung am Zustandekommen des Drucks voraus“.4 Der Pastor in Wedel tritt aber nicht selbst als Autor und Herausgeber in Erscheinung; seine Agenten waren Theobald Grummer aus Lüneburg, der die Vorrede schrieb, und ein nicht identifizierter „A. von S.“,5 der ein Nachwort beisteuerte; aus dem Briefwechsel Rists ist schließlich bekannt, dass Philipp von Zesen den Druck mit beförderte. In einem Brief vom 4. April 1642 bat Rist von Zesen um Auskunft, „ob meine Galathea an das helle Tageslicht zu führen der Anfang sei gemacht worden“, und bat darum, „da deme also, mir eine kleine Probe deswegen zu schicken.“6 Hat Rist Abzüge der gedruckten Lieder erhalten und dann entschieden, welche Epigramme wo zu stehen kommen oder wurde ihm diese Entscheidung von seinen Druckagenten abgenommen? Der bereits zitierte Brief führt in dieser Frage weiter, denn Rist übersandte von Zesen zusammen mit diesem Brief „ein paar Ueberschriften. Kann seinem Belieben nach eine deroselben erwählen“;7 Rist stellt zudem die Zusendung weiterer solcher „Ueberschriften“ in Aussicht. Mit den Überschriften sind zweifelsohne nicht Vorschläge für den Gesamttitel des Drucks oder die Titel der einzelnen Lieder gemeint, sondern Epigramme,8 die von Zesen also eigenständig „nach Belieben“ in die freien Druckfelder einstreute. Wir sehen hier, wie die spezifischen medialen Bedingungen des Liederdrucks, die auf Erfordernisse des Liedvortrags, mithin auf die performative Dimension des Phänomens, reagieren, seinen Inhalt und seine Erscheinungsform auf eine Weise präformierten und prägten, welche die moderne Vorstellung einer intentionalen und autorzentrierten Fügung vielleicht nicht völlig ins Wanken bringt, aber doch als unzulänglich erscheinen lässt. Von daher lässt sich auch ein moderner,
4 Sønderholm: Søren Terkelsen (Anm. 2), S. 133. 5 Hier könnte es sich allerdings auch um ein abgekürztes Pseudonym Rists handeln; vgl. dazu den Beitrag von Stephanie Stockhorst im vorliegenden Band. 6 Zit. nach Oskar Kern: Johann Rist als weltlicher Lyriker. Marburg 1919 (Beiträge zur deutschen Literaturwissenschaft 15), S. 84. 7 Ebd. 8 Vgl. Peter Hess: Epigramm. Stuttgart 1989, v. a. S. 30–47 und S. 82–111.
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emphatischer Werkbegriff auf diese Sammlung nicht anwenden, denn die Materialität des Buches erzwingt hier ja gleichsam das Einfügen weiterer Gedichte.
2 Der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte, betrifft die Text-Musik-Relation in den Liedern. Es geht mir hier weniger um die bekannten Tatsachen, dass Lieddichter ihre Texte nach bestimmten Strophenschemata einrichteten, die dann auf vorhandene Melodien gesungen werden konnten, die diese Schemata melodisch artikulierten, oder dass Komponisten bekannte Liedmelodien bearbeiteten ebenso wie die Literaten vorgegebene Dichtungen umformten oder deren Elemente neu kombinierten. Vielmehr möchte ich den musizierenden Dichter ins Auge fassen, der Lieder aus der unmittelbaren Auseinandersetzung mit Musik generiert, die nicht einem engeren Zirkel der Liedmelodik angehört. Was damit gemeint ist, sei durch einen Vergleich erläutert: Wenn man sich das bekannte Eröffnungslied des Druckes9 ansieht, dann erkennt man in textlicher Hinsicht eine vollkommen regelmäßige Strophenform aus acht vierhebigen Trochäen, die sich durch die Reime und die Endungen zu vier Paaren anordnen, von denen die ersten beiden durch den Kreuzreim enger miteinander verbunden sind als die beiden nachfolgenden Paarreime, deren zweiter einen Refrain ausprägt: Daphnis gieng für wenig Tagen 4Tr a’ Über die begrühnten Heid’/ 4Tr b Heimlich fieng er an zu klagen 4Tr a’ Bey sich selbst sein schweres Leid/ 4Tr b Sang aus hochbetrübten Hertzen 4Tr c’ Von den bittern Liebes-Schmertzen; 4Tr c’ Ach dass ich dich nicht mehr seh’ 4Tr D Allerschönste Galathe!10 4Tr D
9 Zu dessen breiter Rezeptionsgeschichte vgl. den Beitrag von Irmgard Scheitler im vorliegenden Band. 10 Druck A1, fol. 10 (dort „weinig“ statt „wenig“; der Text zu den Noten auf fol. 9’ hat im 1. Vers im Diskant „vor“ statt „für“).
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Die Vierhebigkeit der Trochäen und die paarige Anordnung der Verse finden in der Liedmelodik (s. Notenbeispiel 1 auf S. 528)11 ihre Entsprechung in einer durchgehend quadratischen Taktordnung aus Zwei- und Viertaktern im 4/4-Takt. Jede Taktgruppe wird mit einer Kadenz beschlossen, die die Versgrenzen markiert; die Kreuzreimstruktur der ersten vier Verse wird durch deren Wiedergabe auf die gleiche Musik (wie in vielen Kirchenliedern) verdeutlicht (T. 1–4), während der nachfolgende Paarreim in zwei parallel gearbeiteten Zweitaktern umgesetzt wird (T. 5/6 und 7/8). Die zweite Gruppe bringt durch die Transposition nach oben eine leichte Steigerung samt dem Hochton der gesamten Melodie auf es“ (T. 8); dies ist insofern besonders textadäquat, als dadurch das zentrale Wort „Liebes-Schmer tzen“ hervorgehoben wird (die erste Strophe war für solche maßvollen musikalischen Semantisierungen ein wichtiger Bezugspunkt der Komponisten oder komponierenden Dichter; wichtig war, dass diese Textausdeutungen nicht so auffällig waren, dass nachfolgende Strophen darunter litten). Der Refrain (T. 9–12) wird durch die Wiederholung (hier von Text und Musik) in seiner Einprägsamkeit gesteigert. Die insgesamt dreiteilige Form des Liedes ist auf eine sehr glückliche Weise gerundet, da die abschließende Periode (T. 9–12) die eröffnende (T. 1–4) variiert: Die Kadenzen sind getauscht (zu Beginn Ganzschluss – Halbschluss, nun Halbschluss – Ganzschluss), in melodischer Hinsicht ist der Vordersatz der Schlussperiode (T. 9/10) eine freie Variation des Nachsatzes der Eröffnungsperiode (T. 3/4), der Schlussatz (T. 11/12) eine klare Variation des Liedbeginns (T. 1/2). Aber nicht nur dieser Rahmen gibt der Melodie eine einprägsame Geschlossenheit, sondern auch die wiederkehrende fallende Viertongruppe in den Takten 2, 6 und 8. Die Deklamation erfolgt simultan in beiden Stimmen, der Satz ist aufgelockert homorhythmisch, die Melismatik beschränkt sich auf Durchgangsnoten; gelegentlich werden die betonten Silben durch die Punktierung geschärft. Der Ambitus der Oberstimme beträgt eine bequeme kleine Sexte, sangbare Sekundund Terzintervalle dominieren; die begleitende Bassstimme ist zwar bedingt durch die Kadenzfälle sprungreicher ausgearbeitet, wahrt aber dennoch einen gesanglichen Grundcharakter. Insgesamt folgt das Lied jenem Ideal der Einfachheit, dem sich Rist in seinen geistlichen Liedern verpflichtet sah.12 Sowohl die
11 Die Notenbeispiele geben eine möglichst quellennahe Transkription von Text und Musik; als Schlüssel in der Oberstimme wurde allerdings durchgehend der moderne Violinschlüssel verwendet (zu den originalen Schlüsselungen vgl. die Übersicht 1), bei der Textunterlegung mit konsequenter Silbentrennung gearbeitet. Zur besseren Orientierung wurden Taktstriche (Strichelung) und Taktzahlen (Kursivierung) ergänzt. 12 Joachim Kremer: Der „kunstbemühte Meister“. Christian Flor als Liedkomponist Johann Rists. In: Christian Flor (1626–1697) – Johann Abraham Peter Schulz (1747–1800). Texte und Dokumente zur Musikgeschichte Lüneburgs. Hg. im Auftrag der Ratsbücherei Lüneburg von Fried-
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Strophenform mit ihren regelmäßig alternierenden, gleichlangen Versen und ihrem Wechsel der Endbetonungen wie auch die ebenmäßige Melodik und Form des Liedes bewegen sich ganz in der Sphäre der Opitz’schen Lyrica. Ganz anders nun das Lied Nr. 27. Blickt man zunächst auf die metrische Analyse des Textes, so lässt sich eine ganz und gar individuelle und unregelmäßige Struktur beobachten: Einsmals an einem Morgen als auffgangen war die Sonn 7J a Kam gezogen ein 3T b Mit den Schäffelein 3T b Der edle Corydon 3J a Bald fieng er an zu singen 3J c’ Mit jauchtzen und mit springen 3J c’ Es priese nur sein stoltzer Sinn 4J d Die schönste Delia seine Schäfferinn.13 5J/D d
Der erste Vers muss als siebenhebiger Jambus mit 14 Silben und betontem Ende skandiert werden. Ihm folgen fünf dreihebige Verse, zwei Trochäen, drei Jamben, die letzten beiden unbetont endend; am Strophenschluss verbreitet sich die Verslänge wieder zu einem vierhebigen Jambus und einem längeren unregelmäßigen Vers, der sich als sechshebiges Gebilde mit zwei aufeinanderstoßenden betonten Silben in der Versmitte („De-li-a sei-ne“) oder als jambischer Fünfheber mit eingestreutem Daktylus („De-li-a sei-ne“) deuten lässt. Regelmäßig im Opitz’schen Sinne ist hier einzig die Reimfolge (abbaccdd). Die Unregelmäßigkeiten und Individualismen nehmen noch zu, wenn man die Folgestrophen betrachtet, in denen entgegen der traditionellen Grundregel des Strophenbaus die Versstrukturen gegenüber der ersten Strophe immer wieder leicht verändert werden: Der erste Vers der 2. Strophe („Bald kahm darauff gegangen Phyllis mit ihrer Schaar“) ist sechshebig und endet stumpf, hat aber dennoch 13 Silben, weil ein Daktylus eingeschoben ist („Phyl-lis mit“); bei der dritten Strophe („Als Corydon hört singen der Phyllis süssen Mund/“) liegt die unregelmäßige Ausfüllung der Senkung an anderer Stelle („singen der“). Den eigenartigen Befund hat bereits Wilhelm Krabbe beobachtet und kommentiert:
rich Jekutsch u. a. Hamburg 1997 (Musik der frühen Neuzeit. Studien und Quellen zur Musikgeschichte des 16.–18. Jahrhunderts 2), S. 52–85, hier S. 54–62. Dass freilich dieses Simplizitätsideal nicht für alle geistlichen Lieder Rists maßgeblich war, zeigt der Beitrag von Ivana Rentsch im vorliegenden Band. 13 Druck A1, fol. 60 (dort im 2. Vers „herein“ statt „ein“, das aber in den Noten auf fol. 59’ unterlegt ist; der 2. und 3. Kurzvers sind in der Strophenwiedergabe des Druckes stets in einer Zeile zusammengefasst).
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Das Resultat unserer Untersuchung wäre demnach, daß wir es bei diesen Stücken mit Melodien zu tun haben, die Rist vorlagen und zu denen er seine Lieder dichtete, mehr von dem Rhythmus dieser Melodien beherrscht als von dem Zwange des Opitzischen Regelkodex.14
Er führt die Technik also auf das weit verbreitete Verfahren des (in der älteren Musikwissenschaft so genannten) ‚Parodierens‘, also der Kontrafaktur, zurück. Aber das ist nur die halbe Wahrheit: Werner Braun hat darauf hingewiesen, dass diese Unregelmäßigkeiten sich daraus erklären, dass die Texte nicht auf Liedmelodien, sondern auf Instrumentalsätze entworfen wurden; und er weist vier der Vorlagen nach (Nr. 18, 20, 27, 28: drei Couranten und ein Ballet von Nicolaus Bleyer, s. Übersicht 1).15 Das ist eine wichtige Beobachtung, denn sie hilft uns, Eigenarten des Verfahrens zu verstehen (s. Notenbeispiel 2 auf S. 529): so etwa die tanzsatztypische Anlage des Satzes aus zwei wiederholten Teilen, so dass die Verse 1–4 und 5–8 jeweils zweimal zu singen sind, so den unruhigen, wenig kantablen Charakter der Melodik mit mehreren großen Sprüngen (vgl. die Sexte in T. 5, die Oktaven in T. 10 und 15) einerseits, zahlreichen Tonrepetitionen (T. 5 f., T. 14 f.) andererseits, den größeren Ambitus der Oberstimme (g’–as“), den unregelmäßigen Phrasenbau (4 – 1 – 1 – 2 im ersten Teil, 2 – 2 – 4 im zweiten Teil) und die häufigen Sequenzen (T. 5 mit Auftakt bis T. 7, T. 9 mit Auftakt bis T. 14, 1. Viertel), vor allem aber die reichere Rhythmik und dadurch flexiblere Handhabung der Deklamation, bei der zwischen Achteln, Vierteln, Halben und punktierten Halben als Silbenträgern gewechselt wird und unterschiedliche Auftakte gebraucht werden, schließlich auch die von der Oberstimme abweichende, weniger lebhafte Rhythmik und damit auch veränderte Deklamation in der Unterstimme, die wesentlich stärker untergeordnete instrumentale Begleitstimme ist als im ersten Beispiel. Das ist eine ganz andere Technik der Liedorganisation, die von der individuellen Melodie her denkt und freie Strophenformen aus der Anpassung von Versen an den Gang der Melodik entwirft; das Verfahren und dessen Ergebnisse wird
14 Wilhelm Krabbe: Zur Frage der Parodien in Rists „Galathea“. In: Festschrift Hermann Kretzschmar zum siebzigsten Geburtstage überreicht von Kollegen, Schülern und Freunden. Leipzig 1918, S. 58–61, hier S. 61. Krabbe beobachtet derartige Unregelmäßigkeiten in den Liedern Nr. 12, 17, 18, 20, 27, 28 und 31. 15 Werner Braun: Thöne und Melodeyen, Arien und Canzonetten. Zur Musik des deutschen Barockliedes. Tübingen 2004 (Frühe Neuzeit 100), S. 198–207, hier S. 202; ders.: Der Stilwandel in der Musik um 1600. Darmstadt 1982 (Erträge der Forschung 180), S. 49 f. Zu den weiteren in Übersicht 1 verzeichneten Melodieübernahmen vgl. Braun: Thöne und Melodeyen, a. a. O. Textliche Vorlagen werden in Übersicht 1 nach den älteren Untersuchungen von Kern (Anm. 6), S. 88–92, verzeichnet. Vgl. nun aber den Beitrag von Volker Klostius im vorliegenden Band mit neuen Forschungsergebnissen.
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man mit einigem Recht den anti-Opitzianischen Tendenzen in Rists Schaffen zurechnen können.16 In semantischer Hinsicht ist die eigentümliche Liedform der Nr. 27 dem Inhalt des Liedes vollkommen adäquat: Der musikalisch-deklamatorische Wirbel, den dieses Lied entstehen lässt, entspricht dem „Liebeswechsel“, von dem die Strophen in der anakreontischen Tradition der Liebe als Spiel erzählen. Kritik an einer vermeintlich schwachen, da unregelmäßigen musikalischen Deklamation scheint mir in diesem Zusammenhang unangemessen.17 Braun nimmt an, dass der im Nachwort des Druckes erwähnte,18 wenig profililierte Komponist Heinrich Pape aus Altona diese Bearbeitungen vorgenommen habe.19 Diese Annahme macht wenig Sinn, weil sie in ganz traditioneller Sichtweise voraussetzt, dass Rist diesen völlig unregelmäßigen Text geschrieben habe und dann der Komponist sich auf die Suche gemacht habe, wie er ihn auf einen Instrumentalsatz textieren könne. Genau der gegenteilige Entstehungsprozess muss hier angenommen werden: Der Dichter, also Rist selbst, hat seine Strophen denkbar eng aus der vorgegebenen Satzstruktur herausgeformt; Voraussetzung dafür ist der performative Umgang mit textloser Musik. Eine Einzelstudie könnte zeigen, wie kreativ Rist mit diesen Vorlagen umgegangen ist – er hat sie ja nicht nur übernommen, sondern auch bearbeitet, wie
16 Vgl. dazu auch den Beitrag von Bernhard Jahn im vorliegenden Band. Zu überlegen wäre, ob nicht schon bei Johann Rist die von Dirk Rose im Zusammenhang mit Christian Friedrich Hunold und dem galanten Kommunikationsmodell beschriebene Tendenz zu beobachten ist, „‚Musikalität‘ […] zum legitimierenden Textprinzip einer weniger regulierten Poesie“ zu erheben. Vgl. Dirk Rose: Conduite und Text. Paradigmen eines galanten Literaturmodells im Werk von Christian Friedrich Hunold (Menantes). Berlin 2012 (Frühe Neuzeit 167), S. 261. 17 Werner Braun spricht mit Wilhelm Krabbe von „Schwächen der Textunterlegung“. Braun: Thöne (Anm. 15), S. 202; es bleibt unklar, nach welcher Norm hier geurteilt wird. 18 Vgl. fol. 90: „Etliche der übrigen Melodeyen sind von trefflichen Componisten/ als dem weitberühmten Herrn Johann Schopen/ M. S. S. [Braun: Thöne (Anm. 15), S. 202, löst auf: „Musicus Supremus Senatus“] und andern; Die allermeisten aber von einem nicht unverständigen Organisten H. P. zu A. [Hinrich Pape zu Altona] wiewol auff der Eil gesetzet […].“ Die Erstauflage (A1) schreibt die Melodien der Lieder Nr. 13, 14, 15 und 22 mit dem Kürzel „J. S.“ Johann Schop zu, die Auflage A9 nur die Nr. 15. Braun: Thöne, S. 202 weist darauf hin, dass fünfmal das Namenskürzel „J[ohann] R[ist]“ vorkomme, was zumindest für die beiden von mir konsultierten Auflagen nicht zutrifft. Genauso wenig trifft zu, dass der Tonsatz von Nr. 14 und Nr. 16 „zweimal vorkommt“ (ebd.); es handelt sich in A1 und A9 um zwei verschiedene Melodien. Dass an gleicher Stelle als „unvertont“ erwähnte Lied „Mein Herz ist nicht von Wachs“ steht zumindest nicht in der Erstauf lage und auch nicht in A9. Braun schreibt leider nicht, auf welche Auflage des Drucks er sich bezieht. 19 Braun resümiert: „Man kommt so auf etwa zehn Übernahmen. Vermutlich hatte Pape sie besorgt und ist so zu hier unverdienten Komponisten-Ehren gelangt“. Braun: Thöne (Anm. 15), S. 202.
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Braun an einem Beispiel zeigt.20 Ich charakterisiere nur kurz zwei weitere Lieder, die ebenfalls auf dem Verfahren basieren: Der in Lied Nr. 12 (s. Notenbeispiel 3 auf S. 530)21 hinter seiner Dorinde hereilende Schäfer wird im 6/4-Takt und GigueRhythmus dargestellt; die Sequenzierungstechnik wird im zweiten Teil (T. 7–14) mit seiner bis zum a” ansteigenden Folge von sechs Kurzversen ins Extrem geführt – rhetorisch prägnante Darstellung des erfolglosen Nacheilens und Nachseufzens des Schäfers hinter seinem „Täubelein“, das er als komisierende Pointe am Ende der Strophe anruft. Auch der große Ambitus von c’ bis a” weist auf die instrumentale Herkunft des ganzen Gebildes. Der Text ist wieder ganz unregelmäßig gearbeitet, wirkt aber der vorgegebenen Instrumentalmelodie wie auf den Leib geschneidert: Dorinde du prächtigst’ auff Erden Von Tugend/ Zucht/ Schönheit/ Geberden/ Laß mich deinen Diener seyn: Ich lauff’ ihr nach/ Mit Weh’ und Ach Schaw’ an mein Hertz/ Das voller Schmertz In Flammen steht/ Kein Tag vergeht Ich seufftze nach dier mein Täubelein.22
3D a’ 3D a’ 4T b 2J C 2J C 2J d 2J d 2J e 2J e 4D/J b
Die in Nr. 27 und Nr. 12 beobachtbare Tendenz zur musikalisch-metrischen Individualisierung einzelner Verse und Versgruppen findet im Lied Nr. 25 eine nachdrückliche Bestätigung: O Göttinne zahrt Die so fest’ und hart Meines Hertzen Schrein Ist für lengst geschlossen ein/ Bleibe du doch für und für Mein erquickung Frewd’! und Zier/ Ach Hertz’! Ach Hertz’ Lasse mich doch nicht verderben Noch in deiner Liebe sterben//
3T a 3T a 3T b 4T b 4T c 4T c 2J x 4T d’ 4T d’
20 Ebd., S. 203. 21 Hier eliminiert die Edition in der Oberstimme zweimal eine in ihrer Bedeutung unklare Viertelnote a’ am Ende der beiden Teile (T. 6 und 14) und ergänzt dafür bei den Schlussnoten (f’ und f”) einen Verlängerungspunkt. 22 Druck A1, fol. 33 (die Kurzverse 4–9 sind wieder in drei Verszeilen zusammengezogen).
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Drumb schaffe das ich dich nur seh’ 4J E O du meine Galathe!23 4T E
Auch hier handelt es sich mit Sicherheit um einen textierten Instrumentalsatz.24 Nach Art einer Instrumentalkanzone wechseln sich im musikalischen Satz (s. Notenbeispiel 4 auf S. 531 f.) vier unterschiedlich rhythmisierte Teile (T. 1–13, 14/15, 16–24, 25–30) ab, die im deklamatorischen Duktus und rhetorischen Gehalt stark kontrastieren. So wird etwa der Wunsch, Daphnis möge sich weiter an der Liebe Galatheens erfreuen können (T. 14–15), in schnellen fortlaufenden Achteln umgesetzt, die nachfolgende sehnsüchtige Anrufung der Geliebten (T. 16–24) in gedehnten Noten und Seufzermotiven. Rist hat dieses innovative Arbeiten an und mit instrumentalen Tanzsatzmelodien selbst thematisiert. In der Vorrede „An den günstigen Leser“ zum Dritten Zehn der Himmlischen Lieder (1641/42) spricht er davon, wie ihm vor vielen Jahren […] ungefehr eine lustige Sarabande (welches eine sonderbahre Art ist der Frantzösischen Couranten/ wie solches die Musicverständigen ohn mein erinnern gar wol wissen/) zu Handen kam/ und ich einen Text auff selbige fröliche Melodey zu setzen/ ward gebeten/ befand sichs/ daß nach Verfertigung desselben/ ein recht Dactylisch Lied darauß war geworden/ unangesehen/ ich zu der Zeit noch keinen eintzigen Dactylischen Verß weder gesehen noch etwas davon gehöret hatte/ […].25
Man könnte sich dem reizvollen Gedanken hingeben, anzunehmen, dass in der Nr. 22 der Galathee, deren Melodie Johann Schop zugewiesen wird, dieses erwähnte daktylische Lied erhalten sei (auch wenn der Hinweis Rists, das Lied sei „vor vielen Jahren“ entstanden, vielleicht dagegen spricht). Hier nun ist es nicht die metrische Unregelmäßigkeit der Strophenformen, sondern gerade die vollkommene Regelmäßigkeit der rhythmischen Folgen jenseits üblicher Liedstrophenschemata, die auf ein instrumentales Modell hinweist. Die vierhebigen, klingend endenden Daktylen werden über alle vier Verse der Strophe hinweg beibehalten:
23 Druck A1, fol. 55’/56 (die elf Verse sind wie in der obigen Wiedergabe angeordnet). 24 Krabbe (Anm. 14) und Braun: Thöne (Anm. 15) erwähnen das Lied in diesem Zusammenhang allerdings nicht. 25 Johann Rist/Johann Schop: Himmlische Lieder (1641/42). Kritisch hg. und kommentiert von Johann Anselm Steiger. Kritische Edition des Notentextes von Konrad Küster. Mit einer Einführung von Inge Mager. Berlin 2012, S. 185. Vgl. Krabbe: Zur Frage der Parodien (Anm. 14), S. 61.
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Tausend mal frölicher lieblicher Stunden/ Da ich die Schönste Charitni gefunden/ Als’ ich der Schäfferinn Gunst hab’ erlanget/ Die gleich den Sternen anß Himmels-Saal pranget.26
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4D a’ 4D a’ 4D b’ 4D b’
Die Melodie (s. Notenbeispiel 5 auf S. 533)27 zeigt wieder die oben erwähnten Merkmale instrumentaler Idiomatik: den großen Tonumfang (hier eine Undezime, fis’–h”), unsangliche Sprünge (die Septen in T. 10/11 und 14/15), die Sequenzierungsverfahren, das zweiteilige Tanzsatzmodell. Ähnliches lässt sich bei zwei anderen Liedern beobachten, der Nr. 40 mit ihren acht dreihebigen, stets unbetont endenden Jamben und der Nr. 19 mit ihrem freien Wechsel von unterschiedlich langen, aber allemal stumpf endenden Versen – in all diesen Fällen wird ein rhythmisches Modell strikt oder weitestgehend strikt durchgehalten und die Ordnung der Verse daran angepasst. Ich schlage vor, auch hier von textlosen Instrumentalsätzen als Vorlagen auszugehen, die der Dichter, wie im obigen Zitat beschrieben, im performativen Umgang mit der Musik – spielend, singend – mit Texten versah.
3 Lassen Sie mich abschließend einen Blick auf die gesamte Ordnung des Liederdruckes werfen (dazu ebenfalls die Übersicht 1), die sich als ein komplexes In-, Mitund Gegeneinander verschiedener Strukturelemente beschreiben lässt. Neben der eingangs erwähnten performativ-medial bedingten Doppelhelix aus Liedern und (häufig thematisch den einzelnen Gesängen anverwandten) Epigrammen lässt sich an der Übersicht erkennen, wie die beiden musikalisch-metrischen Gestaltungsverfahren – die choralartig-schlichten regelmäßig-kantablen Sätze und die durch Textierung von Instrumentalsätzen generierten stark unregelmäßigen oder überregelmäßigen Sätze – in immer neuen Varianten ineinander geführt werden, so dass sich hier zwei weitere Stränge verschränken. Tatsächlich sind, wie der nachstehende Systematisierungsversuch zeigt, in den 40 Liedern 36 verschiedene Strophenformen realisiert, und die vier metrischen Dubletten haben – zumindest in den mir vorliegenden Auflagen – durchweg unterschiedliche Melodien erhalten, so dass auch hier ein hoher Differenzierungsgrad gewährleistet ist:
26 Druck A1, fol. 50. 27 Die zweite Note im Diskant in T. 8 ist eine Halbe.
524
Wolfgang Hirschmann
trochäisch-gleichhebig: 1, 3, 4, 9=1, 11, 13, 37=1. jambisch-gleichhebig: 6, 21, 40. trochäisch-ungleichhebig: 15, 26. jambisch-ungleichhebig: 2, 5, 7, 8, 10, 16=10, 23, 24, 29=7, 32–36, 38, 39. trochäisch-iambisch-gemischt: 14, 19, 30. daktylisch: 22. unregelmäßig-gemischt: 12, 17, 18, 20, 25, 27, 28, 31.
Ähnliches gilt für die durch die Titel (s. Übersicht 1, Spalte 2) prägnant greifbar werdende inhaltliche Differenzierung: Die Bedeutung dieser Paratexte kann kaum überschätzt werden, da sie jeweils andere und neue szenische, situative und personale Konstellationen konzis umreißen (man vgl. etwa Nr. 11, Nr. 17 oder Nr. 23). Hermann Kretzschmar ging so weit, hier von einer „Art Liederspiel“ mit einem „Knäuel von Liebesintriguen“28 zu sprechen; Werner Braun charakterisiert die Folge der Lieder und Epigramme als „durcheinander geratene Szenen eines Spiels oder Romans“.29 Beides ist sicherlich zu weit gegriffen, aber dennoch lassen sich etwa bei den Personen und den ihnen zugewiesenen Gesängen und Epigrammen Komplexe unterscheiden, die in die Sammlung Elemente der Zyklusbildung einbringen (s. Übersicht 1). In den Liedern 1 bis 6 wird zunächst ein Daphnis/Galathee-Komplex exponiert, der die zentralen Themen des Druckes anspricht: Klage wegen Abwesenheit (Nr. 1), Treue und Eifersucht (Nr. 2, 3), Lob der geliebten Person (Nr. 4), Freiheit und Zwang (Nr. 5 und 6); mit dem neuen Figurenpaar Myrtillo und Amaryllis wird ein zweites Gravitationszentrum wie zu Beginn mit einem Klagelied (Nr. 7) eingeführt, genauso in Nr. 8 Corydon und Silvia wiederum mit einem elegischen Gesang. Die Lieder der Paare werden in der Folge gleichsam ineinander geschlungen. Neue Partnerinnen treten hinzu, der isolierte daktylische Gesang Nr. 22 bleibt auch von der weiblichen Person her (Charitnis) für sich, genauso die Nr. 12 (Dorinde); einzelne Paare kehren aber auch öfters wieder, nicht nur Galathee und Daphnis, sondern auch Corydon und Phyllis (vgl. dazu auch die Übersicht 2 auf S. 543). Am Ende der Folge steht ein Lied (Nr. 40), dessen Titel ein Resümee oder Fazit aus der vorangehenden Folge der Lieder verspricht, was allerdings vom Text nur sehr bedingt eingelöst wird. Zu behaupten, die Folge der Lieder und Epigramme sei wie in einem streng geordneten Zyklus so disponiert, dass kein Element ausgetauscht werden könnte, ohne die Anlage des Ganzen zu zerstören, wäre übertrieben, und eine derartige Annahme wird auch durch die eingangs skizzierte Entstehungsgeschichte des
28 Hermann Kretzschmar: Geschichte des Neuen deutschen Liedes. I. Teil: Von Albert bis Zelter. Leipzig 1911 (Kleine Handbücher der Musikgeschichte nach Gattungen 4), S. 60. 29 Braun: Thöne (Anm. 15), S. 201.
Des Daphnis aus Cimbrien Galathee
525
Druckes in Frage gestellt; aber dennoch ergibt sich durch die genannten textlich-musikalischen Strukturierungsverfahren ein hoch differenziertes Netz, eine komplexe Helix aus verschiedenen Fäden, die sich zeitweise bündeln, aber auch wieder lösen, denen andere kürzere oder längere Fäden zur Seite gestellt werden, die auftreten, sich kreuzen, verschlingen, verschwinden und wieder auftauchen. Die relative Offenheit der Anordnung – situiert in einem schwer fassbaren Bereich zyklischer Anlage zwischen streng und zufällig – lässt sich mit Jan-Steffen Mohr als Text- und Musikarrangement deuten, das „auf einen Rezeptionsmodus ausgerichtet“ ist, „der sich von den überraschend, auch kontingent sich eröffnenden Möglichkeiten zu eigenem Suchen“ in den Liedern „anregen läßt.“30 Dieses komplexe, schillernde, stets aufs Neue überraschende Beziehungsgeflecht, das sich noch erhöhen würde, wenn man die wiederkehrenden Inhalte, Lexeme und Metaphern der Texte mit einbeziehen würde,31 konnten die Zeitgenossen in der Realisierung der Lieder als ungeahnten Reichtum erleben. In dieser vielgestaltigen Fülle, die einen Ermöglichungsspielraum stets neuer textlich-musikalischer Erkundungsgänge und Assoziationen konstituierte, liegt wohl auch der zeitgenössische Erfolg der Galathee begründet. Das Singen, der Vortrag, die performative Dimension, spielen dabei, wie vielleicht angedeutet werden konnte, eine entscheidende Rolle. Man muss die Lieder tatsächlich singen oder zumindest singend nachempfinden, wenn man als heutiger Betrachter den Erfolg dieser Sammlung nachvollziehen und verstehen möchte. Abbildungsnachweise Abb. 1 und 2: Universitäts- und Landesbibliothek Fulda.
30 Jan-Steffen Mohr: Epigramm und Aphorismus im Verbund. Kompositionen aus kleinen Textformen im 17. und 18. Jahrhundert (Daniel Czepko, Angelus Silesius, Friedrich Schlegel, Novalis). Frankfurt a. M. 2007 (Mikrokosmos 78), S. 125. 31 Dazu hilfreich Rudolf Mews: Johann Rists Gesellschaftslyrik und ihre Beziehung zur zeitgenössischen Poetik. Diss. Hamburg 1969, und vor allem Klaus Garber: Pétrarquisme pastoral et bourgeoisie protestante. La poésie pastorale de Johann Rist et Jakob Schwieger. In: Le genre pastoral en Europe du XVe au XVIIe siècle. Actes du colloque international tenu à Saint-Etienne du 28 septembre au 1er octobre 1978. Hg. von Claude Longeon. Publications de l’Université de Saint-Etienne 1980 (Centre d’Etudes de la Renaissance et de l’Age Classique), S. 269–297. Vgl. auch Klaus Garbers Beitrag zu Rists Arkadien in vorliegendem Band.
526
Wolfgang Hirschmann
Abb. 1: Johann Rist: Des Daphnis aus Cimbrien Galathee. Hamburg 1642 (Universitäts- und Landesbibliothek Fulda, Spr. u. Lit. Cb 827/10), Lied Nr. 12 „Dorinde du prächtigst’ auff Erden“, fol. D 8v–E 1r (32’–33).
Des Daphnis aus Cimbrien Galathee
527
Abb. 2: Rist: Galathee, Lied Nr. 5 „O wie so seelig muß doch seyn“, Strophe 4 und 5, und Sonett Nr. VI „Sehr wanckelbahres Hertz“, fol. C 2r–v (18’–19).
528
Wolfgang Hirschmann
Notenbeispiel 1: Rist: Galathee, Lied Nr. 1 „Daphnis gieng für wenig Tagen“.
Des Daphnis aus Cimbrien Galathee
Notenbeispiel 2: Rist: Galathee, Lied Nr. 27 „Einsmals an einem Morgen“.
529
530
Wolfgang Hirschmann
Notenbeispiel 3: Rist: Galathee, Lied Nr. 12 „Dorinde du prächtigst’ auff Erden“.
Des Daphnis aus Cimbrien Galathee
Notenbeispiel 4a: Rist: Galathee, Lied Nr. 25 „O Göttinne zahrt“ (T. 1–18).
531
532
Wolfgang Hirschmann
Notenbeispiel 4b: Rist: Galathee, Lied Nr. 25 „O Göttinne zahrt“ (T. 19–30).
Des Daphnis aus Cimbrien Galathee
Notenbeispiel 5: Rist: Galathee, Lied Nr. 22 „Tausend mal frölicher lieblicher Stunden“.
533
534
Wolfgang Hirschmann
Übersicht 1 Johann Rist: Des Daphnis aus Cimbrien Galathee. Hamburg 1642 (Exemplare: Universitäts- und Landesbibliothek Fulda, Spr. u. Lit. Cb 827/10 = Sønderholm A1; Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, 8° Poet. Germ. II 7268 = Sønderholm A9) Der Druck enthält nur eine Bogenzählung; die nachfolgende Blattzählung ist zur besseren Orientierung ergänzt worden. Die Strophenanalysen in der vierten Spalte bedienen sich folgender Abkürzungen: –– T = Trochäus –– J = Jambus –– D = Daktylus –– D/J etc. = Vers mit unterschiedlich ausgefüllten Senkungen –– 4T, 6J etc. = vierhebiger Trochäus, sechshebiger Jambus (Alexandriner) etc. –– a etc. = betont (stumpf) endender Vers und Reim etc. –– a’ etc. = unbetont (klingend) endender Vers und Reim etc. –– D etc. = Refrainzeile In Spalte 5 werden die Kleinterztonarten (modern ‚Moll‘) mit kleinen Buchstaben, die Großterztonarten (‚Dur‘) mit großen Buchstaben angezeigt. G2 steht für den Violinschlüssel, C1 für den Sopranschlüssel. Die gerade Mensur (4/4-Takt) wird im Druck durchweg mit einem durchgestrichenen Halbkreis angezeigt. Zu den Anmerkungen in der letzten Spalte vgl. den Text des Beitrags.
1-tlg. 8x 6J: a’ a’ b b c’ c’ d d
6 Str. 10x 4T: a’ b a’ b c’ d c’ d E E
Vorrede an die guthertzigen Leser. [Theobaldt Grummer]
1. Daphnis bekümmerte Liebes-Gedancken. Als er bey seiner Galatheen nicht seyn konnte.
I. Von seiner Galatheen. Als er sie in einem sehr schönen Walde bey einem lustigen Bächlein gar zu schleunig muste verlassen.
2. Daphnis Antwort An die wolgeborne Schäffe- 10 Str. 2x 5J + 4x 3J: a’ a’ b’ c b’ c rinn Asterien/ warumb er ihr nicht könne zu Willen werden.
1-tlg. 4x 6J: a’ a’ b b
[Widmung Daphnis an Galathee]
II. Ich biege mich woll/ aber ich breche nicht.
III. Er liebet nur eine. An seine Galatheen.
3. Der Mißgönstiger Daphnis preiset seine Galatheen.
IV. Es brennet zugleich und bebet.
4. Galatheen Lob-Gesang Von ihrem liebsten Schäffer Daphnis.
2
2’–9
9’–11
11
11’–13
13
13
13’–15
15
15’–17
9 Str. 8x 4T: a ’ b a’ b c c d’ d’
1-tlg. 4x 6J: a’ a’ b b
1-tlg. 4x 6J: a’ a’ b b
8 Str. 8x 4T: a ’ b a’ b c’ c’ D D
[Titelkupfer]
Form Strophe
1
Titel
d, 4/4, C1
g, 4/4, G2
d, 3/2, C1
g, 4/4, G2
Melodie: niederländisches Lied
Tonart, Takt, Anmerkung Schlüssel
Des Daphnis aus Cimbrien Galathee 535
7 Str. 8x J: 4a 3b’ 4a 3b’ 2c 2c 3d’ 3d’ 7. Myrtillo Klage-Lied An seine Allerliebste Amaryllis/ Als sie eine lange Zeit an frembde örter war verreiset.
IX. Im Leiden gläntzet meine Trew.
21’–23
23
8 Str. 2x 5J + 4x 3J: a’ a’ b’ c b’ c 1-tlg. 4x 6J: a’ a’ b b
23’–24’ 8. Des verliebten Corydons Klage-Lied An seine Sylvien.
X. Nichtes bin ich sonder dich. An die Sylvien/ seine Sonne.
9. Klag Lied des Hirten Daphnis/ Als er gezwun- 13 Str. 8x 4T: a’ b a’ b c’ c’ D D gen ward/ die Flavien zu lieben. An die sämptliche Schäfferinnen.
25
25’–28
1-tlg. 4x 6J: a’ a’ b b
1-tlg. 4x 6J: a’ a’ b b
VIII. An seine unbarmhertzige Galathe.
21
1-tlg. 12x 6J: a’ a’ b b c’ c’ d d etc.
VII. Die prächtige Schönheit seiner Galatheen kan auch allem was lebet eine Furcht und Schrecken einjagen.
7 Str. 6x 4J: a a b’ c c b’
1-tlg. 14x 6J: a’ b b a’ a’ b b a’ c c d’ e e d’
20’–21
19’–20’ 6. Daphnis der Lerchen-Fanger.
VI. An seine unbeständige Schäfferin SONNET.
5 Str. 4x 4J+3J: a b’ a b’ c d’ c d’
17’–18’ 5. Der verliebter Daphnis wünschet einmahl frey zu seyn.
18’–19
1-tlg. 20x 6J: a’ a’ b b c’ c’ d d etc.
Form Strophe
V. Sie rühmet ihre Beständigkeit.
17
Titel
c, 4/4, C1
g, 4/4, G2
a, 4/4, G2
a, 3/4, C1
a, 4/4, G2
Melodie: Samuel Mareschall (Ballet joly)
Text nach Joan Bonnefons, „Qualiter exoriens“
Tonart, Takt, Anmerkung Schlüssel
536 Wolfgang Hirschmann
4 Str. 10: 3Da’ 3Da’ 4Tb 2JC 2JC 2Jd 2Jd 2Je 2Je 4D/ Jb 10 Str. 7x 4T: a’ b a’ b c’ c’ b
7 Str. 7: 4Ja 5J/Da 3T/Db’ 4Jb’ 4Tc’ 4Tc’ 7Tc’
13. Frühlings-Gedicht. Daphnis wünschet/Daß seine Galathee möchte eine Blume werden.
14. An die Thränen seiner allerliebsten Galatheen/Aus dem hochgelahrten Französischen Poeten Johann: Bonefon:
15. Er verpflichtet sich ümb seiner liebsten 6 Str. 5x 4T + 2x 2T + 4T: a’ b a’ b Myncien willen/ die allerschwereste Noth der c’ d d c’ Welt zu erleiden. Aus eines hochgelehrten Niederländischen Poeten Amoribus.
4 Str. 7x J: 4a 3b 4a 3b 3c’ 3c’ 3b
12. Er eilet seiner Schäfferinnen Dorinde nach ohn unterlaß.
XI. Sie drücket und erhebet Ihn. An Myncien
16. An die Augen seiner Liebsten.
17. Myrtillo Klag-Lied/ Als seine liebste Amaryllis ihre Schäfflein in die ferne auff frembde Wiesen hatte getrieben.
32’–33
33’–35
35’–36
36’–38
38
38’–39
39’–41
1-tlg. 4x 6J: a’ a’ b b
5 Str. 4x 4J + 2x 4T: a b’ a b’ c c
11. Grab Lied/ Welches der Hirte Daphnis sang/ 8 Str. 8x 4T: a’ b b a’ c c d’ d’ als ihm die klägliche Zeitung zu Ohren kam/ daß seine edelste Schäfferinn Galathee were gestorben.
30’–32
9 Str. 7x J: 4a 3b 4a 3b 3c’ 3c’ 3b
10. Der edlen Phyllis Liebes-Gedancken/ Als ihr Schäffer Corydon war von ihr geschieden.
28’–30
g, 3/2, G2
d, 3/2, G2
G, 4/4, C1
a, 4/4, C1
g, 4/4, C1
F, 6/4, G2
e, 4/4, C1
a, 3/4, G2
textierter Instrumentalsatz
A1/A9: Johann Schop
Text nach Joan Bonnefons, At mi dicite/A. Durant, Mais dites moi; A1: Johann Schop.
A1: Johann Schop
textierter Instrumentalsatz
Des Daphnis aus Cimbrien Galathee 537
9 Str. 6: 6Ja 6Ja 6Jb 2Tc 2Jc 3Jb
19. Coridons Klag-Lied/ Als er durch frembden Neid gezwungen ward/ die Edle Delien zu verlassen.
XIII. Es ist nicht ihre/ sondern des Gluckes Schuld. An seine ehemals sehr Liebe Delien.
43’–45
45
1-tlg. 4x 6J: a’ a’ b b
49’–50’ 22. Daphnis Dactylisches Lied/ In welchen er die 8 Str. 4x 4D: a’ a’ b’ b’ Stunde glückselig preiset/ als er die gunst seiner aller liebsten Charitnis hat erlanget
XV. Von dir mein Liecht. An Galatheen.
49
1-tlg. 8x 6J: a’ a’ b b c’ c’ d d 6 Str. 7x 3J: a’ b a’ b c’ c’ b
XIV. Wenn sie erst brennete. An seine übertreffliche Galatheen.
47’–48’ 21. Daphnis Lob-Gedicht/ Auff eine Tugendreiche Schäfferin.
46’–47
45’– 46’ 20. Corydons Klag-Lied An die schöne Phillis/Als 4 Str. 9: 4Ja 4Ja 2Db’ 2Db’ ihre unglaubliche Härtigkeit ihm gahr keine 3Ja 3Jc 3Jd 4Jd 2JC gegen-Liebe wolte erweisen.
1-tlg. 4x 6J: a’ a’ b b
7 Str. 9: 4D/Ja 3Jb 4D/Ja 3Jb 2Jc 2Jc 2Jd 2Jd 3D/Jb
18. Corydons getrewste Liebes-Verpflichtung An seine allerliebste Phyllis Als er gantz wieder seinen Willen von Ihr ward abgeschieden.
41’–43
1-tlg. 4x 6J: a’ a’ b b
XII. Sie nimt und gibt das leben. Corydon an seine Phyllis.
Form Strophe
41
Titel
A, 3, G2
g, 4/4 – 3 – 4/4, G2
g, 3/2, G2
g, 4/4, G2
textierter Instrumentalsatz? A1: Johann Schop
textierter Instrumentalsatz, nach Nicolaus Bleyer
textierter Instrumentalsatz?
G, 3/4 – 4/4 – textierter Instrumentalsatz, 3/4, G2 nach Nicolaus Bleyer
Tonart, Takt, Anmerkung Schlüssel
538 Wolfgang Hirschmann
6 Str. 7x T: 4a 3b’ 4a 3b’ 4c 4c 3b’ 1-tlg. 4x 6J: a’ a’ b b
XX. Je länger/ je lieber.
27. Wunderbahrer Liebes-Wechsel Zwischen den 11 Str. 8: 7Ja 3Tb 3Tb 3Ja beiden Schäfferen Corydon und Myrtillo mit 3Jc’ 3Jc’ 4Jd 5J/Dd Phyllis und Delia/
59
59’–61
XIX. An die edle vnd holdselige Schäfferin Sylvien 1-tlg. 16x 6J: a’ a’ b b c’ c’ d d etc. Seiner liebsten Galatheen allergetreüeste Freündinn
4 Str. 11: 3Ta 3Ta 3Tb 4Tb 4Tc 4Tc 2Jx 4Td’ 4Td’ 4JE 4TE
57’–58’ 26. Er preiset die treffliche Vollenkommenheit seiner Amaryllis.
57
55’–56’ 25. Daphnis wünschet von Hertzen seine Allerliebste Galatheen zu sehen.
XVIII. Grabschrifft des Hirten Daphnis.
1-tlg. 12x 6J: a’ a’ b b c’ c’ d d etc.
1 tlg. 2x 6J: a’ a’
54’–55
XVII. Das Alte Lied.
53
7 Str. 7x J: 4a’ 3b 4a’ 3b 3c’ 3c’ 3b
5 Str. 8x J: 3a 2b’ 3a 2b’ 5c’ 3d 3d 2c’
23. Daphnis Nacht-Klage an seine Allerliebste/ Als er ihrer angenehmen Gesellschafft so gahr lange Zeit beraubet vnd deswegen von gantzen Hertzen bekümmert war.
51’–53
1-tlg. 8x 6J: a’ a’ b b c’ c’ d d
53’–54’ 24. Des Höchst: betrübten Daphnis Hertz-trauriges Klage-Lied/ Als’ er endlich gezwungen ward/ seine allerliebste gantz und gahr zu verlassen.
XVI. Ich bin zwar Gefangen/ Lebe aber in Sicherheit. An seine Galatheen.
50’–51
Melodie „La sorte mi pigljar“
g, 4/4, G2
C, 4/4, C1
textierter Instrumentalsatz, nach Nicolaus Bleyer
g, 3/2 – 4/4 – textierter Instrumentalsatz 3/2, G2
g, 4/4, G2
g, 4/4, G2
Des Daphnis aus Cimbrien Galathee 539
1-tlg. 2x 6J: a’ a’
XXI. Meine getreüe Dienste verzehren mich.
XXII. An eine Edle Schäfferinn Warumb er sie auff 1-tlg. 24x 6J: a’ a’ b b c c d’ d’ etc. ihren Nahmens-Tag unter eines frembden Nahmen mit einem Liedelein ohne Band angebunden.
29. Des Hirten Corydon Lob-Gesang von der Himlischen Schönheit seiner Phyllis.
30. Daphnis Klage-Lied an seine allerliebsten Galatheen/ Als er sich in seiner Einsamkeit mit überaus traurigen Gedancken plagte.
31. Corydons Klage-Lied An seine edle Sylvien die Hefftigkeit seiner Liebe betreffend.
XXIII. Es sind nur Worte. An Galatheen.
32. Abscheid-Lied des Hirten Myrtillo Als er von seiner Sylvien hinweg zog.
33. Daphnis Lobgedicht Auff eine Hoch-Adeliche 10 Str. 8x J: 4a 3b’ 4a 3b’ 4c 4c 3d’ 3d’ und mit sehr herrlichen Gaben deß Gemüthes/ Leibes und Glückes trefflich beseeligte Schäfferinn.
62’
62’–63
63’–65
65’–67
67’–69
69
69’–71
71’–73
8 Str. 6x J: 6a 6a 3b’ 3c 3b’ 3c
1-tlg. 8x 6J: a’ a’ b b c’ c’ d d
7 Str. 8: 4J/Da’ 3Jb 4J/Da’ 3Jb 4Dx 2Dc’ 2Dc’ 3Tb
7 Str. 8: 5Ja’ 4Jb 5Ja’ 4Jb 4Tc’ 4Td 4Tc’ 4TD
8 Str. 8x J: 4a 3b’ 4a 3b’ 2c 2c 3d’ 3d’
5 Str. 7: 4Ja 4Jb 4Ja 4J/Db 2Dc’ 2Dc’ 4J/Db
Form Strophe
61’–62’ 28. Lucidors trauriger Abscheid von seiner Liebsten Melitee.
Titel
g, 4/4, G2
G, 4/4, C1
g, 3/4, C1
g, 3/2, C1
g, 3, C1
g, 3/2, G2
textierter Instrumentalsatz
textierter Instrumentalsatz, nach Nicolaus Bleyer
Tonart, Takt, Anmerkung Schlüssel
540 Wolfgang Hirschmann
1-tlg. 8x 6J: a’ a’ b b c’ c’ d d
XXIV. An seine edele und vollenkommene Galatheen: Warumb er so schwartz sey.
35. An seine allerliebste Galatheen/ Als sie sich eine geraume Zeit am frembden ohrte auffhielt.
XXV. An seine außerwehlte Galathe. Sie gläntzet und machet auch andere gläntzen.
75
75’–77
77
XXVIII. Deine Schönheit ein starcker Sturmwind. An die mehr als menschliche Galatheen.
38. Der Eifer-süchtiger Daphnis/ An seine den Corydon liebhabende Galatheen.
XXIX. An seine doppel-hertzige Galatheen.
82
82’–84
84
d, 4/4, C1
G, 3, G2
g, 4/4, G2
g, 4/4, G2
C, 3, G2
Des Daphnis aus Cimbrien Galathee
1-tlg. 4x 4J: a a b b
8 Str. 8x J: 4a 3b’ 4a 3b’ 4c’ 4c’ 4D 4D
1-tlg. 4x 6J: a’ a’ b b
1-tlg. 8x 6J: a’ b a’ b c’ d c’ d
XXVII. Daphnis liebet seine Gefängnüß von Hertzen. An seine allerliebste Galatheen.
82
1-tlg. 4x 6J: a’ a’ b b 12 Str. 8x 4T: a’ b a’ b c’ c’ d d
XXVI. Sie erwecket mich vom Tode.
79’–81’ 37. Daphnis singet von der Vollenkommenheit und übertrefflichen Schönheit einer hoch-Edlen und mit den aller herlichsten Eigenschafften hoch-begabten Schäfferinn.
79
77’–78’ 36. Der hoch-betrübter und schier gahr verlasse- 6 Str. 8x J: 4a 3b’ 4a 3b’ 4a 3b’ 4a ner Daphnis. 3b’
1-tlg. 4x 6J: a’ a’ b b
10 Str. 6x J: 4a 3b’ 4a 3b’ 4c 4c
6 Str. 5x 4J + 2J: a b a b c c c
73’–74’ 34. An sein hoch bekümmertes Hertz. Als die allerschönste Galathee von ihme hinweg zog.
541
XXXI. Hüte dich Fischlein/ es ist ein Angel unter der Speise verborgen. An seine Galatheen.
XXXII. Nur ein kalter Kuß. An die viel- verheissende Galatheen.
Nachrede an den großgünstigen Leser. [A. von S.]
88’
88’
89–91
91’–92’ [Errata]
40. Des wol-geplagten Daphnis Theur-erworbne 8 Str. 8x 3J: a a b b c d c d Liebes-Früchte für die Augen gestellet Allen Ehrliebenden/ Auffrichtigen vnd beständigen Liebhaberen.
86’–88
1-tlg. 4x 6J: a’ a’ b b
1-tlg. 8x 6J: a’ a’ b b c’ c’ d d
1-tlg. 4x 6J: a’ a’ b b
XXX. Allzeit Feür. An die überschöne Sylvien.
86
8 Str. 8x J: 4a 3b 4a 3b 3c’ 3d 3c’ 3d
39. Corydon erfrewet sich von Hertzen seiner liebsten Schäfferin Amaryllis/ und wünschet mit ihr sein gantzes Leben zuzubringen.
Form Strophe
84’–86
Titel
G, 4/4, C1
F, 3, G2
textierter Instrumentalsatz?
Tonart, Takt, Anmerkung Schlüssel
542 Wolfgang Hirschmann
ohne Namen
Lucidor
14, 34
26
39
38
Corydon
2
Amaryllis
7, 17
1, 3, 4, 6, 11, 13, 25, 30, 35, 36, 38, 40
Asteria
Myrtillo
Daphnis
Galathee
8, 31
32
Sylvia 9
Flavia
Übersicht 2: Lieder und Personal
10, 18, 20, 27, 29
27
Phyllis
12
Dorinde
15
Myncia
19, 27
27
Delia 22
Charitnis
28
Melitee
16
5, 21, 23, 24, 33, 37
ohne Namen
Des Daphnis aus Cimbrien Galathee 543
Rists (publizistische) Netzwerke
Ferdinand van Ingen
Die Beziehungen zwischen Johann Rist und Philipp von Zesen Eine in Feindschaft verkehrte Freundschaft Zu diesem Thema könnte man die naheliegende Frage stellen, was daran Besonderes für Literatur- und Kulturgeschichte wäre. In Wahrheit handelt es sich um ein vielschichtiges Phänomen, das nicht lediglich biographisches, sondern mehr noch literaturhistorisches Interesse beansprucht. Die Herausgeber der Sämtlichen Werke beider Autoren haben seit einiger Zeit hochinteressantes Material zutage gefördert. Aber dennoch handelt es sich wie oft in lebensweltlichen Dingen so auch hier um viele Unwägbarkeiten und Unsicherheiten, wo auch heute noch Hypothesen ausreichen müssen. Das sei hier vorausgeschickt. Rist war der ältere (geb. 1607), außerdem stammte er aus der Gegend, während Zesen (geb. 1618 in Sachsen) erst Anfang der vierziger Jahre nach Hamburg kam. Da war Rist bereits ein gemachter Mann. Er hatte als Dichter publiziert, bevor er 1635 als Pastor nach Wedel berufen wurde. Er schrieb Dramen, aber auch Lyrik, mit der er sich einen Namen machte und womit er für Zesen interessant war. Rist hatte 1634 die Musa Teutonica veröffentlicht, 1642 erschien die erfolgreiche Liedersammlung in schäferlicher Maske: Daphnis aus Cimbrien Galathee, 1650 fortgesetzt mit Des Edlen Dafnis aus Cimbrien besungene Florabella. Die so beliebten Himmlischen Lieder (1641/42) erlebten gerade ihren kritischen Neudruck.1 Rist wusste die besten und bekanntesten Hamburger Komponisten zu verpflichten, was ein zusätzlicher Anreiz für die zur Hausmusik gedachten weltlichen und geistlichen Lieder gewesen sein mag.2 Er hatte im breiteren Kreis Ansehen erworben, wurde 1645 in den Nürnberger Blumenorden aufgenommen, geadelt und zum Dichter gekrönt und wurde sogar zum Mitglied des erlauchten ‚Sprachvereins‘ „Die Fruchtbringende Gesellschaft“ gewählt, dessen Leitung Fürst Ludwig
1 Johann Rist, Johann Schop: Himmlische Lieder (1641/42). Kritisch hg. und kommentiert von Johann Anselm Steiger. Kritische Edition des Notentextes von Konrad Küster. Mit einer Einführung von Inge Mager. Berlin 2012. 2 Lieselotte Krüger: Die Hamburgische Musikorganisation im XVII. Jahrhundert. Straßburg 1933, Reprint Baden-Baden 1981: Hermann Kretzschmar: Geschichte des neuen deutschen Liedes. Leipzig 1911, Reprint Hildesheim 1966; Werner Braun: Thöne und Melodeyen, Arien und Canzonetten. Zur Musik des deutschen Barockliedes. Tübingen 2004 (Frühe Neuzeit 100). Speziell für das Verhältnis Wort-Ton Richard Hinton Thomas: Poetry and Song in the German Baroque. A Study of the Continuo Lied. Oxford 1963.
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Ferdinand van Ingen
von Anhalt-Köthen innehatte. Er konnte sich als wichtig genug erachten, um sich mit ähnlich orientierten Dichterfreunden zu umgeben und stiftete 1658 den „Elbschwanenorden“. Er befolgte genau die poetologischen Vorschriften des Martin Opitz, der unumstrittenen Autorität, ja nach Eberhard Mannack (in Killys Literatur Lexikon) „verstand er sich als Opitz’ Statthalter im Norden.“3 Es war also nicht verwunderlich, dass Rist und Zesen sich anfreundeten. Aber was beide Männer verband, war weniger die wohnliche als die geistige Nähe. Beide waren im Zeichen der national-patriotischen ‚Spracharbeit‘4 dichterisch ambitioniert und wollten der Literatur neue Wege weisen, insbesondere der Lieddichtung, die in Hamburg ausgesprochen populär war. Auch Zesen veröffentlichte dort 1642 seine Sammlung von „Lob-, Lust- und Liebesliedern“: Frühlingslust. Sie erreichte bald allgemeine Beliebtheit, wozu auch der Abdruck der Musiknoten beigetragen haben mag. Für den persönlichen Kontakt zwischen Zesen und Rist ließ sich alles gut an; Rist konnte glauben, in Zesen einen Mitstreiter gefunden zu haben. Die Erwartungen und Hoffnungen standen wohl beiderseits unter einem guten Stern. Zesens Liederbücher sind nicht nur faktisch mit den musikalischen Entwicklungen jener Zeit in Hamburg aufs engste verbunden gewesen, sondern haben diese zugleich mitgetragen, indem sie das Ohr für den richtigen musikalischen Akzent in Übereinstimmung mit dem Wortakzent schärften. Umgekehrt verpflichtet Zesen den Dichter auf die Bedürfnisse der Musik, er unterbaut seine Prosodie mit dem Hinweis auf die Erfordernisse der musikalischen Praxis. Damit werden Opitz’ Neuerungen, die bekanntlich auf die Gleichheit von Wort- und Versakzent abzielten, auf die musikalische Ausführung erweitert. Zesen hakt die Poesie gleichsam an der Schwesterkunst fest und verschränkt folgerichtig die Poetik mit der Musik. Eine so enge Beziehung zwischen Musik und Verskunst, die sich in der poetischen Theorie niederschlägt, war damals wohl neu. Zesens Poetik, der Deutsche Helicon, war die erste poetologische Schrift nach Opitz’ bekanntem kleinen Buch von der Deutschen Poeterey (1624) und sollte dazu nicht bloß eine Ergänzung bieten, sondern es ersetzen. Zesens Buch erschien 1640 in Wittenberg, sein Verfasser war gerade zwanzig Jahre alt. Es
3 Vgl. Günter Dammann: Johann Rist als Statthalter des Opitzianismus in Holstein. Aspekte seiner literaturpolitischen Strategie anhand der Widmungsbriefe und Vorreden. In: Alexander Ritter (Hg.): Literaten in der Provinz – Provinzielle Literatur? Schriftsteller einer norddeutschen Region. Heide 1991 (Steinburger Studien 6), S. 47–66. 4 Markus Hundt: „Spracharbeit“ im 17. Jahrhundert. Berlin, New York 2000 (Studia linguistica Germanica 57); Ferdinand van Ingen: Sprachpatriotismus im Europa des Dreißigjährigen Krieges. In: Klaus Garber, Jutta Held (Hg.): Erfahrung und Deutung von Krieg und Frieden. Religion – Geschlechter – Natur und Kultur. München 2001, S. 943–956.
Die Beziehungen zwischen Rist und Philipp von Zesen
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war ein großer Erfolg; 1641 wurde eine erweiterte Neuausgabe nötig, eine nochmals erweiterte Auflage wurde 1649 herausgebracht, eine letzte erschien dann 1656 mit dem Zusatz „Grund-richtige Anleitung zur Hoch-deutschen Dicht- und Reim-Kunst“ (Jena 1656). Als vierter Teil wurde die Scala Heliconis (Helikonische Leiter) angehängt.5 Das Besondere war in der Hauptsache Zesens Eintreten für die von seinem Wittenberger Lehrer Augustus Buchner befürwortete metrische Form des Daktylus, die mit der Folge lang–kurz–kurz Beweglichkeit in den Vers brachte. Opitz hatte an jambischen und trochäischen Metren festgehalten, die Erweiterung sah Zesen mit im Zeichen der national-patriotischen Bemühungen um eine fortschrittlichere Dichtkunst. So war mit seiner Poetik ein stattliches Werk zustande gekommen, das auf sechs Treppen zum Gipfel des Helikon hinaufführen sollte: „Die Leiter ist gesetzt/ auff welcher Dir zu gehen/ der Tichter mittel zeigt zum schönen Helikon“. Damit meinte er den patriotischen Tendenzen der Zeit entgegenzukommen: „wie ich meinem Vaterlande zu ehren die Deutsche Poesie wieder erneuern und weiter fortpflantzen möchte.“6 Zesen hat in entscheidendem Maße zur Verbreitung des daktylischen Versmaßes (der sog. „Buchner art“) beigetragen. Ihm folgten Titz (1642), Schottelius (1645), Harsdörffer (1647), so dass die alleinige Herrschaft von Opitz’ jambisch-trochäischen Versarten schon in den frühen vierziger Jahren überwunden war. Auch Rist hat in seiner Rettung der Edlen Teütschen Hauptsprache (Hamburg 1642) zwar auf Opitz, aber zugleich lobend auf Zesen verwiesen: Die Anfänger sollten sich „nach unsers seligen Herren Opitzens Prosody vnd denen Gesetzen/ welche der hochgelahrte Philippus Caesius in seinem sehr nützlichem Buche der teutsche Helicon genennet/ […] zum nothwendigen Vnterricht hat fürgeschrieben,“7 richten. Den Herrschaftsbereich dieser „hüpfenden“ Verse, der „rollenden Palmenund Dattelreime,“ suchte Zesen möglichst weit auszudehnen, mit Hinweis auf das Kirchenlied: Er wollte nicht als Neutöner verschrien sein. Auch sein Eintreten für „vermischte“ (gemischte) Verse, „in welchen bald Jambische/ bald Trochäische/ bald Dactylische pedes mit untergemischet werden“,8 geht auf Anregun-
5 Sie erschienen vollständig in der historisch-kritischen Gesamtausgabe der Sämtlichen Werke Zesens als Bd. 9/10. 6 Philipp von Zesen: Sämtliche Werke. Unter Mitwirkung von Ulrich Maché und Volker Meid hg. von Ferdinand van Ingen. Bd. 9: Deutscher Helicon (1641). Berlin u. a. 1971 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 25), S. 6. 7 Johann Rist: Sämtliche Werke. Unter Mitwirkung von Helga Mannack und Klaus Reichelt hg. von Eberhard Mannack. Bd. 7: Prosaabhandlungen (Philosophischer Phoenix. Rettung des Phoenix. Teutsche Hauptsprache. Adelicher Hausvatter). Berlin u. a. 1982 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 99), S. 78. 8 Zesen: Helicon 1641 (Anm. 7), S. 34ff., Zitat S. 40.
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Ferdinand van Ingen
gen Buchners zurück. Titz, Schottelius und Harsdörffer betrachteten sie als eine willkommene Erweiterung bzw. Erneuerung, und Zesen gibt ihnen viel Raum.9 Man muss zugeben, dass Zesen zwar nicht der Erfinder dieser Versform gewesen ist, aber sie weiterentwickelt und einem breiteren Publikum zugänglich und vor allem ‚schmackhaft‘ gemacht hat. Es ist weiterhin auffällig, dass er das Metrum mehr als seine Vorgänger und Zeitgenossen zum Inhalt des Gedichts in Beziehung setzt. Damit misst er dem Rhythmus gleichsam einen bestimmten, eigenen Ausdruckswert bei. Damit eng verbunden ist die bemerkenswerte ästhetische Würdigung des Reims, der bis dahin fast nur äußerliches Kennzeichen, nicht jedoch bewusst gehandhabtes Stilmittel der poetischen Sprache gewesen war. Zesen hebt die Bedeutung des Reims hervor, besonders die Möglichkeit, durch ihn Inhalt und Form auf kunstvolle Weise zu verknüpfen, was speziell in den Helicon-Ausgaben von 1649 und 1656 hervortritt. Zesen war außerdem ein eifriger Verfechter des daktylischen Binnenreims. In der ersten Helicon-Ausgabe erwähnt er ihn nur beiläufig („klingt es lieblich/ wenn sich die wort im Verse reimen“), erst in der dritten Auflage behandelt er ihn eingehend, nachdem er vorher schon in der Liedsammlung FrühlingsLust von 1642 die Möglichkeiten dieses Stilmittels eindrucksvoll demonstriert hatte.10 Vor diesem Hintergrund lässt sich verstehen, dass Zesen die Zeitgenossen zum kritischen Mit- und Nachdenken aufgefordert und sich selber (angeblich) mit der bescheidenen Rolle eines Anregers begnügt hat: „Auf/ ihr redliche Deutschen/ und seid doch nicht so faul im nachsinnen; sinnet/ grüblet/ forschet mit vernunft/ daß das gehirne brauset […]. Das lob ist euer und nicht mein/ wan ihr es erjaget; mehr begehr’ ich nicht darvon/ als daß ich euer anreizer und ermahner gewäsen bin.“11 Zesen hat sich deutlich bemüht, durch ein neuartiges Verfahren den Geschmack zu entwickeln; es lässt die pädagogischen Tendenzen klar hervortreten. „Der Leser wird hier nicht mehr mit nachahmungswürdigen Mustern vertraut gemacht, sondern dazu angehalten, am negativen Beispiel sein
9 Zesen: Sämtliche Werke (Anm. 6), Bd. 10: Hoch-deutscher Helikon (1656). 2 Teile. Berlin u. a. 1977 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 71 f.), hier Scala Heliconis, S. 66ff. 10 Zesen: Sämtliche Werke (Anm. 6), Bd. 1: Lyrik. 2 Teile. Berlin u. a. 1980–1993 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 90, 142), FrühlingsLust (1942), Sechstes Dutzend, Lied Nr. 3. 11 Etlicher der hoch-löblichen Deutsch-gesinneten Genossenschaft Mitglieder […] Sendeschreiben […] zusammen geläsen/ und mit einem Blat-weiser gezieret durch Johan Bellinen […]. Hamburg 1647, 5. Brief.
Die Beziehungen zwischen Rist und Philipp von Zesen
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kritisches Vermögen zu entwickeln oder zu schärfen.“12 Das ist wie eine Vorwegnahme von Gottscheds Critischer Dichtkunst (1730). Zesens Lyrik ist stark dynamisch, ist auf Klang und Rhythmus ausgerichtet. Sie weist ein festes Gefüge des metrisch-rhythmischen Rahmens auf, das die Bändigung der Affekterregung gewährleistet. Die Bildsprache ist auch dort, wo sie nicht unmittelbar vom Prätext vorgebildet ist, verhalten, was sich besonders in der religiösen Lyrik zeigt. Der Dichter steht dann oft zwischen Theologie und Dichtung. Das Gottvertrauen wird nirgends in Zweifel gezogen, im Gegenteil wird Gott seine Treue und zugesprochene Rettung entgegengehalten. Das zerknirschte Gemüt erfährt sich im Umschlag als triumphierende und Gott lobende Seele. Die hyperbelhafte Ausdruckshaltung ist infolge der weit gedehnten Amplifikationen nicht selten dominant, aber verliert sich gewöhnlich nicht in gesuchten Bildkomplexen. Die ‚hüpfenden‘ Verse, die weitgehend von der üblichen metrischen Richtung wegführen, haben ihren Fixpunkt in der Musik. Produktion und Rezeption sind nach Zesens Meinung gleichermaßen vom Takt der Musik abhängig, wenn Verse wie „Schikke mir blikke der gunst/ die mich entzükken“ (in „rollenden und hüpfenden tritten“) ihre Vollkommenheit erreichen sollen: „Diese und dergleichen Lieder werden mit anmuht und lust weder gemacht noch gelesen/ wo man die gesang-weise/ die ihnen die anmuhtigkeit ehrst geben mus/ nicht darbei hat/ und sie zugleich/ auch selbst im auf-setzen und verfassen/ mit-singet.“13 Die Beliebtheit von Zesens Liedern mit ihrem pulsierenden Rhythmus und klanglichen Reichtum ist wesentlich durch die Beteiligung am Hamburger Lied bestimmt. In Hamburg florierte das Gesellschaftslied, das auf die Kunstübung des Bürgertums großen Einfluss hatte. Hier ist das monodische Lied führend, Klarheit in der Struktur gibt ihm das Gepräge, die monodische Textbehandlung setzt Wort gegen Ton. Die Einfachheit und klare Struktur seiner Verskunst muss Zesen anfangs auch bei Rist angenehm vermerkt haben. Deshalb lobt er den Kollegen und Freund in der Scala Heliconis Teutonici von 1643 im kunstvollen Latein und mit überschwänglichen Worten, mit denen er ihm sein Werk widmet: Johannes Rist, dem Theologen, Astronomen und Philologen, ihm, der geboren ist, um die deutsche Dichtkunst auf Ewigkeit auszubilden, zu hegen und zu bewahren, ihm, an dem sich die Musen und besonders die
12 Ulrich Maché: Zesen als Poetiker. In: Deutsche Vierteljahrschrift für Literatur- und Geistesgeschichte 41 (1967), S. 391–423, hier S. 417. 13 Zesen: Hoch-deutscher Helikon (1656) (Anm. 9), Teil 2, S. 588.
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göttliche Urania erfreuen, der Zierde Holsteins, seinem engsten und besten Freund, möge diese helikonische Leiter geweiht sein. Das wünscht und gebietet Philipp von Zesen.14
Zesens Poetik erntete, wie gesagt, viel Lob. Sogar sein Lehrer August Buchner steuerte zur Ausgabe von 1641 einige Epigramme bei.15 Ein anderer lobt ihn als zweiten Opitz – Wohl an! verfügt Euch her/ ihr wälder/ eylt geschwind Dem andern Opitz nach […]. Wie nun Herr Caesius Opitzens werck vermehret Durch seinen hohen fleiß; Er gibt uns recht hervor Die Edle Buchners-art und schwinget sich empor. […].
Da wollte Rist nicht zurückstehen und dichtete zum Erscheinen der Hochdeutschen Spraach-Übung (Hamburg 1643) ein Widmungsgedicht für den „hochgelahrten“ Verfasser, in dem ebenfalls die Linien von Opitz an weitergezogen werden: […] Als durch des Todes Grimm Herr Opitz fuhr dahinn Der Meister unser Sprach’/ es ist die Stell’ ersetzet/ Der Himmel hat auffs neu dies grosse Reich ergetzet/ Mit Helden die sehr klueg unnd scharff sind von Verstand/ Itz pranget abermahl das wehrte Vaterland/ Der Bau geht redlich fort: Herr Schottel wird ihn heben/ Harsdörffer folgt ihm nach unnd Caesius daneben/ Herr Tscherning/ Buchholtz und was gründlich schreiben kann Das legt itz neben mier die Hand mit Freuden an. Fahrt fort ihr tapfren Leut’/ euch wil die Tugend lohnen/ Wier werden allzumahl in ihrem Zimmer wohnen/
14 Das Original lautet: Johanni Ristio. | Theologo. | Mathematico. | Philologo. | Ad Perennitatem. Poeseos. | Teutonicae. Eruendam. Foven- | dam. Conservandam. Nato. Mu- | sarum. Imprimis. Divae. Uraniae. | Delectamento. Et. Holsatiae. | Ornamento. Amico. Suo. Intimo. | Ac. Summo | Scalam. Hanc. Heliconis. | Sacram. Esse. Vult. Et | Jubet. | Philippus Caesius. In der Neudruckausgabe: Zesen: Sämtliche Werke (Anm. 6), Bd. 12: Deutsch-lateinische Leiter. Gesellschaftsschriften. Berlin u. a. 1985 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 114), Zitat S. 6. Die geschmeidige Übersetzung verdanke ich Herrn Reinhard Klockow, 2013. Er vermerkt zu „Mathematicus“: Damit sei meist der Astronom/Astrologe gemeint, nicht der Mathematiker im heutigen Sinn. 15 Zesen: Helicon 1641 (Anm. 7), S. 4 f. Das nächste Zitat ebd., S. 15.
Die Beziehungen zwischen Rist und Philipp von Zesen
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Wier dienen und sie bleibt die Königinn allein/ Doch soll Herr Caesius ihr Kammer-Juncker seyn.16
Am 24. Juli 1644 adressiert Harsdörffer an: „Monsieur Philipp Caesius, Gentilhomme Allemand, demeurant à présent à Utrecht. Zu Amsterdam bei H. Elzevier abzugeben“ – am 24. Juli 1644 schreibt Rist „Dem Wohlehrenvesten, Groszachtbaren, und hochgelahrten Herrn Philipp Zäsius von Fürstenau, weitberühmten Poeten, meinem sonders viel-geliebten Herrn und hoch vertrauten Freunde, Amsteldam.“ Diesmal fehlt die Verlagsangabe.17 Man hat den Eindruck, dass man sich in Hamburg öfter trifft und sich bei Abwesenheit brieflich informiert. Das recht vertraute Verhältnis zwischen beiden Männern kommt auch darin zum Ausdruck, dass Zesen die Folgen der Himmlischen Lieder jeweils mit einem lobenden Widmungsgedicht schmückt, die übliche Empfehlung also, wie es seit dem Humanismus Brauch war. Man muss sich hier mit Beispielen begnügen, die m. E. für sich sprechen. Da liest man etwa: Herr Rist/ was seh ich hier aus ewrer Feder fliessen Gleich einer schönen Bach/ darein viel Quelle schiessen Aus Gottes Spring-Geschirr? Ach ja! es rinnt so schön/ Erfrischet Hertz und Muth/ und gibt ein solch Getön/ Das voll von Liebligkeit/ wie wenn die Bäche wallen Durch Sand und Steine durch/ es lieblich pflegt zu schallen. […] Die Lieder voller Geist/ singt nun die Deutsche Zunge; Diß alles habet Jhr/ Jhr werther Rist gethan/ Wollt nun gantz himmlisch seyn/ in dem Jhr Himmel-an Durch ewre Kunst Euch schwingt. […]18
Auf die beliebte Melodie von Philipp Nicolais Morgenstern-Lied hat Zesen ein hübsches Lied verfasst, das in drei Strophen mit Hilfe von spannungserregenden Fragen am Anfang einer Strophe und mit hellen Klängen einen freudigen Eindruck verschafft, welcher die Freude im Himmelreich assoziiert: Was hör ich? Was hat solche Krafft? Wie? Jsts die Himmels-Bürgerschafft/ Die mich so kan verzücken? O nein. Sie höret selbsten an Verlässt die Sternen-liechte Bahn
16 Zesen: Sämtliche Werke (Anm. 6), Bd. 11: Spraach-Übung. Rosen-Mand. Helikonische Hechel. Sendeschreiben an den Kreutztragenden. Berlin u. a. 1974 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 47), Spraach-Übung, S. 9 f. 17 J. H. Scholte: Philipp von Zesen. In: Jaarboek van het Genootschap Amstelodamum 14 (1916), S. 37–143, S. 65 f. 18 Rist/Schop: Himmlische Lieder (Anm. 1), S. 104 f.
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Ferdinand van Ingen
Denselben anzublicken/ Den wir Allhier Hören singen und erklingen Seine Lieder Daß es schallet hin und wieder. Wer ist es denn? Sol David hier Ernewern seiner Harffen Zier? Die uns so lustig machet? O nein. Es singt der liebe Rist/ Der uns ein Deutscher David ist/ Jn dem sein Geist erwachet. Liebet übet Seine Lieder hin und wieder/ Helfft jhm singen/ Daß es möge recht erklingen.19
Weit einfacher gestaltet ist das große Gedicht „An den Wol-Ehrwürdigen vnd Hochgelahrten Herrn Johann Risten.“ Es hat in etwa die Form eines Gesprächs unter Freunden, im Einklang mit der oben geäußerten Beobachtung eines recht vertrauten Umgangs. WAs macht mein Caesius? (so deucht mich fragt Herr Rist/) Wie daß er seiner Pflicht und meiner gar vergist? Und schreibt mir nicht ein mal? Ach nein! wie solt’ ich dessen/ Dem’ ich verbunden bin/ in einem Nu vergessen? Jch habe zwar die Lufft geendert/ nicht den Sinn/ Der Sinn bleibt unverwandt und standhafft wie vorhin Und gilt es noch so viel. Es wird uns auch nicht trennen Der Unfug dieser Zeit/ da ich nicht schreiben können: Dem Reisen bleibt die Schuld. Jn dessen red’ ich doch Fast stündlich noch mit Jhm/ wenn ich das süsse Joch Der Reise von mir thu’/ und seine Himmels-Lieder Begierig leß’ und sing. Jch leß’ und lese wieder/ So find’ ich allzeit mehr/ das mich gantz himlisch macht/ Daß mein Gemüth’ vnd Sinn kein Angst zur See nicht acht. Ach! welch ein guter Geist hat euch Herr Rist getrieben/ Daß jhr ein solches Werck den Schwachen vorgeschrieben; Der Himmel wohnt in euch/ und zieht auch bey mir ein/ Wenn ich mit Eurer Lust mag lust- und frölich seyn. Der Himmel hat auff euch den edlen Thaw gegossen; Drey Himmels-Pfeile seyn nun schon zum Ziel geschossen/
19 Ebd., S. 190 f.
Die Beziehungen zwischen Rist und Philipp von Zesen
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Nun fehlen nur noch zwey; so ist die Zahl erfüllt/ Denn durch fünff Wunden ward die Lieb’ uns abgebildt Die Jesus zu uns trug. Drumb last die andern beyde Auch kommen an das Liecht/ zur süssen Himmels-Freude. Auff der Reise aus Lunden [= London] schreibet es M. Phil. Caesius von Fürstenau.20
Ein letztes Beispiel aus dem Kreis der Himmlischen Lieder ist ein Widmungsgedicht, das an den Leser gerichtet ist. Es spricht also nur mittelbar Rist an und fordert den Leser auf, dem Beispiel des Dichter-Pastors Rist zu folgen, ihm „nachzusingen“, bei seinen Liedern Trost zu suchen und sich dem Höheren zuzukehren. Hier/ Leser/ hastu nun/ womit du kanst vertreiben Den schnöden Rest der Zeit. Laß andre Leute schreiben Und singen von der Pracht der Eitel-vollen Welt/ Laß suchen Ehr’ und Ruhm/ laß suchen Gutt und Geld: Du aber bleib’ allhier und halt dich in den Schrancken/ Stimm’ an ein Himlisch Lied/ so kanst du niemahls wancken/ Weil du den Himmelsweg mit Himlischer Begier Zu suchen bist gesinnt. Mein Leser bleib’ allhier/ Und singe/ was Herr Rist/ des Himmels voll gesungen/ Davon nicht nur die Welt/ der Himmel auch erklungen/ Dadurch er hat erlangt den Krantz der Ewigkeit/ Den jhn der Himmel gibt. Betrübet dich die Zeit/ Bekümmert dich der Krieg/ verklagt dich dein Gewissen/ Und hat dich Hertzen-Angst danieder schon gerissen/ So eile nur und sprich die Himmels-Lieder an/ Und singe sie mit Lust/ wie Ristius gethan. Was gilts der Himmel wird dich trösten aus der Höhe/ Bekräfftigen dein Hertz/ damit es feste stehe Jn allem Ungemach; Wird auch nach dieser Zeit Dich kröhnen mit dem Krantz der langen Ewigkeit. Aus Amsteldam M. Phil. Caesius von Fürstenau.21
In allen misslichen Lebenslagen hat Rist den Gläubigen Trost zu spenden versucht. Beruhigung und Trost waren nicht an letzter Stelle notwendig bei Unwetter und Sturm, Wasserfluten und lebensbedrohlichen Situationen. Dafür genügt es wohl, auf die Dichtung Holstein vergiß es nicht hinzuweisen, deren vollständiger Titel den Anlass festhält: Das ist/ Kurtze/ iedoch eigentliche Beschreibung Des erschreklichen Ungewitters/ Erdbebens und überaus grossen Sturmwindes […]. In Gebundener Rede verfasset und heraus gegeben/ von/ Johan Risten. Hamburg
20 Ebd., S. 279. 21 Ebd., S. 377.
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1648. Unter den vielen Widmungsgedichten findet sich auch eines von Zesen, das er sogar in Wedel geschrieben haben will. Dem WolEhrwürdigen/ Edlen/ hoch und wolgelahrteten Herren/ H. Johann Risten/ meinem hochgeehrten Herren und sehr liebwehrten Freunde/ Als der selbe sein schönes Gedichte von dem grausahmen Ungewitter zu Lichte ließ kommen. WEn Gott sein Zornschwehrt zükt/ so regen Sich zugleich Plitz/ Donner/ Wind und Fluht und gehn so manches Reich Von allen enden durch. Die stärksten Thürne krachen/ Wen Sie der rauhe Wind mit volgefülltem Rachen Anhaucht. Daß starke Schloss wird unstark und zerbricht/ Der Riegel Ertz und Stahl würd gleichsahm gahr zunicht; Die Thore springen auff/ die ungeheure wogen Die kommen auß der Lufft nach oben zu geflogen/ Und überschwem[m]en uns/ uns schwaches Erdgewürm/ Wen Gott uns nicht erhält durch seinen Gnadenschirm. Diß hat nach seiner ahrt kunstvölliglich beschrieben Mein freund der Edler Rist/ dem hier der Preiß ist blieben Und uns sein warnungswohrt/ in seiner schönen Schrifft Die uns ermahnt und lehrt/ ia trotzt des Neidharts Gifft/ Der über unser Kunst ein Ungewitter machet Und den der Dichter zunft in Sicherheit verlachet. Mein Herr/ mein liebster Freund/ Er setze Rüstig fohrt Sein angefangnes Werk/ das in den schönen Port Der Ewigkeit Jhn führt: kein Wetter sol Jhn letzen/ weil Jhm daß Teutsche Reich wird lorbeerzweige setzen. Geschrieben in Wedel am 29 deß Brachmonats im 1648 Jahr von M. Filip Zesen.22
Nach unserem Ermessen herrschte zwischen beiden Dichtern ein vorbildliches freundschaftlich-kollegiales Verhalten, einer richtete sich ganz nach den Wünschen des anderen, und beiderseits waren sie offensichtlich bemüht, die Integrität der Person zu bewahren. Dennoch hat sich das Blatt sofort gewendet, als Rist seine ‚Komödie‘ Das Friedejauchzende Teutschland 1653 in Nürnberg veröffentlicht hatte. Obwohl Rist („der Rüstige“) in der Vorrede versichert, es sei sein Zweck gewesen „vielmehr zu loben/ als zu schelten“, fällt es schwer, ihm die Versicherung abzunehmen: „Es ist ja dieses Wercklein Gott zu Ehren/ seinem H. Namen zu Lobe und Preise/ den Frommen zur Lust und Lehre/ den Gottlosen zur Warnung und Ermahnung“ verfasst worden.23 Das wirkt regelrecht zynisch, denn 22 Johann Rist: Holstein vergiß es nicht […]. Hamburg 1648, fol. D 2v–3r (HAB Wolfenbüttel 83.11 Quodl. [14]). 23 Rist: Sämtliche Werke (Anm. 7), Bd. 2: Dramatische Dichtungen (Das friedewünschende Teutschland. Das friedejauchtzende Teutschland). Berlin u. a. 1972 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 35), S. 232.
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der Fall ist eindeutig. Es tritt ein Junker Sausewind auf, der für jeden sichtbar Zesen parodiert und lächerlich macht. Sausewind, ein rechter Windbeutel, hat sich in die „schöne Schäfferin Rosemund“ verliebt. Genüsslich verbreitet der Text sich über das hartnäckige hämische (und alte) Gerücht, Zesens Geliebte sei ein Leipziger Wäschemädchen, der Dichter sei überhaupt ein Weibernarr. Jetzt stehe es auch so: „Jn diese […] Wäscherin nun ist unser Ritter sehr hefftig verliebet.“24 Er erzählt zwar, „daß sie zu Hause nichts anders thue/ als Bücher lesen/ Bücher schreiben/ Lieder machen/ Gedichte aufsetzen“, aber in Wahrheit sei es nur Armut und Kummer. Ein Anderer meint: Der „Narrenkopf“, der glaubt, es kämen nur „Prinzessinnen/ Gräfinnen oder zum wenigsten Freyfräulein“ für ihn in Betracht, müsse sich aber begnügen mit beträchtlich niedrigeren Damen – es seien alles nur „armselige Waschmägde/ Misthämmele und Küchenratzen“.25 Dabei sei er ein eingebildeter Geck, halte sich gar für einen Edelmann: „Bey diesen unerhörten Eitelkeiten hat er es nicht lassen bewenden/ sondern noch ferner fürgeben/ er seye auch ein Ritter/ hat sich durch offentlichen Druk in seinen Büchern […] Equitem strenuum et nobilissimum, einen hochedlen und gestrengen Ritter selber genennet […].“26 Das ist eine ehrenrührige Behauptung, da braucht man kein Wort darüber zu verlieren. Um das Maß voll zu machen, wird in einem Lied, das der „hoffärtige Phantast“ an seine Schöne richtet, Zesens Stil parodiert. O Rosemund/ Jch bin ja dein getreuer Hund/ Wie hat man mich üm deinet willen Wollen fillen! Wie greulich hat man/ mich zu jagen Dörffen schlagen/ O Rosemund! […] O liebstes Hertz/ Wie groß ist meiner Seelen Schmertz/ Den Arm trag’ ich allhier im Bande/ Dir zum Pfande/ Die Pflaster sind es/ die mich zieren/ ja mich führen Zu Rosemund.27
Der Vorwurf zielt vermutlich auf ein Widmungsgedicht, das ein sonst unbekannter „Johannes à Niekerke, Lov.“ zum Erscheinen des Buches Rosen-mând
24 Ebd., S. 309. 25 Ebd., S. 310. 26 Ebd., S. 312. 27 Ebd., S. 372 f., Strophe 1 und 3.
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(Hamburg 1651) eingeschickt und das Zesen auch tatsächlich abgedruckt hat: „Philippo Caesio, Equiti Nobilissimo et ad omnigenam Virtutem Strenuo, Viro Divini ingenii, imò supra omnem ferè mortalitatis captum stupendi, admirandi […].“ Die Schlusszeilen ziehen den Strich unter das peinliche Lob: „Teuto tuas semper dotes reverenter habebit, | Atque tuae laudis fama perennis erit.“28 Weiterhin spielt Zesen bekanntlich oft mit der Farbe Blau, die er in seinem Namen Caesius wirksam glaubt: ‚Ritterhold von Blauen‘ nennt sich der Verfasser der Adriatischen Rosemund, aber das lag weiter zurück (1645), etwas länger noch die Romanübersetzung Lysander und Kaliste, wo er als der ‚Blaue Ritter‘ unterschreibt (1644). Tatsächlich wurde Zesen 1653 auf dem Reichstag zu Regensburg von Kaiser Ferdinand III. geadelt, so dass nun endlich das ‚von‘ zu der etymologisierenden Verschönerung von „Prior-au“ passte: „von Fürstenau.“ Was aber die Lunte ins Feuer geworfen hat, lässt sich m. E. kaum mit einiger Entschiedenheit sagen. Wir wissen, dass Zesen ungemein große Hoffnungen auf die Mitgliedschaft der „Fruchtbringenden Gesellschaft“ gesetzt hatte. Als er diese endlich im Dezember 1648 erlangte, hatte Fürst Ludwig als das damalige Haupt der Fruchtbringer ihm einen vorwurfsvollen Brief zu seinem Reimspruch der Wolsetzende der Natur nach geschickt.29 Rist fühlte sich dann vermutlich zu Beschimpfungen berechtigt. Die Meinungsverschiedenheiten und Verleumdungen zogen weite Kreise, bis ein treues Mitglied der „Deutschgesinneten“ in der Vorrede von Zesens Sendschreiben an den Kreuztragenden eine vorläufige Bilanz zugunsten Zesens zieht. Der „Wohlriechende“ (= Karl Christoph von Marschalk) schreibt, Zesen hat von seinem Widersacher/ dem unruhigen Geiste […] mehr als alzuviel/ wie die gantze Deutsche Welt weis/ gelitten: welches ich nimmermehr hette tuhn können. Darüm ist es kein wunder/ daß Er zu weilen/ als ein Großmühtiger Leue/ ihm mit der tatze einen nasenstüber gegeben. […] Der Man hette sich in sein hertz schähmen sollen/ Einem üm die gantze hochdeutsche Sprache so gantz hochverdientem Herrn so übel zu begegnen: und solches zwar nur aus blinder neid- und eifer-sucht.30
In der Antwort heißt es dann: Es wundert mich gar nicht/ daß die übermühtigen Ristischen Schmähworte noch nicht aufhöhren. Viel weniger bin ich bestürtzt/ oder traurig darüber. […] Ich kenne seinen heichund hechlerischen geist von 26 jahren her Ich habe sein vergaltes hertz geschmäkket/ so
28 Zesen: Rosen-Mand (Anm. 16), S. 92. 29 Zit. bei Gottlieb Krause: Der Fruchtbringenden Gesellschaft ältester Ertzschrein. Briefe, Devisen und anderweitige Schriftstücke […]. Hg. nach den Originalen der Herzogl. Bibl. zu Cöthen. Leipzig 1855, S. 421–425. 30 Zesen: Sendeschreiben an den Kreutztragenden (Anm. 16), S. 406 f.
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lange ich seiner kunde gepflogen. Die bitterkeit darvon klebt noch auf meiner zunge; ja selbst im gehirne.31
Er wolle ihm auch nichts Böses antun, heißt es dann ironisch, sondern „ein Liedlein“, das der „Dafnis aus Zimbrien“ in seiner „Galatee“ der Schäferin Silvie geschrieben hat, „mit der Kratzbürste nur ein wenig überstreichen.“ So stellt er Rists Text eine verbesserte Fassung gegenüber, also lesen wir ihn einmal „nach der Ristischen Reimenschmiederei“ und ein andermal „nach der Zesischen Verbesserung.“ Der „Wohlriechende“ hat in seinem Schreiben an den „Färtig/ Wohlsetzenden“ (= Zesen) nicht unterlassen können, darauf näher einzugehen und das lasterhafte Vorgehen ohne Wenn und Aber zu nennen: „Einer Seiner boßhaftigsten Verleumder […] mus itzund vor seine boßheit/ an Seiner unschuld bewiesen/ mehr als genug büßen […]. Er kan wohl erraten/ wen ich meine. Nun stehet er schon vor Gottes Gerichte/ und mein Herr hat sich seinet wegen nichts mehr zu bekümmern.“32 Das war ein starkes Stück, Rist war gerade ein Jahr vorher (1667) gestorben. Aber die ‚Jünger‘ Zesens fühlten sich als seine Mitstreiter bemüßigt, die „Neidhammel“ anzuprangern und das „natterngift ihrer lästerzungen“ zu bekämpfen.33 Da war man nicht zimperlich, wie wir wiederholt feststellen können. Das Eintreten für Zesens Aufrichtigkeit und poetisches Können war fast eine topische Wendung zur Verteidigung des „Adlers Deutscher Zungen“. So versichert Valentin Ruhl: Und wan auch noch so weit die neid-beflamten Drachen/ Mein Zesen/ wider Dich aufsperten ihren rachen/ und speihten grimmig aus gifts schwefel-blaue gluht; so schrökten sie Dich nicht. Dein freier Leuen-muht erblasset nicht so bald. […] Es ist und bleibet wahr/ was Zesen hat getahn. Er fraget nicht ein haar nach dir/ du Höllenbok/ nach dir/ noch deinen hörnern: bedräu Jhn/ wie du wilt/ mit deinen neides-dörnern. […] Kom/ kühl’ an Ihm den muht! hier kanst du dich ergetzen/ und deinen natter-zahn an seiner Hechel wetzen. Sih’ aber nur wohl zu/ daß deine raffel nicht zerhakket geh davon/ wan sie dich tödtlich sticht!34
31 Ebd., S. 407 f. 32 Zesen: Helikonische Hechel (Anm. 16), S. 283 f. 33 Ebd., S. 283. 34 Ebd., S. 398 f.
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Nicht nur die ‚Mitstreiter‘ von Zesens Genossenschaft, sondern auch viele Dichter-Kollegen sind ihm gefolgt und haben seine Verdienste durchaus anerkannt. Sie waren überzeugt von den Nach-Opitzischen Bemühungen um eine neue Blüte deutscher Dichtkunst: „o kunstbefüllte zeit!“35 – Und: „Komt/ unsrer Sprachen Freund’ und rühmet Seinen Fleis; | […] | der vielen längst gefiel. Vermehret Seinen Preis.“36 Zesen hatte den ehemaligen Freund an seiner empfindlichsten Stelle getroffen. Er kritisierte seine Dichtkunst und stellte ihn pedantisch, aber mit unverhohlener Schadenfreude als Stümper bloß – „O arme hümpelei! | dadurch die edle Kunst gerät in barbarei“, schreibt einer der Freunde. Der Wurm steckt tiefer und hat durchaus Gründe, die Zesen als berechtigt erscheinen mussten, die Kritik an dem, was ihm lieb und teuer war, nicht auf sich sitzen zu lassen. Er hatte das Vorbild seines Lehrers Buchner aufgegriffen und war gleichsam zum Apostel des Daktylus geworden. Viele Dichter seiner Zeit haben ihm das gedankt. Es war denn auch alles andere als eine Kleinigkeit: Es dürfte klar geworden sein, dass es um mehr und Anderes ging als eine bloße metrische Frage. Die Helicon-Ausgaben haben immer mehr und immer subtiler die neuen Möglichkeiten für die deutsche Verskunst vorgeführt und theoretisch abgesichert. Natürlich war Zesen bekannt, dass die traditionelle kirchliche Moral das Tanzen als ungebührlich ablehnte. Aegidius Albertinus hatte gewettert: „Was seind die Tantzhäuser oder Tantzplätze anderst als ein theatrum/ allda der Teuffel die jenige Seelen widerumb gewinnet/ welcher er inn der Kirchen hatte verlohren […] alsdann wetzet der Teuffel sein Schwerdt.“37 Und der vielgelesene Garzonius zieht am gleichen Strang: „Es ist aber solches Tantzen und Lust darzu/ nichts anders/ als eine Anzeigung eusserster Leichtfertigkeit/ Zunder zu aller Uppigkeit/ Reitzung zur Unzucht/ Feind der Zucht/ der Schamhafftigkeit zuwider/ der Erbarkeit abhold.“38 Die Kritik und die Ablehnung von Tanzweisen und Tanzrhythmen mit solcher Begründung waren Zesen bekannt. Wie anders ließe sich sein Einwand gegen Kritiker verstehen, die „die fröligkeit des ewigen Lebens“ nicht mit Hilfe des Daktylus besingen wollen? Nach einem Hinweis auf David, der vor der Bundeslade das Lob Gottes „nicht allein mit hüpfender zungen/ sondern auch mit hüpfen35 Ebd., S. 288 (Widmungsgedicht von Friedrich Kahle aus Halle). 36 Ebd., S. 290 (Widmungsgedicht von Daniel Bärholz). 37 Aegidius Albertinus: Der Welt Thurnierplatz […]. München 1615, Reprint Leipzig 1975, S. 276. 38 Thomae Garzoni Piazza Universale: Das ist: Allgemeiner Schawplatz, Marckt und Zusammenkunfft aller Professionen, Künsten, Geschäfften, Händel und Handwercken, etc. […]. Frankfurt a. M. 1659, S. 519.
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den geberden fröhlich im Herren“ ausgedrückt habe, steht im Helicon die rhetorische Frage: „Ob dergleichen hüpfende reim-ahrten darzu untüchtig seind/ und endlich zu nichts als zu leicht-färtigen und weltlichen liedern könten und müsten gebraucht werden?“39 Das ist mit deutlicher Spitze gegen Rist gerichtet. Hatte dieser sich doch im dritten Zehn seiner Himmlischen Lieder folgendermaßen verlauten lassen: Dactilische/ Anapästische und derogleichen newerfundene Verß […] gefallen mir in Beschreibung solcher und derogleichen himlischen Sachen gar nicht/ in Betrachtung/eine andächtige Seele sich nicht mit hüpffen und springen/ besondern viel mehr mit seufftzen und sehnen/ […] zu jhrem Erlöser und dem himlischen Jerusalem sol nahen und wenden […]. Lasse ich sie im Gebrauch der Buhlen- und HirtenLieder/ auch wol anderer weltlicher Sachen […] jhren billichen Werth und Ruhm behalten; Bey denen Himlischen aber und zu Gott steigenden Liedern/ begehre ich meines theils […] mich solcher leichten Täntzer-Art nimmermehr zu gebrauchen.40
Immerhin nennt Rist an dieser Stelle dennoch lobend den „hochgelehrten Herrn Buchner“, der „zu seinem unsterblichen Ruhm in dieser Zeit trefflich hoch gebracht hat.“ Also: Für weltliche und „Buhlen-Lieder“ lässt Rist eine Lizenz gelten. Das war nun aber gar nicht im Sinne Zesens. Er glaubte deshalb seine in daktylischen Versen gehaltene Hohe-Lied-Dichtung gegen solchen Verdacht verteidigen zu müssen. Es seien „Michaelsköpfe“, die erklärt hätten, „daß man gedachte färtige reim-dichterei zu geistlichen liedern/ als welche nur mit kläglicher stimme und söhnlichem hertzen müsten gesungen werden/ durchaus nicht gebrauchen könte/ weil sie nichts anders (wie sie unbesonnen fohrgeben) als eine leichte täntzer-ahrt sei.“41 Am Detail werden die ‚modernen‘ Tendenzen von Zesens Bestrebungen erkennbar. Der Einzug des Daktylus in die deutsche Verslehre (theoretisch und praktisch) ermöglichte eine Weiterentwicklung der ‚gemischten‘ Versarten, die bisher der antiken Dichtung vorbehalten gewesen war. Man muss immer mit bedenken, dass die deutsche Dichtung im 17. Jahrhundert noch völlig in Entwicklung begriffen war und sich einen ehrenvollen Platz in Europa erobern wollte! Es ging folglich um ein zentrales Anliegen, das auf ein Überbieten (aemulatio) der antiken Vorbilder zielte.
39 Zesen: Hoch-deutscher Helikon (1656) (Anm. 9), Teil 2, S. 576. 40 Rist/Schop: Himmlische Lieder (Anm. 1), S. 185 f. 41 Zesen: Hoch-deutscher Helikon (1656) (Anm. 9), Teil 2, S. 575. Man hört gleichsam das obenstehende Rist-Zitat heraus, der Bezug ist unmissverständlich. – „färtige-reimdichterei“ ist ein Rückverweis auf Zesens Gesellschaftsnamen: der „Färtig-Wohlsetzende“.
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Die „Fruchtbringende Gesellschaft“, unbiegsam in der Person ihres ersten Vorsitzenden, wollte dem Neuen einen Riegel vorschieben. Das bekam auch der Nürnberger Georg Philipp Harsdörffer zu spüren, der von Fürst Ludwig unwirsch zurechtgewiesen wurde: Bey der Deutschen Poesi […] der Jambischen Heldenart wird nochmals guter wolmeinung erinnert, daß keine Dactili darinnen mögen gemischet werden: In den Dactilischen und Anapestischen reimen aber mögen sie herummer hüpfen und springen wie sie können und vermögen. […] Was die Dactylos in den Jambischen reimen oder Versen betrift, verbleibet man bei der Fruchtbringenden geselschaft der Bestendigen vernünftigen meinung, daß sie da hinein nicht gehören, wan die Reime nach unserem deutschen Masse sollen volkommen und nicht anstossend sein […]. Er mag sie in einer andern art Reime, dahin sie sich schicken, nützlicher nach der Kunst, die doch der Natur gemes, anwenden, dieses jambische Mas aber darmit nicht verderben oder schäden.42
Als Harsdörffer dann noch Zesen ins Feld führte und sich auf ihn berief, war die Antwort kurz: „Ja Caesius kan eben so wenig aus einem fehler eine regel machen.“ Darauf hat Harsdörffer die Frage nicht mehr angerührt und in seinem Poetischen Trichter (3 Teile, Nürnberg 1647–1653) unbeirrt „gemischte Reimarten“ vorgestellt, sie sogar mit praktischen Beispielen vorgeführt. Auch Zesen ließ sich nicht beirren. Der Helicon-Ausgabe von 1641 gab er gar ein eigenes Buch bei: „Von den Mustern allerley vermischter Oden und Gedichte.“ Er wandte seinen ganzen Fleiß an solche Verse, „in welchen bald Jambische/ bald Trochäische/ bald Dactylische pedes mit untergemischet werden.“43 Hinter scheinbar gar nicht so wichtigen Dingen verbargen sich also prinzipielle Fragen, man war bereit, sich dafür quasi bis aufs Blut zu bekämpfen. An dem gestörten Verhältnis zwischen Rist und Zesen wird das manifest.
42 Zit. nach Krause (Anm. 29), S. 325. 43 Zesen, Helicon 1641 (Anm. 7), S. 40 f.
Hartmut Laufhütte
Johann Rist als Gastgeber und Briefpartner sowie als Gegenstand in anderen Briefwechseln Sigmund von Birkens* 1 Johann Rist war am 31. August 1667 gestorben. Kenntnis dieser Tatsache voraussetzend, aber ungenau informiert schrieb am 31. Januar 1668 nc in einem Brief aus Königsberg Martin Kempe an Sigmund von Birken: Daß Unser Ehrlicher Herr Ristius den 1. Septembris Stilo Vetere Anno 67. diese Eitelkeit verlassen und den 12 ejusdem mensis beerdigt, wird wol schon an der Noris kündig sein. Der liebe Herr hat zu guter letzte vergangenen 30 May ein Schreiben an Mich gesant, und seine krankheiten eröffnet, welche Schwind, gelbe und Schwartze sucht gewesen. Memoria ejus sit in Pace. Mit dem SchwanOrden an der Elbe ist es nach seinem Tode nicht besser als mit der Fruchtbringenden Gesellschaft bewant, und dörfte mit ihm zugleich entschlafen.1
In der Tat war man damals in Nürnberg längst informiert, auch schon, als am 4. Dezember 1667 im ersten seiner zwölf in Birkens Archiv vorhandenen Schreiben,2 einem Antwortbrief, der damals berühmte, von Joachim von Sandrart in seiner Academie ausführlich vorgestellte ,wachsbossierer‘ Daniel Neuberger,3 der als Ingeniander dem Elbschwanenorden angehörte, Birken um Auskunft bat:
Es handelt sich um die Weiterentwicklung eines älteren Beitrags: Hartmut Laufhütte und Ralf Schuster: Johann Rist und Sigmund von Birken. Eine schwierige Beziehung, rekonstruiert aus ihrem Briefwechsel. In: Informationen aus dem Ralf Schuster Verlag. Aufsätze, Rezensionen und Berichte aus der germanistischen Forschung 1 (2008), S. 7–28. 1 Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Mitgliedern des Pegnesischen Blumenordens und literarischen Freunden im Ostseeraum. Hg. von Hartmut Laufhütte und Ralf Schuster. Berlin, Boston 2012 (Sigmund von Birken. Werke und Korrespondenz. Hg. von Klaus Garber, Ferdinand van Ingen, Hartmut Laufhütte und Johann Anselm Steiger. Mitbegründet von Dietrich Jöns (†) [künftig: WuK] 13.1, S. 54. 2 Sie werden als Bestandteile des Manuskripte-Nachlasses Sigmund von Birkens im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg aufbewahrt. Ihre Signatur: PBlO. C.239.1-12 und C.156.1-3. 3 L’Academia Todesca della Architectura, Scultura & Pittura Oder Teutsche Academie der Edlen Bau- Bild- und Mahlerey-Künste: […] beschrieben […] Durch Joachim von Sandrart auf Stockau […]. Nürnberg 1675–1680. Nachdruck, hg. von Christian Klemm 1994. Hauptteil I (1675). Teil II. Buch III, S. 350 f.; Hauptteil II (1679). Teil III, S. 80.
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Hartmut Laufhütte
Ich möchte gerne an die Rüstische erben was Schickhen, So zu seinem gedächtnus dientte, bitte mein hochgeEhrter Herr eine gelegenheit an die hand zu geben belieben wolte […].4
Diese Formulierung und die Art der Erwähnung des Todesfalles in einem früheren Teil des Briefes5 lassen erkennen, daß in dem Schreiben Birkens, auf welches Neuberger reagiert, von Rists Tod die Rede gewesen sein muß. Weder in Birkens Tagebuch ist für den in Frage kommenden Zeitraum ein Schreiben an Neuberger verzeichnet noch nennt dieser für den Brief, auf den er reagiert, ein Ausstellungsoder Empfangsdatum. Zwar gibt es in einem der Briefkonzeptbücher Birkens eine Notiz zu einem Schreiben an Neuberger zum 15. November 16676 – sie dürfte dem Schreiben gelten, auf das Neuberger antwortet –; aber sie ist zu knapp, als daß sich von dem Briefinhalt etwas erkennen ließe. Rists Name fällt gar nicht. Mitte November 1667 also ist der Tod Rists ein Gegenstand in Birkens Korrespondenz gewesen. Wie und von wem er selbst benachrichtigt worden ist, läßt sich aus den Materialien seines Archivs nicht erkennen. Daniel Neuberger jedenfalls war wohl nicht der Informant. Er setzt nämlich bei Birken bessere Kenntnis voraus, als er selbst besaß. In seinem Schreiben an Birken vom 2. April 1668 heißt es gegen Ende: habe Meinen hohen Gönner billich zu fragen, Wer jetz an des Seligen herrn Risten Stelle vnser oberhaupt Sein mag; Vnd dann den Nahmen Sampt Titulis dessen hinderlassenen ältesten herrn Sohns,7 damit Jhme schreiben Vnd meine meinung entdecken möchte, bin hoch verpflichtet diesem haus, Wie auch dem gantzen hochloblichen Schwahnen orden, noch bis dato zwahr ein unfruchtbarer aber doch nicht gar Verdorbener baum Vnd mitgliede, die Zeit möchte Rosen brüngen, zu weiln erst nach dem todt, vnser leben herfür leuchtet; wie tagliche erfahrung bezeugt.8
4 PBlO. C.239.1. 5 „Hoch gelehrt- vnd geEhrter Herr. Ob meiner vngelährten Feder, nicht des Jcarus gefüder gleich, ergehen möchte, hätte Jch billich zu förchten, So nicht das tugendthaffte mittleiden, welches Jch von dem Seligen vnglükseligen Grossen Palatin vnd andern hohen geistern genossen, mich auch zu meines Edlen Herrn tugendt hoffendt machte; Welcher erstlich das hertz vndt gutt teutsche gemüthe ansehen, vndt dann mehr auff meinen Wachs, vnd bildungen, alß der feder, Sein hohes Vrtheil zu fellen belieben wirdt.“ 6 PBlO. B.5.0.41, 97v. 7 Zu Johann Rists Nachkommenschaft s. Familienforschung um Johann Rist (1607–1667) – wedel.de. Der von Neuberger gewünschte Ansprechpartner dürfte Johann Ernst Rist (1637–1696) gewesen sein, vielleicht aber auch Johann Caspar Rist (1638–1694), Rists Nachfolger im Wedeler Pfarramt. 8 PBlO. C.239.3.
Rist als Gastgeber und Briefpartner Sigmund von Birkens
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Wir wissen aus Birkens Tagebuch, daß er am 18. April 1668 geantwortet hat,9 nicht aber, ob und wie er auf Neubergers die Erben Rists und den Schwanenorden betreffendes Anliegen eingegangen ist. Das Schicksal dieses Ordens aber hatte Martin Kempe richtig prognostiziert.
2 Die Beziehung zwischen Sigmund von Birken und Johann Rist begann 1645 und endete mit Rists Tod. Laut Auskunft seines Tagebuchs hat Birken am 24. Oktober 1666 zum letzten Mal an Rist geschrieben.10 Rists letzten Brief vom 22. Dezember 1666 hat er am 12. Januar 1667 empfangen. Er ist in Birkens Archiv erhalten.11 Die Beziehung war während dieser langen Zeit unterschiedlich intensiv und zeitweise nicht spannungsfrei. In seiner in den siebziger Jahren auf der Grundlage älterer Aufzeichnungen verfaßten Autobiographie für die Zeit bis Mitte der fünfziger Jahre12 hat Birken in der Randspalte unter der Rubrik „Autores et amici“ diejenigen Personen aufgelistet, die er als Förderer und Wohltäter ansah: für 1645 Georg Philipp Harsdörffer, für 1647 den Lüneburger Richter und Ratsherren Joachim Pipenburg, für 1649 den gelehrten Rothenburger Bürgermeister Johann Georg Styrzel und Heinrich Graaß, den Generalauditor der kaiserlichen Armee, der zur Wiener Verhandlungsdelegation beim Friedenskongreß 1649/50 in Nürnberg gehörte, für 1650 den protestantischen niederösterreichischen Baron Johann Wilhelm von Stubenberg, den Übersetzer französischer und italienischer Romane, für 1652 die Nürnberger Adelsfamilie Rieter von Kornburg, bei der Birken von 1652 bis 1655 als Hauslehrer und Freund gelebt hatte, und für 1653 den österreichischen Baron Gottlieb von Windischgrätz, mit dem er erstmals bei der
9 Die Tagebücher des Sigmund von Birken. Bearbeitet von Joachim Kröll. 2 Bde. Würzburg 1971 und 1974 [künftig: Kröll]. Bd. 1, S. 363. Der Unzuverlässigkeit der Kröllschen Transkriptionen wegen werden die Stellenangaben stets durch die der Manuskripte ergänzt; zitiert wird immer nach den Manuskripten. In diesem Fall lautet der Manuskriptnachweis: PBlO. B.2.1.4, 80v: „63 An herrn Neuberger nach RegensBurg.“ 10 Kröll (Anm. 9). Bd. 1, S. 254; PBlO. B.2.1.4, 47v: „Schreiben an den Rüstigen 91.“ 11 Text Nr. 20 im Birken-Rist-Briefwechsel; WuK 9 (Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Georg Philipp Harsdörffer, Johann Rist, Justus Georg Schottelius, Johann Wilhelm von Stubenberg und Gottlieb von Windischgrätz. Hg. von Hartmut Laufhütte und Ralf Schuster. Tübingen 2007), S. 69–71, 696–701. 12 WuK 14: Sigmund von Birken: Prosapia /Biographia. Hg. von Dietrich Jöns und Hartmut Laufhütte. Tübingen 1988.
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Aufführung seines Dramas Psyche zusammengetroffen war.13 Rist erscheint nicht in dieser Reihe, obwohl Birken ihm in einer schwierigen Lebensphase einiges verdankte. Wie so viele Verbindungen des jungen Literaten Sigmund Betulius hat auch diese Harsdörffer hergestellt. Zu den Empfehlungsschreiben von ihm, die Birken bei seiner Reise zum Dienstantritt in Wolfenbüttel im Frühwinter 1645 mitnahm, könnte auch ein für Rist bestimmtes gehört haben. Birkens erstes für Rist verfaßtes Ehrengedicht, ein für den Poetischen Schauplatz (1646) bestimmtes, sehr kunstvolles Pindarisches Lied,14 wird noch in Nürnberg entstanden und von Harsdörffer übersandt worden sein. Die Anfänge der zwischen Birken selbst und Rist geführten Korrespondenz sind nicht erhalten. Rists ältester in Birkens Archiv erhaltener Brief, den Rist am 8. Juli 1646 ausgestellt hatte und den Birken laut auf ihm angebrachter Notizen am 8. Juli 1646 erhalten – die lange Laufzeit resultiert wohl daraus, daß er zunächst nach Nürnberg gegangen war – und am 25. Juli beantwortet hat,15 läßt erkennen, daß es zuvor wenigstens zwei Schreiben Birkens und eines von Rist gegeben hatte. Dieses letztere aber hatte, wie aus Birkens zweitem Brief zu entnehmen gewesen sein muß, sein Ziel nicht erreicht; deswegen wiederholt Rist den schon in dem verlorenen Brief bekundeten Dank für Birkens poetischen Beitrag zum Schauplatz. Außerdem kündigt er an, er werde sich um eine Gelegenheit bemühen, Birken dieses Werk und die ebenfalls 1646 erschienene Friedensposaune zuzustellen. Hauptgegenstand des Briefes aber ist die recht prätentiös inszenierte Mitteilung, der Kaiser habe ihm, Rist, den poetischen Lorbeer und den Adel verliehen. Für die nun erforderliche Dankes- und Lobrede, die er mit „etlicher grosser und vortrefflicher leüte Glückwünschungen“ drucken lassen will, erbittet Rist auch einen Beitrag Birkens. Auch Schottelius soll er um einen ersuchen. Der damals kurz vor seiner Entlassung aus dem Hofdienst stehende, an seiner auch ökonomisch prekären Lage leidende junge Poet hat das erbetene Gedicht, ein anspruchsvolles, gemischtversiges Strophenlied, geschrieben und
13 Im Konzept eines Briefes, den Sigmund von Birken am 16.1.1656 an den väterlichen Freund Joachim Pipenburg in Lüneburg gerichtet hat, zählt er positive Wendungen seines Schicksals auf, die nicht durch eigenes Betreiben eingetreten seien. Da heißt es an siebter Stelle: „ad Baronem Gottlieb de Windischgratio occasione Psyches.“ Zu Birkens frühen Kontakten zu diesem wichtigen Förderer s. Gottlieb Graf von Windischgrätz: Die Gedichte. Hg. von Almut und Hartmut Laufhütte. Tübingen 1994 (Frühe Neuzeit 5), S. 74–76. 14 Gedicht Nr. 19 in der Sammlung S. v. B. Birken-Wälder (WuK 2. Hg. von Klaus Garber, Christoph Hendel und Hartmut Laufhütte. Berlin, Boston 2014), S. 30–32, 525–528; s. auch WuK 9 (Anm. 11). Text Nr. 1a, S. 37–39, 649–651. 15 Text Nr. 2 im Birken-Rist-Briefwechsel: WuK 9 (Anm. 11), S. 39 f., 652–654.
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wird es Rist mit seiner Antwort vom 25. Juli 1646 zugesandt haben.16 Es ist 1647 mit Rists Lobrede gedruckt worden. Wie in vielen Gedichten Birkens spiegelt auch in diesem der Beginn die momentane Situation und Seelenlage des Autors wider. Die erste Strophe lautet: die Trauergedanken, des Herzens kummerlast der leidige Brast verwirren mein gemüt, es irren die kränkliche Sinnen; wie kan ich dann ein Lied voll geistiger Sachen beginnen, wie zwar meine Pflichtgebühr? Aufzuwarten unsrem Risten, trag’ ich hohe Hertzbegier.
Wie stets wird auch in diesem Gedicht die Andeutung der für Poesie ungünstigen Ausgangslage kontrastiv zu einer höchst kunstvollen Rühmung des vom Kaiser belohnten Dichters und zur Demonstration eigenen poetischen Vermögens genutzt. Es wird den jungen Dichter mit Genugtuung erfüllt haben, daß er sein Lied seinerseits als kaiserlich gekrönter Poet unterzeichnen konnte. Zwar nicht der Kaiser, aber der Comes Palatinus Martin Gosky, der Wolfenbütteler Hofmedicus, hatte ihm an seinem Geburtstag, dem 25. April 1646, den poetischen Lorbeer verliehen.17 Auch das nächste in Birkens Archiv erhaltene Schreiben Rists, ausgestellt am 4. November 1646,18 ist nach Wolfenbüttel adressiert worden, wo Birken sich damals aber schon nicht mehr aufhielt. Trotzdem hat er dieses Schreiben noch am Tag seiner Ausstellung erhalten.19 An diesem 4. November 1646 war er nämlich, von Lüneburg kommend, offenbar gleichzeitig mit der Post aus Wedel, in Winsen eingetroffen.20 Winsen liegt auf halber Strecke zwischen Wedel und
16 Gedicht Nr. 39 in der Sammlung S. v. B. Birken-Wälder: WuK 2 (Anm. 14), S. 55–57, 555–557; s. auch WuK 9 (Anm. 11). Text Nr. 3, S. 41 f., 654–656. 17 S. WuK 14 (Anm. 12), S. 33, 85: „Ab aulâ hâc Literatissimi Principis, tamquam è Parnaßo, discedere me vidisses, quippe ab Archiatro ejusdem, MARTINO GOSKIO, Comite Palatij Caesarei, Divae Poëseos Lauru ornatum et redimitum, quae ipsâ Die mihi Natali 21. oblata fuerat et collata, nîl tale cogitanti.“ [Von diesem Hof des hochgebildeten Fürsten schied ich wie vom Parnaß. Denn vom Leibarzt des Fürsten, Martin Gosky, einem kaiserlichen Hofpfalzgrafen, war ich mit dem Lorbeer der göttlichen Poesie geschmückt und bekränzt worden. Er wurde mir genau an meinem 21. Geburtstag dargebracht und aufgesetzt, ohne daß ich dergleichen geahnt hätte.] Man zählte damals den Tag der Geburt mit. Nach heutiger Konvention widerfuhr Birken die Ehrung an seinem 20. Geburtstag. 18 Text Nr. 4 im Birken-Rist-Briefwechsel: WuK 9 (Anm. 11), S. 43 f., 657–660. 19 Das bestätigt Birkens Empfangsvermerk auf dem Brief; s. WuK 9 (Anm. 11), S. 43. 20 WuK 14 (Anm. 12), S. 39m3.
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Lüneburg. Über Lüneburg bzw. seinen dort wohnhaften Freund Pipenburg ließ Rist seine Sendungen laufen. Birken hat die für ihn bestimmte also ,unterwegs‘ abgefangen. Rists Brief war abermals ein Zweitschreiben: Das erste, teilt er mit, war in Hamburg liegengeblieben. Mit dem Zweitbrief kamen die im letzten Schreiben angekündigten Bücher. Natürlich hatte Birken im Juli-Brief auch von seiner Dichterkrönung berichtet. Rist gratuliert. Daß er aber auch erklärt, zu einem Gratulationsgedicht habe die Zeit gefehlt, muß Birken als kränkenden Kontrast zu seinen eigenen Bemühungen bei vergleichbarem Anlaß empfunden haben. Beantwortet hat Birken Rists Schreiben nicht, denn drei Tage nach dem Empfang desselben, am 7. November 1646, traf er persönlich, offenbar unangemeldet, bei Rist in Wedel ein.21
3 Gänzlich überraschend kann er dennoch nicht gekommen sein. Harsdörffers Schreiben an ihn vom 17. Oktober 1646, das Ratschläge für die Zeit nach dem Ausscheiden aus dem Hofdienst enthielt, Birken aber infolge seiner vielen Ortswechsel erst Mitte Dezember 1646 erreichte,22 enthält auch die Empfehlung, sich an Rist zu wenden. Der sei vorbereitet, schreibt Harsdörffer. Birken hatte nach seiner Entlassung eine etwas irrlichternde, seine Freunde irritierende Hin- und Herreiserei veranstaltet, die in der Randspalte seiner Autobiographie kenntlich wird:23 Am 17. Oktober 1646 traf er bei dem Pegnitzschäfer Myrtillus (Samuel Hund) in Gebhartshagen ein. Am 19. Oktober war er wieder in Wolfenbüttel, am 21. Oktober in Braunschweig, am 27. Oktober in Celle, am 2. November in Lüneburg, am 4. November in Winsen, von wo aus er am 5. November nach Hamburg und am 7. November nach Wedel reiste. Von dort ging er am 14. November abermals nach Hamburg und am 10. Dezember wieder nach Lüneburg, wo er dann, wohl durch Vermittlung Joachim Pipenburgs, eine Anstellung als Hauslehrer beim Verwalter des Klosters Lüne fand. Die Leistungsfähigkeit der damaligen Briefzustellungsdienste muß man heute neidvoll bewundern. Zu seinem Aufenthalt bei Rist in Wedel heißt es in Birkens Autobiographie: Visa deinde Hamipolis, celeberrimum ad Albim Emporium, et in illâ compellatus P. M. Slegelius, Reipublicae Physicus, olim Professor Publicus Jenensis; et in viciniâ, post tertium
21 Ebd., S. 39m9; S. 40, 88. 22 Text Nr. 10 im Birken-Harsdörffer-Briefwechsel: WuK 9 (Anm. 11), S. 16 f., 607–612. 23 WuK 14 (Anm. 12), S. 38m3–14, S. 39m1–15.
Rist als Gastgeber und Briefpartner Sigmund von Birkens
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lapidem, Daphnis illi Cimbricus, Johannes Ristius, Poëtarum hoc seculo vernaculi metri clarißimus, Vedeliani vici Parochus, ignobilis loci famosus hospes […]. [Danach sah ich Hamburg, die hochberühmte Handelsstadt an der Elbe. Dort besuchte ich P. M. Schlegel, den Stadtphysicus und einstigen ordentlichen Professor der Universität Jena, und in der Nachbarschaft, etwas mehr als drei Meilen entfernt, jenen Daphnis aus Cimbrien, Johann Rist, den unter den Lyrikern deutscher Zunge damals berühmtesten. Er war Pfarrer des Dorfes Wedel, berühmter Gast des geringen Ortes.]24
So klingt es in der Distanz des Rückblicks lange nach dem Erleben und fast ein Jahrzehnt nach Rists Tod. Die Sammlung S. v. B. Birken-Wälder enthält drei 1646 entstandene Sonette, deren erstes die für alle drei zutreffende Überschrift Uber eine Handelsstadt, ersichtlich Hamburg, trägt.25 In allen dreien erscheint die Stadt als eine Residenz Mammons, aus der Gott ausgetrieben worden ist. Des jungen Poeten eigene Mittellosigkeit dürfte zur Schärfung des kritischen Blicks beigetragen haben. Bei Rist verlebte er den Martinstag, woran er in späteren Gedichten mehrmals erinnert.26 Wenn das übermütig-burschikose Gesellschafts- und Trinklied Die Martinsgans, das ebenfalls in der genannten Sammlung enthalten ist,27 damals und zu diesem Anlaß geschrieben wurde, so muß es im Pfarrhaus sehr fidel zugegangen sein. Es enthält Strophen wie diese zum Lob der Martinsgänse: Jungfern geben sie Flederwischwaare, wann ihnen veralten die Jahr und Haare: daß sie die vor der Hölle verkauffen, und also dem weiber-kitzel entlauffen. Last Herrn Märtens Gesundheit einschenken, wir trinken sie springend auf Tisch und Bänken. Lustig ihr Brüder nun leeret die Humpen. wer nit nach hause kan gehen, mag gumpen.
24 Ebd., S. 40, 88. 25 Die Texte Nr. 41–43 der Sammlung S. v. B. Birken-Wälder: WuK 2 (Anm. 14), S. 58 f., 558–560. 26 In den Gedichten Nr. 7, v. 51–53, und Nr. 16 (Nr. 266 in der Sammlung S. v. B. Birken-Wälder: WuK 2 (Anm. 14), v. 9–12, im Birken-Rist-Briefwechsel: WuK 9 (Anm. 11), S. 49, 63). 27 Text Nr. 20 in der Sammlung S. v. B. Birken-Wälder: WuK 2 (Anm. 14), S. 33–35, 528–530. Zitiert sind Str. 6 (v. 26–29) und Str. 10 (v. 46–49). Die Plazierung des Liedes in der Sammlung macht allerdings eine frühere Entstehung, noch in Nürnberg, wahrscheinlich.
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Dort sind aber auch mehrere Texte in eines der beiden Alben eingetragen worden, die Birken geführt hat.28 Jeder von ihnen ist ein Widerhall von Gesprächen, die während Birkens Aufenthalt in Wedel geführt worden sind. Rists erste Eintragung ist ein Trostspruch, der den Adressaten gegen einen Arrivierten – Schottelius? – aufwertet: Non omnis Doctor, capite redimitus tegmine rubeo, Multi Thyrsigeri, pauci Bachi. [Nicht jeder ist ein Doktor, der einen roten Hut trägt, viele tragen einen Thyrsusstab, doch wenige sind echte Begeisterte.] Es folgt ein aus zwei Distichen bestehendes Epigramm „Ad Literatissimum Dominum BETHULIUM.“ Es ist eine Erklärung lebenslanger Freundschaft und eine Bitte um entsprechende Erwiderung zum Abschied: Ergo vale, et longos olim victurus in annos Haec tibj devoti pignora cordis habe. Obnixé ut tete obtestor, sic exigis â me, Sis memor ipse mei, sim memor ipse tui. [Leb’ also wohl; viele Jahre sollen dir zuteil werden. In allen bewahre diese Pfänder eines dir ergebenen Herzens. So inständig, wie ich dich anflehe, forderst du von mir: Gedenke du meiner, ich will deiner gedenken.]
Rist hat diese Eintragung auf den Martinstag des Jahres 1646 datiert. Es folgt ein Gott bewahre Floridan überschriebenes dreistrophiges Lied, das Birken ebenso wie das Epigramm und ein Gedicht von Rists Famulus Christian Christiani später in seine Autobiographie übernommen hat. Die beiden Eingangsstrophen des Ristschen Abschieds- und Ermutigungsliedes nehmen deutlich Bezug auf Birkens damalige Situation. Sie lauten:
28 P.Bl. O.6 (Hs. 152818) und P.Bl. O.6 (Hs. 152818a). Aus dem letzteren Buch stammen die im folgenden behandelten Eintragungen: S. 177v, 178r. Rists Eintragungen stehen als Texte Nr. 5a und Nr. 5b im Briefwechsel Birken-Rist: WuK 9 (Anm. 11), S. 44–46, 660–664. Die Eintragungen Rists – etwas verkürzt – und diejenige seines Famulus Christian Christiani hat Birken auch in seine Autobiographie aufgenommen: WuK 14 (Anm. 12), S. 40 f., 90. Eine der Eintragungen Rists hat Birken später veröffentlicht: GUELFJS oder NiderSächsischer Lorbeerhayn […]. Nürnberg 1669, S. 139 f.
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Floridan wilt du verlassen Dafnis wiesen und gezelt Dafnis der dich aus der massen liebet und in ehren hält? Ey so trete schnell herann, was dein Glük dir mehren kan Liebster Schäffer Floridan. Floridan leb’ ohne Sorgen den dein Schöpfer lebet noch was nicht heüte, das komt morgen, Glük und heil wird endlich doch dich so lieblich schauen an, das dein Hertz sich freüen kan liebster Schäffer Floridan.
Nicht in seine Autobiographie übertragen hat Birken ein Postskriptum Rists zu dem lateinischen Epigramm, das belegt, daß der Besucher über seine Wolfenbütteler Hoferfahrungen geklagt hatte. Es lautet: J primi favori della corte son piu dolci che il mele, ma alla fine piu amari che assentio, et piu che tossico velenosi. [Zuerst ist Hofgunst süßer als Honig, zuletzt aber bitterer als Wermut, und die falsche ist schlimmer als Gift.]
Den Besitzer des Albums wird das wenig getröstet haben. Das deutsche Stammbuchgedicht Rists läßt ein weiteres Thema erkennen, das bei Birkens Besuch eine Rolle gespielt hat. Es begegnet in der dritten Strophe: Floridan halt’ in gedanken Dafnis der dich redlich meint, dessen hertz ohn alles wanken dich bezeichnet seinen freünd, lieb’ Jhn und gedenk daran, was Dianen feder kann Gott beware Floridan.
Schon vor seiner Abreise aus Nürnberg im Frühwinter 1645 wird Birken gewußt haben, daß Harsdörffer – sicher auf Rists Betreiben hin – eine Frau in den Pegnesischen Blumenorden aufgenommen hatte, Sophia von der Lippe, eine Tochter des dänischen Kanzlers in den Herzogtümern Schleswig und Holstein; sie hatte den Namen Diana erhalten.29 Birken muß in Wedel Proben ihres poetischen Talents gesehen haben. Ihrer Erwähnung im Lied entspricht auch die Tatsache, daß Birken während seines Aufenthalts bei Rist ein zwölfstrophiges Lobgedicht
29 Zu dieser Dame s. Die Pegnitz-Schäferinnen. Eine Anthologie. Zusammengestellt und mit einer Einleitung versehen von Ralf Schuster. Mit einem Vorwort von Hartmut Laufhütte. Passau 2009, S. 51–53; Ralf Schuster: Die erste Pegnitzschäferin. Der lyrisch-briefliche Kontakt zwischen Sophia von der Lippe, Johann Rist und Sigmund von Birken. In: Informationen aus dem Ralf Schuster Verlag. Aufsätze, Rezensionen und Berichte aus der germanistischen Forschung 2 (2008), S. 35–52.
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mit dem Titel An die Edle Diana verfaßt hat, das Rist der Adressatin zustellte.30 In einem seiner folgenden Briefe berichtet er von ihrer Reaktion darauf,31 was Birken zu einem weiteren an Rist adressierten Diana-Lied veranlaßte. Beide hat er später in der Guelfis zum Druck gebracht.32 Rist hat den aus dem Hofdienst Entlassenen nicht nur bewirtet. Der war in Wolfenbüttel nicht nur kärglich, sondern auch unregelmäßig besoldet worden. Schon während der Zeit seines Dienstes hatte er Harsdörffer in Nürnberg um ein Darlehen bitten müssen.33 Offenbar war er ziemlich mittellos bei Rist angekommen. Der half ihm weiter: „A Ristio 1. Rosenobel.“34 heißt es in der Autobiographie zum Tag der Abreise. Wenig später, für die Zeit nach der Abreise aus Wedel, ist im Tagebuch noch einmal ein Geldbetrag in gleicher Höhe verzeichnet: „A Ristio 2 ducatos.“35 Es muß sich beide Male um Geschenke gehandelt haben; Darlehen hätte Birken schwerlich in seiner Autobiographie verzeichnet. Die Tage in Wedel sind offenbar in großer Harmonie verlaufen.
4 Danach gab es Irritationen. Rists erster Brief nach Birkens Besuch in Wedel datiert vom 25. November 1646.36 Er reagiert auf zwei Schreiben Birkens, deren Daten Rist nennt: 19. und 21. November. In einem davon hatte Birken von Mißerfolgen bei der Suche nach einer Anstellung berichtet. Rist weist antwortend auf den ungünstigen Zeitpunkt seiner Entlassung hin. Das entsprechende Dokument datiert auf den 9. Oktober.37 Einstellungstermin war Michaelis, der 29. September. Daß Birken damals in einer schwierigen Gemütsverfassung war und zu Argwohn und Überreaktionen neigte, zeigt sich in seinem Briefwechsel mit Harsdörffer, in Konzepten zu Briefen an seinen Bruder Christian und einer Anzahl damals ent-
30 Es ist mitgeteilt in WuK 9 (Anm. 11), S. 663 f. 31 Im Brief vom 28. Februar 1647, Text Nr. 8 im Birken-Rist-Briefwechsel: WuK 9 (Anm. 11), S. 50 f., 670–673. 32 Text Nr. 10 im Birken-Rist-Briefwechsel: ebd., S. 55 f., 676 f. Die Gedichte stehen in der GUELFJS (Anm. 28), S. 144–147, 147–150. 33 Zur verspäteten Auszahlung seines Gehalts in Wolfenbüttel s. Text Nr. 8, Z. 22–25, im BirkenHarsdörffer-Briefwechsel: WuK 9 (Anm. 11), Z. 22–25, S. 14. Zu Harsdörffers Darlehen s. ebd. Briefe Nr. 5, Z. 35–38, S. 10, und Nr. 12, Z. 10–12, S. 18. 34 WuK 14 (Anm. 12), S. 39m11. 35 Text Nr. 6 im Birken-Rist-Briefwechsel: WuK 9 (Anm. 11), S. 46 f., 664–667; die Zitate S. 47. 36 WuK 14 (Anm. 12), S. 40m6. 37 Ebd., S. 33.
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standener Gedichte. Er muß Rist beschuldigt haben, einen von Schottelius erwarteten Brief nicht an ihn weitergeleitet zu haben. Rist stellt energisch richtig: Was sonst mein geliebter herr von meiner ungunst und das Er dieselbe ohne verdienst müsse ertragen, so weitlaüffig klaget, so verstehe Jch solche Complementa nicht. Jch meine es mit Jhme und allen redlichen hertzen recht teütsch und auffrichtig, wüste ia nicht, das Jch Jhme die geringste ungunst erwiesen hette, bitte derowegen mich mit solchen gahr zu höfischen höfligkeiten zu verschonen, den der baürische Rist kan sich von natur damit nicht behelffen.
Der Zurechtweisung folgt eine ruhige Aufklärung des von Birken beargwöhnten Sachverhalts: Von herrn Pipenburg habe Jch ein schreiben erhalten nebenst demienigen, so Jch meinem herren habe zugefärtiget, nicht anders wissend, den das in gedachtem Briefe ein anderer vom herrn doktor Schötteln müste eingeschlossen sein, wie auch herr Pipenburg vermeinet, das Er in herrn doctor Schöttelij briefelein an mich würde zu finden sein. Es hat zwahr wolgemelter herr doktor Schottel an mich geschrieben und den herren Betulium mir bester mahssen anbefohlen, aber Jch habe kein ander Brieflein an den herren gefunden, kan demnach gantz nicht wissen, was es vor eine beschaffenheit damit haben mag, halte aber davor, das im falle Doktor Schottel geschrieben, solches entweder zu wolffenbüttel oder zu lüneburg sei beligen blieben, welches Jch vieleicht bei der negsten post erfahre.
Im übrigen teilt er mit, beide Schreiben Birkens seien vor drei Tagen, also am 22.11.1646, bei ihm eingetroffen. Erneut bietet er Birken Empfehlungsschreiben und sonstige Unterstützung an und schickt den zweiten in Birkens Autobiographie verzeichneten, vielleicht in einem der Briefe erbetenen Geldbetrag mit. Verwunderung bekundet er darüber, daß man Birken in Wolfenbüttel habe mittellos ziehen lassen. Anfang Dezember 1646 fand Birken, wohl durch Vermittlung Pipenburgs, eine Anstellung als Informator im Hause des Verwalters des Damenstifts Kloster Lüne bei Lüneburg, wenn auch nur für kurze Zeit; der Tod der Mutter seiner Schüler Mitte Februar 1647 setzte seiner Tätigkeit dort bald ein Ende.38 Wohl gleich zu Beginn dieser Zeit in Kloster Lüne wird das umfangreiche Preisgedicht auf Rist
38 S. ebd., S. 39m14 f. Die Frau des Gast- und Arbeitgebers starb am 14. Februar 1647. Die Eintragung in Birkens Autobiographie „Die 14. Februarii M〈onasterii〉 Hosp〈es〉.“ (S. 39m18 f.) beruht auf fehlerhafter Auflösung der von Birken verwendeten Abkürzungen. Es muß heißen: „Die 14. Februarii M〈ors〉 Hosp〈itae〉.“ Birken hat dem Witwer u. a. ein langes Trostschreiben gewidmet, das in einer deutschen und einer lateinischen Manuskriptversion erhalten ist: WuK 5: TodtenAndenken und Himmels Gedanken oder Gottes- und Todes-Gedanken. Hg. von Johann Anselm Steiger. Tübingen 2009, hier Text Nr. 5, S. 18–28, 544–556; im BETULETUM (PBlO. B.3.1.4). Nr. X, 6r–16r steht eine lateinische Version.
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entstanden sein, das dieser später im Neuen Teutschen Parnaß veröffentlichte.39 Birken bedient darin die Belobigungs- und Rühmungsposaune kräftig – „Dafnis/ Zier und Preis der Dichter“ – „süsser Orfeus Teutscher Lieder“ – und erinnert an die in Wedel genossene Gastfreundschaft: Noch ergetzen mich die Stunden/ da mich Dafnis ihm verbunden mit gewognem Freund-bewirten; da ich kond/ in seinen Triften/ meiner Hand Gedächtnis stiften/ da mich krönten seine Myrten: da ich von Dianen Tugend/ von dem Edlen Cimber-Kind/ meinen Pfeifen gabe Wind/ und von ihrer schönen Jugend. Da hab ich mein Leid geklaget: Echo hat es nachgesaget.
Auch der von Rist gespendete Trost und seine Album-Eintragungen werden erwähnt: Aber du hast mein Betrüben/ Dafnis! bald von mir genommen. Und was du für Liebeszeichen in mein Buch geschrieben hast: hat mir oft schon/ in der Last/ Trost und Labung können reichen.
Das lange Gedicht endet – den Tenor des Ristschen Epigramms aufnehmend – mit dem Gelöbnis lebenslanger Zuneigung und der Bitte um Gegenliebe und weiteren Briefkontakt. Man vermutet wohl richtig, daß Birken mit diesem Gedicht versucht hat, nach der Irritation und peinlichen Zurechtweisung vom November 1646 wieder ,gut Wetter‘ zu machen. Wann und wie das Lied zu Rist gelangt ist – vermutlich bald nach seiner Entstehung –, ist nicht zu erkennen. Das nächste Kontaktdokument ist ein nach Kloster Lüne adressierter Brief Rists vom 28. Februar 1647, den Birken am 6. März erhielt und am 18. März laut entsprechenden Notizen beantwortete.40 Rists Brief ist seinerseits ein Antwort-
39 Text Nr. 7 im Birken-Rist-Briefwechsel: WuK 9 (Anm. 11), S. 49 f., 667–670. Birken hat auch dieses Gedicht später (1669) in die GUELFJS (Anm. 28) aufgenommen, S. 162–165. Zitiert sind Str. 6 und Teile von Str. 7 (v. 51–60, 61 f., 65–70). 40 Text Nr. 8 im Birken-Rist-Briefwechsel: WuK 9 (Anm. 11), S. 50 f., 670–673.
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schreiben. Derjenige Birkens, auf den er reagiert, muß nach dem 14. Februar 1647 geschrieben worden sein; denn aus Rists Reaktion geht hervor, daß Birken vom Tod der Gattin seines Gastgebers an eben diesem Tag berichtet haben muß. Da Rist das ihm gewidmete Preisgedicht nicht – auch später nicht – erwähnt, muß Birken es noch früher übersandt haben. Daß Rist sich nicht bedankt haben sollte, ist kaum vorstellbar; also muß ein Brief auch von ihm voraufgegangen sein, der sich nicht erhalten hat. Mit Rists Brief gelangten in Wedel zurückgelassene Bücher zu Birken, auch solche Rists, die ihm früher versprochen worden waren.41 Ausführlich ist von Sophia von der Lippes Reaktion auf Birkens Preisgedicht die Rede, was das erwähnte zweite auslöste, das mit seiner Antwort vom 18. März 1647 zu Rist gelangt sein dürfte.42 Hauptgegenstand des Briefes ist aber Rists Mitteilung, er sei kürzlich in die Fruchtbringende Gesellschaft aufgenommen worden und werde am übernächsten Tag, also am 2. März 1647 in Hamburg der Aufführung seines Dramas Das Friedewünschende Teutschland beiwohnen. Auch Birkens momentane Situation findet Erwähnung: Angesichts der Lage auf dem Arbeitsmarkt solle Birken mit seiner derzeitigen Kondition zufrieden sein. Der Brief endet effektvoll: Er müsse schließen, schreibt Rist, weil er soeben vom Erzbischof von Bremen – dem späteren König Friedrich III. von Dänemark samt Gattin – zur gemeinsamen Reise nach Hamburg abgeholt werde. Der gönnerhafte Ton des Briefes und die prätentiöse Selbstinszenierung des Etablierten gegenüber dem zur Bewunderung genötigten armen Schlucker werden Birken kaum begeistert haben. Trotzdem reagierte er wunschgemäß – oder vielleicht doch nicht. Seinem Antwortbrief vom 18. März 1647 hat er ein langes Gratulationsgedicht zu Rists Aufnahme in den Palmenorden beigefügt.43 Es handelt, auf Früheres in Rists Biographie zurückgreifend, das Thema der schwierigen Vereinbarkeit weltlicher Ehren mit dem Amt des Geistlichen ab. Nach der obligatorischen Bekundung von Mitfreude über Rists Würde heißt es:
41 Im Brief vom 8.7.1646: ebd. Text Nr. 2, S. 39 f. 42 S. o. und Anm. 31. 43 Von Birkens Antwort wissen wir durch eine entsprechende Notiz auf Rists Schreiben vom 28. Februar 1647 (Anm. 31). Das Gedicht, Text Nr. 9 im Birken-Rist-Briefwechsel: WuK 9 (Anm. 11), S. 52–55, 673–675; Text Nr. 54 in der Sammlung S. v. B. Birken-Wälder: WuK 2, S. 64–67, 568–571, dürfte zusammen mit dem zweiten Diana-Gedicht (s. o. und Anm. 32) zu Rist gelangt sein. Zu diesem Gedicht s. Ralf Schuster: „Jst es hier nit Eitelkeit!“ Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Johann Rist als Beispiel für literarisches Konkurrenzdenken im Barock. In: Daphnis 34 (2005), S. 571–602.
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wie schicken sich zu hauff, ein Hirt und ein von Adel; ein Schäfer, und Poet? kan ungleich sonder tadel bey Risten werden gleich? wie schickt sichs, himmel-an den Seelen gehen vor, und seyn ein Edelman?
Zwar löst Birken diese provokante Kontrastkonstellation souverän in einem Kompliment auf: Rist kann eben alles; aber wirklich beantwortet wird die wohl doch nur scheinbar rhetorische Frage nicht. Und ob es nur als Kompliment gemeint ist, wenn es eingangs zu Rists Ordensnamen Der Rüstige heißt, Nun Riste rüstig heist, so heist ihn herr und knecht, worzu man ihn bedarf, in alle Sättel recht.
sei dahingestellt. Die Feststellung universeller Brauchbarkeit ist jedenfalls ein ungewöhnliches Lob für einen Geistlichen. Am Ende des Gedichts wird deutlich, worauf Birken eigentlich hinauswollte und was ihn Rist gegenüber besonders empfindlich machte: Jch bin kein kunstpoete; iedoch bin ich gewohnt, zu singen in die flöte, die an den ufer wächst, und thönet in dem Heyn. lasst mich den wenigsten von euren freunden seyn, und machet, daß durch eüch mich andre Schwanen kennen. Jch aber will hin fort mich, wie ich pflege, nennen des edlen Risten knecht. derselbe werd ich seyn, bis man spricht: Rist und Jch die Schreiben überein.
Hier ist jedes Wort ernstzunehmen. Was Birken vermißte und erstrebte, war die Anerkennung poetischer Gleichrangigkeit mit dem Vielgeehrten und entsprechendes eigenes Ansehen einschließlich der Mitgliedschaft in der Fruchtbringenden Gesellschaft. Immerhin war er sich erbrachter Leistungen bewußt: Hatte er doch mit der Fortsetzung der Pegnitz-Schäferey44 schon 1645 die nach der Opitzschen Hercinie45 künstlerisch bei weitem anspruchsvollste Prosaekloge verfaßt und ihr
44 Fortsetzung Der Pegnitz-Schäferey/ behandlend/ unter vielen andern rein-neuen freymühtigen Lust-Gedichten und Reimarten/ derer von Anfang des Teutschen Krieges verstorbenen Tugend-berümtesten Helden Lob-Gedächtnisse; abgefasset und besungen durch Floridan/ den Pegnitz-Schäfer. mit Beystimmung seiner andern Weidgenossen. Nürnberg 1645. Nachdruck in: Georg Philipp Harsdörffer. Sigmund von Birken. Johann Klaj. Pegnesisches Schäfergedicht 1644– 1645. Hg. von Klaus Garber. Tübingen 1966 (zweiter Bestandteil). 45 Martin Opitzen Schäfferey Von der Nimfen Hercinie. Brieg 1630. Neuausgabe hg. von Peter Rusterholz. Stuttgart 1969.
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mit dem Idyllion zu Harsdörffers Diana-Übersetzung ein lateinisches Pendant an die Seite gestellt,46 von anderem hier nicht zu reden. Er muß bei seinem vielfach bekundeten Selbstbewußtsein als Poet darunter gelitten haben, daß jener ihn in seiner momentanen Niedrigkeit zu beeindrucken suchte und daß er selbst danach trachten mußte, ihn, der ihn fördern, ihm aber auch schaden konnte, im Status gnädigen Wohlwollens zu erhalten. Birken hat Rist damals wohl mehr beneidet als bewundert, im Bewußtsein wohl damals schon eigener poetischer Überlegenheit. Daher die versteckten Anzüglichkeiten. Von Birkens Gedicht ist kein Druck bekannt. Man wüßte gerne, ob es wirklich ungedruckt geblieben ist, und, wenn ja, warum.
5 Ob Rist auf Brief und Gedicht geantwortet hat, wissen wir nicht. Jedenfalls aber hat es danach für lange Zeit keinen direkten Kontakt mehr gegeben. Hatte Rist die latente Animosität in dem Gratulationsgedicht erspürt und war gekränkt? Hatte Birken nach seiner Heimkehr nach Nürnberg im Frühwinter 1648 die nördlichen Netzwerke in ihrer Wichtigkeit für ihn herabgestuft? Nur weil es in einem der handschriftlich geführten Birkenschen Gedichtbücher steht, wissen wir, daß das auf den 16. Februar 1648 datierte, von Joachim Pipenburg unterzeichnete Ehrengedicht zu Rists 1648 erschienenem Andachtswerk zum Leiden und Sterben Christi von Birken geschrieben worden ist.47 Absprachen wird es mit Pipenburg, nicht mit Rist gegeben haben. Auch daß unter den Ehrengedichten zu Rists Liedersammlung Sabbahtische Seelenlust von 1651 ein Sonett Birkens zu finden ist,48 setzt nicht Absprachen mit Rist voraus: Harsdörffer, auch ein Beiträ-
46 Zu den verschiedenen Fassungen dieses Gedichtes – die wohl elaborierteste steht in Birkens Autobiographie: WuK 14 (Anm. 12), S. 25–27, 74–76 – s. ebd., S. 76–79. 47 Text Nr. 11 im Briefwechsel Birken-Rist: WuK 9 (Anm. 11), S. 56 f., 677 f.; Text Nr. 58 in der Sammlung S. v. B. Birken-Wälder: WuK 2 (Anm. 14), S. 70 f., 575 f. Gedruckt wurde das Gedicht in Rists Werk Der zu seinem allerheiligsten Leiden und Sterben hingeführter und an das Kreütz gehefteter Christus Jesus/ Jn wahrem Glauben und herzlicher Andacht besungen von Johann Risten. […] Hamburg 1648, S. [)()(iv]v / [)()(v]r. Als Verfasser zeichnete Joachim Pipenburg. 48 Text Nr. 12 im Birken-Rist-Briefwechsel: WuK 9 (Anm. 11), S. 57 f., 679. Es gibt keine Manuskriptüberlieferung. Gedruckt wurde das Gedicht in diesem Werk Rists: Sabbahtische Seelenlust/ Daß ist: Lehr- Trost- Vermahnung- und Warnungsreiche Lieder über alle Sontägliche Evangelien deß gantzen Jahres/ Welche/ so wol auf bekante/ und in reinen Evangelischen Kirchen gebräuchliche/ alß auch gantz Neue/ Vom Herren Thoma Sellio/ bei der hochlöblichen Statt Hamburg bestaltem Cantore/ wolgesetzete Melodeien können gesungen und gespielet werden/
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ger, wird den seit Ende 1648 wieder in Nürnberg anwesenden Birken und andere Freunde zur Mitwirkung aufgefordert und die Beiträge übermittelt haben. Selbst daß Rist mit mehreren Gedicht-Beiträgen in Birkens Gratulations-Ekloge von 1650 zur Wahl Pipenburgs in den Rat der Stadt Lüneburg beteiligt ist – das Werk wurde in Lübeck gedruckt49 –, setzt nicht direkten Kontakt zwischen Birken und Rist voraus: Pipenburg wird Rists Beiträge erbeten haben. Pipenburgs zahlreiche Briefe sind leider aus Birkens Archiv verschwunden. Von einer mehrjährigen Kontaktunterbrechung ist auszugehen.
6 Zum 31. Mai 1656 findet sich die erste Protokollnotiz in einem der Birkenschen Konzeptbücher zu einem Brief Birkens an Rist.50 Bei aller Fragmentarik dieser Protokollnotizen: Der Eingang dieser läßt erkennen, daß es lange keinen direkten Kontakt gegeben hatte. Endlich konnte Birken den Triumph einer gewissen Gleichrangigkeit feiern, so daß sein Schreiben – wir kennen es nicht – ein Gegenstück zu Rists Renommierbriefen vom 8. Juli 1646 und vom 28. Februar 1647 gewesen sein dürfte. Die Passage, um derentwillen der Brief geschrieben wurde, lautet in Birkens Protokollnotiz: Hoffe, mein hochgeehrter herr werde sich mit mir, krafft alter wohlneigung und Freundsgunst, freuen, wann ich berichte etc. Triplex honor.
Mitzuteilen war, daß Birken am 14. September 1655 endlich – die Bemühung darum hatte 1652 begonnen – die Würde eines Comes Palatinus Caesareus und der Adel verliehen worden war – aus Herrn Betulius wurde Herr von Birken – und daß die doppelte Ehrung am 12. Oktober 1655 durch den Empfang einer goldenen
Gott zu Ehren und Christlichen Hertzen zu nützlicher Erbauung abgefasset und herausgegeben von Johann Rist. Lüneburg 1651. 49 Ehrenzuruf/ auf H. Joachim Pipenburgs in Lüneburg betrettene Rahtstelle/ Jn welche Er/ nächstverwichenen Jahrs am 8. Tag des Lenzen-Monds durch einhällige Wahl erhoben worden, In einer Geistlichen Schäferey zugesrieben von Sigmund Betulien. aus Nürnberg Jm 1650ten Jahr der Heilgeburt. Gedrukt durch Heinrich Pillenhofer. Rists Beiträge sind wie diejenigen anderer Freunde in den erzählten Vorgang integriert. 50 Text Nr. 13 im Birken-Rist-Briefwechsel: WuK 9 (Anm. 11), S. 59, 679–681.
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Ehrenkette vervollständigt worden war.51 Abermals wissen wir nicht, ob und wie Rist reagiert hat. Am 18.5.1658 hat Birken geheiratet und für zweieinhalb Jahre seinen Wohnsitz nach Bayreuth verlegt.52 In seinem Archiv gibt es als Manuskript Rists ein aufwendiges lateinisches Gratulationsgedicht.53 In der Überschriftgruppe, die an pompösem Umfang dem des Gedichtes – dreizehn Distichen – gleichkommt, sind Namen und Titel der Brautleute korrekt angegeben, das Hochzeitsdatum aber ist ausgespart und fälschlich der Monat April genannt. Rist reagiert also nicht auf einen von Birken versandten Hochzeitsbrief. Wer Rist informiert hat, ist mangels Kontextes ebensowenig zu ermitteln wie die Art, auf welche das Gedicht zu Birken gelangt ist. Gedruckt worden ist es offenbar nicht – zu spät eingetroffen? Daß Birken sich nicht bedankt haben sollte, ist kaum glaublich; es gibt aber in den uns zugänglichen Quellenbeständen keine Spur einer Antwort. Nach Birkens Heirat scheint wieder jahrelanges Schweigen geherrscht zu haben. Laut Tagebuchnotiz hat Birken am 10. Januar 1661 ein Exemplar des Ristschen Dramas Das friedejauchzende Teutschland gekauft.54
7 Erst für den 4. Dezember 1665 notiert Birken wieder den Empfang eines Briefes von Rist. Er ist in Birkens Archiv vorhanden. Am 24. November 1665 war er ausgestellt worden.55 Der mit diesem Brief beginnende letzte Abschnitt der Korrespondenz ist freundschaftlich und spannungsfrei. Anders als in den früheren Jahren erscheint nun Rist als der stärker Kontaktbedürftige. Der Neubeginn nach so langer Zeit war mühsam: Schon zweimal, schreibt Rist, habe er in jüngerer Zeit Briefe versandt, müsse aber befürchten, sie seien nie
51 S. Prosapia/Biographia: WuK 14 (Anm. 12), S. 53m25–29, 33–47; Texte Nr. 48–51 im BirkenWindischgrätz-Briefwechsel: WuK 9 (Anm. 11), S. 331–350, 1088–1100. Das Palatinatsdiplom als notariell beglaubigte Abschrift: Text Nr. 49a. 52 S. WuK 10: Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Margaretha Magdalena von Birken und Adam Volkmann. Hg. von Hartmut Laufhütte und Ralf Schuster. Berlin, New York 2010. Texte Nr. 1–42, S. 13–88, 415–493 im Briefwechsel Birkens mit seiner späteren Frau. 53 Text Nr. 14 im Birken-Rist-Briefwechsel: WuK 9 (Anm. 11), S. 59 f., 681–683. 54 Kröll (Anm. 9). Bd. 1, S. 63; PBlO. B.2.1.3, 22r: „Didacum de Lequilis Historiam Austriae bey Tauber gekaufft à 6 ⅝ Gulden. Friedjauchzendes Teutschland pro 14 Kreuzer. Dieses Herrn Bechman geschickt.“ 55 Text Nr. 15 im Birken-Rist-Briefwechsel: WuK 9 (Anm. 11), S. 60 f., 683–686. Die entsprechende Tagebuchnotiz: Kröll (Anm. 9) Bd. 1, S. 210 f.; PBlO. B.2.1.4, 34r: „Schreiben vom Rüstigen. 160.“
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angekommen. Das bestätigten ihm Briefe Martin Kempes – Rist weiß von dessen Besuch bei Birken im September 166556 –, der zwar Grüße Birkens ausgerichtet, vom Eintreffen Ristscher Briefe bei Birken jedoch nichts gewußt habe. Schon längere Zeit vor dem Empfang des Ristschen Briefes aber wußte Birken schon von Rists Bemühen um eine Wiederbelebung des alten Kontaktes. Am 5.8.1665 nämlich – der Brief traf am 10. August 1665 bei Birken ein – hatte Kempe geschrieben: Waß die letzten worte in mejnem vorigen schreiben von dem Herrn Ristio betrifft, verspür ich daß freylich ein langes schreiben muß aufgefangen oder verwarloset sein; Denn derselbe hat mir auß gutem Vertrauen committirt, Jch solte Mejnen Hochgeneigten Gönner, der Alten kundschafft, so sie untereinander gehabt, erinnern, und bitten ob, ihme, Herrn Ristio, durch des Edlen Herrn von Bircken gewogenheit vor geld nicht könt ein Exemplar von dem nie genug gepriesenen Mausoleo zukommen, denn er hätte zwar viel davon gehört, aber noch Nicht selbiges gesehen. Bath dabey ich möchte mein bestes thun und zum wenigsten ein handbriefchen an ihn vom Herrn von Bircken außwürken. Jn deßen hat er abermahl 2 briefe an mich gesendt, und alle mahl gefragt, ob ich nicht von Nürnberg etwas zur Antwort sejnetwegen erhalten hätte. Wo demnach der Wehrteste Floridan bey jetzigem Gutscher, welcher dieses überbringt, etwas an Herrn Risten durch mich will zur Antwort bestellen laßen, will ich mich bestes fleißes darum bekümmern, daß es gefällig angebracht werde.57
Trotz dieses Angebots hat Birken sich erst auf Rists eigenen Novemberbrief hin gerührt. Die beiden von Rist selbst erwähnten früheren haben nirgends außer in Kempes Erwähnung des einen eine Spur hinterlassen. Rists Novemberbrief ist der erste überhaupt, der im Briefeingangsregister der seit 1660 – mit Lücken 1661 (ab Mai), 1662 und 1663 – geführten Birkenschen Tagebücher erscheint. In überaus verbindlich-freundschaftlichem Ton bittet Rist in diesem Schreiben um ein Ehrengedicht zum zweiten Teil seines Werkes Verschmähete Eitelkeit und verlangte Ewigkeit; es sollte dem Werk „als Ein ohnfehlbares zeügnisse unserer alten, hertzlichen Vertrauligkeit […] fürgetrukket werden“. Birkens Antwortbrief wurde laut entsprechendem Vermerk am 11. Dezember 1665 geschrieben, das Gedicht laut Tagebuchnotiz am 16. Dezember; ausgelaufen ist die Sendung an Rist zusammen mit mehreren Büchern, darunter einem, um das Rist schon früher Martin Kempe hatte bitten lassen, am 19. Dezember.58
56 S. Texte Nr. 12–14 im Birken-Kempe-Briefwechsel: WuK 13.1 (Anm. 1), S. 36–38, 482–486. Kempe war am 19. oder 20. September 1665 in Nürnberg eingetroffen und am 27. oder 28. September 1665 wieder abgereist. 57 Ebd., S. 35. 58 Kröll (Anm. 9). Bd. 1: zum 16. Dezember 1665, S. 212; PBlO. B.2.1.4, 34v: „Lied zu des Rüstigen Ewigkeit. 96 Verse.“; zum 19.12.1665, S. 213; ebd.: „Schreiben an Herrn Risten, cum Mausoleo, Danubio, Kressischem EhrenTempel etc. durch Herrn Kramern.“
Rist als Gastgeber und Briefpartner Sigmund von Birkens
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Rists Werk erschien erst 1668 nach Rists Tod und ohne Birkens Gedicht.59 Dieses umspielt das Thema des Buches, für das es bestimmt war, und rekapituliert eingangs abermals die Anfänge der Beziehung: Jch gedenke noch daran: Neünzehn Herbste sind gezehlet, seit ich mich erinnern kan, wie sich hat mein Wunsch vermählet mit dem Glück, zu sehen dich Edler Rist! da deinen Säiten, die ich ehrte sonst von weiten, mein Gehör kond nähern sich. Oftmals hab ich ja bedacht, Dafnis ô du Preis der Hirten! bey des Märtens Gänse Schlacht, deiner Hütte Freüd-bewirten. Mich erinnert noch daran dein Gedächtnis auf der Rinde, da ich deinen Herzwunsch, finde: Gott bewahre Floridan!
Auch des letzten, lange zurückliegenden Briefkontakts wird wehmütig gedacht: Eilfmal ward das Blumen Land angekleidt mit bunter Zierde: seit daß gab Ein Ferdinand dir und mir zugleich die würde, die sich von der Pfalze nennt. du hast und ich hab geschrieben: wo sind unsre Schreiben blieben? wer hat also uns getrennt?
Birken bezieht sich auf den Eingang von Rists Schreiben, wo dieser mitteilt, sein Brief sei der dritte, den er „in weiniger Zeit“ gesandt habe, und vermutet, da die
59 Der verschmäheten Eitelkeit Und Der verlangten Ewigkeit Ander Theil/ Jn vier und zwantzig erbäulichen Seelengesprächen/ Und eben so viel Lehr-reichen Liedern/ […] dem allerhöhesten GOTT zu schuldigsten Ehren/ Erbauung seiner Kirchen/ und wieder aufrichtung des leider! gahr zerfallenen Christenthumes öffentlich herfür gegeben von Johann Rist. Frankfurt a. M. 1668. Der erste Teil war 1658 in Lüneburg im Verlag der Sterne erschienen. Birkens ungedruckt gebliebenes Gedicht ist der Text Nr. 16 im Birken-Rist-Briefwechsel: WuK 9 (Anm. 11), S. 63 f., 686–688; Text Nr. 266 in der Sammlung S. v. B. Birken-Wälder: WuK 2 (Anm. 14), S. 335–338; 935–937. Zitiert sind die Strophen 1, 2 und 4 (v. 1–16, 25–32).
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früheren unbeantwortet geblieben waren, seien sie wohl nicht an ihr Ziel gelangt. Tatsächlich sind in Birkens Tagebuch keine früheren Eingänge von Briefen Rists verzeichnet, auch von einem Schreiben Birkens an ihn findet sich keine Spur. Doch auch wenn man die fehlenden Briefe miteinbezieht: Es hatte eine jahrelange Kontaktunterbrechung gegeben. Die letzte Phase der Korrespondenz ist dadurch gekennzeichnet, daß Rist keine Notwendigkeit mehr empfand, sich gegenüber dem Jüngeren gönnerhaft hervorzutun, und dieser, mit latenter Agressivität zu reagieren. Endlich verkehrte man, wie von Birken früh erstrebt, ,von gleich zu gleich‘. Dazu paßt, daß sich die Korrespondenz in der kurzen Schlußphase stark verdichtete. Auf Birkens Sendung vom 19. Dezember 1665 hat Rist mit einem sehr bewegenden Brief am 2. März 1666 reagiert; Birken hat ihn am 11. März 1666 erhalten.60 Rists Freude über die Neubelebung des so lange unterbrochenen Kontaktes muß groß gewesen sein. Jede der zahlreichen Beilagen zu Birkens Brief wird ausführlich gewürdigt, besonders liebevoll einige Kupferstiche, die Birken in der Tagebuchnotiz zu seinem Brief gar nicht erwähnt hatte. Dazu schreibt Rist: Jch bin diser kunst Ein überaus grosser libhaber, kan Es demnach Mein hochwehrter Freünd nimmermehr glaüben, wie hoch Er Mich durch übersendung so vieler zierlicher kupferstüklein Jhme hat verpflichtet, wer mir Ein kupferbildnisse sendet, machet Mir damit mehr Freüde, als mit Einem paar Rosenobel, den solche kunststükke belustigen mich von Hertzen.
Ganz ohne das früher so auffällige Renommieren mit Kontakten zur ,großen Welt‘ geht es dann doch nicht: Matthäus Merian, in fürstlichem Auftrag unterwegs nach Schweden zum Grafen Wrangel, habe ihn besucht und Grüße Wrangels und zweier Grafen Königsmarck übermittelt. Aber diesmal wird die Angeberei entschärft durch Einbeziehung des Briefpartners: Mit Merian habe er sich über Birkens in Arbeit befindliches Geschichtswerk, den Spiegel der Ehren, unterhalten, von dem Birken ein Heft und Bilder mitgeschickt hatte. Von Birkens rasch, am 15. Mai 1666, erfolgter Antwort, die er einem nach Norden reisenden Famulus Johann Michael Dilherrs mitgegeben hat, gibt es zwar ein knappes Konzept,61 es läßt aber nicht erkennen, wie weit Birken sich auf den neuen Vertraulichkeitston eingelassen hat, von dem freilich schon sein letztes Gedicht bestimmt war.
60 Text Nr. 17 im Birken-Rist-Briefwechsel: WuK 9 (Anm. 11), S. 64–67, 688–693. 61 Text Nr. 18. Ebd., S. 67, 693 f.
Rist als Gastgeber und Briefpartner Sigmund von Birkens
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In seinem nächsten in Birkens Archiv erhaltenen Schreiben, das Rist am 14. September 1666 ausgestellt und das Birken am 24. September erhalten hat,62 äußert Rist die – wohl zutreffende – Vermutung, seine Antwort auf Birkens Maibrief sei verloren gegangen. Es hatte ein im voraufgegangenen Brief angekündigtes Gedicht Rists zum Spiegel der Ehren und eine Beilage für Dilherr enthalten. Der Brief läßt erkennen, daß Birken im Maibrief weitere Kupferblätter angekündigt hatte. Bei den Plünderungen 1643 und – im Nordischen Krieg – 1658 hatte Rist eine Kupferstichsammlung verloren, zu deren Neuaufbau Birkens Blätter beitrugen. Durch eine Notiz auf Rists Schreiben und eine Tagebuchnotiz wissen wir, daß Birken auf diesen Brief am 20. bzw. 24. Oktober 1666 geantwortet hat.63 Rists letztes in Birkens Archiv erhaltenes Schreiben datiert vom 22. Dezember 1666, Birken hat es am 12. Januar 1667 erhalten.64 Es ist die Antwort auf seinen Oktoberbrief. Er habe mit ihr so lange gewartet, schreibt Rist, weil er gehofft habe, Birken werde doch noch den verspäteten Eingang des Briefes mit dem Ehrengedicht bestätigen. Nun schickt er eine Zweitschrift des Gedichtes mit. Dem ersten Historiker des Pegnesischen Blumenordens, Johannes Herdegen, hat sie noch vorgelegen. Doch wie fast alle von ihm genutzten Dokumente ist sie aus Birkens Nachlaß verschwunden.65 Wir wissen nicht, ob Birken noch einmal geantwortet hat.
8 So gab es ein friedlich-freundliches Ende, das von beiden so empfunden wurde. Wie sehr anders es vorher gewesen war, bestätigen Äußerungen Birkens gegenüber Dritten aus der Zeit, in der man sich anschwieg. Im Konzept eines Briefes an den Lüneburger Freund Joachim Pipenburg vom 12. Februar 1653 hatte Birken geschrieben:
62 Text Nr. 19. Ebd., S. 68 f., 694–696. 63 Kröll (Anm. 9). Bd. 1, S. 254; PBlO. B.2.1.4, 47v (zum 24.10.1666): „Schreiben an den Rüstigen 91.“ 64 Text Nr. 20 im Birken-Rist-Briefwechsel: WuK 9 (Anm. 11), S. 69–71, 697–701. 65 Als Text Nr. 20a (ebd., S. 71 f., 702 f.) ist es nach Herdegen (Historische Nachricht von deß löblichen Hirten- und Blumen-Ordens an der Pegnitz Anfang und Fortgang/ biß auf das durch Göttl. Güte erreichte Hunderste Jahr/ mit Kupfern geziert, und verfasset von dem Mitglied dieser Gesellschaft Amarantes. Nürnberg 1744, S. 263–266) mitgeteilt: WuK 9 (Anm. 11), S. 71 f., 702 f. Im Spiegel der Ehren […] (1668) ist es nicht gedruckt worden; das Werk enthält gar keine Ehrengedichte.
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Rist, macht sich grösser, als er ist, und den Schäfer Floridan kleiner. er hat mich zum Pförtner hinter seinen Parnaß gesetzt. Er soll hören, daß er kein Apollo, sondern ein Marsjas und Reimenleimer ist.66
Den Anlaß für diesen Wutausbruch kennen wir. Rist hatte 1652 in seinem Neüen Teütschen Parnass das bereits erwähnte, Jahre zuvor zu einem anderen Anlaß geschriebene ,Gutwettergedicht‘ im als Nebenbergelein betitelten EhrengedichteAnhang an die allerletzte Stelle gesetzt.67 Der Grund für Birkens Zorn aber liegt tiefer: im Bewußtsein eigener poetischer Überlegenheit, der noch keine Außengeltung entsprach. Hörbar gemacht hat er Rist gegenüber seine Einschätzung, wie zu zeigen war, nur indirekt. Gut anderthalb Jahre später, im Oktober 1654, steht im Konzept eines Briefes an denselben Partner: „Jch achte Risten zu unrüstig, dergleichen vor den Tag zu bringen.“68 Mangels Kontextes ist nicht zu erkennen, welcher Vergleich mit einem eigenen Werk oder welches von Pipenburg ihm zur Kenntnis gebrachte Projekt Rists den Anlaß zu dieser abschätzigen Rede geboten hat. Wenn Birken sich auf Eigenes bezog, so könnte es eines der beiden 1652 und 1653 erschienenen Gedichte-Bücher gewesen sein,69 die 1652 erschienene Fried-erfreuete Teutonie70 oder auch das ebenfalls 1652 aufgeführte und veröffentlichte Drama Psyche.71
66 PBlO. B.5.0.3, 7v. 67 Neüer Teütscher Parnaß/ […] Von Johann Risten. Lüneburg 1652. Nachdruck Hildesheim, New York 1978, S. 917(2)–920. 68 PBlO. B.5.0.3, 33v. 69 Geistlicher Weihrauchkörner Oder Andachtslieder I. Dutzet; Samt einer Zugabe XII Dutzet Kurzer Tagseufzer. Nürnberg 1652. Zu diesem Werk s. Matthias Clemens Hänselmann: „Gott wird dich seelig machen“. Sündenbewußtsein und Heilsgewißheit in Sigmund von Birkens Geistlichen Weihrauchkörnern. In: Informationen aus dem Ralf Schuster Verlag. Aufsätze, Rezensionen und Berichte aus der germanistischen Forschung 4 (2010), S. 29–50. – Schäfer Floridans/ Poetischer Liebes-Blumen I. Sträußlein/ gepflücket und gebunden an der Pegnitz. 1653. Bey Jacob Pillenhofer zufinden. 70 Die Fried-erfreuete TEVTONJE. Eine Geschichtschrifft von dem Teutschen Friedensvergleich/ was bey Abhandlung dessen/ in des H. Röm. Reichs Stadt Nürnberg/ nachdem selbiger von Osnabrügg dahin gereiset/ denkwürdiges vorgelauffen; mit allerhand Staats- und Lebenslehren/ Dichtereyen/ auch darein gehörigen Kupffern gezieret/ in vier Bücher abgetheilet/ ausgefertiget von SIGISMUNDO BETULIO, I. Cult. Caes. P. Nürnberg. In Verlegung Jeremiä Dümlers/ im 1652. Christjahr. 71 Von der Aufführung am 11. November 1652 wissen wir durch Birkens Autobiographie: WuK 14 (Anm. 12), S. 49m6–12. Gedruckt erhalten ist nur eine späte Bearbeitung im Anhang der Poetik Birkens: Teutsche Rede-bind und Dicht-Kunst/ oder Kurze Anweisung zur Teutschen Poesy/ mit Geistlichen Exempeln: verfasset durch ein Mitglied der höchstlöblichen Fruchtbringenden Gesellschaft den Erwachsenen. Samt dem Schauspiel Psyche und einem Hirten-Gedichte. Nürnberg 1679. Nachdruck Hildesheim, New York 1973. Das Drama steht auf S. 389–516.
Rist als Gastgeber und Briefpartner Sigmund von Birkens
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Abermals ein halbes Jahr später, im Sommer 1655, erfuhr der Lübecker Freund Matthäus Sassenhagen über Rist: „Er schreyt seinen Namen und schreibet ihn von sich überallhin aus.“72 Und noch am 13. März 1656, kurz bevor er seinen Triumphbrief losschicken konnte, schrieb er dem Nürnberger Lautenvirtuosen und Komponisten Georg Walch im Zusammenhang von Ausführungen zu Nürnberger Musikern über Rist und seinen Komponisten Johann Schop, mit dem jener 1654 die Alltägliche Hausmusik herausgebracht hatte: Herr Rist macht sich so groß mit seinem Schopen: Und ich wolte wetten, wann die herren mit mir singend würden, wir wolten machen, daß sie sich vor uns in den Beerenkasten ja gar in das hundsloch hinein verkriechen solten.73
Solche Äußerungen lassen erkennen, mit welcher Genugtuung Birken am 31. Mai 1656 den Brief vom „triplex honor“ abgeschickt hat.
72 PBlO. B.5.0.3, 52r. 73 Ebd., 76r. Das von Rist und Schop gemeinsam herausgebrachte Werk: Frommer und Gottseliger Christen Alltägliche HAußmusik Oder Musikalische Andachten […]. Lüneburg 1654.
Nicola Kaminski
„Monatliche Unterredungen, ist ein Journal“ Rists „Jänners“- bis „Brachmonats“-Unterredungen im Horizont von Zeitschriften-/Fortsetzungsliteratur
1 Vorüberlegungen Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist ein systematisches Interesse an der spezifischen Faktur und Funktionsweise von Zeitschriften- bzw. Fortsetzungsliteratur (was nicht notwendig zusammenfallen muß),1 einem Untersuchungsfeld, an dessen theoretischer Absteckung und exemplarischer Erschließung ich seit 2009 zusammen mit Kollegen aus Bochum und Marburg arbeite.2 Ihr Gegenstand ist ein von der Forschung immer noch sehr vernachlässigtes Textcorpus,3 für das sich die Bezeichnung „Monatsgespräche“ eingebürgert hat,
1 Vgl. Nicola Kaminski, Nora Ramtke, Carsten Zelle: Zeitschriftenliteratur/Fortsetzungsliteratur: Problemaufriß. In: Zeitschriftenliteratur/Fortsetzungsliteratur. Hg. von dens. Hannover 2014 (Bochumer Quellen und Forschungen zum achtzehnten Jahrhundert 6), S. 7–13 („Ordnung des Forschungsfeldes“). 2 Vgl. außer dem in Anm. 1 genannten Sammelband, der die Beiträge des Bochumer „Werkstattgesprächs Zeitschriftenliteratur/Fortsetzungsliteratur“ vom 17./18. Mai 2012 dokumentiert, Nicola Kaminski, Volker Mergenthaler: „Der Dichtkunst Morgenröthe verließ der Erde Thal“: Viel Lärmen um Nichts. Modellstudie zu einer Literatur in Fortsetzungen mit einem Faksimile des Gesellschafters oder Blätter für Geist und Herz vom April 1832. Hannover 2010, sowie Nicola Kaminski: Zeitschriftenpublikation als ästhetisches Versuchsfeld oder: Ist Kleists „Verlobung“ eine Mestize? In: Zeitschrift für deutsche Philologie 130 (2011), S. 569–597. Ferner Nicola Kaminski/ Volker Mergenthaler: Zuschauer im Eckfenster 1821/22 oder Selbstreflexion der Journalliteratur im Journal(text). Hannover 2015 (im Druck). Unter dem Titel „Journalliteratur: Formatbedingungen, visuelles Design, Rezeptionskulturen“ formiert sich derzeit das Projekt einer Bochumer, Marburger und Kölner Forschergruppe. 3 Monographisch steht die Pionierstudie von Alfred Jericke: Johann Rists Monatsgespräche. Berlin, Leipzig 1928 nach wie vor alleine da. Die Dissertation von Thomas Albert Mast: The prose author Johann Rist. A contextualized study of his non-dramatic works. College Park, University of Maryland 1998 untersucht die ‚Monatsgespräche‘ immerhin schwerpunktmäßig (S. 120–282). Auch ausschließlich den ‚Monatsgesprächen‘ gewidmete Aufsätze sind rar, vgl. jüngst Stefanie Stockhorst: Wissensvermittlung im Dialog. Literarische Pflanzenkunde und christliche Weltdeutung in den Rahmenstücken von Johann Rists Monatsgesprächen und ihrer Fortsetzung durch Erasmus Francisci. In: Polyhistorismus und Buntschriftstellerei. Populäre Wissensformen und Wissenskultur in der Frühen Neuzeit. Hg. von Flemming Schock. Berlin, Boston 2012 (Frühe Neuzeit 169), S. 67–90, sowie den Beitrag von Jörg Wesche im vorliegenden Band. Vgl. außerdem das
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wie Johann Rist selbst im „Vorbericht“ zur Märtzens-Unterredung zusammenfassend die ersten beiden der 1663 bis 1668 erschienenen Gesprächslieferungen nennt.4 Im Zentrum stehen soll die Frage, inwiefern diese ‚Monatsgespräche‘ sich selbst als journalartiges Fortsetzungsunternehmen reflektieren und inwiefern sie zeitgenössisch bzw. beinahe noch zeitgenössisch, bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts, in einem solchen Horizont wahrgenommen werden. Damit ist programmatisch ein vorklassifikatorischer, dominant synchroner bzw. nur mit geringem zeitlichen Abstand retrospektiver Blickwinkel gewählt von einem Standpunkt aus, den Herbert Jaumann (mit Blick auf Thomasius’ Monats-Gespräche 1688/1689) als „Umbruchsituation“ so entworfen hat: Charakteristisch für diese Umbruchsituation ist nicht nur einfach die Gattungsinnovation, das Auftauchen der mehr oder weniger neuen Gattung der sogenannten ‚Journale‘, also die Amplifikation des Gattungsspektrums. Charakteristisch ist mindestens ebensosehr die instabile Identität vieler, nicht nur der neuen Publikationsgenres in dieser Situation. Die Kurzlebigkeit der meisten neuen Journale […] ist für diese Labilität der Genres nur ein Symptom. Diese instabile Identität der Gattungen, diese Labilität – das heißt auch: Durchlässigkeit der Grenzen zwischen den Genres, die sozusagen in verhältnismäßig kurzen Zeitabständen immer wieder neu zur Disposition stehen –, fördert einen publizistischen Prozeß des beständigen Suchens und Aushandelns […].5
Kapitel „Johann Rists ‚Monatsunterredungen‘ – ein Modell kritischer Gespräche“ in Sylvia Heudecker: Modelle literaturkritischen Schreibens. Dialog, Apologie, Satire vom späten 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2005 (Studien zur deutschen Literatur 179), S. 53–67, sowie zu Erasmus Franciscis Fortsetzung S. 68–97; allerdings zielt Heudeckers Untersuchung selektiv und entschieden teleologisch auf „die Bedeutung des Ristschen Unternehmens für die Ausbildung einer (kritischen) Zeitschriftenkultur und damit auch für das literaturkritische Schreiben, das mit Christian Thomasius’ dialogischen ‚Monatsgesprächen‘ später einen ersten markanten Höhepunkt erreicht“ (S. 53 f.). 4 Rists ‚Monatsgespräche‘ werden aus grundsätzlichen Erwägungen nach den (digital über Google Books zugänglichen) Originaldrucken zitiert, wobei nach der Erstzitation Zitate in nachgestellter Klammer im Text durch römische Zahl (Zählung der Gespräche) und arabische Zahl (Seitenzahl) bzw. Folioangabe belegt werden. Hier: Die AllerEdelste Tohrheit Der gantzen Welt/ Vermittelst eines anmuhtigen und erbaulichen Gespräches/ Welches ist diser Ahrt Die Dritte/ und zwahr Eine Märtzens-Unterredung/ Beschrieben und fürgestellet von Dem Rüstigen. Hamburg/ Jn Verlegung Joh. Naumanns Buchh. Jm Jahr 1664, fol. a 10r–b 8r („Vorbericht an den Auffrichtigen/ teütschen Leser“), hier fol. a 10r (also III/a 10r). „Monatsgespräche“ wird hier als Quasi-Titelbegriff durch größere Drucktype hervorgehoben. Da die Neuausgabe von Eberhard Mannack die originale Paginierung mitführt, sind Zitatidentifizierungen auch hier leicht möglich: Johann Rist: Sämtliche Werke. Unter Mitwirkung von Helga Mannack und Klaus Reichelt. Hg. von Eberhard Mannack. Bd. 4. Berlin, New York 1972. Bd. 5. Berlin, New York 1974. Bd. 6. Berlin, New York 1976. 5 Herbert Jaumann: Bücher und Fragen. Zur Genrespezifik der Monatsgespräche. In: Christian Thomasius (1655–1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Hg. von Friedrich Vollhardt. Tübingen 1997 (Frühe Neuzeit 37), S. 395–404, hier S. 397.
„Monatliche Unterredungen, ist ein Journal“
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Für Rists ‚Monatsgespräche‘ ist diese detaillierte Vorabklärung der Untersuchungsperspektive um so nötiger, als genaugenommen die Aussage, dieses Textcorpus sei von der Forschung vernachlässigt worden, nicht ganz korrekt ist. Während eines kurzen Zeitraums von gut zehn Jahren, angestoßen durch Alfred Jerickes immer noch bedenkenswerte monographische Studie von 1928,6 haben Rists ‚Monatsgespräche‘ nämlich regelrecht Schlagzeilen produziert als „Deutschlands erste Zeitschrift“.7 Ein später Nachhall dieses nationalistisch, mit-
6 Vgl. oben Anm. 3. 7 Jericke (Anm. 3), S. 184–191, verfährt hier noch sehr vorsichtig abwägend und sieht in Rists ‚Monatsgesprächen‘ den „Keim zu umfassenderen literarischen Formen, die früher oder später gefunden werden mußten, nämlich sowohl zum Konversations-Lexikon als auch zum literarischwissenschaftlichen Journal“ (S. 184). Nach eingehender Diskussion gelangt er zu der abschließenden Einschätzung: „Rists Monatsgespräche gelten ideell und bedingungsweise formal als erster Vorläufer der deutschen Zeitschrift“ (S. 191). Emphatisch aufgegeben wird diese „bedingungsweise“ verfahrende Klassifikation in der (unübersehbar nationalsozialistisch gerahmten) Dissertation von Frid Muth: Das Wesensgefüge der deutschen Zeitschrift. Versuch einer Vorgeschichte der deutschen Zeitschrift. Diss. München 1938, der (Jericke entschiedener verwertend, als er explizit zu erkennen gibt) im abschließenden Kapitel „Rist’s ‚Monatsgespräche‘, die erste deutsche Zeitschrift“ (S. 62–72) zu einem bedingungslosen Votum gelangt: „Rist’s Monatsgespräche von 1663 bis 1671 [sic] sind ihrem Inhalt und ihrer Form nach die erste Zeitschrift in Deutschland“ (S. 69). Für diesen politisch zweifellos erwünschten Standpunkt hatte Muth bereits im Vorfeld seiner Dissertation geworben, vgl. Frid Muth: Neue Wege und neue Funde in der Zeitschriftenforschung. In: Zeitungswissenschaft. Monatsschrift für internationale Zeitungsforschung 10 (1935), S. 97–107. Aus einem erneuten Vortrag dieser Gattungsarchegeten-These mit deutlichem Signalement der Stoßrichtung gegen Frankreich („Die ‚Monatsgespräche‘ von Rist zählen zu den Zeitschriften – eine Tatsache, die durchaus belanglos wäre, hätte nicht Frankreich jahrhundertelang den Anspruch erhoben, mit seinem ‚Journal des Sçavans‘ die erste Zeitschrift der Welt geschaffen zu haben.“) – Frid Muth: Deutschlands erste Zeitschrift. In: Zentralblatt für Bibliothekswesen 58 (1941), S. 43–46, hier S. 43 – resultiert im gleichen Organ eine Auseinandersetzung durch die scharfe Replik von Hellmut Rosenfeld: Um die älteste Zeitschrift! Ein Wort zur Klärung der Begriffe und Meinungen, ebd., S. 133–148, bes. S. 134 („Der junge Forscher, der diese These vertritt, zählt seine ‚Entdeckung‘ ‚zu den wichtigsten und erfolgreichsten Forschungsergebnissen junger deutscher Zeitschriftenkunde‘, obwohl er sie lediglich von Alfred Jericke übernahm und nur bedenkenloser formulierte und eingehender begründete. Er hofft damit eine besonders stolz gerühmte ‚Seite der Geschichte des französischen Pressewesens wertlos zu machen‘, verkennt dabei aber völlig die wirkliche Sachlage.“) mit Anm. 1. In der jüngeren Forschung ist es ruhig um Rists ‚Monatsgespräche‘ geworden, die nun defensiv in die Nachfolge von Harsdörffers Frauenzimmer Gesprechspielen gestellt und in der „Tradition der Dialogliteratur“ gesehen werden (so Stockhorst [Anm. 3], S. 71 und passim); geblieben ist aber der wenig produktive klassifikatorische Zugriff, der für das Verhältnis zum Journalgenre nur ein Ja oder Nein zuläßt. Vgl. exemplarisch etwa Dieter Lohmeier, Klaus Reichelt: Johann Rist. In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Hg. von Harald Steinhagen, Benno von Wiese. Berlin 1984, S. 347–364, hier S. 358: „Die Monatsgespräche sind nicht, wie zuweilen behauptet
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unter auch nationalsozialistisch aufgeladenen forschungsgeschichtlichen Hypes (immerhin gilt es das Gründungsjahr des französischen Journal des Sçavans um zwei Jahre zu unterbieten!) findet sich noch 1963 in Ernst Meiers Darstellung Zeitungsstadt Nürnberg, die anläßlich der (negierten) Frage, ob Harsdörffers Frauenzimmer Gesprechspiele als Zeitschriftenvorläufer zu werten seien, zu folgender kurioser Aussage gelangt: „Eher waren die ‚Monatsunterredungen‘, die 1663 bis 1668 Johann Rist in Frankfurt und Hamburg herausgab [sic], eine Zeitschrift, die erste in Deutschland, vielleicht die erste in der Welt, wenn sie überhaupt eine Zeitschrift war.“8 Ich möchte im folgenden einen anderen, ‚zeitgenössischeren‘ Weg wählen und dabei in drei Schritten vorgehen: erstens zeitlich nahe Rubrizierungen von Rists ‚Monatsgesprächen‘ sowie Reflexionen auf deren Format vor dem Hintergrund der von Jaumann beschriebenen „Umbruchsituation“ in den Blick nehmen; zweitens die ‚Monatsgespräche‘ selbst auf Reflexionen auf ihr Format befragen und dabei nicht nur das peritextuelle Umfeld, insbesondere Rists „Vorberichte“, mustern, sondern auch die eigentlichen Gesprächsszenarien, wobei besonders Synchronien bzw. Asynchronien von Publikationszeitpunkt und erzählter Zeit interessieren; drittens schließlich möchte ich vorschlagen, eine Szene aus der 1724 bis 1726 in Hamburg erscheinenden Moralischen Wochenschrift Der Patriot als intertextuelle Adoption von Rists ‚Monatsgesprächen‘ zum Gattungsvorläufer zu lesen.
wurde, Vorläufer der heutigen Zeitschriften, sondern gehören in die barocke Tradition der Gesprächspiele. Wie Harsdörffers Frauenzimmer-Gesprächspiele, die Rists Vorbild waren, haben sie eine doppelte Aufgabe. Zum einen sind sie als rhetorische Musterbeispiele gedacht, zum anderen geht es ihnen um Wissensvermittlung in lockerer, unsystematischer Form. Aber stärker als ihr Vorbild sind sie vom Aufschwung der Erfahrungswissenschaften geprägt, mit dem Rist vermutlich zuerst in Rostock und später immer wieder in Hamburg in Berührung gekommen ist.“ Ähnlich auch Mast (Anm. 3), S. 120. Vgl. dagegen Heudecker (Anm. 3), S. 54 f., die, durchaus nicht ohne Kenntnis der frühen zeitungswissenschaftlichen Diskussion (vgl. S. 54, Anm. 114), vergleichsweise unproblematisch an diesen Forschungsstand anknüpft mit dem Ziel zu zeigen, „warum die ‚Monatsunterredungen‘ als produktive Form früher Zeitschriften betrachtet werden können“. 8 Ernst Meier: Zeitungsstadt Nürnberg. Berlin 1963 (Schriften des Instituts für Publizistik an der Universität Erlangen-Nürnberg 2), S. 84.
„Monatliche Unterredungen, ist ein Journal“
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2 Rists ‚Monatsgespräche‘: zeitgenössische Rubrizierungen und Formatreflexionen „Monatliche Unterredungen“, so heißt es 1739 im 21. Band von Zedlers Universal-Lexicon, „ist ein Journal, oder monatliche Schrifft, welche im Jahr 1663 in 12 Stücken in 12mo herausgekommen ist. Die ersten sechs Monate, vom Jenner an bis in den Junius, hat Johann Rist ausgearbeitet, von den übrigen sechsen aber ist Erasmus Francisci der Urheber.“9 Mehreres ist an dieser Rubrizierung bemerkenswert. Zunächst die unmittelbare paratextuelle10 Umgebung innerhalb des Universal-Lexicons: Der Zufall der mise en page will es, daß auf der betreffenden Großfolioseite fast ausschließlich solche Einträge, nicht weniger als zwölf, zu finden sind, beginnend bei „Monatliche Auszüge, ist ein gelehrtes Journal oder Tage-Buch unter der Aufschrifft: Auszug neuer Bücher, welches mit dem Anfange des 1700 Jahrs zu Hannover ausgegeben zu werden angefangen“, endend mit „Monatliche Unterredungen, einiger guten Freunde von allerhand Büchern und andern annehmlichen Geschichten, ist ein Journal, oder monatliche Schrifft, welche zu Leipzig im Jahr 1689 und folgenden, in 12 Stücken herausgegeben worden“.11 Zehn dieser zwölf Lexikoneinträge, darunter auch der zu Rists ‚Monatsgesprächen‘, schließen mit dem Hinweis „(Siehe) Fabricius in der Vorrede zu Morhofs Polyhistor“.12 Und in der Tat liest man dort 1732 – und auch noch in der von Johann Joachim Schwabe bis auf das Jahr 1747 fortgesetzten
9 Grosses vollständiges UNIVERSAL-LEXICON Aller Wissenschafften und Künste, Welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden. […] Ein und Zwantzigster Band, Mi–Mt. Leipzig und Halle, Verlegts Johann Heinrich Zedler. 1739, Sp. 1042 s. v. ‚Monatliche Unterredungen‘. 10 Zur begrifflichen Modifikation der von Gérard Genette eingeführten Begriffe ‚Paratext‘ und ‚Peritext‘ im journalliterarischen Kontext, die ich analog auf die ebenfalls nicht monographisch organisierte Lexikonseite übertrage, vgl. Kaminski, Ramtke, Zelle (Anm. 1), S. 32–38 („Überlegungen zur Terminologie“). 11 Universal-Lexicon, Bd. 21 (1739) (Anm. 9), Sp. 1041 s. v. ‚Monatliche Auszüge‘ und Sp. 1042 s. v. ‚Monatliche Unterredungen, einiger guten Freunde von allerhand Büchern und andern annehmlichen Geschichten‘. 12 Ebd., Sp. 1041 s. v. ‚Monatliche Erzehlungen von allerhand künstlichen und natürlichen Curiositäten‘, ‚Monatliche Extracte, derer bis anhero eingelauffenen Europäischen und auswärtigen Relationen, nebst nöthigen Anmerckungen‘, ‚Monatliche Nutz-spielende Lust-Fragen, zu gelehrter und sonderbarer Ergötzung‘; Sp. 1042 s. v. ‚Monatliche, iedoch unmaßgebliche Gedan cken‘, ‚Monatliche Gespräche‘, ‚Monatliche annehmliche Materien‘, ‚Monatliche Nachrichten, von gelehrten Leuten und Schrifften, besonders zu Jena‘, ‚Monatliche Relationes, von StaatsKrieges- und Friedens-Sachen‘ sowie die beiden bereits zitierten Einträge ‚Monatliche Unterredungen‘ (vgl. Anm. 9 und 11).
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Fassung – in einer „BREVIS NOTITIA Alphabetica EPHEMERIDUM LITERARIARUM, & aliorum quorundam scriptorum ejusmodi diurnorum, hebdomadariorum, menstruorum, anniversariorumque“ unter dem Lemma „Monathliche Unterredungen“: „Francof. A. 1663. 12. a Januario ad Junium auctor Johannes Rist, caeterorum sex, Erasmus Francisci.“13 Auffällig sind diese beiden Rubrizierungen insofern, als sie in einer alphabetisch lemmatisierten Aufstellung so eigentlich gar nicht hätten erfolgen dürfen. Denn der von Rist gewählte Titel lautet für die Jänners-Unterredung (Analoges gilt für die weiteren fünf ‚Monatsgespräche‘ ebenso wie für die Weiterführung durch Francisci): Das AllerEdelste Nass der gantzen Welt/ Vermittelst eines anmuhtigen und erbaulichen Gespräches/ Welches ist diser Ahrt die Erste/ und zwahr Eine Jänners-Unterredung.14 Als einheitlicher Titelbestandteil ließe sich daraus allenfalls das konstante „AllerEdelste“ abstrahieren, ein auf die agonale Semantik des jeweils zentralen Streitgesprächs zielender Marker, was jedoch nicht geschieht; statt dessen erfolgt die Titelansetzung im Rückgriff auf den ebenfalls (nahezu) konstanten, das Format angebenden Bestandteil „Unterredung“.15 Die monatlich bei Rist (und bei Francisci) sich ergebende Varianz („Jänners-“, „Hornungs-“, „Märtzens-“ usw.) aber wird bei Fabricius/Schwabe ebenso wie im Universal-Lexicon zugunsten eines allgemeinen Journaltitels vereinheitlicht, und dies in programmatischem Rekurs auf den für Journale einschlägigen Titelmarker „Monatlich“.16
13 DANIELIS GEORGII MORHOFI POLYHISTOR, LITERARIUS, PHILOSOPHICUS et PRACTICUS cum accessionibus virorum clarissimorum ioannis frickii et iohannis molleri, flensburgensis. EDITIO TERTIA, cui PRAEFATIONEM, NOTITIAMQUE diariorum litterariorum europae praemisit IO. ALBERTUS FABRICIUS, ss. theol. d. et professor in gymnasio hamburgensi. cum privilegio sacrae caesareae maiestatis. lubecae, sumtibus petri boeckmanni. mdccxxxii., fol. (a) 4r–(e) 2v, hier fol. (c) 4v s. v. ‚Monathliche Unterredungen‘. Gleichlautend in der titelgleichen, mit dem Zusatz „nunc auctam [e]t ad annum mdccxlvii. continuatam“ versehenen vierten Auflage von 1747, fol. (d) 4r. 14 Das AllerEdelste Nass der gantzen Welt/ Vermittelst eines anmuhtigen und erbaulichen Gespräches/ Welches ist diser Ahrt die Erste/ und zwahr Eine Jänners-Unterredung/ Beschriben und fürgestellet von Dem Rüstigen. Hamburg/ in Verlegung Joh. Naumanns Buchh. Jm Jahr 1663. 15 Leicht variant (aber offenbar ebenfalls singularisch verstanden) in den beiden letzten von Rist verfaßten ‚Monatsgesprächen‘: Die alleredelste Erfindung Der Gantzen Welt/ Vermittelst eines anmutigen und erbaulichen Gespräches/ Welches ist dieser Art/ die Fünffte/ Und zwar eine Mäyens-Vnterredungen/ Beschrieben und fürgestellet Von Dem Rüstigen. Franckfurt/ Jn Verlegung Johann Georg Schiele/ Buchhändlers. M. DC. LXVII. Die alleredelste Zeit-Verkürtzung Der Gantzen Welt/ Vermittelst eines anmuthigen und erbaulichen Gespräches/ Welches ist dieser Art die Sechste/ Und zwar eine Brachmonats Unterredungen/ Beschrieben und fürgestellet Von Dem Rüstigen. Franckfurt an dem Mayn/ Jn Verlegung Johann Georg Schiele. Jm Jahr Christi 1668. 16 Und damit an Rists Begriffsangebot „Monatsgespräche“ (vgl. oben S. 588 mit Anm. 4) vorbei. Beiläufig findet sich die Bezeichnung „monahtliche Unterredungen“ (ohne typographische
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Ein Wille zur Subsumption unter die neue, im beginnenden 18. Jahrhundert nach der „sogenannte[n] ‚Journal-Debatte‘“ um 1715 zusehends sich formierende, auch uniformierende Journalgattung macht sich darin bemerkbar,17 wovon in der Titelverzeichnung bei Fabricius/Schwabe wie im Universal-Lexicon noch ein weiteres Moment zeugt: die sachlich so gar nicht zutreffende Angabe nämlich, daß Rists „Monatliche Unterredungen […] im Jahr 1663 in 12 Stücken […] herausgekommen“ seien.18 Als unausgesprochene Norm angesetzt wird periodisches Erscheinen im annoncierten Turnus, im Falle einer „monatliche[n] Schrifft“19 also eben monatlich, so daß sich zwölf Stücke pro Jahr ergeben.20 Was für Rists ‚Monatsgespräche‘
Auszeichnung) allerdings bereits im Munde des Rüstigen in der Jänners-Unterredung (I/19). Nicht zutreffend bzw. teleologisch verkürzend die Feststellung bei Heudecker (Anm. 3), S. 55, „Rist […] etablier[e] durch die Namensgebung seines Projekts im deutschen Sprachraum ein Titelmuster, auf das auch Thomasius zugreift (‚Monatsgespräche‘)“. Daß dann anschließend für die Behauptung „[d]ie deutsche Publizistik dieser Zeit [welcher?] kennt für den Begriff neben der von Rist gewählten Variante auch Übersetzungen wie ‚Monatliche Schrifften‘ oder ‚Monats-Schrifften‘“ auf Zedlers Universal-Lexicon verwiesen wird, ist symptomatisch für die normierende Rückprojektion. 17 Vgl. Herbert Jaumann: Zur Intertextualität der gelehrten Journale im 17. Jahrhundert. In: Intertextualität in der Frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven. Hg. von Wilhelm Kühlmann, Wolfgang Neuber. Frankfurt a. M. 1994 (Frühneuzeitstudien 2), S. 443–464, hier S. 449: „[D]ie Unterschiede in den Ausprägungen der Journale reduzieren sich im Verlauf von drei bis vier Jahrzehnten weiter, und die Formen gleichen sich einander an. Gegen 1720, als die deutschen ‚Moralischen Wochenschriften‘ zu erscheinen beginnen, ist die Zeitschriftenlandschaft sehr weit uniformiert, nachdem auch auf diesem Gebiet eine Art Grundsatzdebatte stattgefunden hatte, die sogenannte ‚Journal-Debatte‘. In Leipzig erschien dazu ein eigenes Journal, die Aufrichtigen und Unpartheyischen Gedancken über die Journale, Extracte und Monaths-Schrifften, das es auf immerhin zwei Jahrgänge brachte (1715 [recte: 1714]/17).“ 18 Universal-Lexicon, Bd. 21 (1739) (Anm. 9), Sp. 1042 s. v. ‚Monatliche Unterredungen‘. 19 Ebd. 20 Auf diese vom Format ‚Monatsschrift‘ her kodifizierende Norm bezieht sich ironisch etwa der anonyme Vorredner der Aufrichtigen und Unpartheyischen Gedancken, Uber Die JOURNALE, EXTRACTE und Monaths-Schrifften, der im Mai 1715 die ersten zwölf, seit Anfang 1714 erschienenen, den Jahresturnus freilich überschreitenden Stücke seines Meta-Journals (die Vorrede zum ersten Stück datiert vom „29. Decembr. 1713“ [S. 14], ab dem zehnten Stück trägt das Titelblatt das Erscheinungsjahr 1715) als Jahrgang herausgibt und gegenüber dem „Geneigte[n] Leser“ folgendermaßen exponiert: „DJe aufrichtigen und unpartheyischen Gedancken sind nun auch in das zwölffte Zeichen getreten, und wenn es nach der gewöhnlichen Ausrechnung derer Herren Journalisten gehet, so haben wir mit dieser Zahl den ersten Periodum beschliessen müssen.“ Aufrichtige und Unpartheyische Gedancken, Uber die JOURNALE, EXTRACTE und MonathsSchrifften Worinnen Von der Einrichtung derselben und denen darinnen befindlichen wichtigsten Materien gehandelt und unpartheyisch geurtheilet Zugleich Aber von Juristischen Schrifften eine Nachricht ertheilet wird. Nebst einem generalen Vorbericht über die Ersten zwölff Stücke Und dreyen Vollständigen Registern, entworffen von Einem Liebhaber Vernünfftiger Freyheit.
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die Publikationsrealität nicht hergibt – tatsächlich erschien die Jänners-Unterredung Anfang 1663, die Hornungs-Unterredung im Mai 1663, die Märtzens-Unterredung im Oktober 1664, die Aprilens-Unterredung Anfang 1666, die MäyensUnterredungen im April 1667 und die Brachmonats-Unterredungen postum 1668,21 Franciscis Heumonats- bis Christmonats-Unterredung schließen sich von September 1668 bis 1671 an –, was also die Publikationsrealität für die ‚Monatsgespräche‘ nicht hergibt, das wird so durch die bibliographische Verzeichnung „im Jahr 1663 in 12 Stücken […] herausgekommen“22 hergestellt: eine gewollte ‚Journalifizierung‘, die erneut durch das paratextuelle Umfeld bestätigt wird. Denn sowohl bei Fabricius/Schwabe als auch im Universal-Lexicon werden Erscheinungsverläufe, auch da, wo sie Unregelmäßigkeiten aufweisen, ansonsten sehr wohl mitverzeichnet, etwa für Thomasius’ „Monatliche Gedancken“, daß sie „im Jahr 1688 […] herausgekommen“ seien, „aber mit dem Beschluß des 1689 Jahrs wieder aufgehöret“ hätten,23 oder für Wilhelm Ernst Tentzels „Monatliche Unterredungen“, es sei dieses Journal „im Jahr 1689 und folgenden, in 12 Stücken herausgegeben“, doch „mit dem December des 1698 Jahrs unterbrochen“, „[n]achhero aber […] im Jahr 1704, 1705 und 1706 […], iedoch unter einem andern Titul, […] fortgesetzet“ worden.24 Bedient der sieben, acht Jahrzehnte nach Erscheinen der Ristschen ‚Monatsgespräche‘ erfolgende bibliographische Zugriff von der Situation einer die Gattungsvielfalt und Gattungsinstabilität reduzierenden Konsolidierung des Journalformats aus insbesondere die (so freilich ahistorischen) Definitionskriterien Periodizität und einheitlicher Zeitschriftentitel,25 so wird in unmittelbarer zeit-
Freyburg, 1715, fol. )( 2r–)()( 1v („Vorrede“), hier fol. )( 2r. Entsprechend erstrecken die von Jaumann konstatierten „zwei Jahrgänge“ (vgl. oben Anm. 17) sich in Wahrheit über deutlich mehr als drei Jahre, die Vorrede zum „Vier und zwantzigste[n] Stück“ des titelgleichen zweiten ‚Jahrgangs‘ trägt das Datum „16. Aug. 1717“ (Anderer Theil, Welchem zwey vollständige Register vom 13. biß 24. Stück beygefüget. Freyburg, 1717, fol. Yyy 2r–3v, hier fol. Yyy 3v). 21 Zur Rekonstruktion der tatsächlichen Erscheinungsdaten vgl. unten Anm. 56. 22 Meine Hervorhebung. 23 Universal-Lexicon, Bd. 21 (1739) (Anm. 9), Sp. 1041 s. v. ‚Monatliche Gedancken‘. 24 Ebd., Sp. 1042 s. v. ‚Monatliche Unterredungen, einiger guten Freunde von allerhand Büchern und andern annehmlichen Geschichten‘. 25 Diese und weitere Definitionskriterien wurden für Rists ‚Monatsgespräche‘ mit systematischem Anspruch ahistorisch zuerst von der klassifikatorischen Zeitungswissenschaft des frühen 20. Jahrhunderts in Anschlag gebracht. So benennt etwa Rosenfeld (Anm. 7), S. 135, folgende Kriterien (denen ihm zufolge Rists ‚Monatsgespräche‘ nicht entsprechen): „Periodizität und Absicht, die Zeitschrift auf unbegrenzte Zeit fortzusetzen, einheitlicher Titel der einzelnen Hefte und eine gewisse Aktualität des Inhalts“. Das – ungeachtet der unausgesprochenen Distanzierung von diesen frühen Zugriffen – ungebrochene Weiterwirken derartiger Klassifikationsmerk-
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licher Nähe, bei Erasmus Francisci, vor allem der Fortsetzungscharakter akzentuiert.26 Die aller-Edelste Rache Der aller-Edelsten Gemüther/ Vermittels eines anmuthigen und erbawlichen Gesprächs/ Welches ist/ dieser Art/ die Siebende/ Und zwar eine Heumonats-Vnterredung, so reproduziert Francisci mit aller vorgesehenen Varianz im gleichen Jahr 1668, in dem noch Rists Brachmonats Unterredungen herausgekommen war, den Ristschen Titel, um sodann die Fortsetzungsabsicht auch noch zu explizieren; weiter heißt es nämlich auf dem Titelblatt: „Zur Nachfolge der vorhergehenden/ und vom Herrn Johannes Rist Seel. angefangenen Monats-Gesprächen/ geschrieben und fortgestellet Durch Erasmum Francisci“.27 Entsprechend wird hier nun ein das Fortzusetzende als Ganzes subsumierender Titel gegeben, „Monats-Gespräche“ in der Titelformulierung und im „Vorbericht“,28 „Monats-Vnterredungen“ in der Widmung.29 Begründet wird das Fortsetzungsunternehmen aber nicht von der Person Johann Rists her30 (da hätte es, wie Francisci eigens hervorhebt, viel näher gelegen, daß „ein andres geschicktes Glied des edlen Schwanen Ordens“, des von Rist 1658 gegründeten Hamburger Elbschwanenordens, zur Nachfolge „dieses verbliechenen Schwanens“ die Feder angesetzt hätte31), begründet wird die Fortsetzung vielmehr – ungeachtet
male zeigt sich in Feststellungen der jüngeren Forschung, vgl. etwa Ralf Georg Bogner: Theorien literarischer Komik und Praxis kritischer Satire. Dialogisch-publizistische Reflexionen und Inszenierungen des Witzes in Christian Thomasius’ früher deutschsprachiger Literaturkritik um 1700. In: Anthropologie und Medialität des Komischen im 17. Jahrhundert (1580–1730). Hg. von Stefanie Arend, Thomas Borgstedt, Nicola Kaminski, Dirk Niefanger. Amsterdam, New York 2008 (Chloe 40), S. 465–479, hier S. 467: „Diesen [Rists und Franciscis ,Monatsgesprächen‘] fehlen freilich sowohl die periodische Erscheinungsweise – hier sind lediglich die Dialoge jeweils fiktiv in einem bestimmten Monat situiert – als auch die Aktualität und die autoreferentielle Auseinandersetzung von Literatur mit sich selbst.“ Oder Heudecker (Anm. 3), S. 55, die die zeitungswissenschaftlichen Kriterien „Periodizität, Aktualität, Universalität und Publizität“ zum Maßstab nimmt, dabei jedoch „Einschränkungen bei den letzten drei Merkmalen“ einräumt und „eine historische Perspektivierung und damit ihre Anwendung auf Rists ‚Monatsunterredungen‘“ zu ihrer Absicht erklärt. 26 Vgl. zu Franciscis Fortsetzung der Ristschen ‚Monatsgespräche‘ die zusammenfassende Darstellung bei Jericke (Anm. 3), S. 194–201. 27 Die aller-Edelste Rache Der aller-Edelsten Gemüther/ Vermittels eines anmuthigen und erbawlichen Gesprächs/ Welches ist/ dieser Art/ die Siebende/ Und zwar eine Heumonats-Vnterredung. Zur Nachfolge der vorhergehenden/ und vom Herrn Johannes Rist Seel. angefangenen Monat-Gesprächen/ geschrieben und fortgestellet Durch Erasmum Francisci. Franckfurt/ Jn Verlegung Joh. Georg Schiele. 1668. 28 Ebd., fol. )?( 4r und )?( 4v. 29 Ebd., fol. )?( 2r. 30 Jericke (Anm. 3), S. 194 f., Anm. 3, weist darauf hin, daß mit einiger Wahrscheinlichkeit Rist und Francisci einander nicht einmal persönlich kannten. 31 Francisci (Anm. 27), fol. )?( 4v („Vorbericht“).
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der Abgeschlossenheit jeder einzelnen Unterredung – mit der Unabgeschlossenheit des Ganzen, „nachdem den Wol-Ehrwürdigen/ Edlen/ und Hochgelehrten Herrn Johannes Rist ein seliger Tod/ von seinen Monats-Gesprächen/ abgerissen/ da er eben mit selbigen biß auff die Helffte kommen war“.32 Und der darum bittet, ist nicht der Autor in einem letzten Vermächtnis, sondern „der Herr Verleger“.33 Allerdings ist, die Rede von der „Helffte“ verrät es, diese Unabgeschlossenheit nicht die prinzipiell als unabschließbar gedachte, auf Fortsetzung angelegte Offenheit des Periodikums, wie sie etwa in Thomasius’ Ankündigung zu Beginn der ersten Nummer seiner Monats-Gespräche zum Ausdruck kommt („Zur Nachricht. DAß künfftig geliebts GOtt alle Monath/ und wo möglich den ersten Tag derselben/ die Continuation dieser Schertz- und ernsthaffter Gedancken bey Moritz George Weidmann Buchhändlern in Leipzig anzutreffen seyn solle“).34 Vielmehr läßt der von Francisci gewählte hyperbolische Vergleich zu Beginn seines „Vorberichts“ – „ALs Apelles starb/ ehe denn er sein angefangenes VenusBild hatte außgemacht; ließ sich nirgends ein Künstler antreffen/ der es hätte zur Vollkommenheit gebracht: weil ein jedweder an seiner Geschicklichkeit verzagte/ und dieselbe ungern solchen Meister-Strichen beyfügen wolte“35 – überdeutlich erkennen, daß hier Fortsetzung eher als vollendender Abschluß denn als sequentiell erfolgende Fortschreibung konzipiert ist. In der Fortsetzungspraxis sieht Franciscis Verfahren freilich anders aus: nicht ein Meister-Werk unternimmt er zum Ganzen zu runden, entsprechend schreibt er auch die autobiographisch fundierte Rahmenvorgabe der Gesprächsfolge im Haus und in den Gärten des Rüstigen nahe Hamburg nicht weiter, sondern setzt neu an, auf einem Landsitz bei Nürnberg und folglich ohne die personale Konstante von Gesprächsteilnehmern
32 Ebd., fol. )?( 4r („Vorbericht“). 33 Als weitere Motivation nennt Francisci zudem das Fortsetzungsbegehren des Publikums: „Nach demmal aber der Herr Verleger/ als mein guter alter Bekander und geneigter Freund/ mich darum ersuchet/ auch von vielen Liebhabern solcher Ristischen Monats-Gespräche/ die Fortstellung gewünschet worden: hab ich solchen Ersuch und Wunsch mich nicht wol entziehen können […].“ Ebd., fol. )?( 4v („Vorbericht“). 34 Schertz- und Ernsthaffter/ Vernünfftiger und Einfältiger Gedancken/ über allerhand Lustige und nützliche Bücher und Fragen Erster Monath oder JANUARIUS, in einem Gespräch vorgestellet von der Gesellschafft derer Müßigen. Franckfurth und Leipzig/ Verlegts Moritz Georg Weidmann Buchhändler/ 1688, fol. )o( 1v. Zitiert nach Christian Thomasius: Freimütige, lustige und ernsthafte, jedoch vernunftmäßige Gedanken oder Monatsgespräche über allerhand, fürnehmlich aber neue Bücher. Bd. I: Januar–Juni 1688. Frankfurt a. M. 1972. Bogner (Anm. 25), S. 466 f., liest diese Annonce als Marker des „Bruch[s] der kleinen Broschüre von Anfang Januar 1688 mit den dominanten diskursiven Formationen jener Zeit“: „Die Auseinandersetzung mit der rezenten Buchproduktion unterwirft sich […] dem Diktat der periodischen Zeiteinteilung.“ 35 Francisci (Anm. 27), fol. )?( 4r („Vorbericht“).
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aus dem Kreis des Hamburger Schwanenordens.36 Der Fortsetzungscharakter artikuliert sich bei Francisci vielmehr ganz auf der Ebene des Formats als eines jeder inhaltlichen Füllung vorgängigen, präformierenden Schemas. Das zeigt der Umgang mit dem vorgeprägten, den Spielraum für Varianz limitierenden Titel, das zeigt die formalisierend-subsumierende Rede von „Monats-Gesprächen“ oder „Monats-Vnterredungen“. Das zeigt vor allem aber das Festhalten an den formalen Rahmenvorgaben auch dort, wo Francisci in der Rolle des Autors (nicht derjenigen des Fortsetzers) die Prioritäten anders gesetzt hätte, wie es der die latente Spannung zwischen Titel – Das alleredelste PFERD Der Gantzen Welt – und Gesprächsablauf entfaltende „Vorbericht“ zur Winter-Monats-Unterredung expliziert: Wenn/ bey diesen Monat-Gesprächen/ die Weise und Ordnung allemal/ in meiner eigenen Willkühr/ beruhete: hätt ich die Frage: Welches das edelste Pferd sey? gleich anfang auff die Bahn geführt/ und abgehandelt. Weil aber der hochgelehrte Herr Johannes Rist sel. als erster Urheber dieser Unterredungen/ in allen denselbigen/ diesen Methodum, diese Discurs-Ordnung/ geführt/ daß er die Auffgabe/ durch unterschiedliche Meinungen […] weitläufftig lauffen lassen: habe ich/ ohnangesehen solche Manier bey allen Unterredungen/ meines Erachtens/ nicht mit gleichmässiger Annehmlichkeit/ zu practisiren stehet/ dennoch auch dieses mal nicht gern die Fußstapffen meines Herrn Vorgängers gäntzlich quitiren/ sondern mich etlicher massen darnach bequemen sollen: und derhalben eine andre Frage nothwendig voran stellen müssen: Welches nemlich das beste Reit-Thier unter allen sey?37
Das durch Rist vorgegebene Format sieht ein Streitgespräch auf der Ebene der Gattung vor, nicht eine Abhandlung auf derjenigen der Spezies; folglich beugt der Fortsetzer sich der präformierenden „Discurs-Ordnung“ und läßt vor der aus dem Rahmen fallenden Titelfrage erst „die allgemeine Tugend wolgeschlachter Rosse“ gegenüber den bloß formalen Lückenbüßern „verächtliche[r] Esel“ und „Elephant“ verfechten.38
36 Wie bei Francisci variiert schon bei Rist episodisch die jeweilige Zusammensetzung des Gesprächszirkels um einen gleichbleibenden Gastgeber. Indem jedoch in Rists ‚Monatsgesprächen‘ die personal nicht identischen Gesprächspartner des „Rüstigen“ (Rists Gesellschaftsname in der Fruchtbringenden Gesellschaft) oder „Palatin“ (Rists Gesellschaftsname im Elbschwanenorden) alle der gleichen Hamburger Körperschaft angehören, eben dem von Rist begründeten Elbschwanenorden, ist die fiktive Wirklichkeit doch durch ein strukturbildendes Kontinuitätsmoment bestimmt. 37 Das alleredelste PFERD Der Gantzen Welt: Vermittelst eines anmutigen und erbaulichen Gesprächs/ Welches ist/ dieser Art/ die Eilffte/ Und zwar eine Winter-Monats-Unterredung/ Beschrieben/ und fürgestellet/ Durch Erasmum Francisci. Franckfurt/ bey Joh. Georg Schiele. 1670, S. 3 f. („Vorbericht“). 38 Ebd., S. 5 („Vorbericht“).
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3 Rists Jänners- bis Mäyens-Vnterredungen: Synchronien/Asynchronien zwischen Publikationszeit und erzählter Zeit Die sequentiell-episodischen Fortsetzungsstrukturen, die zwischen Franciscis einzelnen ‚Monatsgesprächen‘ wie auch in deren Verhältnis zu denjenigen Rists das Moment der Fortsetzung nicht auf inhaltlicher oder personeller Ebene umsetzen,39 somit nicht innerhalb einer narrativen Rahmenfiktion, sondern ausschließlich über das gleichbleibende Format, laden ein zu einem vergleichenden Blick auf Thomasius’ ebenfalls Monats-Gespräche sich nennendes,40 nun tatsächlich periodisch erscheinendes Fortsetzungsprojekt, von wo aus wiederum Licht auf die Faktur des Ristschen Gesprächsrahmens fällt, der sich (anders als bei Francisci) nicht nur über formale Konstanten konstituiert. Offenbar experimentiert man in der durch Genreinstabilität charakterisierten publizistischen Übergangssituation des ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhunderts mit zwei unterschiedlichen Fortsetzungsmodellen: einem, das sequentiell ein feststehendes Diskursformat reproduziert, wie es in den Franciscischen und dem ersten Anschein nach auch in den Ristschen ‚Monatsgesprächen‘ vorliegt, und einem zweiten, das bei variabler gestalteter Binnenstruktur den Fortsetzungscharakter über eine in der Echtzeit des Erscheinungsturnus sich fortsetzende Rahmenfiktion behauptet, wie es in Reinform die Moralischen Wochenschriften praktizie-
39 „Von der Kosmologie zur Kompilatorik“, unter diese (nicht zuletzt einem negativ konnotierten Bild von Francisci als notorischem Kompilator geschuldete) Perspektive stellt Stockhorst (Anm. 3), S. 85, vor dem Hintergrund der Annahme eines kosmologischen Kompositionsprinzips bei Rist (der „Jahreszyklus als semantische Klammer seiner Gespräche“) die Franciscische Fortsetzung. Vgl. aber die alternative Kontextualisierung von Franciscis (ihrerseits zunächst einmal negativ codierter) ‚Buntschriftstellerei‘ bei Christian Meierhofer: Alles neu unter der Sonne. Das Sammelschrifttum der Frühen Neuzeit und die Entstehung der Nachricht. Würzburg 2010 (Epistemata 702), S. 215–303, bes. S. 215–259. 40 Genaugenommen avanciert „Monats-Gespräche“ zum Titelbegriff erst auf dem Titelblatt des die über zwei Jahre periodisch erschienenen vierundzwanzig einzelnen ‚Monathe‘ monographisch zusammenfassenden Buches: Freymüthige Lustige und Ernsthaffte iedoch Vernunfftund Gesetz-Mässige Gedancken Oder Monats-Gespräche/ über allerhand/ fürnehmlich aber Neue Bücher Durch alle zwölff Monate des 1688. und 1689. Jahrs durchgeführet Von Christian Thomas. HALLE/ Gedruckt und verlegt von Christoph Salfelden/ Chur-Fürstl. Brandenb. Hoffund Regierungs-Buchdrucker. 1690. Vgl. mit dem Titelblatt zum Ersten Monath oder JANUARIUS (Anm. 34).
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ren.41 Experimentieren impliziert naturgemäß aber vor allem Mischformen, und als eine solche präsentieren sich, und zwar, wie ich meine, in der Prozessualität ihres Erscheinens, nicht nur Thomasius’ Monats-Gespräche, sondern auch das (womöglich nicht ganz zufällig quasi titelgleiche) Ristsche Projekt, „nach den zwölf Monahten des Jahres/ auch zwölf Gespräche/ aufs Papir zu bringen“ (I/a 12v). Thomasius’ Erster Monath oder JANUARIUS etabliert im ersten Satz für das nachfolgende Gespräch „über allerhand Lustige und nützliche Bücher und Fragen“ die folgende Rahmenfiktion: DJe Leipziger Neu-Jahrs-Messe begunte nunmehro herbey zu nahen/ und diejenige/ so auff selbiger entweder in Handel und Wandel/ oder wegen anderer Geschäffte etwas zu verrichten hatten/ stelleten sich allmählich daselbst ein/ als vier einander sonst unbekante Personen auff einer Landkutschen aus Franckfurth am Mäyn außfuhren/ des Vorhabens auch ihres Orths sich in diese so wohl von den studien als der Handlung beruffene Stadt zu machen/ wiewohl aus unterschiedenen Absehen.42
Aufeinander treffen so ein aus Frankreich kommender „gereiseter Cavallier“, ein Gelehrter, der „einen und andern guten Freund zu Leipzig“ besuchen will, ein „Handels-Herr“, der „mit seinen Waaren daselbst sich einen Nutzen zu schaffen“ beabsichtigt, und „ein Schulmann“, der, um einer „Vocation“ auf eine „ledige Conrectoris Stelle“ zu folgen, seinen Weg „über Leipzig nehmen“ muß.43 Nachgerade signalartig wird diese Szenerie eröffnet durch die Synchronisierung von Rahmennarration und annonciertem Publikationszeitpunkt „alle Monath/ und wo möglich den ersten Tag derselben“:44 die vier Reisenden, die der Messesaison gemäß schon bald über mancherlei Autoren und Bücher ins Gespräch kommen,
41 Vgl. dazu Nora Ramtke: Moralische Ehen und Blätter wie Frauenzimmer im leichten Nachtkleide. Die Moralische Wochenschrift als Fortsetzungserzählung. In: Kaminski, Ramtke, Zelle (Anm. 1), S. 41–58. Daneben bilden sich im Medium der Moralischen Wochenschrift, besonders markant etwa in Gottscheds Biedermann 1727–1729, auch Fortsetzungsgeschichten innerhalb des vorgegebenen Formats aus, die sich zumal in den frühen Ausprägungen nicht selten als solche auch reflektieren, vgl. Kaminski, Ramtke, Zelle (Anm. 1), S. 23 f., sowie Gunhild Berg: „Die Fortsetzung folgt künftig…“. Serielle Erzählstrategien in Moralischen Wochenschriften, ebd., S. 59–77. Vgl. auch Gunhild Berg: Strukturwandel der Lesererwartung. Eine Mediengeschichte des frühen Cliffhangers in Moralischen Wochenschriften. In: Periodische Erziehung des Menschengeschlechts. Moralische Wochenschriften im deutschsprachigen Raum. Hg. von Misia Sophia Doms, Bernhard Walcher. Bern 2012 (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A: Kongressberichte 110), S. 315–337. 42 Thomasius (Anm. 34), S. 1. 43 Ebd., S. 1 f. 44 Ebd., fol. )o( 1v.
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tun dies zeitgleich mit ihren Lesern, am Neujahrstag, wodurch Thomasius’ Journal buchstäblich Tagesaktualität erlangt.45 Eine performative Engführung, die am Ende des ersten Stücks in der Inszenierung eines pointierten cliffhanger nochmals unterstrichen wird: Man befindet sich gerade im angeregtesten Gespräch über ein Journal, die Acta Eruditorum, und deren Gründer, den „Herr[n] Menke – – – – – – Und hiemit lagen sie alle vier in Schnee/ weil der Kutscher/ der vornen auff den Pferden schlieffe/ die guten Leute umschmisse. Daß also ihr angefangener Discours dasmahl ein unangenehmes Ende nehmen muste“.46 Und auch der „Discours“ des Lesers nimmt, die typographische Verschränkung von Rahmenerzählungs-histoire und Journal-discours zeigt es an, ein beschneietes ENDE.47
Daß diese Synchronisierung von wirklicher Leserzeit und fiktiver Zeit der Reisenden strukturbildend für Thomasius’ Monats-Gespräche zu sein beansprucht, läßt denn auch der Schluß des Anderen Monats/ oder FEBRUARIUS erkennen, an dem sich, nachdem die gestrandete Reisegesellschaft in ein Gasthaus gefunden hat, ein zweites federführendes Ich zu Wort meldet: Bißhieher habe ich die ehrlichen Leute gebracht/ und vermeine/ ich habe es klüger ausgesonnen/ als mein Herr College im vorigen Monat. Denn es ist tausendmahl besser/ vier solche wackere Männer in eine warme Stube zu führen und ihnen eine Ehre erweisen/ als dieselben in Schnee werffen und gantzer 4. Wochen/ & qvod excurret, darinnen verzappeln zu lassen48
– gerade soviel Zeit, wie vom Neujahrstag bis zum 1. Februar, (angestrebter) Erscheinungstermin des Anderen Monats, vergangen ist. An diesem Punkt allerdings hat, wie die das Stück beschließende Andeutung, daß „mein dritter Herr College sie darinnen [in der warmen Stube] sitzen“ lassen „und man künfftig von
45 Genaugenommen sind nach Ausweis des ersten Satzes Thomasius’ Reisende minimal früher unterwegs, denn der Leipziger „Neu-Jahrs-Marckt […] nimmt allezeit mit dem ersten Tage des Neuen Jahres seinen Anfang; wenn aber selbiger auf einen Sonntag einfällt [was 1688 nicht der Fall ist], den darauf folgenden Montag“. Vgl. Universal-Lexicon (Anm. 9), Bd. 24 (1740), Sp. 213– 215 s. v. ‚Neu-Jahrs-Marckt, oder Neu-Jahrs-Messe zu Leipzig‘, hier Sp. 213 f. 46 Thomasius (Anm. 34), S. 115. 47 Ebd. 48 Schertz- und Ernsthaffter/ Vernünfftiger und Einfältiger Gedancken/ über allerhand Lustige und nützliche Bücher und Fragen/ Anderer Monat/ oder FEBRUARIUS. Franckfurth und Leipzig/ Verlegts Moritz Georg Weidmann/ Buchhändler/ 1688, S. 254.
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ihnen nicht das geringste mehr hören“ werde,49 bereits ahnen läßt, die rahmende Fortsetzungsnarration auch schon ausgedient und mit ihr die Synchronisierung von fiktiver und wirklicher Zeit, ob aufgrund eines Konzeptwechsels oder im Rahmen eines übergeordneten Konzepts, bleibt unentscheidbar. Mit dem Dritten Monat oder MARTIUS erstehen die Monats-Gespräche, mit denen es, wie es in der ausführlichen Vorrede heißt, „fast so ein Ende genommen/ wie Anno 1684. in Holland mit dem Mercure Scaevant, der auch nur den Januarius und Februarius continuiret wurde“,50 neu, nun von einem betont unpersönlich sich gebenden Anonymus redigiert,51 der für das fiktive Gespräch jegliche Realitätsreferenzen kappt und von Monat zu Monat weder personelle noch Handlungskontinuitäten entstehen läßt. Mit einer pointierten Synchronisierung von Erscheinungszeitpunkt und Rahmennarration setzt Anfang 1663 auch Rists Jänners-Unterredung ein: Es war das Jahr nunmehr völlig zum Ende gelauffen/ und der tunkele Christmonaht/ welchen die Latiner den December nennen/ mit seinem Ein und Dreissigsten Tage/ sonst der Silvesters Tag genennet/ gäntzlich beschloßen/ als die wehrte Christenheit und vieltausend Gottergebene Hertzen/ das libe/ Neue Jahr/ im Namen Gottes widrum anfingen/ da den Jhr erstes Werk war/ das sie sich in das Haus des HErren verfügten/ und in demselben/ mit behten/ singen/ Predigt hören/ loben und danken dem jenigen dieneten/ der sie das vorige verfloßene Jahr/ so gnädig und väterlich beschirmet […]. (I/A 1r)
49 Ebd. 50 Schertz- und Ernsthaffter/ Vernünfftiger und Einfältiger Gedancken/ über allerhand Lustige und nützliche Bücher und Fragen/ Dritter Monat oder MARTIUS Jn einem Gespräch vorgestellet Durch E. D. F. U. K. Halle Gedruckt und verlegt von Christoph Salfelden/ Chur-Fürstl. Brandenb. Hoff- und Regierungs-Buchdrucker. 1688, S. 262. Zum Mercure Scavant vgl. den Eintrag im Universal-Lexicon: „MERCURE SA[V]ANT, ist ebenfalls [wie die drei zuvor lemmatisierten Journale unter den Titeln „MERCURE GALANT“ und zweimal „MERCURE HISTORIQUE ET POLITIQUE“] eine solche Frantzösische Monats-Schrifft, die zu Amsterdam 1684. in 12. angefangen, die aber auch bald wieder ins Stecken gerathen. Jedoch hat dieselbe dem bekannten Pierre Bayle Gelegenheit gegeben; seine Nouvelles de la Republique des Lettres zu schreiben.“ Universal-Lexicon (Anm. 9), Bd. 20 (1739), Sp. 917 s. v. ‚MERCURE SARANT [sic]‘. 51 Nicht nur die Veröffentlichung unter den nicht auf einen Klarnamen transparent werdenden Initialen „E. D. F. U. K.“ (vgl. die Titelaufnahme des Dritten Monats in Anm. 50) stellt die Anonymität aus, die in den ersten beiden ‚Monaten‘ schlichtweg gegeben war; in der Vorrede wird durch den neuen Federführenden auch einigermaßen umständlich die Entscheidung begründet, sich „in denen Kleidern als incognito auff[zuhalten]“, sodann mittels der Verheißung, dem Leser „nur etwas weniges von meiner profession [zu] melden“, damit er „nur einen kleinen concept von meiner Person fassen […] möge“, doch die Neugier auf Personalia geschürt, um am Ende einen ausschließlich via negationis verfahrenden leeren Steckbrief zu liefern: „Jch bin kein Theologus“, „Kein Juriste bin ich auch nicht“, „Viel weniger bin ich ein Medicus“, „Am allerwenigsten aber bin ich ein Philosophus“. Thomasius (Anm. 50), S. 266 f.
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„Eben an diesem herlichen Feiertage“ (ebd.), heißt es weiter, begab sich auch „ein wolbekanter Seelenhirte“, „de[r] Rustige“ genannt, „in sein/ ihme anbefohlenes Gottes-Haus“ (I/A 1v), um den Neujahrsgottesdienst zu halten und seine „hertzlibe Zuhörer“ (I/A 2r) jeweils mit einem floralen Neujahrsgeschenk zu beehren, als „drei wolgekleidete/ und allen Ansehen nach/ nicht weniger Gottselige und Andächtige/ als feine und wolgestalte Personen“ (I/A 2v) die Kirche betreten, die sich alsbald als vom Rüstigen zum Dichter gekrönte „belobte Mittglieder […]/ des Hochlöblichen Elbischen SchwanenOrdens“ (I/A 3v) herausstellen. Naheliegend, daß man ins Gespräch kommt, die Themen liegen saisonal förmlich in der Luft: erst wird die „angehörte Neue Jahres Predigt“ (I/8) rekapituliert, dann raisoniert man über „das Neue Jahr wünschen“ (I/9), der Rüstige betont, „das bisweilen ein Neu-Jahres Wunsch zum Saalbader wird/ sonderlich wenn man ihn nicht zur rechter Zeit anbringet“ (I/11), und untermauert das anekdotisch,52 woraus, ehe man auf „die Austeilung der Neuen Jahres Geschenke“ (I/13) zu sprechen kommt, der Schluß gezogen wird, „das/ wen schon der Wunsch aus guten Hertzen komt/ man gleichwol die Zeit müsse beobachten/ den/ wie solte man einen/ zwischen Osteren und Pfinsten [sic] noch erstlich ein Neues Jahr wünschen/ wie diser/ vom 26 Aprilis gethan hat/ da Pfingsten schon für der Tühr gewesen?“ (ebd.). Ein Aktualitätserfordernis wird somit formuliert, wie es sich reflexiv auch für Rists Jänners-Unterredung nahelegt, zumal er sie den drei Widmungsadressaten ausdrücklich als „Geschenk[] zum Neuen Jahre“ zueignet53 – und ein Maßstab, an dem gemessen sie, vom Rüstigen zur Veröffentlichung verabschiedet „Eiligst […] am 23 Tage des Christmonats/ im 1662 Jahre“ (I/A 9v), glänzend besteht. In diesem medienreflexiven Horizont spielt selbst das Thema des eigentlichen Streit-
52 „[…] wie ich mich den annoch sehr wol erinnere/ das mir einsmahls ein Magister, der nicht nur die Sieben freie Künste/ sondern noch wol drei drüber in seinem Gehirn zu haben vermeinete/ zu Hamburg auf der Gaßen begegnete/ und mir den Donnerstag für dem Palmfest (war gerade der zehende Tag für Ostern) mit grossen Complimenten, und in einer langen/ weitläuffigen Rede/ ein fröliches Neues Jahr wünschete/ deme ich mit gahr kurtzen Wohrten/ damit ich mich von der Saalbaderei nur los machete/ hinwieder eine glükselige Ostern wünschete. Ja/ sagte der Magister, das Osterfest werden wir erstlich über acht Tage haben/ worauf ich antwohrtete: Ja/ Domine Magister, das ist gahr recht/ aber es sind schon 14 Wochen verfloßen/ da wir das Neue Jahr haben angefangen“ (I/11 f.). An diese eigene Erfahrung werden eine Reihe ähnlicher Begegnungen angeschlossen, die dem Rüstigen, als er am folgenden Tag bei einem Gastmahl davon erzählt, von anderen Gästen zum besten gegeben werden, unter anderem die folgende, wie einem „erfahrne[n] Rechtsgelehrte[n]/ der auch mit zur Taffel sas/ […] ein guter Freund/ vom 26 Aprilis aus Lübek nach Hamburg also hatte geschrieben: Negst Anwünschung eines glükseligen frölichen und freudenreichen Neuen Jahrs/ verhalte ich dem Herrn hiemit nicht/ u. s. w.“ (I/13). 53 So ausführlich gleich im ersten, aus einem einzigen Satz bestehenden Absatz der Widmungsvorrede, I/a 2r–v, hier I/a 2v. Vgl. auch I/a 3r, I/a 7v und I/a 9r.
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gesprächs, „Welches doch das AllerEdelste Nass der gantzen Welt sei?“ (I/68), seine pointierte Rolle, wenn sich für die vom Rüstigen gegenüber Wein, Milch, Wasser favorisierte „Dinte“ unter anderem das journalaffine Argument geltend machen läßt, „diselbe fleucht gahr schnell durch alle Theile der Welt/ ja komt oft/ dem Gerüchte selber zuvor“ (I/165 f.).54 Diese Synchronisierung von realer und erzählter Zeit kommt allerdings, ungeachtet der Verheißung im „Vorbericht“ zur Jänners-Unterredung, „mit dem foderlichsten55 auch unser Hornungs- und bald darauf unser Märtzen-gespräche folgen“ zu lassen (I/b1v), schon mit der Hornungs-Unterredung aus dem Takt: die Widmung ist auf den „14. des Maien/ im 1663 Jahr“ (II/** 2r) datiert, in der Vorrede wird wortreich des mißlichen „Verzuges“ (II/*** 3r) gedacht und beteuert, der schuldlose Autor habe „gegenwärtige[s] […] Hornungs-Gespräche […] schon länger/ als für einem halben Jahre verfärtiget“ gehabt, „der guhten Hoffnung gelebend/ das es ungesäumt durch offen Druk/ dem begierigen Leser solte mitgetheilet werden“ (II/** 2v). Der das Gespräch eröffnende jahreszeitliche Natureingang aber ist dazu angetan, dem im Mai lesenden Rezipienten die das Synchronisierungskonzept torpedierende Verspätung regelrecht sinnlich spürbar zu machen: Es begunten die Tage nun immer länger/ die Nächte dagegen etwas kürtzer zu werden/ waren danebenst auch viele ausdrükliche Anzeigunge fürhanden/ daß die hocherwünschete Frühlingszeit nunmehr heran nahete/ zumahlen die Kälte den fast abgematteten Erdboden nicht so heftig mehr konte bezwingen/ als sie in den vorhergehenden Monahten gethan hatte/ diweil die Luft anfieng etwas wärmer zu werden/ und die libe Sonne höher zu steigen/ welches auch die/ in dem gestrengen Winter halb-erstarrete/ nun aber gleichsahm wider aufgelebte Vögel vermerkten/ in deme sie in Feldern/ Wälderen und Gahrten/ zu pfeiffen/ zu singen/ zu zwitzeren und zu binken anfiengen/ wie sich den auch auf den
54 Wie eine selbstironische Pointe liest sich vor diesem Hintergrund Rists Bemerkung im „Vorbericht“ zur Hornungs-Unterredung, in dem er über deren von ihm nicht zu verantwortende Verspätung klagt (dazu weiter unten), es „were gewislich gahr kein Wunder“, wenn „der arme Rist“ angesichts dessen, „wie langsahm mit Herausgebung seiner Arbeit wird verfahren/ […] endlich gantz träg und hinlässig darüber würde/ ja Federn und Dinte zum Fenster hinaus würffe“. Das AllerEdelste Leben der gantzen Welt/ Vermittelst eines anmuhtigen und erbaulichen Gespräches/ Welches ist diser Ahrt Die Ander/ und zwahr Eine Hornungs-Unterredung/ Beschriben und fürgestellet von Dem Rüstigen. Hamburg/ Jn Verlegung Joh. Naumanns Buchh. Jm Jahr 1663, fol. a 3v. 55 Schon ohne den Superlativ signalisiert ‚foderlich‘, daß etwas unmittelbar bevorstehen soll. Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Zwölfter Band II. Abteilung. VESCHE–VULKANISCH. Bearbeitet von Rudolf Meiszner. Leipzig 1951, Sp. 979 f. s. v. ‚vorderlich‘, wo für das Adverb die Bedeutung „vornehmlich, grade, sehr“ ebenso notiert wird wie zeitliches „gleich, sofort“.
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Ströhmen und Flüssen/ sonderlich aber der allerschönsten Elbe/ mancherlei Ahrt Schiffe und Fahrzeug (welche eine geraume Zeit in den Haven fest angeschlossen hatten ligen/ und gegen der Schiffherren willen ruhen müssen) widrüm sehen […] liessen […]. (II/1 f.)
Da das verspätete Erscheinen, glaubt man dem Autor, für Rist nicht vorhersehbar war, die Hornungs-Unterredung vielmehr beim Hamburger Drucker liegenblieb, erscheint es nicht sinnvoll, im Gesprächstext nach Kompensationsstrategien für den ungewollt zum Asynchroniemarker gewordenen Anfang zu fahnden.56 Wohl aber gewinnen andere, womöglich als journalreflexiv zu wertende Elemente gerade in der Diskrepanz von Anspruch und Wirklichkeit Kontur, die in den nachfolgenden, von vornherein unter dem Verspätungsverdikt antretenden ‚Monatsgesprächen‘ dann ausgebaut werden. Zu nennen sind an erster Stelle illusionsbrechende Reflexionen der Figuren auf das Textformat, innerhalb dessen sie agieren.57 So hat Concord, einer
56 Die Bewertung unter dem Gesichtspunkt von Intentionalität hängt davon ab, ob das Datum der Zuschrift bereits als der monierte verspätete Termin zu verstehen ist (so deutet es Jericke [Anm. 3], S. 185 f., hier S. 186: „Da nun die Zuschrift dieser Unterredung, die mindestens um dieselbe Zeit wie der Vorbericht abgefaßt sein wird, vom 14. Mai 1663 datiert, ergibt sich, daß Rist sein Gespräch rechtzeitig fertig hatte, so daß es ohne jene Hindernisse sehr wohl im zweiten Monat des Jahres 1663 hätte erscheinen können.“) oder ob der Mai als der (für den Autor dann offenbar noch akzeptable) Termin der Abgabe des Gesamtmanuskripts beim Drucker anzusetzen ist, woraus sich ein Erscheinen im November ergäbe. In letzterem Fall (für den zunächst die Datierung einer der vorangestellten Dichterzuschriften auf den „17 April. 1663“ zu sprechen scheint [fol. II/*** 1r]) wäre dann zwischen einer vom Autor verantworteten unproblematischen Verspätung um wenige Monate, der das Gespräch bereits reflexiv Rechnung tragen könnte, gegenüber einer nicht mehr akzeptablen Verspätung um ein Dreivierteljahr zu unterscheiden; allerdings könnten die Zuschriften durchaus auch ihrerseits schon verspätet vom Verleger erbeten worden sein. Für den freundlichen Hinweis auf zwei ähnlich gelagerte Fälle bei Sigmund von Birken (die Widmungszuschrift „Zu Herrn Gottfried Händels Flüchtigem Nichtes“ und das Epicedium „Auf Herrn Georg Krompeins, Stadtschreibers zu Balingen Bildnis“) danke ich herzlich Hartmut Laufhütte, vgl. den kurz vor der Drucklegung stehenden achten Band der Birken-Ausgabe (BirkenWälder), S. 346 mit S. 953–956 (Kommentar) sowie S. 401 mit S. 1063–1066 (Kommentar). Ein Indiz dafür, daß das Widmungsdatum mit dem tatsächlichen Erscheinungsdatum, nicht mit der Abfassung durch den Autor zu korrelieren ist, findet sich in Rists „Zuschrifft“ der Mäyens-Vnterredungen; dort heißt es nach der Zitation eines alten gereimten Spruches: „Bey diesen Reym-Zielen erinnere ich mich nun billich/ daß das Alter auch mit mir schon seinen Anfang gewonnen/ in deme ich nun innerhalb wenig Tagen/ das sechtzigste Jahr meines Alters werde erreichen/ dann Anno 1607. den 8. Tage deß Märtzens bin ich in diese betrübte Welt geboren/ wann wir nun widrum den 8. Martij/ dieses 1667. Jahrs zehlen/ habe ich gerade sechtzig Jahre in derselben gelebet“ (V/)( 4v). Diese „Zuschrifft“ ist aber datiert „Wedel den 10. Aprilis. 1667“ (V/)( 9r). 57 Bei Jericke (Anm. 3), S. 170 f., hier S. 170, bezeichnenderweise als „Ungeschicklichkeiten“ aufgefaßt.
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der „Schwahnen-Geselschaftere“, das „neuligst gedrukte[] Jänner-Gespräche“ gelesen und wünscht sich und seinen beiden Kollegen, sie möchten nach dem gedruckten Vorbild (auch dort waren es „drei […] Herren Geselschaftere“) auf ähnliche Weise in ein „nicht weiniger anmuhtiges/ als nützliches Gespräch“ konstelliert werden (II/14); am Ende wird der Rüstige ihm den Wunsch, nun förmlich in eine serielle Textordnung gebracht, erfüllen, wenn er in der noch nicht verschriftlichten Gegenwart des Hornungs-Gesprächs auf „unser[] vorige[s] JännerGespräche“ zurück- und die „folgenden Gespräche[]“ vorausverweist (II/257).58 In den Märtzens-, Aprilens- und Mäyens-Unterredungen, deren „Vorberichte“ ostinat über die immer gravierendere Verspätung klagen,59 verstärkt sich das Gegeneinander von synchronisierender Betonung des sequentiell Monat für Monat fortschreitenden fiktiven Zeitkontinuums einerseits und demonstrativer Illusionsbrechung andererseits. So wird ab der Märtzens-Unterredung regelmäßig von den Figuren auf „eben dises 1664 Jahr“ (III/59), „gegenwärtige[s] 1665. Jahr[]“ (IV/6), „diese[s] 1666. Jahr[]“ (V/69) hingewiesen, obwohl man sich der Fiktion
58 Ähnlich in der Märtzens-Unterredung, wenn der Rüstige gesprächsweise den Gärtner ‚erinnert‘, „wovon Jch in meinem Hornungs-Gespräche zimlich ausführlich habe gehandelt“ (III/27), und auf das gespannt macht, „wovon wir im April- und Mai-Monaht vileicht werden zu reden haben“ (III/34). 59 Vgl. das Ende des „Vorberichts“ zur Märtzens-Unterredung: „Lebe wol freündlicher/ lieber Leser/ und sei dienstlich gebehten/ das/ wen du etwan so bald die folgenden meine MonahtsGespräche/ deinem Begehren nach nicht sehen/ oder bekommen würdest/ solches nicht meinem Unfleisse oder Trägheit/ sondern anderer Leüte Eigennütze und Undankbahrkeit wollest zuschreiben“ (III/b 8r). Im „Vorbericht“ zur Aprilens-Unterredung widmen sich dem leidigen Problem, „warum doch dieses/ schon längsterwahrtetes Gespräche solange geschlaffen/ und warum es nicht bereits für vielen Monahten sey herauß kommen?“ (IV/b 5r), gleich die ersten drei Seiten; erneut beteuert Rist, „die Schuld dieses Verzuges“ sei ihm „gantz und gahr nicht beyzumessen“ (ebd.), vielmehr habe er aus verschiedenen Ursachen („Verhängnisse“, „Tod“, „Nachlässigkeit“) „gantz und gar wieder [s]einen Willen/ Gewohnheit und Gemühte zum Lügner müssen werden“ (IV/b 5v). Konkret ausbuchstabiert wird das ‚Verhängnis‘, „als wenn diese meine Gespräche dazu gewidemet/ ja schier verdammet sind/ daß sie so gahr langsahm müssen gebohren werden“, als „Nachlässigkeit […] führnehmlich bey den Herren Drukkern“ (ebd.). Die AllerEdelste Belustigung Kunst- und Tugendliebender Gemühter/ Vermittelst eines anmuhtigen und erbaulichen Gespräches Welches ist dieser Ahrt/ Die Vierte/ und zwahr Eine Aprilens-Unterredung Beschrieben und fürgestellet von Dem Rüstigen. Hamburg/ Jn Verlegung Joh. Naumanns Buchh. Jm Jahr/ 1666. Für die Mäyens-Vnterredungen wechselt Rist nicht nur, wie in der AprilVorrede bereits angedroht (vgl. IV/b 6r), den Drucker, sondern auch den Verleger, prägt der Widmungsvorrede durch den Hinweis, sie sei vor dem 8. März geschrieben, gewissermaßen einen zeitlichen ‚Stempel‘ auf (vgl. oben Anm. 56) und muß gleichwohl zu Beginn des „Vorberichts“ erneut über Verspätung klagen: „wird es auch mein Herr Verleger in Abrede nicht seyn können/ daß unserer Gespräche eines und das [a]nder [verbessert aus „vnder“]/ etliche mal über ein halbes Jahr beym Drucker gelegen/ ehe der Anfang damit gemachet worden“ (V/)( 9v).
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nach immer noch im (inzwischen nicht mehr sonderlich aktuellen) Frühjahr 1663 befindet.60 Eine Kontinuitätssuggestion, die in ebenso schöner Regelmäßigkeit auch weiterhin genährt wird, besonders pointiert zu Beginn der Mäyens-Vnterredungen, die der Rüstige übrigens (in unübersehbar ironischer Replik auf das „Jänner-Gespräche“) unter dem Datum vom „10. Aprilis. 1667“ seinen drei Widmungsadressaten als ein „neue Jahres Geschencke“ zueignet (V/)( 9r);61 deren erster Satz beginnt so: „ES hatte nunmehr die rauhe Märtzens-Lufft sich guter massen gesänfftiget/ und der stürmichte April/ begunte sich bey Herannahung deß lustigen Mäymonats viel lieblicher und freundlicher zu erweisen/ als […]“ (V/1).62
60 In der Brachmonats-Unterredungen wird diese das Fiktionskontinuum aktualisierend durchbrechende Synchronisierung der erzählten Wirklichkeit mit dem tatsächlichen Erscheinungsdatum konstitutiv für des „Rüstigen“ Position im Streitgespräch, „die alleredelste/ ja auch anmuthigste Zeitverkürtzung der gantzen Welt“ sei „die stäte und embsige Betrachtung des herbeynahenden Todes“ (VI/324); begründet wird sie nämlich biographisch: „sehet jhr dan nicht/ daß ich schon ein alter Mann bin/ der seine sechtzig Jahre bereits zu rücke geleget […]?“ (VI/327). 61 So auch fünf Seiten zuvor, wo er das Gespräch als ein „wolgemeintes N. Jahrs-Geschencke“ bezeichnet (V/)( 6v). Schon die Aprilens-Unterredung war, dort auf der Ebene der Publikationszeit passend – die Widmung datiert vom „22. Tage des Christmonahts/ dieses zu Ende lauffenden 1665. Jahres“ (IV/b 4v) –, den dortigen Widmungsadressaten als „Neue[] Jahres Gabe“ übereignet worden (IV/b 4r). Bedenkt man freilich, daß, gemessen an der in der Jänners-Unterredung zur Schau gestellten Synchronisierung von Publikationszeit und erzählter Zeit, die AprilensUnterredung nicht zu Neujahr (1666), sondern im April (1663) hätte herauskommen sollen, dann erscheint eine gezielte Strategie ironischen Rückbezugs auf die dort zum besten gegebene Anekdote vom verspäteten Neujahrswunsch am 26. April durchaus plausibel, und die unfreiwillig ihrerseits vom April (1667) datierende Widmungsvorrede der Mäyens-Vnterredungen würde diese parodistische Selbstanzeige dann fortschreiben. 62 Meine Hervorhebungen. – Demgegenüber als unwillkürlicher Reflex prinzipieller Nicht-Synchronisierbarkeit von Leserzeit und Narration sind die chrono‑logischen Verwerfungen zu werten, die bezogen auf des Rüstigen „Hausmutter“, seine im August 1662 (vgl. Ars benè moriendi Das ist: Christliche Sterbens-Kunst/ Gezeiget aus den Worten Luc. XIIX. 13. Gott sei mir Sünder gnädig. Jn der Leich-Predigt Welche bei ansehnlicher und Volckreicher Beerdigung Des Weiland Wol-Ehrwürdigen/ WolEdlen/ Vesten und Hochgelahrten Herrn H. Johann Risten Vom Kaiserlichen Hofe aus Edel-gekrönten Poëten/ Com. Palat. Caesar. Wolbestalten Fürstl. Mechlenb. Geheimbten- und Consistorial-Rahts/ Pastoris zu Wedel/ und des Königl. Pinnenbergischen Consistorii, primarii Assessoris, und Sub-Senioris. Anno 1667. d. 12. Septemb. gehalten/ und auff Begehren zum Druck herauß gegeben hat Johann. Hudeman/ Dero zu Dennemarck/ Norwegen Kön. Maj. bestalter Probst/ dero Graffschafft Pinnenberg/ auch des Münsterdorffischen und Segebergischen Consistorii, Superintendens bei der Königl. Milice und Guarnisonen in den Fürstenthümern Schleßwig/ Holstein/ und Pastor in der Stadt und Veste Kremp/ in Holstein. Hamburg/ Gedruckt bey Michael Pfeiffern/ 1667, fol. D 3v) verstorbene „hertzlibe Ehegattin“ (I/a 10v), ihre Spur durch Rists ‚Monatsgespräche‘ ziehen: Während im „Vorbericht“ zur Jänners-Unterredung ihr Tod beklagt und geradezu als Veranlassung des neuen Schreibprojekts angegeben wird
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Als zweites möglicherweise journalreflexives Moment läßt sich für die Hornungs-Unterredung (die erste nicht mehr in time erscheinende) die angelegentliche Verlautbarung der „Regulen und Gesetze[]“ (II/25) der „Elbische[n] Schwahnen-Geselschaft“ (II/24) in Anschlag bringen, vier Jahre, bevor Candorins Deutscher Zimber Swan das Gesellschaftsregelwerk im ‚langsamen‘ Buchformat kodifizieren wird.63 Es bedürfe, so erklärt Kallorin seinen Gesprächspartnern
(vgl. I/a 10v–12v), ist sie im mit dem Erscheinen zu Jahresbeginn 1663 synchronisierten JännersGespräch wie selbstverständlich zugegen (vgl. I/8). Daraus läßt sich zum einen möglicherweise auf eine Abfassung der Jänners-Unterredung vor August 1662 schließen; zum andern aber wird kenntlich, daß ein zu Neujahr 1663 erscheinender Text schlechterdings nicht vom Neujahrstag 1663 erzählen kann (sondern allenfalls, wenn Authentizität prätendiert wird, vom Neujahrstag des Vorjahres). Die Hornungs- und die Märtzen-Unterredung, deren erste die Beerdigung von des Widmenden „hertzlibe[r] Hausmutter“ (II/* 10v) peritextuell berührt, lassen die „Hausmutter“ im Sinne der Synchronisierung von Erzählzeit und erzählter Zeit nicht in Erscheinung treten; ab der Aprilens-Unterredung kann des Rüstigen „Haußfrau“ wieder in aller Selbstverständlichkeit – Rist hatte im Februar 1664 ein zweites Mal geheiratet (vgl. Ars benè moriendi, fol. D 4r) – den Fiktionshorizont überschreiten und „guhte Gesellschafft leisten“ (IV/52; vgl. auch V/58, VI/9, 94 f. und 361). Vgl. Mast (Anm. 3), S. 130, der die zeitliche Verwerfung in der Jänners-Unterredung immerhin notiert, aber keine überzeugende Erklärung anbieten kann; die Annahme, es könnte (um den Widerspruch zum „Vorbericht“ zu vermeiden) womöglich bereits „his second wife“ gemeint sein („then the information in older sources about the date of Rist’s second marriage, the year 1664, would be incorrect“), ignoriert erstens die Institution des Trauerjahrs, zweitens, daß die „Leich-Predigt“ gerade in Hinsicht auf diese Daten unbedingtes Vertrauen verdient. 63 Vgl., ohne Reflexion auf das schnellere Journalmedium, auch Mast (Anm. 3), S. 148 („thus predating the publication auf Conrad Hövelen’s monographs on Rist’s language society“). Zum Elbschwanenorden vgl. Eberhard Mannack: Hamburg und der Elbschwanenorden. In: Sprachgesellschaften, Sozietäten, Dichtergruppen. Hg. von Martin Bircher, Ferdinand van Ingen. Hamburg 1978 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 7), S. 163–179. Die Publikationsgeschichte von Candorins 1667 erschienenem Deutschen Zimber-Swan ist kompliziert und ihrerseits durch Verzögerungen geprägt. Das Titelblatt der Erstveröffentlichung trägt das Erscheinungsdatum 1667: Candorins Deutscher ZimberSwan Darin Des Hochlöbl: ädelen Swan-Ordens Anfang/ Zunämen/ Bewandnis/ Gebräuche/ Satsungen/ Ordensgesätse/ samt der Hoch-ansähel: Geselschafter Ordens-Namen entworfen. Lübek/ verlägts Michael Volk/ Gedrukt in der Smalherzischen Drukkerei/ 1667. Der auf „Zimber-Swahns Führtrag“ (fol. )( 3r–)( 7v) folgende Innentitel bietet hingegen das Erscheinungsjahr 1666; die „Zueignung-Schrift“ schließt mit dem Datum „Am Tage Kunrats als den 25. Novemb. 1662“ (S. 8). Der „Führtrag“ deutet an, daß „bereit für 4. Jaren durch offenem Druk des Swanen-Geselschafters Candorins aufgesäztes Wärk (benamet der Deutsche Zimberswahn) heraus gegäben“ hätte werden sollen (fol. )( 4r). Die zwölf Ordensgesetze finden sich in der „Fünften Abteilung“, S. 170–175. In der Anschlußpublikation (Der Träuflihssende ZimberSwan Welcher Aller des SWANEN-ORDENS zu des Uhrhäbers Läbezeit rühmlichst gewäsener Lobwürdiger Mitglider Ordens-Namen/ neben sonderbaren Märkwürdigkeiten und andren Ordens Bewandnissen aufs träuligste zum Endslusse/ Nuz und Schuz er-öfnet/ Candore Virtute Honore. Lübek/ Verlägets Ulrich Wetstein/ 1669) bietet Candorin Auszüge aus
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Kleander und Concord, unbedingt zeitnaher Bekanntmachung, da im aktuellen Diskurs „so gahr ungleiche Urtheile hin und wieder für fallen“; diese ‚schlechte Presse‘ gründe in mangelnder Publizität, darin, daß den Kritikern „unsere Ordens-Gesetze und Regulen gantz und gar unbekant“ seien (II/27).
4 Rists ‚Monatsgespräche‘ im Patrioten: intertextuelle Adoption zum Gattungsvorläufer Daß es ausgerechnet Kallorin ist, der die Mitgesellschafter auf dies Problem stößt, scheint kein Zufall. Als ein drittes, vergleichsweise beiläufig erscheinendes Moment narrativer Genrereflexion, das jedoch gut sechs Jahrzehnte später eine markante intertextuelle Aufwertung erfährt, möchte ich abschließend das Plädoyer eines der vier Gesprächspartner in der Hornungs-Unterredung vorschlagen, eben jenes „Herren Kallorin“, der als zweiter Redner auf die Frage, „Was den er für ein Leben das AllerEdelste der gantzen Welt zu sein/ schätze“ (II/129), für das „Bürgerliche oder Stattleben“ votiert, im speziellen für das Leben in „unser[m] Hamburg“ (II/131). Unter den unzähligen Vorzügen dieser „hochlöblichen Statt“ (II/133) führt er auch den folgenden an: Begehret aber jemand noch mehr und eigentlichere Zeitung zu erfahren/ wie es nemlich fast in allen Königreichen und Landen der Welt zustehet/ der verfüge sich nur an die Börse/ und komme viel unter die Kaufleute/ sonderlich die jenige/ welcher Handlungen sich in unterschiedliche weitabgelegene Länder und Herrschaften erstrekken/ da wird er schier von allen Dingen/ welche in der gantzen Welt werden betriben/ guhte Nachricht erhalten/ und eben dises schätze ich für eine gahr grosse Glükseligkeit der Stattleute/ das sie vermittelst ihrer Zusammenschreibung/ Briefewechselung/ oder correspondentz fast alles/ was in der Welt geschiehet/ können erfahren. Es sind ja die Posten in den grossen Stätten/ absonderlich in unserem Hamburg dermahssen wol bestellet/ das man in gahr kurtzer Zeit […] aus allen Länderen und Königreichen Briefe und Zeitungen kan haben. (II/152 f.)
auf den ersten Band bezüglichen Briefen Rists, darunter aus einem Schreiben vom 5. Mai 1663, in dem die Medienkonkurrenz zwischen der gerade herausgekommenen Hornungs-Unterredung und dem langsameren Buchmedium Kontur gewinnt: „Ich sähe gerne/ das Mein Herr Sohn das Jenige/ was ich in meinem Hornungs-Gespräche zum Schuz Unsers Ordens geschriben/ und der Neider Verläumdunge aus-führlich widerläget habe/ kürtzlich im ZIMBERSWANE hätte dargestället/ damit alle Welt sähen mügte/ das Wir aus einem Munde redeten“ (S. 29).
„Monatliche Unterredungen, ist ein Journal“
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Für Kallorin gründet das Glück des Hamburger Stadtlebens nicht zuletzt in der Universalität und Aktualität der publizistischen Versorgung am wohl wichtigsten deutschen Nachrichtenumschlagplatz des ausgehenden 17. Jahrhunderts.64 Dies Szenario aus Rists Hornungs-Unterredung, zunächst nicht mehr als eine Momentaufnahme im Gespräch, erfährt im frühen 18. Jahrhundert eine in mehrfacher Hinsicht einschlägige intertextuelle Nobilitierung, die das Format der Ristschen ‚Monatsgespräche‘, für das hier paradigmatisch Herr Kallorin einsteht, zum Gattungsvorläufer modelliert. Am 29. Dezember 1725 beginnt im 104. Stück der Moralischen Wochenschrift Der Patriot, die nicht nur als deutscher Gattungsarcheget gelten kann, sondern als dezidiert hamburgisches Blatt am kosmopolitischen Selbstverständnis des Hamburger Bürgertums mitarbeitet, eben jener Patriot folgendermaßen: Jch ging neulich, nebst meinem Vetter, […] zu meinem Freunde, Herrn Kallorin, und dessen Compagnon, zweenen berühmten Handels-Leuten dieser Stadt, […] und hatte das Vergnügen, den Herrn Licentiat Florindo, den alten Herrn Doctor Aristander, und Herrn Eusebius, einen Geistlichen unsers Kirchspiels, bey ihm vorzufinden. Wir machten eine Gesellschaft von sieben Personen aus, und wurden, auf Anthalten [sic] unsers Wirths, einig, den Abend beysammen zu bleiben. Ein ieder schien nicht allein sehr aufgeräumt, sondern auch mit der Gesellschaft und deren Unterhaltung vergnügt zu seyn. Unsere Gespräche waren von gar mannichfaltigen Dingen, bald munter, bald ernsthaft: und wie in dergleichen Unterredungen nichts leichter ist, als von einer Sache auf die andere zu kommen, so geriethen wir auch auf den Punct von der Gutthätigkeit. Jnsonderheit warff einer aus der Gesellschaft die Frage dabey auf: Welches doch der stärckste Bewegungs-Grund wäre, diese wichtige Tugend auszuüben.65
Durchaus untypisch für die Stücke des Patrioten, ganz und gar typisch hingegen für die ‚Monatsgespräche‘, beschließt an exponierter Stelle den zweiten Jahrgang der Moralischen Wochenschrift ein Ristsches Gesprächstableau,66
64 Zu Hamburgs „Rolle eines Pressezentrums“ vgl. Carsten Prange: Die Zeitungen und Zeitschriften des 17. Jahrhunderts in Hamburg und Altona. Ein Beitrag zur Publizistik der Frühaufklärung. Hamburg 1978 (Beiträge zur Geschichte Hamburgs 13), S. 20 f., hier S. 20, außerdem S. 25–40; Martin Krieger: Patriotismus in Hamburg. Identitätsbildung im Zeitalter der Frühaufklärung. Köln u. a. 2008, S. 30–32; Mannack (Anm. 63), S. 166 f. 65 Der Patriot vom Jahre MDCCXXIV, MDCCXXV. und MDCCXXVI. Mit einem Register über alle drey Jahr. Hamburg, bey Johann Christoph Kißnern, No. 104. Sonnabends, den 29. December, 1725, fol. Hhhhh 1r. 66 Wolfgang Martens erkennt in seinem Kommentar (Der Patriot nach der Originalausgabe Hamburg 1724–1726 in drei Textbänden und einem Kommentarband kritisch hg. von W. M. Bd. IV: Kommentarband. Berlin, New York 1984, S. 324) darin hingegen nur eine Reminiszenz des „Spectator-Club“. Schon in seiner bahnbrechenden Monographie zur Moralischen Wochenschrift (Wolfgang Martens: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen
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das nicht nur den „Herrn Kallorin“ als Gastgeber zentral setzt, gleichsam in die Position des Rüstigen, sondern auch weitere Konversationspartner auf den Plan führt, die Gesellschaftsnamen des Schwanenordens tragen.67 Wenn am Ende des 104. Stücks, nachdem „ein ieder nach der Reihe […] seine Meinung […] entdeck[t]“ hat, der Patriot anstelle eines eigenen Beitrags an seine Leser gewandt resümiert, „[d]er Jnhalt dieses unsers Gespräches hat einen so genauen Zusammenhang mit dem Endzwecke meines wöchentlichen Papiers, […] daß ich geglaubet, eine Erzehlung davon würde sich zu dem Schlusse des gegenwärtigen Jahres nicht unfüglich schicken“, so gilt das nicht nur hinsichtlich der inhaltlichen Kongruenz (die Moralische Wochenschrift als „Gutthätigkeit“ gegenüber seinen „Mitbürgern“),68 sondern auch strukturell. Rists ‚Monatsgespräche‘ schicken sich, akzentuiert man an ihnen ihren Erscheinungskontext, die von Kallorin starkgemachte publizistische Monopolstellung Hamburgs, in der Tat ‚nicht unfüglich‘ zum fraglos journalförmigen „Hamburgischen Patrioten“.69 An die derart ‚journalifizierend‘ konstruierte Genealogie knüpfen in den beiden Folgejahrzehnten Fabricius/Schwabe und das Universal-Lexicon begrifflich und klassifikatorisch an.
Moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1968, S. 77) hatte er eine Referenz auf Rists ‚Monatsgespräche‘ ausgeschlossen mit der Begründung, es seien „[z]war […] die einzelnen Redepartien durch erzählenden Text verbunden, jedoch tritt kein Erzähler, keine Verfasserfigur mit ihrem Ich irgendwie in Erscheinung“. Letzteres stimmt freilich nicht so ganz, vgl. die Interferenzen zwischen Ich-Erzählung in der Verantwortung des „Rüstigen“ und in dritter Person erzählter Figur des „Rüstigen“ zu Beginn der Aprilens-, der Mäyens- und der Brachmonats-Unterredungen (IV/1–4; V/5–8 und 31 f.; VI/10 und 94). Für den Eingang der Aprilens-Unterredung beobachtet das auch Mast (Anm. 3), S. 197 mit Anm. 561. 67 Vgl. Deutscher ZimberSwan (Anm. 63), S. 183 f., wo alphabetisch die „OrdensNamen der Herren Geselschafter“ samt Initialen der Klarnamen verzeichnet sind, darunter „Aristander“ und „Florindo“ (S. 183); entschlüsselt werden sie in der dem Deutschen ZimberSwan angehängten Prosaekloge „Zimbrischer Swanen Preis“, S. 233–235, hier S. 234. Die mit einem Register versehene dritte Auflage des Patrioten (Der Patriot. Zweytes Jahr. Neue und verbesserte Ausgabe, mit vollständigem Register. Dritte Auflage. Mit Röm. Kayserlichen, Königl. Pohlnis. und Churfürstl. Sächsischen, wie auch Königl. Preußischen und Churfürstl. Brandenburgischen, allergnädigsten PRIVILEGIIS. Hamburg, gedruckt bey Conrad König, 1747) weist Kallorin, Florindo, Aristander (und Eusebius) als nur im 104. Stück vorkommende Figuren aus. 68 Der Patriot No. 104 (1725) (Anm. 65), fol. Hhhhh 1v und Hhhhh 2v. 69 So bereits zeitgenössisch die übliche Identifikation des Patrioten mit seinem Erscheinungsort, vgl. z. B. Die Vernünftigen Tadlerinnen Erster Jahr-Theil 1725. HALLE im Magdeburgischen, Verlegts Johann Adam Spörl/ des Königl. Preußl. Reformirten Gymnasii illustris privileg. Buchhändler. XXI. Stück. Mittwochs/ den 23. May 1725, S. 161.
Rist und die politischen Diskurse
Barbara Becker-Cantarino
Johann Rists Der adeliche Hausvatter und die frühneuzeitliche Ökonomie-Literatur In seinem Lobgedicht an seinen Herren Rüstigen für Rists Der adeliche Hausvatter schrieb Harsdörffer im Herbst 1649: DEr grosse Friedensgott hat uns den Fried gegeben/ […] Der Edle Rittersmann ist nun des Kriegs erlassen Und wohnt auff seinem Sitz: Wie der sich halten sol/ Gott und der Welt behagen Samt Seinem Weib’ und Kind/ Wie Er mit sanftem Muht die Herrschafft solte tragen Ob seinem Hausgesind/ Daß lehret dieses Buch zu rechter Zeit geschrieben Von dem der Rühmlich ist/ Der unsre Teutsche Sprach’ erhebt und machtet lieben. Wer ist Er? Unser Rist.1
Harsdörffers Ehrengedicht beschreibt kurz und bündig den Inhalt und die Intention von Rists Der adeliche Hausvatter (1650), dem Harsdörffers Gedicht neben weiteren neun „Ehrengedichten vornehmer Herren und vertrauter Freunde“ vorangestellt ist. Rists Werk Der adeliche Hausvatter, abgefasst ein Jahr nach dem Friedensschluss, gehört in den Anfang der Aufbauphase nach dem Dreißigjährigen Krieg, leitet diese gewissermaßen ein und zwar aus lutherisch-pastoraler Perspektive. Es gehört in die Literaturgattung der Oeconomia Christiana und darf als solches unsere Aufmerksamkeit beanspruchen, auch wenn es in der zumeist dem Lied und der Dramatik Rists gewidmeten Rist-Forschung kaum beachtet, geschweige denn gelesen worden ist.2 Unter dem Stichwort ‚Hausväterliteratur‘
1 Alle Zitate nach dem Neudruck in: Johann Rist: Sämtliche Werke, Bd. 7: Prosaabhandlungen. Philosophischer Phoenix. Rettung des Phoenix. Teutsche Hauptsprache. Adelicher Hausvatter. Hg. von Eberhard Mannack unter Mitwirkung von Helga Mannack und Klaus Reichelt. Berlin 1982 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 99), Berlin, New York 1982, S. 150–380; hier S. 182 f. Harsdörffers Gedicht ist auf den 8. Oktober 1649 datiert. Mehr zu den Ehrengedichten unten. 2 Die einzige neuere Studie, die Rists Übersetzung berücksichtigt, stellt Aurnhammers Buch zur Tasso-Rezeption dar: Achim Aurnhammer: Torquato Tasso im deutschen Barock. Tübingen 1994 (Frühe Neuzeit 13), S. 248–260.
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ist es seit den 1970er-Jahren in der Germanistik in die Schublade der ‚Hausbücher‘ gesteckt worden, die aus der Perspektive der ‚Hausbücher‘ des 19. Jahrhunderts und der der Literaturästhetik als eher altmodisch, zu feudal und einfältig abgetan wurden. Schon Gotthart Frühsorge hat bemerkt: „Die Last der Oikos-Theorie hat den Realitätsgehalt dieser Literatur [der barocken Hausväterliteratur] innerhalb der Geschichte ihrer Gattung zugedeckt.“3 Deshalb geht es mir erstens um eine Aufarbeitung von Rists Der adeliche Hausvatter und die Einordnung in sein Werk und seine Zeit sowie zweitens um die Betrachtung der Gattung der Oeconomia Christiana als einer Anleitungs- oder Gebrauchsliteratur. Rists Der adeliche Hausvatter erhält seinen Wert und Stellenwert innerhalb der lutherischen ÖkonomieLiteratur des 16. und 17. Jahrhunderts.
1 Ausgaben, Druck und Vorlagen Bekanntlich ist Der adeliche Hausvatter in Band 7, dem zuletzt erschienenen Band der leider unvollendet und kommentarlos verbliebenen Ausgabe Johann Rist. Sämtliche Werke (1967ff.), seit 1982 im Neudruck zugänglich. Der Neudruck beruht auf der einzigen Ausgabe des Werkes von 1650, auch das VD 17 und Dünnhaupt haben keine weiteren Drucke ermitteln können. Die meisten der acht aufgefundenen Exemplare befinden sich zumeist in norddeutschen Bibliotheken im protestantischen Raum,4 was auf den protestantischen Adressaten- und Leserkreis des Werkes schließen lässt. Die Übertragung dieses Rist’schen Textes ins Niederländische von 1658 (und in zweiter Auflage 1756) erhärtet diese Vermutung.5 Gedruckt wurde Der adeliche Hausvatter von „Johan und Heinrich Stern zu Lüneburg“, dem renommierten Stern’schen Verlag für lutherische Erbauungs-
3 Gotthardt Frühsorge: Johann Joachim Bechers Entwurf einer „Oeconomia perfecta ruralis et domestica“. Kritische Überlegungen zum Forschungsstand. In: Johann Joachim Becher. Hg. von Gotthardt Frühsorge und Gerhard F. Strasser. Wiesbaden 1993, S. 23. 4 Rist: Werke (Anm. 1), Bd. 7, S. 386 f.: Exemplare befinden sich in Göttingen, Kiel, Lüneburg, Marburg, Weimar, Wolfenbüttel und Kopenhagen. Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. 6 Teile. Stuttgart 21990–1993 (Hiersemanns Bibliographische Handbücher 9), Teil 5, S. 3374–3432, Nr. 53 verzeichnet Exemplare in München, Urbana, IL, Yale; das VD17 nennt ein weiteres Exemplar in Berlin (Staatsbibliothek). Ich konnte das Exemplar Wolfenbüttel (138.13 Ethica [1]) einsehen. Das Münchner Exemplar liegt digitalisiert vor. 5 Rist: Werke (Anm. 1), Bd. 7, S. 387. Dass eine Übersetzung ins Niederländische in zwei Ausgaben publiziert wurde, erhärtet die Vermutung eines speziell protestantischen Leseinteresses, zeigt aber zugleich, dass dieses nicht nur in der lutherischen, sondern auch in der reformierten Konfession vorhanden war. Die niederländische Übersetzung lag mir nicht vor.
Rists Der adeliche Hausvatter und die frühneuzeitliche Ökonomie-Literatur
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literatur. Hier erschienen u. a. Arndts Paradiesgärtlein und Bücher von wahrem Christentum sowie Werke Josua Stegmanns und diverse Drucke der Lutherbibel. Vater Johann und Sohn Heinrich hatten den Verlag 1624 mit dem Druck einer niederdeutschen Bibel begonnen, der sechzig weitere Drucke der Lutherbibel im 17. Jahrhundert folgen sollten. 1646 war Vater Johann vom Kaiser in den erblichen Ritterstand erhoben und die Familie in das Patriziat in Lüneburg aufgenommen worden.6 „Die Sterne“ waren auch die Verleger von Rists Himmlischen Liedern seit ihrem ersten Erscheinen 1641/42 (aber nicht aller seiner literarischen Werke). 1649 ließ Rist ein Hochzeitliches Frühlingsgedicht für Heinrich Sterns Hochzeit am 8. Mai drucken.7 Dann zeigte sich Rist wieder dem Stern’schen Verlag gegenüber erkenntlich, als er 1651 das Treffen der Verleger Matthäus Merian, der Gebrüder Elzevir sowie der Sterne in Lüneburg mit einem Gedicht feierte.8 1652 besang Rist im Lobgesang Der edlen Buchdrükkerkunst die Aufnahme von Johann Stern d. J. in die Buchmacherzunft und verfasste 1655 eine Depositio Cornuti, Das ist: Lustoder Freudenspiel für das Ritual des Gesellenmachens bei Stern in Lüneburg.9 Rists Zusammenarbeit mit dem Verlag für den Adelichen Hausvatter – vielleicht war es eine Auftragsarbeit? – und dessen Interesse an Rists Werk weisen wohl darauf hin, dass diese Schrift für ein gehobenes, protestantisches Laienpublikum geplant war, eben die Grundbesitzer aus dem Kleinadel und Bürgertum, die nach dem Friedensschluss nun an die Aufbauarbeit gehen wollten. Auch die Beigabe von acht Kupferstichen, auf die noch einzugehen ist, dürfte das bestätigen. In den 1640er-Jahren arrivierte Rist literarisch und gesellschaftlich: 1646 war er von Kaiser Ferdinand III. zum Kaiserlich Gekrönten Poeten ernannt worden und 1647 wurde er auf Vorschlag Harsdörffers als „der Rüstige“ unter der Nummer 467 als Mitglied in die Fruchtbringende Gesellschaft aufgenommen, nachdem ihn im Jahr zuvor (1646) Herzog Christian von Mecklenburg zum Kirchen- und Konsi-
6 Vgl. Josef Benzing: Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. 2. verb. und ergänzte Auflage. Wiesbaden 1982 (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 12), S. 304. 7 Ein Exemplar befindet sich in Wolfenbüttel mit von Rist selbst komponierter Melodie, Dünnhaupt Nr. 47. 8 An Die allerfürtrefflichste und höchstberühmteste Drukker-Herren in gantz Teutschland. Die Herren Sterne/ Gebrüdere/ Den Herren Eltzevier und Den Herren Merian/ Alß diselbe im Augustmonat diseß 1651. Jahres/ zu Lüneburg/ in der Herren Sterne Behausung bei einander waren. o. O., o. J. (Exemplar Wolfenbüttel, Dünnhaupt Nr. 58 C). 9 Exemplare in Wolfenbüttel, Dünnhaupt Nr. 64 A (Lobgesang) und Nr. 73.1 (Depositio). Zum Ritual der Gesellenmachung der Buchdruckergesellen und Rists Depositio vgl. den Aufsatz von Thomas Rahn in diesem Band.
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storialrat ernannt hatte.10 1653 erfolgte dann Rists Erhebung in den persönlichen Adelsstand, 1654 die Ernennung zum „Pfaltz-Hoff-Grafen“. Der gesellschaftliche Aufstieg spiegelt sich in den Vorreden zum Adelichen Hausvatter, in der Wahl der Widmungsadressaten, den Ehrengedichten und in den erwähnten Beratern und Freunden. Aus dem sozialen Aufstieg leitet sich auch Rists Anspruch her, als Berater in Fragen adeliger Haushaltung zu fungieren: „ein nützliches Buch zu verteutschen/ diese hochlöbliche Fruchtbringende/ recht Fürstliche Gesellschafft dadurch ferne zu vergnügen zugleich auch dem werten Vaterlande damit zu dienen.“11 Rist widmete das Werk Jaspar von Oertzen, dem deutsch-dänischen Hofmarschall und Landdrosten (Landrat) der Herrschaft Pinneberg, und dessen Ehefrau Anna Maria, geb. von dem Knesebeck.12 Neben den üblichen Höflichkeitsfloskeln weiß Rist geschickt einzuflechten, dass Gott ihm für seine Gelehrsamkeit „manchen führnehmen glehrten Herren/ ja wol mächtige Fürsten so wol in- als ausserhalb Teutschlands zu hat erwecket“ und dass er des öfteren bei dem Drosten mit „anderen grossen Männern […] der hochlöblichen Meklenburgischen Ritterschaft“ zu Gast gewesen ist.13 Rist versäumt es auch nicht, der „Hochedelgebohrnen/ Vieltugendbegabten Frau Drostinn“ als „Adeliche[r] Hausmutter“ sein Kompliment zu machen und stellt ihre „wohlbestätigte Ehe“, ihren „schönen und wolständigen Leib“, ihr „unübertreflich herrliches Gemüt“, ihre Gottesfurcht, Höflichkeit, Frömmigkeit und Demut heraus, die er selbst bei seinen Besuchen bemerkt habe.14 Indem sich Rist als Hausgast und seine persönliche Bekanntschaft, wenn auch aus der Perspektive der Untertänigkeit, vorstellt, erhalten die barocken Komplimente einen Hauch genuiner Verehrung und bleiben dennoch im Rahmen höflicher Etikette und sozialem Abstand, den Rist jedoch auch mit
10 Hierzu ausführliche Dokumentation bei Dieter Lang: Johann Rist und sein Bild der Gesellschaft. Diss. Potsdam 1971, S. 33ff. und 76; Jens Kirchhoff und Michael Kohlhaas: Stammfolge von Melchior Rist aus Nördlingen, http://www.nd-gen.de/wordpress/wp-content/uploads/2013/10/ rist_sf.pdf (eingesehen am 22. 12. 2013). 11 Rist: Werke (Anm. 1), S. 175 f. 12 Jaspar von Oertzen (geb. 1616 in Satow, gest. 1657 in Hamburg) wurde 1651 auch in die Fruchtbringende Gesellschaft aufgenommen. Vgl. Johann Rist: Neüer Teütscher Parnass/ Auff welchem befindlich Ehr’ und Lehr Schertz und Schmertz Leid- und Freüden-Gewächse/ Welche zu unterschiedlichen Zeiten gepflantzet/ nunmehr aber Allen/ der Teütschen Helden-Sprache und deroselben edlen Dichtkunst vernünfftigen Liebhaberen/ zu sonderbarem Gefallen zu hauffe gesamlet und in die offenbahre Welt außgestreüet […]. Lüneburg 1652 (Reprint Hildesheim u. a. 1978), S. 386. Anna von Oertzen war Tochter des Jaspar von dem Knesebeck, des Osnabrückischen Drosten zu Fastenau und Verden; vgl. Georg Christian Friedrich Lisch: Urkundliche Geschichte des Geschlechts von Örtzen. Schwerin 1890, Teil 3, S. 191 f. 13 Rist: Werke (Anm. 1), S. 162. 14 Ebd., S. 165.
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dem Gestus des gebildeten Literaten und Ratgebers lebendig ausfüllen kann. Auch die zehn Ehrentexte15 von Theologen und Gelehrten aus seinem Freundeskreis, darunter Gedichte von Buchner, Harsdörffer, Johann Hudemann (dem Generalsuperintendenten von Schleswig-Holstein, Studienfreund Rists und Verfasser von Rists Leichenpredigt) und Tobias Petermann bestätigen Rists Selbstdarstellung als eines kompetenten, gelehrten Dichters und Ratgebers. In seiner Vorrede berichtet Rist über die Entstehung seines Werkes. Mit seinem Freund und Gönner Eberhard Möller, dem Stiftsherrn und Senior des Domkapitels in Hamburg,16 habe er einst (1648) in dessen Wohnung schöne italienische und französische Bücher durchgeblättert und Möller habe ihn daran erinnert, dass er als neues Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft nun gleichfalls wie andere Mitglieder auch „etwan ein nützliches Buchs zu verteutschen“ sich vornehmen möge, um „diese hochlöbliche Fruchtbringende/ recht Fürstliche Gesellschafft dadurch ferner zu vergnügen/ zugleich auch dem wehrten Vaterlande damit zu dienen“.17 Da die zunächst vorgeschlagene Dianea des Francesco Loredano schon von einem Gesellschafter übersetzt worden war, und Die Unterweisung eines christlichen Fürsten (von Antonio de Guevara) 1639 von dem Gesellschafter Christian II. von Anhalt-Bernburg publiziert worden war, habe Möller ein Werk Torquato Tassos, Il Padre de Famiglia, vorgeschlagen, das Möller jedoch nur in französischer Übersetzung besaß.18 Das italienische Original konnte Rist nicht beschaffen. Rist arbeitete ein dreiviertel Jahr an seinem Hausvatter, wurde durch „Krankheit/ Widerwertigkeit und andere ungefährliche Zufälle/ so offt und vielfältig verhindert“, so dass er erst im Frühjahr 1649 fertig wurde, der Druck sich
15 1. Eine französische Prosawidmung von Jean Bherr, Ahlden; 2. „Lobgedicht an seinen Herren Rüstigen“ von Georg Philipp Harsdörffer; 3. Lateinisches Gedicht von August Buchner; 4. Lateinisches Gedicht von Johann Georg Stürtzel, dem Augsburgischen Rat in Rothenburg o. d. Tauber; 5. Lateinischer Sechszeiler von Christoph Basilius Pistorius (Becker), Pastor in Husum und Poeta Laureatus; 6. Klinggedicht von Johann Hudemann; 7. Deutsches vierzeiliges Epigramm von Theobald Grummer, tätig in Lüneburg, dann in Narva, Livland; 8. Französisches Sonett von Pierre Basse, dem Lübischen Rat in Mölln; 9. Deutsches Versgedicht von Tobias Petermann, Schulrektor in Pirna, Kaiserlich gekrönter Poet, übersetzte Rists Himmlische Lieder ins Lateinische (publiziert 1655); s. hierzu den Beitrag von Andreas Betz in vorliegendem Band; 10. Ein „Doppelter Reimsatz“ von Enoch Gläser, Jurist und Poet aus Schlesien. 16 Vgl. Gregor Rohrmann: Joachim Moller gründet ein Geschlecht. Erinnerungsräume in Hamburg im 16. und 17. Jahrhundert. In: Macht und Memoria. Begräbniskultur europäischer Oberschichten in der Frühen Neuzeit. Hg. von Mark Hengerer. Köln 2005, S. 91–130. 17 Rist: Werke (Anm. 1), S. 175 f. 18 1626 war schon Tassos Das befreite Jerusalem, übersetzt von Diederich von dem Werder, erschienen.
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aber wegen der Kupferstiche und anderer Hindernisse bis zum Ende des Jahres verzögerte.19 Rist lag die französische Tasso-Übersetzung vor: L’esprit, ou L’ambassadeur, le secrétaire et le père de famille: traittez excellens de Torquato Tasso, mis en nostre langue par I. Baudoin,20 die 1632 in Paris erschienen war und drei Dialoge Tassos enthielt, denen Rist „den Ambassadeur, wie auch den Secretaire, (alß welche eigentlich den Welt- und Hofeleuten zugehöreten) an die Seite“ setzte und nur das „letste Büchlein aber/ alß den Pere de Famille oder Hausvater […] in guht/ rein/ und verständlich Teutsch“ brachte. Autor der französischen Tasso-Übersetzung war Jean Baudoin (Johannes Balduinus, 1590?–1650), der Vorleser bei der Königin Marguerite war und dem Gefolge des Maréchal Louis de Marillac angehörte. Baudoin wurde 1634 als einer der ersten in die Académie Française mit der Sitznummer 18 aufgenommen. Baudoin war ein versierter, mehrsprachiger und fleißiger Übersetzer aus dem Italienischen (von Tasso, Mazarini, Giacomo Bossio, Ottavio Finelli, Lorenzo Selva, Cesare Ripa u. a.), aus dem Spanischen (Texte von Angel Manrique, Pedro de Oña, Garcilaso de la Vegada u. a.), dem Lateinischen (Tacitus, Sallust, Justus Lipsius, Dio Cassius u. a.) und dem Englischen (Francis Bacon, Francis Godwin, Countess of Pembrokes Arcadia), da er mit Unterstützung der Königin Maria de’ Medici eine Englandreise unternommen hatte. Obwohl Baudoin schließlich 1650 „de faim et de froid“ in Paris verstarb, war er ein wichtiger Akteur des Literaturtransfers innerhalb der Romania und nach Deutschland hin, dessen Übersetzungen auch als „naturel, facile, & françois“ gewürdigt wurden.21 Er war im Milieu jener Gelehrten zuhause, die der Aristokratie verpflichtet waren und bediente als eine Art professioneller Übersetzer deren Wissensbedürfnis und Lebensstil mit seinen Übersetzungen. Ähnlich war auch der eine Generation ältere Tasso (1544–1595) italienischen Fürstenhöfen (Ferrara, Turin) verbunden. Tassos Dialog Padre di famiglia (1580) ist eine an den Adel mit großem Landhaus und Grundbesitz gerichtete, Scipio Gonzaga gewidmete Schrift, die mit einer autobiographischen Anspielung beginnt.22 Der inkognito reisende Verfasser (wie Tasso von sich über seine Flucht aus Ferrara
19 Vgl. Rist: Werke (Anm. 1), S. 176. 20 Exemplar der Bibliothèque nationale de France, département Réserve des livres rares, E*5306. Vgl. zum poetischen Wettstreit Rists mit Baudoin: Aurnhammer: Tasso (Anm. 2), S. 249–252. 21 Vgl. Emanuel Bury: Jean Baudoin (1584–1650), témoin de la nature baroque et pionnier du classicisme. In: XVIIe siècle 216 (2002), S. 393–396. 22 Eine englische Übersetzung von Thomas Kydd: The Householder’s Philosophy erschien bereits 1588; eine moderne deutsche Übersetzung von Tassos Text stammt von Emil Staiger: Die Einkehr. Frankfurt a. M. 1972 (im Rahmen der Neuübersetzung der Werke Tassos). Staiger benutzt statt ‚Hausvater‘ das Wort ‚Gutsherr‘; s. Irmintraut Richarz: Herrschaftliche Haushalte in
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berichtet) trifft auf seiner Reise in den Piemont den Sohn eines Landadeligen auf der Jagd, der ihn auf sein Landgut einlädt, wo er mit dem Hausherrn und dessen Sohn Gespräche über die Wirtschaft des Hauses und die Menschen in ihm führt.
2 Rists Übertragung und „Erläuterungen“ Rist überträgt Tassos Text in enger Anlehnung an die französische Vorlage, teilt ihn jedoch in acht „Abtheilungen“ von sehr unterschiedlicher Länge ein, die er jeweils mit einem langen Kommentar als „Erläuterung“ der jeweiligen Abteilung ergänzt und aufschwellen lässt. Von Rist entworfene, stichwortartige und zahlreiche Randbemerkungen helfen dem Leser weiter bei der Orientierung. Die (bei Tasso und Baudoin nicht vorhandenen) Randbemerkungen sind keine gelehrten Exkurse, die angelesenes Wissen zur Schau stellen, sondern sie bringen den Text auf den Punkt. Wie bei Baudoin (aber nicht bei Tasso) erschließt auch ein ausführliches „Register oder Blattweiser Uber den Adelichen Hausvatter“ den wissenswerten Inhalt der Schrift, was den moralisch-belehrenden Ton noch verstärkt. Rists Gliederung des eher fließenden, nur als Gespräche markierten Textes von Tasso greift die Themen auf, die Rist für wichtig erachtet. Hier eine knappe Übersicht über Rists Gliederung seiner Übertragung: 1. Abteilung: Der Fremde wird in das Haus eingeladen, Beschreibung eines Landgutes in patriarchaler Tradition. 2. Abteilung: Bei einer Mahlzeit werden Produkte und Früchte des Gutes vorgestellt, der Gast lernt auch die Familie (Frau und Kinder) kennen. 3. Abteilung: Wert des Weines, Bedeutung der Jahreszeiten für die gute Ernte. 4. Abteilung: Der Hausvater erklärt seine Rolle und Aufgaben, die Wahl und Rolle der Ehefrau und die gute Ehe. 5. Abteilung: Erziehung der Kinder. 6. Abteilung: „Hausknechte“ und „Regierung des Gesindes.“23 7. Abteilung: Ackerbau, Viehzucht, Verwaltung des Gutes, Führung des Haushalts durch die Hausmutter, Erwerb und Handel. 8. Abteilung: Geld, Wechsel, Wucher; eine Unterscheidung von fürstlichem, bürgerlichem und gemeinem Haushalt wird konstatiert (nicht aber weiter diskutiert).
vorindustrieller Zeit im Weserraum. Berlin 1971 (Beiträge zur Ökonomie von Haushalt und Verbrauch 6), S. 64–66. 23 Rist: Werke (Anm. 1), S. 299.
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Mit diesem Themenspektrum vermittelt Rist die Schwerpunkte des Tasso’schen Textes (das Haus als Wirtschaftseinheit und Lebensform: der Haushalt und seine Personen, zentriert um den „Hausvater“), bringt jedoch in den einzelnen „Abtheilungen“ den jeweiligen Inhalt in lockerer, teilweise unsystematischer, episodischer Form. Tassos Text fließt ebenfalls eher plaudernd und unterhaltend dahin, um etwaige Didaktik und trockene Anleitung bei der Wissensvermittlung zu literarisieren, und ist mit einer Reihe von Zitaten und Verweisen (etwa auf Mithridates, Kaiser Titus oder Karl V.) aus dem Horizont der Romania und im Stil des späten 16. Jahrhunderts ausgeschmückt. Aus der Perspektive der Rist-Forschung ist nun interessant, welche Themen Rist in seinen unterschiedlich ausführlichen, eigenen Erläuterungen eklektisch aufgreift, kommentiert, erweitert und wie er sie ergänzt. Hierbei sollen auch die (wohl eigens für diesen Druck hergestellten) Kupferstiche als Illustrationen dienen, die von dem aus Amsterdam stammenden Franz Steuerholt signiert sind.24 Rist kannte Steuerholt persönlich, der bereits 1652 verstarb, er war mit ihm entfernt verwandt: Rist verfasste ein Hochzeitsgedicht, eine „Klag- und Todschrift“ und eine „Grabschrift“ auf Steuerholt, der 1649 die Tochter des Ottenser Pastors Arnold Schepler geheiratet hatte.25 Schepler war Rists Schwager. Steuerholt illustrierte keine weiteren Werke Rists, schuf aber noch ein Portrait von Rist.26 Zentral ist zunächst die auch auf dem Titelkupfer abgebildete Figur des „Hausvaters“ (padre de famiglia, père de famille), wobei Rist nicht das Wort Familie (lat. familia) aus der Romania übernimmt. „Familie“ hat sich bekanntlich im Deutschen erst im 18. Jahrhundert aus dem Französischen kommend eingebürgert und die ältere Bezeichnung „Haushaltung“ als Übersetzung von „Oeconomia“ ersetzt.27 Der frühneuzeitliche Begriff „Oeconomia“ bedeutete (anders als dann im 18. Jahrhundert) die ökonomische Produktions- und die menschlich-persönliche Lebensgemeinschaft in einer „Haushaltung“. Die Verbindung dieser beiden Aspekte, des wirtschaftlichen wie des zwischenmenschlichen, im Begriff des „ganzen Hauses“ (ein von Otto Brunner für das „adelige Landleben“
24 Ich danke Franziska May für die Informationen zu Steuerholt aus: Ernst Rump: Lexikon der bildenden Künstler Hamburgs, Altonas und der näheren Umgebung. Hamburg 1912, S. 136. 25 S. Stammfolge der Familie Schepler: http://www.nd-gen.de/images/pdf/scheplersf.pdf (eingesehen am 23. 4. 2013). 26 Exemplar in der HAB Wolfenbüttel, Porträtsammlung. 27 Michael Mitterauer und Reinhard Sieder: Vom Patriarchat zur Partnerschaft. Zum Strukturwandel der Familie. München 1977, S. 22 f., schlagen ,Hausgemeinschaft‘ und ,Haushaltsfamilie‘ als Übersetzung von ,oeconomia‘ vor.
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des 17. Jahrhunderts geprägter moderner Terminus)28 ist bei Rist durchgehend als „die Haushaltung“ präsent. Rist stellt fest, dass das „Amt eines guhten Hausvatters in zweien Stükken bestehe/ nemlich in der Person und in dem Guhte.“ Und Rist erläutert: „Die Person betreffend/ so wird ein guhter Hausvatter betrachtet Erstlich als ein Ehemann/ fürs Ander alß ein Vatter/ fürs Dritte alß Ein Herr.“29 Das stattliche Hausvater-Bild des Titelkupfers wird in der Illustration zur 1. „Abtheilung“ mit einer Jagdszene konterkariert, eine Huldigung an das Adelsprivileg und zugleich eine Warnung an den guten Hausvater. Rists Erläuterungen kritisieren die (bei Tasso beiläufig als „Belustigung“ des „jungen Edelmannes“ erwähnte) Jagd mit einer Fülle von Argumenten: Bibelstellen, Exempeln und Histörchen. Kein einziger Heiliger sei ein Jäger gewesen, Christus sei ein Hirt gewesen, aber kein Jäger, Augustin habe den Jäger mit dem Teufel verglichen, die heidnischen Könige seien Liebhaber des Jagens gewesen. Rist erwähnt Unfälle bei der Jagd, beargwöhnt, dass Jäger sich am Sonntag sündhaft vergnügten statt zum Gottesdienst zu gehen, und berichtet, dass die „Hausfrau“ eines auf die Jagd versessenen Edelmannes ein Kind mit „einem natürlichen Windhundskopf“ geboren habe.30 Es sind zumeist Topoi aus der zeitgenössischen Jagdkritik, doch geht Rist ausführlich auf wirtschaftliche und soziale Argumente ein: Äcker und Landwirtschaft würden bei der Hetzjagd zerstört, die beim Jagen vertane Zeit halte von der Arbeit ab, die Kosten für die Erhaltung großer, viel Fleisch fressender Hunde ruiniere den Haushalt, die Jagd führe zur Verrohung und Mutwilligkeit der Jäger statt zu christlicher Demut und Nächstenliebe. Diese wortreiche Tirade gegen das Jagen artikuliert Argumente der zeitgenössischen Adelskritik und zeigt die realhistorischen sozialen und wirtschaftlichen Konflikte, die das adelige Privileg und die vielfach ausufernde Jagdleidenschaft hervorgerufen hatte.31 Rist geht dann jedoch recht unvermittelt auf ein Lob der Höflichkeit über und lobt die adeligen Häuser in Holstein (das Schloss Breitenburg der Rantzaus, das Haus Lehmkuhlen derer von Ahlefeld, die adligen Güter Bothkamp und Quarnbek), die ebenso gastlich seien wie die „himmlische Wohnung vor die Auserwählten“ und einen Vorgeschmack darauf abgäben.32 Rists „Erläuterung“ wechselt von Tadel
28 Otto Brunner: Hausväterliteratur. In: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften. Bd. 5. Stuttgart u. a. 1956–1966, S. 92 f. 29 Rist: Werke (Anm. 1), S. 266. 30 Ebd., S. 203. 31 Schon im Bauernkrieg forderten die Bauern freie Jagd und Fischerei; die HAB Wolfenbüttel hat allein aus dem 16. Jahrhundert 24 Titel mit Beschwerden über die Jagd wie: Bericht vom Hetzen und Jagen und was davon zu halten sei, Erfurt 1593, vermutlich von Thomas Sigfrid (Wirkungszeit 1590–1598). 32 Rist: Werke (Anm. 1), S. 209.
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zu Lob in seiner Kommentierung adeliger Verhaltensweisen und Lebensformen; seine Perspektive ist hier (in der ersten „Erläuterung“) eine pastorale Kritik an landadeliger Lebensweise und zugleich Komplimentierung adeliger Tugenden aus lutherischer Perspektive. Ein Gastmahl an einer reichen, aber nicht zu üppigen Tafel zeigt die Illustration zur 2. „Abtheilung“. Gleich danach lobt Rist die Gastfreundschaft, berichtet von der Wirtschaft des Gutes, von Ackerbau, den Holzungen, den Wiesen, der Fruchtbarkeit des Gartens – mit der sensationellen Meldung von einer Melone von 40 Pfund – um dann recht unvermittelt Ratschläge über das Heiratsalter und das richtige Alter, Kinder zu haben, einzuschalten. Rist rät weiterhin zu einer autarken, selbstgenügsamen Wirtschaft: „Ein Hausvater soll sich mit demjenigen/ daß ihm sein Landgut giebet behelfen“.33 Dann folgt (als Echo auf Tassos Relation über Helden, die wie Äneas viel Wildbret gegessen hätten) eine Lektion über verschiedene Sorten von Wildbret (Reh, Hase, Wildschwein, Hirsch, Tauben) und deren Verdaulichkeit gemäß der Säfte-Lehre. Das Bild vor der 3. „Abtheilung“ illustriert die Arbeiten der Haushaltung: Ackerbau (Feldarbeit, Obsternte, Weinanbau) und Viehzucht (Hausschlachtung). Rists Erläuterungen preisen den deutschen Wein gegenüber dem französischen und spanischen: „Kein Wein ist rein/ Als Rheinischer Wein“.34 Rist geht dann recht schematisch die Jahreszeiten vergleichend durch und bestätigt „Gott selber hat den Anfang des Jahres in den April gesetzet“.35 Rists Betonung der vielfältigen Tätigkeiten als Arbeit mit realhistorischen Einschüben geht weit über Tasso hinaus, der vom Wein und dem Genuss der Jahreszeiten handelt, während Rist aus der Perspektive der aktiven Feldarbeit (aber nicht des Bauern) die ländliche Tätigkeit, nicht den Genuss der geernteten Güter, preist. Die 4. „Abtheilung“ thematisiert (wie in der Tasso-Vorlage) die Ehe und die Rolle der Ehefrau. Hierzu dürfte die (fälschlich vor der 6. „Abtheilung“ platzierte)36 Illustration eines Ehepaares passen: Der Hausvater erscheint mit einem Füllhorn mit Gaben und Geld und die stattliche Hausmutter mit Schlüsselbund (als Zeichen der Hausordnung und Schlüsselgewalt). Zwei didaktische Szenen zeigen (links hinten) das „böse Weib“, das verprügelt wird, und (rechts hinten) gibt sich der Hausvater sexuellem Vergnügen hin. Rist kommentiert dies breit und aus-
33 Ebd., S. 228. 34 Ebd., S. 243. 35 Ebd., S. 250. 36 So im Neudruck und im Hausvater-Exemplar Wolfenbüttel 138.13 Ethica (1). Beide haben den Hausvater mit Diener und Lasttier vor der 4. „Abtheilung“, das Hausmutter-Bild mit Kind vor der 5. „Abtheilung“, das Ehepaar als Hausvater und Hausmutter vor der 6. „Abtheilung“.
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führlich in seinen Erläuterungen im Sinne der zeitgenössischen Ehelehre; Eheleute sollen gleichen Standes, gleicher Natureigenschaften und gleichen Alters sein: „grauer Bahrt und roter Mund bleiben selten gute Freunde“.37 Ein langer Exkurs über „böse Weiber“, deren Trinken und Schminken, eitle Schönheit und lange Haare, tadelt ebenfalls argwöhnische Ehemänner und „unziemliche Liebeshändel“.38 Das sind Topoi der protestantischen Ehepredigten und -lehren. Bei Rist sind es jedoch keine satirischen Schimpftiraden, sondern realitätsnahe, pastorale Anweisungen für ein harmonisches Eheleben. Die Kindererziehung ist das Thema der 5. „Abtheilung“; die Illustration zeigt einen nachdenklichen Vater im Hausanzug, daneben einen Präzeptor mit erhobener Rute, im Hintergrund die Mutter, die einen Säugling stillt: „Kräfftige würkung der Muttermilch“ kommentiert Rists Erläuterung.39 Die Ablehnung der Amme ist ein beliebter Topos in der Kritik besonders des französischen Adels, denn „der alten Teutschen edle Weiber haben ihre Kinder selber gesäuget“, so ermahnt Rist.40 Der Autor ist hier ebenfalls wie bei dem Ehekapitel in seinem Element, plädiert für eine strenge Erziehung, kritisiert aber den „Prügel- und Ruhtenkönig“.41 Rist gibt ein weitschweifiges „Exempel eines bößhaften grausahmen Schulmeisters“42 und rät: „sonsten bin ich der unvorgreifflichen Meinung, daß ein Edelmann sehr wohl und löblich […] seine Kinderen […] in guhten Künsten und Sprachen unterweisen lässet.“43 Rist ist kein innovativer Pädagoge, wohl aber ein eifriger Befürworter einer relativ modernen Erziehung aus eher bürgerlicher, nicht aus aristokratischer Perspektive. Die 6. „Abtheilung“ handelt von der „Regierung des Gesindes“;44 hierzu dürfte die fälschlich vor der 4. „Abtheilung“ platzierte Illustration passen, ein höfisch gekleideter Hausvater im Hof seines stattlichen, mit Säulen verzierten Hauses mit einem „Hausknecht“, der einen Lastenesel führt, im Hintergrund Wirtschaftsgebäude. Tassos Ausführungen zum Ursprung des Wortes „Servus“ und der Sklaverei erläutert Rist bündig mit der Formel: „Einem Knechte gehöret daz Brod/ die straffe und die Arbeit“,45 um sodann den Status des Leibeigenen als „elend und armselig“ bei den Römern, Spaniern sowie in Holstein und Meck-
37 Rist: Werke (Anm. 1), S. 270. 38 Ebd., S. 275. 39 Ebd., S. 288. 40 Ebd., S. 290. 41 Ebd., S. 293. 42 Ebd., S. 295. 43 Ebd., S. 297. 44 Ebd., S. 299. 45 Ebd., S. 310.
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lenburg zu erwähnen, wo sie „viel härter gehalten und mit einer weit grösseren Grausahmkeit werden gehandhabet als vorzeiten die Knechte bei den Griechen“.46 Rists weitschweifige Auslassung über Leibeigene und Bauern in diversen antiken Quellen kaschiert seine immanente Kritik an diesem Zustand, während er natürlich „Christliche/ Gottesfürchtige und Barmhertzige Edelleute“ in diesen Fürstentümern ausnimmt, die unbarmherzigen aber an ihre zu erwartende Höllenstrafe erinnert. Was sich aus heutiger Perspektive zunächst wie eine generelle Kritik an der Leibeigenschaft liest, wird von Rist dann doch wieder relativiert, wenn er lediglich deren Mißbrauch durch eine „tyrannische Regierung“47 kritisiert. Auch die „fuchsschwänzerischen Hofmeister“ sowie „untüchtige und elende Regenten“ werden so ermahnt, wie es auch in einer Sonntagspredigt heißen könnte:48 Werden nicht vielmahls die beste Aemter mit Leüten besetzet/ welche nichtes anders können auch nichtes anders gelernet haben/ als täglich ein paar guhte Raüsche sauffen/ Gläser und Kannen schwenken/ in allen Zechhaüseren unten und oben mit ligen/ fluchen und schandiren/ zur Noht ein Pferd tumlen und sich endlich wie die vollen Saüe lassen zu Haus schleppen/ da ist ja bei solchen schönen Regenten weder Gottesfurcht/ noch Kunst/ noch Verstand/ noch Wissenschafft/ ja mancher kan kaum seinen eigenen Namen recht schreiben und sol doch gleichwol gantze Gemeinden regiren/ was wunder ist es/ wen bei solchem Regiment alles zu trümmeren und Boden gehet?49
Deshalb braucht der adelige Hausvater gelehrte und verständige Diener, Schreiber und Räte als Freunde. In dieser 6. „Abtheilung“ über die „Regierung des Gesindes“ ist die hybride Mischung von unterschiedlichen sozialen Schichtungen (Bauern, Leibeigenen, Sklaven, Untertanen) und historischen Bezeichnungen aus einem Sammelsurium an Quellen und Anekdoten klar erkennbar. Rists Wertekanon ist jedoch deutlich der des guten, christlichen, barmherzigen Regiments. Die beiden letzten „Abtheilungen“ befassen sich mit der materiellen Haushaltung. Die 7. „Abtheilung“ behandelt Erhalt und Vermehrung der Güter, die Illustration zeigt zwei miteinander verhandelnde Kaufleute mit Kisten und Fässern vor einer urbanen Szenerie, einem Marktplatz im Hintergrund und einem Warentransport per Seilwinde in ein Warenlager in einem stattlichen Gebäude. Hier bekennt Rist, dass er „gantz unerfahren“ im Geld- und Warentausch sei, da sein Geschäft das Studieren und Schreiben sei.50 Rists Erläuterungen loben zwar die Kaufmannschaft, warnen aber vor Geiz, Raub und Krieg. Der Erwerb
46 Ebd., S. 311. 47 Ebd., S. 314. 48 Ebd., S. 317 und S. 319. 49 Ebd., S. 319 f. 50 Ebd., S. 338.
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des Hausvaters ist „natürlich“ und zielt auf das, was „uns durch Gottes milden Segen der Ackerbau gibet“, die Hausmutter soll spinnen, eine Hausapotheke einrichten.51 „Pecunia“ meint, so argumentiert Rist, eigentlich das „Vieh“, das sei der Reichtum der „alten Teutschen“ gewesen; die Begierde nach Geld und der Missbrauch desselben stürze die Menschen in die Hölle, denn Gott habe Gold und Silber im Zorn gegeben. So zeigt denn auch das letzte Bild Geldwechsler an einem Tisch mit dem Gerippe des Todes mit Stundenglas im Hintergrund und dem Spruch „Es ist alles eitel“ auf seiner Fahne, was die fünf Herren aber gar nicht beachten. Rist gesteht in seinen Erläuterungen zur letzten, 8. „Abtheilung“ seine Abneigung gegen Geld und Wucher und bemerkt, dass der Italiener „über die Mahsse subtil und nachdenklich davon redet/ daß auch ich seine Meinung kaum recht kann begreiffen“.52 Rist schließt mit einem Lob auf die „Landleute und so wol Adeliche als gemeine Hausvätter“, die „die Früchte Ihres Landes/ als Korn/ Milch/ Butter/ Käse/ Hüner/ Eier/ Schaffe/ Kälber/ Lämmer/ Fische/ Obst/ Kraut/ Früchte“ auf dem Markte verkaufen und sich und die Ihren damit ernähren können.53 Hier spricht Rist deutlich als norddeutscher, protestantischer Pfarrer für Eigenproduktion und Tauschhandel gegen die moderne (aus Italien stammende) Geldwirtschaft.
3 Der adeliche Hausvatter in der frühneuzeit lichen Oeconomia Christiana Rists Konzept der Haushaltung ist der frühneuzeitlichen deutschen Ökonomieliteratur verpflichtet. Seine pädagogisch-moralische Substanz ist spezifisch protestantisch und dazu in der antiken Tradition des Hauses unter dem Regiment des pater familias verankert, wie sie in der von der Bibel und den Kirchenvätern konzipierten Lehre vom Haus entwickelt und „unter dem Einfluß der vorchristlich nachweisbaren ,Haustafeln‘ in den Apostelbriefen an die Kolosser (3,18–25) und Epheser (5,22–26) und ihre Neuordnung durch Luther für den katechetischen Unterricht“54 ausgebildet wurde. Darauf hat Gotthardt Frühsorge verschiedentlich hingewiesen:
51 Ebd., S. 344. 52 Ebd., S. 357. 53 Ebd., S. 362. 54 Gotthardt Frühsorge: Die Begründung der „väterlichen Gesellschaft“ in der europäischen Oeconomia Christiana. Zur Rolle des „Vaters“ in der Hausväterliteratur des 16. bis 18. Jahrhunderts.
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Die lutherische Predigtliteratur hat hier eine eigene Tradition ausgebildet, die Predigten über den christlichen Hausstand, die auf der Auslegung des Kleinen Katechismus von 1529 aufbauen und damit die Drei-Regimenter-Lehre Luthers propagiert haben: die Einrichtung des status oeconomicus und des status politicus neben dem status ecclesiasticus. Die Heiligung des Haus- und Ehestands als einer neben den anderen Ständen gleichwertigen Stiftung der Ordnung Gottes in der Welt hat ganz wesentlich zur Ausformung der deutschen Hausbuchtradition beigetragen, gerade insofern sie ein grundsätzlich spirituelles Verständnis der Vaterrolle, der Rechtfertigung der von hier ausgehenden Herrschaft in der Hierarchie des Hauses in Kraft gesetzt hat.55
Wichtig ist neben der Herrschaft und den Pflichten des Hausvaters die Konzeption der Ehe als einer Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft unter dem Begriff ‚Haushaltung‘, der später durch ‚Familie‘ ersetzt und weiter sensibilisiert oder sentimentalisiert wurde. Schon die Oeconomia christiana (1529) des thüringischen Reformators Justus Menius verbindet die personalen und wirtschaftlichen Beziehungen als sittlichreligiöse Ordnung für das Haus als Gutsbetrieb. In Übereinstimmung mit Luthers sog. Zwei-Reiche-Lehre unterscheidet Menius zwischen dem geistlichen und dem weltlichen Regiment. Mit Blick auf letzteres differenziert Menius zwischen oeconomia und politia: Leiblich regiment ist Oeconomia und Politia. Und dis eusserliche und leibliche reich ist auch zweierley/ als nemlich Oeconomia/ das ist haushaltung/ und Politia/ das ist landregierung/ Inn der Oeconomia oder haushaltung ist verfasset/ wie ein jegliches haus christlich und recht wol sol regieret werden […] denn daran ist kein zweiffel/ aus der Oeconomia oder haushaltung mus die Politia oder landregierung/ als aus einem brunnequell entspringen und herkomen.56
Hier akzentuiert Rist jedoch anders, die „Politia oder landregierung“57 kommt bei ihm kaum in den Blick. Rists „Haushaltung“ erscheint (immerhin ca. 120 Jahre nach Menius) eher als das Sozialgebilde einer bürgerlichen Familie, auch wenn Rist immer wieder vom „adelichen“ Hausvater spricht. Rist oszilliert zwischen adeliger und bürgerlicher Lebensform, da bei beiden erstens die persönlich-wirtschaftliche Lebensgemeinschaft (Ehe, Frau, Kinder, Gesinde) und zweitens die Teilhabe an der Arbeit den Kern der Haushaltung als Sozialgebilde ausmachen. Wie schon bei Menius beruht die Haushaltung auf allgemeiner Verpflichtung
In: Das Vaterbild im Abendland. Hg. von Hubert Tellenbach. Bd. 1. Stuttgart 1977, S. 113–205, hier S. 114. 55 Ebd., S. 115. 56 Zit. nach Frühsorge, ebd., S. 115 f. 57 Ebd., S. 115.
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zur Arbeit und auf einer Gleichwertigkeit der unterschiedlichen Positionen und Tätigkeiten in der Ökonomie.58 Aus der Analyse der Rist’schen Erläuterungen, seiner selektiven Behandlung des Themenspektrums der Tasso’schen Vorlage wird die Hybridität von Rists Text deutlich. Rist will sich wie auch Tasso an den Adel wenden, die vermutliche Käuferschicht des relativ aufwendig produzierten und mit Illustrationen versehenen Druckes, aber sein Erfahrungshorizont als gelehrter Pfarrer und Seelsorger mit bürgerlichem Hauswesen scheint immer wieder durch, wie er denn schon in seiner Vorrede betont, dass er sich um „Haußhaltungs Sachen weniger den nichtes bekümmere“, es sei nicht seine Aufgabe, „bei dem Pfluge herspatzieren/ die Eggen auf dem Akker begleiten […] auff daß Viehe Morgends und Abends guhte Acht haben.“59 Dieser eher bäuerlichen Tätigkeit auf dem Landgut fühlt sich Rist explizit als Gelehrter und als Seelsorger der Gemeinde enthoben. Der Hinweis auf diese Tätigkeit unterstreicht auch den weiten Abstand zu dem adeligen Milieu des Tasso’schen Textes. Tassos Padre di famiglia dient Rist zwar als literarische Autorität, die Aura und Autorität verleiht, doch die Reibungen und Inkongruenzen mit Tassos Beispielen und Argumenten werden immer wieder sichtbar. Die Hybridität von Rists Übertragung und seine Erläuterungen weisen auch darauf hin, wie problematisch die Wissensvermittlung und der Kulturtransfer aus der adeligen, katholischen Romania des vorangegangenen Jahrhunderts ist. Rists mit angelesener Gelehrsamkeit verzierter Kommentar aus eher bürgerlicher Perspektive mit gelegentlich regional-norddeutschem Alltagswissen passt nicht recht zum fürstlich-romanischen Lebensstil der von Tasso anvisierten Haushaltung. Dennoch hat Rists pastorales Konzept von der Haushaltung als einer personalen und wirtschaftlichen Einheit, das in der lutherischen Ehelehre seine Begründung findet, eine moderne Note: Rist antizipiert in seiner religiös orientierten Betrachtung mit verstärkter Hinwendung zum Weltlichen und zur Arbeit die Lebensform der bürgerlichen Familie, ehe sich um etwa 1700 die Kameralisten mit vornehmlich weltlichem Wertekanon durchsetzen und der Staatsökonomie zuwenden.
58 Heinz Gottwald: Vergleichende Studie zur Ökonomik des Aegidius Romanus und des Justus Menius. Ein Beitrag zum Verhältnis von Glaubenslehre einerseits und Wirtschaftsethik sowie dem Sozialgebilde „Familie“ andererseits. Frankfurt a. M. u. a. 1988, S. 403. 59 Rist: Werke (Anm. 1), S. 169 f.
Klaus Garber
Arkadien vor den Toren Hamburgs Ein Blick in das AllerEdelste Leben der gantzen Welt und die schäferlichen Liederbücher Johann Rists
1 Eingang Wir beginnen mit einer Hypothese, die der Verifizierung bedarf. Die Vermutung geht dahin, dass der Begriff ‚Arkadienʻ einschließlich seiner Derivate bei Rist nicht vorkommt. Und nicht nur nicht bei Rist, sondern auch nicht bei Weckherlin oder Opitz oder Fleming oder wie die Wortführer der ersten Generation der neuen Dichtung im deutschen Gewande sonst heißen mögen. Gleichwohl versteht jeder, wovon die Rede ist, wenn Arkadien mit gewissen Texten von diesen Autoren in Kontakt gebracht wird. Und eben, weil dies so ist, ist ja auch der Titel ‚Rist und Arkadienʻ durchgegangen, ohne dass der Referent, an dem es zuerst gewesen wäre, oder aber auch die Veranstalter aufgehorcht und Erklärungsbedarf signalisiert hätten.1 Wir arbeiten zur Zeit wieder an einem Buch zum Bild Arkadiens in der europäischen Literatur; das Grundlegungswerk zur europäischen Tradition wurde in den frühen achtziger Jahren abgeschlossen, ein paar hundert Seiten zum deutschen 17. Jahrhundert sind geschrieben; das Auftauchen des zur Rede stehenden Begriffs bleibt die schlechthinnige Ausnahme.2 Gleichwohl bestand keine Veranlassung zu einem titularischen Rückzieher, für die schriftliche Ausarbeitung des Vorgetragenen lediglich zur weiteren Präzisierung. Was also ist in aller gebotenen Kürze zu sagen und dies von vornherein mit Blick auf Rist und – ganz unvermutet – auf Hamburg?
1 Zu Genesis und Geltung des Begriffs mit der einschlägigen Literatur: Klaus Garber: Arkadien. Ein Wunschbild der europäischen Literatur. München 2009. 2 Ein Grundriss – basierend auf dem erwähnten umfänglichen Manuskript – wurde seinerzeit vorgelegt: Klaus Garber: Arkadien und Gesellschaft. Skizze zur Sozialgeschichte der Schäferdichtung als utopische Literaturform Europas. In: Wilhelm Voßkamp (Hg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. 3 Bde. Stuttgart 1982, Bd. 2, S. 37–81. Auch als suhrkamp taschenbuch, Band 1159 (1985). Hinzuzunehmen Einleitung und Bibliographie in: Klaus Garber (Hg.): Europäische Bukolik und Georgik. Darmstadt 1976 (Wege der Forschung 355).
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2 Antike und Abendland Denn was zum antiken Arkadien zu sagen ist, ist von Bruno Snell gesagt worden und das, wie er dezent andeutete, „im schwersten Jahr, das Hamburg erlebt“ hat, eben im Jahr 1943, da das alte Hamburg unterging. Snell antwortete auf die nationalsozialistische Barbarei, der er tapfer widerstand, mit der Gründung von Antike und Abendland – Beiträge zum Verständnis der Griechen und Römer und ihres Nachlebens. 1945 war er mit dem ersten Band zur Stelle. Das Vorwort rührte noch her aus dem Dezember 1944, wurde also noch im Krieg geschrieben. Ernst Robert Curtius und Fritz Schalk, Walter F. Schirmer und Karl Voßler sollten sprechen, sie alle durch die Umstände der Zeit verhindert; auch Max Kommerell wäre dabei gewesen, doch er starb im Juli 1944. Seinem Andenken ist der erste Band von Antike und Abendland gewidmet.3 Ungeachtet der Ausfälle ist der Band gewichtig geblieben. Wie sollte es anders sein, wenn Max Pohlenz aus Göttingen und Herbert von Einem aus Greifswald, Karl Reinhardt aus Leipzig und Emil Wolf aus Hamburg sich neben anderen vernehmen ließen. Einem Beitrag blieb es vorbehalten, Epoche zu machen, demjenigen des Veranstalters und Herausgebers. Der Verfasser ist Bruno Snell auf den Fluren des Bornplatzes noch wiederholt begegnet. Seine Erscheinung hat sich unvergesslich eingeprägt. Von seinem Werk wusste der junge Student in den fünfziger Jahren nichts. Erst 1959 über Curtius’ Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter und sodann vor allem über die seinerzeit noch unpublizierte Dissertation zur Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis des gleichfalls unver-
3 Vgl. Bruno Snell (Hg.): Antike und Abendland. Beiträge zum Verständnis der Griechen und Römer und ihres Nachlebens. Hamburg 1945. „Gewidmet dem Andenken an Max Komerell geb. 25.2.1902 gest. 25.7.1944“. – Zum Kontext: Klaus Garber: Spirituelle Sehnsucht. Das geistige Hamburg aus der Perspektive der Provinz. In: Ansprachen zur Verleihung der Ehrendoktorwürde an Professor Dr. Klaus Garber am 5. Februar 2003 im Warburg-Haus. Hg. vom Fachbereich Sprach-, Literatur- und Medienwissenschaft. Hamburg 2004 (Hamburger Universitätsreden N. F. 7), S. 33– 62. Zu Snells Wirken vgl. Gerhard Lohse: Geistesgeschichte und Politik. Bruno Snell als Mittler zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. In: Antike und Abendland 43 (1997), S. 1–20; ders.: Bruno Snell. 1896–1986. In: Die Wissenschaftler Ernst Cassirer, Bruno Snell, Siegfried Landshut. Hamburg 1994 (Hamburgische Lebensbilder in Darstellungen und Selbstzeugnissen 8), S. 43–73. Zur Altphilologie in Hamburg in der Zeit des Nationalsozialismus: Klaus Alpers: Klassische Philologie an der Universität Hamburg in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Philologica Hamburgensia II. Altphilologen in Hamburg vom 17. bis 20. Jahrhundert. Ausstellung in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg […] anlässlich des Kongresses des Deutschen Altphilologenverbandes 17. April bis 12. Mai 1990. Herzberg 1990 (Bibliothemata 1), S. 79–102.
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gessenen Hans-Joachim Mähl wurde er mit Snells Die Entdeckung des Geistes bekannt.4 Und damit trat dessen Abhandlung Arkadien, die Entdeckung einer geistigen Landschaft ins Blickfeld.5 Sie blieb in den sechziger Jahren, als es bei Richard Alewyn um die Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts ging, ein treuer Begleiter. Was aber hätte man darum gegeben, nun Snell noch persönlich befragen zu können. Dazu war es seit 1986 zu spät. Auch Helmuth Petriconi, der Hamburger Romanist, in dessen jeweils 25 Minuten währende Vorlesung wir noch hereinhörten, ließ sich durch Snell anregen. Im dritten Band von Antike und Abendland erschien sein Beitrag Das neue Arkadien, auch er rasch Berühmtheit erlangend.6 Im Gegensatz aber zu Snells Arbeit führte diejenige von Petriconi über weite Strecken in die Irre. Seine Lesung der berühmtesten arkadischen Dichtung Europas, der Arcadia des Neapolitaners Jacopo Sannazaro auf der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert, ist verfehlt. Das ist in dem erwähnten Arkadienwerk bereits vor längerer Zeit gezeigt worden und wird in absehbarer Zeit nachzulesen sein. Sannazaros Arcadia ist – um es in einem Satz zu sagen – eine große politisch-pastorale Allegorie auf den Untergang seiner Heimat Neapel und nicht, wie Petriconi wähnt, ein Lobpreis auf die Liebesfreiheit, wie sie einst im goldenen Zeitalter herrschte und nun in der Renaissance vermeintlich wiederentdeckt wurde.7
4 Vgl. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter. 2., durchges. Aufl. Bern 1954, Kap. „Die Ideallandschaft“, S. 191–209 (letzte von Curtius bearbeitete Auflage); Hans-Joachim Mähl: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen. Heidelberg 1965 (Probleme der Dichtung. Studien zur deutschen Literaturgeschichte 7), 2. unveränderte Aufl. Tübingen 1994, mit einem wichtigen Vorwort. 5 Vgl. Bruno Snell: Arkadien, die Entdeckung einer geistigen Landschaft. In: Antike und Abendland 1 (1945), S. 26–41. Eingegangen in: Ders.: Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen. 4., neubearb. Aufl. Göttingen 1975, S. 257–274. Wiederabgedruckt in: Garber: Europäische Bukolik (Anm. 2), S. 14–43. 6 Vgl. Hellmuth Petriconi: Das neue Arkadien. In: Antike und Abendland 3 (1948), S. 187–200. Wiederabgedruckt in: Garber: Europäische Bukolik (Anm. 2), S. 181–201. 7 Verwiesen sei auf die Anm. 2 zitierte Abhandlung des Verfassers.
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3 „Arkadien – die Entdeckung einer geistigen Landschaft“ Genug also der Vorrede, und sollte diese einen Gran von Berechtigung haben, so – neben der Hamburg-Reminiszenz, die man dem Hamburger auf heimatlichem Boden nachsehen möge – im Blick auf den zur Rede stehenden arkadischen Fluchtpunkt. In dieser Chiffre steckt vielerlei Sprengstoff und also auch wissenschaftsgeschichtlich Brisantes. Das kann und soll hier gar nicht verfolgt werden. Vielmehr muss die Kenntnis der Snellschen Arbeit vorausgesetzt werden, so dass nur ein einziges Moment akzentuiert werden darf. Snell führt einen griechischen und einen römischen Gewährsmann ein. Der Grieche ist der Historiker Polybios, der über das rauhe Bergland Arkadien als eines von singenden und auf Schalmeien musizierenden Hirten bevölkerten Landstrichs berichtet. Der andere ist Vergil, welcher in seiner zehnten und letzten Ekloge den von seiner unglücklichen Liebe singenden Dichter Gallus, einen Zeitgenossen von Vergil, unter die Arkader versetzt, die ihm als Sangeskundige Trost spenden und seinen Namen als den eines edlen Liebenden der Nachwelt überliefern werden. Diese wenigen, intertextuell vielfältig unterlegten Verse Vergils reichten hin, eines der wirkungsmächtigsten Bilder nicht nur der europäischen Literatur, sondern auch der europäischen Malerei und Musik zu generieren. Hier ist mit Blick auf Rist alleine entscheidend die Bindung der ArkadienVorstellung an die von Vergil unter Adaptation von Theokrit begründete Schäferdichtung. Diese zentral auch in das Werk Rists hineinführende Spur will verfolgt sein. Doch zunächst ist einer zweiten zu gedenken, mit der wir einsetzen.
4 Lob des Landlebens Zu den Mirakeln der europäischen Literatur zählt, dass die Arkadien-Vorstellung mit der Auferstehung der antiken Literatur in der Renaissance sich nicht nur an die Schäferdichtung knüpfte und in ihr seit Sannazaro groß ausgebaut wurde. Vielmehr bemächtigten sich die Humanisten einer zweiten, auf Horaz zurückführenden Überlieferungslinie, dem ‚Lob des Landlebens‘, wie es in Horazens zweiter Epode „beatus ille qui procul negotiis“ seine – freilich ironisch pointierte – prototypische Ausprägung erfahren hatte.8 Auf bislang nicht zureichend
8 Vgl. dazu den in Anm. 2 zitierten Sammelband. Zur Gattungsgeschichte nach wie vor maßgeblich Anke-Marie Lohmeier: Beatus ille. Studien zum „Lob des Landlebens“ in der Literatur
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erkundeten Wegen kam es ungeachtet durchaus divergenter Motivschichten zu einer Annäherung, ja wiederholt zu einer Kontamination schäferlicher und bäurisch-ländlicher literarischer Versatzstücke. Und das, wenn nicht dem Namen und Begriff, so doch der Mentalität und Idee nach in einer Weise, für die eben die Chiffre ‚Arkadienʻ steht. Wollen wir also Erkundungen nach Arkadischem in Rists Werk anstellen, so müssen wir uns der Schäfer- wie der Landlebendichtung gleichermaßen zuwenden. Dass dies aber im Blick auf Rists Werk nicht nur möglich ist, sondern womöglich gar in dessen Zentrum führt, sollte dem Verfasser mit Nachdruck abgefordert werden, der da großzügig Rist mit Arkadien verkoppelte.
5 Ein Blick in Rists Das AllerEdelste Leben der gantzen Welt Jedem Leser Rists sind dessen Monatsgespräche bekannt, sechs an der Zahl, später von Erasmus Francisci um sechs weitere ergänzt, auf dass die Zwölfzahl voll werde. In den frühen sechziger Jahren und also vergleichsweise spät trat Rist erstmals mit ihnen hervor.9 Da war die Serie der Anfang der vierziger Jahre begonnenen Harsdörfferschen Frauenzimmer Gesprächspiele bereits abgeschlossen. Rist, zeitlebens darauf bedacht, eine poetische Statthalterschaft im Norden zu begründen, dürfte auch dieses prominente Nürnberger Markenzeichen als geeignet angesehen haben, durch modifizierende Verpflanzung von der Pegnitz an die Elbe Zugewinn an poetischem und sozietärem Nimbus zu erzielen. Die Nürnberger Gesprächspiele spielten nachhaltig hinein in die Gründung und den Fortgang des Pegnesischen Blumenordens. Hier war genau wie in den Nürnberger Schäfereien ein kolloquiales bzw. disputatives literarisches Medium entwickelt, das sich hervorragend eignete zur Präsentation des Selbstverständ-
des absolutistischen Zeitalters. Tübingen 1981 (Hermaea. Germanistische Forschungen N. F. 44). Dazu die eingehendere Rezension des Vf.s in: Daphnis 15 (1986), S. 194–209. 9 Die Monatsgespräche Rists liegen im Neudruck vor: Johann Rist: Sämtliche Werke. Unter Mitwirkung von Helga Mannack und Klaus Reichelt hg. von Eberhard Mannack. Bd. 4: Epische Dichtungen (Das Alleredelste Nass, Das Alleredelste Leben); Bd. 5: Epische Dichtungen (Die Alleredelste Torheit, Die Alleredelste Belustigung); Bd. 6: Epische Dichtungen (Die Alleredelste Erfindung, Die Alleredelste Zeitverkürzung). Berlin u. a. 1972–1976 (Ausgaben Deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 37, 51, 66). Vgl. dazu die Aufsätze von Dirk Niefanger, Jörg Wesche und Nicola Kaminski im vorliegenden Band.
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nisses einer Dichtergesellschaft und ihrer Archegeten.10 Entsprechend fallen auch die Schöpfung der Ristschen Monatsgespräche und die Etablierung des Ristschen Elbschwanenordens nicht zufällig zusammen. In den Monatsgesprächen fand der Orden sein vielleicht wirkungsvollstes Organon, welches sein Gründer virtuos zur Lancierung von Poetenwürde, Standespolitik und Sozietätshermeneutik zu nutzen wusste. Und das zeigt nun auch sein zweites, das „Hornungsgespräch“, der Frage nach dem „Alleredelsten Leben“ gewidmet.11 Es ist dies die ausgesprochene oder unausgesprochene Frage, welche hinter dem poetischen Konstrukt des Landlebengedichts steht und selbstverständlich mit einer – und eben anders als bei dem Begründer Horaz – stets eindeutigen Antwort endet. Wie die Schäferdichtung hat die Landlebendichtung eine respektable formale Ausdifferenzierung seit der Renaissance erfahren. Aus der schmalen Horazschen Epode wuchs neben dem Lob des Landlebens als eines festen lyrischen Formtyps die große hofkritische Satire in Gestalt von Guevaras Menosprecio, wuchs das ländliche Spiel bis hin zum Ballet und zur Wirtschaft, wuchs der moralphilosophisch unterlegte Traktat etc.12 Und eben in diese Reihe der Fortzeugungen steht auch Rists AllerEdelstes Leben der gantzen Welt. Stets ist Vorsicht geboten. Doch sei die Vermutung gewagt, dass der Text in der ihm von Rist verliehenen Gestalt kein direktes Vorbild besessen hat. Auch die Landlebendichtung ist auf eine individuelle, auf einen Autor zugeschnittene und von ihm verantwortete Neubildung geeicht gewesen. Das hatte schon Opitz mit seinen Landlebengedichten Zlatna und Vielguet bewie-
10 Vgl. Klaus Garber: Nuremberg, Arcadia on the Pegnitz: The Self-Stylization of an Urban Sodality. In: Ders.: Imperiled Heritage: Tradition, History, and Utopia in Early Modern German Literature. Selected Essays. Edited and with an introduction by Max Reinhart. Adlershot u. a. 2000 (Studies in European Cultural Transition 5), S. 117–208; ders.: Der Nürnberger Hirten- und Blumenorden an der Pegnitz. Soziale Mikroformen im schäferlichen Gewand. In: Ders.: Wege in die Moderne. Historiographische, literarische und philosophische Studien aus dem Umkreis der alteuropäischen Arkadien-Utopie. Hg. von Stefan Anders, Axel E. Walter. Berlin u. a. 2012, S. 223–341. 11 Der Titel: Das AllerEdelste Leben der gantzen Welt/ Vermittelst eines anmuhtigen und erbaulichen Gespräches/ Welches ist diser Ahrt Die Ander/ und zwahr Eine Hornungs-Unterredung/ Beschriben und fürgestellet von Dem Rüstigen. Hamburg/ Jn Verlegung Joh. Naumanns Buchh. Jm Jahr 1663. Der Text liegt im Neudruck vor im vierten Band der oben Anm. 9 zitierten Ausgabe der Sämtlichen Werke Johann Rists. Dort steht er auf den Seiten 121–305. 12 Eine große vergleichende Untersuchung zur Ausdifferenzierung der laus ruris in der europäischen Literatur der Frühen Neuzeit fehlt. Einen Grundriss wird man in dem ersten Band des Arkadienwerkes des Vf. geboten erhalten.
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sen.13 Und so beschritt auch Rist einen Weg, der sich fortan unverwechselbar mit seinem Namen verbinden sollte.14 Drei Texteinheiten lassen sich mit hinlänglicher Deutlichkeit sondern, wenn wir absehen von den poetischen Huldigungsadressen an den Autor und dessen Vorrede zu seinem Werk, die gleichfalls beide eine signifikante Gestalt besitzen.15 Ein erster Block gilt den drei Adressaten. Sie werden ungewöhnlich ausführlich angesprochen. Und das auch im Blick auf den nachfolgenden Text. Ihre Präsenz bleibt im Fortgang wo nicht teilnehmend, so doch Maßstäbe und Maximen setzend gewahrt. Ein zweiter Block gilt dem Treiben der Gesellschafter, die sich da in Hamburg zusammengefunden und bereits eine ganze Weile über ihre Sozietät raisonniert haben, bevor sie sich entschließen, zu ihrem ‚Palatinʻ aufzubrechen und ihn in seinem Anwesen aufzusuchen. Dort angelangt, nimmt dann nach den gehörigen Präliminarien das Gespräch seinen Lauf, das der Frage nach der besten Lebensform gewidmet ist. Alle drei Bereiche sind untereinander verstrebt.
6 Adressaten-Bezug Die Widmung gilt zwei in dänisch-norwegischen Diensten stehenden Personen, der eine als Oberst im Militär tätig, der andere als königlicher Rat und Amtsverwalter zu Steinburg ausgewiesen. Hinzu tritt ein in Hamburg als Kaufmann und Faktor beschäftigter und in der Petrikirche ehrenamtlich seinen bürgerlichen
13 Beiden Werken sind im zweiten Band des Arkadienwerkes des Vf.s umfängliche und inzwischen abgeschlossene Kapitel gewidmet. Dort auch die gesamte einschlägige Literatur. Ein einziger Hinweis: Klaus Garber: Ständische Kulturpolitik und ländliche Poesie. Ein Auftakt zum Arkadienwerk. In: Ders.: Wege in die Moderne (Anm. 10), S. 146–182. 14 Zu Rists Monatsgesprächen vgl. Thomas Mast: The Prose Author Johann Rist. A Contextualized Study of his Nondramatic Work. Phil. Diss. University of Maryland 1998. Vgl. auch: Carsten Dürkob: Lebensbilanz und Erziehungsprogramm. Johann Rists Monatsgespräche. In: Zeitschrift für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte 1 (2013), S. 89–114. Weiterhin heranzuziehen die Untersuchung von Alfred Jericke: Johann Rists Monatsgespräche. Berlin u. a. 1928 (Germanisch und Deutsch. Studien zu Sprache und Kultur 2). 15 Die Vorrede ist an den „Aufrichtigen und vernünftigen Leser“ gerichtet. Sie ist wie alle Vorreden Rists ein bemerkenswertes Dokument und wird daher im Arkadienwerk des Vf.s eingehend behandelt; hier soll sie aus der Betrachtung ausgespart bleiben. Die Phalanx der den „Rüstigen“ Ehrenden rekrutiert sich im Wesentlichen aus dem Kreis seines Elbschwanenordens. Rist hat darauf verzichtet, illustre anderweitige Poeten um Zuschriften zu bitten. Der auktoriale und sozietäre Kontext sollte gewahrt bleiben. Auch darauf ist an anderer Stelle, wie erwähnt, zurückzukommen.
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Pflichten nachkommender Jurator und Geschworener.16 Teile eines wohlkomponierten Mosaiks werden sichtbar, dessen Umrisse im Hintergrund aufschimmern. Hier waltet nichts weniger als Zufall. Drei Lebensformen repräsentieren die drei Widmungsempfänger als Soldat, als Hofmann und als Kaufmann, und genau diese Trias rückt im nachfolgenden Gespräch rhetorisch amplifizierend ins Blickfeld. Zu diesem werkinternen tritt ein werkexterner Aspekt. In einer bahnbrechenden Arbeit hat Günter Dammann vor Jahrzehnten gezeigt, wie Rist sukzessive seinem Werk einen namhaften Kreis von Adressaten vornehmlich im norddeutschen und nordöstlichen Raum erschließt.17 Dieser rekrutiert sich aus dem Fürstentum bzw. dem Adel, aus der Beamtenschaft des dänisch-holsteinischen Königshauses und dem gehobenen Bürgertum sowie einzelnen Druckerdynastien. Ihm blieb es vorbehalten, dem Ristschen Werk und dem seiner Mit-Gesellschafter einen sozialen Rückhalt und ein Forum der Publizität zu sichern. Lokale Verhaftung in einem weiteren Sinn ist sein Signum. Eine weiträumig siedelnde, gleichwohl überschaubare und auf die Person Rists ausgerichtete Gruppe distinguierter Personen wird noch einmal in humanistischer Manier dazu verhalten, einen Akt literarischer Akkulturation zu bewerkstelligen, nun dazu bestimmt, der jungen deutschen Dichtung in der Ristschen Façon und derjenigen seines Ordens ein Lebensrecht und einen Wirkungsraum zu eröffnen. Keines der zahllosen Werke Rists, das zu diesem Aufbauwerk über die Lancierung von Widmungsadressen nicht seinen Beitrag leistete. Und nur ganz am Rande deuten wir schon an dieser Stelle an, dass sich das Bild gegenüber dem um 1600 vorwaltenden gravierend verschoben hat. Nicht die späthumanistische europäische Avantgarde ist präsent, um die Geburt der neuen Dichtung im deutschen Gewand zu flankieren und zu legitimieren. Die Verfasser von Zuschriften nicht anders als die angesprochenen Adressaten entstammen nur noch ausnahmsweise einer humanistischen, über das protestantische und
16 Es handelt sich um Joachim von Debbern, „Dero Königlichen Majestät zu Dennemark-Norwegen vielbetrautem und wolverdienten Obersten zu Rosse“, um den Juristen Georg Reich, „Dero Königlichen Majestätt zu Dennemark-Norwegen/ bestaltem Raht/ auch wolverordneten Amtsverwalter zu Steinburg“, sowie Anthon Bilderbek, „Fürnehmen Bürger und Handelsmann/ HochFürstlichem/ wolbestelten Factorn, wie auch bei der Haubtkirchen Sanct Petri inn Hamburg/ wolverordneten Juraten oder Kirchgeschwohrnen“. Nähere personenkundliche Ermittlungen sollen hier nicht angestellt werden. 17 Vgl. Günter Dammann: Johann Rist als Statthalter des Opitzianismus in Holstein. Aspekte seiner literaturpolitischen Strategie anhand der Widmungsbriefe und Vorreden. In: Alexander Ritter (Hg.): Literaten in der Provinz – Provinzielle Literatur? Schriftsteller einer norddeutschen Region. Heide 1991, S. 47–66.
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vornehmlich reformierte Europa sich erstreckenden Elite. Ein literaturpolitischer Paradigmenwechsel hat stattgehabt, den es im Auge zu behalten gilt.18
7 Treffen der Gesprächspartner in Hamburg Hamburg ist der Ort, da drei der Gesellschafter zusammentreffen. Der Plot ist denkbar schlicht. Erfinderische Raffinesse ist nicht Rists Sache. Welch ein Zufall, dass gerade zwei Mitglieder aus Rists Orden ein Wirtshaus aufgesucht haben, als auch schon eine Tafelrunde sich einfindet, innerhalb derer eine Person zu erkennen gibt, allzu gerne doch einmal den in der Nähe residierenden Gründer der Sozietät aufsuchen zu dürfen. Anspruchsvoller nimmt sich die Zusammensetzung der neuerlichen Trias aus. Aus der dänischen Haupt- und Residenzstadt ist Rittmeister „Cleander“ nach Hamburg gekommen. Er ist, wie sein Gesellschaftsname zeigt, Mitglied der Ristschen Schöpfung. Die Gesellschaft greift genau wie die Runde der Adressaten weit über Hamburg und Umgebung hinaus. Kopenhagen ist ein wichtiger kultureller Umschlagplatz und Rist hat das ihm Mögliche unternommen, um daselbst mit seinem Werk und seiner Gesellschaft Fuß zu fassen.19 Der zweite Gesprächspartner gibt sich als „Kallorin“ zu erkennen, ist also gleichfalls Mitglied der Gesellschaft und außerdem gekrönter Dichter, seines Zeichens Pastor in Halle, repräsentiert mithin das städtische Milieu und wirkt an
18 Vgl. Klaus Garber: Der deutsche Sonderweg – Gedanken zu einer calvinistischen Alternative um 1600. In: Gerhard Schulz, Conrad Wiedemann, Viktor Zmegac (Hg.): Kulturnation statt politischer Nation? Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985. Bd. 9. Tübingen 1986, S. 165–172; ders.: Zentraleuropäischer Calvinismus und deutsche „Barock“Literatur. Zu den konfessionspolitischen Ursprüngen der deutschen Nationalliteratur. In: Heinz Schilling (Hg.): Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland – Das Problem der „Zweiten Reformation“. Gütersloh 1986 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 195), S. 307–348; ders.: Die deutsche Nationalliteratur des 17. Jahrhunderts im historischen Kontext der Deutschen. In: Klaus Garber, Wilfried Kürschner (Hg.): Zwischen Renaissance und Aufklärung. Beiträge der interdisziplinären Arbeitsgruppe Frühe Neuzeit der Universität Osnabrück/Vechta. Unter Mitwirkung von Sabine Siebert-Nemann. Amsterdam 1988 (Chloe 8), S. 179–200. Alle drei Beiträge wiederabgedruckt in ders.: Literatur und Kultur im Deutschland der Frühen Neuzeit. Gesammelte Studien. Paderborn 2015. 19 Der aus Kopenhagen kommende Gesellschafter „Cleander“ = Friedrich Hinrich Sager, Rittmeister in Kopenhagen.
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eben jener Stätte, da das letzte Oberhaupt der Fruchtbringenden Gesellschaft in jenen Jahren residierte.20 Und dann der Dritte, mit dem Gesellschaftsnamen „Concord“ geziert, auch er gekrönter Dichter und der einzige unter den Dreien, der sich als Dichter und Musiker bereits einen Namen gemacht hat. So ist es nicht zufällig ihm vorbehalten, den „Rüstigen“ in der Fruchtbringenden Gesellschaft bzw. den „Palatin“ des Elbschwanenordens zu vergleichsweise später Stunde kennenzulernen. Constantin Christian Dedekind, so sein bürgerlicher Name, wirkt in Dresden.21 Der kurfürstliche Hof behauptet nach 1648 eine führende Rolle im gesamten nordöstlichen Raum, bevor Berlin zusehends aufsteigt. Auch Dresden hat Rist im Blickfeld gehabt, als es darum ging, einen sozietären Wirkungsraum zu etablieren, der es mit dem der Pegnesen jenseits des Mains aufnehmen konnte. Hamburg aber ist als Ort der Begegnung auserkoren. Es dürfte wenige Texte geben, in denen en passant der Stadt ein so schönes und vielstimmiges Lob gesungen worden wäre. Ohne die Nähe Hamburgs wäre die Ristsche Gesellschaft so wenig lebensfähig gewesen wie die des Nürnberger Pegnitzordens, war man doch auf eine intakte und leistungsfähige kulturelle Infrastruktur angewiesen, sich konstituierend über Drucker und Verleger, Bibliotheken und Archive, Schulen und Gymnasien, Kirchen und Konsistorien, Musizierstätten und Schauspielplätze, nicht zuletzt eine politische Führungsschicht nebst Residenten vor Ort und natürlich ein potentes Bürgertum, von dem Aufträge und mäzenatische Gunstbeweise zu erwarten waren.22
8 Sozietäts-Diskurse Noch vor dem Aufbruch kommen die Drei ins Gespräch und auch das natürlich nicht zufällig. Die stolze Ristsche Schöpfung, der Orden will umkreist sein, bevor der Gründer selbst in Erscheinung tritt. Kaum ein Werk Rists, in dem es nicht auch
20 „Kallorin“ = Georg Schönberg aus Halle, P. L. C., Pastor. 21 „Concord“ = Constantin Christian Dedekind, seit 1654 als Bassist der Hofkapelle in Dresden. 22 Vgl. den gehaltreichen Band: Johann Anselm Steiger, Sandra Richter (Hg.): Hamburg. Eine Metropolregion zwischen Früher Neuzeit und Aufklärung. Berlin 2012 (Metropolis. Texte und Studien zu Zentren der Kultur in der europäischen Neuzeit 1). Hierin Klaus Garber: Hamburg – nicht nur ein Sonderfall der deutschen Geschichte. Eine Betrachtung zur Literatur der Frühen Neuzeit und ihren geschichtlichen Voraussetzungen, S. 13–43, dort die Abschnitte „Aufbau der literarischen Vormacht im 17. Jahrhundert“, S. 24–26; „Rist und Zesen“, S. 26–30; „Literarisches Leben im Umkreis Hamburgs“, S. 31–36.
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gilt, Anfeindungen und Verleumdungen zu parieren. An den undeutschen Gesellschaftsnamen habe man Anstoß genommen. Sie gehörten, so vernimmt man nun, zum Programm. Und das, um jedwede Konkurrenz mit der Fruchtbringenden Gesellschaft zu vermeiden, wo eben aus deutschen Wörtern Gesellschaftsnamen generiert werden. Auch die Pegnesen hatten diese Unterscheidung geflissentlich beobachtet, waren auf Namen aus der Mythologie und dem literarischen Hirtenwesen verfallen; diese Option war also gleichfalls nicht mehr verfügbar. In der Namenswahl spiegelt sich zugleich eine bedeutungsträchtige programmatische Wendung. Die Fruchtbringende Gesellschaft ist dem regierenden Fürstentum und dem Adel unter Einschluss hervorragender Gelehrter und Poeten vorbehalten. Damit können und wollen die städtischen Gesellschaften nicht konkurrieren. In ihnen zählt Leistung und zwar, wie nun im Gespräch deutlich wird, in erster Linie poetische. Gekrönten Dichtern und Personen, denen diese Würde zukünftig zukommen könnte, werden bevorzugt aufgenommen. Wie bei Opitz und zu Teilen in wörtlicher Übereinstimmung mit ihm wird der Poet als Universalist apostrophiert, er kennt sich, erfüllt er denn, was sich mit seinem Namen verbindet, in allen Wissenschaften gleichermaßen aus und weiß aus ihnen für sein Werk zu schöpfen. Auch der Elbschwanenorden geriert sich als Wissensgesellschaft in nuce und kompensiert damit mehr als reichlich das fehlende ständische Prestige. Die explizite Geste der Humilität lockert von innen heraus die sozialen Strukturen. Dieses humanistische Muster bleibt auch bei Rist intakt.23 An dieser Stelle aber und in unserer Perspektive ist alleine von Bedeutung, dass sich die programmatische literaturgesellschaftliche Bescheidung im Niederen nahtlos mit dem Ergreifen jener beiden literarischen Gattungen verbindet, in denen personale und formale Humilität innerhalb der poetologischen Hierarchie zu den konstitutiven Merkmalen und auszeichnenden Ingredienzien gehört.
9 Gesellschaftspolitischer Nimbus Hier ist nicht die Gelegenheit, das Bild des soldatischen, des höfischen und des bürgerlichen Lebens, wie es sich in Rists „Hornungsgespräch“ malt, des näheren zu betrachten. Wir akzentuieren alleine zwei Momente. Es fällt einerseits auf,
23 Vgl. die einschlägigen Beiträge in: Klaus Garber, Heinz Wismann (Hg.): Europäische Sozietätsbewegung und demokratische Tradition. Die europäischen Akademien der Frühen Neuzeit zwischen Frührenaissance und Spätaufklärung. 2 Bde. Tübingen 1996 (Frühe Neuzeit 26–27).
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dass der „Rüstige“, den man da auf seinem Anwesen vor den Toren der Stadt aufsucht, in den alsbald einsetzenden Lobpreisungen der drei Lebensformen mehr als zunächst zu erwarten gegenwärtig bleibt. Er hat für alle drei Gäste, nachdem diese ihr rhetorisches Pensum absolviert haben, ein persönliches Wort parat, rekurrierend auf ein Begebnis, das ihm unter den Soldaten, bei Hofe und in der Stadt widerfahren ist, und das die zuvor von dem jeweiligen Mitgesellschafter verlautete Rede zu bekräftigen geeignet ist. Auf der anderen Seite bleibt es ihm alleine vorbehalten, wiederum nach einer jeden der drei Einlassungen zu signalisieren, dass sich allemal Gegenargumente finden ließen, dazu angetan, das Vorgetragene in Frage zu stellen. Der „Rüstige“ bleibt Regisseur und behält die Fäden in der Hand. Keinen Moment waltet ein Zweifel darüber, wer das Zepter in der Sozietät innehat. Dieses Bild ähnelt auf eine denkwürdige Weise demjenigen, das ein anderer Ordenspräsident im Süden, das eben Sigmund von Birken in seiner späteren Zeit zu vermitteln sucht. In beiden Fällen dient die Sozietät auch zum Generieren von Reputation und Prestige. Zwei Autoren-Profile über sozietäre Spitzenpositionen werden erkennbar, die merklich abweichen von den Rollenentwürfen der OpitzGeneration und der ein wenig jüngeren, sei es in Straßburg oder in Leipzig oder in Königsberg.24 Auf eine wiederum nur als denkwürdig zu bezeichnende Weise hat die sozietäre Stilisierung einmal schäferlich, einmal ländlich, noch das Nachleben gesteuert, ja präformiert. Anders als Dach oder Fleming oder auch noch Zesen oder gar Opitz ist die selbsterkorene und in das Werk hineingenommene Führungspose beiden Dichtern nicht zum Guten ausgeschlagen, wie hier nicht gezeigt werden kann.
10 Ländliches Leben vor den Toren der Stadt Hamburg lebensgeschichtlich beglaubigt Doch wir greifen vor, kommen sogleich nochmals auf das angedeutete Problem zurück und haben wiederum nur für einen Moment nun in die Rede des Protagonisten hineinzuhorchen, dem es vorbehalten bleibt, das Lob der vierten und edelsten Lebensform anzustimmen, das des ländlichen Lebens.
24 Vgl. Klaus Garber: Der Autor im 17. Jahrhundert. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 42 (1981), S. 29–45. Wiederabgedruckt in: Ders.: Literatur und Kultur im Deutschland der Frühen Neuzeit (Anm. 18).
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Der „Rüstige“, so lässt er gesprächsweise durchblicken, hat viele verlockende und attraktive Angebote aus dem kirchlichen, höfischen und bürgerlichen Raum erhalten. Er hat sie alle ausgeschlagen, um als Seelenhirt und in den Mußestunden als Gelehrter und Poet seinen selbstgewählten Geschäften in seiner Bücherklause und auf seinem ländlichen Anwesen nachzugehen. Die Lebensform, die er preist, ist lebensgeschichtlich beglaubigt, ja mehr noch, der überkommene Lobpreis ländlichen Lebens wird aus der Mitte der Existenz des Sprechers heraus adaptiert und derart modifiziert, dass ein jeder Zug in der ihm eigenen literarischen Dignität seine Verkörperung in Gestalt des Sprechenden erfährt. Es klafft kein Hiat zwischen dem Wunschbild und der Realität. Vor den Toren der Stadt ist gelebte Wirklichkeit, was Verheißung war im überlieferten Genre der laus ruris. Anders als etwa in der Opitzschen Zlatna, da über das Momentane des Verweilens auf dem Lande keinen Moment ein Zweifel bleibt, ist das ländliche Leben des Rüstigen in seiner Art so auf Dauer gegründet wie das des Landmanns, der als Projektionsfigur der literarischen Landleben-Konzeption fungiert. Ein Akt lebensbestimmender Gründung hat statt, der sich als archetypischer geriert und damit zehrt von dem Nimbus biblischer wie heidnischer, um Paradies und Garten, Landhaus und Selbstbestimmung gruppierter Überlieferungen, welche inmitten des Krieges und der frühen Nachkriegszeit unverhofft mit gelebtem Leben sich erfüllen.25
11 Ursprünglichkeit – theologisch und humanistisch gewendet Dieser Lebensform eignet Vorbildlichkeit. Und das vermöge einbekannter selbstgenügsamer Totalität, die ihrerseits gründet in geschöpflicher und schöpfungsnaher Ursprünglichkeit. Bruchlos verbindet sich ein existentieller geistlicher Deutungshorizont mit einem humanistischen. Die Abfolge der gleichförmig verlaufenden Tage ist strukturiert durch die immer wiederkehrenden Akte frommen
25 Vgl. Klaus Garber: Pax Pastoralis – Zu einer Friedensgattung der europäischen Literatur. In: Klaus Bußmann, Heinz Schilling (Hg.): 1648. Krieg und Frieden in Europa. 3 Bde. München 1998, Textband II, S. 319–322. Eingegangen in: Ders.: Literatur und Kultur im Europa der Frühen Neuzeit. Gesammelte Studien. München 2009, S. 323–330. Ders.: Die Naturform der Poesie im Zeitalter des Naturrechts. In: Klaus Garber, Teruaki Takahashi (Hg.): „Sei mir, Dichter, willkommen“. Studien zur deutschen Literatur von Lessing bis Jünger. Festschrift Kenzo Miyashita. Mitwirkung Ludger Rehm. Köln u. a. 1995 (Europäische Kultur-Studien 4), S. 7–15. Eingegangen in ders.: Literatur und Kultur im Deutschland der Frühen Neuzeit (Anm. 18).
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Daseins, vom Morgengebet bis zum Abendgebet und den in regelmäßigem Takt erfolgenden Danksagungen für empfangene und tagtäglich sich erneuernde Wohltaten. Über diesem Stand liegt ein göttlicher Segen, der auch durch herbe Schicksalsschläge wie den zweimaligen Verlust der gesamten Habe nicht beeinträchtigt wird, im Gegenteil zur Besinnung auf die bleibenden Güter geleitet. Die Antwort aber des Gesegneten besteht in mehr als den selbstverständlichen pastoralen Obliegenheiten des Seelenhirten. Die ländliche Existenzform ist als eine selbstergriffene eine existenzbegründende. Im geflissentlichen Umgang mit Pflanzen und Tieren, ja am Rande noch mit Mineralien und Fossilien praktiziert der des Vorzugs Gewürdigte, auf dem Lande leben zu dürfen, eine Form der Selbstentäußerung, die ihn zum Sprachrohr, ja zum Verkündiger der Wunder der Schöpfung werden lässt. Ländliches Leben bleibt als geistlich präformiertes nicht auf den Umgang mit dem eigenen Inneren und auch nicht auf den pfleglichen Umgang mit dem Mitmenschen beschränkt. Die Natur ist als geschöpfliche betrachtend, erkennend, auslegend in die ländlich-gelehrte fromme Existenz einbezogen. Innen und außen, menschliche und natürliche Welt sind als kreatürliche einem gemeinsamen Ursprung zugehörig und verweisen als solche in der Weise aufeinander, dass dem Menschen die Exemplifikation eben dieses Ursprungs auch seines Gegenübers aufgetragen bleibt. Wenn das gesamte antike und neuzeitliche Wissen in diesem Akt der Sprachwerdung der Geschöpfe mobilisiert wird, so demonstriert der gelehrte Landmann und Seelenhirt im Vollzug frommen und gelehrten Lebens die Vereinbarkeit beider Welten. Die beiden großen europäischen Überlieferungslinien laufen in seiner Person zusammen.26 War also titularisch von Rist und Arkadien die Rede, so darf in einem ersten Resümee dahingehend ein Fazit gezogen werden, dass in der Vergegenwärtigung des „alleredelsten Lebens“, wie Rist sie im „Hornungs-“, d. h. im FebruarGespräch des Jahres 1663 vornimmt, eine Antwort im Blick auf die prekäre Kontamination zu suchen wäre. Diese Lebensform ist nicht als vergangene beschworen, ist auch nicht in eine in ihren Strukturen nicht erkennbare Zukunft verlegt, sie ist als vollendete begabt mit dem Signum zeitloser Dauer. Ihr fehlt der prospektive nicht anders als der politische Gestus, mit dem die Opitz-Generation, beflügelt von calvinistischem Geist um 1600, in die Welt trat, vereint in einer die nationalen
26 Vgl. Klaus Garber: Der locus amoenus und der locus terribilis. Bild und Funktion der Natur in der deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts. Köln u. a. 1974 (Literatur und Leben N. F. 16). Hier das Kapitel „Der locus amoenus als Ort glücklichen ländlichen Daseins“, S. 199–213, speziell zu Rist und seinen Monatsgesprächen unter den dargelegten Aspekten S. 209–213.
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Grenzen überspringenden späthumanistischen Überzeugung, einem großen, um die nationale Wiedergeburt kreisenden Projekt Kontur und Stimme zu verleihen. Derartige Hoffnungen haben sich ein halbes Jahrhundert später definitiv erledigt. Ein altlutherischer Gestus bemächtigt sich auf eine schwer zu fassende Weise auch des poetischen Agierens, und Rist darf als dessen Repräsentant gelten.27
12 Übergang zum literarischen Schäfertum: Der Theologe als Liebesdichter Das soll nun in einem zweiten Schritt angedeutet werden. Wir haben vom ländlichen Gedicht überzugehen zum schäferlichen. Und hier nehmen sich die Dinge unvergleichlich viel komplizierter aus. Das pastorale Gattungs-Repertoire ist in der Mitte des 17. Jahrhunderts auch in Deutschland so gut wie komplett entfaltet. Deshalb bleibt es bemerkenswert, dass Rist von den vorhandenen Möglichkeiten nur einen sehr eingeschränkten Gebrauch macht. Er hat keinen Schäferroman und kein Schäferdrama geschrieben, hat sich der Ekloge vor allem in Gestalt der Prosaekloge nicht bedient, hat sich nicht dazu verstehen können, ein geistliches Hirtenstück zu verfassen, und das, obgleich doch alle pastoralen Spielarten aus dem weltlichen Bereich auch in den geistlichen Bereich transponiert worden waren, keinesfalls also nur das geistlich-pastorale Lied zur Verfügung stand.28 Rist hat in gewisser Hinsicht den schwersten Weg gewählt und beherzt beschritten. Er muss an dieser Stelle eine Herausforderung bemerkt haben, der er sich zu stellen hatte, ging es doch um nichts weniger als um eine Bewährungsprobe seines poetisch-poetologischen Projekts schlechthin. Es galt, das Experiment zu wagen, die heidnisch-antike Poesie in eine christliche Lebenswelt zu versetzen, aus christlichem Geist zu erneuern und also umzuschreiben. Als Probierstück konnte nur die erotische Muse fungieren. Die Liebe blieb die Macht, von der die stärkste Gefährdung der christlichen Moral ausging, die Liebespoesie das gleißend-verführerische Medium, dazu angetan, das Ansehen der Poesie zu
27 Vgl. Heike Bartsch: Zum sprachlichen Einfluß Luthers auf die Erbauungsliteratur Johann Rists. In: Manfred Lemmer (Hg.): Beiträge zur Sprachwirkung Martin Luthers im 17. und 18. Jahrhundert. Halle/S. 1987, S. 124–134. Zum Kontext der große Beitrag von Konrad Küster: „O du güldene Musik!“ Wege zu Johann Rist. In: Johann Anselm Steiger (Hg.): „Ewigkeit, Zeit ohne Zeit“. Gedenkschrift zum 400. Geburtstag des Dichters und Theologen Johann Rist. Mit einem Geleitwort von Hans Christian Knuth. Neuendettelsau 2007 (Testes et testimonia veritatis 5), S. 77–179. 28 Eine Gattungstypologie schäferlicher und ländlicher Dichtung in Deutschland vor dem Hintergrund der europäischen Tradition findet man bei Garber: Der locus amoenus (Anm. 26), S. 1–84.
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diskreditieren und ihre Schöpfer mit dem Makel verantwortungslosen Agierens zu versehen. Dass dem nicht so zu sein brauchte, dafür sollte der unumstößliche Beweis erbracht werden. Natürlich war Rist auch in Deutschland nicht der erste, der mit diesem Vorsatz ans Werk ging. Ein Blick auf Opitz genügt, um zu gewahren, dass in Theorie und Praxis bereits erhebliche Vorarbeit geleistet worden war.29 Rist aber ging weiter. Opitz hatte sich mit einzelnen Liebesgedichten begnügt und durch kompositorische Maßnahmen und dezente Signale einen Weg gewiesen. Auch Rist verblieb im lyrischen Genre, komponierte nun jedoch ein eigenes Liederbuch und wiederholte nach eingetretenem Erfolg das poetische Spiel ein zweites Mal. Er griff zur Schäferdichtung. Schäferdichtung galt in den poetologischen Lehrbüchern zunächst und zuerst als Liebesdichtung, siehe Opitzens Poeterey.30 Theokrit und Vergil als Archegeten hatten die frühesten Muster geliefert, das genügte. Sie standen bei ihnen neben gänzlich anders gearteten Texten mit anderweitigen Sujets. Gleichwohl setzte sich die Fixierung auf erotische Motive durch. Wollte Rist also sein Experiment in der lyrischen Liebespoesie durchführen, so bot sich der Griff zur schäferlichen Maske an. Ungewöhnlich daran war allenfalls die Komposition gleich ganzer pastoraler Liederbücher. Solche hatte es bis dato in Deutschland nicht gegeben, denn Scheins Diletti pastorali aus dem Jahr 1624 gehören einer anderen Tradition an. Rist musste das petrarkistische Liebeslied ins Auge fassen und an ihm sein poetologisches Exercitium vollziehen. Und dabei kam ihm die pastorale Inszenierung zugute. Sie war von seinem Konzept aus betrachtet keine zufällige, und wenn nicht eine notwendige, so doch in jeder Hinsicht eine förderliche. Den Nimbus eines durch Tradition beglaubigten ursprünglichen poetischen Votierens vermochte der Dichter für seine Zwecke zu aktivieren. Textarbeit also ist angesagt – das einzig dem Philologen geziemende substantielle Geschäft. Das geschieht Schritt auf Schritt in dem Arkadienbuch, von dem die Rede war.31 An dieser Stelle muss das Resümee genügen. „Klaus Garber
29 Die neuere Literatur zur Opitzschen Liebeslyrik im europäischen Kontext findet man zusammengestellt bei Klaus Garber: Amor fatalis – Amor coniugalis. Ein Epithalamium des jungen Martin Opitz. In: Ders.: Martin Opitz – Paul Fleming – Simon Dach. Drei Dichter des 17. Jahrhunderts in Bibliotheken Mittel- und Osteuropas. Köln u. a. 2013 (Aus Bibliotheken, Archiven und Museen Mittel- und Osteuropas 4), S. 36–46, insbes. S. 39f., Anm. 39. 30 Vgl. in dem oben Anm. 26 zitierten Werk des Vf.s das Kapitel „Die schäferliche Liebesdichtung“, S. 39–78. 31 Das Rist-Kapitel im Blick auf Rists Schäferlyrik ist abgeschlossen. In dem nach Räumen gegliederten Teil der Schäferlyrik steht es im zweiten Band an zehnter Stelle. Der Titel: „Übergang
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bereitet eine Studie zur Umformung des Petrarkismus in Deutschland am Beispiel von Rists Schäferlyrik vor“, schrieb der ferne Freund Gerhart Hoffmeister aus den Vereinigten Staaten im Jahr 1973 in seiner schönen Einführung in die petrarkistische Lyrik des 17. Jahrhunderts.32 Nun also heraus denn mit der Sprache vierzig Jahre später.
13 Poetologische Prämissen Schreiben von Liebesgedichten ist im europäischen Humanismus als poetische Fingerübung akzeptiert und als solche deklariert. Man übt sich im Schreiben mittels Stoffen, denen scharfsinnige Formulierungen abzugewinnen sind und die nach anspruchsvoller formaler Gestaltung verlangen. Das Gesellenstück absolviert, können die Elaborate verabschiedet werden, nicht selten ohne den Zusatz, eben lässliche Jugendsünden darzustellen. Die entsprechenden Manöver sind von Opitz her bekannt und seither in Umlauf.33 Auch Rist hat auf seine Weise an ihnen teilgenommen. Die Vorreden zu seinen Gedichtsammlungen, auch und gerade seinen schäferlichen, sind eine Quelle ersten Ranges unter diesem Aspekt. Rist hat seine Autorschaft verleugnet, hat Zweite und Dritte verantwortlich dafür gemacht, dass Liebesgedichte von ihm zum Druck gelangten, hat behauptet, sich gegen unrechtmäßig erfolgte Drucke zur Wehr setzen zu müssen und im Übrigen das Exkulpierungs-Arsenal seinerseits voll ausgeschöpft. Das ist wiederum ein eigenes, vornehmlich die Paratexte
in den Norden. Kulturpolitische Statthalterschaft und repräsentative schäferliche Lyrik: Das Werk Johann Rists.“ 32 Vgl. Gerhart Hoffmeister: Petrarkistische Lyrik. Stuttgart 1973 (Sammlung Metzler 119), S. 76. 33 Vgl. die schöne Untersuchung von Leonard Forster: Europäischer Petrarkismus als Vorschule der Dichtung. In: Ders.: Das eiskalte Feuer. Sechs Studien zum europäischen Petrarkismus. Übersetzt von Jörg-Ulrich Fechner. Kronberg/Ts. 1976 (Theorie – Kritik – Geschichte 12), S. 49–63. Zum Einfluss des Petrarkismus auf die deutsche Dichtung des 17. Jahrhunderts liegen inzwischen zahlreiche Aufsätze zu einzelnen Dichtern vor. Das kann an dieser Stelle nicht referiert werden, stattdessen seien stellvertretend nur einige neuere Arbeiten zu den größeren Kontexten der kulturellen Wirkungen und literarischen Weiterführung des Petrarkismus genannt: An erster Stelle der Sammelband: Achim Aurnhammer (Hg.): Francesco Petrarca in Deutschland. Seine Wirkungen in Literatur, Kunst und Musik. Tübingen 2006 (Frühe Neuzeit 118). Weiterhin das Kap. „Topik des deutschen Petrarkismus“ in: Thomas Borgstedt: Topik des Sonetts. Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Tübingen 2009 (Frühe Neuzeit 138), S. 269–362. Einführend außerdem: Jörg Wesche: Petrarkismus. In: Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch. Hg. von Herbert Jaumann. Berlin u. a. 2011, S. 55–84.
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betreffendes Thema. Hier geht es um die Anverwandlung und Umschmelzung der petrarkistischen Motivwelt aus pastoralem Geist. Und dies stets mit dem Stichwort ‚Arkadienʻ im Hintergrund.34
14 Galathee und Daphnis archetypisch situiert In dem früheren der beiden pastoralen Liederbücher, der Galathee des Jahres 1642, ergreift der Musiker und Freund Rists Theobald Grummer aus Lüneburg einleitend anstelle des Autors das Wort. Er führt Galathee als „die Crone aller Edeltugendliebenden Schäfferinnen“ und ihren Liebhaber Daphnis als „ein Außbund der von Tugend und Wissenschafft geadelten Schäffer“ ein. Es handelt sich um eine Anweisung, die das Lesen und Singen der nachfolgenden Lieder zu steuern bestimmt ist.35
34 Vgl. zum folgenden Klaus Garber: Petrarquisme pastoral et bourgeoisie protestante: La poésie pastorale de Johann Rist et Jakob Schwieger. In: Claude Longeon (Hg.): Le genre pastoral en Europe du XV au XVII siècle. Saint Etienne 1980 (Centre d’Études de la Renaissance et de l’Age Classique), S. 269–297. Eine deutschsprachige Version ist jetzt zu lesen in dem in Anm. 18 zitierten Werk des Vf.s, Literatur und Kultur. Hier auch eine eingehende Analyse der Ristschen Paratexte zu seinen lyrischen Werken. Zum Kontext das große Kapitel „Hamburg and the North“ in: Anthony J. Harper: German Secular Song-Books of the Mid-Seventeenth Century. An Examination of the Texts in Collections of Songs Published in the German-Language Area between 1624 and 1660. Aldershot 2003, S. 223–316, hier zur Schäferlyrik Rists S. 228–234. 35 [Kupfertitel:] Des DAPHNJS aus Cimbrien GALATHEE. Hamburg bey Jacob Rebenlein [1642]. Benutzt wurde das Exemplar der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen (8° Poet. Germ. II, 7268). Das vorgelegte Zitat fol. A 2v. – Hier ist nicht der Ort, auf die verschiedenen in Umlauf befindlichen und jeweils geringfügig variierenden Exemplare einzugehen. Das ist Aufgabe einer analytischen und kommentierten Bukolik-Bibliographie, wie sie zu gegebener Zeit vorgelegt werden wird. Vgl. zu den Einzelheiten der komplizierten Überlieferung Dieter Lohmeier: Exkurs: Zur Druckgeschichte von Rists „Galathee“. In: Erik Sønderholm (Hg.): Første snees, 1648. De danske viser med deres tyske forlaeg af Gabriel Voigtländer og Johann Rist. Udgivet […] i samarbejde med Dieter Brandt og Dieter Lohmeier. Melodiudsættelser ved Jørgen Berg. Neumünster 1976 (Kieler Studien zur deutschen Literaturgeschichte 12), S. 132–136. – Hier ist nicht der Raum, einen Blick auch in die zweite schäferliche Lyriksammlung Rists zu tun. Vgl. Johann Rist: Des Edlen Dafnis aus Cimbrien besungene Florabella. Mit gantz neüen und anmuhtigen Weisen ausgeziert und hervorgegeben von Peter Meiern. Bei demselben am Pferdemarckt für dem Alsterthor zu bekommen. Hamburg/ Gedruckt bei Jacob Rebenlein/ in Verlegung des Autoris, Jm Jahre 1651. Ein Exemplar dieses seltenen Werkes in der Koninklijken Bibliothek s’Gravenhage (8 B 3). Häufiger sind die zweite Auflage aus dem Jahr 1656 sowie die dritte aus dem Jahr 1666.
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Daphnis ist der prominenteste Name, der in der schäferlichen Welt seit Theokrit und letztlich seit Stesichoros, dessen schäferliches Werk sich nicht erhalten hat, zu vergeben ist.36 Auf „Daphnis aus Cimbrien“ lautet der Name Rists im Pegnesischen Blumenorden und Daphnis erscheint in den beiden schäferlichen Liederbüchern als Protagonist auf der männlichen Seite. Eine Überblendung hat statt. Alle vom Hirten Daphnis verlautenden Worte und Taten dürfen auch dem Gesellschafter Daphnis aus Cimbrien zugerechnet werden. Und so nicht anders im Falle Galathees. Auch ihr Name ist seit Theokrits erstem Idyll in der europäischen Schäferdichtung beheimatet.37 Sie ist die angebetete Geliebte, und zugleich assoziiert sich mit ihr als einer poetischen Kreation des Dichters die poetische Muse Rists. Was von ihr und über sie verlautet, ist transparent für Praxis und Verständnis der Poesie ihres Schöpfers. Dieses Changement ist mit der von Vergil eingeleiteten Identifizierung von Hirt und Dichter gängige Praxis in der Bukolik, nun aber erstreckt sie sich – wie auf ganz andere Weise etwa in Zesens Adriatischer Rosemund – auf die erotische Muse und das Wechselspiel zwischen dem Autor und seinen Gestalten als Inkarnationen seines poetologischen Konzepts. Auch die Schäferlieder Rists haben Anteil an der selbstreferentiellen poetologischen Metaphysik, wie sie die vorgeblich früheste, in Wahrheit eben jedoch späteste Ausprägung im Formenkanon der europäischen Literatur auszeichnet.38 Ein eminenter Anspruch ist der Ristschen Schäferlyrik derart implementiert. Ein überkommenes und seinem Selbstverständnis nach ausschließlich artistisch motiviertes poetisches Spiel wird einem vorgängigen, mit dem literarischen Schäfertum sich assoziierenden und an ihm haftenden Wertesystem konfrontiert und derart einer poetischen Synthesis entgegengeführt, mittels deren der artistische Impetus in einen moralphilosophischen umgeformt wird. Kann ein derartiges Experiment gelingen? Diese Frage ist nur im exegetischen Fortgang von einem Gedicht zum nächsten und in der im Zuge der Reihenbildung sich abzeichnenden kompositorischen Idee zu beantworten. Dieser Weg kann hier nicht beschritten werden. Er ist dem erwähnten Arkadienwerk vorbehalten.
36 Vgl. Garber: Arkadien (Anm. 1), S. 17–31; ders.: Der mythische Hirtensänger Daphnis in der Tradition der europäischen Ekloge. In: Ders.: Opitz – Fleming – Dach (Anm. 29), S. 46–63. An beiden Stellen die einschlägige Literatur. 37 Vgl. die schöne Untersuchung von Heinrich Dörrie: Galatea. Eine Gestalt am Rande des griechischen Mythos in antiker und neuzeitlicher Sicht. München 1968 (Tusculum-Schriften). 38 Verwiesen sei auf den Artikel „Bukolik“ des Vf.s in: Reallexikon der Deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Gemeinsam mit Harald Fricke, Klaus Grubmüller und Jan-Dirk Müller hg. von Klaus Weimar. Bd. 1: A–G. Berlin u. a. 1997, S. 287–291.
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Die allgemeine auktoriale Intention indes lässt sich hinlänglich präzise bestimmen, auch wenn wir natürlich wissen, dass nicht diese zählt, sondern alleine die gefundene Gestalt.
15 Implantation des Treue-Motivs in den petrarkistischen poetischen Diskurs Die im Petrarkismus dem Liebenden zugedachte Rolle des unermüdlich, gleichwohl aussichtslos und eben deshalb um so nachdrücklicher Werbenden wird umfunktioniert zu der des pastor fido, welcher in allen seinen Liebesbezeugungen das ihm eigene Ethos der Treue unter Beweis stellt. Nichts vermag ihn abzubringen von dem einmal gefassten Vorsatz, der Auserkorenen bis in den Tod hinein liebend ergeben zu bleiben. Wäre es mit dem lyrischen pastoralen Genre vereinbar, so erschiene der Schäfer als ein Held, als welcher er in den Romanen und Dramen insbesondere aus der Romania die Bühne betritt und sich in heldischen Taten bewährt. Ein Glanz von constantia, wie er heldisches Dasein umgibt, fällt auch auf den lyrischen schäferlichen Sprecher. Er überwindet den Wandel in der Zeit, der in der erotischen Poesie als Wankelmut sich darbietet, im unverrückbaren Festhalten an der einen einmal Erwählten. Mit ihr wandelt er durch die Zeit und geht ein mit ihr in die Ewigkeit. Unvergleichlich viel schwieriger musste sich das Experiment auf seiten der Geliebten ausnehmen. Sie war im petrarkistischen System, diese Kurzformel einmal erlaubt, dazu gehalten, als die Abweisende, Harte, nicht zu Erobernde den Schmerzenstrom auf seiten des Liebenden zu entbinden – imaginierte emotionale Frigidität als Initiator und Katalysator raffinierter Sprachspiele, eben die Erzeugung eines eiskalten poetischen Feuers. Ein Autor vergab sich eines Arsenals poetischer Möglichkeiten, ging er daran, Verzicht zu leisten auf die poetischen Valenzen der tausend Facetten der bis unter die Sterne erhobenen Schönen. Rist hat diesen entsagungsvollen Weg beschritten, auch wenn allenthalben Versatzstücke des Systems erkennbar bleiben, Galathee so wenig wie Florabella und anders als eben der Schäfer Daphnis zu allegorischen Inkarnationen von Tugend und Beständigkeit aufrücken. Poetisches Kalkül spielte mit hinein. Gerade angesichts von Wankelmut und Unbeständigkeit auf seiten der Geliebten vermochte der Liebende den Ernst seiner anhaltenden Werbung unter Beweis zu stellen. Mehr als ein Gedicht zudem, in dem der Liebende auf die Konsequenzen einer Liebe reflektiert, die vom Makel der Untreue gezeichnet ist. In die erotische
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schäferliche Welt dringt aus dem Munde des schäferlichen Protagonisten lehrhaftes moralphilosophisches Gut ein.39
16 Pastorale Schönheit Es gehört zu den Mirakeln der beiden schäferlichen Liebesbücher Rists, dass diese Umfunktionierung ihrer Schönheit keinen Abbruch tut, ja in einzelnen Versen Formulierungen eines von Schmerz und Leid tingierten, gleichwohl zu Wort und Versprechen stehenden lyrischen Ich gelingen, die zu den bleibenden Zeugnissen der deutschen Liebeslyrik des 17. Jahrhunderts gehören. DAphnis gieng für wenig Tagen über die begrünten Heid/ Heimlich fieng er an zu klagen Bey sich selbst sein schweres Leid/ Sang aus hochbetrübten Hertzen Von den bittern Liebes Schmertzen/ Ach daß ich dich nicht mehr seh Allerschönste Galathe! Jst mir recht/ das sind die Spitzen Die ich an den Bäumen schaw/ Hinter welchem pflegt zu sitzen Galathee bey der Auw. Als sie zwinget meine Sinnen O du Preiß der Schäfferinnen/ Weh mir daß ich nicht mehr seh’ Allerschönste Galathee. […] Drumb ihr Winde solt ihr bringen Meine Klag und Seufftzen zu/ Selber kan ich nicht mehr singen Denn mein Hertz ist sonder Ruh’ Ach ich Armer hab ersehen Jhr Gezelt von ferne stehen/ Nun ist mier von Hertzen weh’ Allerschönste Galathe!
39 Es muss um der Verknappung willen auf die in Anm. 13 und 34 aufgeführten Arbeiten des Vf.s verwiesen werden.
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O ihr Vöglein die ihr wendet Euren Flueg an ihren Orth/ Sagt/ ich hab euch hergesendet Daß ihr mit euch nehmet fort Die getreuen liebes Thränen/ Die sich stündlich nach ihr sehnen/ Biß ich dich mit Freuden seh’ Allerschönste Galathe! Galathee du mein Leben Nim die Wind und Vöglein auff Die sich dir zu Dienst ergeben Mit so schnellem Flug vnd Lauff/ und weil ich dich nicht kan schauen Wollest du dem Boten trauen/ Biß ich selbst dich wiederseh’ Allerschönste Galathe!40
So einige Strophen aus dem Eingangslied zur Galathee, das Motiv des Botenliedes aktivierend. Entsprechend könnte es reizvoll sein, Motiven aus dem Minnesang und dem Volkslied im Ristschen Liebeslied einmal nachzugehen. Man höre nun aber die nämliche Botschaft auf seiten der Geliebten. Auch ihr, der Schäferin, hat der Dichter unvergessliche Wendungen in den Mund gelegt. Eine Stimme ist vernehmbar, die ihrerseits von einer durch und durch getreuen Schäferin herrührt, welche sich – ganz unpetrarkistisch – nicht scheut, ihre Liebe zu bekennen, auf dass sie eine wechselseitige werde: DAphnis du getreuste Seele Fragst du noch warumb ich dich Für die Hirten all erwehle und nur dier ergebe mich/ Ach mein Lieb ich bin gewesen Wo man schöne Kräuter bricht und die Hirten Blumen lesen/ Deines gleichen find ich nicht: Drumb erwehl ich dich allein/ Du/ du solt mein’ Liebster seyn.41
Auf ein festes Fundament ist ihrer beider Liebe gegründet. Und so vermögen sie sich mit gleichlautender Stimme zu einem unisonen Gesang zu vereinen, der
40 Rist: Galathee (Anm. 35), fol. B 2r–3v. 41 Ebd., fol. B 8r.
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bezeichnenderweise nicht liedhaft, sondern im gehobenen, der Lehre sich zuneigenden Alexandriner vorgetragen wird: „Sie rühmet jhre Bestendigkeit“ lautet der für sich selbst sprechende Titel.42
17 Pro domo Wir halten bereits inne. Vielleicht war es von einem gewissen Reiz, den Lobpreis ländlichen Lebens für einen Moment neben den tugendhafter schäferlicher Liebe zu stellen. Die Stoffschichten liegen weit auseinander. Sie sind strukturiert nach Maßgabe der jeweiligen Gattungsregularien. Unser Interesse galt ihrer beider Assimilation an ein vorgängiges poetologisches und moralphilosophisches Konzept, das zu einer Transparenz überkommener Bilder, Motive, Gestalten geleitet, sie gleichsam von innen her in ein neues, ein verklärendes, von Geheimnis umspieltes Licht rückt. Zu den großen Überraschungen meiner gegenwärtigen Arbeit an dem Arkadienprojekt gehört es, dass sich für jeden der behandelten Texte der verschiedenen Autoren ein jeweils unverwechselbares Profil herausarbeiten lässt und sich die Rede von der Gleichförmigkeit der barocken Poesie als bare Chimäre erweist. Sie trifft nur die zweit- und drittrangigen Texte. Einer Gattungsgeschichte bleibt es aufgetragen, diese kritische Sonderung zu vollziehen. In dem jetzt entstehenden Buch kommen nur Texte zur Sprache, die dem Stahlbad der Kritik unterworfen wurden und die kritische Probe bestanden. Rechenschaft aber über die angelegten kritischen Maßstäbe erteilt alleine die Exegese. Texte, zu denen nichts Substantielles zu sagen ist, fallen durch das Raster. Die Prämisse lautet, dass es auch im deutschen 17. Jahrhundert und speziell in der Schäfer- und Landlebendichtung hinreichend viele Texte gibt, die eine einlässliche interpretatorische Bemühung rechtfertigen und mittels ihrer ein neues, ein zweites Leben empfangen. Dieses Verfahren konnte hier nicht verfolgt werden, denn es basiert allein auf der Abfolge von Beobachtungen, die sich sukzessive zu einem Bild runden. An den Texten haftende Sachgehalte und in ihnen sich verbergender Wahrheitsgehalt sind einzig und allein darstellend zu entfalten. Rist hat das Landgedicht zum Entwurf gelehrter Existenz aus christlichem und humanistischem Geist erhoben und er hat die prominenteste Tradition frühneuzeitlichen Dichtens in der Volkssprache, das Liebesgedicht in der Manier
42 Ebd., fol. C 1r.
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Petrarcas, in einem produktiven Zugriff, der als Akt der Reinigung erscheinen mochte, einer geläuterten Liebeskonzeption zugeführt, in der das liebende Gebaren von Schäfer und Schäferin als chiffrierte Parabel ehelicher Liebe lesbar wird und daher einem auch über Poesie erziehbaren Publikum guten Gewissens überantwortet werden durfte. Das mochte wider den Geist der Muse Petrarcas geschehen. Im Schäfertum war diese Verlängerung der Linien ohne unziemliche Brüche jedoch möglich, denn literarisches Schäfertum war weltlich wie geistlich gleichermaßen urgeschichtlich geadelt und Arkadien stand dafür als sinnbildliche Chiffre ein.
Rist und die Naturkunde
Jörg Wesche
Floriographie bei Rist Wie kaum ein zweiter deutschsprachiger Autor der Barockzeit verfolgt Johann Rist botanische Interessen, die sich im Werk am deutlichsten in den sogenannten Monatsgesprächen (1663–1668) niederschlagen.1 Bereits in der Januar-Unterredung trifft man auf den charakteristischen Blumendiskurs, mit dem Rist seine Gesprächsrunden eröffnet. Bevor man bei Rist auf den eigentlichen Diskussionsgegenstand kommt – das Januar-Gespräch wälzt die Frage nach dem alleredelsten Nass –, muss man sich also über etliche Buchseiten durch den Vorgarten seiner botanischen Hausapotheke hindurchlesen.2 So gesehen beginnt Rist das neuartige Vorhaben, das die Forschung zu den Anfängen der deutschsprachigen Gesprächs- bzw. Zeitschriftenliteratur zählt, mit einer gewagten Abschweifung.3 Man denkt angesichts der ausgedehnten Blumenentrees etwa an Zesens Rist-Anagramm „es rinnt ja so“,4 und mag sie womöglich etwas ratlos beiseiteschieben, um sich gezielt den Hauptgegenständen zuzuwenden. Entsprechend ist das philologische Interesse an ihnen bisher gering5 und stärker auf andere Gegenstände
1 Neben ihm ist sicher sein Rostocker Lehrer Peter Lauremberg mit der von Matthäus Merian illustrierten Pflanzenkunde Apparatus plantarius (1632) und dem Gartenbaulehrbuch Horticultura (1632) zu nennen. 2 Vgl. für das Januar-Gespräch Johann Rist: Das Alleredelste Nass. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Eberhard Mannack. Bd. 4. Berlin, New York 1972, S. 3–120, hier S. 30–55. Der Blumendiskurs nimmt im Nachdruck mit 25 Seiten im Vergleich zum Hauptredegegenstand, der auf 64 Seiten verhandelt wird, knapp ein Drittel des Gesamtgesprächs ein (Zitatnachweise im Folgenden nach dieser Werkausgabe durch einfache Band- und Seitenangabe im Haupttext). 3 Die Konsequenzen, die dem ehrgeizigen Vorhaben bzw. der Inszenierung einer monatlichen Erscheinungsweise in der Erzählreflexion erwachsen, untersucht der Beitrag von Nikola Kaminski in diesem Band. 4 Vgl. Jutta Gutzeit: Johann Rist. Der Wedeler Parnass. In: Hamburger Textgänge. Hg. von Heike Brandstädter, Torsten Flüh. Hamburg 2001 (Textgänge 1), S. 35–56, hier S. 46. 5 Wichtige Ausnahmen sind vor allem Stefanie Stockhorst: Wissensvermittlung im Dialog. Literarische Pflanzenkunde und christliche Weltdeutung in den Rahmenstücken von Johann Rists ‚Monatsgesprächen‘ und ihrer Fortsetzung durch Erasmus Francisci. In: Polyhistorismus und Buntschriftstellerei. Populäre Wissensformen und Wissenskultur in der Frühen Neuzeit. Hg. von Flemming Schock. Berlin 2012 (Frühe Neuzeit 169), S. 67–90 sowie für den weiteren Zusammenhang von Naturverständnis und Religiosität in der Frühen Neuzeit Anne-Charlott Trepp: Von der Glückseligkeit alles zu wissen. Die Erforschung der Natur als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit (1550–1750). Frankfurt a. M., München 2009 mit einem umfangreichen Abschnitt zur Natur als Heilserfahrung und Heilssicherung bei Rist (vgl. S. 78–209). Beiden Studien verdankt dieser Beitrag wesentliche Einsichten.
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Jörg Wesche
in den Monatsgesprächen wie z. B. die Literaturkritik oder Theatertheorie gerichtet.6 Rist ist seiner botanischen Methode gleichwohl treu geblieben, so dass sie als kennzeichnendes Strukturmerkmal der Gespräche ernst zu nehmen ist. Stellt man die Blumengespräche zunächst in einen wissensgeschichtlichen Horizont, werden sie allgemein im Zusammenhang einer „‚physica empirica‘“ gesehen, die als Neujustierung im Sinn moderner Wissenschaften „die erkenntnistheoretische Herrschaft von Beobachtung und Experiment“ ankündigt.7 Rist selbst gilt dabei als leidenschaftlicher „Freizeitforscher“.8 Seine Erkenntnisinteressen sind polyhistorisch geöffnet und fortschrittsorientiert. Er beschäftigt sich u. a. mit medizinischen Fragen und technischen Innovationen seiner Zeit (Mühlenkunst, Flugmaschinen), dem Magnetismus oder Perpetuum mobile und glaubt zugleich an die Wissenschaftlichkeit der Astrologie oder Chiromantie.9 Auch Rists Naturverständnis erscheint als seinerzeit verbreitete „Mischung aus Magie und Wissen“.10 Sein spezielles Interesse an Pflanzen steht im Kontext der Etablierung der Botanik als Wissenschaft seit der Renaissance. „Um 1600“ war die Erforschung von Pflanzen dabei bereits zu einer „zielgerichteten Beschäftigung ernsthafter Botaniker und Sammler geworden und nicht mehr den Zufallsfunden von Botschaftern und Kaufleuten überlassen.“11 Biographisch reicht Rists botanische Affinität in die Kindheit zurück. Der Vater vermittelt ihm floristisches Wissen aus der Anschauung. Im Rostocker Studium prägen ihn u. a. Peter Lauremberg (1585–1639) und Joachim Jungius (1587–1657) mit ihren bota-
6 Vgl. in der jüngeren Forschung etwa grundlegend Sylvia Heudecker: Modelle literaturkritischen Schreibens. Dialog, Apologie, Satire vom späten 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2005 (Studien zur deutschen Literatur 179) sowie den Beitrag Dirk Niefangers in diesem Band. Wirkungsgeschichtlich ist unter Rists Zeitgenossen immerhin Grimmelshausen hervorzuheben, dessen Aberglauben-Kritik in Simplicissimi Galgen-Männlin (1673) das Alraunen-Gespräch aus der März-Unterredung einbezieht. Dazu etwa Dieter Breuer: Grimmelshausen-Handbuch. München 1999, S. 162 f. sowie für Grimmelshausens Rist-Rezeption allgemein Eberhard Mannack: Grimmelshausens Rist-Lektüre und die Folgen. Jupiterepisoden und Friedensspiele. In: Barocker Lust-Spiegel. Studien zur Literatur des Barock. Hg. von Manfred Bircher, Jörg-Ulrich Fechner. Amsterdam 1984, S. 279–294. 7 Ferdinand van Ingen: Johann Rist und die Naturwissenschaften seiner Zeit. Anmerkungen zu seiner intellektuellen Biographie anlässlich des 400. Geburtstags am 8.3.2007. In: Daphnis 36 (2007), S. 487–510, hier S. 487 f. 8 Ebd., S. 489. 9 Vgl. zu Rists Auseinandersetzung mit der Alchemie seiner Zeit und der Suche nach dem Stein der Weisen den Beitrag von Stefanie Stockhorst in diesem Band. 10 van Ingen (Anm. 7), S. 487. 11 Penelope Hobhouse: Der Garten. Eine Kulturgeschichte. Übers. von Ulrich Enderwitz, Monika Noll, Coralie Wink. München 2003, S. 169.
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nischen Studien. Jungius legt im Zuge der Mitbegründung der naturforschenden Gesellschaft Societas ereunetica sive zetetica in Privatinitiative einen der ersten botanischen Gärten in Deutschland an.12 Als Rist später in Amt und Würden ist, unterhält er mit dem ‚Süder‘- und ‚Nordergarten‘ gleich zwei Gärten mit Heil- und Zierpflanzen. Zum Standardwissen über Rist gehört entsprechend: Die Vorzüge der empirischen Maximen verpflichteten frühneuzeitlichen Naturkunde hatte Rist schon in Rostock kennengelernt und blieb ihr verpflichtet. Das Wedeler Pfarrhaus glich einem Labor, in dem Arzneien hergestellt wurden, und beherbergte Sammlungen unterschiedlicher Art. In der Tradition der theologia medicinalis13 stehend, züchtete Rist Heilkräuter, ließ seinen Gemeindegliedern medikamentöse Hilfe zukommen und fungierte somit als Arzt der Seele und des Leibes zugleich.14
Wie qualitäts-, aber auch selbstbewusst er bei der medizinischen Versorgung misstrauisch nur auf die eigene Erfahrung baut, zeigt etwa das Mai-Gespräch über die alleredelste Erfindung: ich richtete die Artzneien selber zu/ und trauete hierinen keinem Apotecker/ oder Laboranten/ wol wissend/ wie gemeiniglich von etlichen dieser Leuten/ die Medicamenta ueber Halß und Kopff zubereitet werden (Bd. 6, S. 30).
Vor diesem Hintergrund hat die Forschung auch die „substantielle“ Bedeutung der Blumendiskurse inzwischen benannt und die Rahmenerzählungen als „semantische[s] Rückgrat“ der Monatsgespräche gewürdigt.15 Die minutiöse Rekonstruktion des botanikgeschichtlichen Quellen- bzw. Autoritätenhorizonts weist Rist in seiner Zeit dabei durchaus als Experten auf pflanzenkundlichem Gebiet aus.16 In den Monatsgesprächen praktiziert er neben der pharmakologischen Wissensvermittlung vor allem „allegorische Blütenlese“.17 Im Sinn des
12 Zum Kontext etwa Christoph Meinel: In physicis futurum saeculum respicio. Joachim Jungius und die Naturwissenschaftliche Revolution des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1984. Die ältesten Gründungen botanischer Gärten in Deutschland gehen auf die Zeit um 1600 an den Universitäten Leipzig (1580), Jena (1586), Heidelberg (1593) zurück. Für einen Gesamtüberblick Loki Schmidt: Die Botanischen Gärten in Deutschland. Hamburg 1997. 13 Vgl. hierzu Johann Anselm Steiger: Medizinische Theologie. Christus medicus und theologia medicinalis bei Martin Luther und im Luthertum der Barockzeit. Leiden u. a. 2005 (Studies in the History of Christian Traditions 121). 14 Eberhard Mannack, Johann Anselm Steiger: Rist, Johann. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. Hg. von Wilhelm Kühlmann u. a. Bd. 9. Berlin u. a. 2010, S. 668–670, hier S. 668. 15 Stockhorst (Anm. 5), S. 70 u. 74. 16 Vgl. ebd., S. 75. 17 Ebd., S. 80.
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frühneuzeitlichen mundus significativus steht Rists literarische Pflanzenkunde im Zeichen einer kosmologisch-allegorischen Lesbarkeit der Welt, die auf Tröstung und Glaubensgewissheit hinzielt.18 Der Garten als Mikrokosmos ermöglicht dabei beispielsweise über die Rose die Einbindung der barocken Vanitas-Semantik.19 Entsprechend ist der Bibellektüre bei Rist die Lektüre im Buch der Natur zur Seite gestellt. Ein „jedweder Christ“, schreibt der Pfarrer, sei gehalten, „das er seinen GOtt und Schöpfer/ nach deme ihme von demselben verliehenen Verstande/ so wol aus der Natur/ als der heiligen Schrift recht lerne erkennen“ (Bd. 4, S. 46).20 Allerdings muss man die allegorische Dimension des pflanzenkundlichen Interesses bei Rist auch relativieren. Was davon als gottgefällige Legitimation der wissenschaftlichen curiositas oder auch nur des zeitraubenden ‚Pflanzenspleens‘ willkommen ist, lässt sich kaum entscheiden. Immerhin ist mit Blick auf Rists botanische Kenntnisse auch mit einer gewissen Sinnbildskepsis zu rechnen.21 Denn wenn man etwa an den Baseler Botaniker Caspar Bauhin (1560–1624) denkt, der das Hauptaugenmerk seinerzeit auf naturkundlich exakte Beschreibung, einheitliche Nomenklatur und systematische Klassifikation legt, folgt Rist dieser für ihn maßgeblichen Fachautorität auch in der Ablehnung der im geistlichen Bereich z. B. prominent von Johann Arndt vertretenen Signaturenlehre, die Rückschlüsse von der äußerlichen Morphologie auf die inneren Heilkräfte erlaubt.22 In dieser Richtung hat man in der Rist-Forschung auch zugespitzt: „Anders als zur gleichen Zeit noch bei Harsdörffer und dem Nürnberger Dichterkreis […] spielte die allegorisch-moralische Deutung der Natur bei Rist eine völlig untergeordnete Rolle, worin er vergleichsweise modern war“.23
18 Vgl. ebd., S. 81 f. 19 Vgl. ebd., S. 84. 20 Zum zeitgenössischen Kontext der Topik Anne Charlott Trepp: Im ‚Buch der Natur‘ lesen. Natur und Religion im Zeitalter der Konfessionalisierung und des Dreißigjährigen Krieges. In: Antike Weisheit und kulturelle Praxis. Hermetismus in der Frühen Neuzeit. Hg. von ders., Hartmut Lehmann. Göttingen 2001 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 171), S. 103–143 (bes. 103–112 und 123–143 zu Rist). 21 Stockhorst (Anm. 5), S. 69 weist auf die Würdigung Rists mit dem Emblem des südamerikanischen Guajakbaums durch die Fruchtbringende Gesellschaft hin und hebt hervor, dass die Pflanze auf Grund ihrer fremden Herkunft „völlig außerhalb der konventionellen Sinnbildkunst“ steht, zugleich aber zu den „bekanntesten Arzneipflanzen der Frühen Neuzeit“ zählt. 22 Dazu Trepp (Anm. 5), S. 152 sowie ausführlich Friedrich Ohly: Zur Signaturenlehre der frühen Neuzeit. Bemerkungen zur mittelalterlichen Vorgeschichte und zur Eigenart einer epochalen Denkform in Wissenschaft, Literatur und Kunst. Aus dem Nachlass hg. von Uwe Ruberg. Stuttgart u. a. 1999. 23 Ebd., S. 154.
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Versucht man, das Bild auf der Grundlage des skizzierten Diskussionsstands weiter zu differenzieren, ist zur systematischen Orientierung zunächst die Unterscheidung von drei Betrachtungsdimensionen der Floriographie24 bei Rist sinnvoll. 1. Worüber, genauer über welche Blumen schreibt Rist (Gegenstandsbereich); 2. wie schreibt Rist über Blumen (Formrepertoire) sowie 3. mit welchem Ziel bzw. mit welcher Wirkung schreibt Rist über Blumen (Funktionsspektrum)? Angesichts der unübersichtlichen Fülle von floriographischen Aspekten in Rists Werk kann hier nur exemplarisch auf diese Betrachtungsdimensionen eingegangen werden. Im Zentrum steht dabei der Blumendiskurs zur März-Unterredung über die Alleredelste Tohrheit der gantzen Welt. Diese hinsichtlich der Reichweite sicherlich bedenkliche Einschränkung hat methodisch jedoch den Vorteil, das ausgewählte Gartengespräch in einem konkreten und begrenzten Textzusammenhang zu untersuchen, um auf diese Weise die kotextuellen Spezifika der gesprächsliterarischen Einbettung erfassen zu können. Dazu seien einige allgemeine Bemerkungen vorausgeschickt. Kennzeichnend für die Gesprächsfiktion ist – und das gilt für sämtliche Blumendiskurse in den Monatsgesprächen – dass man sich in einem der Gärten des Rüstigen einfindet und der stolze Besitzer die staunenden Gäste gleichsam wie in einem lebendigen Naturalienkabinett als Pendant zu den Sammlungen in der Wunderkammer des Pfarrhauses herumführt. Man geht buchstäblich von Blume zu Blume, die schlicht vorgezeigt und dann in „pharmakologischer Schreibtradition“ zumeist mit Kommentaren zu Gestalt, Namen, Herkunft und Wirkung erläutert werden.25 Bezogen auf die Machart handelt es sich um ein inventarisierendes Verfahren, bei dem Rist rein floristisch vorgeht. Es gibt keine systematische, z. B. pflanzengeographische, heilmedizinische oder auch emblematische Ordnung, welche die Blütenlese leitet. Stattdessen orientiert Rist sich an dem ‚Was blüht denn da?‘Schema.26 Ausschlaggebend für die Auswahl der Pflanzenarten bzw. Redegegenstände ist folglich das Vorkommen in Rists Gärten, wobei die Arten jeweils im Blütenstadium gezeigt werden. Beide Aspekte deuten auf die repräsentative Funktion der Blumendiskurse, die den prächtigen Besitz des Pflanzenkenners
24 Der Begriff geht auf die Arbeitsgruppe ‚Floriographie‘ als Kooperation zwischen dem Graduiertenkolleg „Mediale Historiographien“ (Weimar/Erfurt/Jena) und dem Graduiertenkolleg „Schriftbildlichkeit“ (Berlin) zurück. Vgl. dazu Mareike Vennen: Tagungsbericht ‚Floriographie‘, 06.10.2011–07.10.2011, Berlin. In: H-Soz-u-Kult (04.02.2012), http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=4040 (Zugriff am 20.03.2014). 25 Stockhorst (Anm. 5), S. 77 führt die Methode auf Pedanios Dioskurides: De materia medica zurück. 26 Blührhythmische Pflanzensystematiken sind auch durch frühneuzeitliche Gartenbücher wie Basilius Beslers Hortus Eystettensis (1613) eingeführt.
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ausweisen. Zugleich ist damit aber auch die zeitliche Funktion der Floriographie bei Rist erfasst: Mit der fiktiven monatlichen Periodizität des Gesprächsprojekts korrespondiert die Auswahl der in diesem Monat jeweils blühenden Pflanzen. „Als bin ich Sinnes worden“, schreibt Rist entsprechend im Vorbericht zum Januardiskurs über die Entstehung des Projekts, dafern mir GOTT Leben und Gesundheit würde verleihen/ nach zwölf Monahten des Jahres/ auch zwölf Gespräche/ aufs Papir zu bringen/ in welchen allemahl von den fürnehmsten Bluhmen/ Kräutern und Gewächsen/ welche im selbigen Monat blühen/ der Anfang gemachet/ und ferner darauf von allerhand merkwürdigen Dingen/ in der Natur/ ja schier von allen Sachen/ so unter dem Himmel befindlich/ solte gehandelt/ [werden] (Bd. 4, S. 15).
Somit erscheinen die Arten innerhalb der vorausgesetzten periodischen Kohärenz als natürliche Uhren, die den Leser durch das Jahr begleiten und wie ein „verblümtes memento mori“ an Zeitlichkeit und Wiederauferstehung gemahnen.27 Rist betont im Fortgang seiner Blumendiskurse z. B. mehrfach, dass das Blumenreich – hier erkennt man wiederum die allegorische Funktion – ein sichtbares Zeichen für göttliche Erneuerung im Sinn einer „consolatio hortis“28 darstellt. Im Juni-Gespräch bekränzt er seine Gesprächspartner entsprechend mit der Losung „[m]emento, te esse florem“ (Bd. 6, S. 300).29 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang im Blumendiskurs zum Januar-Gespräch der Hinweis auf die „MonatsRosen“,30 die – wie betont wird – durch das ganze Jahr hindurch gleichsam gegen die Zeit blühen und mit denen der Rüstige seine Gesprächspartner verblüfft. Ein inzwischen verschiedener „Bohemischer Frei-Herr“ habe „einer großen/ nun aber auch höchstseligst verstorbenen Königinn/ eine Schlafkammer“ bauen lassen, „in welcher er rund umb das Bette her/ die besagte MonatRosen/ in großen irdenen/ jedoch schön vergüldeten Töpfen/ laßen setzen/ welche das gantze Jahr durch liblich geblühet“ (Bd. 4, S. 53). Insofern ist der an Zeitlichkeit gemahnenden Blührhythmik in den einzelnen Blumendiskursen an dieser Stelle mit der Monatsrose auch ein Trostzeichen der Überdauerung gegenübergestellt. Zur Charakterisierung des vorzeigenden Gestus, der im buchstäblichen Abschreiten der vorfindlichen Blühpflanzen im Garten wurzelt, schlage ich die Bezeichnung ‚Artendeixis‘ vor. Dies ist im ganz wörtlichen Sinn als ein ‚Vorzei-
27 Stockhorst (Anm. 5), S. 84. 28 Ebd., S. 82. 29 Vgl. ebd., S. 84. 30 Gemeint ist wahrscheinlich Rosa damascena. Vgl. Gerd Krüssmann: Rosen, Rosen, Rosen. Hamburg 1979 sowie Kurt Wein: Die Geschichte der „Monatsrose“ in ihren Anfängen. In: RosenZeitung 44 (1929), S. 16–21.
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gen von Arten‘ gemeint, welches das floriographische Verfahren Rists allgemein kennzeichnet. Die Begriffsschöpfung ist zwar nicht historisch abgeleitet, kann in systematischer Perspektive allerdings die eingeführten Betrachtungsdimensionen der Floriographie bei Rist erhellen. Für den Gegenstandsbereich der Blumengespräche (materia) ist zunächst das Artenspektrum ausschlaggebend. Belehrend wird dem Anteil nehmenden Betrachter die jeweilige Spezies ebenso in der Gesprächsfiktion wie Lektüresituation durch den souveränen Pflanzenkenner gezeigt. Verortet ist das Gespräch hierbei im eigenen Garten, so dass die Artenkunde auch durch die konkrete raumdeiktische Verankerung an Glaubwürdigkeit gewinnt. Die Situation lässt sich somit als floristische lectio während einer Gartenführung beschreiben. Für die Gesprächsdisposition ist zudem die Blührhythmik als zeitdeiktische Funktion musterbildend. Gesprächsfunktional gibt sie allerdings nicht nur die Gliederung vor, sondern hält darüber hinaus auch das allegorische Spiel mit Zeitlichkeit in Gang. Zusammengenommen gibt die Artendeixis somit floristische, räumliche, zeitliche, moralische und ästhetische Orientierung. Auf die beiden zuletzt genannten Aspekte lenkt wiederum das Zitat aus der Vorrede. Es geht nämlich um das Vorzeigen der „fürnehmsten Bluhmen/ Kräutern und Gewächsen.“ Funktional betrachtet kommt darin christliche Erbauung zum Tragen. So nehmen bereits die Titeleien der Bände die Gespräche unter das doppelte Attribut „anmuthig“ und „erbaulich“. Als wiederkehrende Illustration erscheint bis zum Aprilgespräch zudem der Blumenkrug mit dem Spruchband „Sie nutzen und ergetzen“.31 Selbstbewusst knüpft Rist mit diesem Motto nicht nur an die Horazische Dichtungsformel, sondern als Grandseigneur des Elbschwanenordens auch an die dem Palmbaum beigesellte inscriptio „alles zu nutzen“ der Fruchtbringenden Gesellschaft an.32 Neben der Erbauung hebt die doppelte Titelformel sodann das Anmutige hervor. Hier artikuliert sich das ausgeprägte Interesse Rists für die Schönheit von Blumen, die ihn neben christlich-allegorischen oder heilkundlichen Nutzungsmöglichkeiten fasziniert. So sind die in der Vorrede genannten „fürnehmsten“ Blumen für ihn vor allem die schönsten. Nach diesem Prinzip ist auch die Artendeixis im Text weithin ausgerichtet. Die lässt sich exemplarisch anhand des Blumengesprächs zur März-Unterredung vertiefen, das im Folgenden der angekündigten genaueren Betrachtung unterzogen wird.
31 Eventuell handelt es sich bei den abgebildeten Blumen um Nelken, die möglicherweise auf die Passion Christi als Erbauungshintergrund verweisen. Zu diesem Kontext Barbara Hofmann: Nelke. In: Günter Butzer, Joachim Jacob (Hg.): Lexikon literarischer Symbole. Stuttgart, Weimar 2 2012, S. 295. 32 Vgl. Trepp (Anm. 5), S. 192.
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In der März-Unterredung setzt die Gesprächsfiktion an einem freundlichen Tag zur Mitte der Fastenzeit ein. Als Gesprächspartner findet sich gegen Abend Rists „verständiger Gartner auß dem Weltbelobtem Hamburg“ in Wedel ein (Bd. 5, S. 32). Am nächsten Tag „spatzierten sie Beide in einen von des Rüstigen Gahrten/ daselbst zu besehen/ was für Gewächse/ Kräuter und Bluhmen schon waren herfür kommen“ (Bd. 5, S. 33). Überschlägt man diese floristische Gartenexkursion, kommt man nach den von Rist verwendeten historischen Bezeichnungen zunächst auf eine Artenliste von zehn Frühblühern: 1. „blaue Märtz-Viölichen“ (Bd. 5, S. 33 f.) 2. „Leber-Kraut“ (Bd. 5, S. 36) 3. „Schlüssel-Bluhmen“ (Bd. 5, S. 37) 4. „Kaiser-Krohnen“ (Bd. 5, S. 39) 5. „Crocus“ (Bd. 5, S. 44) 6. „Iris Persica“ (Bd. 5, S. 47) 7. „gelbe […] Narzissen“ (Bd. 5, S. 48) 8. „Fritillaria“ (Bd. 5, S. 49) 9. „Bellis oder Mahssliben“ (Bd. 5, S. 51) 10. „Saffirblaue Hyazinten“ (Bd. 5, S. 54).33 An dieser Stelle wird der Spaziergang durch die Ankunft der eigentlichen Gesprächspartner Philanthon, Strephon und Chariander unterbrochen. Allerdings ist die Artenliste damit keinesfalls vollständig. Fortgelassen sind in der Aufzählung eine Reihe von Unterarten, die noch genannt werden (vgl. z. B. den Verweis auf „Sechs und zwantzigerlei Ahrt Schwertel Bluhmen“ in den Pyrenäen; Bd. 5, S. 47), sowie mehrere Pflanzen, die zwar nicht im Garten zu sehen sind, von denen der Rüstige jedoch angesichts der vorhandenen Blumen erzählt. Hierzu zählt z. B. das Kuriosum einer „schwartze[n] Lilien“ (Bd. 5, S. 40). Hinzu kommt eine unbestimmte Anzahl von Arten, die in zusammenfassenden Formulierungen wie „[sie] besahen noch unterschiedliche Gewächse“ genannt wird (Bd. 5, S. 54), sowie rund zwei Dutzend nicht heimische Arten, die der Rüstige nach dem Winter aus dem Keller geholt und wie eine Tafel aufgebaut hat. Als die übrigen Gesellschafter schließlich eintreffen, bewundern Sie die Raritäten des Blumenbuffets:
33 Nach der modernen binären Nomenklatur handelt es sich vermutlich um 1) Viola odorata, 2) Hepatica nobilis, 3) Primula veris, 4) Fritillaria imperialis, 5) Crocus vernus, 6) Iris persica, 7) Narcissus pseudonarcissus, 8) Fritillaria meleagris, 9) Bellis perennis, 10) Hyacinthus orientalis. Nachweise etwa bei Eckehart J. Jäger, Friedrich Ebel, Peter Hanelt, Gerd K. Müller: Exkursionsflora von Deutschland. Bd. 5: Krautige Zier- und Nutzpflanzen. Heidelberg, Berlin 2008.
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Sie stunden und besahen dise Sachen gahr genau/ funden darunter etliche feine Gewächse/ Bäumlein und Stauden/ als/ die wolriechende Jasminen/ mit gelben und weissen Blumen/ Feigen Bäume/ Lorbeer Bäume/ Zipress-Bäumlein/ Rosmarin/ Jndianische Feigen/ Balustien/ oder wilde Granat-Bäume/ allerhand gefüllete Violen/ Amomum Plinij/ schmahle und breitblättrige Mhyrten/ vielerhand Leucojon Jris Susiana/ Jucca/ Aloe/ Pomerantzen Bäume und andere mehr dergleichen anmutige/ belibte und an vilen Ohrten annoch/ fast seltene Sachen und Gewächse (Bd. 5, S. 55).
Verfährt der Text an dieser Stelle in einem „Inventarisierungsverfahren“34 rein aufzählend, wird beim Publikum die entsprechende Artenkenntnis offenbar vorausgesetzt. Achtungsvoll kann sich der verständige Leser die Pracht der Blumentafel anhand der Artnamen ausmalen. Dass Rist die Publikumskonzeption in dieser Hinsicht offenbar nicht konsequent anlegt, zeigt sich allerdings während des Gartenspaziergangs an den vorgeschalteten Blumengesprächen. Denn hier liefert der Text zu den vorgezeigten Arten in der Regel gewissermaßen Pflanzenporträts für den interessierten Laien, die oft mit etymologischen, pharmakologischen oder ökologischen Erläuterungen (z. B. zum Vorkommen einer Art) angereichert sind.35 Wichtig sind zudem die morphologischen Hinweise, welche die Arten und ihre Varianten zum Teil sehr detailliert in der Gesprächssituation vergegenwärtigen. Zu den Schlüsselblumen führt der Rüstige beispielsweise aus: Die Einfache theils gelbe/ theils weißlichte Schlüsselbluhmen/ sind die schlechteste unter allen/ als welche nicht nur in den Gahrten/ sondern auch in den Wiesen/ wie auch wol an etlichen troknen Ohrten/ häuffig pflegen zu wachsen/ und habe ich von diser Ahrt/ die allerschönste und grösseste/ unten an dem Fuhsse meines Parnassus, in grosser Menge gefunden. Was aber die gefüllete betrift/ so werdet Jhr derselben unterschiedene Ahrten/ in meinem Garten antreffen: Sehet/ da stehet eine Schlüsselbluhme/ mit schönen/ lichtgelben Blühmlein/ hat einen aufrechtstehenden Stengel/ und/ so viel das Kraut anlanget/ zimliche schmale Blätter. Nahe dabei thut sich herfür eine andere Ahrt/ welches Kraut breit/ die Schwefelfarbe Bluhmen gros/ schön gefüllet/ welche aber/ damit jhre Schönheit nicht allzu vollkommen sei/ sich gahr zu sehr nach der Erden neigen (Bd. 5, S. 37 f.).
34 Stockhorst (Anm. 5), S. 76. Eine ähnliche Inventarliste der Kräuterkammer des Rüstigen gibt bereits das Januar-Gespräch (vgl. Bd. 4, S. 35). 35 So bekennt in der Januar-Unterredung auf der Figurenebene z. B. Celadon angesichts einer kleinen Fläche mit goldfarbenen Blumen seine botanische Unkenntnis und zeigt sich gelehrig: „Dises Gewächs ist mir zwar nicht bekant/ zumahlen ich mich wenig der Erkäntniße der Kräuter und Bluhmen bisher beflissen/ mag sie doch gerne sehen/ unterdessen müchte ich wol wißen/ wie dasselbe eigentlich genennet werde?“ (Bd. 4, S. 33). Sylvander erweist sich hier jedoch als kundiger und identifiziert die Blumen daraufhin als „Aconitum Hyemale“ oder „Winter Wolfes Wurtz“ – gemeint ist wohl der Winterling (Eranthis hyemalis) –, was der Rüstige schließlich bestätigt (ebd.).
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Das auszugsweise zitierte Beispiel zeigt, wie sehr es Rist auch um floristische Ekphrasis geht. Seine Artendeixis zielt gewissermaßen auf die unmittelbare Veranschaulichung von Bildkunstwerken aus der Natur, die der belehrte Betrachter bei der Lektüre in situ imaginiert.36 So fügt sich der Text gleichsam zum papierenen Herbar des Pfarrgartens.37 Die ausgearbeitete Beschreibung der Anschauungsgegenstände erscheint dabei nicht nur als authentifizierende Lokalisierung im individuellen Garten des Rüstigen, der zum Leseerlebnis werden soll, sondern auch als imitierende Verortung im literarischen Traditionshorizont der Arkadienoder Landlebendichtung.38 Vor diesem Hintergrund zielt die rhetorische evidentia wesentlich auf die Huldigung der Schönheit der gezeigten Pflanzen, in deren Farbpracht der Pinselstrich Gottes erbaulich vor Augen steht.39 „Es ist die Epatica ein anmuthigs Gewächse“, lässt Rist etwa den Gärtner stellvertretend für den gewünschten Affekt der Bewunderung sagen (Bd. 5, S. 37). Und über die prächtige Kaiserkrone schwärmt er, „das sie der schönsten Blumen eine ist/ so in der Welt mügen gefunden werden“ (Bd. 5, S. 42). Vergleichbare Schönheitsbekundungen finden sich nahezu zu jeder genannten Pflanzenart. Und selbst die kleinen eher „unansehnliche[n]“ Veilchen haben aus Sicht des Rüstigen im Ensemble von blauen und weißen Blüten ein „schönes Ansehen“ und den „alleranmuthigsten Geruch“ (Bd. 5, S. 34).40 An solchen Stellen zeigt sich immer wieder der leiden-
36 An einer Stelle wird auch auf ein Musterbeispiel zeitgenössischer Pflanzenillustrationskunst verwiesen: „Jch habe unter anderen zimlich vilen Büchern/ die von der Botanicâ, oder KräuterWissenschaft handelen/ auch ein Buch/ worinn die fürnehmste Frühlings-Bluhmen/ nach dem Leben/ von einem Holländischen Schilder sind abgemahlet/ und mit jhren eigentlichen Farben/ gahr schön/ theils auf das Papier/ theils auf Pergamehn gebracht worden“ (Bd. 5, S. 46). Im Fortgang kritisiert der Rüstige, dass den abgebildeten Arten hier fehlerhafte lateinische Namen zugewiesen seien. Im April-Gespräch betont Rist auch die Nachahmungsgrenzen der Pflanzenmalerei. Dazu Stockhorst (Anm. 5), S. 77. 37 Sammlungen getrockneter Pflanzen wurden in der Nachfolge des italienischen Botanikers Luca Ghini (1490–1556) in der Frühen Neuzeit ebenfalls als ‚Garten‘ (Hortus siccus) angelegt, um jahreszeitenunabhängige Studien zu ermöglichen. Dazu Hobhouse (Anm. 11), S. 177. 38 Vgl. den Beitrag von Klaus Garber in diesem Band sowie für den Gesamthorizont zuletzt ders.: Arkadien. Ein Wunschbild der europäischen Literatur. Paderborn 2009. 39 Die Motivik ist in der deutschen Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts eingeführt. Bereits der junge Martin Opitz z. B. ersetzt in seiner Fischart nachempfundenen Beatus ille-Bearbeitung Lob des Feldlebens (1623) die den Wucherer verspöttelnde Schlusswendung bei Horaz durch eine auf Schöpferlob und Erbauung zielende christliche Pointe. Einzelheiten bei Anke-Marie Lohmeier: Beatus ille. Studien zum ‚Lob des Landlebens‘ in der Literatur des absolutistischen Zeitalters. Tübingen 1981 (Hermaea 44), S. 193–219. 40 Vgl. dazu im Deutschen die wörtliche Übersetzung des heutigen Artnamens Viola odorata als ‚Duftveilchen‘.
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schaftliche ‚Bluhmen Libhaber‘,41 der nicht nur auf Belehrung, sondern auch auf ansteckende Begeisterung aus ist. Insofern eignet der Floriographie Rists neben der pharmakologischen und kosmologisch-allegorischen Funktion eine rhetorische Dimension, die im Sinn der Sympathiegewinnung (conciliare) auf doppelte Weise persuasiv eingesetzt ist. Zum einen richtet sich der rhetorische Impuls der Floriographie sicherlich nicht zuletzt darauf, den Leser sowohl von der botanischen Kennerschaft als auch literarischen Könnerschaft des Rüstigen zu überzeugen. Zum anderen zielt die rhetorische evidentia aber auch geschickt auf eine ansteckende Wirkung beim Betrachter. Rist möchte sein Publikum für Blumen gewinnen. Entsprechend wird die Begeisterung für die Schönheit der Blumen in der Person des Gärtners figural vorexerziert. Hierbei fallen etliche Motive ins Auge, die letztlich nach dem Muster des irdischen ‚Paradiesgärtleins‘ auf die Erbauung des Lesers, das Einpflanzen christlicher Tugenden in die Seele abzielen.42 Einschlägig ist hierzu u. a. die Bewunderung für „raritäten“ (Bd. 5, S. 40), die neben den in Mitteleuropa im 17. Jahrhundert verbreiteten Arten wie der ‚gemeinen‘ Schlüsselblume oder den Maßliebchen Gesprächsgegenstand sind und – ebenso wie die Blumen auf der Tafel im Haus – ausdrücklich als seltene Besonderheiten gewürdigt werden. Der Hamburger Domherr und Senior des Domkapitels Eberhart Möller (1606–1657)43 beispielsweise, dem Rist als einer weiteren Gärtnerfigur ein Denkmal setzt und den er im März-Gespräch als „allergrössesten Libhaber der Bluhmen“ anpreist, ist beim Anblick von Fritillarien „so voller Freuden/ als wenn Er mit dem Columbus eine neue Welt hätte angetroffen“ (S. 51). Und mit dem eigenen Gärtner schwelgt der Rüstige etwa im betörenden Duft „etliche[r] Orientalische[r]/ Saffirblaue[r]
41 So wörtlich auch wiederkehrend (vgl. z. B. S. 44). 42 Modellbildend ist das Paradiesgärtlein Johann Arndts (1612). Private Pflanzensammler dieser Zeit streben auch in der konkreten gartenbaulichen Praxis oft das Ideal eines eigenen Gartens Eden an. Vgl. Hobhouse (Anm. 11), S. 184. 43 Im Jahre 1648 dankte Rist seinem Freund und Pflanzenliebhaber Eberhard Möller dafür, dass er den im Krieg verwüsteten Garten des Wedeler Pastorates „schier gahr auff daß neue hat angerichtet und bepflantzet“. Johann Rist: Holstein vergiß eß nicht Daß ist Kurtze/ iedoch eigentliche Beschreibung Des erschreklichen Ungewitters/ Erdbebens und überaus grossen Sturmwindes/ welcher Jn der Fastnacht dieses 1648 Jahres/ am Tage Valentins/ war der 14 des Hornungs/ vom Mohntag auff den Dienstag/ ungefähr gegen Mitternacht plötzlich entstanden und an vielen Ohrtern in Holstein/ sonderlich aber am Elbestrohm Mit Niederwerffung vieler schöner Thürme Kirchen-Häuser und anderer Gebäu/ Mit Erdrukkung einer grossen Anzahl Menschen und Viehes/ Mit Aussreissung unzehlich vieler Bäume und anderen hochschädlichen Würkungen Den feurbrennenden Zorn Gottes/ uns armen Sündern klährlich hat vor die Augen gestellet/ Auff Sonderbahres Begehren Jn Gebundener Rede verfasset und heraus gegeben […]. Hamburg 1648, fol. A 3v.
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Hyazinten“ (Bd. 5, S. 54). Mehrfach dehnt sich die Begeisterung in solchen Partien zu einem weltumspannenden Exotismus, der Entdeckerfreuden weckt, einmal allerdings auch Anlass zu Spott gibt, als vom weitgerühmten Hamburger Garten Hans Berenbergs die Rede ist: Manche „nicht ferne von der Stadt“ aufgefundene Blumenart sei nach der Verpflanzung in dessen Garten „ein fremdes Ungerisches/ Hispanisches/ Türckisches/ Ja wohl gahr Ost- oder West-Indianisches Gewächse“ genannt worden, um „die vorwitzige[n] Nachforscher der unbekanten Kräuter und Bluhmen zu vergnügen“ (Bd. 5, S. 40). In zuweilen ernsthaftem oder satirischem Plauderton44 vereint Rists Gartenkunde in dieser Weise die geläufige Schönheit heimischer Arten mit der Pracht fremder Raritäten. Als Faszinosum rückt damit letztlich die botanische Fülle der Schöpfung ins Zentrum. Die Attraktion der Artenvielfalt – ‚Biodiversität‘ ist heute der ökologische Schlüsselbegriff – kommt dabei nicht nur in der fortwährend genutzten Auflistungstechnik, sondern auch durch die Gesprächssituation des Spaziergangs zum Tragen. So soll das Voranschreiten im Garten, auch wenn die Diskurse oft langatmig ausgreifen, gezielt den Eindruck von Rastlosigkeit vermitteln. Dabei wird rhetorisch und im Wortsinn Bewegung (movere) erzeugt, indem die Gesprächspartner immer wieder darauf drängen, dass man alsbald weitergehen müsse, da noch etliche Blumen im Garten zu bestaunen seien. „Aber/ wir solten bald zu weit in den Text kommen“, räumt der Rüstige beispielsweise hastig ein, „unsere Zeit ist kurtz/ müssen derowegen noch etwas mehr besehen“ (Bd. 5, S. 37). Ähnlich gibt im Gegenzug der Gärtner bei den Fritillarien zu bedenken: Aber/ mein Herr […]/ wir halten uns bei dieser Bluhme schier ein wenig zu lange auf/ denn wir noch viele und unterschiedliche Ahrten von Hyazinten/ Narzissen und derogleichen Märtz-Bluhmen für uns haben/ wovon/ meines Bedünkens/ gahr viel zu reden müchte fürfallen/ lasset uns derowegen ein wenig fohrteilen (Bd. 5, S. 51).
Die auflistende Eile, mit der die Pflanzenvielfalt hier erschlossen werden soll, steht dabei durchaus im Kontrast zur Ruhe-Motivik, welche im Bereich der Laus ruris-Dichtung ausgeprägt ist.45 Während das gelassene Landleben in diesem literarischen Traditionshorizont den Gegenpol zur hektischen Welt des Hofes,
44 Im Gespräch über die alleredelste Torheit scherzt er z. B. auch über die zeitgenössische „Tulpenraserei oder Tulpen Unsinnigkeit“ (Bd. 5, S. 125 f.); dazu Gutzeit (Anm. 4), S. 49 f. sowie Stockhorst (Anm. 5), S. 77 f. mit weiterführenden Literaturhinweisen zum europäischen Tulpenfieber der 1630er-Jahre. 45 Das Gesprächsprojekt steht als monatliches Periodikum zudem selbst prinzipiell unter Zeitdruck. Rist beklagt sich z. B. darüber, dass der Drucker die Veröffentlichung stark verzögert habe, da „unserer Gespräche eines und das ander/ etliche mal über ein halbes Jahr beym Drucker“ gelegen habe (Bd. 6, S. 16).
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der Stadt bildet, wird Tempo in der Gartenschau Rists durchaus begrüßt. Zuspitzen lässt sich der Aspekt etwa im Vergleich mit Goethes Hexameterdichtung Die Metamorphose der Pflanzen, die im Zusammenhang von Goethes Plänen für eine aufklärerische Erneuerung des antiken Lehrgedichts im Sommer 1798 entstand.46 Die Gesprächssituation der Elegie ist ebenfalls eine Gartenschau. Der Pflanzenkenner hat indessen die Geliebte – hier darf man sich Christiane Vulpius als Goethes „erste Adressatin“ vorstellen47 – zur Seite. Gleich die Eingangsverse thematisieren dabei die Unübersichtlichkeit der zu betrachtenden Artenvielfalt: Dich verwirret, Geliebte, die tausendfältige Mischung Dieses Blumengewühls über dem Garten umher; Viele Namen hörest du an, und immer verdränget Mit barbarischem Klang einer den andern im Ohr. Alle Gestalten sind ähnlich, und keine gleichet der andern; Und so deutet das Chor auf ein geheimes Gesetz, Auf ein heiliges Rätsel. O könnt’ ich dir, liebliche Freundin, Überliefern sogleich glücklich das lösende Wort! –48
Goethe überspielt die Pflanzenfülle, deren Kenntnis der Geliebten nicht unbedingt galant als Überforderung zugeschrieben wird, hier ausdrücklich mit dem Ziel, auf das verborgene Lebensgesetz der Metamorphose vorzustoßen, um es im Weiteren schließlich symbolisch auf die menschliche Liebe zu übertragen. Rist hingegen bevorzugt die eilig inventarisierende Technik der Artendeixis. Entsprechend stellt er auf diese Weise gerade die staunenswerte Pflanzenvielfalt selbst – und sicher auch seine tadellosen Fachkenntnisse über sie – in den Vordergrund. Dabei lässt sich das vorangetriebene Abschreiten der Arten bei Rist wiederum aus rhetorischer Perspektive erhellen. Denn Blumen sind nicht zuletzt deswegen ein willkommener Redegegenstand, weil sich aus ihnen geradezu natürlich die inventio ergibt. Auf der dispositio-Ebene kann die Artendeixis das Gespräch in Gang halten, indem jeder Pflanzenname ein neues Stichwort gibt. Sie setzt also schlicht den wesentlichen gesprächsrhetorischen Impuls, indem sie den Bereich der res festlegt und den aufzählenden Duktus (enumeratio) vorgibt. Die gezeigte Pflanze dient auf diese Weise als Keimzelle des gefälligen Diskurses, der im Weitergehen von einem Gegenstand zum nächsten führt und durch entfaltende
46 Vgl. Einzelheiten und weiterführende Hinweise etwa bei Maike Arz: Die Metamorphose der Pflanzen. In: Regine Otto, Bernd Witte (Hg.): Goethe-Handbuch. Bd. 1. Gedichte. Stuttgart, Weimar 1996, S. 253–257. 47 Vgl. ebd., S. 254. 48 Johann Wolfgang von Goethe: Gedichte und Epen I. Hg. von Erich Trunz. München 151993 (Goethes Werke. Hamburger Ausgabe 1), S. 199.
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Erläuterung (explicatio) wie von selbst anwächst.49 Nach diesem Prinzip lässt Rist z. B. die Schönheit der Schlüsselblumen auf die weibliche Schönheit überspringen, wenn er von der Rezeptur eines Extrakts erzählt, mit dem man aus Schlüsselblumen edles „Schmink-Wasser“ herstellen kann (Bd. 5, S. 39). Einen ähnlichen gesprächsrhetorischen Impuls gibt etwa die Narzisse, indem die Etymologie „Schertzweise“ die Frage aufwirft, in welche Narzissen-Art der eitle Namensspender bei Ovid eigentlich verwandelt worden sei (Bd. 5, S. 48). So gedeiht aus den Blumen das florierende Gespräch; flora wird fabula. Und in der März-Unterredung kommt noch hinzu, dass schließlich auch der Hauptredegegenstand – hier die ‚alleredelste Torheit‘ – dem Blumengespräch erwächst. Denn als sich schließlich auch die gelehrte Elbschwanengesellschaft im Garten des Rüstigen eingefunden hat, greift Herr Philanthon das Blumenthema auf und erzählt, dass man für „Fingerhuht-Bluhmen“ (Bd. 5, S. 55) vor etlichen Jahren „über fünftzig Reichthaler“ (Bd. 5, S. 56) bezahlt habe. Mit Herrn Charianders prompter Antwort „Ich habe manche Edle Tohrheit in der Welt gesehen/ aber dieser gleichen/ ist Mir noch nicht für kommen“ (ebd.), ist kurzerhand die botanische Brücke zum eigentlichen Gesprächsthema geschlagen. Verdeutlicht das Beispiel der März-Unterredung, wie die präludierenden Blumendiskurse als rhetorische Sprösslinge der Gespräche eingesetzt sind, die den Diskurs in Gang bringen, eine anmutige und erbauliche Gesprächsatmosphäre stiften und den Einstieg in den Hauptgegenstand erleichtern, zeigt sich das Floriographische schließlich in der Dimension der Machart. Indem sich die florale Schreibweise fortlaufend verzweigt, ineinander verschlingt, Nah- und Fernliegendes vermischt, zugleich nach der botanischen Ordnung wohlgesetzt erscheint und förmlich erblüht, steht die Methode der Blumenentrees im Zeichen einer immanenten Poetik, die ein am Pflanzenmodell ausgerichtetes Schreibideal verfolgt.50 Rists floriographische Form scheint buchstäblich auf rhetorische ‚Stilblüten‘ aus, die seine Gesprächsliteratur in den Rang von Mustertexten erheben sollen. Selbstbewusst ist in der gleichsam als imitatio florum inaugurierten Schreibart die Nachahmung der eigenen auctoritas einkalkuliert. Entsprechend
49 Ähnlich fungiert naturkundliches Wissen auch bei Rists Vorbild Harsdörffer als „interessanter Konversationsstoff“, der Gesprächsimpulse setzt. So Georg Braungart: Harsdörffers Naturkunde. In: Georg Harsdörffers Universalität. Beiträge zu einem uomo universale. Hg. von Stefan Keppler-Tasaki, Ursula Kocher. Berlin, New York 2011 (Frühe Neuzeit 158), S. 237–246, hier S. 244. 50 Vergleichbar ist im engeren Bereich der Poesie das auf Offenheit, Spontaneität und Vielfalt ausgerichtete Genre der Sylvendichtung, das als genus mixtum ebenfalls den floralen Bildbereich beleiht. Für die deutsche Gattungsgeschichte grundlegend Wolfgang Adam: Poetische und kritische Wälder. Untersuchungen zu Geschichte und Formen des Schreibens ‚bei Gelegenheit‘. Heidelberg 1988 (Beihefte zum Euphorion 22).
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legt die programmatische Vorrede zum Januar-Gespräch den „junge[n] Studenten“ die Stilübung ans Herz, seine Prosa „in die Latinische Sprache“ zu übersetzen (Bd. 4, S. 16 f.). Empfiehlt sich der Text damit als Maßstab deutscher Sprachgewandtheit und moderner Latinität, wehrt der Rüstige im März-Gespräch zudem den gut gemeinten Vorschlag des Gärtners ab, den Pinax theatri botanici Caspar Bauhins (1623) in das Deutsche zu übertragen. Vielmehr sei aus seiner Sicht zu wünschen, „das alle Gahrtner sonderlich/ die so fürnehmen Herren bedienet sind/ so viel studiret hätten/ das Sie zum weinigsten die Lateinische Sprache verstünden“ (Bd. 5, S. 45 f.).51 Solche Gesten der Selbstkanonisierung und Bildungsexklusivität rücken das ganze Vorhaben allerdings auch ins fahle Licht von Eigenlob und Werkpolitik. Dem sich wertend annähernden Leser mögen die auffälligen Selbstverhandlungen Rists dabei zur Gratwanderung werden. Inwiefern auch die Blumendiskurse in die ausgearbeitete Autorinszenierung eingebunden sind, lässt sich wiederum anhand der Vorrede zum Januar-Gespräch zeigen, in der Rist den Schreibanlass für das Projekt schildert. Ausgangspunkt ist zunächst der qualvolle Tod der Ehefrau. Danach hat der Rüstige sein Leben „in der grössesten Einsahmkeit/ als zur Winterszeit in meiner Studirstuben/ des Sommers aber in meinen Gahrten/ mit Seuftzen und Trähnen“ zugebracht (Bd. 4, S. 15). Beim Tod der geliebten Frau erfährt er, „das alle menschliche Hülffe vergebens“ ist (Bd. 4, S. 14). Durch diese Ohnmacht in melancholische Bedrückung versetzt, bietet nun offenbar das floriographische Vorhaben einen Ausweg ins Leben. Das Schreibprojekt wurzelt nach Auskunft des Verfassers also im Trauma des Verlusts. Dabei will Rist seine botanischen Spezialkenntnisse zunächst einmal im Sinn der eigenen Erbauung verstanden wissen. Durch den gestifteten Zusammenhang von persönlicher Schmerzerfahrung und floriographischer Überwindung wächst ihm allerdings letztlich auch Glaubwürdigkeit als Vorbild der aedificatio zu. Der in der theologia medicinalis-Tradition stehende Geistliche verfügt folglich nicht nur über angewandtes Wissen um die Heilkraft bestimmter Kräuter. Zugleich verabreicht er gleichsam auch die Floriographie als pharmakologische Schreibweise. Funktional rückt die Floriographie vor diesem Hintergrund in den Bereich von schreibender Selbstbefreiung und Überwindung des Todes, die auf die Untermauerung der eigenen Glaubwürdigkeit als erbauliches Lebensmodell hinzielen. Folgt man dieser „autobiographische[n] Stilisierung“,52 richtet sich Rists Demonstration von
51 Vgl. zum Kontext der Mustergültigkeit Rists auch den Beitrag von Andreas Betz in diesem Band über Tobias Petermanns lateinische Übersetzungen von Rists Gedichten. 52 Stefanie Stockhorst: Dichtungsprogrammatik zwischen rhetorischer Konvention und autobiographischer Anekdote. Die funktionale Vielfalt poetologischer Vorreden im Zeichen der Re-
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botanischem Fachwissen also auf den Rückgewinn von persönlicher Souveränität. Und tatsächlich lässt sich beobachten, dass die Blumendiskurse auf Grund ihres artendeiktischen Aufbaus stärker durch monologische Selbstbehauptung geprägt sind als die insgesamt witziger und agonal angelegten Streitgespräche in den Hauptunterredungen. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass das monologisierende Ich Rists dabei auch zur Geduldsprobe werden kann. Wenige Beispiele genügen, um zu verdeutlichen, wie sich die Autorinszenierung im Sinn einer Gratwanderung schnell auch in die andere Richtung bewegt: Überlegen kontrolliert der Rüstige überall den Diskurs. Stets wird der Gärtner belehrt und zuweilen hartnäckig verbessert. Ungerührt stellt Rist etwa auch seine hervorragenden Verdienste als Arzt heraus. Im Schlagschatten dieser selbstgewissen Autorposition bewegen sich zudem Figurationen des idealen Lesers, die dem dozierenden Pflanzenkenner vor allem mit Bewunderung gegenübertreten.53 Bereits im Januar-Gespräch weckt der Rüstige durch spektakuläre Vergiftungs- und Krankheitserzählungen, auf die er im Zusammenhang der vorgezeigten Blumen kommt, das Staunen der wissbegierigen Zuhörer Celadon, Kurandor und Sylvander. Sie sind hier als figurale Stellvertreter für einen auf Kuriositäten bedachten identifikatorischen und dienstbeflissenen Leser eingesetzt. Mal rettet der pflanzenkundige Pfarrer dabei eine „fürwitzig[e]“ Jungfrau (Bd. 4, S. 35), die törichterweise tödliche Blumen in seinem Garten in den Mund nimmt, durch ein „kräftiges Wasser“ aus seiner Apotheke (Bd. 4, S. 36). An anderer Stelle berichtet Sylvander voller Begeisterung, wie der Rüstige durch eine Arznei über 50 Personen in einem Flecken der Grafschaft Pinneberg vor der Tollwut bewahrt haben soll (vgl. Bd. 4, S. 48 f.). Daraufhin lässt Rist sich selbst ein Bravourstück unfreiwillig komischer Bescheidenheit sagen: Höret doch einmahl auf/ […] mein hertzwehrter Sylvander, die Fürtrefligkeit meiner allein von GOtt gesegneten Artznei/ durch so viele/ jedoch alle warhafte Exempel zu bewehren/ den/ ob ich wol nicht zweifele/ das Herr Celadon und Herr Kurandor derogleichen Erzeh-
formpoetik am Beispiel Johann Rists. In: Die Pluralisierung des Paratextes in der Frühen Neuzeit. Theorie, Formen, Funktionen. Hg. von Frieder von Ammon, Herfried Vögel. Münster 2008 (Pluralisierung & Autorität 15), S. 353–374, hier S. 364, die eine Übersicht zu diesem Phänomen anhand der Paratexte in Rists Werk gibt. 53 Rists bisweilen gönnerhaft inszenierte Überlegenheit ist etwa auch der Grund, warum Birken zeitweilig auf Abstand zu ihm geht. Vgl. Hartmut Laufhütte, Ralf Schuster: Johann Rist und Sigmund von Birken. Eine schwierige Beziehung, rekonstruiert aus ihrem Briefwechsel. In: Informationen aus dem Ralf-Schuster-Verlag. Aufsätze, Rezensionen und Berichte aus der germanistischen Forschung 1 (2008), S. 7–28. Über Rists zwischen Freundschaft und Feindschaft schwankende Verhältnisse zu Birken und Philipp von Zesen informieren auch die Beiträge von Ferdinand van Ingen und Hartmut Laufhütte in diesem Band.
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lungen mit Lust zuhören/ so wolte ich doch nicht gern/ das mein Junker Neidhart/ oder Meister Märten/ etwan hinter der Hekken stunde/ der sollte für misgünstigen Eifer gantz rasend darüber werden (Bd. 4, S. 49).54
Auch solche rhetorischen Unverblümtheiten gehören zweifellos zur Floriographie Rists. Sie lassen sich schwerlich noch im Zeichen des vom Autor angebotenen Motivs schreibender Selbstbehauptung gegenüber dem Verlust der Geliebten verstehen. Vielmehr scheinen sie auf die Stilisierung als überlegener Experte auszugehen, über die Rist seine Spitzenposition innerhalb der eigenen Sozietät zu festigen sucht. Wie immer man diesem Habitus begegnen mag, nicht nur im historisch limitierten Zusammenhang bemerkenswert bleibt bei Rist erstens der konkret sinnliche Bezug der Floriographie als Muster eines erbaulichen Konversationsstils55 sowie zweitens der poetologisch-pharmakologische Herleitungsversuch seiner floralen Schreibweise aus einem persönlichen Erfahrungshintergrund. Die Floriographie Rists verlegt sich weder einseitig auf botanisch abgelöste Sinnstiftung im Bereich der Allegorie, noch verselbständigt sie sich als gelehrte Marotte des Pflanzenkenners. Vielmehr erscheint Rists Floriographie als Beispiel für eine auf geistliche und naturwissenschaftliche Balance bedachte Gelehrsamkeit, die schreibend erprobt, wie Möglichkeiten allegorischer Entfaltung, floristisch-pharmazeutisches Fachwissen, eigene sinnliche Erfahrung und christliche Erbauung ineinandergreifen können. Sein botanisches Interesse macht dabei diesen Autor der Barockzeit zu einem wesentlichen Teil aus. Am nachdrücklichsten erhellt das vielleicht ein bisher ungenanntes Deprivationsmotiv, das Rist in der Vorrede zum Januar-Gespräch neben den schmerzlichen Tod der Ehefrau stellt. So sei durch den „letsten hochschädliche[n] Kriege“ der Verlust eines „mit höhestem Fleisse und viler Arbeit/ zusammen gebrachte[n]/ und mehreren theils ins Reine geschribene[n]“ Manuskripts verschuldet worden, für das Rist den Titel Unschädliche Gahrtenlust im Sinn hatte (Bd. 4, S. 15).56 Benannt ist damit ein blinder Fleck im Werk Rists, der gerade im Hinblick auf die floriographische Frage fasziniert. Wäre das Buch erhalten, stünde der leidenschaftliche Botaniker Rist sicher noch deutlicher vor Augen. Dass das Manuskript nach seinen Angaben bei den Plünderungen des Pfarrhauses während des Zweiten Nordischen Krieges (1655–1660) verlorengegangen ist, gibt den Blumendiskursen wiederum einen ergreifenden
54 Zuvor hat der Rüstige Meister Märten, der ihn in seine theologischen Schranken weisen will, bereits als inkompetenten Arzt verspottet (vgl. Bd. 4, S. 46). 55 Von „ausgesprochen sinnlichen Blumenbeschreibungen“ spricht auch Trepp (Anm. 5), S. 120. 56 Rist verweist auch auf seine Ausführungen zu dem Buch im Vorbericht des 1660 erschienenen Neuen Musikalischen Seelenparadieses (vgl. ebd.).
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Zug.57 Denn rhetorisch gesehen sind Blumen eben auch unschädliche Gesprächsgegenstände. Das pharmakologische Schreiben des geistlichen Apothekers über sie erscheint vor diesem Hintergrund nicht zuletzt als friedlicher Akt und Remedium gegen den Krieg. „Mars, Schweine und Ziegen“ schreibt Rist im JanuarGespräch sardonisch über die Verwüstung seines Gartens sind eben so guhte Gährtener/ als die Esel Lautenschläger/ wer seine Gahrten will zerissen und verwühstet haben/ der wünsche nur/ das Kriege mügen ins Land kommen/ was gilts/ ob alsden seinen Gahrten nicht aller Schmuk wird hinweg geraubet/ und sie aufs jämmerlichste zugerichtet werden/ wie ich solches bei den meinigen schon mehr den einmahl rechtschaffen leider! habe erfahren: Nun/ ich habe dem höchsten GOtt zu danken/ das ich das verwühstete noch zimlich wieder zu rechte bringen können (Bd. 4, S. 55).
Wiederum ähnlich wie die Landlebendichtung der Zeit entwirft der Friedensdichter Rist58 den Garten als hortus conclusus59 somit nicht zuletzt als Gegenwelt des Krieges. Floriographie ist dabei ein Mittel, ebenso der Zerstörung des Gartens wie dem Krieg als ‚Störfall der Rhetorik‘ in einem Atemzug etwas Überdauerndes entgegenzusetzen.60 Mit Blick auf das durch Verheerung fortgekommene Pflanzenbuch Rists sind die Blumenentrees der Monatsgespräche jedenfalls auch der Versuch und das Glück, etwas Verlorenes schreibend wiederzugewinnen.
57 Auch ein Buch über Erfindungen wurde dadurch vernichtet. Weiterführende Hinweise bei Trepp (Anm. 20), S. 129. 58 Dazu etwa Hans Hattenhauer: Wie die Deutschen den Westfälischen Frieden feierten. In: Daphnis 36 (2007), S. 511–537, bes. S. 529–533 zu Rist. 59 Zur einschlägigen gesprächsliterarischen Topik Heudecker (Anm. 6), S. 86. 60 So die prägnante Titelformel bei Thomas Rahn: Krieg als Störfall der Rhetorik. Die Friedensspiele von Johann Rist und Justus Georg Schottelius. In: Krieg und Rhetorik. Hg. von dems. Tübingen 2003 (Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 22), S. 43–57.
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Johann Rists Alchemietraktat Philosophischer Phoenix – Plagiat oder Parodie? 1 Einleitung – ein Lutheraner auf Abwegen? Als Naturwissenschaftler bzw. Naturphilosoph fand Rist bisher vergleichsweise wenig wissenschaftliche Aufmerksamkeit, und das, obwohl er auf diesem Gebiet keineswegs dilettierte, sondern vielmehr die beiden Schwerpunkte seiner akademischen Ausbildung, die Theologie und die Pharmazie, miteinander verknüpfte.1 Diese Vernachlässigung hängt maßgeblich mit einer Wertungsproblematik der Monatsgespräche (1663–68) zusammen,2 die erfreulicherweise durch neuere Studien ausgeräumt werden konnte. Mittlerweile wird Rists naturwissenschaftliches Hauptwerk sowohl als möglicher Wegbereiter von Literaturkritik und Zeitschrift diskutiert3 als auch unter naturwissenschaftlichen4 und kosmologischen5 Gesichtspunkten. In diesen Kontext gehört nicht zuletzt auch Rists lebenslange Begeisterung für die Alchemie, die in dieser Textfolge zum Ausdruck kommt.6 Im
1 Vgl. Klaus Conermann: Die Mitglieder der Fruchtbringenden Gesellschaft 1617–1650. 527 Biographien. Transkriptionen aller handschriftlichen Eintragungen und Kommentare zu den Abbildungen und Texten im Köthener Gesellschaftsbuch. Weinheim, Deerfield Beach 1985 (Fruchtbringende Gesellschaft 3), S. 567; sowie Dieter Lohmeier, Klaus Reichelt: Johann Rist. In: Harald Steinhagen, Benno von Wiese (Hg.): Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Berlin 1984, S. 347–364, bes. S. 348. 2 In Verkennung ihrer Kompositionsprinzipien unterstellte Jericke den Monatsgesprächen einen „seltsamen Mischcharakter“. Alfred Jericke: Johann Rists ‚Monatsgespräche‘. Berlin, Leipzig 1928 (Studien zur Sprache und Kultur 2), S. 192. 3 Vgl. Sylvia Heudecker: Modelle literaturkritischen Schreibens. Dialog, Apologie, Satire vom späten 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2005 (Studien zur deutschen Literatur 179), S. 53–67. 4 Vgl. Ferdinand van Ingen: Johann Rist und die Naturwissenschaften seiner Zeit. Anmerkungen zu seiner intellektuellen Biographie anlässlich des 400. Geburtstags am 8.3.2007. In: Daphnis 36 (2007), S. 487–510. 5 Vgl. Stefanie Stockhorst: Wissensvermittlung im Dialog. Literarische Pflanzenkunde und christliche Weltdeutung in den Rahmenstücken von Johann Rists ‚Monatsgesprächen‘ und ihrer Fortsetzung durch Erasmus Francisci. In: Flemming Schock (Hg.): Polyhistorismus und Buntschriftstellerei. Populäre Wissensformen und Wissenskultur in der Frühen Neuzeit. Berlin 2012 (Frühe Neuzeit 169), S. 67–90. 6 Vgl. van Ingen (Anm. 4), S. 503–510.
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März-Gespräch (1664) berichtet Rist, der über eine eigene „Kammer“ mit „Distillieröfen [!]“7 verfügte, nicht nur von aufsehenerregenden Experimenten, die ihm vom Hörensagen bekannt waren,8 sondern auch von seiner intensiven, durch persönliche Begegnungen gefestigten Vernetzung im Feld der zeitgenössischen Alchemie.9 Die bereits von Alfred Jericke beanstandeten alchemistischen Neigungen des Wedeler Pastors, seine Schwäche für „seltsame, kaum glaubwürdige Erscheinungen“,10 sorgt auf den ersten Blick immer wieder für Irritationen. Noch Hans-Georg Kemper, der in Rist quasi eine gelebte Vorwegnahme von Dr. Jekyll und Mr. Hyde sieht, möchte „geradezu von einer dualen Identität sprechen“, denn: „Auf der Kanzel predigte er das orthodoxe Christentum, in seinem Garten und Laboratorium suchte der Anhänger des Kopernikus nach dem ‚Stein der Weisen‘. Beide Arten von Gottesdienst stehen unverbunden nebeneinander.“11 Allerdings liegt ein Hang zur Alchemie auch bei einem dogmatisch unverdäch-
7 Johann Rist: Die alleredelste Zeit-Verkürtzung Der Gantzen Welt/ Vermittelst eines anmuthigen und erbaulichen Gespräches/ Welches ist dieser Art die Sechste/ Und zwahr eine Brachmonats Unterredungen/ Beschrieben und fürgestellet [1668]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Unter Mitwirkung von Helga Mannack hg. von Eberhard Mannack. Bd. 6: Epische Dichtungen (Die Aller edelste Erfindung, Die Alleredelste Zeitverkürzung). Berlin, New York 1976 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts), S. 241–448, hier S. 288. 8 Vgl. Johann Rist: Die AllerEdelste Tohrheit Der gantzen Welt/ Vermittelst eines anmuhtigen und erbaulichen Gespräches/ Welches ist diser Ahrt Die Dritte/ und zwahr Eine Märtzens-Unterredung/ Beschrieben und fürgestellet [1664]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Eberhard Mannack. Bd. 5: Epische Dichtungen (Die alleredelste Torheit, Die alleredelste Belustigung). Berlin, New York 1974 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts), S. 1–181, bes. S. 163–166. 9 Vgl. Johann Rist: Die alleredelste Erfindung Der Gantzen Welt/ Vermittelst eines anmutigen und erbaulichen Gespräches/ welches ist dieser Art/ die Fünffte/ Und zwar eine Mäyens-Vnterredungen/ Beschrieben und fürgestellet [1667]. In: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 6 (Anm. 7), S. 1–240, bes. S. 29; vgl. auch Rist: Die AllerEdelste Tohrheit (Anm. 8), S. 152. 10 Jericke (Anm. 2), S. 57. 11 Hans-Georg Kemper: „Eins in All! Und all in Eins!“ ‚Christliche Hermetik‘ als trojanisches Pferd der Aufklärung. In: Monika Neugebauer-Wölk (Hg.): Aufklärung und Esoterik. Rezeption – Integration – Konfrontation. Tübingen 2008 (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung 37), S. 28–52, hier S. 38, Anm. 34; diesen vermeintlichen Widerspruch sah zunächst auch AnneCharlott Trepp: Religion, Magie und Naturphilosophie. Alchemie im 16. und 17. Jahrhundert. In: Dies., Hartmut Lehmann (Hg.): Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1999 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 152), S. 473–493, korrigierte dies jedoch grundlegend in dies.: Zur Differenzierung der Religiositätsformen im Luthertum des 17. Jahrhunderts und ihrer Bedeutung für die Deutung von ‚Natur‘. In: Pietismus und Neuzeit 32 (2006), S. 37–56.
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tigen Lutheraner wie Rist vollauf im Rahmen des Üblichen.12 In ihren seriösen Spielarten zielte die Alchemie bekanntlich nicht auf die Erzeugung von Gold, sondern darauf, höhere Einsichten in die Zusammenhänge der Kosmologie zu erlangen, um mit diesem Wissen den Stein der Weisen, den lapis philosophorum, als allmächtige Materie zu Veredelungs- und Heilzwecken zu gewinnen. Dahingehende Ansätze, mit denen sich prominente Wissenschaftler von Marsilio Ficino bis hin zu Isaac Newton ganz selbstverständlich befassten, bildeten einen integralen Bestandteil der frühneuzeitlichen Naturphilosophie,13 und auch lutherisch-orthodoxen Theologen waren solche Überlegungen keineswegs fremd, wie Johann Anselm Steiger gezeigt hat.14 Auch für Rist stellen seine „Chymische Verrichtunge“ nichts anderes dar als eine experimentelle Naturphilosophie auf christlichem Fundament, mit der er, wie er schreibt, „manche liebe Stunde zubringe/ und die grosse Wercke GOttes mit höchster Belustigung [s]einer Seelen/ in dieser edlen Wissenschafft betrachte“.15 Daher wirkt es überhaupt nicht anstößig, wenn er als Widmungsempfänger seines rund dreißig Jahre vor den Monatsgesprächen gedruckten Alchemietraktats mit dem Titel Philosophischer Phoenix (1638) ausgerechnet Anton Buscher (1573–1638) einsetzt. Ungeachtet der Tatsache, dass es sich dabei um einen lutherischen Theologen handelte, der – wie auch Rist selbst – theologisch mit Johann Arndt sympathisierte,16 welcher seinerseits bekanntermaßen paracelsisch-hermetische Einflüsse produktiv adaptierte,17 habe er, Rist, mit ihm, Buscher, häufig
12 Vgl. speziell mit Blick auf Rist Volkhard Wels: Zwischen Spiritualismus, Hermetik und lutherischer ‚Orthodoxie‘. Zu Hans-Georg Kempers Vorgeschichte der Naturlyrik. In: Zeitsprünge 16 (2012), S. 243–284, bes. S. 262 f.; sowie van Ingen (Anm. 4), S. 503–507. 13 Vgl. van Ingen (Anm. 4), S. 505. 14 Vgl. die große Studie von Johann Anselm Steiger: Medizinische Theologie. Christus medicus und theologia medicinalis bei Martin Luther und im Luthertum der Barockzeit. Mit Edition dreier Quellentexte […]. Leiden, Boston 2005 (Studies in the History of Christian Traditions 121), bes. S. 64 f. 124–128; sowie Trepp (Anm. 11), S. 37–56. 15 Rist: Die alleredelste Erfindung (Anm. 7), S. 79. 16 Vgl. Martin Brecht: Die Aufnahme von Arndts ‚Vier Bücher [!] von wahrem Christentum‘ im deutschen Luthertum. In: Hans Otte, Hans Schneider (Hg.): Frömmigkeit oder Theologie. Johann Arndt und die ‚Vier Bücher von wahrem Christentum‘. Göttingen 2007 (Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens 40), S. 231–262, hier S. 235 f., sowie Hans-Henrik Krummacher: Lehrund trostreiche Lieder. Johann Rists geistliche Dichtung und die Predigt- und Erbauungsliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Johann Anselm Steiger (Hg.): „Ewigkeit, Zeit ohne Zeit“. Gedenkschrift zum 400. Geburtstag des Dichters und Theologen Johann Rist. Neuendettelsau 2007 (Testes et testimonia veritatis 5), S. 37–76. 17 Siehe Hermann Geyer: Verborgene Weisheit. Johann Arndts ‚Vier Bücher vom Wahren Christentum‘ als Programm einer spiritualistisch-hermetischen Theologie. 3 Tle. in 2 Bdn. Berlin, New York 2001 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 80/1–2); ferner auch Carlos Gilly: Hermes oder
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„Vnterredungen […]/ so wol von der Vbunge der wahren Gottseligkeit/ als auch vielen in der Natur verborgenen Geheimnissen“18 geführt. Um den Philosophischen Phoenix und seine etwas nebulöse Entstehungsgeschichte mitsamt ihren Implikationen für die übergreifende Aussageabsicht des Textes soll es im Folgenden gehen. Anschließend an die 1872 von Theodor Hansen beiläufig geäußerte, jedoch nicht näher begründete Vermutung, es handele sich bei dieser Schrift um eine „Verspottung der Thoren“, die „den Geist in einem irdischen Gefäße fangen und durch irdische Mittel bannen wollen“,19 möchte ich zeigen, dass Rist mit diesem Traktat, das weder in theologischer noch in alchemistischer Hinsicht besondere Eigenleistungen enthält, als passionierter Nebenstundenspagyriker, vor allem aber als lutherischer Erbauungsschriftsteller, eine Persiflage auf die allzu materiellen Seiten der Alchemie publizistisch gekonnt in Szene setzt.
2 Die Vindicatio – ein Werbefeldzug im Gewand eines Plagiatsvorwurfs Unmittelbar nach dem Erscheinen des Philosophischen Phoenix im Jahr 1638 sorgte eine Plagiatsaffäre für einen kleinen publizistischen Schlagabtausch. Ein unter dem nicht aufgelösten Namenskürzel „A. V. S.“ auftretender Verfasser erhob in einer mit Phoenicis subreptitij in libertatem vindicatio überschriebenen Streitschrift, veröffentlicht ohne Angabe eines Druckortes, in recht derbem Tonfall schwerwiegende Vorwürfe gegen Rist. Dieser habe sich mit dem Abdruck des Philosophischen Phoenix an fremdem geistigem Eigentum vergriffen, da vielmehr er selbst, der A. V. S., der wirkliche Autor des Textes sei. Nach einer Klage über die Vielschreiberei, die sich, gepaart mit Ruhmessucht und Inkompetenz, immer stärker ausbreite, kommt er auf den konkreten Fall eines „Idiota“
Luther. Der philosophische Hintergrund von Johann Arndts Frühschrift ‚De antiqua philosophia et divina veterum Magorum Sapientia recuperanda‘. In: Otte, Schneider (Anm. 16), S. 63–199; sowie Carlos Gilly: Johann Arndt und die „dritte Reformation“ im Zeichen des Paracelsus. In: Nova Acta Paracelsica NF 11 (1997), S. 60–77. 18 Johann Rist: Philosophischer Phoenix. Das ist: Kurtze/ jedoch Gründliche vnnd Sonnenklare Entdeckunge der waren vnd eigentlichen Matery des AllerEdelsten Steines der Weisen […]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 7: Prosaabhandlungen (Philosophischer Phoenix, Rettung des Phoenix, Teutsche Hauptsprache, Adelicher Hausvatter). Unter Mitwirkung von Helga Mannack u. Klaus Reichelt hg. von Eberhard Mannack. Berlin, New York 1982, S. 1–29, hier S. 5. 19 Theodor Hansen: Johann Rist und seine Zeit. Aus den Quellen dargestellt. Halle/S. 1872, S. 45.
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zu sprechen, „welcher newlich zu Hamburg ein frembdes Büchlein für seines/ vnter dem Nahmen vnnd Titul I. R. H. Philosophischer Phoenix, außgeben vnd drucken lassen“.20 Der erboste A. V. S. teilt mit, er habe rund drei Jahre zuvor ein lateinisches Manuskript „Tractatus verè Philosophicus de vera lapidis Philosophici materiâ“ an jemanden übergeben, der, wie er reimt, „Durch seines Brudern Geitz/ vnnd vngerechte Hand/ Jns Gfängnüß [!] ist gebracht/ O weh dem harten Stand“.21 Gepaart mit der Zueignung „Ad Virum Nob. & Excellentem Dn. I. M.“,22 der Attribuierung als „Philologus“ und „Philochymus“23 und der Verortung der Begegnungen in Lübeck bzw. Hamburg steht zu vermuten, dass damit der Polyhistor Joachim Morsius (1593–1642/44?) gemeint ist, der 1633 wegen mystisch-magischer Umtriebe ins Visier des Ministerium Tripolitanum geraten war und 1636 auf Betreiben seines Bruders Jacob wegen angeblicher Geisteskrankheit durch den Rat der Stadt Hamburg für mehrere Jahre inhaftiert wurde.24 Die besagte Abhandlung habe der A. V. S. aus einer „causa impulsiva“25 heraus eilig niedergeschrieben, als Morsius ihn durch die Bemerkung provoziert habe, das intellektuelle Niveau ihrer Gespräche reiche nicht aus. Morsius habe ihn sogleich zur Veröffentlichung des Textes gedrängt, während der A. V. S. ihn noch einmal „übersehen/ in ein andere form bringen/ vnd besser außgeputzet ihm wiedergeben“26 wollte. Allerdings habe er das Manuskript nicht zurückbekommen, sondern es sei „an einen der Kunst vnwissenden vnd Thumbkühnen gerathen“,27 dessen mit eigenen Zutaten angereicherte deutschsprachige Bearbeitung die ursprüngliche Intention verfehle.
20 A. V. S.: Vindicatio: Phoenicis subreptitij in libertatem vindicatio. Daß ist: Ein kurtzes Philosophisch Tractätlein vom Stein der Weysen: So kurtzverwiechener Zeit ein guter Geselle fälschlich vor sein außgegeben, und zu Hamburg in offentlichen Druck verfertigen lassen, unter dem Nahmen und Titul. J. R. H. Philosophischer Phoenix; Anjetzo aber von dem warhafften Authore erkant […]. O. O. 1638, fol. A 2v–3r. Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Chem. 1135, http://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/12911/1/cache.off [06.02.2014]. 21 Ebd., fol. A 3r. 22 Ebd. 23 Ebd., fol. A 4r. 24 Vgl. Joachim Telle: Art. Morsius, Joachim. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. Hg. von Wilhelm Kühlmann u. a. Bd. 8. Berlin, Boston 2010, S. 340–342; sowie Richard Hoche: Art. Morsius, Joachim. In: Allgemeine Deutsche Biographie 22 (1858), S. 327 f. 25 A. V. S.: Vindicatio (Anm. 20), fol. A 7r. 26 Ebd., fol. A 3v. 27 Ebd., fol. A 5r.
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Gleichwohl unternimmt der A. V. S. in dem seiner Vindicatio beigegebenen Neudruck des Philosophischen Phoenix keinerlei Anstrengungen, die als editio spuria geschmähte Schrift in eine bessere Form oder doch zumindest in ihren Originalzustand zu versetzen. Vielmehr habe er ausdrücklich „fast nichts geändert/ in meinung wir hierdurch vnsern vns vor dießmal vorgesatzeten Zweck sattsam erreichen werden“.28 Dieser Zweck bestehe darin, dem Leser zu zeigen, „was er eigentlich von vnserem Tractätlein halten sollte“, und außerdem sollten des A. V. S. „geschriebene Tractätlein hinführo von den rechten besitzeren hinterhalten“29 werden, worauf die Ankündigung zweier weiterer Publikationen folgt, die aber, soweit ich sehe, nicht nachweisbar sind.30 Indes fragt sich, wie man denn beurteilen können solle, was „eigentlich von vnserem Tractätlein“ zu halten sei, wenn der A. V. S. es gar nicht in seiner ursprünglichen Form vorlegt, sondern bei abweichenden Schreibungen nahezu exakt dem Wortlaut in Rists Version folgt? Mehr noch, die beiden Passagen, die der A. V. S. als eigene Ergänzungen Rists anerkennt, nämlich den „Eingang/ vnd dann ein Gebeth in der mitten“, das er übrigens „an ihm selber gut“ befindet,31 werden nicht, wie es konsequent wäre, weggelassen, sondern separat – und damit in hervorgehobener Stellung – als „Additiones“ von J. R. H. angehängt.32 Von der Entfernung dieses Gebetes habe der Text zudem womöglich gar nicht so recht profitiert, denn, so gesteht der A. V. S. ein, es „sey hiermit dem günstigen Leser vnverhalten/ daß nicht genug sey einem Philosopho in beschreibung der natürlichen Geheimnüssen GOtt anzuruffen/ […] sondern er müsse auch seine Feder darnach scherffen“.33 Seltsamerweise gibt der A. V. S. seine Identität nicht preis, obwohl er doch geistiges Eigentum geltend machen will. Über seine Person deutet er lediglich an, er sei möglicherweise jünger als Rist, der damals selbst erst Anfang dreißig war, indem er sich echauffiert, ihm erscheine es besonders töricht, wenn Plagiatoren sich an Manuskripten lebender Autoren vergreifen, die „vielleicht an Stärck vnd Jugend sie übertreffen“.34 Ferner hat die Vindicatio denselben Widmungsempfänger wie der Philosophische Phoenix, eben jenen Buscher, der zur Entstehungszeit
28 Ebd., fol. A 11v. 29 Ebd., fol. A 6r. 30 Die Titel lauten Hermes detectus und Cynosura Alchymiae (vgl. ebd.). 31 A. V. S.: Vindicatio (Anm. 20), fol. A 8v. – Tatsächlich fehlt bei A. V. S. noch ein dritter, sehr kurzer Passus am Schluss des Textes: „vnterdessem aber vns alle der Gnade deß HErren JEsu Hertzgründlich empfohlen [haben]/ Amen/ Komb allerliebster HERR JESV/ Amen. SAPIENTI DICTUM SATIS. FINIS.“ (Rist, Philosophischer Phoenix [Anm. 18], S. 29). 32 A. V. S.: Vindicatio (Anm. 20), fol. D 1r–6v. 33 Ebd., fol. A 8v. 34 Ebd., fol. A 2v.
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des fraglichen Manuskriptes als Prediger in Stade, also in der Luftlinie ca. 15 Kilometer von Rists Wirkungsort entfernt, tätig war, und den A. V. S. als „vertrawter werther Freund“35 anredet. Demnach ist der A. V. S. ebenso wie Rist sowohl mit Morsius als auch mit Buscher gut bekannt, müsste also, wenn man denn seine historische Existenz (und nicht etwa seine strategisch begründete Fingiertheit) annehmen möchte, nicht nur Rists Interessen teilen, sondern auch in dessen engstem persönlichen Umkreis zu suchen sein. Hinzu kommt ein merkwürdiges Verwirrspiel um die Ortsangaben: So sei das Manuskript bei kriegsbedingtem Aufenthalt in Lübeck und Hamburg weitergegeben worden,36 der Druck erfolgte sine loco, die Vorrede ist datiert „Wien/ den letzten Februarij, Anno 1638“,37 und vom angeblichen Raubdruck seines Textes habe der A. V. S. erfahren „von vnsern guten Freunden vnter andern Novis vnd Advisen über Leipzig“,38 was jedoch insofern wenig plausibel erscheint, als im Februar 1638 schwerlich von der darauf folgenden Ostermesse berichtet worden sein kann, während der Philosophische Phoenix zur Michaelismesse des Vorjahres noch nicht erschienen war. Die skizzierten Beobachtungen erregen den starken Verdacht, dass es sich bei der Vindicatio nicht um einen echten Plagiatsvorwurf, sondern um eine andere Art von literarischer Inszenierung handelt. Auf den letzten Seiten der Leservorrede treten zudem derart gehäufte Ironiesignale auf, dass sich der Text spätestens hier selbst zu unterlaufen beginnt. Da unmißverständlich klargestellt worden war, was für ein unerhörter „Idiota“ den Philosophischen Phoenix herausgebracht habe, schürt es dahingehende Erwartungen, wenn es später heißt: „Den Eingang betreffende, giebet der Herr J. R. H. allda recht an den Tag/ was für ein kluger Gesell er ist/ vnd wie erfahren er ist in Göttlichen vnd Natärlichen [!] Geheimnüssen/ worvon wir dem günstigen Leser selbsten gerne vvtheilen [!] lassen.“39 Während der Tonfall unbeirrt satirisch bleibt, folgt nun allerdings keine Aufzählung von besonders extravaganten Behauptungen, sondern, im Gegenteil, von ganz besonders unstrittigen, sogar überkonfessionell anschlussfähigen Positionen. Man solle zur Kenntnis nehmen, „wie fein er discurriret von der höchsten glückseligkeit des Menschen/ wie die bestehe in wahrem Erkänntnüß GOttes vnd sein selbsten“, „wie er die Mittel/ wordurch der Mensch zum waren Erkäntnüß GOttes gelangen kan/ artig abgetheilt in zwo Stück/ ins Buch der Gnaden/
35 Ebd., fol. B 1r. 36 Vgl. ebd., fol. A 4r. 37 Vgl. ebd., fol. A 12v. 38 Ebd., fol. A 5v. 39 Ebd., fol. A 9v.
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vnnd ins Buch der Natur“, und schließlich „wie er so statlich die Erkäntnüß sein selbest/ vnd das vornemste Mittel zur wahren vnnd volligen Erkäntnüß GOttes/ an die seite setzet/ vnd den Leser vnd Liebhaber der Geheimnüssen zum Erkäntnüß GOttes durch mittel des Buches der Natur zu führen ihm lässet angelegen seyn“.40 Diese Ansichten sind freilich nicht im geringsten exzentrisch oder auch nur neu, denn die Erkenntnis Gottes und der eigenen Irrtümer als Weg zur Teilhabe am summum bonum vertraten prinzipiell schon Autoren wie z. B. Boethius oder Thomas von Aquin, und seit Augustinus gehörte auch das Lesen im liber naturae völlig selbstverständlich zu den gängigen Glaubenspraktiken. Eine widersinnige Autorposition tritt zutage, wenn der A. V. S. den Leser weiter anstachelt, er solle den Text nur recht gründlich durchsehen, um sich zu vergewissern, dass darin nicht einmal ansatzweise von unzweifelhaften, hier jedoch geradezu als Absurda aufgerufenen Grundüberzeugungen des frühneuzeitlichen Europa wie etwa „des grossen Reichtums der Weißheit vnd Allmacht GOttes/ oder der grundlosen Tieffe der Liebe/ vnd Barmhertzigkeit deines Schöpffers“41 die Rede sei. Offenbar verfolgt er das für diese Zeit bizarr anmutende Vorhaben, sein eigenes Werk als gottlos zu diffamieren. Plakativ spitzt er zu, dass nicht einmal er selbst irgendeine Form von höherer Weisheit daraus zu beziehen imstande sei: „Wie vor vns/ die wir dieß Büchlein haben gemacht/ müssen bekennen/ daß wir dergleichen gar nicht darinn finden […].“42 Mit der Einforderung von Gegenständen, die man angeblich hätte ansprechen müssen, die aber aufgrund ihrer faktischen Sachferne selbstverständlich erst recht nicht im Text behandelt werden, schreitet die mutwillige Sinnverdrehung fort. Sie steigert sich schließlich in die rabiate Bildlichkeit der Fäkalsprache: Wann nun dieser Ehrgeitziger vnd vorwitziger Geselle seinen Eingang etwa hette gemachet von der Constitution vnnd Generarion [!] des Menschen/ vnd von denen Accidentien, die darbey vorfallen/ auch durch dessen natur gemeß erklehrung/ den günstigen Leser hette führen wollen zum leichtern verstand vnd begreiff dieses Büchleins/ so hetten wir ihn billich vor einen geschickten Erforscher der Natürlichen Geheimnüssen passiren lassen/ ietzo aber halten wir ihn vor einen Idioten, vnd schliessen/ daß Kühdreck keine Butter sey/ vnnd ob sichs gleich noch so lest schmieren/ so lest sichs doch nicht essen/ vnd Salbaderey keine Philosophey sey/ denn ob sichs gleich beydes lest lesen wenn es gedruckt ist/ so hat es doch nicht gleichen klang.43
40 Ebd. 41 Ebd., fol. A 10r. 42 Ebd. 43 Ebd., fol. A 10v–11r.
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Spätestens mit dieser Eskalation der Selbstparodie gerät die Vindicatio, zugleich ein kompletter zweiter Abdruck des Philosophischen Phoenix mit Hervorhebung seiner Schlüsselstellen, zu einer fulminanten Werbeveranstaltung e contrario mindestens insofern, als Rist nunmehr füglich behaupten konnte, damit Aufsehen erregt zu haben. Zudem beansprucht der A. V. S. als putativer Autor einerseits durch den Verweis auf gelehrte Autoritäten besondere Kennerschaft im Feld der Alchemie, demonstriert jedoch andererseits durch den konfusen Wechsel zwischen bedingungsloser Affirmation und scharfer Polemik die eigene Unkenntnis – er weist sich mithin selbst als „Idiota“ aus, wodurch er zwangsläufig komisch wirkt.
3 Die Nothwendige Rettung – eine schelmische Gegendarstellung Obwohl der mit der Vindicatio öffentlich gemachte Plagiatsvorwurf ihm letzten Endes zum Vorteil gereicht – immerhin werden darin seine unstreitig eigenen Anteile einmal wörtlich und ein weiteres Mal dem Sinn nach wiederholt, meldet sich Rist noch im selben Jahr mit einer erbosten Duplik, der Nothwendigen Rettung (1638), zu Wort, um sich gegen die Bezeichnung als „einen Ehrgeitzigen/ Thumbkühnen vnd der Kunst vnerfahrnen Idioten“ zu verwahren.44 Auch bestreitet er – abermals unter dem Kürzel „J. R. H.“ –, dass er den Text „schendlichen Gewinnes oder Geniesses halber“45 veröffentlicht habe, sonst hätte er ja nicht seinen „Tauffvnd Zunahmen verschwiegen“.46 Eines jedoch gibt er erstaunlicherweise völlig unumwunden zu – in der Tat habe er eine kurze fremde Abhandlung, „welcher wegen der A. V. S. einen solchen vnnötigen Lermen angefangen“, seinem Philosophischen Phoenix „zum Theil einverleibet“, sie jedoch „mit guter vnd vntadlicher Manier an [s]ich gebracht“.47 Insgesamt erweist sich seine Gegendarstellung nicht nur als stark rhetorisiert, sondern sie besitzt neben polemischen auch satirische und spielerische Züge. So gibt sich Rist in seiner Selbstverteidigung besonders kampfeslustig, indem er dem A. V. S. die Hoffnung unterstellt, er, Rist, würde sich „für grossem Hertzleid
44 Johann Rist: Nothwendige Rettung vnd rechtmässige Vertheidigung des Philosophischen PHOENIX […]. In: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 7 (Anm. 18), S. 31–65, hier S. 37. 45 Ebd., S. 36. 46 Ebd. 47 Ebd., S. 41.
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alsobald niederlegen/ vnnd wegen solcher seiner Auffschneiderey den Geist […] auffgeben“, worin er sich jedoch „heßlich betrogen“ finde. Tatsächlich habe er nicht nur „ein gutes Gewissen“ und „einen gnedigen Gott“, sondern erfreue sich überdies eines „vnerschrocknen Gemüthes“, so dass sein Gegner „schwerlich ohne redliche Antwort“ bleiben werde.48 Den Schachzug, seinen Widersachern als fälschlich Totgeglaubter entgegenzutreten, spielt Rist übrigens später in den Monatsgesprächen noch einmal aus, wenn er in der Vorrede zum Mai-Gespräch (1667) mit demselben polemischen Tonfall und Zweck das angebliche Gerücht dementiert, er sei über der Abfassung seiner Textfolge verstorben.49 Wie zuvor der Philosophische Phoenix und die Vindicatio ist auch die Noth wendige Rettung Buscher gewidmet, der indes seiner Aufgabe als testis veritatis nicht nachzukommen vermochte, weil er, so Rist in einem auf den 30. Januar 1640 datierten Nachtrag, während einer Verzögerung des Drucks gestorben sei.50 Geschickt konzediert Rist, auch sonst sei es um Bürgen für seine Redlichkeit schlecht bestellt, wenn er schreibt, „wiewol ich nicht gläube/ das zehn Menschen leben/ die da wissen/ daß ich des Philosophischen Phoenix autor bin“.51 Das klingt nur vordergründig etwas kleinlaut, insinuiert aber, dass immerhin deutlich mehr als nur einer zu nennen wäre. Die von A. V. S. begonnene Konfusion der Orte treibt Rist in der Nothwendigen Rettung weiter. Während die „Schmäh-Karte“ des A. V. S. „von Prag auff Hamburg“52 übersandt worden sei, gibt Rist seinen eigenen Aufenthaltsort eindeutig humoristisch an, wenn er die Nothwendige Rettung unterschreibt mit: „Gegeben in Eyl zu Constantinopel (denn ich auch gerne in einer Keyserlichen residentz wie der A. V. S. schreiben möchte)“, um dieselbe Pointe im Nachtrag gleich noch einmal zu setzen: „Abermahl gegeben zu Constantinopel (denn ich verhoffe mein Herr A. V. S. werde mit seinen Künsten noch zu Wien seyn)“.53 Der ihm unterstellten Inkompetenz hält Rist empört entgegen, er befasse sich nicht mit für ihn fachfremden Materien wie „Kriegssachen/ Kauf-contracten oder Handwercken“, sondern mit den „allerhöchsten Geheimnussen/ die in der gantzen Natur mögen gefunden werden“, wofür grundsätzlich jeder Gläubige
48 Ebd., S. 37. 49 Johann Rist: Teutsch-gesinnter und Kunst-libender Leser [Widmungsvorrede zu Die alleredelste Erfindung Der Gantzen Welt; 1667]. In: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 6 (Anm. 7), S. 16–33, bes. S. 7 und S. 18. 50 Rist: Nothwendige Rettung (Anm. 44), S. 64. 51 Ebd., S. 55. 52 Ebd., S. 37. 53 Ebd., S. 64 f.
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qualifiziert sei.54 Ferner spreche er nicht nur als Christ, sondern habe zudem sowohl „in den Schrifften der Weisen mit fleiß nachgeforschet“ als auch sich „vielmahlen mit erfahrnen Leuten deßwegen besprochen“.55 Aus dieser seiner auf alchemistischen Studien und Gesprächen gründenden Expertise heraus bestehe sein Anliegen darin, den Philosophischen Phoenix seinem „Neben-Christen zur nötigen Warnung vnd Abhaltung von vnnützen vnd schweren Kosten (darinn gemeiniglich die jenige/ welche in der practicâ dieses Geheimnüsses des rechten Weges verfehlen/ geführet werden) auß gutem Hertzen getrewlich zuzutheilen“,56 damit man „auß Verlesung meines Philosophischen Phoenix verstehen lernet/ was für grosse Wunder die Allmacht GOTTES in die Natur gepflantzet/ als in welcher der allgemeine Geist (welchen wir nochmahlen auram vnd Spiritum nennen) sein tägliche ja stündliche Wirckung hat“.57 Auf einige Aspekte der Vindicatio geht Rist gesondert ein. So stellt er beispielsweise fest: „Daß er [A. V. S.] ferner mein Gebet an jhm selber gut heisset/ ist billich zu verwunderen/ denn er sonst durch sein gantzes Scriptum nichts anderes thut/ als lästeren/ spotten/ verhönen/ Lügen straffen/ welches sein vnchristliches Beginnen er nun hie mit einem zimlichen fuchsschwantz wil vergüten […].“58 Den Spott gegenüber seinen übrigen Ergänzungen zu dem fraglichen Manuskript entkräftet er mit einer Reihe von rhetorischen Fragen, die vor Augen führen, dass es sich dabei um nichts anderes als theologische Gemeinplätze handelt.59 In Abwägung der inhaltlichen Argumente der Vindicatio wiederholt er die satiretypischen verba vulgaria aus deren conclusio fast wörtlich: daß ich den A. V. S. mit nichten für ein tieffsinnigen Naturae Consultum oder geschickten Erforscher der natürlichen Geheimnüsse (der er gleichwohl gerne seyn wolte) aber wol vor einen Idioten vnd Arbeitsseligen Phantasten kan passiren lassen/ schliesse demnach fästiglich/ daß Kuhdreck keine Butter sey/ vnd ob sichs gleich noch so läst schmieren/ so lässet sichs doch nit essen/ vnd Saalbaderei keine Philosophey sey/ denn ob sichs gleich beides lässet lesen/ wenn es gedrucket ist/ so hat es doch nicht gleichen Klang […].60
Die Provenienz des Manuskriptes erklärt er leicht abweichend von der Darstellung in der Vindicatio. Als er selbst im Herbst des Jahres 1636 an seinem Philosophischen Phoenix gearbeitet habe, sei er darüber mit Joachim Morsius ins Gespräch
54 Ebd., S. 48. 55 Ebd., S. 38. 56 Ebd., S. 42. 57 Ebd., S. 58. 58 Ebd., S. 55. 59 Vgl. ebd., S. 56 f. 60 Ebd., S. 60 f.
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gekommen. Dieser habe ihm ein „gar kleines Lateinisches Tractätlein/ kaum 3 oder 4 Bletter in quarto“ mit dem Namenskürzel „A. V. S.“ unter dem Titel „de vero mysticae Philosophiae Subjecto, veràque operandi ratione“61 zukommen lassen, weil er, Rist, darin manches von seinen eigenen Gedankengängen wiederfinden würde. Bevor Rist sich wegen einer eventuellen Publikation mit Morsius „weitleufftiger vnterreden“ konnte, sei dieser „in gefängliche Hafft gebracht“62 worden. Ein weiterer fachkundiger Bekannter, den Rist als „seligen Herrn T.“63 einführt, habe mit ihm besprochen, woher das Manuskript stamme, wer der Verfasser sei und ob Rist nicht den im Lateinischen „tunckel vnd vndeutlich“ wirkenden Text ins Deutsche „vbersetzen vnd erklähren“ wolle, um ihn in den Philosophischen Phoenix einzubinden.64 Ferner habe Herr T. ihm mitgeteilt, dass der Autor des Manuskripts „schon für vielen Jahren verstorben“ sei, während sich der Verfasser der Vindicatio nur für ihn ausgebe, wenngleich es nicht ausgeschlossen sei, dass er – ein kalkuliertes Verwirrspiel durch die Nennung erfundener Namen klingt mit an – zufällig „diese drey Buchstaben A. V. S. in seinem Nahmen führete/ vnd vielleicht Albrecht Von Santen/ oder Adolph Von Schulenburg/ oder Arnold Von Sultzen/ etc. genendt währe/ wodurch denn der Leser leicht konte irre gemachet vnd betrogen werden“.65 Begibt man sich auf die Suche nach Personen, die in Beziehung zu Rist standen und entsprechende Initialen hatten, so lassen sich zwei Fährten ausmachen, die jedoch keine schlüssige Erklärung für die Herkunft des angeblich plagiierten Manuskripts zu bieten vermögen. Zum einen wäre denkbar, dass Rist das rätselhafte Namenskürzel gebraucht, um für Kenner der einschlägigen Netzwerke und Texte möglicherweise beiläufig eine kleine Hommage an seinen im Jahr zuvor verstorbenen Rostocker Lehrer, den Mediziner und Chemiker Angelo Sala (1576– 1637), nach seinem Herkunftsort Vicenza genannt ‚Vicentinus‘, zu richten. Denn im Poetischen Lust-Garte, der wie der Philosophische Phoenix im Jahr 1638 bei Hertel in Hamburg verlegt wurde, unternahm er dies ausdrücklich mit dem Epigramm Vber die vortrefliche vnd sehr nutzbahre Artzneybücher/ welche der Hochgelahrter vnd weitberühmbter Chymicus Angelus Sala von Vincentz Fürstl. Mecklenburgischer Hoff- vnd LeibArtz/ nun eine zeitlang hat hervorgegeben,66 in dem
61 Vgl. ebd., S. 39 f., das Zitat S. 40. 62 Ebd., S. 40 f. 63 Ebd., S. 44. 64 Ebd., S. 42 f. 65 Ebd., S. 43. 66 Johann Rist: Poetischer Lust-Garte. Das ist: Allerhand anmuthige Gedichte auch warhafftige Geschichte […]. Hamburg 1638, fol. D 7v–8r. – Mein Dank gilt Anke Rannegger (Stadtarchiv Wedel) für ihre Hilfe bei der Ermittlung dieser Fundstelle.
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die Rede ist von Büchern, „die ewr zuvor gewesen | Nun aber vnser seyn“.67 Allerdings lautete das Namenskürzel Salas bei den Fruchtbringern nicht „A. V. S.“, sondern „A. S. V. V.“ für „Angelus Sala Von Vicentz“.68 Zum anderen gab es unter den Fruchtbringern tatsächlich ein Mitglied, dessen Reimgesetz mit der Signatur „A. V. S.“ versehen ist, und zwar den Offizier Andreas von Schönberg, der 1642 aufgenommen wurde. Er diente 1626 bis 1629 im dänischen Heer und später in Lüneburg unter Herzog Christian Ludwig, auf dessen Hochzeit 1653 Rists Ballett Die Triumphirende Liebe aufgeführt wurde.69 Obschon demnach gewisse Berührungspunkte zwischen Rist und Schönberg denkbar sind, ist für letzteren zwar – sogar in seinem Fruchtbringer-Emblem – eine Neigung zum Tabaksgenuss verbürgt, jedoch keine zur Alchemie. Bemerkenswert erscheint darüber hinaus, dass das fragliche Namenskürzel bei Rist wenige Jahre später leicht variiert noch in einem dritten, völlig anderen Kontext begegnet: Die Nachrede an den großgünstigen Leser in Des Daphnis aus Cimbrien Galathee (1642) ist unterschrieben mit „A. von S.“70 Für Rists schäferliche Sammlung kommen nun freilich weder Angelo Sala noch etwa der von Rist selbst in der Nothwendigen Rettung angeführte Alexander von Suchten (ca. 1520– 1575)71 als Fürsprecher in Frage, denn abgesehen von ihrer aus unterschiedlichen Gründen großen Distanz zum Gegenstand waren beide bei Erscheinen des Textes längst verstorben. Es ist indes nicht abwegig, dass Rist sein bewährtes, in seinem persönlichen Kreis möglicherweise inzwischen entschlüsseltes Pseudonym A. V. S. hier noch einmal verwendet, um seiner pastoralen Publikation zwar (als Theologe) verdeckt, aber für Literatenzirkel doch erkennbar einen – inhaltlich
67 Ebd., fol. D 7v. 68 Vgl. Der Fruchtbringenden Gesellschaft geöffneter Erzschrein. Das Köthener Gesellschaftsbuch Fürst Ludwigs I. von Anhalt-Köthen 1617–1650. Hg. von Klaus Conermann. Bd. 3: Die Mitglieder der Fruchtbringenden Gesellschaft 1617–1650. 527 Biographien. Transkription aller handschriftlichen Eintragungen und Kommentare zu den Abbildungen und Texten im Köthener Gesellschaftsbuch. Leipzig 1986, S. 161. 69 Vgl. ebd., S. 445 f. – Für diesen Hinweis danke ich Dr. Ada Kadelbach (Lübeck). Vgl. hierzu den Beitrag von Marie-Thérèse Mourey in vorliegendem Band. 70 Vgl. A. von S.: Nachrede an den großgünstigen Leser. In: Johann Rist: Der Allervortrefflichsten/ Tugendreichesten und Höchstbegabten Schäfferin Galatheen übersendet diese seine/ vor vielen Jahren verfertigte Hirten-Lieder und Gedichte Der Daphnis aus Cimbrien. Hamburg 1642, S. [175]–[179], hier S. [179]. 71 Vgl. Wilhelm Kühlmann: Art. Suchten, Alexander von [erscheint in: Frühe Neuzeit in Deutschland 1480–1520. Hg. von dems., Jan-Dirk Müller, Michael Schilling, Johann Anselm Steiger u. Friedrich Vollhardt. Berlin, Boston 2011ff.]. Für die Möglichkeit zur Einsichtnahme in das unveröffentlichte Manuskript danke ich Prof. Dr. Wilhelm Kühlmann (Heidelberg).
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übrigens gänzlich unverfänglichen – Paratext mit auf den Weg in die Öffentlichkeit zu geben. Zur Verfasserproblematik des Philosophischen Phoenix jedenfalls teilt Rist in seiner Nothwendigen Rettung weiterhin mit, Herr T. habe „eigentlich vnd für gewisse“ versichert, dass „dieses Conceptlein keines andern als eben deß Edlen vnd weitberühmten Chymici Alexandri Von Süchten währe/ dessen hinterlassen Scripta also distrahiret vnd von etlichen ignoranten vmbher getragen würden/ die denn solche vnd derogleichen Sachen offt vor die jhrige außruffeten“.72 Letztlich gibt er sich völlig überzeugt davon, dass die Autorschaft des Manuskriptes dem polnischen Alchemiker Suchten zukomme, was er noch mehrmals im Fortgang seiner Gegendarstellung bekräftigt. Entsprechend geht er davon aus, dass der fragliche Text „mehr denn 40. Jahr alt“ sei, deswegen, so polemisiert er gegen den A. V. S., habe dieser daran „eben so weinig/ als an dem Thurm zu Babel oder der Arca Noae gearbeitet“.73 Vielmehr meint er, dass „der A. V. S. diesen tractatum zweiffels ohn darumb extemporaneum genennet/ damit der Herr Morsius oder andere nicht merckten/ daß er des Alexandri von Süchten vnd bereits für so vielen Jahren auffgesetzet wäre“.74 Diese Erklärung erscheint für sich genommen keineswegs unplausibel, da ein Zusammenhang zwischen Morsius und Suchten durchaus bestand. Der umtriebige Editor Morsius hatte unter anderem Suchtens Tractatus De Vera Medicina herausgegeben,75 dessen Titel sicher nicht von ungefähr an denjenigen des im Philosophischen Phoenix produktiv rezipierten Manuskriptes erinnert, auch wenn er in der Vindicatio und in der Nothwendigen Rettung unterschiedlich angegeben wird mit Tractatus verè Philosophicus de vera lapidis Philosophici materiâ (so bei A. V. S.) bzw. Tractatus extemporaneus De Vero mysticae Philosophiae Subjecto (so bei Rist).76 Allerdings handelt es sich bei Suchten um einen Autor, unter dessen Namen im 17. Jahrhundert allerlei Texte unbekannter Herkunft vermarktet wurden.77 Wenn Rist also ausgerechnet eine derart windige Quellenangabe ins Zentrum seiner Argumentation rückt, mag das einer momentanen Anwandlung von Naivität geschuldet sein, sehr viel wahrscheinlicher aber einer gewitzten
72 Rist: Nothwendige Rettung (Anm. 44), S. 44. 73 Ebd., S. 45. 74 Ebd., S. 52. 75 Vgl. Acutissimi Philosophi & Medici Alexandri A Suchten Tractatus De Vera Medicina. Hg. von Joachim Morsius. Hamburg 1621. 76 Rist: Nothwendige Rettung (Anm. 44), S. 50. 77 Vgl. Corpus Paracelsisticum. 3 Bde. in 4 Tln. Hg. u. erl. von Wilhelm Kühlmann u. Joachim Telle. Bd. 1: Dokumente frühneuzeitlicher Naturphilosophie in Deutschland. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit 59, 89 u. 170.1/2), bes. Bd. 1, S. 548 f. et passim.
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Textstrategie, zumal Suchten ihm in der diskursiven Formation der zeitgenössischen Alchemie alles andere als nahe steht. Als Musterbeispiel für eine „ganz bestimmte, radikale Spielform der paracelsistischen Alchemie“ nennt Volkhard Wels zu Recht gerade Suchten, der mit seinen „spiritualistischen Interessen“ als Alchemist ausnahmsweise tatsächlich „im Widerspruch zur konfessionellen Theologie steht“.78 Auch wenn Rist Paracelsus in seinen Monatsgesprächen mehrfach als Referenz anführt79 und sich manche seiner Denkfiguren mit Paracelsus zumindest vereinbaren lassen, muss der ostentative Bezug auf einen magischspirituellen Paracelsisten wie Suchten, der als solcher jenseits des theologisch Tolerablen stand, als rhetorische Finte gelten – offenbar besitzt sein Text einen doppelten Boden.
4 Der Philosophische Phoenix als Parodie auf den alchemistischen Goldrausch Am Anfang des Philosophischen Phoenix steht die – in der Vindicatio korrekt wiedergegebene – Grundüberzeugung, die „allergrösseste Seligkeit eines sterblichen Menschen“ bestehe darin, dass er „fürs Erst/ vnnd vor allen Dingen GOTT seinen Schöpfer vnd Seligmacher/ darnach auch sich selber recht vnnd wol lerne erkennen“.80 Sie lasse sich durch „zweyerley Mittel“ erreichen, und zwar durch Gottes „heiliges vnnd allein seligmachendes Wort“ sowie durch „embsige Betrachtung der mannigfältigen wunderbahren Geschöpffe GOttes in der Natur“.81 Da Gott „allen vnnd jeden Dingen jhren natürlichen Saamen (der doch gleichwol in allen Creatis nur einerley ist) in solcher Schöpffunge […] eingepflanzet“82 habe, wirft Rist die Frage auf, wie „solcher allgemeiner Saame/ solche allgemeine Lufft/ solcher allgemeiner Geist/ oder wie wir dies Universale sonsten nennen wollen“, durch menschliches Tun, „sichtbahr gemachet/ in seine Vollenkommenheit gebracht vnd endlich zu GOTtes Ehren vnnd deß gantzen Menschlichen Geschlechtes höchstersprießlichen Nutzen gebrauchet vnnd angewendet“83 werden könne. Die universelle Materie sei durch „mancherley seltzame Mittel
78 Wels (Anm. 12), S. 262 f. 79 Vgl. Stockhorst (Anm. 5), S. 75. 80 Rist: Philosophischer Phoenix (Anm. 18), S. 8. 81 Ebd., S. 9. 82 Ebd., S. 10. 83 Ebd.
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vnnd Wege/ auch mit vngläublicher Mühe vnd Unkosten bißanhero gesuchet“ worden, jedoch hätten viele ihre „Sorge/ Geld/ Zeit/ Mühe vnd Arbeit vnnützlich vnnd vergeblich“ aufgewendet, weil sie „nit fleissig vnnd ernstlich/ vielleicht auch nicht GOttesfürchtig genug“84 an die Sache herangegangen seien. Auf diese theologisch nach zeitgenössischen Maßstäben überaus validen Prämissen folgt ein Abschnitt, der geradezu auffällig elementare Informationen über die Alchemie vermittelt. So erklärt Rist, dass „ein jegliches Ding kein anders erzeuge noch hervor bringe/ als nur ein solches/ das jm gleich ist“,85 womit er die Grenzen der Transmutation nach strengster Observanz dort zieht, wo aus unedlen Ausgangsstoffen Gold hergestellt werden soll. Ferner wiederholt er, wie eingangs schon betont, die gesuchte „Materi müsse Universal oder allgemein seyn“.86 Dieses res unica-Prinzip gehört freilich zu den trivialsten Grundannahmen der Alchemie überhaupt, die nicht zuletzt in den Lehrsätzen der Tabula Smaragdina nachzulesen ist.87 Daher überrascht es nicht, wenn es in einer paracelsistisch orientierten Abhandlung mit dem Titel Explicatio tincturae, die Rists vorgeblichem Gewährsmann Suchten zugeschrieben wurde, in diesem Sinne heißt: „Hierauß ist anfänglich der Consensus vnd Concordantia aller Philosophen zuverstehen/ […] das die Materia Philosophica ein Einig ding sey […].“88 Mit der Explicatio tincturae weist Rists Philosophischer Phoenix im praktischen Teil einige Übereinstimmungen auf, insbesondere hinsichtlich der Symbolik sowie der Arbeitsschritte und ihrer Bezeichnung. Dieser Befund mag vordergründig zu dem Schluss verleiten, Rist habe eventuell doch Suchten rezipiert, wie er behauptet. Aber abgesehen davon, dass Explicatio tincturae zu den frühen „Pseudo-Suchteniana“89 gezählt wird, also mutmaßlich gar nicht auf Suchten
84 Ebd., S. 10 f. 85 Ebd., S. 12. 86 Ebd. Vgl. auch Rist: Nothwendige Rettung (Anm. 44), S. 39. 87 „Et sicut omnes res fuerunt ab uno, meditatione unius: sic omnes res natae fuerunt ab hac una re, adaptatione.“ – Zit. nach der Edition von Julius Ruska: Tabula Smaragdina. Ein Beitrag zur Geschichte der hermetischen Literatur. Heidelberg 1926 (Heidelberger Akten der von-Portheim-Stiftung 14), S. 2. 88 Alexander von Suchten: Explicatio tincturae. In: Pandora Magnalium Naturalium Aurea et Benedicta, De Benedicto Lapidis Philosoph. Mysterio […]. Hg. von Benedictus Figulus. Straßburg 1608, S. 145. 89 Vgl. Joachim Telle: Art. Suchten, Alexander von. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. Hg. von Wilhelm Kühlmann u. a. Bd. 11. Berlin 2011, S. 385 f., hier S. 385; so auch Volkhard Wels: Poetischer Hermetismus. Michael Maiers ‚Atalanta fugiens‘ (1617/18). In: Ders., Peter-André Alt (Hg.): Konzepte des Hermetismus in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2010 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 8), S. 149–194, hier S. 175 f., Anm. 68.
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zurückgeht, bietet dieses Traktat keine nennenswerten eigenständigen Ansätze, sondern im Wesentlichen eine Synopse etablierter alchemistischer Topoi.90 Das Vorhandensein mancher Parallelen spricht daher keineswegs für eine gedankliche Abhängigkeit Rists von Suchten, sondern vielmehr für die ideographische Beliebigkeit jener Versatzstücke, die er in seinen Text einstreut. Dass man aus Beliebigem indes nichts folgern solle, ruft Rist selbst in Erinnerung, was als Verstehensanweisung für seine geradezu ostentativ bieder und oberflächlich angelegte alchemistische Formelsammlung lesbar ist: „Non quodlibet ex quolibet, sed determinatum ex determinato generari […].“91 Im Anleitungsteil seines Traktats, dessen genreuntypische Eindeutigkeit zutiefst paradox wirkt, erklärt Rist eingangs, die beste Zeit für alchemistische Betätigungen sei „Morgens“, der Ort solle „hoch/ bergicht/ vnnd von allen nassen Pfützen/ auch einem feuchten/ zähen/ schleimichten/ vnd schweflichten Erdreich ziemlich fern“ gewählt werden – alles Bedingungen, die wohl zwischen Elbufer und Wedeler Marsch schwerlich anzutreffen sind. Als Hilfsmittel benötige man ein „Instrument oder Gefäß“, das aus „Gebein oder Knochen von einem Walfische“ gemacht werden solle, einem Material, das man „in Franckreich/ wie auch in den Niederlanden ser wol vnd leicht kan haben vnnd vmb ein geringes an sich bringen vnd erkauffen“92 – eine Hilfestellung, welche die Möglichkeit, europaweit einzukaufen, unbekümmert voraussetzt. Aus dem Walknochen solle man sich ein „Gefäß dreyen vnnd zurichten“ lassen, das „die Gestalt vnnd das ansehen einer Glocken oder Cucurbiten“ haben und „ohnegefehr an seiner dicke die helffte des allerkleinesten Fingers an eines Mannes Hand behalten“93 solle. Bei der Cucurbita handelt es sich um eine in der Alchemie gebräuchliche, üblicherweise jedoch aus feuerfesten Stoffen wie Glas, Metall oder Ton gefertigte Destillierblase. Dieses Gerät ist auf vielen Labordarstellungen zu sehen, so z. B. in Stephan Michelspachers Cabala (Abb. 1), einer außerordentlich schmalen alchemistischen Kurzanleitung aus dem Jahr 1615, deren Bildanhang das Allernötigste noch knapper veranschaulicht. Ferner brauche man, so Rist, „[e]rstlich die Feilspäne vom Staal oder Eisen/ hernacher der Weißliechten durchscheinenden Kiesel-Steine“, also die Komponenten Erz und Stein, wie sie ebenfalls bei Michelspacher im mittleren Bildstreifen (Abb. 1) jeweils rechts und links außen dargestellt sind – was wiederum
90 Vorzugsweise zitiert Rist alchemistische Standardquellen wie Aristoteles’ De Physica, Vergils Georgica sowie insbesondere die Tabula Smaragdina. 91 Rist: Philosophischer Phoenix (Anm. 18), S. 13. 92 Ebd., S. 20 f. 93 Ebd., S. 21.
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keine Rezeption durch Rist, sondern nur dessen Arbeit mit geläufigen Klischees belegen soll. Gemischt mit dem „außgepresseten Saft von den Bachkrebsen“ müssten diese Zutaten für acht Tage „digeriren“.94 Daraus lasse sich ein Destillat erzeugen, in dem man das Walknochengefäß sieben Mal zu mazerieren habe95 – ein Vorgang, wie er ähnlich rechts unten im Stich bei Michelspacher (Abb. 1) abgebildet ist. Zuletzt solle man das Gefäß „auff einem hohen vnnd bergichten Orte/ entweder an einen Zweig eines Baums oder auch an eine lange Stangen auffhengen“, wo es dann „in einer einzigen Stunde so viel unsers Lufftes an sich ziehen“ werde, „als seine weite vnd grösse immer kann fassen“.96 Auch wenn die als naturmagisch erzeugte Besonderheit gepriesene Fähigkeit eines offenen Gefäßes, gerade so viel Luft in sich aufzunehmen, wie es seinem Volumen entspricht, physikalisch nicht eben verblüfft, ließe sich die Anleitung bis hier wohl immerhin mit etwas Anstelligkeit umsetzen. Für die praktische Durchführung der nachfolgenden Instruktionen hingegen bedürfte es aufgrund der Fülle von Impossibilia wenigstens eines Schildbürgers als Laborassistenten, wenn es beispielsweise heißt: So bald du nun vermerckest/ daß das Gefässe voll ist/ so lange es herunter/ thu die gesamlete Lufft herauß vnd mache es ledig/ darauff henge oder setze es wieder an seinem vorigen Ort/ vnnd wann es sich wiedrumb voll gezogen/ alßdenn entledige es wieder/ vnnd treibe solche Arbeit so lange/ biß daß du endlich einen guten grossen Vorrath allicher Lufft hast zu hauffe gebracht vnd versamlet.97
Den letzten Teil seines Philosophischen Phoenix beginnt Rist unvermutet mit zwei Absätzen über das geflügelte Pferd Pegasus, bei dem es sich freilich um ein Symboltier nicht der Alchemie, sondern der Poesie handelt. Man erfährt, dass Pegasus auf dem „allezeit grünenden Berg Parnassum“ mit seinen Hufen „das Chrystalline Bächlein der Musen (aurum potabile) eröffnet und hervor bringet“.98 In dieser Bildkonstellation erzeugt Rist einen vielsagenden Nexus zwischen Alchemie und Poesie, wenn er das aurum potabile, also das zu den höchsten Arkana der Alchemie zählende Trinkgold als Ausfluss der von Pegasus geschlagenen Quelle darstellt, aus der die Dichter schöpfen. Damit legt er auf kaum verhüllte Weise nahe, dass der Ursprung mancher Zweige der Alchemie und der Blüten, die sie treibt, in der Einbildungskraft liege.
94 Ebd. 95 Vgl. ebd., S. 22. 96 Ebd., S. 22 f. 97 Ebd., S. 23. 98 Ebd., S. 24.
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Abb. 1: Stephan Michelspacher: Cabala, Specvlvm artis et naturae, in Alchymia […]. Augsburg 1616 [EA 1615], unpag. Bildanhang (HAB Wolfenbüttel 46 Phys. [2]). Abdruck mit freundlicher Genehmigung der HAB Wolfenbüttel.
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Gleichsam zur Illustration dieser Auffassung besteht der Abschluss des Philosophischen Phoenix aus einem verdichteten, im Gegensatz zu den vorigen, allgemein verständlichen Einlassungen allenfalls noch hartgesottenen Kennern der alchemistischen Symboltraditionen zugänglichen Konglomerat von Bilderfolgen mythologischer und kosmologischer Herkunft. Ohne Erläuterungen weiterer Arbeitsschritte führt Rist einmal durch den Jahreslauf, was an sich nicht ungewöhnlich wäre und beispielsweise auch bei Michelspacher (Abb. 2) vorkommt, wo übrigens der bei Rist titelgebende, im übrigen Text aber nur noch einmal erwähnte99 Vogel Phoenix stellvertretend für die höchste Stufe der Alchemie im Zentrum steht.100 Hier jedoch gerät der saisonale Zyklus durch Momente von Disproportionalität (auf lange Ausführungen zum Winter folgen nur ein Absatz zum Frühling, keiner zum Sommer sowie eine beiläufige Erwähnung des Herbstes) und Überzeichnung (es werden nicht weniger als drei ‚chymische Hochzeiten‘ angedeutet) zur Karikatur.
5 Fazit Um die Zielsetzung des Philosophischen Phoenix einschätzen zu können, lohnt es sich, einen kurzen Blick auf die denkgeschichtlichen Kontexte zu werfen, in denen diese Schrift ebenso wie ihre beiden Folgetexte wirksam wurde. Rist verfasste nicht nur den Philosophischen Phoenix und die Nothwendige Rettung, sondern wahrscheinlich auch die Vindicatio, mit der er einen publizistischen Sturm im Wasserglas auslöste. Denn diese Schrift rückt, obgleich sie vorgeblich gegen Rist gerichtet ist, dieselben Inhalte in den Vordergrund wie die beiden anderen Texte, und ihr Tonfall ist recht genau derjenige, in dem Rist auch sonst polemisiert. Ungewöhnlich wäre eine solche dreizügige Profilierungsstrategie keineswegs, gehören doch bei allem philologischen Ethos sowohl die Verbindung von Pedanterie und Unredlichkeit bzw. von Gelehrsamkeit und Grobianismus als auch der Rückgriff auf Autorschafts- und Ortsfiktionen zu literaturpolitischen und satirischen Zwecken ganz selbstverständlich zu den Techniken einer schalkhaften Selbstinszenierung des Humanismus,101 die Rist mithin noch einmal glanzvoll aufscheinen lässt.
99 Vgl. ebd., S. 28. 100 Der titelgebende Vogel wird in Rists Traktat in dieser Funktion lediglich einmal erwähnt, kommt aber sonst nicht weiter vor (vgl. ebd.). 101 Es sei hier nur an die Epistulae obscurorum virorum (1514–17) als prominentestes Beispiel derartiger Schreibweisen erinnert. Vgl. z. B. Theodor Verweyen: Die ‚Dunkelmännerbriefe‘ (‚Epi-
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Abb. 2: Stephan Michelspacher: Cabala, Specvlvm artis et naturae, in Alchymia […]. Augsburg 1616 [EA 1615], unpag. Bildanhang (HAB Wolfenbüttel 46 Phys. [2]). Abdruck mit freundlicher Genehmigung der HAB Wolfenbüttel.
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Von der Vindicatio ist, soweit ich sehe, nur noch ein Exemplar überliefert, und Eberhard Mannack konnte für die Rettung ebenfalls nur noch ein Exemplar nachweisen.102 Diese Überlieferungslage kann als Indiz für zweierlei dienen: zum einen für eine eher kleine Auflage, die sich vielleicht nur an einen überschaubaren Kreis von ‚Insidern‘ richtete, denen es möglich war, Rists polemisches Spiel als solches zu goutieren, und zum anderen für ein nicht allzu nachhaltiges Sammlungsinteresse. Der Philosophische Phoenix selbst hingegen war durchaus erfolgreich, und das erstaunlich lange. Nach seiner Erstausgabe von 1638 in Hamburg bei Zacharias Hertel folgten postum weitere Drucke, und zwar bei Wolf Eberhard Felßecker in Nürnberg, der 1668 zwei Ausgaben und 1675 eine dritte herausbrachte, sowie 1682 bei Johann Friedrich Gräfe im Verlag Bruno Lorenz Tanckes in Danzig.103 Dieses späte Interesse an dem Text liegt begründet in seiner übergreifenden inhaltlichen Stoßrichtung, mit der Rist auf neue Tendenzen in der alchemistischen Landschaft reagiert. Schon im ausgehenden 16. Jahrhundert und verstärkt im Laufe des 17. Jahrhunderts erfolgte der allmähliche Niedergang der Alchemie nicht nur als Geheimwissenschaft, sondern auch als Wissenschaft überhaupt. Die zunehmende Popularisierung und auch Trivialisierung der Alchemie lässt sich bereits daran ablesen, dass einschlägige Neuerscheinungen seither überwiegend in deutscher Sprache abgefasst waren, während als Wissenschaftssprache noch unangefochten das Lateinische diente. Hinzu kam die verstärkte Nutzung jener Produktions- und Distributionsmöglichkeiten, welche das expandierende Gutenberg-Universum mit sich brachte, so dass neben Nachdrucken von etablierten Standardwerken in griechischer und lateinischer Sprache vor allem auch eine Fülle von deutschsprachigen Übersetzungen, komprimierten Zusammenschauen, Brevieren und Anthologien für ein interessiertes Lesepublikum auf den Markt gelangte.104 Zu Recht unterscheidet Martin Mulsow daher in diesem
stolae obscurorum virorum‘). Ein Beispiel humanistischer Satire und Parodie [1997]. In: Theodor Verweyen, Gunther Witting (Hg.): Einfache Formen der Intertextualität. Theoretische Überlegungen und historische Untersuchungen. Paderborn 2010, S. 83–99; sowie Karl Riha: Zur ‚Sache‘ der ‚Dunkelmänner‘. Ein satirischer Humanistenbriefwexel. In: Ders.: Kritik, Satire, Parodie. Gesammelte Aufsätze […]. Opladen 1992, S. 7–16. 102 Der Druck der Vindicatio befindet sich in Dresden, SLUB, Signatur: Chem. 1135; für die Rettung ermittelt Mannack ein Exemplar in Erlangen, UB, Signatur: Jur. IX 942 (vgl. Eberhard Mannack: Nachwort. In: Rist: Sämtliche Werke, Bd. 7 (Anm. 18), S. 381–388, hier S. 384). 103 Vgl. zur Übersicht der Drucke Mannack (Anm. 102), S. 381–384. 104 Vgl. dazu z. B. die bei Wilhelm Kühlmann: Der ‚Hermetismus‘ als literarische Formation. Grundzüge seiner Rezeption in Deutschland. In: Scientia Poetica 3 (1999), S. 145–157, bes. S. 147– 151 diskutierten Autoren und Texte.
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Zusammenhang zwischen „avantgardistischer philosophischer Kultur und populärem Umgang mit abgesunkenem Ideengut“,105 denn bei den deutschsprachigen Alchemie-Publikationen handelt es sich nicht um gelehrte Abhandlungen, sondern um Unterhaltungsliteratur. Die landläufige Verbreitung ehemaligen Arkanwissens barg verschiedene, durchaus ernstzunehmende Gefahren in sich, die nicht erst einem lutherischen Geistlichen wie Rist vor Augen standen – bereits Sebastian Brant fand dafür die überaus deutlichen Worte vom „großen Beschiß der Alchemei [!]“.106 Sie reichen von gewerblicher Bauernfängerei, gegen die auch Fürsten nicht gefeit waren, über missbräuchliche Verwendungen, da die Alchemie nicht nur zivile Nebenprodukte wie das Porzellan hervorbrachte, sondern beispielsweise auch das Schwarzpulver,107 bis hin zu dem theologisch durchaus schwerwiegenden Problem der Hybris. Und schließlich fand im 17. Jahrhundert eine zunehmende Aufspaltung der Alchemie in zwei Strömungen statt, die Claus Priesner treffend auf den Punkt brachte: „Eine führt zu einer religiös-spirituellen Auffassung des Opus Magnum als Allegorie eines Heilswegs der Selbstvervollkommnung, der der Stein als Metapher des Seelenheils erscheint. Die andere beschreitet den Weg der rationalen Naturforschung […].“108 Aus der ersteren Traditionslinie heraus bietet Rist eine durch die von ihm fingierte Plagiatsaffäre polemisch flankierte Parodie auf die seit Vergil sprichwörtlich gewordene auri sacra fames (Aeneis 3, 57), auf den alchemistischen Goldrausch, dessen Faszination bis hin zu den Goldköchen des 21. Jahrhunderts reicht – so lancierte der New Yorker Juwelier Tiffany & Co. anlässlich seines 175. Firmenjubiläums im Jahr 2012 eine rötliche Schmucklegierung unter dem Markennamen Rubedo™, d. h. unter der Bezeichnung für die höchste Stufe im alchemistischen opus magnum.109 Rist geht es deshalb nicht darum, alchemistische Geheimnisse zumal anleitungsförmig zu lüften; vielmehr ruft er mit Nachdruck
105 Martin Mulsow: Epilog: Das schnelle und das langsame Ende des Hermetismus. In: Ders. (Hg.): Das Ende des Hermetismus. Historische Kritik und neue Naturphilosophie in der Spätrenaissance. Dokumentation und Analyse der Debatte um die Datierung der hermetischen Schriften von Genebrard bis Casaubon (1567–1614). Tübingen 2002 (Religion und Aufklärung), S. 305–310, hier S. 307. 106 Sebastian Brant: Das Narrenschiff [1494]. Übertr. von Hermann August Junghans. Durchgesehen und mit Anmerkungen versehen sowie mit einem Nachwort neu hg. von Hans-Joachim Mähl. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart 1998, S. 383 (Kap. 102). 107 Vgl. Claus Priesner: Über die Wirklichkeit des Okkulten. Naturmagie und Alchemie in der Frühen Neuzeit. In: Herbert Jaumann (Hg.): Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch. Berlin u. a. 2011, S. 305–345, hier S. 334 f. 108 Ebd., S. 341. 109 Siehe http://press.tiffany.com/News/NewsItem.aspx?id=172 [08.03.2013].
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in Erinnerung, dass das Kernstück der ‚Alchemie‘ in der reinen Gotteserkenntnis aus den Werken der Schöpfung liegt. Eine solchermaßen verstandene Alchemie braucht weder besonderen Kostenaufwand noch ausgeklügelte Destillationsund Coagulationsverfahren, sondern sie erweist sich als Frage der Gedankenarbeit, die aus der Tugend eines gläubigen Christen erwächst. In diesem Licht erscheint Rist nachgerade selbst als – geistlicher – Goldmacher insofern, als er die Transmutation eines unedlen Materials, eines (pseudo-)suchtenianischen Manuskripts nämlich, in eine Erbauungsschrift bewerkstelligt.110 Da die Intention des Philosophischen Phoenix darin bestand, in einem anagogischen Sinne zu wahrem Christentum zu ermahnen, erscheint es nur konsequent, wenn sich Rists eigene laboralchemistische Ambitionen trotz vollmundiger Rhetorik eher in bescheidenen Grenzen hielten. Liest man die Monatsgespräche autobiographisch, so brodelte in seiner häuslichen Destillationsküche seltener der spiritus universi als ein altbewährtes Kräftigungselixier aus der alchemia medica, reicht doch der Rüstige im Juni-Gespräch seinen Gästen aus eigener Herstellung „einen sehr köstlichen Aquavit, der von den allerkräftigsten Haupt/ Hertz und Magen stärckenden Sachen/ mit Ambra und Musco war zubereitet/ und gantz Himmeloder Saffierblau gefärbet“.111 Abbildungsnachweise Abb. 1 und 2: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel.
110 Für den Hinweis auf diesen reizvollen Denkansatz danke ich Prof. Dr. Nicola Kaminski (Bochum). 111 Rist: Die alleredelste Zeit-Verkürtzung (Anm. 7), S. 288.
Register der Werke Johann Rists Adeliche Hausvatter (Lüneburg 1650) 109, 113, 115 f., 121 f., 137, 613–627 Alleredelste Belustigung (Hamburg 1666) 19, 97, 172, 185, 188, 190–203, 238, 259 f., 466, 594, 605, 607, 610 allerEdelste Erfindung (Frankfurt a. M. 1667) 592, 594, 604–606, 610, 657, 666, 674 f., 682 AllerEdelste Leben (Hamburg 1663) 17, 594 f., 603–605, 607–609, 629, 633–643 AllerEdelste Nass (Hamburg 1663) 17, 592, 594, 601–603, 606 f., 655, 658, 660 f., 663, 669–672 AllerEdelste Tohrheit (Hamburg 1664) 144, 466, 588, 594, 605, 607, 659, 661–670, 674 Alleredelste Zeit-Verkürtzung (Frankfurt a. M. 1668) 592, 594, 606, 610, 660, 674, 696 Allerunterthänigste Lobrede an die […] Kaiserliche Maiestätt (Hamburg 1647) 39, 567 Blutige Thränen Vber das erbärmliche Ableiben Deß […] H. Carels deß Ersten (o. O. 1650) 59, 66 Briefe 572–575, 579 f., 582 f. DankSchuhle → Neüe Musikalische Kreutz- Trost- Lob- und DankSchuhle Daphnjs aus Cimbrien Galathee (Hamburg 1642) 30, 111, 238, 281–288, 297 f., 513–543, 547, 646–652, 685 Dennemark ein Erbkönigreich (Lüneburg 1660) 194 Depositio Cornuti Typographici (Lüneburg 1655) 166 f., 202, 208, 263–280, 284, 615 Der zu seinem allerheiligsten Leiden und Sterben hingeführter […] Christus (Hamburg 1648) 141–143, 147–149, 233, 332 f., 379–390, 397, 408 f., 411 f., 414–417, 439 f., 445, 450, 502 Edlen Daphnjs aus Cimbrien besungene Florabella (Hamburg 1651) 111, 118–120, 124–134, 238, 240, 281 f., 547, 646 Ehren gedächtniß weiland Johan von Sprekelsen (Hamburg 1647) 61 f., 66 Fest-Andachten → Neüe Musikalische Fest-Andachten Florabella → Edlen Daphnjs aus Cimbrien besungene Florabella Friedejauchtzende Teutschland (Nürnberg 1653) 21, 168 f., 172–175, 179, 182 f., 194 f., 200, 202 f., 208, 211, 214–218, 221–226, 234–236, 242, 257, 286, 556 f., 579 Friedewünschende Teütschland (Hamburg (?) 1647) 21, 163, 165, 168 f., 173, 180, 202, 208, 214, 216, 219, 222, 235, 575 Frommer und Gottseliger Christen Alltägliche Haußmusik Oder Musicalische Andachten (Lüneburg 1654) 139, 308, 322, 334, 364, 366, 402, 440–443, 445, 447 f., 450–454, 456, 478 f., 490, 493 f., 585 Galathee → Daphnjs aus Cimbrien Galathee Gedichte in Alben Sigmund von Birkens 570 f. Geistliche Poetische Schriften. 3 Teile (Lüneburg 1657–1659) 137–159, 448 Gratulationsgedicht zu Sigmund von Birkens Hochzeit 579 Him[m]lische Lieder (Lüneburg 1641) 28–31, 35, 52, 58–61, 63, 142, 146 f., 150–157, 251, 287– 298, 301, 303, 307–309, 312, 315–320, 328, 332, 345, 347 f., 355, 368, 384, 397, 399–401, 403, 405–407, 411, 413–417, 428–431, 433 f., 439–446, 448, 450, 464, 470, 481–512, 522, 547, 553, 561, 615, 617 Hochverdienter Nachruhm Dem […] H. Alberto Kirchhofen (Hamburg 1654) 59–61, 68 Hochzeitliches Frühlingsgedicht (o. O. 1649) 615 Holstein vergiß eß nicht (Hamburg 1648) 440, 442, 450, 452, 555 f., 665 Irenaromachia (Hamburg 1630) 30, 182 f., 202, 208, 211 f., 214 f., 222–226, 235, 260 Katechismus Andachten → Neüe Musikalische Katechismus Andachten Kriegs- und Friedens Spiegel (Hamburg 1640) 53, 71 f.
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Register der Werke Johann Rists
Lerne täglich sterben (Hamburg 1649) 62, 66 Lob- Trawr- vnd Klag-Gedicht Vber […] Absterben Des […] Herren Martin Opitzen (Hamburg 1640) 49–58, 227 Monatsgespräche (vgl. auch → AllerEdelste) 19, 587–610, 633, 635, 642, 655–673, 687, 696 Musa Teutonica (Hamburg 1634) 30 f., 33, 64 f., 71, 79, 85, 93, 103, 112 f., 547 Musicalische Andachten → Frommer und Gottseliger Christen Alltägliche Haußmusik Neue Hoch-heilige Paßions-Andachten (Hamburg 1664) 15, 142, 332, 345, 365–378, 381 f., 389–395, 439 f., 442, 446, 450 f., 454–457 Neüe Musikalische Fest-Andachten (Lüneburg 1655) 142, 334, 442–444, 447, 450–453, 455, 459, 468, 470, 472, 474, 476–479, 490, 496 Neüe Musikalische Katechismus Andachten (Lüneburg 1656) 16, 29, 39, 46, 108, 171, 321–344, 347–362, 366 f., 417, 441–443, 445, 450, 454, 496 Neüe Musikalische Kreutz- Trost- Lob- und DankSchuhle (Lüneburg 1659) 310, 315, 367, 442 f., 445 f., 448, 450–457 Neüer Him[m]lischer Lieder Sonderbahres Buch (Lüneburg 1651) 14, 41, 109, 113, 138, 142, 145, 150, 296 f., 306, 308, 311 f., 318 f., 333, 348, 368 f., 416, 427, 429 f., 439 f., 441–443, 447, 450, 452–454, 494, 504 Neüer Teutscher Parnass (Lüneburg 1652) 73, 77 f., 100, 113, 121, 135, 281, 332, 574, 584, 616 Neues Musikalisches Seelenparadis […] Alten Testaments (Lüneburg 1660) 41, 336, 347, 371, 417, 439, 441 f., 447, 449–457, 460, 671 Neues Musikalisches Seelenparadis […] Neuen Testaments (Lüneburg 1662) 137, 139, 149, 367, 439, 441 f., 446 f., 449–457 Notwendige Rettung vnnd rechtmässige Vertheidigung des Philosophischen Phoenix (Hamburg 1640) 681–686, 688, 692, 694 Paßions-Andachten → Neue Hoch-heilige Paßions-Andachten Perseus (Hamburg 1634) 30, 165, 170, 208, 211–214, 218–230, 260, 293 Philosophischer Phoenix (Hamburg 1638) 673–696 Phoenicis subreptitij in libertatem vindicatio (o. O. 1638) 676–684, 687, 692, 694 Poetischer Lust-Garte (Hamburg 1638) 71, 684 Poetischer Schauplatz (Hamburg 1646) 28–39, 42–46, 52, 55, 72 f., 76–92, 94, 99 f., 104, 107 f., 113, 130, 143, 233, 384, 566 Rettung der Edlen Teütschen Hauptsprache (Hamburg 1642) 72, 209, 215, 217, 220, 549 Sabbahtische Seelenlust (Lüneburg 1651) 13–21, 108, 142, 322, 334, 368, 426, 440, 447, 450, 459–478, 494, 577 Starker Schild Gottes (Hamburg 1644) 172 Trauergedichte auf den Tod zeitgenössischer Personen 64–69 Trauriges Klag-Lied vnd Trost-Gedicht Vber den vnverhofften Hintritt […] des […] H. Johan Georg Adolphen (Glückstadt 1633) 64 Triumphirende Liebe, Ballet (Lüneburg 1653) 74, 97 f., 231–261 Trost-Gedicht, Welches dem Edlen […] Herrn Johanni Helm (o. O., o. J.) 64 Unterthänigste Glükwünschung und Lob-Rede An Den […] Herrn Friderich Wilhelm Marggraffen zu Brandenburg (Berlin 1655) 73 Unterthänigste Lobrede An […] H. Christian Ludowig Hertzogen zu Braunschweig und Lüneburg (Hamburg 1653) 97–107, 234 Verschmähete Eitelkeit (Lüneburg 1658) 139, 426, 441 f., 445, 448–450, 454 f. Verschmähete Eitelkeit […] Ander Theil (Frankfurt a. M. 1668) 332, 366, 442 f., 450 f., 454 f., 457, 580 f.
Personenregister Abraham 201 Adam 455 Ahab 295, 298 Ahlefeldt, Detlev von 51 f. Albert, Heinrich 281, 296, 422, 432, 436 Albertinus, Aegidius 560 Alewyn, Richard 631 Amaryllis 285, 524, 536 f., 539, 541 Andreini, Francesco 246 Angelus Silesius siehe Scheffler, Johann Anglus 215, 222 Anhalt-Bernburg, Christian II. von 617 Anhalt-Köthen, Ludwig von 57, 66, 72, 548, 558, 562 Anhalt-Plötzkau, Georg III. von 336 Anselm von Canterbury 302 Antonio de Guevara 617, 634 Apollon 32, 120, 462 Arbeau, Thoinot 250 Ariosto, Ludovico 93, 113 Aristander siehe Stübritz, Martin Arndt, Johann 21, 28, 60, 327 f., 361 f., 403–405, 418, 615, 658, 675 Arnulf von Löwen 305, 372, 380 Astree 124–127 Athene 466 Augustinus von Hippo 356, 416, 621, 680 Avancini, Nikolaus 181 Bach, Johann Sebastian 152, 317, 431, 433, 505 Bacon, Francis 618 Badenhoop, Anna 52 Banér, Johan 140 Baptista, Jean 260 Barlaeus, Caspar 28, 33 Baron, John F. 126 Bartholomeo 222 Bauck, Matthias Andreas 509 Baudoin, Jean 122, 618 f. Bauhin, Caspar 658, 669 Baumgart, Johann 369 Bayern, Maximilian II. Emanuel von 177
Bayly, Lewis 327, 329 Bence, Pascal 250, 257 Bern, Albrecht Balthasar 67 Bernhard von Clairvaux 372, 380, 397, 403 f., 408–410, 413, 415 f. Betulius, Sigmund siehe Birken, Sigmund von Betulius, Christian 572 Birken, Sigmund von 82, 113 f., 126, 171, 231, 409, 563–568, 570–585, 640 Bleyer, Nicolaus 519 Bode, Hans 67 Bode, Matthias 68 Bodmer, Johann Jakob 186 Böhm, Georg 433, 436 Boethius, Anicius Manlius Severinus 680 Böttiger, Johann 68 Bogner, Ralf Georg 26 Bonin, Louis 243 Borcherdt, Hans Heinrich 25, 35 Bossio, Giacomo 618 Brandenburg, Anna Katharine von 74, 84 Brandenburg, Friedrich Wilhelm von 97 Brant, Sebastian 695 Brasch, Georg 69 Braun, Werner 282, 422, 434, 437, 519–521, 524 Braunschweig-Calenberg, Ernst August von 177 Braunschweig-Lüneburg, Anna Eleonora von 77, 233, 379 Braunschweig-Lüneburg, Christian Ludwig von 73, 97 f., 100 f., 103 f., 106–108, 231, 233–238, 258, 494, 685 Braunschweig-Lüneburg, Ernst I. von 324 Braunschweig-Lüneburg, Ernst August von 237 Braunschweig-Lüneburg, Georg von 75, 85, 97 Braunschweig-Lüneburg, Georg Wilhelm von 237, 258 Braunschweig-Lüneburg, Johann Friedrich von 237
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Personenregister
Braunschweig-Lüneburg, Sophia Amalia von 73, 75–78, 85–88, 90, 92, 233 Braunschweig-Lüneburg, Sophie Charlotte von 258 Braunschweig-Lüneburg, Sophie Elisabeth von 257 Braunschweig-Wolfenbüttel, Anton Ulrich von 258 Braunschweig-Wolfenbüttel, Heinrich Julius von 170 Brecht, Martin 178 Breitinger, Johann Jakob 186 Breuil, Michael du 258 Brüser, Hinrich 67 Brunner, Otto 620 Buchholtz, Andreas Heinrich 552 Buchner, August 27 f., 251, 549 f., 552, 560 f., 617 Bugenhagen, Johannes 14, 336 Bullerbrok 214, 217 f. Bunny, Edmund 329 Buno, Konrad 235 Burmeister, Anton 662, 668 Burmeister, Franz Joachim 369, 670 Buscher, Anton 675, 678 f., 682 Büttner, Frank O. 393 Buxtehude, Dietrich 155, 159, 373, 505 Cäcilie 462 Caesar, Gaius Iulius 165 Callot, Jacques 244 Capricornus, Samuel 292 Cassius Dio (Lucius Cassius Dio Cocceianus) 618 Cats, Jacob 120 Celadon siehe Greflinger, Georg Celtis, Konrad 93, 95 Cham 222 Chariander siehe Horn, Christoph Chemnitz, Martin 336 Chiabrera, Gabriello 424 Christian III., König von Dänemark 81 Christian IV., König von Dänemark 71 f., 74 f., 81–84, 97, 103 Christian von Dänemark 74 Christiani, Christian 570 Cicero, Marcus Tullius 55, 165, 191
Cloris 129 f. Clüver, Philipp 166 Cocles 212, 233 Coler, Martin 17, 382, 446, 450 Concord siehe Dedekind, Constantin Corner, Gregor 289 Corydon 524, 529, 536–541 Cramer, Daniel 369 Crüger, Johann 289, 294, 441, 484 f., 492, 502, 505 Cupido 32, 138, 246 Curtius, Ernst Robert 80, 630 Czepko, Daniel 416 Dach, Simon 20, 432, 640 Dänemark, Ulrich von 56, 64, 74 Dammann, Günter 636 Daphnis aus Cimbrien (= Johann Rist) passim David 56, 58, 60, 441, 467, 554, 560 De Ville-Longue 237 Dedekind, Constantin Christian 604, 608, 638 Degenwerth 214–216 Delia 518, 529, 539 Denicke, David 485, 494 Derrida, Jacques 401 Derschau, Bernhard von 332, 338, 340, 342 Diana siehe Lippe, Sophia von der Diana 120, 130 Diderot, Denis 194 Dietbold, Kaspar 283 Dilherr, Johann Michael 361, 582 f. Dilthey, Wilhelm 25 Diricks, Dirk 384, 392 Don Anthonio 222 Dorinde 521, 524, 530, 537 Drexel, Jeremias 172 Du Haj 237, 250 du Plessis, Charles 237 Dudeldei, Beneke 223 Dünnhaupt, Gerhard 64, 614 Edelhoff, Heinrich 435 Ehmann, Wilhelm 435 Einem, Herbert von 630 Eitzen, Lukas von 67 Elia 295
Personenregister
Elisabeth 293 Ellinger, Andreas 144 Elmenhorst, Heinrich 432 f. Elzevier, Gebrüder 615 Elzevier, Ludwig 553 Engel, Johann Jacob 194 Erasmus von Rotterdam 94 Erato 466 Erbe, Jeremias 190 Ernesti, Johann Heinrich Gottfried 276, 278 Eusebius von Caesarea 609 Fabricius, Georg 144 f., 591–594 Felßecker, Wolf Eberhard 694 Ferdinand III., röm.-dt. Kaiser 182, 233, 464, 558, 615 Ficino, Marsilio 675 Finelli, Ottavio 618 Finx, Margareta 67 Fischer, Johann Rudolph 180 Fischer-Lichte, Erika 187 Flaccus siehe Horatius Flaccus, Quintus Fleming, Paul 20, 25, 31, 629, 640 Flor, Christian 430, 436, 447, 449 f., 502 Florabella 111, 120, 131–134, 282, 648 Floridan siehe Birken, Sigmund von Florindo siehe Georgius, Johann Fornenbergh, Jan Baptist van 191, 193 Förster, Johann 336 Forster, Georg 423 Francisci, Erasmus 591 f., 594–598, 633 Franck, Johann Wolfgang 432 f., 436 Frentzel, Johann 369 Friedrich I., König von Dänemark 81 Friedrich II., König von Dänemark 81 Friedrich III., König von Dänemark 73–80, 82, 84–88, 90, 92, 94, 96, 101, 104, 233, 575 Frischlin, Nikodemus 165–167 Fritsch, Ahasverus 492 Frühsorge, Gotthart 614, 625 Funcke, Friedrich 501–503 Gaedertz, Karl Theodor 209, 212 Galathee 120, 128–130, 284, 288, 516, 522, 524, 528, 532, 535–537, 539–542, 646–650
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Gallus 632 Garber, Klaus 120, 134, 644 Gartner, Andreas 168 Garzoni, Thomas 192–194, 560 Gaston 222 Geist, Christian 292 Georgius, Johann 609 Gerhard, Johann 314, 370 Gerhardt, Paul 307 f., 310, 356, 373, 380, 413, 490, 504 f. Gericke, Catharine Dorothee geb. Bünson 68 Gerson, Johannes 302 Gesenius, Justus 485, 494 Geßner, Christian Friedrich 276, 280 Gissey, Henry de 246 Godwin, Francis 618 Gödeke, Andreas 366, 369 Goethe, Johann Wolfgang von 25, 667 Gorgias, Johann 369 Gosky, Martin 567 Gottsched, Johann Christoph 203, 551 Graaß, Heinrich 565 Gräfe, Johann Friedrich 694 Greflinger, Georg 670 Greiffenberg, Catharina Regina von 409, 416, 418 Grosse, Sven 398, 408 Grummer, Theobald 515, 646 Gryphius, Andreas 31, 164, 167, 169, 171, 189, 196 f., 373 Gurisatti, Giovanni 187 Gurlitt, Wilibald 434 f. Gustav II. Adolf, König von Schweden 59, 64, 71 Haas, Alois 402 Habsburg, Leopold Wilhelm von 465 Haffner, Marie geb. Koch 67 Hagedorn, Philipp 51 f. Hagemaier, Joachim 121 Hallmann, Johann Christian 164, 167, 171, 292, 298 Hammerschmid, Andreas 321, 334, 336, 344, 429, 433 f., 447, 450 Hannas 370, 379
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Personenregister
Hannover, Sophie Charlotte von siehe Braunschweig-Lüneburg, Sophie Charlotte von Harsdörffer, Georg Philipp 28, 113 f., 118, 122 f., 126, 171, 188, 195, 199, 233, 287, 373, 549 f., 552 f., 562, 565 f., 568, 571 f., 577, 590, 613, 615, 617, 633, 658, 662 Hasewitz, Liepholdt von 217 Hausen, Theodor 210, 676 Heermann, Johann 27 f., 372 Heins, Otto 211–213, 260 Heinsius, Daniel 25, 31, 33 Helm, Anna-Catharina geb. Gronau 64 Helm, Johann 64 Helvik, Christoff 69 Herdegen, Johannes 583 Herkules 242 Hermann der Cherusker 165 Hermund, Johann Christoph 369 Herodes 370 Hertel, Zacharias 684, 694 Hesiod 55 Hess, Peter 110 Hessen-Darmstadt, Anna Eleonore von 75, 85, 97, 106, 233, 379 Heyden, Sebald 355 Hieronymus Stridonensis 369 f. Hiob 56 Hispanus 215, 222 Hövelen, Konrad von 230 Hoffmann, Christian 291 Hoffmeister, Gerhart 645 Holofernes 197–199, 201 Holstein-Pinneberg, Otto V. von 71 Holstein-Sonderburg-Glücksburg, Dorothea Sophia von 97, 104, 231 Holt, Georg von 65 Holt, Jacob von 65 Homburg, Ernst Christoph 492 Homer 55 Horatius Flaccus, Quintus 25, 33, 37, 39, 46, 91, 141, 191, 198, 306, 632, 634 Hudemann, Johann 54, 617 Hun, Hans 214, 218, 221 Hund, Samuel 568 Hütter, Leonhart 144
Ingeniander siehe Neuberger, Daniel Irene 182, 211, 223, 225 Jacob (Patriarch) 181 Jacobi, Michael 236, 334, 336, 344, 441, 448–450, 502 Jäger, Christina 68 Jäger, Johann 68 Jakob der Kartäuser 313 f. Jaumann, Herbert 588, 590 Jean Lemarie de Belges 93 Jeremia 56 Jericke, Alfred 589, 674 Jesaja 56, 369 Jesus Christus passim Jesus Sirach 81 Jimmerthal, Johann Hermann Thomas 509 Johann Casimir, König von Polen 168 John, August 235 John, Eckhard 435 Joistken 222 Jonas, Justus 336 Jonathan 60 Joseph (Patriarch) 181, 378 Joseph, Georg 283 Judith 197 f., 201, 293 f. Jungius, Joachim 656 f. Jupiter 32 Kaiphas 370 Kallorin siehe Schönberg, Georg Kampen, Eberhard von 366 Kantorowicz, Ernst 81 Kapsberger, Johann Hieronymus 472 Karl I. Stuart, König von England 59, 66, 163, 202 Karl V., röm.-dt. Kaiser 620 Karst, Johann Rudolph 294 Kempe, Martin 369, 504 f., 563, 565, 580 Kemper, Hans-Georg 674 Kettembeil, Johann Georg 144 Khuen, Johann 283 Kikintlag, Drewes 223 Kikintlag, Göbbeke 223 Kilian, Bartholomäus II. 15, 392 Kindermann, Balthasar 369, 670
Personenregister
Kircher, Athanasius 21, 172, 460, 462–468, 470–472, 479 Kirchhoff, Albert 59–61, 68 Kleander siehe Sager, Friedrich Knapkäse 212–214, 218, 220–223, 226–228 Köhler, Chrysostomus 69, 99 Köprili, Ahmed 374 Körner, Stefan 236 Kommerell, Max 630 Kopernikus, Nikolaus 674 Kortkamp, Jacob 450 Kosenina, Alexander 187 Krabbe, Wilhelm 518 Kretzschmar, Hermann 524 Krummacher, Hans-Henrik 363 Kuhlmann, Quirinus 416 Kuriandor siehe Kindermann, Balthasar Küster, Konrad 444 La Marche, Ulrich Roboam de 258 Laban 212 f., 218, 220, 223, 225–228 Lang, Franz 185 f. Langenbeck, Hermann 366 Langermann, Gerhard 65 Langermann, Lorenz 331 Lasch, Agathe 210 f., 213, 224 Lauremberg, Peter 27, 656 Lauze, François de 250 Lazarus 201 Leopold I., röm.-dt. Kaiser 374, 505 Leopold Wilhelm siehe Habsburg, Leopold Wilhelm von Leopold, Silke 431 Lessing, Gotthold Ephraim 194 Leyser, Polykarp d. Ä. 336 Liberata 298 Linnemann, Georg 235, 237, 253 Lippe, Sophia von der 571 f., 574 f. Lipsius, Justus 37–39, 45, 55, 618 Liwerski, Ruth 398 Lobwasser, Ambrosius 55, 441 Lohenstein, Daniel Caspar von 164, 167, 169, 296 Loredano, Francesco 617 Loripes 212, 223 Lotichius Secundus, Petrus 94 Lübbren, Henning 65
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Lübbren, Margarete 65 Lucidor 539, 543 Ludwig XIII., König von Frankreich 232, 244, 253, 256 Ludwig XIV., König von Frankreich 253 Lukas (Evangelist) 201, 350 Lukrez (Titus Lucretius Carus) 153 Lurco 212, 214, 216, 218 f. Luther, Martin 63, 82, 113, 214, 302–306, 310, 312, 314, 318–320, 336 f., 340, 347–349, 354–358, 360 f., 371, 374, 387, 395, 400, 404, 467 f., 470, 479, 485, 625 f. Magdaleine 133 Mager, Inge 319 Mähl, Hans-Joachim 630 Mandelsloh, Johann Albrecht von 237 Mandelsloh, Johann Otto von 237 Mannack, Eberhard 548, 694 Manrique, Angel 618 Mareschal, Samuel 282 Margarete von Valois, Königin von Frankreich 618 Maria (Mutter Jesu) 293 Maria Magdalena 392 f. Marillac, Louis de 618 Markus (Evangelist) 350 Mars 169, 172, 174 f., 180, 182, 219 Marschalk, Karl Christoph von 558 f. Marten 222 Märten 671 Martens, Peter 213 Martial (Marcus Valerius Martialis) 25, 28, 33 Masen, Jacob 171 Matthäus (Evangelist) 350 Mazarini, Giulio 618 Mechthild von Magdeburg 397 Mecklenburg, Christian von 615 Medici, Maria de’ 618 Meid, Volker 25 Meier, Ernst 590 Meier, Peter 111, 120, 282, 450 Meine, Nikolaus 99 f. Meister Eckhart 397 Melanchthon, Philipp 336
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Personenregister
Melitee 539 Ménestrier, Claude-François 243 Menius, Justus 626 Menke, Otto 600 Merian, Matthäus d. Ä. 190, 192, 582, 615 Merian, Matthäus d. J. 15, 390, 392 Merkur 32, 165, 219, 235, 241, 247 Metzger, Gottfried 140 Meurer, Johan Christoff 67 Meves 222 Meyfart, Johann Matthäus 400 Micheli, Romano 465 Michelspacher, Stephan 689–691, 693 Mithridates 620 Mohr, Jan-Steffen 525 Möller, Eberhard 68, 121 f., 257, 617, 665 Moller, Elisabeth geb. Bekmann 68 Moller, Maria 61 Moller, Martin 327, 330 Moller, Vincent 62, 68, 257 Monteverdi, Claudio 472 Mörlin, Joachim 336 Morhof, Daniel 258, 591 Morsius, Jacob 677 Morsius, Joachim 677, 679, 683 f., 686 Mose 342, 344 Müller, David 53 Müller-Blattau, Joseph 434 Mulsow, Martin 694 Myrtillo 285 f., 524, 536 f., 539 f. Myrtillus siehe Hund, Samuel Naumann, Johann 19, 333, 365 Neidhart 671 Neuberger, Daniel 190, 563–565 Neuburn, Dietrich 65 Neukrantz, Johann 331 f. Neumann, Bernd 21 Neumark, Georg 505 Newton, Isaac 675 Nicolai, Philipp 441, 553 Niekerke, Johannes à 557 Nikolaus von Kues 95 Oertzen, Anna Maria von geb. von dem Knesebeck 616 Oertzen, Jaspar von 616
Olearius, Adam 237, 252, 440 Oña, Pedro de 618 Opitz, Martin 20, 25–31, 33, 40, 49–51, 53–58, 61, 63, 65, 89, 90, 93, 110, 112 f., 117 f., 120 f., 164, 168, 170, 190, 289, 306, 347, 425, 473, 518, 548 f., 552, 629, 634, 639 f., 642, 644 f. Oranien, Friedrich Heinrich von 71 Oranien, Wilhelm von 260 Origenes 404 Orpheus 56, 58 Osman 222 Overbeck, Andreas 69 Ovid (Publius Ovidius Naso) 668 Owen, John 28, 33 Pan 241 Pape, H(e)inrich 282, 287, 333, 379, 440, 446, 450, 520 Paracelsus (Theophrast Bombast von Hohenheim) 687 Parsons, Robert 329 Paulus 56, 302, 349 f. Pentz, Christian von 71 f., 75 f. Petermann, Tobias 137–159, 333, 373, 381, 448, 617 Petersen, Theodor 67 Petrarca, Francesco 31, 92–94, 113, 120, 652 Petriconi, Helmuth 631 Petrucci, Ottaviano 423 Petrus 506 Pfalz, Friedrich V. von der 71 Pfalz, Jan Wilhelm von der 177 Philanton siehe Burmeister, Anton Phyllis 518, 524, 536–540 Pindar 55 Pipenburg, Joachim 69, 325, 565, 568, 573, 577 f., 583 f. Platon 30, 315 f. Plinius (Gaius Plinius Secundus Maior) 55 Plocius, David 366 Pohlenz, Max 630 Polybios 632 Pontius Pilatus 370, 384, 386 Praetorius, Jacob 17, 450 Priesner, Claus 695 Prudentius 180
Personenregister
Publius Vergilius Maro siehe Vergil Quirsfeld, Johann 145 Rabel, Daniel 244 Radtke, Heinz-Werner 171 Rantzau, Detlev von 66 Rantzau, Dorothee von geb. von Ahlefeldt 66 Rebenlein, Jacob 333, 513 Redinger, Jacob 276 f. Reinhard, Wolfgang 176 Reinhardt, Karl 630 Reinhart 183, 214–216 Rettler, Aloysia 212 f. Reuter, Christian 76 Richter, Herman 67 Rickard, Johann 67 Ripa, Cesare 618 Rist, Johann passim Rollenhagen, Georg 176 Ronsard, Pierre de 93, 113, 118, 120 Rose, Christian 293 f., 298 Roselt, Jens 186 Rosemund 215–218, 557 Rosner, Johann 327, 330 Rosset, François de 124–127 Rotenburg, Jacob 366 Röver, Peter II. 366 Ruhl, Valentin 559 Rusterholz, Sibylle 398 Rusticus 211, 223, 225–227 Sager, Friedrich 608, 637 Sager, Heinrich 65 Saint Hubert, M. de 256 Sainte-Albine, Pierre Rémond de 193 Sala, Angelo 684 f. Sallust (Gaius Sallustius Crispus) 55, 618 Salomo 56, 84, 288 Sandhagen, Caspar Herrmann 498 Sandrart, Joachim 563 Sannazaro, Jacopo 631 Sassenhagen, Matthäus 585 Saul 467 Sausewind 183, 212, 214–217, 219, 557 Scaliger, Joseph 55
707
Scaliger, Julius Caesar 31, 55, 79, 85, 89 f., 99 Schalk, Fritz 630 Scharffe, Johann 69 Schede Melissus, Paul 55 Scheffler, Johann 283, 416, 492 Scheidemann, Heinrich 17, 441, 448–450 Schein, Johann Hermann 644 Scheitler, Irmgart 403 Schepler, Arnold 620 Scherertz, Sigismund 327, 330 Schilling, Heinz 176 Schilter, Zacharias 336 Schirmer, Walter F. 630 Schlegel, P. M. 568 f. Schleswig-Holstein, Johann Adolf von 64 Schleswig-Holstein, Johann Georg Adolf von 64 Schleswig-Holstein, Maria Elisabeth von 252 Schleswig-Holstein-Sonderburg, Dorothea von 73 Schleswig-Holstein-Sonderburg-Glücksburg, Philipp von 231 Schmatz, Daniel Michael 276 Schnitker, Elisabeth Barbara 66 Schnitker, Hieronymus 66 Schönberg, Andreas 685 Schönberg, Georg 607–610, 637 Schop, Johann 17, 175, 236, 297, 333 f., 397, 428 f., 431–433, 436, 441, 443–445, 448, 450, 492, 500, 502 f., 505, 507, 522, 585 Schottelius, Justus Georg 113, 126, 135, 251, 549 f., 552, 566, 570, 573 Schröder, Martin 213 Schroedter, Stephanie 232, 244, 250, 253 Schütz, Heinrich 175 Schumacher, Georg 16 Schupp, Anna Elisabeth geb. Helvik 68 Schupp, Johann Balthasar 19, 28, 68 Schut, Anna Christina 66 Schut, Heinrich 66 Schwabe, Johann Joachim 591–594 Schweden, Maria Eleonora von 71 Schwencke, Johann Friedrich 510 Schwenter, Daniel 196
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Personenregister
Schweser, Johann Friedrich 374 Seifart, Tobias 69 Selle, Thomas 17, 334, 429, 447 f., 450, 458 f., 470–472, 474, 476, 502 Selva, Lorenzo 618 Seneca, Lucius Annaeus 37 Sextus Roscius 191 Siebenbürgen, Bethlen Gábor von 57 Sillem, Jacob 366 Silvia 524, 536, 539–541, 559 Sivert 222 Snell, Bruno 630–632 Snitguer, Daniel 65 Snitguer, Hieronymus 65 Sønderholm, Erik 513, 515 Sokrates 315 Sonnemann, Ernst 494 Sonthom (Thomson), Emanuel 327–329 Sophokles 55, 192 Spee, Friedrich von 289, 416, 444 Sprekelsen, Johann von 61 f., 66 Sprekelsen, Maria von geb. Moller 66 Squentz, Peter 196, 199, 201 Staden, Sigmund Theophil 427, 432, 436, 447, 450 Steffani, Agostino 177 Stegmann, Josua 403, 615 Steiger, Johann Anselm 400, 481, 675 Steinhoff, Dietrich 99 Stern, Heinrich 14, 106, 236, 263, 272–274, 279, 321, 325, 327, 329 f., 332–334, 342, 444, 494, 500, 502, 614 f. Stern, Johann 14, 106, 236, 263, 321, 325, 327, 329 f., 332–334, 342, 444, 494, 496, 498, 500, 502, 614 f. Stesichoros 647 Steuerholt, Franz 620 Stigelius, Johannes 144 Stökken, Christian von 369 Strephon siehe Harsdörffer, Georg Philipp Struck, Samuel 276, 278 Stubenberg, Johann Wilhelm 565 Stübritz, Martin 609 Styrzel, Johann Georg 565 Suchten, Alexander von 685 f., 689 Sylvander siehe Burmeister, Franz
Tacitus, Publius Cornelius 618 Tancke, Bruno Lorenz 694 Tarnow, Johannes 64 Tasso, Torquato 617–623, 627 Taubmann, Friedrich 33 Tauler, Johannes 397 Telemann, Georg Philipp 508 Telsche 218, 223, 225–227 Tentzel, Wilhelm Ernst 594 Theokrit 632, 644, 647 Thomas von Aquin 680 Thomasius, Christian 588, 594, 596, 598–600 Till, Dietmar 188 Titus, röm. Kaiser 620 Titz, Johann Peter 549 f. Trithemius, Johannes 95 Tschernig, J. N. 276 Tscherning, Andreas 25–31, 33–42, 44, 46 f., 552 Turner, Victor 182 Twestreng, Barthold 366 Ulpianus, Domitius 182 Urian 264, 270 f., 273 Valckenburgh, Johan van 16 Van den Hoecke 237, 250 Vega, Lope de 120 Vegada, Garcilaso de la 618 Vergil (Publius Vergilius Maro) 33, 117, 632, 644, 647, 695 Viau, Théophile de 119–121, 127–130, 257 Victoria 192–194 Vietor, Johann Ludwig 276 f. Vise, Paul de 166, 263, 266, 268, 271 Vondel, Joost van den 120 Voßler, Karl 630 Vulpius, Christiane 667 Wahremund 179 Walch, Georg 585 Wallmann, Johannes 418 Walther, Michael 108, 336 f., 347 Walther, Paul 440 Weckherlin, Georg Rudolf 629 Weidmann, Moritz George 596
Personenregister
Weise, Christian 189 Weisz, Jutta 90 Wels, Volkhard 687 Wentzel, Johann Christoph 293 Westerman, Caspar 68 Westerman, Gertrud 68 Wichman, Gertrud geb. Twestreng 66 Widukint 165 Wietersheim, Anton von 65 Wild, Sebastian 181 Wilhelm II., dt. Kaiser 254 Windischgrätz, Gottlieb von 565 Winterstein, Hans Martin 341–343 Wiora, Walter 421 f., 434 f., 437 Wittbrodt, Andreas 123, 127 Wladislaus IV., König von Polen 57
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Wohlriechender siehe Marschalk, Karl Christoph Wohlsetzender siehe Zesen, Philipp von Wolder, David 440 Wolf, Emil 630 Wrangel (Graf) 582 Wudrian, Valentin d. Ä. 327, 331 Wütherich 169, 172–174, 179 f. Zacharias 293, 442, 453 Zahn, Johannes 433 Zedler, Johann Heinrich 591 Zehe, Johann Bernhard 285–288, 298 Zeidler, Christian 290–292 Zeller, Rosemarie 188 Zesen, Philipp von 20, 126, 251, 287, 335, 515, 547–553, 556–562, 640, 647, 655
JOHANN RIST EDITIONSBÄNDE Johann Anselm Steiger, Konrad Küster, Inge Mager (Hrsg.) Johann Rist / Johann Schop, Himmlische Lieder (1641/42) 2012. 649 S., 3 s/w Abb. Ln. ISBN 978-3-05-005055-3 · eBook PDF ISBN 978-3-05-005127-7 · eBook + Print ISBN 978-3-05-010004-3
Die Edition macht Johann Rists „Himmlische Lieder“ und damit ein wichtiges Segment der geistlichen Lyrik dieses bedeutenden Barockautors einschließlich der Vertonungen, die der Hamburger Ratsmusiker und Kantor Johann Schop (ca. 1590–1667) schuf, der germanistischen, hymnologischen, musik- und theologie-historischen Forschung textkritisch zuverlässig und reichhaltig kommentiert zugänglich. Johann Anselm Steiger, Konrad Küster (Hrsg.) Johann Rist, Neue Himmlische Lieder (1651) Musik von Andreas Hammerschmidt, Michael Jacobi, Jacob Kortkamp, Petrus Meier, Hinrich Pape, Jacob Praetorius, Heinrich Scheidemann, Sigmund Theophil Staden 2013. 480 S., 6 s/w Abb. Ln. ISBN 978-3-05-006279-2 · eBook PDF ISBN 978-3-05-006408-6 · eBook + Print ISBN 978-3-05-010279-5
Die hier erstmals sorgfältig historisch-kritisch edierten geistlichen Gedichte und Kompositionen Johann Rists bilden ein barockes Literatur- und Musikdenkmal ersten Ranges. Sie dokumentieren den Facettenreichtum der lutherischen Barockkultur im Hinblick auf deren theologische, frömmigkeitliche, literarische und musikalische Vitalität. Johann Anselm Steiger, Oliver Huck, Esteban Hernández Castelló (Hrsg.) Johann Rist / Martin Coler, Neue Hochheilige Passions-Andachten (1664) Kritische Ausgabe und Kommentar. Kritische Edition des Notentextes 2014. 571 S., 9 s/w Abb. Ln. ISBN 978-3-11-037379-0 eBook ePUB ISBN 978-3-11-038726-1 · eBook PDF ISBN 978-3-11-037647-0 · eBook + Print ISBN 978-3-11-037648-7
Die „Passions-Andachten“, die erstmals in historisch-kritischer Edition vorgelegt werden, sind Rists zwölfte Sammlung von geistlichen Liedern und zugleich sein letztes zu Lebzeiten veröffentlichtes geistliches Werk. Es zeugt sowohl von Rists fruchtbarer Kooperation mit dem Wolfenbütteler Hofkapellmeister Martin Coler als auch von einer herausragenden lyrischen Adaptation der facettenreichen lutherisch-barocken Passionstheologie und -frömmigkeit.
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