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German Pages 222 [226] Year 2015
Die Wirklichkeit der Geschichte
Wissenschaftstheoretische, mediale und lebensweltliche Aspekte eines (post-) konstruktivistischen Wirklichkeits begriffes in den Kulturwissenschaften
Geschichtstheorie Franz Steiner Verlag
Herausgegeben von Stefan Haas und Clemens Wischermann
Die Wirklichkeit der Geschichte Herausgegeben von Stefan Haas und Clemens Wischermann
Die Wirklichkeit der Geschichte Wissenschaftstheoretische, mediale und lebensweltliche Aspekte eines (post-) konstruktivistischen Wirklichkeits begriffes in den Kulturwissenschaften
Herausgegeben von Stefan Haas und Clemens Wischermann
Franz Steiner Verlag
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INHALTSVERZEICHNIS Stefan Haas/Clemens Wischermann Einleitung…………………………………………………………………….……7
I. Logik des Wirklichkeitsbegriffs Stefan Haas Theory Turn. Entstehungsbedingungen, Epistemologie und Logik der Cultural Turns in der Geschichtswissenschaft…...………………………..…11 Julian Aulke Spatial Turn(s). Die Wirklichkeiten des Raumes in der Neuen Kulturgeschichte………………………………………………………….45
II. Theoriebildung und Wirklichkeitsrepräsentation Thomas Welskopp “Eternal Sunshine on the Clueless Mind …”. Das historische Bewusstsein und die ‚Wirklichkeit‘………………………….…63 Thomas G. Kirsch Verlorene und gefundene Zeit. Ethnographie und die Frage nach der Gegenwart afrikanischer Vergangenheiten…………...…………………...…81
III. Lebensweltliche Wirklichkeit der Geschichtswissenschaft(-betreibenden) Clemens Wischermann Die historische „Wirklichkeit“ zwischen Schicksalhaftigkeit und Eigensinn….101 Ferdinand Fellmann Historisches Bewusstsein in der postmodernen Lebenswelt……………………113
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Inhaltsverzeichnis
Thomas Müller Die Wirklichkeit des Kranken. Medizinhistorische Wirklichkeitsrepräsentationen am Beispiel der Psychiatrie und ihrer Historiker/innen………127 Birgit Schwelling Multiple Wirklichkeiten der Geschichte. Das Interaktionsverhältnis zwischen Zeitgeschichte und Zeitzeugen in historischer Perspektive………….149 IV. Mediale Repräsentation und historische Wirklichkeit André Donk Die Wirklichkeiten der Wissenschaften im digitalen Zeitalter………………....165 Wolfgang Ernst Technophysikalische und symbolische Medienoperationen als Herausforderung der historischen Zeit……………………………...…………..185 Armin Heinen Technomorphie, Medialität und Geschichtlichkeit. Die „Wirklichkeiten“ der HistorikerInnen – oder – ANT als neuer Zugang zur Historiographiegeschichte?..................................................................................205
EINLEITUNG Stefan Haas / Clemens Wischermann Die Geschichte galt lange Zeit als empirische Wirklichkeitswissenschaft, die sich mit den handfesten Realitäten des vergangenen Lebens auseinandersetzte. Mit dem Cultural Turn der 1990er Jahre verschob sich jedoch der Fokus. Nicht mehr die vermeintlichen Realitäten, sondern die kulturellen und symbolischen Interpretationskonstrukte standen im Zentrum des Interesses. Wirklichkeit wurde nicht mehr als tatsächlich vorhanden vorgestellt, sondern als kulturell geformtes und symbolisch repräsentiertes menschliches Konstrukt. Nicht mehr von einer Wirklichkeit, sondern von mehreren handeln nun die Wissenschaften, die mit Geschichte befasst sind. Die Aufmerksamkeit verschob sich von den Einflüssen und Determinanten, die die eine Wirklichkeit auf die Welt der Menschen hatte, hin zu den Entstehungsund Konstruktionsbedingungen von Wirklichkeiten im Plural. Seit den 1990er Jahren macht sich eine Scheidelinie in der Scientific Community bemerkbar, die sich entlang der Frage auftut, ob es jenseits der kulturellen Konstrukte eine wirkmächtige Wirklichkeit gibt, die auch ohne symbolische Repräsentanz geschichtsbildend wirkt oder nicht. Und dort, wo eine solche angenommen wird, sind die methodischen Zugangsweisen zu dieser ebenso umstritten wie die Sache selbst. In jüngster Zeit ist eine Gegenbewegung spürbar. Die zunehmende Kritik am vermeintlich willkürlichen Charakter kultureller Konstruktionen führt zu Überlegungen nach einer (Re-)Materialisierung des Wirklichkeitsbegriffes. In diesen Dichotomien zwischen Konstruktion und Materialität, zwischen Kontingenz und Kausalität steht die mehrdeutige Frage nach der ‚Wirklichkeit der Geschichte‘ derzeit im Fokus theoretischer wie empirischer Debatten der verschiedenen, mit Geschichte und Geschichtlichkeit befassten Wissenschaften. Der vorliegende Band, der auf einer 2011 an der Universität Göttingen von den beiden Herausgebern durchgeführten Tagung basiert, will sich auf theoretischer und konzeptioneller Ebene der Frage nach dem Wirklichkeitsbegriff der mit Geschichte auf verschiedenste Art und Weise beschäftigten Wissenschaften widmen. Er wird sich dem Problemfeld auf drei Ebenen nähern: ‐ Welche konzeptionellen und theoretischen Traditionen und Diskurse sind in der heutigen Auseinandersetzung um den geschichtswissenschaftlichen Wirklichkeitsbegriff wirkmächtig und welche logische und empirische Überzeugungskraft haben diese noch? ‐ Wie kann nach dem Cultural Turn und nach den Auseinandersetzungen um eine postmoderne Geschichtswissenschaft eine schlüssige Begriffsdefinition von historischer Realität aussehen?
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Stefan Haas und Clemens Wischermann
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Wie lassen sich neue Konzepte in der empirischen Forschung operationalisieren und welche Folgen haben diese für die Zukunft der historischen Wissenschaften?
Der Band nähert sich dem Thema mit vier sich überschneidenden Diskursfeldern: (1) Logik des Wirklichkeitsbegriff Zwischen einem naiven Realismus historistischer Prägung und einem radikalen Konstruktivismus sind in der Geschichtswissenschaft unterschiedliche mehr implizite denn explizite Definitionen von historischer Wirklichkeit präsent. Die Beiträge des ersten Abschnittes gehen der Frage nach, wie die Cultural Turns die Geschichtswissenschaften verändert haben und wie im Anschluss an diese der Begriff Wirklichkeit in den historischen Wissenschaften präzisiert und argumentationslogisch prägnant formuliert werden kann. (2) Theoriebildung und Wirklichkeitsrepräsentation In Zeiten des Kalten Krieges war die Diskussion um Subjektivität/Parteilichkeit und Objektivität der Geschichtswissenschaft ein zentrales Element wissenschaftlicher, meist ideologisch präfigurierter Selbstverortungsdiskurse. Im Kontext des Cultural Turns ist es seit den 1990er Jahren opportun geworden, die Geschichtswissenschaft im Zwischenraum einer als unmöglich angenommenen reinen Objektivität und eines abgelehnten puren Subjektivismus zu verorten. Die Intersubjektivität wird in der Regel durch quellenkritische Verfahren angestrebt, zentral aber durch Diskussionen der theoretischen Basisannahmen abgesichert. Dieser Theory Turn hat weitreichende Auswirkungen auf die alltägliche Praxis der Geschichtswissenschaft und auf das Selbstverständnis ihrer Protagonistinnen und Protagonisten. Ob jedoch Theorie historische Wirklichkeit schafft oder diese nur erforschbar macht, ist weithin umstritten. Das zweite Feld widmet sich dieser Frage, in welchem Verhältnis Theorie zur Wirklichkeitsrepräsentation in den historischen Wissenschaften steht. (3) Lebensweltliche Wirklichkeit der Geschichtswissenschaft(-betreibenden) Theorien im Plural sind zum zentralen Handwerkszeug aktueller Geschichtsschreibung geworden. Jedoch lassen sich diese theoretischen Basisannahmen selten falsifizieren, schon gar nicht verifizieren. Pragmatische Argumente stehen meist im Zentrum der theoretischen Basisentscheidungen, die für ein Forschungsvorhaben getroffen werden. Übersehen wird häufig, dass sich hinter pragmatischen Entscheidungen auch lebensweltliche Entscheidungen verbergen. Welche Rolle die Lebenswelt der in den Wissenschaften agierenden Subjekte spielt, wird zumeist mit Verweis auf politische Entscheidungen diskutiert. Wo aber parteipolitische oder auch parteireligiöse Bindungen nicht mehr jene Bindekraft haben, die sie noch im 19. und frühen 20. Jahrhundert hatten, muss die Frage nach der lebensweltlichen Verstrickung des Wissenschaftlers und der Wissenschaftlerin selbst neu gestellt wer-
Einleitung
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den. Das dritte Feld des Bandes fragt danach, in welchem Verhältnis die Wirklichkeitskonstitution in den historischen Wissenschaften zu der lebensweltlichen Bindung ihrer Protagonisten steht. (4) Mediale Repräsentation und historische Wirklichkeit Die mediale Bedeutung von Wirklichkeitsgenerierung ist seit den Arbeiten der Toronto School of Communication, von Marshall McLuhan, Walter J. Ong, Eric Havelock etc., im Kontext eines postmodernen Konstruktivismus Allgemeinplatz geworden. Dennoch ist die Geschichtswissenschaft tendenziell immer noch eine Textwissenschaft, die größtenteils wissenschaftliche Texte über historische Texte verfasst. Was sich in einer zunehmend medialisierten und visualisierten Umwelt an diesem Verhältnis ändern könnte, ändern sollte und nicht ändern darf, ist Thema eines vierten Feldes, das sich mit dem Verhältnis von Medien und Wirklichkeit in der Praxis der historischen Forschung beschäftigt. Diese vier Felder von Fragen und Problemen lassen sich nicht isoliert betrachten, weswegen sie in den Beiträgen dieses Bandes sich immer wieder überschneiden. In ihrer Gesamtheit wollen sie zeigen, wie sehr der Wirklichkeitsbegriff sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten verändert und welche Herausforderungen diese Prozesse für die Geschichtswissenschaften in den kommenden Jahren darstellen. Der vorliegende Band will dafür eintreten, dass die kulturalistische Wende in den Geistes- und Sozialwissenschaften im Allgemeinen, in der Geschichtswissenschaft im Besonderen einen Theory Turn darstellt, der die Theoriereflexion in den Fokus empirischer Forschung stellt. Zugleich will er aber auch zeigen, dass diese Theoriebildung neben ihrer rational-logischen Seite immer auch an lebensweltliche Erfahrungen und Reflexionen gebunden ist. Gemeinsam stellen diese beiden Richtungen dann einen modifizierten Wirklichkeitsbegriff dar, der sich nicht zuletzt in einer höheren Sensibilität für die medialen Bedingungen der Generierung und Konstituierung von Wissen niederschlägt.
Stefan Haas
Clemens Wischermann
THEORY TURN Entstehungsbedingungen, Epistemologie und Logik der Cultural Turns in der Geschichtswissenschaft Stefan Haas Seit den späten 1980er Jahren haben die Cultural Turns die Geistes- und Sozialwissenschaften nachhaltig verändert. Kultur dient dabei als ‚Umbrella Term‘ für eine sich auf die Turns berufende Modifikation der Arbeits- und Argumentationspraxis. Mit den Cultural Turns entwickelt sich in den Geistes- und Sozialwissenschaften ein Korpus von Referenztexten, Problemfeldern, Denk- und Argumentationsweisen, die auf einer expliziten Theoriereflexion beruhen.1 Dabei integriert Theorie sowohl Elemente der Epistemologie und Wissenschaftstheorie als auch der Bildung von Einzelfälle übergreifenden Interpretations- und Narrationsmustern. Durch diesen ‚Theory Turn‘ entwickelt sich eine gemeinsame Sprache, in der sich die geistesund sozialwissenschaftlichen Disziplinen trotz der Disparität ihrer Forschungsthemen, -felder und -zeiträume miteinander verständigen können. Dieser Prozess ist international wie transdisziplinär grundlegend für die Arbeitsweise der genannten Fächergruppen. Nachdem der Cultural Turn Anfang der 1990er Jahre dort noch die Avantgarde dargestellt hat, ist er heute, zweieinhalb Jahrzehnte später, etablierter Mainstream.2 Trotz seiner immensen internationalen Bedeutung ist dieser Prozess selbst noch nicht untersucht worden. Eine metatheoretische Analyse der Spezifika der wissenschaftlichen Forschung in und nach den Cultural Turns steht noch aus. Im Folgenden soll dafür ein erster Ansatz geliefert werden, der zentral um den Begriff des ‚Theory Turns‘ als metatheoretischer Beschreibung der praxeologischen und epistemologischen Folgen der Cultural Turns konstruiert wird. Dazu bedarf es einerseits 1 2
Zu den Spielarten des Theoriebegriffs in diesem Kontext vgl. Stefan Haas: Theoriemodelle der Zeitgeschichte, in: Frank Bösch (Hg.): Zeitgeschichte. Konzepte und Methoden. Göttingen 2012, S. 67–83. Ein sehr guter erster Überblick über die Forschung bei Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2006. Grundlegend im Kontext der Geschichtswissenschaft war Lynn Avery Hunt (Hg.): The new cultural history. Berkeley/Calif. 1989. Vgl. auch Victoria E. Bonnell/Richard Biernacki (Hg.): Beyond the cultural turn. New directions in the study of society and culture. [Papers presented at a conference held April 26–27, 1996, in California]. Nachdr. Berkeley 2003; Lynn Avery Hunt: Geschichte jenseits von Gesellschaftstheorie, in: Christoph Conrad (Hg.): Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion, Stuttgart 1994, S. 98–122. Lyndal Roper: Jenseits des Linguistic Turn, in: Historische Anthropologie 7 (1999), S. 452–466.
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der begriffslogischen Analyse der Kernelemente der Post-Cultural-Turns-Wissenschaften, andererseits einer historisch-narrativen Rekonstruktion, die die Entwicklungsdynamik der Argumentationsmuster darstellt und analysiert. Die Cultural Turns sind ein transdisziplinäres Unternehmen, auch wenn im Folgenden aufgrund der Rahmung des Beitrages im vorliegenden Band die Entwicklung der Geschichtswissenschaft im Fokus steht.3 Aber keine disziplinäre Entwicklung kann man heute mehr isoliert betrachten. Zu sehr sind diese mit anderen Fächern verwoben, referieren auf Texte unterschiedlicher Herkunft und adaptieren vermeintlich fachfremde Theoreme und Epistemologeme in den jeweiligen eigenen disziplinären Forschungskontext. Vielfach ist es gerade dieses Netzwerk von Referenzen und Bezügen, die jene empirischen Forschungen, die sich als von den Cultural Turns informiert aufstellen, von anderen unterscheiden.4 Dies hat eine der zentralen Kritikpunkte an dieser Entwicklung begründet: Die vermeintliche Unfähigkeit, einzelne Disziplinen noch als solche zu definieren und eindeutig abzugrenzen. Tatsächlich wird innerhalb der Cultural Turns die Überschreitung von Grenzen positiver bewertet als die Entwicklung einer argumentationslogischen Möglichkeit, diese eindeutig zu bestimmen.5 Daneben hat auch die Metapher des ‚Turns‘ für viel Verwirrung gesorgt und manch einer sieht die Geisteswissenschaften im freien Strudeln, verursacht durch immer wieder sich ablösende Kehr-und Wendebewegungen. Dabei ist Kehre wörtlich zu verstehen, und zwar in einem epistemologischen Sinn. Wende oder Turn meint epistemologische Umkehrung der bisherigen Argumentationspraxis. Paradigmatisches Vorbild hierfür ist die Kopernikanische Wende. In ihr wird die Erde nicht mehr als von der Sonne umrundet, sondern selbst als sich um den erdnahen 3
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Zur Wirkung der Cultural Turns in weiteren Disziplinen vgl. u.a. Terrence J. McDonald (Hg.): The historic turn in the human sciences, Ann Arbor 1996; Andreas Reckwitz: Die Krise der Repräsentation und das reflexive Kontingenzbewusstsein. Zu den Konsequenzen der post-empiristischen Wissenschaftstheorien für die Identität der Sozialwissenschaften, in: Thorsten Bonacker (Hg.), Die Ironie der Politik. Über die Konstruktion politischer Wirklichkeiten, Frankfurt/M. 2003, S. 85–103; Christian Berndt/Robert Pütz (Hg.): Kulturelle Geographien. Zur Beschäftigung mit Raum und Ort nach dem Cultural Turn, Bielefeld 2007. „Informiert“ ist ein Begriff, der in jüngster Zeit häufiger verwendet wird, um eine Forschungspraxis zu bezeichnen, die Elemente der Cultural Turns aufgreift, ohne diese a priori dem jeweiligen empirischen Forschungsfeld aufzustülpen. Mit diesem Begriff soll der Konstruktionscharakter von Forschung und damit seine Theorieabhängigkeit stärker herabgestuft werden zugunsten einer stärkeren Fokussierung auf die quellentechnischen und empirischen Bedingungen des einzelnen Forschungsvorhabens. Grenzen selbst spielen eine zentrale Rolle innerhalb der neuen kulturwissenschaftlichen Ansätze, wobei für die wissenschaftstheoretische Reflexion das Überschreiten von Grenzen besonders wichtig ist. Einschlägig ist hier u.a. das Thema Travelling Concepts bzw. Travelling Theories oder der sogenannte Translational Turn. Vgl. u.a. Edward W. Said: Traveling Theory, in: ders., The World, the Text, and the Critic. Cambridge/Mass. 1983, S. 226–247; GudrunAxeli Knapp: Traveling Theories. Anmerkungen zur neueren Diskussion über Race, Class, and Gender, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 16 (2005), S. 88–110; Birgit Neumann/Ansgar Nünning (Hg.): Travelling Concepts for the Study of Culture, Berlin 2012; Doris Bachmann-Medick: Translation. A Concept and Model for the Study of Culture, in: ebd., S. 23–44.
Der Theory Turn in der Geschichtswissenschaft
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Stern drehend interpretiert. Auch Kants transzendentalphilosophischer Ansatz ist eine solche Wende. Es wird nicht mehr danach gefragt, was wir erkennen, sondern was die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis sind. Dies verschiebt die Aufmerksamkeit weg von der Außenwelt hin zur metaphilosophischen Reflexion analytischer Denk- und Argumentationslogiken. Schließlich ist der Linguistic Turn, der als einer der Basistheoreme der Cultural Turns unten ausführlich behandelt wird, eine Wende in diesem Sinn: An die Stelle der Frage, was wir erkennen, wird die Frage gerückt, wie Sprache die Erkenntnismöglichkeiten präfiguriert und damit letztlich bestimmt. Diese Definition eines Turns als einer epistemologischen Wende lässt sich im Rahmen der Geisteswissenschaften auch als normatives Argument lesen. Ein Turn im Kontext der Cultural Turns ist nur dann ein solcher, wenn er eine epistemologische Umkehrung der Argumentation darstellt – wobei dann jeweils zu fragen ist, gegen was oder wen diese Wende gerichtet ist. Nicht jede geringfügige Modifikation des Gegenstandskanons der Geisteswissenschaften ist daher ein Turn. Auch wenn dies sich manchmal so liest, weil es den Protagonisten erlaubt, mehr mediale Aufmerksamkeit für sich zu beanspruchen. Letztlich entscheidend ist die (epistemo)-logische Darstellbarkeit eines Turns als Umkehrung in der erkenntnistheoretischen Grundlegung der metaphilosophischen Annahmen einer empirischen Forschung. Genau weil die Cultural Turns diesen weitreichenden Anspruch haben, wurden sie von Anfang an stark bekämpft. Ihre Forschungsgegenstände wie Rituale, Symbole oder körperliche Praktiken wurden als nebensächlich dargestellt und ihre Fähigkeit, weitreichende sinnvolle Synthesen zu formulieren, bestritten.6 Dabei begann alles mit einem Anschluss an genau jene soziologistischen Forschungsansätze, von denen später der vehementeste Gegenwind formuliert wurde. DIE SCHWELLE In den 1980er Jahren wurden in den Geistes- und Sozialwissenschaften Konzepte, die den dominierenden Strukturalismus überwinden wollten, zum vorherrschenden Diskurs.7 In den einzelnen Wissenschaften gestaltet sich diese Tendenz unterschiedlich: In den Literatur- und Kunstwissenschaften wurden zunehmend populäre
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Hans-Ulrich Wehler: Die Herausforderung der Kulturgeschichte, München 1998. Wie bei allen zeitlichen Zuordnungen ist auch diese eine, die sich auf das genannte Phänomen als ein breiter anerkanntes richtet. Natürlich lassen sich Elemente der Alltagsgeschichte bereits in den 1970er Jahren, teilweise gar noch früher finden. Bsp. Carlo Ginzburg: Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, Frankfurt/M. 1979 (italienische Erstausgabe 1976); oder das 1975 im französischen Original erschienene Emmanuel Le Roy Ladurie: Montaillou. Ein Dorf vor dem Inquisitor, Berlin 1980.
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Medien sowie bislang als außerhalb des klassischen Kanons stehende Kulturphänomene thematisiert („high versus low culture“)8, in der Soziologie wird Kultursoziologie zu einer wieder entdeckten Subdisziplin9, in den historischen Wissenschaften wird die Geschichte des Alltags und der ‚kleinen Leute‘ thematisiert.10 Man entdeckt, wie die Zeitschrift ‚Der Alltag‘ im Untertitel formulierte, „Die Sensationen des Gewöhnlichen“.11 Das Alltägliche, Normale, Durchschnittliche erschien plötzlich nicht mehr als nebensächlich, dem man keine wissenschaftliche Aufmerksamkeit zu schenken brauchte. Dies änderte sich nun, nicht zuletzt, weil der Alltag sich sehr wohl als gestalteter und damit variabler Lebensbereich herausstellte und damit paradigmatisch relevante Untersuchungen erlaubte. In dieser historischen wie kulturellen Variabilität erlaubte seine Erforschung, verborgene Substrukturen gesellschaftlicher Wirklichkeitsgestaltung herauszuarbeiten. Und nicht zuletzt entdeckten die politischen Aktivisten, nachdem sich die metatheoretisch unterfütterten Gegenentwürfe der 1960er und -70er Jahre in ihrer lebensweltlichen Überzeugungskraft abgerieben hatten, dass sich im Kleinen sehr wohl kritisches Handeln realisieren ließ. Dies erklärt die an einigen Stellen vorhandene inhaltliche Nähe alltagswissenschaftlicher und ökologisch-alternativer politischer Aktionen und verdeutlicht damit, dass hier ein in der Theoriebildung der Zeit bestehender Zusammenhang existiert.12
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U.a. William J.T. Mitchell: Iconology: Image, Text, Ideology, Chicago 1986; Kirk Varnedoe/Adam Gopnik: High & low. Moderne Kunst und Trivialkultur, München 1990. 9 Andreas Reckwitz (Hg.): Interpretation, Konstruktion, Kultur. Ein Paradigmenwechsel in den Sozialwissenschaften, Opladen 1999. Frühe Textsammlungen u.a. Ann Gray/Jim McGuigan (Hg.): Studying culture. An introductory reader, London/New York 1993. In Deutschland gab es den Versuch, Kultursoziologie neu zu begründen, besonders seit den späten 1970er Jahren: Wolfgang Lipp/Friedrich H. Tenbruck: Zum Neubeginn der Kultursoziologie, in: KZfSS 31 (1979), S. 393–398; Friedrich H. Tenbruck: Die Aufgaben der Kultursoziologie, in: KZfSS 31 (1979), S. 399–421; Hans Peter Thurn: Kultursoziologie – Zur Begriffsgeschichte der Disziplin, in: KZfSS 31 (1979), S. 422–449; ders.: Der Mensch im Alltag. Grundrisse einer Anthropologie des Alltagslebens, Stuttgart 1980; ders.: Perspektiven der Kultursoziologie. Zur Rekonstruktion ihres Problemfeldes, in: Heine von Alemann/Hans Peter Thurn (Hg.), Soziologie in weltbürgerlicher Absicht, Festschrift René König, Opladen 1981, S. 11–44; ders.: Gärtner und Totengräber. Zur Paradigmatik der Kultursoziologie, in: KZfSS 37 (1985), S. 60–74; KarlSiegbert Rehberg: Kultur versus Gesellschaft? Anmerkungen zu einer Streitfrage in der deutschen Soziologie, in: Friedhelm Neidhardt/M. Rainer Lepsius/Johannes Weiss (Hg.), Kultur und Gesellschaft. René König, dem Begründer der Sonderhefte zum 80. Geburtstag gewidmet (KZfSS Sonderhefte Bd. 27), Opladen 1982, S. 92–115; Walther L. Bühl: Kulturwandel. Für eine dynamische Kultursoziologie, Darmstadt 1987. Eine kritische Auseinandersetzung, erschienen zum Ende der ersten Hochphase der jüngeren Kultursoziologie, liefert Helmut Berking/Richard Faber (Hg.): Kultursoziologie – Symptom des Zeitgeistes? Würzburg 1989. 10 Alf Lüdtke (Hg.): Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt/M. 1989. 11 Die Zeitschrift „Der Alltag. Sensationen des Gewöhnlichen“ erschien von 1977 bis 1997. 12 Zu denken ist hier etwa an die Überzeugung der ökologischen Bewegungen, dass auch kleine Veränderungen politisch etwas bewirken können, was eine Parallel aufweist zur Überzeugung eines Teils der Alltagsgeschichte und der Geschichte von unten, dass widerständiges Verhalten etwa im Umgang mit dem im 19. Jahrhundert zunehmend sozialdisziplinierend wirkenden Fab-
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Die Aushöhlung des Strukturdeterminismus ist in allen alltagswissenschaftlichen Ansätzen aber entscheidend für die weitere Entwicklung der Theoriebildung. Wenn es möglich wird, dass ‚kleine Leute‘ widerständig gegen Strukturen agieren können, ihre eigene Weltdeutung als „Eigen-Sinn“13 gegen Strukturen richten und erfolgreich etablieren können, dann lassen sich Sinnstrukturen in historischen wie gegenwärtigen Wirklichkeiten nicht mehr über die Untersuchung struktureller Determinanten herausarbeiten. Vielmehr müssen diese in einem differenzierteren methodischen Verfahren beschrieben, analysiert und interpretiert werden. Dazu orientierten sich große Teile des alltagswissenschaftlichen Diskurses an der Ethnologie als Leitwissenschaft.14 Tatsächlich war Alltag mehr als eine Teildisziplin, denn Alltag ließ sich sehr wohl als Kategorie begreifen. Der große Gegner der Alltagsgeschichte war die Historische Sozialwissenschaft, obwohl beide soziale Phänomene in den Mittelpunkt stellten und sich so vom traditionellen Historismus abgrenzten.15 Die Historische Sozialwissenschaft untersuchte Strukturen der historischen Wirklichkeit.16 Der Alltag war für sie nur die Bühne, auf der die Funktionsweisen der Strukturen aufgeführt wurden. Dies wiederum begründete, dass man ihm wissenschaftlich nicht allzu viel Aufmerksamkeit entgegenbringen musste.17 Diese richtete sich vornehmlich auf die sozioökonomischen Strukturen und ihre Dynamik in einer historisch begrenzbaren gesellschaftlichen Formation. Die Alltagsgeschichte kritisierte nun, dass der einzelne Mensch in den Strukturen verloren gehe und zur Marionette übergeordneter Prozesse werde, auch wenn sich dies lange Zeit nicht zu einem Paradigmenwechsel verdichtete. Vielmehr wurde es unter dem Begriff „Sozialgeschichte
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rikarbeitszeit ein bedeutsames Forschungsfeld ist. Leider ist dieser Zusammenhang wissenssoziologisch bislang nicht erforscht worden. Vgl. Lutz Niethammer: Das kritische Potential der Alltagsgeschichte, in: Geschichtsdidaktik 10 (1985), S. 245-247. Alf Lüdtke: Eigen–Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg 1993. Einschlägig: Hans Medick: Missionare im Ruderboot? Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 10 (1984), S. 295319: ders.: Vom Interesse der Sozialhistoriker an der Ethnologie. Bemerkungen zu einigen Motiven der Begegnung von Geschichtswissenschaft und Sozialanthropologie, in: Hans Süssmuth (Hg.), Historische Anthropologie. Der Mensch in der Geschichte, Göttingen 1984, S. 49-56. Ute Daniel: Kultur und Gesellschaft. Überlegungen zum Gegenstandsbereich der Sozialgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 19 (1993), S. 69-99. Zur jüngst einsetzenden Historisierung der Historischen Sozialwissenschaften vgl. im vorliegenden Band den Beitrag von Thomas Welskopp sowie ders.: Die Sozialgeschichte der Väter. Grenzen und Perspektiven der Historischen Sozialwissenschaft. In: Geschichte und Gesellschaft 24 (1998), S. 173–198. Eine sehr nützliche Sammlung von Originaltexten ist Bettina Hitzer/Thomas Welskopp (Hg.): Die Bielefelder Sozialgeschichte. Klassische Texte zu einem geschichtswissenschaftlichen Programm und seinen Kontroversen. Bielefeld 2010. Hans-Ulrich Wehler: Königsweg zu neuen Ufern oder Irrgarten der Illusion? Die westdeutsche Alltagsgeschichte: Geschichte "von innen" und "von unten", in: Franz-Josef Brüggemeier/Jürgen Kocka, Kontroversen um die Alltagsgeschichte, Hagen 1985, S. 17-47.
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in der Erweiterung“18, seltener auch unter „Neue Sozialgeschichte“ verhandelt.19 Für die Alltagsgeschichte war Alltag die Ebene, auf der Strukturen nicht nur passiv angeeignet, sondern auch von den einzelnen Menschen ihrem Lebenshorizont angepasst und dabei verändert werden konnten. Der Alltag erschien mithin trotz seiner Invariabilität, seiner vermeintlichen Konstanz, seiner Undynamik, was in dem Begriff der ‚Alltäglichkeit‘ zusammengefasst werden kann, als Ort, an dem kleine Verschiebungen struktureller Sinnvorgaben stattfanden. Hier realisierte sich der Sinn sozialer Existenz, der tatsächlich geschichtswirksam werden konnte. In dieser Form schrieb der italienische Historiker Carlo Ginzburg ein Buch mit dem Titel „Der Käse und die Würmer“, in dem er anhand von Inquisitionsprotokollen das Weltbild eines einfachen italienischen Müllers um das Jahr 1600 rekonstruierte.20 Natalie Zemon Davis richtete ihren Blick auf die Lebenswelt von Bertrande de Rols, die ihren Ehemann Martin Guerre erst verlor und dann einen Betrüger als solchen akzeptierte, um ihre gesellschaftliche Stellung in der Dorfgemeinschaft des 16. Jahrhunderts zurückzugewinnen.21Alf Lüdtke beschrieb mit dem Begriff des ‚Eigen-Sinns‘ die Formen, in denen Fabrikarbeiter in der Industrialisierung sich strukturelle Vorgaben wie Verhaltensordnungen am Arbeitsplatz ‚zu eigen‘ machten, ihrer Lebenswelt anpassten und damit Neues schufen – und sich nicht als willige Agenten übergeordneter struktureller Prozesse entpuppten.22 Im Kontext der Alltagsgeschichte der 1980er Jahre sind verschiedene Ansätze entwickelt worden, den Begriff des Alltags zu formulieren. Mit dem Begriff der ‚Lebenswelt‘ schloss man an die phänomenologische Philosophie Edmund Husserls an.23 Besonders in seiner Anwendung auf sozialtheoretische Fragen bei Alfred Schütz und dessen Weiterentwicklung im Werk von Berger und Luckmann wurden phänomenologische Ansätze im Kontext der an Alltäglichkeit interessierten Wissenschaften thematisiert.24 Die Ethnomethodologie steht stellvertretend für die zunehmende Orientierung an ethnologischen Forschungen, deren Adaption für die Geschichtswissenschaft eines der großen Verdienste der Alltagsgeschichte war.25 18 1988 war „Sozialgeschichte in der Erweiterung“ der Titel des dritten Heftes des 14. Jahrgangs der Zeitschrift ‚Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft‘. 19 Bsp. James B. Gardner/George Rollie Adams (Hg.): Ordinary people and everyday life. Perspectives on the New Social History, Nashville/Tenn. 1983. 20 Ginzburg, Der Käse und die Würmer. 21 Natalie Zemon Davis: Le retour de Martin Guerre, Paris 1982. 22 Seine Beiträge zusammengefasst in Alf Lüdtke, Eigen-Sinn. 23 Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, Hamburg 2012 (Erstausgabe 1936). 24 Alfred Schütz: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Wien 1932; ders./Thomas Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, Konstanz 2003; Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt/M. 1969 (Amerikanische Erstausgabe 1966). 25 Ausgangswerk ist Harold Garfinkel: Studies in Ethnomethodology, Englewood Cliffs NJ. 1967; eine für die 1980er Jahre typische Adaption in den damaligen deutschen Diskurskontext ist Werner J. Patzelt: Grundlagen der Ethnomethodologie. Theorie, Empirie und politikwissenschaftlicher Nutzen einer Soziologie des Alltags, München 1987.
Der Theory Turn in der Geschichtswissenschaft
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Im Begriff der Historischen Anthropologie wird bis heute Alltagsgeschichte fortgeführt.26 Ein weiteres zentrales Stichwort in diesem Kontext war die sogenannte „Geschichte von unten“, in der vor Ort in Form von Bürgerinitiativen und lokalen Arbeitsgruppen die Geschichte der eigenen Lebenswelt in einer Kooperation von Fachleuten und Einwohnern erforscht wurde.27 Bekanntestes Beispiel dieser Bewegung ist das „Hochlarmarker Lesebuch“.28 In diesem ist die Geschichte eines Industrieorts von den Menschen, die diese Geschichte als Arbeiter und Arbeiterinnen erlebt und gestaltet haben, selbst dargestellt worden. Ähnlich funktionierte die in Skandinavien entstandene „Dig where you stand“ (Grabe-wo-du-stehst) Bewegung.29 Der schwedische Journalist Sven Lindqvist publizierte unter diesem Titel Anweisungen besonders an Menschen aus der Arbeiterbewegung, sich ihrer eigenen Geschichte bewusst zu werden und sich mit dieser vor Ort, und eben nicht in den abstrakten Gefilden klassischer politischer Entscheidungszentren, auseinanderzusetzen. Weitere, zu ihrer Zeit intensiv diskutierten Definitionsversuche sahen im Alltag eine besondere Form historischer Zeit, insofern sie als kleinste permanente Repetitionseinheit gelesen werden konnte (Peter Borscheid)30, oder – im Rahmen der neomarxistischen Theorie – eine notwendige Rekreationsphase im Produktionsprozess (Agnes Heller)31. In den 1980er Jahren resultierte das Interesse an der Alltagsgeschichte aber nicht nur aus ihrem konzeptionellen Potential. Alltagshistorische Bücher waren 26 Zur Diskussion um den Begriff in den 1980er Jahren vgl. exemplarisch Detlev Peukert: Neuere Alltagsgeschichte und Historische Anthropologie, in: Hans Süssmuth (Hg.), Historische Anthropologie. Der Mensch in der Geschichte, Göttingen 1984, S. 57-72. 27 Hubert Christian Ehalt (Hg.): Geschichte von unten. Fragestellungen, Methoden und Projekte einer Geschichte des Alltags, Wien/Köln/Graz 1984; Gerhard Paul/Bernhard Schoßig (Hg.): Die andere Geschichte. Geschichte von unten, Spurensicherung, ökologische Geschichte, Geschichtswerkstätten, Köln 1986; Bernd Jaspert (Hg.): Geschichte von unten. Modelle alternativer Geschichtsschreibung, Hofgeismar 1990. Auch für einzelne Forschungsfelder war der Ansatz relevant, bsp. Roy Porter: The Patient's View. Doing Medical History from below, in: Theory and Society 14 (1985), S. 175–198. Siehe auch Hannes Heer/Volker Ullrich (Hg.): Geschichte entdecken. Erfahrungen und Projekte der neuen Geschichtsbewegung, Reinbek 1985. Zu den Geschichtswerkstätten vgl. exemplarisch Volker Böge (Hg.): Geschichtswerkstätten gestern, heute, morgen. Bewegung, Stillstand, Aufbruch, München 2004. 28 Hochlarmarker Lesebuch. Kohle war nicht alles. 100 Jahre Ruhrgebietsgeschichte; Bergarbeiter und ihre Frauen aus Recklinghausen-Hochlarmark haben ihre Geschichte aufgeschrieben, Oberhausen 1981. 29 Sven Lindqvist: Grabe wo du stehst. Handbuch zur Erforschung der eigenen Geschichte, Bonn 1989 (Erstausgabe 1978 unter dem Titel Gräv där du står in Schweden erschienen). 30 Peter Borscheid: Plädoyer für eine Geschichte des Alltäglichen, in: ders./Hans J. Teuteberg (Hg.), Ehe, Liebe, Tod. Zum Wandel der Familie, der Geschlechts- und Generationsbeziehungen in der Neuzeit, Münster 1983, S. 1–14; ders.: Alltagsgeschichte – Modetorheit oder neues Tor zur Vergangenheit? In: Wolfgang Schieder/Volker Sellin (Hg.), Sozialgeschichte in Deutschland. Entwicklungen und Perspektiven im internationalen Zusammenhang, Bd. 3, Soziales Verhalten und soziale Aktionsformen in der Geschichte, Göttingen 1987, S. 78–100. 31 Agnes Heller: Alltag und Geschichte. Zur sozialistischen Gesellschaftslehre, Neuwied 1970; dies.: Das Alltagsleben. Versuch einer Erklärung der individuellen Reproduktion, Frankfurt/M. 2 1981.
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Bestseller auf dem Buchmarkt.32 Das besondere Interesse an der Alltagsgeschichte, das Interesse auch an der materiellen Kultur, resultierte zum einen aus der größeren Anschaulichkeit, mit der man Geschichte bearbeiten konnte. Viele hielten dies für eine Notwendigkeit, da von nicht wenigen die abstrakten Formen der Thematisierung der Vergangenheit in der Strukturgeschichte als zu unanschaulich abgelehnt wurden. Nicht zuletzt war es die Verwendung von Theorien im Sinne der Adaption sozialwissenschaftlicher Modelle.33 Vielen klassisch geschulten Geschichtswissenschaftlern und Geschichtsinteressierten erschien es schwierig, sich mit Texten der Bielefelder Schule zu beschäftigen – obwohl gerade diese Theorieorientierung einen zentralen Modernisierungsschub innerhalb der westdeutschen Geschichtswissenschaft initiierte.34 Ein weiterer wichtiger Grund war aber auch, dass dem im Übergang von der modernen zur postmodernen, von der industriellen zur postindustriellen Kultur lebenden Menschen der 1980er Jahre die Alltagswelt des vormodernen und modernen Menschen zunehmend fremd wurde. Der Alltag wurde nicht als das Naheliegende thematisiert, sondern als das Fremde, das Andere. Diese Distanz, diese Differenz, ist einer der Gründe, warum die Alltagsgeschichte letztlich ein postmoderner Ansatz war und sich von dem auf Identität setzenden Denken des Historismus und der Historischen Sozialwissenschaften abgrenzte. Allerdings muss man dabei zwei politisch unterschiedlich motivierte Richtungen innerhalb der Alltagsgeschichte unterscheiden. Stand die eine, zu der auch der oben genannte Alf Lüdtke zählt, im Kontext einer linksliberalen, in den 1980er Jahren zunehmend alternativ orientierten Geschichtsschreibung, so gab es auch eine konservative Alltagsgeschichte. Deren Ziel war es, den Übergang von der Vormoderne zur Moderne nicht nur als Geschichte eines Gewinns an Demokratisierung, Selbstbestimmung und liberalen
32 Beispiele hierfür sind Alain Corbin: Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs, Frankfurt/M. 1988; sowie die oben genannten Bücher von Le Roy Ladurie (1980) oder Davis (1982). 33 Hans-Ulrich Wehler: Modernisierungstheorie und Geschichte, Göttingen 1975; ders.: Anwendung von Theorien in der Geschichtswissenschaft, in: ders. (Hg.): Historische Sozialwissenschaft und Geschichtsschreibung. Studien zu Aufgaben und Traditionen deutscher Geschichtswissenschaft. Göttingen 1980, S. 206–223; Jürgen Kocka: Theorien in der Geschichtswissenschaft, in: Jürgen Kocka/Konrad Repgen/Siegfried Quandt, Theoriedebatte und Geschichtsunterricht. Sozialgeschichte, Paradigmawechsel und Geschichtsdidaktik in der aktuellen Diskussion. Paderborn 1982, S. 7–28.zur neueren Bewertung vgl. Chris Lorenz: Wozu noch Theorie der Geschichte? Über das ambivalente Verhältnis zwischen Gesellschaftsgeschichte und Modernisierungstheorie. In: Volker Depkat/Matthias Müller/Andreas Urs Sommer (Hg.): Wozu Geschichte(n)? Geschichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie im Widerstreit. Stuttgart 2004, S. 117–143. 34 Entsprechend wurde auch im Kontext der Alltagsgeschichte deren ‚Theoriefähigkeit‘ in den 1980er Jahren breit diskutiert, u.a. Detlev Peukert: Ist die neuere Alltagsgeschichte theoriefeindlich? in: Hertha Nagl-Docekal/Franz Wimmer (Hg.), Neue Ansätze in der Geschichtswissenschaft. Eine philosophisch-historische Tagung, Wien 1984, S. 7-17; Reinhard Sieder: Zur Theoriebedürftigkeit der neuen Alltagsgeschichte, in: ebd., S. 24-41.
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Freiheitsrechten zu lesen, sondern die Welt zu beschreiben, die „wir verloren haben“.35 Die Alltagsgeschichte entstand in einer politischen Kultur, die noch deutlich von einer Rechts-Links-Teilung geprägt war und deren Konzepte immer auch Reaktionen auf die Reformbewegungen der 1960er Jahre gewesen sind.36 In der Strukturgeschichte wurde der Begriff ‚Gesellschaft‘ zu einem allumfassenden Paradigma im Sinne einer Erkenntnis- und Seinskategorie: Kunst, Musik und Literatur ließen sich unter gesellschaftlichen Aspekten untersuchen. Es wurde nach den sozioökonomischen Produktionsbedingungen von Kunst und dem sozialen Status des Künstlers in einer historischen Gesellschaft gefragt. An die Stelle der ästhetischen Produktion traten Fragen nach der gesellschaftlichen Rezeption von Kunstwerken.37 Alle Untersuchungsgegenstände der historischen Wissenschaften ließen sich nach ihren gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und konstituierenden sozioökonomischen Einflussfaktoren untersuchen. Gesellschaft war damit eine universelle Kategorie, die eine umfassende und systematisch kohärente Aufschlüsselung von Wirklichkeit erlaubte. Mit dem Aufkommen alltagswissenschaftlicher Ansätze wurde dieser Anspruch unterminiert, zumindest dort, wo Alltag mehr war als ein bloßer neuer Gegenstands- und Themenbereich. Alltäglichkeit wurde als wirklichkeits- und geschichtskonstituierender Faktor thematisiert. Die bislang dominierenden sozialwissenschaftlichen Ansätze in den Geisteswissenschaften gerieten in eine Krise ihres weitreichenden, durchaus hegemonial verstandenen Erklärungsanspruchs. Aber zu einer umfassenden Kategorie, die einen analogen Anspruch zu jenem des Soziologismus als einer die Geisteswissenschaften im allgemeinen und die Geschichtswissenschaft im besonderen fundierenden Theorie des Sozialen formulierte, konnte sich der Begriff Alltag nicht entwickeln. Zwar konnte man einen Alltag der Politik, der Wirtschaft oder des Sozialen ausmachen. Jenseits des Alltäglichen im engeren Sinn, das den Gegenstand der Alltagsgeschichte definierte, wurde Alltag aber keine universell problemerschließende Kategorie. Alltagsgeschichte bot kein Paradigma im ursprünglichen Sinn des Wortes als eines Beispiels zur Lösung von Problemen, an dem man sich in vielfältigsten Feldern hätte orientieren können. Daher war die Wende zur Alltagsgeschichte auch nicht wirklich ein Turn in der oben definierten Bedeutung. Sie bereitete aber einen solchen vor. Gesucht wurde ein Konzept, das weit mehr als das alltagswissenschaftliche eine neue Syntheseleistung erbringen konnte und die Antinomien, die sich im strukturdeterministischen Ansatz wissenschaftstheoretisch als auch lebensweltlich mittlerweile herausgestellt
35 Dieses Vorhaben konnte anschließen an Peter Laslett: The World We Have Lost: England Before the Industrial Age; New York 1965–1966; und ders.: The World We Have Lost. Further Explored, London 1983. Bezeichnenderweise erschien die deutsche Übersetzung 1988 unter dem Titel „Verlorene Lebenswelten“. 36 Um diese These beweisen zu können bedarf es der noch nicht angegangenen Historisierung der Alltagsgeschichte. 37 Zur Rezeptions- und Wirkungsästhetik vgl. Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 1976; Hans Robert Jauss: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt/M. 1982.
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hatten, zu überwinden versprach. Als Begriff, der letztlich die weitreichenden Ansprüche an ein kohärentes Begründungskonzept geistes- und sozialwissenschaftlicher Forschung legitimieren konnte, fand ab den späten 1980er Jahren vor diesem Hintergrund der – historisch nicht unbelastete – Begriff der Kultur Einlass in die wissenschaftstheoretischen Diskurse.38 LINUGISTIC TURN UND HERMENEUTIC TURN ALS CULTURAL TURN IM ENGEREN SINN Der Cultural Turn im engeren Sinn, der die Wendung zu einer ‚Neuen‘ Kulturwissenschaft bzw. in unserem Fall einer ‚Neuen Kulturgeschichte‘ darstellte39, geschah um das Jahr 1990 – mit den rückblickend üblichen Vorläufern und Vorgeschichten. Aber zu diesem Zeitpunkt waren es nicht nur einzelne Modifikationen, denen ein Kontext fehlte, sondern Kultur wurde bei einer kritischen Masse von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen zu einem vielversprechenden neuen ‚umbrella term‘. Er versprach, nicht nur unterschiedliche Gegenstände synthetisieren zu können, sondern auch das sich ausdifferenzierende Feld der Interdisziplinarität handhabbar zu machen. Seine Vertreter und Vertreterinnen waren zwar immer noch Avantgarde und einer Fülle von Anfeindungen ausgesetzt. Aber es wurde in den 1990er Jahren immer deutlicher, dass hier sich eine Konzeption entwickelte, die eine ganze Fülle von Problemen zu lösen vermochte – und eine breite Phalanx an spannenden und weiterführenden Arbeiten initiieren konnte. Dass gerade der Begriff ‚Kultur‘ zur neuen Integrationskategorie wurde, erschien in den frühen 1980er Jahren noch als eine unwahrscheinliche Geschichte. ‚Sinn‘ und ‚Bedeutung‘ hätten näher gelegen, aber „History of Meaning“ klingt nicht unbedingt nach einem Dach, unter dem sich die historischen Wissenschaften neu über ihre Gemeinsamkeiten verständigen konnten. Kultur war dagegen ein eingeführter Begriff, was ihm den nötigen Spielraum verschaffte, um mit den unterschiedlichsten Inhalten gefüllt zu werden – häufig eine notwendige Vorbedingung um eine neue Synthesekategorie populär zu machen. Und gleichzeitig waren Ende der 1980er Jahre im öffentlichen Diskurs einige offene Stellen entstanden, die mit
38 Die Affinität der Begriffe Alltag und Kultur war bereits in den 1980er Jahren stellenweise gegeben. Aber auf der Suche nach einer neuen Synthesekategorie erschienen Mischformen wie beispielsweise der Begriff der „Volkskultur“ vielen als nicht weiterführend. Bsp. für die Verwendung dieses Begriffs ist u.a. Richard van Dülmen/Norbert Schindler: Volkskultur. Zur Wiederentdeckung des vergessenen Alltags 16.–20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1984. Vgl. allg. zum Zusammenhang der Begriffe Alltag und Kultur Ende der 1980er Jahre u.a. Hans-Georg Soeffner (Hg.): Kultur und Alltag, Göttingen 1988; ders.: Auslegung des Alltags - Der Alltag der Auslegung. Zur wissenssoziologischen Konzeption einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik, Frankfurt/M. 1989. 39 Zur ‚Älteren Kulturgeschichte‘ siehe Stefan Haas: Historische Kulturforschung in Deutschland 1880–1930. Geschichtswissenschaft zwischen Synthese und Pluralität, Köln u.a. 1994.
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diesem Begriff zu füllen waren: Wirtschaftsbetriebe hatten nun eine ‚Unternehmenskultur‘40, politische Parteien und Organisationen eine „Organisationskultur“41; und „Arbeiterkultur“42 und „politische Kultur“43 waren Begriffe, die als Schnittstellen zwischen traditionellen und neuen Ansätzen fungieren konnten. So gab es für vieles ein Dach, das eigentlich in der Schere von Konservativismus und Avantgarde auseinanderdriftete. Ende der 1980er Jahre hatte der Kulturbegriff zumindest außerhalb der Wissenschaften einen unleugbaren Sexappeal. Hilfreich war zudem, dass der Begriff der Kultur bereits eine lange Geschichte in den Geistes- und Sozialwissenschaften hatte – auch wenn nicht jede seiner Etappen rühmenswert war.44 Zu sehr belastet ist seine Begriffsgeschichte durch Phasen, in denen der Begriff eine letztlich nicht legitimierbare Wertung beinhaltete: In seiner Bedeutung als ‚Kultiviertheit‘ wird er verwendet um das Eigene vom vermeintlich Unkultivierten abzugrenzen, als ‚Hochkultur‘ dient er der Absetzung von vermeintlich ‚niederen‘ Kulturphänomenen oder dem ‚bloß‘ Zivilisatorisch-Technischen. Es sind diese Konnotationen, die es den Vertretern des Soziologismus erschwerten wenn nicht gar unmöglich machten, in einer „Neuen Kulturgeschichte“ eine epistemologisch ernst zu nehmende zeitgemäße Version von Geschichtswissenschaft zu erblicken.45 40 Zentral hier Edgar H. Schein: Organizational culture and leadership, San Francisco 1985, vgl. auch L. Smircich: Concepts of Culture and Organizational Analysis, in: Administrative Science Quarterly 28 (1983), S. 339–358; J. Marshall/A. McLean: Exploring Organisation Culture as a Route to Organisational Change, in: V. Hammond (Hg.), Current Research in Management, London 1985, S. 2–20. 41 Dieser Begriff wurde alltagsweltlich relevant, stellt aber auch einen parallel in der Wissenschaft entwickelten Forschungsansatz dar. Vgl. Linda Smircich: Concepts of Culture and Organizational Analysis, in: Administrative Science Quarterly 28 (1983), S. 339–358; Edgar H. Schein: Organizational Culture and Leadership, San Francisco 1985. 42 Bsp. für die Begriffsverwendung in den 1980er Jahren: Hans Safrian: Geschichte der Arbeiterbewegung und der Arbeiterkultur, in: Ehalt (Hg.), Geschichte von unten, S. 285–294. 43 Bsp. Dirk Berg-Schlosser/Jacob Schissler (Hg.): Politische Kultur in Deutschland (Politische Vierteljahrschrift, Sonderheft 18), Opladen 1987; Karl Rohe: Politische Kultur und ihre Analyse. Probleme und Perspektiven der politischen Kultur-forschung, in: Historische Zeitschrift 250 (1990), S. 321-346.. Das Paradigma ‘Politische Kultur’ hielt dabei meist die Balance zwischen klassischen politikhistorischen und neueren Ansätzen. Es war weniger eine paradigmatische Wende als eine thematische Erweiterung. Einen Cultural Turn stellte die politische Kulturforschung in der Geschichtswissenschaft noch nicht da. U.a. Keith Michael Baker: Inventing the French Revolution. Essays on French political culture in the eighteenth century, Cambridge 1990; Kurt Sontheimer: Deutschlands politische Kultur, München 1990; Wolfgang Bergem: Tradition und Transformation. Eine vergleichende Untersuchung zur politischen Kultur in Deutschland, Opladen 1993; Carola Lipp: Politische Kultur oder das Politische und Gesellschaftliche in der Kultur. In: Wolfgang Hardtwig/Hans-UlrichWehler (Hg.): Kulturgeschichte heute (Geschichte und Gesellschaft Sonderheft, 16), Göttingen 1996, S. 78–110. 44 Zur begriffshistorischen Verständigung zu dem Konzept in den 1980er Jahren vgl. Helmut Brackert/Fritz Wefelmeyer (Hg.): Naturplan und Verfallskritik. Zur Begriff und Geschichte der Kultur, Frankfurt/M. 1984; dies. (Hg.): Kultur. Bestimmungen im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1990. 45 Auch ein direkter Anschluss an die „ältere Kulturgeschichte“, die von der Aufklärung bis ins frühe 20. Jahrhundert sich in mehreren Etappen entwickelt hat, verbot sich aufgrund der dort
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Dabei war eine modernisierende Verwendung des Kulturbegriffs bereits seit den 1950er und -60er Jahren vorbereitet worden: in einer Richtung, die sich einer völligen Vereinnahmung durch einen strukturalistischen Soziologismus durchaus durch Eigenständigkeit und thematische Innovationsfähigkeit entziehen konnte: den Britischen Cultural Studies. Nach der Jahrhundertmitte entwickelte sich im Kontext eines kritischen neomarxistischen Ansatzes46 eine Bewegung, die sich der empirischen Erforschung der Lebensbedingungen von Arbeitern und Arbeiterinnen verpflichtet fühlte. Zugleich nutzte sie diese aber, um eine neue Theoriebildung in Gang zu setzen. Ihre Vertreter kamen nicht zufälligerweise häufig aus der Erwachsenenbildung und verbanden mit ihrer Forschungs- und Lehrtätigkeit das Ziel, politisch Einfluss zu nehmen. Richard Hoggert arbeitete über die negativen Auswirkungen der Massenkultur auf die Arbeiterklasse, deren Werthaltungen gegenüber Kulturphänomen er untersuchte, nicht ohne den Anspruch, „the uses of literacy“47 auch zu ändern und die Eigenständigkeit und Bedeutung populärkultureller Phänomene herauszuarbeiten. Hoggert war es auch, der 1964 das ‚Centre for Contemporary Cultural Studies‘ an der University of Birmingham gründete, das sich rasch als Zentrum der neuen Cultural Studies etablierte.48 Forschungen zur Subkultur, zu den Massenmedien und zur Arbeiterkultur standen im Zentrum.49 ‚Kultur‘ wird dabei meist als ein Begriff aufgefasst, der eine komplexe, in sich homogene, klassenbasierte Lebensweise formuliert.50 Diese wird aber nicht als natürlich verstanden, sondern als historisch entstandenes Konstrukt, eine Formulierung, die weitreichende Folgen in den historischen Wissenschaften hatte und paradigmatisch von E.P. Thompson unter dem Titel „The Making of the English Labor Class“ herausgearbeitet wurde.51 Stuart Hall, der besonders mit medienwissenschaftlichen Arbeiten bekannt geworden war52, formulierte den Anspruch auf eine Demokratisierung des Kulturbegriffs, der mit der oben erwähnten Entdeckung der Low Culture parallel ging, mit folgenden Worten: „Kultur „[…] besteht nicht länger aus der Summe des ‚Besten was je gedacht und geschrieben wurde‘, als Höhepunkt einer entwickelten
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nur rudimentär entwickelten modernen wissenschaftstheoretischen Grundlegung. Vgl. Haas, Kulturgeschichte zwischen Synthese und Pluralität. Exemplarisch sichtbar in Raymond Williams: Marxism and literature, Oxford 1977. So der Titel der ersten einflussreichen Publikation des britischen Kulturwissenschaftlers: Richard Hoggart: The Uses of Literacy. Aspects of Working Class Life, London 1957. Norma Schulman: Conditions of their Own Making. An Intellectual History of the Centre for Contemporary Cultural Studies at the University of Birmingham, in: Canadian Journal of Communication 18 (1993), S. 51–73. Stuart Hall/Tony Jefferson (Hg.): Resistance through rituals. Youth subcultures in post-war Britain, London 1976; Dick Hebdige: Subculture. The meaning of style, London u.a. 1979. John Fiske arbeitete an einem Modell, in dem Dekodierungsprozess selbst als bedeutungsgenerierend angesehen werden, vgl. John Fiske: Introduction to communication studies, London 1982. Bsp. Raymond Williams: Culture and society 1780–1950, New York 1958. Edward Palmer Thompson: The making of the English working class, London 1963. Hall hatte zu zeigen versucht, dass Mediennutzer eine Botschaft dadurch aktiv verändern, dass sie sie in einem anderen als dem ursprünglich intendierten Bezugsrahmen lesen, siehe Stuart George Hall (Hg.): Encoding and decoding in the television discourse, Birmingham 1973.
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Zivilisation – das Ideal von Perfektion, nach dem in der früheren Bedeutung alle strebten. […] ‚Kultur‘ in diesem speziellen Sinn, ist etwas Gewöhnliches.“53 Die britischen Cultural Studies hatten in den folgenden Jahrzehnten einen massiven Einfluss auf die Entstehung postkolonialer Theorien und wirken über diese bis heute nachhaltig in die Cultural Turns-Diskurse hinein. Sie machten deutlich, dass man einen Kulturbegriff entwickeln konnte, der nicht mehr politisch konservativ konnotiert, sondern kritisch einsetzbar war. Kultur wird als ein Ort der Selbstvergewisserung verstanden, über den Identität konstruiert wird und der daher im sozialen Kontext auch als Medium der Widerständigkeit einsetzbar ist. Vor diesem Hintergrund formulierten sie einen Konsumbegriff, der diese weniger als eine passive Tätigkeit denn als kreative Aneignung thematisierte. Ihr Ansatz war semiotisch, wo sie unter Repräsentation das Verhältnis von Zeichen und Phänomen als eine prekäre, ambivalente Relation begriffen. Wissen wurde als produziertes Wissen verstanden, was mit Teilhabe an und Ausschluss von Macht einherging. Allerdings vollzogen die Cultural Studies, mehr an Politik als an wissenschaftsimmanenten Entwicklungen interessiert, nicht die Bewegung zu einer neuen Universalwissenschaft (was sie selbst aber auch nicht intendierten). Thematisch wie methodisch konnte man aber genau an diesem Punkt an ihren Arbeiten anschließen – und ebenfalls an den Begriff der ‚Kultur‘, dessen synthetisierendes Potential man nun auszuloten begann. In dieser Definition versprach der Begriff die Lücke zu schließen, die die verblassende Überzeugungskraft des Gesellschaftsbegriffes zunehmend aufgerissen hatte.54 Was dergestalt in den 1980er Jahren durch Kultursoziologie, Alltagsgeschichte, Cultural Studies und andere vorbereitet wurde, wird um 1990 zu einer breiten wissenschaftlichen Bewegung, die durch den Begriff ‚Cultural Turn‘ das Selbstverständnis zum Ausdruck bringt, gegenüber dem bisherigen Avantgardeverständnis der Geisteswissenschaften als Sozialwissenschaften – und der Geschichtswissenschaft als Historischer Sozialwissenschaft oder zumindest als Sozial- oder Strukturgeschichte – eine neue, grundlegend differente Forschungspraxis zu etablieren. Formulierbar wurde dieser Ansatz durch die Zusammenführung zweier zentraler Theoreme: Zum einen des älteren, als Linguistic Turn bezeichneten Ansatzes, wonach menschliche Lebenswelt primär oder ausschließlich als sprachlich verfasste und dergestalt mit Sinn versehene Wirklichkeit dargestellt wird. Und zum anderen einer oft als Interpretive Turn bezeichneten Wende in der Ethnologie, der auf einer spezifischen Lektüre Max Webers durch den amerikanischen Kulturanthropologen Clifford Geertz, der die menschliche Lebenswelt als ein Eingewobensein in selbstgestrickte Bedeutungsmuster interpretiert, basiert.
53 Stuart Hall: Die zwei Paradigmen der Cultural Studies, in: Karl H. Hörning/Rainer Winter (Hg.): Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung, Frankfurt/M. 1999, S. 13–42, S. 17. 54 Nicht zuletzt waren dafür genau jene postmodernen Phänomene des Uneindeutigwerdens der sozialen Zuordnung verantwortlich, mit denen sich die Cultural Studies in ihren Arbeiten zur kulturellen Widerständigkeit jugendlicher Subkulturen wie beispielsweise des Punks beschäftigten.
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Der Linguistic Turn ist in gewisser Weise die Blaupause aller postmodernen Turns. Ursprünglich entstammt er der Philosophie und es dauert einige Jahrzehnte, bis er sich in den empirischen Geistes- und Sozialwissenschaften wiederfindet. Er resultierte aus dem am Ende des 19. Jahrhunderts zunehmenden Offensichtlichwerden einer Differenz zwischen auf exakter naturwissenschaftlicher Methodik basierndem Wissen und den aus diesen zu ziehenden allgemeinen philosophischen Annahmen und Ableitungen. Dies resultierte in der Entwicklung zweier sprachphilosophischer Richtungen, der Ordinary Language Philosophy und der Ideal Language Philosophy. Beide konnten sich auf Wittgenstein berufen, wenn auch auf unterschiedliche Phasen seiner Werkentwicklung. Wenn Wittgenstein schreibt „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“55, dann kann dies in den empirischen Wissenschaften genau so ausgelegt werden: Dass Untersuchungen, die die menschliche Lebenswelt (und eben nicht die von den Naturwissenschaften zu untersuchende natürliche Welt thematisieren), primär Sprache zu untersuchen haben, weil diese die Welt des Menschen allererst konstruiert. Etwas schwieriger ist es bei Wittgenstein dann aber doch, weswegen er auch „bedeuten die Grenzen meiner Welt“ schreibt. Im Kontext der Adaption des Linguistic Turns in den sich formierenden Cultural Turns ist das Theorem aber genau so verstanden worden. Gleichzeitig ist aber auch ein Theorem von Bedeutung, dass die Eigenständigkeit von Sprache gegenüber der dinglichen Welt herausarbeitet und im weiteren auch gegenüber dem Sprechen. Entscheidend war, dass der Gedanke aufgegeben wurde, dass Sprache Welt in dem Sinne eineindeutig repräsentiere, dass Welt in Sprache abgebildet ist und Sprache selbst keinen Anteil an der Entstehung von Sinn und Bedeutung hat. Vielmehr wurde im kulturwissenschaftlich gewendeten Linguistic Turn genau dies angenommen: Sprache hat eigene Ordnungsmechanismen, die dann die menschliche Lebenswelt nicht wiedergeben, sondern diese konstruieren. Die Rezeption von Foucaults Diskursanalyse, der genau solche Mechanismen diskursiver und damit sprachlicher (aber eben nicht im Sinn einer Grammatik) Konstruktionen von Bedeutungen untersuchte, und die von Derridas Dekonstruktion56, in der es unter anderem um den Bedeutungsüberschuss von geschriebener Sprache und damit ihre prinzipielle Auslegbarkeit geht, waren hier von eminenter Wichtigkeit. Ähnlich funktioniere auch die Narrativitätsdebatte.57 Anders als die klassische Analytische Sprachphilosophie, die wie beispielsweise Carl G. Hempel58 oder
55 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt/M. 2006 (Erstveröffentlichung 1921), Satz 5.6. 56 Jacques Derrida: Grammatologie, Frankfurt/M. 1974 (Erstausgabe 1967). 57 Zusammenfassend Stefan Haas: Fiktionalität in den Geschichtswissenschaften, in: Tobias Klauk/Tilmann Köppe (Hg.): Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin 2014, S. 516–532. 58 Carl Gustav Hempel: Reasons and Covering Laws in Historical Explanation, in: Sidney Hook (Hg.), Philosophy and History. A Symposium, New York 1963, S. 143–163; ders./Paul Oppenheim: Studies in the Logic of Explanation, in: Philosophy of Science 15 (1948), S. 135–175.
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Arthur C. Danto59 für die Geschichtsphilosophie mit relativ stabilen kleinen Spracheinheiten arbeitete betonte Hayden White die narrative Struktur als sinnbildend in einem Text.60 Eine Geschichte (story) wird nicht allein dadurch zur Geschichte (history), dass man diese nacherzählt, sondern indem sie in einem Vorgang des Emplotments durch Bezugnahmen und Auslassungen sinnvoll ordnet. Dabei nimmt White an, dass es die narrative Struktur ist, die Geschichte erst herstellt. Diese allerdings ist der Geschichte vorgeordnet, findet im Moment des Schreibens eher durch unbewusste denn intentionale Entscheidungen aus einer benennbaren Reihe von Möglichkeiten statt, die man über seine kulturelle Sozialisation aufgenommen hat.61 Das ist kein sprachhistorischer, sondern ein narrativitätstheoretischer Ansatz, aber eben auch einer, der historisches Wissen im Wesentlichen als konstruiert durch nicht in der Geschichte selbst liegende Faktoren annimmt – und damit ein zentrales Theorem der Cultural Turns vorwegnimmt. Der Linguistic Turn in seiner analytischen Spielart, so wie er in dem namengebenden Sammelband von Richard Rorty von 196762 definiert wurde, ist im Hinblick auf die Cultural Turns eher ein Prototurn. Er findet fast ausschließlich in der Philosophie statt und wird in den empirischen Einzelwissenschaften kaum operationalisiert.63 In der Modifikation des Theorems im Kontext dessen, was dann als Cultural Turn bezeichnet wurde, entsteht aber eine Denkbewegung, die ein neues Grundlagentheorem zu formulieren vermag. Dadurch rückt die Sprache in den Mittelpunkt wissenschaftlicher Forschungstätigkeit und Lebenswelt wird in ihrer sprachlichen Verfasstheit untersucht. Dies betrifft nicht nur sprachliche Phänomene im engeren wie Literatur oder politische Reden, sondern alle lebensweltlichen Sachverhalte. Hier sind auch die eminent bedeutenden Arbeiten zur Historischen Zeit von Reinhard Koselleck zu verorten, der selbst nicht nur eine institutionelle, sondern auch eine partiell inhaltliche Nähe zur Historischen Sozialwissenschaft in seinen Ansatz
59 Arthur C. Danto: Analytical Philosophy of History, Cambridge 1965. 60 Hayden V. White: Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Baltimore u.a. 1973; ders.: Tropics of Discourse: Essays in Cultural Criticism, Baltimore u.a. 1978; ders.: The Content of Form. Narrative Discourse and Historical Representation, London 1987. 61 Kritisch angemerkt wurde auch, dass White weder kulturell, noch zeitlich oder geschlechtlich unterscheidet, sondern seine vier Grundstrukturen (die von Nothrop Frye übernommenen Romanze, Tragödie, Komödie und Satire) quasi als anthropologische Konstanten interpretiert, vgl. zu White allg. Herman Paul: Hayden White. The historical imagination, Cambridge 2011. 62 Richard Rorty (Hg.): The Linguistic turn. Recent essays in philosophical method, Chicago/London 1967. 63 Diese Aussage ist natürlich zu relationieren auf den Bezugsrahmen, für den sie formuliert ist. In der empirischen Sprachwissenschaft gibt es selbstverständlich entsprechende Ansätze über das gesamte 20. Jahrhundert. Aber im Hinblick auf die Entwicklung eines Umbrella Terms, der die Geisteswissenschaften und vielleicht sogar mit diesen die Sozialwissenschaften zusammenhalten kann, wie dies der Begriff der Gesellschaft lange Zeit leistete, hat sich ‚Sprache‘ oder ‚Begriff‘ nicht zu einem solchen Paradigma vor Ende der 1980er Jahre entwickelt. Das geschieht erst im Rahmen der Cultural Turns.
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integrierte.64 Der Linguistic Turn war mehr als nur die Hinwendung zur Sprachphilosophie analytischer Provenienz und zur strukturalistischen und poststrukturalistischen französischen Linguistik. Er ist der Versuch, menschliche Lebenswelt über das Paradigma der Sprache zu rekonstruieren und ihre (textuellen) Substrukturen zu analysieren – was wiederum die Bedeutung der Arbeiten von Michel Foucault, einem der zentralen wenn nicht dem zentralen frühen Referenzautoren der Neuen Kulturwissenschaften, erklärt. Texte sind wesentliches Medium, in dem die Bedeutungen, die Menschen ihrem Handeln und den sie umgebenden Phänomenen verleihen, verhandelt werden. Dieses Element der Bedeutung und des Sinns, die in den Mittelpunkt der neuen Kulturgeschichte rücken, ist dabei meist an eine Referenz auf Clifford Geertz und der Lektüre seiner ethnologischen Texte bezogen. Dieser hatte formuliert: „Der Kulturbegriff, den ich vertrete, [...] ist wesentlich ein semiotischer. Ich meine mit Max Weber, dass der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehen. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht. Mir geht es um Erläuterungen, um das Deuten gesellschaftlicher Ausdrucksformen, die zunächst rätselhaft scheinen.“65 Für die Geistes- und Sozialwissenschaften macht dieser Ansatz von vornherein klar, dass ihr Gegenstand mit dem der Naturwissenschaften nichts gemein hat, denn es geht ihnen gar nicht um die Dinge und Sachverhalte als solche, sondern um ihre Auffassung und Aushandlung in sozialen Situationen – wobei diese dann die Welt konstituieren, in der Menschen leben. Sinn und Bedeutung werden damit zu den zentralen Themen (kultur-)wissenschaftlicher Forschungspraxis. Diese werden als konstruiert vorgestellt, wobei es umstritten ist, was zentral für diesen Konstruktionsprozess, seinen Wandel und seine Variabilität angenommen werden sollte.66 Der Interpretive Turn, insofern er sich an Geertz orientierte, führte zu einer Rückkehr hermeneutischer Verfahren in den Kulturwissenschaften. Allerdings waren diese im Gegensatz zum klassischen Historismus weniger an einem Nachfühlen intentionaler Motive von Handelnden orientiert, denn an der ‚dichten Beschreibung‘ komplexer sinngenerierender sozialer Situationen.
64 Zur Koselleck vgl. jüngst Niklas Olsen: History in the Plural. An Introduction to the Work of Reinhart Koselleck, New York 2012; Carsten Dutt (Hg.): Zwischen Sprache und Geschichte. Zum Werk Reinhart Kosellecks, Göttingen 2013. 65 Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/M. 1983, S. 9. 66 Dieser Aspekt des Konstruiertseins ist wesentlich für die Formierung des frühen Cultural Turn, wobei es unterschiedliche Abschattierungen gibt, je nachdem ob die primäre Referenz hierfür eher eine diskurstheoretische wie Michel Foucault oder eine der verstehenden Soziologie wie Berger/Luckmann war. Vgl. einführend Vivien Burr: An Introduction to Social Constructionism, London 1995; vgl. kritisch Ian Hacking: The social construction of what? Cambridge/Mass. 1999; und jüngst Paul Boghossian: Fear of Knowledge. Against Relativism and Constructivism, Oxford 2012.
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Dieser Zusammenhang von Linguistic und Interpretive Turn kann als Cultural Turn im engeren Sinn bezeichnet werden. Mit dem Begriff ‚Turn‘ wurde dabei in Anlehnung an die Kopernikanische Wende von Kant der Anspruch auf ein völlig neues Wissenschaftsverständnis formuliert. Dieses gruppierte sich um Begriffe wie Ambivalenz, Kontingenz, Heterogenität, Pluralität u.a. und führte nicht nur zu einer Verschiebung der beobachteten Gegenstände (von Gesellschaft zu Kultur), sondern – und darin letztlich zentraler als auf der Ebene der Erkenntnisobjekte – zu einer Veränderung der Forschungspraxis: Der Cultural Turn thematisiert nicht nur Sachverhalte der Lebenswelt, er ist primär ein Diskurs über die Generierung von Wissen und die konstruktiven Bedingungen, die bei dieser eine zentrale Rolle spielen. Wissen wird nun als konstruiert (in der radikalen Variante) oder als konstitutiv von Faktoren der Quellen-, Methoden-, Narrativewahl und der Kontingenz wissenssoziologischer Umgebungsvariablen abhängig betrachtet. Dies wiederum bedeutet, dass jede individuelle wissenschaftliche Arbeit Auskunft geben muss über ihre Entscheidung grundlegender wissenschaftstheoretischer Fragen und damit der Gültigkeitsbedingungen ihrer Aussagen. Das Ende des Kalten Krieges und der bipolaren Teilung der Welt, der Verlust an lebensweltlicher Überzeugungskraft klassischer Narrative67 wie linearer Fortschritt oder Industrialisierung sind bedeutsam, wenn auch nicht hinreichend ursächlich für die Entstehung dieser neuen Forschungspraxis in den 1990er Jahren. REMATERIALISIERUNGEN: BODY, SPATIAL UND PERFORMATIVE TURN Die Entwicklung der Neuen Kulturwissenschaften ist aber nicht auf diese beiden Turns beschränkt geblieben. Recht schnell wurde deutlich, dass die Frage, ob es ein ‚Jenseits der Sprache‘, ein ‚Jenseits des Diskurses‘ gibt, selbst eine zentrale kulturwissenschaftliche Fragestellung ist.68 In zwei Richtungen hat sich die Diskussion dieser Thematik entwickelt, die beide in die Neuen Kulturwissenschaften (ein Begriff der deutlich macht, dass sich diese auf die Turns beziehen und damit nicht automatisch in einer Traditionslinie zu den Kulturwissenschaften der Jahrhundertwende und des frühen 20. Jahrhunderts stehen) inkorporiert wurden. Zum einen wurden jene Felder thematisiert, die sich einer sprachlichen Fixierung und Aushandlung zu entziehen scheinen: Tod, Körper, Krankheit und Sexualität. Auch wenn diese Themen kulturhistorisch eminent wandelbar sind und sich veränderte Todesvorstellungen durch eine Analyse ihrer sprachlichen Fixierung herausarbeiten lassen, wurde als Argument vorgebracht, dass Tod und Krankheit Phänomene sind, die einen Rest beinhalten, der sprachlich nicht fassbar ist, selbst
67 Nachhaltig prägend war hierfür Jean-François Lyotard: La condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris 1979. 68 U.a. Gottfried Boehm: Jenseits der Sprache? Anmerkungen zur Logik der Bilder, In: Christa Maar/Hubert Burda (Hg.), Iconic turn. Die neue Macht der Bilder, Köln 2004, S. 28–43.
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aber lebensweltlich wie historisch wirksam wird. Exemplarisch kann man diese Argumentationsfigur in dem Buch „The Body in Pain“ der amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Elaine Scarry nachvollziehen: „Spricht man über »die eigenen körperlichen Schmerzen« und über »die körperlichen Schmerzen der anderen«, so hat es bisweilen den Anschein, als spräche man von zwei gänzlich verschiedenen Dingen. Jemand, der von Schmerzen heimgesucht wird, nimmt den Schmerz »mühelos« wahr, ja er kann es gar nicht vermeiden, ihn wahrzunehmen; für die anderen dagegen ist »mühelos« gerade, ihn nicht wahrzunehmen […].Was immer der Schmerz bewirken mag, er bewirkt es zum Teil durch seine Nichtkommunizierbarkeit. Dies bestätigt sich darin, daß er sich der Sprache widersetzt.“69
Die Widerständigkeit gegen die Sprache, besonders gegen die in der stark an Foucault anschließenden neuen Kulturgeschichte stark gemachten omnipräsenten Diskurse, machte diese Aussage theoretisch relevant – eine Absicht, die Scarry in ihrem Buch nicht verfolgte. Ihr ging es um die sinnvolle Begründung ihrer literaturhistorischen Arbeit zur Repräsentation von Schmerz in literarischen Texten und damit die mediale Fixierung des vermeintlich Unfixierbaren. Aber in der Aneignung solcher Argumentationsfiguren im Kontext der die Turns prägenden grundlagentheoretischen Überlegungen verdichteten sich diese zu einem epistemologisch relevanten Ansatz. Solche Überlegungen führten, unterstützt durch neuere Genderforschungen, zu zwei neuen Turns: dem Body Turn und dem Spatial Turn. In ersterem wird genau jene Körperlichkeit thematisiert, die außerhalb ihrer sprachlichen Verfestigung realitätswirksam wird. Und eine neue Kulturwissenschaft des Raumes begreift diesen in seiner Wirksamkeit auf menschliche Lebenswelt einerseits als eine Konstruktion – mithin als ein Phänomen, das sich nicht allein technisch oder naturwissenschaftlich beschreiben lässt.70 Darüber hinaus wird aber auch gefragt, inwiefern dem Raum eine Diskurswiderständigkeit inhärent ist und wie dieser dadurch historisch und lebensweltlich sinn- und bedeutungs- und damit wirklichkeitsgenerierend wirken kann. Diese beiden Tendenzen wurden jüngst durch eine Thematisierung von Materialität ergänzt, in der Dinge als Aktanten mit eigener Agency in Forschungsvorhaben gefasst sind. Ähnlich wie bei dem Cultural Turn im engeren Sinn geht es hier nicht primär um eine thematische Ausweitung der empirischen Forschungsfelder. Sicher sind alle Turns mitbedingt durch lebensweltliche Veränderungen. Gerade der Body Turn thematisiert den Körper in dem Moment als empirisch relevantes Forschungsfeld
69 Elaine Scarry: Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur, Frankfurt/M. 1992, S. 12f. (Erstausgabe 1985 unter dem Titel „The body in Pain. The making and unmaking of the world“ – In der Differenz zwischen amerikanischem Originalund deutschem Übersetzungstitel kann man ablesen, was sich wissenschaftlich in der Zeit zwischen beiden Veröffentlichungsterminen verändert hat). 70 Ausführlich dargestellt im Beitrag von Julian Aulke im vorliegenden Band.
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als mit der Entwicklung von Robotik und digitalen Mensch-Maschine Schnittstellen klassische Körperkonzepte zunehmend fragwürdig wurden.71 Und auch klassische räumliche Ordnungsmuster werden nicht nur durch die Auflösung des OstWest-Konflikts und die Neuordnung der postkolonialen Welt brüchig, der Raumbegriff insgesamt wird durch digitale Kommunikationstechnologien neu hinterfragt.72 In den Turns sind Körper und Raum aber auch grundlagentheoretisch relevant. Sie erfüllen neben ihrer Eigenschaft als empirisch bearbeitbare Forschungsfelder auch die Funktion, einen Ansatz zu liefern, von dem aus eine Argumentationskette, die der Frage nachgeht, warum das jeweils zu erklärende geschieht, ansetzen kann. Dies bedeutet, dass im Fall der beiden Turns Körper bzw. Raum als wirklichkeitskonstruierend oder, etwas abgeschwächt, -konstituierend angenommen werden müssen. Es ist nicht der soziale Gebrauch des Raums (dann beginnt die Argumentationskette bei sozialer Differenz) oder die Definition des Körpers als geschlechtlich durch die Verwendung spezifischer Bekleidung (dann beginnt sie bei Gender). Vielmehr muss, um einen tatsächlichen Turn darzustellen, nachweisbar sein, dass Körper bzw. Raum selbst ursächlich sind für das Auftauchen spezifischer historischer Phänomene oder dass sie ein eigenständiges Argument darstellen, das nicht rückgeführt werden kann auf andere Faktoren. Das ist ein weitaus schwierigeres Argument. Aber es erklärt, dass nicht jede Beschäftigung mit Körper oder Raum gleich zum Body bzw. Spatial Turn gehören. Verdeutlichen kann man dies an einem Beispiel. James Donald schrieb in seinem eindrucksvollen Text zu „Metropolis“, dessen Untertitel „The City as Text“ bereits das konzeptionelle Programm widerspiegelt, über sein Vorhaben: „Given that premise, in the rest of this chapter I shall focus on three questions. 1 What concepts, images and metaphors have reformers and planners used to make sense of the city? 2 How have these been translated into plans and policies for rationalizing and managing its immensity and apparent chaos? 3 In what terms have people experienced, imagined and envisioned the city forms which have resulted? As you will see from these questions, my emphasis is primarily on what the City means. (My approach could therefore be termed semiotic […]. Both planners and people, I suggest, make sense of the city as if it were a text to be read in a 'quest for urban legibility' […]. But, however much planners have tried to impose a single definite meaning to be found beneath all its interactions and social relations, the city – like a novel or poem – remains open to many competing interpretations. Part of my concern is therefore to discover how certain forms of analysis, discourses about the city, become authoritative, and
71 Stefan Haas: Vom Ende des Körpers in den Datennetzen. Dekonstruktion eines postmodernen Mythos, in: Clemens Wischermann/Stefan Haas (Hg.), Körper von Gewicht. Der menschliche Körper als Ort der Selbst- und Weltdeutung, Stuttgart 2000, S. 85–109. 72 Auch dies ist nicht per se ein ganz neuer Prozess, schon Heine hatte bei der Einführung der Eisenbahn Raum und Zeit als sich zunehmend auflösende Kategorien beschrieben.
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Stefan Haas to identify moments at which their authority is undermined and new paradigms of representation and interpretations emerge.“73
So werden ‚Großstädte als Texte‘ interpretiert, indem ihr Aufbau aus einzelnen Elementen analog zu einer Grammatik rekonstruiert und Sinnzuschreibung wie ein Lektüreakt (als kreativ rezeptionsästhetisches Verfahren) interpretiert wird. Argumentativ verbleibt man hier im Rahmen des Linguistic Turns, denn es ist Sprache die letztlich ursächlich gemacht wird für die zu erklärenden Phänomene. Auch wenn mit Stadt hier ein Raum betrachtet wird, geht es konzeptionell nicht um einen Spatial Turn. Raum, in diesem Fall städtischer Raum, wird als konstruiert durch Diskurse und deren soziale Aushandlung thematisiert. Die Metapher, dass sich Städte wie belletristische Literatur lesen lassen, meint dabei, dass sie offen sind für Interpretation und erst in dieser Offenheit sich eine Aushandlungsnotwendigkeit ergibt, die soziale Lebenswelt allererst schafft. Argumentativ bewegt sich Donald aber eindeutig im Rahmen des Cultural Turn. Primär geht es hier nicht um strukturelle sozioökonomische Differenzen, die soziale Auseinandersetzungen über Stadtraum erklärbar machen würden – was eine signifikante Frage für eine strukturhistorische Studie gewesen wäre. Eine radikale Studie, die sich dem Spatial bzw. Body Turn verpflichtet sehen würde, würde Stadt und Raum nicht primär als diskursiv ausgehandelt (das vielleicht auch in einem zweiten Schritt), sondern als ursächlich für die zu erklärenden Phänomene, so wie dies in Scarry’s oben zitierter Studie geschieht, wo die Körper sich auch dem Diskurs entziehen und gerade in dieser Phänomenalität wirklichkeitswirksam werden. Damit ist ein Widerspruch formuliert zwischen Body bzw. Spatial Turn und den frühen Ansätzen der kulturalistischen Wende. Tatsächlich sind eine neue Körper- und Raumgeschichte, um im Rahmen der historischen Wissenschaften zu bleiben, wobei analoges für andere Disziplinen gilt, als Turn nicht gegen klassische Politik- oder Sozialgeschichte gerichtet, sondern gegen den Linguistic Turn. Dennoch verbleiben beide unter dem Dach des Cultural Turns, der aber zunehmend als Plural formuliert wird.74 Ihre Gemeinsamkeit, und darin sind sie von anderen Formen abgesetzt, ist die spezifische Funktion der Theoriebildung, ihre Referenz auf eine grundlegende epistemologische Argumentationsbasis, die von jeder einzelnen empirischen Arbeit zu leisten ist und der Grundüberzeugung, dass Wissen kontingent ist und sich im wesentlich von theoretisch-konzeptionellen Grundentscheidungen ableitet. Analoges gilt dann auch für den Performative Turn. Auch hier geht es nicht darum, Performanz als ein empirisches Forschungsfeld zu entdecken. Sondern darum einen theoretisch reflektierten Ansatz zu formulieren, in dem Performanz ‚einen Unterschied macht‘. Performanz ist dann nicht mehr die variable Aufführung eines Ursprungstextes, sei dies ein Opernlibretto, ein Drehbuch oder die Vorlage für ein Handlungsritual wie eine Hochzeitszeremonie, sondern die Überzeugung,
73 James Donald: Metropolis. The city as text, in: Robert Bocock/Kenneth Thompson (Hg.): Social and cultural forms of modernity, Cambridge 1992, S. 417–470, S. 423. 74 So im Titel bereits bei Bachmann-Medick, Cultural Turns.
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dass durch das Aufführen dieses Ursprungstextes sich Sinnverschiebungen einschleichen, die letztlich verantwortlich sind für den Sinn und die Bedeutung, die eine bestimmte performative Handlung in einem Ritual oder eine Theateraufführung hat.75 Wie alle Cultural Turns wird auch der performative Turn damit von einem Differenzdenken geprägt. Der Untersuchungsfokus richtet sich nicht auf das Gemeinsame, das Typische, das Durchschnittliche, sondern auf die Variationen, die Möglichkeiten, die Varianten, die ein ‚Drehbuch‘ als Ursprungstext im weiteren Sinn bietet. Dieses Konzept ist sehr der Foucault‘schen Diskurstheorie verpflichtet, in der es gerade auch um diese Variabilität und damit den Pluralismus ging. An diesem Punkt werden auch viele Kritikpunkte der klassischen Sozialgeschichte an der Neuen Kulturgeschichte erklärbar. Dieser ging es noch um beispielsweise den typischen Arbeiter des 19. Jahrhunderts. Die neue Kulturgeschichte thematisiert Handlungs- und Spielräume, die in einer spezifischen historischen Situation bestehen und entstehen – und erklärt, warum diese teilweise gar nicht genutzt worden sind, analog zu Foucaults Ansatz, nicht nur das Gesagte, sondern auch das Ungesagte aufzuspüren. Damit sieht die Neue Kulturgeschichte die Welt mit einem pluralistischen Ansatz und fokussiert auf Unterschiede und Differenzen76, wohingegen klassische soziologistische Ansätze das Identische thematisieren, um überhaupt Vergleichbarkeit herzustellen. DER MEDIAL UND COMMUNICATIVE TURN Mit dieser Differenz von am Linguistic Turn orientierten, an Sprachverwendung und Diskursivität interessierten Forschungen, und einem radikalen, auf die Agency von Materialitäten setzenden Ansatz in den drei im letzten Abschnitt genannten Turns verlor der Cultural Turn seine argumentative Einheit und Geschlossenheit. Er wurde selbst zu einer postmodernen, vielschichtigen und in sich ambivalenten und heterogenen Forschungspraxis. Nicht selten, und auch darin typisch für den die Turns tragenden Habitus, wurden diese Ansätze trotz epistemologischer Widersprüchlichkeiten auf einer pragmatischen Ebene miteinander verbunden. Die einzelne empirische Arbeit hat dann für ihr jeweiliges Anliegen zu begründen, warum ihr Konzept aufgeht. Damit wird die Theoriereflexion endgültig unabdingbar mit 75 Bsp. Stefan Haas: Die kommunikative und performative Generierung von Sinn in Initiationsritualen der Frühen Neuzeit am Beispiel der Eheschließungen, in: Gerd Althoff (Hg.), Zeichen – Rituale – Werte, Münster 2004, S. 535-556. 76 D.h. nicht, dass in der klassischen Sozialgeschichte nicht gerade soziale Ungleichheit eines der zentralen Themenfelder war, aber diese Thematisierung basiert auf der Vorstellung, einen Maßstab (in diesem Fall sozioökonomische Faktoren) benennen zu können, die eine Messung von Ungleichheit erst erlauben. Der Differenzbegriff der Cultural Turns ist postmodern und damit prinzipieller und hat seine Ursprünge in der Existenzphilosophie und im Poststrukturalismus. Zu ersterem vgl. Emmanuel Lévinas: Die Zeit und der Andere, Hamburg 2003 (Erstveröffentlichung 1948); ders.: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/ München 31998. Zu letzterem Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung. München 1992.
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der empirischen Forschung verknüpft, nicht nur auf der Ebene der jeweiligen Legitimation der Forschung, sondern auf der des Wissens um die allererst zu schaffende Konstituierung des Forschungsgegenstandes. Als in sich pluralistisches Vorhaben funktionieren die Cultural Turns forschungsanleitend. Dennoch bleibt die Frage, ob es über all den Konzepten, die unter diesem Umbrella Term zusammengefasst werden doch eine Möglichkeit gibt, eine Letztbegründung für kulturwissenschaftliche Forschung zu ermöglichen. Der ausgeklügelste Versuch in diesem Kontext kam von einem medienwissenschaftlich orientierten Ansatz und wird als Medial oder Communicative Turn bezeichnet.77 Auch hier waren es lebensweltliche Erfahrungen, die das Nachdenken über Kommunikation und ihre Bedeutung förderten. Und die mit der Digitalisierung einhergehende zunehmende Medialisierung der sozialen Lebenswelt tat ein Übriges zu zeigen, dass hier ein Thema verhandelt wurde, das zentral war für die Gestaltung der Zukunft. Wie bei anderen Turns auch, bei denen das zentrale Kategorie bzw. Kategorienbündel nicht sofort präsent ist, begann die Auseinandersetzung mit einer Relektüre und damit Neuinterpretation älterer Texte. Unter den veränderten Bedingungen ließ sich in den 1990er Jahren an Texte der 1950er und 1960er anschließen, die seit längerer Zeit kaum eine Rolle gespielt hatten. In den Blick geriet dabei besonders die Toronto School of Communication. Harold A. Innis als deren Begründer hatte bereits früh darauf hingewiesen, wie wichtig Kommunikation für das Britische Empire war. Damit hatte er bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg eine Tür für eine Alternative zur vorherrschenden Politik- und Wirtschaftsgeschichte geöffnet.78 Theoretisch durchdrungen wurde dieses Theorem aber erst, als es gelang, Shannons Kommunikationsmodell, das dieser im Zweiten Weltkrieg entwickelt hatte, zu überwinden.79 Shannons Interesse fokussierte sich auf die Frage, wie man eine Nachricht von einem Sender zu einem Empfänger bringen konnte, ohne dass das Rauschen des Kanals die Nachricht allzu sehr zerstörte. Damit lag der Fokus auf der Botschaft und auf Sender und Empfänger als kommunizierende Einheiten. Für die neuere kulturwissenschaftliche Theoriebildung zentraler wurde ein medienwissenschaftlicher Ansatz, der das Medium selbst als einen wirklichkeitskonstituierenden Faktor formulierte. Die Entwicklung eines solchen Ansatzes hatte, nicht unbeeinflusst von Innis, der wie dieser an der University of Toronto lehrende Altphilologe Eric. A. Havelock in den 1960er Jahren unternommen. Als zentrale kulturelle Revolution in der Antike wurde von ihm der Wechsel von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit beschrieben.80 Im Mittelpunkt sah er dabei das griechische
77 Zusammenfassend Stefan Haas: Die kommunikationstheoretische Wende und die Geschichtswissenschaft, in: Andreas Schulz/Andreas Wirsching (Hg.), Parlamentarische Kulturen in Europa. Das Parlament als Kommunikationsraum, Düsseldorf 2012, S. 29–44. 78 Zentral Harold A. Innis: The bias of communication, Toronto 1951; vgl. auch die Textsammlung ders.: Kreuzwege der Kommunikation. Ausgewählte Texte, Wien 1997. 79 Claude Elwood Shannon: A Mathematical Theory of Communication. In: The Bell System Technical Journal 27 (1948), S. 379–423, 623–656; ders./Warren Weaver: The mathematical theory of communication. Urbana 1949. 80 Eric A. Havelock: Preface to Plato, Cambridge 1963.
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Alphabet, das aufgrund seiner modularen Struktur es allen, die es beherrschten, ermöglichte, bislang nicht in einem Zeichensatz verfügbare Wörter schriftlich zu enoder zu dekodieren. In diesem Sinn demokratisierte nach Havelock das griechische Alphabet das Schreiben und Lesen und mit diesem die Kultur insgesamt. Erst dieses ermöglichte soziale und politische Veränderungen bis hin zur Bildung neuer sozialer Hierarchien von hohem historischem Ausmaß.81 Zusammen mit Innis bildete Havelock die Basis der Toronto School of Communication, deren bekanntestes Mitglied, Marshall McLuhan, ihr Grundaxiom auf die populäre Formel „The Medium is the Message“ brachte.82 Damit war eine Theorem gefunden, dass den Medial Turn um die Jahrtausendwende charakterisierte: Das Medium, nicht die von ihm transportierten Inhalte oder die es nutzenden Personen, sind wesentlich verursachendes Prinzip für die Generierung menschlicher Lebenswelt. In den 1980er und frühen 1990er Jahren gab es verstärkt wieder Anbindungen an die Theoreme der Toronto School. Besonders Friedrich Kittler arbeitete an einem Modell, das herausarbeiten wollte, dass das jeweils von einem Autor verwendete Medium einen (fundamentalen) Unterschied machte.83 Formulierbar war dieses Axiom unter der Formel „Materialität der Kommunikation“84, die ausdrücken sollte, dass es die spezifischen Bedingungen des Mediums selbst sind, die im Mittelpunkt der empirisch-analytischen Arbeit ebenso wie der Theoriebildung stehen. Insofern ist es bedeutsam, ob ein Bild, ein Film, ein geschriebener Text, ein gesprochenes Wort, eine Performanz, ein körperliches Ritual, eine mimische Geste etc. eingesetzt wird, um über gesellschaftliche Wirklichkeit zu kommunizieren. Dass neben der Toronto School zeitgleich im französischen Poststrukturalismus eine dynamische Textlichkeit in den Mittelpunkt stellende Diskursanalyse durch Michel Foucault85 oder die différance des Geschriebenen und des Gesprochenen betonende Philosophie durch Jacques Derrida86 entwickelt wurden, hat – bei allen bedeutenden Unterscheidungen dieser beiden Richtungen – dem Theorem in den vergangenen drei Jahrzehnten zusätzliche Aufmerksamkeit gesichert. Medien- und Kommunikationsgeschichte wird zur zentralen Teildisziplin innerhalb der Geschichtswissenschaft, die mit paradigmatischem Anspruch ausgestattet verspricht, neue Sichtweisen auf historische Phänomene werfen und damit 81 Ähnlich wie Havelock hat später Michael Giesecke, unter Hinzunahme systemtheoretischer Ansätze, den Gutenbergschen Buchdruck in seiner gesellschaftsumbildenden Funktion untersucht: Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt/M. 1991; ders.: Die Entdeckung der kommunikativen Welt. Studien zur kulturvergleichenden Mediengeschichte, Frankfurt/M. 2007. Dabei bezog er sich nicht zuletzt auf Marshall McLuhan: The Gutenberg galaxy. The making of typographic man, London 1962. 82 Erstmals formuliert wurde das Theorem in Marshall McLuhan: Understanding media. The extensions of man, New York 1964, später gab er ihm eine neue Konnotation in ders./Quentin Fiore/Jerome Agel: The medium is the massage. An inventory of effects, New York 1967. 83 Friedrich A. Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986. 84 Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Materialität der Kommunikation, Frankfurt/M.; dies. (Hg.) (1993): Schrift, München 1988. 85 In diesem Kontext ist der zentrale Text Michel Foucault: L'archéologie du savoir, Paris 1969. 86 Derrida, Grammatologie.
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neue Erklärungsmuster entwickeln zu können.87 Wenn Medien keine willenlosen Kanäle mehr sind, die Botschaften übermitteln, sondern wenn diese die Botschaften wie die Situationen, in denen Kommunikation stattfindet, wesentlich bedingen, dann repräsentieren Medien nicht mehr einfach nur eine außerhalb von ihnen liegende Wirklichkeit. Vielmehr – und das ist der Grundgedanke einer paradigmatischen neuen Medien- und Kommunikationsgeschichte – kreieren Medien und Kommunikation (historische) Wirklichkeit. Dabei wird angenommen, dass kommunikatives Handeln immer auch seine eigenen (medialen) Bedingungen mitreflektiert.88 Nun ist die Frage nicht mehr, welcher Text formuliert die außen liegende Wirklichkeit am genauesten und adäquatesten. Da Wirklichkeit allererst durch das Medium konstituiert wird, ist vielmehr mit einer Pluralisierung von Wirklichkeiten dort zu rechnen, wo unterschiedliche Medien an einem historischen Phänomen beteiligt sind. Die Frage verschiebt sich weg von der nach der adäquaten Repräsentation hin zu den Konstituierungsbedingungen gesellschaftlicher und kultureller Wirklichkeit. Damit ist der Communicative Turn wesentlich mitverantwortlich für die postmoderne Krise der Repräsentation.89 Es steht nicht mehr das Verhältnis eines Textes (oder irgendeines anderen Mediums) zur Wirklichkeit und damit dessen Wahrheitsgehalt zur Debatte, sondern die Fähigkeit eines Textes, einer Rede, eines Bildes, einer Grafik, einer Geste oder eines anderen medialen Handelns, an andere Medien anzuschließen und selbst anschlussfähig zu sein.90 Neben dieser Thematisierung von Materialitäten ist es die Ausweitung des Medienbegriffs, der zu einer Erweiterung des ursprünglichen Cultural Turns geführt
87 Von diesem Theorem ausgehend entstand in den vergangenen Jahren eine neue Medienwissenschaft, die sich von der klassischen Publizistik deutlich unterscheidet. Exemplarisch die Arbeiten des Berliner Medienwissenschaftlers und Historikers Wolfgang Ernst: Im Namen von Geschichte. Sammeln – Speichern – (Er-)Zählen, München 2003; ders.: Signale aus der Vergangenheit. Eine kleine Geschichtskritik, Berlin 2013. 88 Beispielhaft erarbeitet für das Wechselverhältnis von Mondlandung und Fernsehentwicklung Lorenz Engell: Das Mondprogramm. Wie das Fernsehen das größte Ereignis aller Zeiten erzeugte und wieder auflöste, um zu seiner Geschichte zu finden, in: Friedrich Lenger/Ansgar Nünning (Hg.), Medienereignisse der Moderne, Darmstadt 2008, S. 150–171. 89 Vgl. James Elkins: Six stories from the end of representation. Images in painting, photography, astronomy, microscopy, particle physics, and quantum mechanics, 1980–2000, Stanford/Calif. 2008; Frank R. Ankersmit: Historical representation, Stanford/Calif. 2001. 90 Mit dem Begriff „Anschlussfähigkeit“ wird ein systemtheoretischer Begriff bedeutsam für die kulturwissenschaftliche Epistemologie. Der Begriff wurde in Anschluss an Jürgen Frese entwickelt in Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1987.
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hat. Zunächst hat sich die Kunstgeschichte im Rahmen dieser Kehre als Bildwissenschaften neu erfunden.91 Der damit einhergehende Visual92, Pictorial93 bzw. Iconic94 Turn, vielfach basierend auf einer in der Folge der Cultural Studies einsetzenden Erforschung der Geschichte und Bedingungen „visueller Kultur“95, hat die Andersartigkeit des Bildlichen gegenüber dem Sprachlichen thematisiert und damit eine hohe Breitenwirkung besonders in den Geschichts- und Literaturwissenschaften – mithin den klassischen Textwissenschaften – erlebt. Durch die Integration des spezifisch Visuellen wurde eine breitere mediale Basis ihrer Forschungsgegenstände wie ihrer Quellengruppen erarbeitet. Im Verlauf dieser Entwicklung wurden zunehmend mehr Phänomene als Medien thematisiert. Die Geschichtswissenschaft, die in den 1980er Jahren noch kaum zu legitimieren verstand, Bilder als Quellen zuzulassen96, sah sich zunehmend vor die Herausforderung gestellt, Bilder auch als Forschungsgegenstände und darüber hinaus als Ausdrucksmedien für Wissen97 zu akzeptieren. Das klassische Verständnis der Geschichtswissenschaft als Textwissenschaft verblasste zusehends. Parallel dazu entwickelten sich aber auch die verschiedenen regional definierten Literaturwissenschaften zunehmend mehr zu umfassenderen Kulturwissenschaften, die ein breites Medienspektrum als Quellen bearbeiteten. Gerade durch diese Ausweitung war es zunehmend möglich, den Medial Turn als universelle Grundlegung historischer Forschung zu interpretieren. Dort wo beispielsweise die Diskursanalyse Foucaults als zentrale Referenz des frühen Cultural Turns noch ihre Leerstelle hatte: in der Erklärung epochalen Wandels, konnte eine medienhistorische Perspektive eine solche anbieten. Dabei orientierte man sich an der Argumentationsstrategie, die oben als signifikant für die Toronto School herausgestellt wurde. Damit gelang es auch, einen solchen Wandel nicht auf der Ebene des Ereignishaften anzusiedeln, sondern in Tiefenstrukturen, die Ereignisse in ihrer 91 Klaus Sachs-Hombach (Hg.): Bildwissenschaft. Disziplinen, Themen, Methoden, Frankfurt/M. 2005; Hans Belting: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 32006; ders. (Hg.): Bilderfragen. Die Bildwissenschaften im Aufbruch, München u.a. 2007. 92 Angela Dalle Vacche (Hg.): The visual turn. Classical film theory and art history, New Brunswick/NJ. 2003. 93 Dieser Begriff wurde im Wesentlichen von Mitchell vertreten: W. J. T. Mitchell: Pictorial Turn. Eine Antwort, in: Hans Belting (Hg.), Bilderfragen. Die Bildwissenschaften im Aufbruch, München u.a. 2007, S. 37–46. 94 Zum Iconic Turn siehe Gottfried Boehm/Horst Bredekamp (Hg.): Ikonologie der Gegenwart, München 2009. 95 Die wichtigsten Basistexte in Nicholas Mirzoeff (Hg.): The visual culture reader, London 2 2010. 96 Rainer Wohlfeil: Das Bild als Geschichtsquelle, in: Historische Zeitschrift 243 (1986), S. 91– 100. 97 Stefan Haas: Designing Knowledge. Theoretische und pragmatische Perspektiven der medialen Bedingungen der Erkenntnisformulierung und -vermittlung in den Kultur- und Sozialwissenschaften, in: Fabio Crivellari/Sven Grampp (Hg.), Die Medien der Geschichte. Historizität und Medialität in interdisziplinärer Perspektive, Konstanz 2004, S. 211–236; ders.: Vom Schreiben in Bildern. Visualität, Narrativität und digitale Medien in den historischen Wissenschaften, in: zeitenblicke 5 (2006), Nr. 3, [2006-12-03], URL:http://www.zeitenblicke.de/2006/3/Haas/index_html, URN: urn:nbn:de:0009-9-6482 (22/12/2014).
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jeweiligen Phänomenalität erst ermöglichen. Die Cultural Turns gewannen dadurch wieder eine Perspektive, die es erlaubte, darüber nachzudenken, ob man nicht doch ein Theorem gefunden habe, dass eine Syntheseleistung ähnlich jener der Gesellschaftskategorie allererst erlaubte. Genau dies war der Kulturgeschichte ja immer von Vertretern der Historischen Sozialwissenschaft vorgeworfen worden, die besonders in Gestalt von Hans-Ulrich Wehler, das Ambivalente und Heterogene, von außen zufällig und willkürlich Wirkende der kulturhistorischen Arbeiten kritisiert hatten.98 Aber gerade im Hauptwerk des Doyens der Bielefelder Schule war diese Synthese durch den Preis eines Festhaltens an einer nationalstaatlichen Perspektive möglich gewesen99 – und diese wurde im Kontext der Cultural Turns zunehmend ausgehöhlt. DER POSTCOLONIAL TURN Mit dem Postcolonial Turn wird eine Argumentation entwickelt, die Internationalisierung nicht als reine strategische Entwicklungs- und Verwaltungsmaßnahme, sondern als epistemologisch essentiell für geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung ausweist.100 Ausgehend von den Arbeiten von Said, Bhabha, Spivak, Appadurai und anderen haben besonders Geistes- und Sozialwissenschaftler aus Indien, der arabischen Welt und Südostasien den diskursiven Zusammenhang herausgearbeitet, der zwischen Kolonialherren und Kolonialisiertem besteht.101 Zentral ist dabei, dass Fragen der Identität niemals jenseits dieser Dichotomie, sondern immer nur in ihr beantwortet werden können. So wird deutlich, dass jeder Identitätssetzung und damit auch jeder Begriffsbestimmung als zentraler kulturwissenschaftlicher Tätigkeit die Setzung eines Anderen inhärent ist. Für die Kulturwissenschaften bedeutet dies, dass das Andere immer schon Teil der eigenen Identität ist. Ein analytischer kritischer Diskurs der Aufklärung dieser Relation stellt eine epistemologische Grundbedingung geistes- und sozialwissenschaftlicher Forschungsleistung dar. Dabei eingeschlossen ist auch die Forderung nach einer Öffnung und Intensivierung des transnationalen und besonders des transkontinentalen Dialogs. Postkolonialität bezeichnet besonders in den Politik- und Sozialwissenschaften häufig die Epoche nach dem Zeitalter der Kolonialisierung und beginnt daher mit dem Unabhängigkeitsprozess Indiens. Im Kontext des Postcolonial Turns ist aber nicht so sehr eine epochenspezifische Definition des Begriffs relevant. Vielmehr agiert er als ein Deutungsrahmen für epistemologische Grundannahmen und Posi-
98 Bsp. Wolfgang Hardtwig/Hans-Ulrich Wehler, Einleitung, in dies.: Kulturgeschichte heute, S. 13. 99 So in Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 5 Bde., München 1987–2008. 100 Zur Einführung Robert J. C. Young: Postcolonialism. An historical introduction, Malden 2008. 101 Die wichtigen Texte in Bill Ashcroft/Gareth Griffiths/Helen Tiffin (Hg.): The post-colonial studies reader, London/New York 22008. Zum Postcolonial Turn vgl. Raziuddin Aquil/Partha Chatterjee (Hg.): History in the vernacular, Delhi 2008; Dipesh Chakrabarty: Provincializing Europe. Postcolonial thought and historical difference, Princeton/NJ. 2000.
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tionen, die sich aus der Bewusstwerdung der eminent erkenntnistheoretischen perspektive der Kolonialsituation ergeben. Kulminationspunkt dieses noch in Gang befindlichen Prozesses ist nicht zufälligerweise Edward Said. Dabei hat diese Position deutliche Reminiszenzen an die Arbeiten von Franz Fanon und den Diskurs um die ‚Négritude‘ im Kontext der Entkolonialisierung in den 1950er und -60er Jahren.102 Damit verbunden war die Abkehr von der europäischen Aufklärung als einem weltumspannenden Projekt des „Ausgangs des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“103. In der Spiegelung ehemals Kolonialisierter las sich dieses Unterfangen als ein weiterer Versuch, weiße, männliche und besonders europäische Überzeugungen als verpflichtend auch für NichtEuropäer zu formulieren – oder anders formuliert, dass Europäer dann doch wiederum den Nicht-Europäern erklärten, wie die Welt funktioniert.104 Franz Fanon schrieb 1961 in ‚Die Verdammten dieser Erde‘: „Verlassen wir dieses Europa, das nicht aufhört, vom Menschen zu reden, und ihn dabei niedermetzelt, wo es ihn trifft, an allen Ecken seiner eigenen Straßen, an allen Ecken der Welt. Ganze Jahrhunderte hat Europa nun schon den Fortschritt bei anderen Menschen aufgehalten und sie für seine Zwecke und seinen Ruhm unterjocht; ganze Jahrhunderte hat es im Namen seines angeblichen ‚geistigen Abenteuers‘ fast die ganze Menschheit erstickt. [...] Also, meine Kampfgefährten, zahlen wir Europa nicht Tribut, in dem wir Staaten, Institutionen und Gesellschaften gründen, die von ihm inspiriert sind.“105
Damit war eine Position formuliert, die es der vermeintlichen ‚Dritten Welt‘ nicht nur erlaubte, sondern es als notwendig befand, dass sich diese eigenständig in den intellektuellen Diskurs einbringe. Zunächst geschah dies an Schnittstellen westlicher und asiatischer, afrikanischer oder lateinamerikanischer Wissenschaft, meist formuliert von Autorinnen und Autoren, die sich akademisch in der westlichen Welt bewegen konnten, aber Erfahrungen und Reflexionen aus ihrer Situation als Kolonialisierte verarbeiten konnten. Besonders bedeutsam ist dabei das Buch ‚Orientalism‘ von Edward Said.106 1978 erschienen untersuchte der palästinisch stämmige, in New York lehrende Literaturwissenschaftler auf der Basis der Diskurstheorie das Sprechen des Okzidents über den Orient. Diesen Diskurs nannte er Orientalismus, insofern er weniger ein authentisches Bild des Orients, denn eine spezifische westliche Wahrnehmung des Nahen Ostens formuliert. Dabei bildet sich dieser durch Aneignung von Diskurselementen in der Lektüre älterer westlicher Texte und überlagert oft die konkrete Erfahrung des Orients. Dabei fällt Said besonders auf, dass Unterschiede der Orientalen kaum thematisiert werden und stattdessen ein relativ homogenes Bild der orientalischen Kultur und ihrer Menschen gezeichnet wird. Saids besondere Bedeutung für die Wissenschaftsgeschichte liegt nun darin, dass 102 Sunday O. Anozie: Negritude, structuralism, deconstruction. In: Henry Louis Gates Jr. (Hg.): Black literature and literary theory, New York/London 1984, S. 105–125. 103 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Berlinische Monatsschrift, Dezember 1784, S. 481–494, S. 481. 104 Kritisch hierzu Robert Young: White mythologies. Writing history and the West, Repr. London 2001. 105 Frantz Fanon: Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt/M. 1966, S. 239ff. 106 Edward W. Said: Orientalism, London 1978.
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er dieses nicht als eine typische Anwendung von Stereotypen liest, sondern die Funktion dieses Prozesses neu interpretiert. Es gehe in dieser Konstruktion eines Orients nicht um diesen selbst, schon gar nicht um ein authentisches und wissenschaftlich überprüfbares Bild. Vielmehr ist der Orientalismus ein Selbstvergewisserungsdiskurs des Westens, um vor einer konstruierten negativen Folio die eigene Identität zu verhandeln. Einen solchen Prozess der diskursiven Konstruktion eines fremden Anderen zur einfacheren Definition des eigenen Selbst, hat Gayatri Chakravorty Spivak als ‚Othering‘ bezeichnet.107 Im weiteren Verlauf der Diskussion des Theorems wird immer stärker die wechselseitige Verflochtenheit von Kolonialherr und Kolonialisiertem betont, die insofern aufeinander bezogen sind, als sie sich nur durch Bezug aufeinander definieren können. In einem weiteren Schritt wird dann, unter anderem in den Arbeiten von Homi Bhabha, die scharfe Trennlinie aufgehoben und der Zwischenraum thematisiert. Dies geschieht unter dem Begriff des „Hybriden“, das, postmodernen Denkansätzen von Pluralität, Collage und Neukonstruktion verpflichtet, Zwischen- und Mischformen thematisiert.108 Epistemologisch war damit ein zentrales Theorem angesprochen. Nicht nur ist jedes Wissen konstruiert – das war einer der Ausgangsannahmen der kulturwissenschaftlichen Wende. Vielmehr ist es auch an einen Ort in Raum und Zeit, an einen kulturellen Kontext gebunden. Fraglich wurde dadurch wieder einmal die Universalität des Wissens. Zugleich wurde aber die Forderung nach Offenheit und selbstkritischer Reflexion lauter. Insofern ist der Postcolonial Turn nicht primär eine Ausweitung auf eine Global History, bei der es nur um die Frage der räumlichen Ausdehnung des Blicks geht, obwohl diese der institutionalisierten Geschichtswissenschaft bereits schwer genug gefallen ist. Es ist die Frage nach dem Status des erarbeiteten Wissens und seiner Funktion, die es in der Auseinandersetzung mit einem Phänomen hat, welches immer weniger als ‚die (eine) Geschichte‘ thematisierbar war. Vor dem Hintergrund des Postcolonial Turns ist die Frage immer zu beantworten, welche – und vor allem wessen Geschichte eigentlich geschrieben wird, wenn über Geschichte verhandelt wird. Koselleck hatte noch das „Vetorecht der Quellen“109 als Fokus der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung formuliert, doch wird schon in dieser, die Wirkmächtigkeit der Quellen eigentümlich reduzierenden Formulierung deutlich, dass der Empirismus als epistemologischer Nukleus
107 Gayatri Chakravorty Spivak: The Rani of Simur, in: Francis Barker (Hg.), Europe and its others, Vol. 1: Proceedings of the Essex Conference on the Sociology of Literature, July 1984, Colchester 1985. 108 Homi K. Bhabha: Culture's In-Between, in: Stuart Hall/Paul Du Gay (Hg.), Questions of cultural identity, London 1996, S. 53–60. Vgl. auch u.a. Elisabeth Bronfen (Hg.): Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, Tübingen 1997; Robert J. C. Young: Colonial desire. Hybridity in theory, culture, and race, London 2006. 109 Reinhart Koselleck: Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt, in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M. 1989, S. 176–207, S. 206.
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der historischen Wissenschaften kaum mehr zu halten war.110 Die Quellen sind dann nicht mehr der Dreh- und Angelpunkt wissenschaftlicher Historiographie. Da sie immer auslegebedürftig sind, ist das Wissen, dass aus ihnen generiert wird, immer auch Bedingungen unterworfen, die außerhalb reiner empirischer Erkenntnis, aber auch jenseits rein ideologischer Nutzbarmachung von Geschichte liegen. Wenn der US-Amerikanische Mitbegründer der Native American Studies Jack D. Forbes ein Buch schreibt über ‚The American Discovery of Europe‘111, dann verdeutlicht dies jenseits einer möglichen quellenkritischen Replik, die Notwendigkeit, im postkolonialen Globalisierungsprozess Geschichte besonders als Aushandlung von Perspektiven zu sehen. Diese können nicht ohne weiteres in einer Metaperspektive synthetisiert werden – zumindest nicht, solange deren ‚Rationalität‘ nur in einer klassisch europäischen Begriffsbedeutung verstanden wird. SCHLUSS: EPISTEMOLOGIE DER GESCHICHTSWISSENSCHAFT NACH DEN CULTURAL TURNS Neben den genannten sind noch weitere Turns unter dem Dach der Cultural Turns versammelt. In allen geht es um die Frage, was als primär wirklichkeits- und veränderungserklärender Faktor in die wissenschaftliche Begriffsbildung implementiert werden soll. Es geht weniger darum, zu behaupten dass nur dieser Faktor eine historische Wirklichkeit ausmacht. Vielmehr steht im Zentrum die Generierung einer sinnvollen Beschreibung und einer in sich schlüssigen Erklärung eines historischen Phänomens, das dann in der Kombination Erkenntnis ergibt. Die kulturwissenschaftliche Wende ist ganz zentral eine bei der es um die Bedingungen der Generierung von Wissen geht. Und dieser Aspekt wird recht konsequent auf die eigene Arbeitsweise übertragen.112 Als Theory Turn rückt das Bewusstsein in den Mittelpunkt, dass auch wissenschaftliches Wissen keines ist, das sich aus dem Hut zaubern ließe, sondern dass durch intensive epistemologische Strategien erarbeitet wird. Da sich einige der oben genannten grundlegenden Begriffsbestimmungen einzelner Turns widersprechen (beispielsweise der Linguistic und der Body/Spatial turn jeweils in ihrer radikalen Auslegung) erscheint eine die Widersprüche aufhebende Synthese heute kaum mehr möglich, zumindest nicht nach dem aktuellen Diskussionsstand. Dies verdeutlicht aber, dass die Einheit der Kulturwissenschaften
110 Empirismus verstanden hier als eine erkenntnistheoretische Grundposition, die Wissen glaubt allein aus den empirischen Befunden (und damit in der Geschichtswissenschaft von den Quellen) ableiten zu können. 111 Jack D. Forbes: The American discovery of Europe, Urbana 2007. 112 Dass dies nicht für jedes einzelne Buch gilt, das mit dem Etikett Kulturgeschichte aufwartet, versteht sich von selbst. Und dass Kritik daher immer auch wieder Beispiele findet, die man leicht zitieren kann auch. Letztlich aber geht es darum, die Praxis der Historiographie im Kontext der kulturwissenschaftlichen Wende sowie die mit ihr intensiv gekoppelten theoretischen Reflexionen ernst zu nehmen und metatheoretisch zu reflektieren.
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nicht über einen gemeinsam geteilten Gegenstand, ein gemeinsam geteiltes Theorem oder eine Definition hergestellt wird, sondern über eine Diskurspraxis, in der die epistemologische Begründung jedes einzelnen Forschungsvorhabens zentral ist. Diese Letztbegründung lässt sich nicht mehr durch eine Referenz auf ein gemeinsam geteiltes Ideologem abtreten. Daher verschiebt sich die Logik der Legitimation von Forschung ebenso wie die Praxis in Richtung konzeptioneller Auseinandersetzungen. Theoriebildung wird zu einer zentralen Aufgabe jedes einzelnen Vorhabens. Wo diese Theoriebildung nicht mehr nur fachimmanent und national, sondern disziplinenübergreifend und transnational durchgeführt wird, kann man von ‚Neuen Kulturwissenschaften‘ sprechen, in die die ‚Neue Kulturgeschichte‘ durch wechselseitige Rezeption und Kooperation eingebunden ist. Da diese darüber hinaus über einen geteilten, sich dynamisch verändernden Referenzkorpus113 und über gemeinsame Problemfelder wie Pluralität, Ambivalenz, Kontingenz oder Theoriebedürftigkeit verfügen, besteht ein hinreichend dichter diskursiver Korpus, der die Einheit in der Vielfalt ermöglicht. Aufgrund der Heterogenität der mittlerweile mit dem Umbrella Term Kulturwissenschaften umschriebenen Vorhaben, Theoremen, Paradigmen und Gegenständen wird in jüngsten Publikationen nicht mehr von Cultural Turn im Singular, sondern von Cultural Turns im Plural gesprochen. Damit werden die oben genannten Widersprüche innerhalb der Theoriebildung integrierbar. Dies trägt auch der Tatsache Rechnung, dass sich die Neuen Kulturwissenschaften nicht so sehr über eine gemeinsame Gegenstandsdefinition als zusammengehörig begreifen. Vielmehr ist das sich Einlassen auf die spezifische Begründungsleistung von Theorien und Methoden für empirische Forschungsvorhaben als auch die Praxis, über diese Sprache Anschlussfähigkeit, Austausch, Kommunikation, Vergleichbarkeit und Evaluation herzustellen, zentral für die Konstitution der Neuen Kulturwissenschaften. Der Kern der Cultural Turns ist damit ein Theory Turn: Das in den Vordergrundrücken theoretischer und methodologischer Fragen für die Geistes- und Sozialwissenschaften. Theorie ist dabei nicht mehr ein in Nischen vollzogener Ort rein metatheoretischer Diskurse, sondern die kritische Reflexion der Forschungspraxis und der darauf aufbauenden Bildung rationalisierter Forschungskonzepte. Notwendig ist dies, da sich in den Cultural Turns jeglicher Rest an reinem Empirizismus,
113 Hierhin gehört auch die Beobachtung, dass es im kulturwissenschaftlichen Diskurs zunehmend weniger Meistertheoretiker gibt, die als zentrale Referenzen zitiert werden. Diejenigen, bei denen dies dennoch geschieht, sind wie Foucault oder Luhmann bereits verstorben, oder auf sie wird wie im Fall Homi K. Bhabhas oder Bruno Latours eher als segmentäre Referenzen verwiesen. Häufig wird dies als ein Mangel angesehen, da dies beweise, dass es nicht mehr eine Metatheorie der Kulturwissenschaften gebe. Man kann dies aber auch dahingehend interpretieren, dass es nicht mehr den einzelnen Autoren gibt, der seine Zeit in einem einzigen Text synthetisiert. Wie sollte es dies auch geben, wenn eine Diskurspraxis mit Pluralismus und Ambivalenzen operiert. Daher ordnet sich das Feld in eine Vielzahl zitierfähiger Texte, die gemeinsam einen Referenzkorpus geben, den man aufgrund seiner dynamischen Wandelbarkeit auch als Referenzwolke bezeichnen kann. In diesen Kontext gehört auch der Strukturwandel wissenschaftlicher Schulen. Vgl. zu letzterem
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der Wahrheit als auffindbar in den Quellen definiert, ausgeschlichen hat. Stattdessen wird wissenschaftliche Forschung als Dialog von Empirie und Theorie verstanden, wobei sich diese jeweils wechselseitig konstituieren. Und anders als in den Jahrzehnten zuvor, in denen wissenschaftstheoretische Überlegungen von empirischen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen randständig waren, wird Theorie nun zur Metasprache. Durch sie wird transdisziplinäre und transnationale Kommunikation ermöglicht. Sie ist das Medium, um Interpretationsprobleme auszuhandeln. Sie ermöglicht die Anschlussfähigkeit von Forschungsvorhaben über Disziplinen, Epochen, Räume und Wissenschaftstraditionen hinweg. Dieser Prozess ist mittlerweile von einem Avantgardevorhaben in den frühen 1990er Jahren zum Mainstream des geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschungsalltags geworden. Die allgemeine Forderung nach ‚mehr Theorie‘ ist als Problemstellung wie als Resultat der Cultural Turns zu lesen. Dabei ist der spezifische theoretische Ansatz der Neuen Kulturgeschichte vielfach mit poststrukturalistischer und postmoderner Theoriebildung kongruent, auch wenn sich zunehmend die Frage Platz verschafft, was wohl nach all diesen Diskursformationen an Neuem sich herausbilden könnte. Die zeitliche Ansetzung auf das Jahr 1990 mit örtlich unterschiedlicher Ausformung von einigen Jahren früher oder später, soll dabei nicht darüber hinwegtäuschen, dass nicht alles ganz neu ist an den Cultural Turns. Schon Thomas S. Kuhn oder vor ihm Ludwig Fleck erarbeiteten einen historisch informierten, auf Pluralität setzenden und einen linearen Fortschrittsgedanken vermeidenden Ansatz in der Wissenschaftstheorie.114 Besonders jener von Kuhn wurde auch intensiv in der Geschichtswissenschaft rezipiert und für die Selbstbeschreibung der Strukturgeschichte genutzt.115 Aber bei Kuhn ist der Paradigmenwechsel noch von einem zeitlichen Nacheinander gekennzeichnet. Mit den Cultural Turns wird eine Forschungspraxis entwickelt, in der die Pluralität synchron stattfindet. Und dabei ganz postmodern, lässt sich diese Synchronität als Ambivalenz in den Wissenschaftlerbiografien nachweisen. In den Cultural Turns geht es weniger darum, sich ideologisch einem Turn zu verschreiben und diesen als gültiges ontologisches Modell zu verteidigen. Vielmehr sind die Turns methodische Angebote, die je nach Pragmatik des individuellen Forschungsvorhabens eingesetzt werden können. Dabei entstehen in den Biografien Situationen, dass sich einzelne Texte ebenso widersprechen wie oben ein Widerspruch in bestimmten Turns herausgearbeitet worden ist. Die Pluralität und Ambivalenz der Cultural Turns funktionieren nicht nur gruppenspezifisch, sondern teilweise sogar innertextlich. Das macht es für Außenstehende manchmal schwierig, den epistemologischen Ort der Ergebnisse nachzuvollziehen. Die Theoriebindung führt dazu, dass die jeweilige konzeptionelle Rahmung der Erkenntnisse mitentscheidend ist für deren Gültigkeit. Die Cultural Turns hat 114 Thomas S. Kuhn: The structure of scientific revolutions, Chicago 1962; Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Basel 1935. 115 Besonders durch Jörn Rüsen unter dem Begriff der „disziplinären Matrix“, u.a. in: ders.: Rekonstruktion der Vergangenheit. Die Prinzipien der historischen Forschung, Göttingen 1986, S. 9 u.ö.
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wie die Postmoderne insgesamt der Glaube an die eine universelle Wahrheit verlassen – oder sie ist zumindest für den Moment angesichts ihrer nicht auffindbaren Legitimierung in den Hintergrund getreten. Dafür dominiert die Cultural Turns eine Kultur der Selbstkritik, der permanenten Auseinandersetzung, der Reflexion von alternativen Deutungsmustern, für die nicht mehr ein anderer Wissenschaftler notwendig ist, sondern die man sich durch Einnehmen einer anderen Turnposition selbst entwickeln kann. Forschungsgeschehen ist dadurch insgesamt vielfältiger, aber auch aufwändiger geworden. Jede einzelne empirische Arbeit muss ihr Konzept selbst im Dialog mit dem Forschungsgegenstand entwickeln und gegen Alternativen, von denen angenommen wird, dass es sie immer gibt, begründen. Sätze wie „Wenn man die Quellen richtig liest …“ erübrigen sich als Farce. An die Stelle des Begriffs Wahrheit treten jene der Kontingenz und der Anschlussfähigkeit. Nachzuweisen ist die Schlüssigkeit der theoretisch entwickelten Position des jeweiligen empirischen Unternehmens und seine Passung mit der empirischen Grundlage in der Gestalt vorhandener Quellen – womit auch die kulturwissenschaftliche Praxis klassischen Standards verbunden bleibt. Der Unterschied ist dabei im Wesentlichen, dass der Position der Kontingenz immer bewusst ist: das zu behandelnde Phänomen könnte auch anders interpretiert und erklärt werden. Dies zeigt sich auch an einer hohen Kontextsensibilität: Die Cultural Turns formulieren eine Position, in der das zu erklärende Phänomen immer in einen Kontext eingebettet sein muss. Dieser Kontext ergibt sich aber nicht, wie dies im Historismus oder der Strukturgeschichte in der Regel angenommen wurde, quasi natürlich durch die Einordnung des Phänomens in einen stabilen historischen Kontext, sondern diese Kontextualisierung geschieht durch den Interpretierenden, genauer gesagt durch das jeweils vertretene Konzept im Sinne einer Theorie und ist kontingent. Dies bedeutet aber auch, dass die Bedeutung eines Werkes oder einer sozialen Handlung nicht mehr in ihr selbst oder in der Intention ihres Schöpfers liegt (so die Position des Historismus), sondern, wie es der britische Kulturwissenschaftlicher John Storey im Anschluss an Stuart Hall formuliert: „ […] cultural texts and practices are not inscribed with meaning, guaranteed once and for all by the intentions of production; meaning is always the result of an articulation (an active process of ‘production in use’). The process is called ‘articulation’ because meaning has to be expressed, but it is always expressed in a specific context, a specific historical moment, within a specific discourse(s).”116
Wo die Entscheidung für ein Phänomen sich nicht mehr aus einem empirischen Kontext ergibt, wird das Forscherindividuum bedeutsam. Es ist nicht mehr der verborgene und nicht auftauchende Rest, dasjenige, das hinter der Empirie verschwindet, sondern konstitutiv für das Forschungsvorhaben. Innerhalb der Cultural Turns sind die Positionen dabei sehr weit gefächert, reichen von einer stark das Individuum und seine Körperlichkeit betonenden Position bis zu solchen, die die Logik der Theoriebildung in den Fokus nehmen. Insgesamt haben die Cultural Turns an diesem Punkt ein Rationalitätsdefizit. Die Aufklärung der Praxis kulturhistorischer 116 John Storey: Introduction, in: ders., (Hg.): What is Cultural Studies. A reader, London u.a. 1996, S. 4.
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Forschung ist nicht weit vorangeschritten, gerade, weil diese Praxis noch nicht selbst Gegenstand empirischer Forschung ist. Es ist aber zu erwarten, dass sich die Weiterentwicklung der Forschungspraxis und der Wissenschaftstheorie der Geschichte mit an diesem Punkt entscheiden wird. Mit dieser starken Individualisierung von Forschungspraxis geht einher, dass Geschichtswissenschaft als eine kreative Tätigkeit erfahrbar wird. Auch wenn die empirische Basis nicht erfunden werden kann und soll, die Zeiten, in denen Historiker und Historikerinnen der Überzeugung waren, es gebe nur ‚eine historische Methode‘ sind lange vorbei.117 Insofern ist bei der Konstituierung neuer Forschungsfragen, der Generierung neuer untersuchenswerter Gegenstände sowie der an dieser anschließenden Theoriebildung immer auch ein Moment Kreativität notwendig. Auch dieses ist noch nicht Gegenstand expliziter Forschung geworden, nicht zuletzt, weil die Naturwissenschaften trotz allen wissenschaftstheoretischen Skeptizismus des 20. Jahrhunderts, immer noch erfolgreich vorleben, dass man gesellschaftliche Bedeutung am effektivsten an die Suggestion des ‚im Besitz von Wahrheit-seins‘ knüpft und nicht an eine aufgeklärte selbstkritische Theorie- und Methodendiskussion. Metatheoretisch wird im Anschluss an die Cultural Turns vor allem die Frage behandelt, wie die sie tragenden theoretischen Grundüberzeugungen medial am sinnvollsten repräsentiert und dargestellt werden können. Dabei ist besonders das klassische Textformat in die Kritik geraten, denn mit seiner vermeintlichen Linearität orientiert es sich meist an chronologischen Abfolgen oder logischen Reihungen von Ursache- und Wirkungsketten. Aber gerade diese Linearität ist es, die zunehmend fragwürdig geworden ist.118 Nicht nur bedarf es einer sinnvollen Repräsentation der Vielfältigkeit möglicher Interpretationsmuster für spezifische historische Prozesse, es ist auch die Gleichzeitigkeit von theoretischen Konzepten zunehmend schwieriger darstellbar. Offensichtlich wird dies auch im vorliegenden Text, der eine zeitliche Chronologie der einzelnen Turns nahelegt, obwohl diese sich durch ein kompliziertes Netzwerk von sich gegenseitig beeinflussender und abgrenzender Diskursaktivität entwickelt haben. An diesem Punkt setzen die vielfältigen Überlegungen an, jenseits traditioneller Textlichkeit neue Medien in ihrer Möglichkeit zu erkunden, Wissenschaftliche Erkenntnis sinnvoll darstellen zu können. Nicht zuletzt ist auch der logische Status des kulturhistorischen Wissens nicht geklärt. Zwar gibt es eine Fülle von Ansätzen, die in diesem Beitrag erläutert worden sind, aber die Cultural Turns haben hier sicherlich ein Rationalitätsdefizit, das nur aufgelöst werden kann, wenn man stärker rationalitätsaffine Wissenschaftssprachen zur Beschreibung und Analyse der Forschungspraxis heranzieht. Letztlich bedeutet dies, dass die analytische Tradition wieder an die Erfahrungen der Cultural Turns angeschlossen werden muss.
117 Womit dann die quellenkritische Methode gemeint war, die als monolithischer Rationalitätsgarant historischer Forschung angesehen wurde. 118 Die Diskussion zusammengefasst in: Stefan Haas: Fiktionalität in den Geschichtswissenschaften, in: Tobias Klauk/Tilmann Köppe (Hg.): Fiktionalität, Berlin/Boston 2014, S. 516-532.
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Theorie hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren zu einer Metasprache und einem reflexiven Medium der wissenschaftlichen Verständigung und Aushandlung von Forschung, Erkenntnis und Wissen innerhalb wie über die Grenzen geistes- und kulturwissenschaftlicher Disziplinen hinaus entwickelt. Theorie als Reflexion der jeweils eigenen Forschungspraxis bildet das zweite Standbein neben der Empirie für jede empirische Wissenschaft. Theorie in diesem Verständnis meint als Reflexion der eigenen Forschungspraxis die Herstellung von Anschlussfähigkeit und Kritisierbarkeit der Konzeption, Methodologie und Logik individueller Forschungs- und Erkenntnisleistungen. Ohne Reflexion der Theorie ist Empirie heute nicht mehr leistbar. Für junge Studierende ist es daher essentiell zu erlernen, die Frage nach dem Was des Erforschten und Diskutierten immer mit der Frage nach dem Wie der Generierung des Wissens verknüpfen zu können, um Fragen nach dem Warum und nach komplexen Zusammenhängen in einer transnational und transdisziplinär kompatiblen und anschlussfähigen Sprache zu reflektieren und kommunizieren. Nur in dieser Form lassen sich Kritisierbarkeit und Diskursoffenheit von wissenschaftlicher Forschung garantieren.
SPATIAL TURN(S) Die Wirklichkeiten des Raumes in der Neuen Kulturgeschichte Julian Aulke VON ANDEREN RÄUMEN „Always spatialize!“1 So lautete der Appell des postmodernen Raumtheoretikers Edward W. Soja in seiner bahnbrechenden Studie über den sogenannten Thirdspace am Beispiel Los Angeles. Welchen Einfluss sein Werk auf die Neue Kulturgeschichte ausüben würde, hätte Soja wohl in den 1990er Jahren selbst nicht erwartet. Heute, fast zwanzig Jahre danach, scheint die begriffliche Verwirrung um den Raum in der Neuen Kulturgeschichte eher größer denn kleiner geworden – womöglich Folge des Theorie- und Methodenpluralismus der Postmoderne. War es in den großen akademischen Schulen des Historismus oder der Historischen Sozialwissenschaft vermeintlich klar, was HistorikerInnen meinten, wenn diese vom Raum sprachen, so gerät die Vorstellung was der Raum in der Geschichte eigentlich ist spätestens seit den 1990er Jahren ins Wanken. Herkömmlicherweise wurde der Raum von HistorikerInnen dreidimensional verstanden. Es waren und sind natürlich immer noch Städte, Regionen oder Staaten, die als Schauplätze der Geschichte dienen. Ihnen kann ein bestimmter geographisch lokalisierbarer Ort zugewiesen werden, Geschichte findet demnach an einem Ort statt.2 Deutlich wird dieses Raumverständnis bei der Geschichte von Nationalstaaten. Fokussierten sich HistorikerInnen lange auf ihre Geschichte, dienten ihnen für deren Unterscheidung Grenzen. Mit natürlichen Grenzen wie Flüssen, Gebirgsketten oder Wüsten war ihnen der Ort ihrer Geschichten als natürliche Gegebenheiten vermeintlich vorgegeben.3 Selbst wenn Menschen die Grenzen von Nationalstaaten veränderten, stand das Räumliche für HistorikerInnen stets für eine physische Konstante neben der Zeit. Auf eine einfache Formel gebracht: Geschichte spielt sich in Raum und Zeit ab. Als physische Einheiten, „welche als Akteure oder Entitäten behandelt wurden, waren [Räume] 1 2 3
Edward W. Soja: Thirdspace. Journeys to Los Angeles and Other Real-and-imagined Places, Cambridge/Mass. 1996, S. 204. Stadtlandschaft und Stadt sind beispielsweise weitere solcher Verortungen. Vgl. Johannes Burkhard/Thomas M. Safley /Sabine Ullmann (Hg.): Geschichte in Räumen, Konstanz 2006. Noch um die Jahrtausendwende wird selbst in Standardwerken Raum lediglich als physische Einheit thematisiert; vgl. Michael Maurer (Hg.): Aufriß der Historischen Wissenschaften. Band 2: Räume, Stuttgart 2001.
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stets ein Faktor historiographischer Deutungsmuster“4 und somit schon lange vor einem Spatial Turn wichtig – jedoch weniger hinterfragt – beim Schreiben von Geschichte. Gerade für das lange 20. Jahrhundert und den Herausforderungen der Postmoderne lassen sich jedoch verstärkt räumliche Phänomene beobachten, die einen anderen Umgang mit dieser Kategorie erfordern. Es waren Kriege, der Kampf um Rohstoffe oder größere ideologische Auseinandersetzungen wie der Ost-West-Konflikt, die die Weltkarte im letzten Jahrhundert grundlegend verändert haben. Für das frühe 20. Jahrhundert konnte der Geschwindigkeitstheoretiker Paul Virilio feststellen, dass durch die Nutzung neuer Kriegstechnologien bereits im Ersten Weltkrieg die Art des Kampfes umfassend verändert wurde.5 Ein direktes Sehen und Gesehen werden war in den Schützengräben des Stellungskrieges kaum mehr möglich. Der Einsatz chemischer Kampfstoffe führte auch dazu, dass sich der Frontverlauf nicht mehr eindeutig bestimmen ließ und die Orientierungslosigkeit unter den Soldaten auf beiden Seiten wuchs. Raum wurde demnach nicht mehr nur geographisch entlang einer klar erkennbaren Grenzlinie wahrgenommen, sondern affektiv. Wie der Sozialpsychologe Kurt Lewin in seinem bekannten Aufsatz zur „Kriegslandschaft“6 zeigen konnte, teilten die Soldaten den Kriegsschauplatz in sichere und gefährliche Räume ein. Lewin fiel auf, dass die Soldaten ihre Umwelt mittels räumlicher Relationen beschrieben und so andere Sinnrelationen entstehen ließen. Ihre Wahrnehmung des Raumes hatte sich verändert. Überlebenswichtig geworden war für sie das affektive Wahrnehmen des Raumes. Hierfür teilten sie den Raum in verschiedene Felder ein.7 Die Gefahr lag frontal zum jeweiligen Punkt, an dem man sich befand. Neben diesem Gefahrenraum trat der relativ sichere Raum hinter der eigenen Linie. Diesen Rückzugsraum nahmen die Soldaten als Sicherheitsraum wahr, wenn sich die Frontlinie eindeutig erkennen ließ.8 Virilio zufolge verlagere sich das Räumliche auch aufgrund dieses Wandels der Kriegstechnologie im 20. Jahrhundert zunehmend von realen hin zu virtuellen Räumen. Die in Echtzeit gelieferten Bilder über den zweiten Golfkrieg im Jahre 1991 durch die Luftaufklärung ließen andere Ansichten von Landschaften zu, der Krieg wurde zum Medienereignis. Was war noch wirklich an diesen Bildern? Nicht selten wirkten diese in den Nachrichtensendungen der Welt wie Computersimulationen, in denen das Leid und der Tod der einzelnen Menschen nicht mehr direkt sichtbar
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Eric Piltz: „Trägheit des Raumes“. Fernand Braudel und die Spatial Stories der Geschichtswissenschaft, in: Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, S. 75–102, S. 77. Vgl. Paul Virilio: Krieg und Fernsehen, München 1993, S. 61–64. Kurt Lewin: Kriegslandschaft, in: Zeitschrift für angewandte Psychologie 12 (1917), S. 440– 447, S. 441. Vgl. Christian Bermes: Philosophische Feldforschung. Der Feldbegriff bei Cassirer, Husserl und Merleau-Ponty, in: Dirk Rustemeyer (Hg.), Formfelder. Genealogien von Ordnung, Würzburg 2006, S. 9–26, S. 17. Vgl. Kurt Lewin: Der Richtungsbegriff in der Psychologie. Der spezielle und allgemeine hodologische Raum, in: Psychologische Forschung 19 (1934), S. 249–299.
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waren. Wenngleich dieser räumliche Ausschnitt, der durch die Luftaufnahmen geboten wurde unwirklich wirkte, war er doch Teil der Wirklichkeit unserer Wahrnehmung. Gerade durch die Entwicklung immer neuerer Technologien scheint die Wahrnehmung von realen Räumen zunehmend durch die Wahrnehmung artifizieller Räume ergänzt zu werden. Hieraus ergibt sich die Frage, welche Räume eigentlich Teil der Wirklichkeit sind. Jean Baudrillard zufolge simulierten Zeichen eine künstliche Realität als Hyperrealität und bildeten somit keine wirkliche Welt mehr ab. Dabei würden Zeichen referenzlos werden, da sie sich vom Bezeichneten lösten.9 Wenn sich neben realen Räumen demnach weitere Dimensionen des Räumlichen ergeben, die wir wahrnehmen können, so ließe sich dennoch – entgegen Baudrillard – von mehreren Wirklichkeiten sprechen. Die Wandelbarkeit, Virtualität und Imaginiertheit von Räumen verändert unsere Vorstellung des konstanten und träge wirkenden natürlichen Raumes, in dem sich Geschichte lediglich abspiele. Im vorliegenden Beitrag soll daher für die Verwendung eines mehrdimensionalen Raumbegriffs plädiert und der Frage nachgegangen werden, welche Wirklichkeitsausschnitte durch einen raumanalytischen Zugang beobachtbar werden. Dem Humangeographen Edward Soja zufolge spiele sich Geschichte nicht nur in der Zeit ab, sondern auch in der Konstruktion menschlicher Geographien, der gesellschaftlichen Produktion von Raum und der unaufhörlichen Formation und Reformation von geographischen Landschaften. „So unbudgeably hegemonic has been this historicism of theoretical consciousness that it has tended to occlude a comparable critical sensibility to the spatiality of social life, a practical theoretical consciousness that sees the lifeworld of being creatively located not only in the making of history but also in the construction of human geographies, the social production of space and the restless formation and reformation of geographical landscapes: social being actively emplaced in space and time in an explicitly historical and geographical contextualization.“10
Soja zufolge sind es eben nicht reale Räume, sondern konstruierte Räume, die andere Formen des Erlebens und Spürens zuließen. Wenn auch diese nicht realen Räume wahrgenommen werden, so würden neben die vertrauten Kategorien des Lokalen, Nationalen, oder Globalen neue Kategorisierungen treten, mit denen die Welt geordnet werden kann.11 Das, was Menschen beispielsweise als ihre Heimat bezeichnen, muss nicht nur der heimische, vertraute Ort sein, an welchem man aufgewachsen ist. Es kann auch die Erinnerung an einen Ort sein, oder die Vorstellung, was diesen ausmachen könnte.12 Räume können somit real und gleichzeitig virtuell 9
Vgl. Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod, Berlin 2012, S. 20; ders., Simulacres et simulation, Paris 1981. 10 Edward W. Soja: Postmodern Geographies. The Reassertion of Space in Critical Social Theory, London/New York 1989, S. 10f. 11 Vgl. Wolfgang Kaschuba: Die Überwindung der Distanz. Zeit und Raum in der europäischen Moderne, Frankfurt/M. 2004, S. 13–28. Zum Konzept der vorgestellten Räume siehe: Frithjof Benjamin Schenk: Literaturbericht Mental Maps. Die Konstruktion von geographischen Räumen in Europa seit der Aufklärung, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (2002), S. 493–514. 12 Zum Konzept der Heimaträume vgl. Gunter Gebhard (Hg.): Heimat. Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts, Bielefeld 2007.
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sein und neue, dritte Räume entstehen lassen. Diese hybriden Räume, die sowohl einen festen, geographisch lokalisierbaren Ort haben können, als auch gleichzeitig in unserer Vorstellung oder Erinnerung existieren, erweitern die Vorstellung von Raum als etwas Natürlichem. Eine zunehmende räumliche Ausdifferenzierung unserer Welt regt daher auch die Neue Kulturgeschichte an, ihre Raumperspektive bei der Erforschung vergangener soziokultureller Wirklichkeiten seit einigen Jahren zu überdenken, denn die Konzepte und Analysen, mit denen die Vergangenheit erforscht wird sind auch Ausdruck der heutigen Zeit. Dass viele der raumtheoretischen Angebote auf einem guten Wege sind sich in der Neuen Kulturgeschichte zu etablieren, kann kaum bestritten werden. Ein nächster Schritt wäre erreicht, wenn man nun methodologische Instrumente entwickeln könnte, mittels derer diese anderen Räume erforschbar werden.13 Die Vorstellung eines monodimensionalen Raumes, der von historischen Akteuren durchschritten werden kann, erreicht seine Grenzen, wenn Perspektiven des Räumlichen erklärt werden sollen, die sich einer rein geographischen Verortung entziehen.14 Anders als in den Naturwissenschaften ist die Rolle des rein physikalischen Raumes in der Neuen Kulturgeschichte jedoch nur von untergeordneter, meist sogar von keiner Bedeutung. Ein Seminarraum existiert nicht einfach, sondern wird erst durch ein bestimmtes materielles Interieur, den Akteuren, die diesen Raum besuchen und in ihm Handlungen vollziehen, sowie der Vorstellung was einen Seminarraum ausmachen sollte, gebildet. Auf die Neue Kulturgeschichte übertragen bilden Fragen nach den multiplen Bedeutungen, mit denen die historischen Akteure das Räumliche der Vergangenheit überhaupt erst zu sinnhaften Wirklichkeiten gestaltet haben das Zentrum ihres Forschungsinteresses.15 13 Für eine historische Raumanalyse vgl. Susanne Rau: Räume. Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen, Frankfurt/M./New York 2013, S. 122–191. 14 Für einen ersten Zugang zur Vielfalt des Raumbegriffs in den Kulturwissenschaften siehe Michaela Ott: Raum, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Band 5, Stuttgart 2000, S. 113–149. 15 Raum ist zum Thema der Neuen Kulturgeschichte geworden. Nicht zuletzt erkennbar an einer unüberschaubaren Menge an Publikationen und wissenschaftlichen Tagungen sowie Sonderforschungsbereichen. Vgl. in Auswahl: Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008; Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M. 32008; Stephan Günzel (Hg.): Raumwissenschaften, Frankfurt/M. 2009; ebd. (Hg.): Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010; Phil Hubbard/ Rob Kitchin/Gill Valentine (Hg.): Key Thinkers on Space and Place, London u.a. 2004; Mike Crang/Nigel Thrift (Hg.): Thinking Space, London/New York 2000; für die Geschichtswissenschaft siehe Alexander Geppert/Uffa Jensen/Jörn Weinhold (Hg.): Ortsgespräche. Raum und Kommunikation im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld 2005; Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, Frankfurt/M. 2 2007; Jörg Dünne/Hermann Doetsch/Roger Lüdeke (Hg.): Von Pilgerwegen, Schriftspuren und Blickpunkten. Raumpraktiken in medienhistorischer Perspektive, Würzburg 2004; vgl. Literaturüberblicke: Jürgen Osterhammel: Die Wiederkehr des Raumes. Geopolitik, Geohistoire und historische Geographie, in: Neue Politische Literatur 43 (1998), S. 374–397; Thomas Bürk-Matsunami: Raumtheoretische Positionen in angloamerikanischen und deutschsprachigen sozial- und kulturwissenschaftlichen Publikationen seit 1997, in: http://raumsoz ifs.
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Soja zufolge ist es die Zeit, mit der HistorikerInnen Mobilität, Progressivität oder Entwicklung und Raum dagegen mit Stagnation, Stillstand und Starrheit assoziieren. Während er die Moderne als eine Epoche bezeichnet, in der dem Räumlichen seitens der Geschichtswissenschaft wenig Platz eingeräumt wird16, scheint in der postmodernen Welt eine stärkere Betonung des Räumlichen denkbar.17 Das rein Physische des Raumes, welches einem Behälter gleicht, in dem sich Handlungen vollziehen, ist nicht die Basis dieses neuen, relationalen Raumverständnisses.18 Räume sind mehr als Behälter. Bereits Foucaults Begriff der Heterotopien definierte eine neue Form von Räumen und Räumlichkeit. Sie sind Foucault zufolge Orte, welche anderen Regeln folgen. Sie können gesellschaftliche Verhältnisse umkehren und repräsentieren. Es sind „wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.“19 Foucault leistete mit seinem Heterotopien-Konzept einen Beitrag zu einem
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tu-darmstadt.de/forschung/fo05-literatur/lit-raumtheorie.pdf [aufgerufen 28.05.2013]; Jörg Dünne: Forschungsüberblick „Raumtheorie“, in: http://www.raumtheorie. lmu.de/ Forschungsbericht4.pdf [aufgerufen 28.05.2013]; Andrej Holm: Sozialwissenschaftliche Theorien zu Raum und Fläche, in: http://www.ufz.de/export/data/1/ 29295_ ufz_ bericht_ 26_04.pdf [aufgerufen 28.05.2013] Edward Soja bezeichnet die Moderne als durchgängige „despacialization“. Edward W. Soja: Dopo la metropoli. Per una critica della geografia urbana e regionale, Bologna 2007, S. 87; auch Reinhart Koselleck konstatiert, dass „die überwältigende Mehrzahl aller Historiker für eine theoretisch nur schwach begründete Dominanz der Zeit“ optierten. Reinhart Koselleck: Raum und Geschichte, in: Ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt/M. 2000, S. 78– 96, S. 81. Fredric Jameson zufolge habe die Moderne die Kategorie der Zeit bevorzugt, hingegen stehe die Postmoderne für eine “spatialization of the temporal”. Fredric Jameson: Postmodernism, or the cultural logic of late capitalism, Durham 1991, S. 156. Für die Geschichtswissenschaft bedeutet dies, dass „for in most case studies, the place being studied is chosen pragmatically. It is the unit of study, but not the focus. The sense of place, at best, secondary“. David Blackbourn: A Sense of Place. New Directions in German History, London 1999, S. 9. Zum Konzept des relationalen Raumes siehe Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt/M. 2009, S. 218–230. Relationale Vorstellungen des Räumlichen, welche Raum als kulturell oder gesellschaftlich produziert verstehen, werden hier dem natürlichen Verständnis von Raum gegenübergestellt. Diese Sichtweise lässt es nicht mehr unbedingt zu, von gegebenen Räumen zu sprechen, deren geographischen Koordinaten dazu dienten, die erzählte Geschichte eindeutig zu verorten. Dass Räume auch wahrgenommen und erlebt werden und sich erst in sozialen Praktiken konstituieren, stellt HistorikerInnen somit vor Herausforderungen. Wenn der kulturgeschichtlich interpretierte Raum immer als ein Raum der Relationen zu denken ist, dann bedarf es für dessen Erforschung eines kritischen Raumbegriffs, der mehrere Raumdimensionen zulässt. In dieser Umkehrung des Räumlichen von gegenstandsorientierter hin zu abstrakt-analytischer Kategorie findet ein Prozess statt, der als spatial turn bezeichnet werden kann. Michel Foucault: Von anderen Räumen, in: Ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ècrits, Bd. 4, Frankfurt/M. 2003, S. 38–54, S. 39.
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veränderten Raumverständnis in der Neuen Kulturgeschichte, denn je nach Forschungssetting werden weitere Raumdimensionen denkbar. Es ist nicht zuletzt Autoren wie Lefebvre, Foucault oder Soja zu verdanken, dass die Vorstellung von ausschließlich natürlich existierenden Räumen durch relationale Raumkonzepte erweitert werden konnte.20 Besonders der französische Soziologe Henri Lefebvre hatte für dieses relationale Raumverständnis einen frühen entscheidenden Beitrag geleistet. Das zentrale Argument seines Hauptwerkes La production de l`espace lautet, dass Raum immer ein soziales Produkt ist oder eine komplexe soziale Konstruktion, welche die Wahrnehmung beeinflusst. „(Social) space is a (social) product [...] the space thus produced also serves as a tool of thought and of action; that in addition to being a means of production it is also a means of control, and hence of domination, of power.”21 Dieses relationale Verständnis von Raum und Mensch meint, dass der Raum nie für sich allein jenseits menschlicher Vorstellungen und Handlungen existieren kann. Anders als ein relatives Verständnis von Raum und Mensch, geht hier eine Wirkung von beiden Seiten aus.22 VON TEXT-RÄUMEN ZUR MATERIALITÄT DES RAUMES IN SOZIALEN PRAKTIKEN Raum als etwas Gegebenes und Natürliches, in dem Dinge passieren, ist einer älteren Vorstellung in der Geschichtswissenschaft zufolge Gegenstand und somit beobachtbar. Raum wäre demnach extra-diskursiv gegeben und diente als historische Konstante, in welcher Akteure Handlungen vollzögen. Unstrittig ist, dass die räumliche Ausprägung von Geschichte schon immer wichtig gewesen ist, jedoch wurde sie selten reflektiert, sondern als gegeben vorausgesetzt. Fragt man nach der Bedeutung der Kategorie Raum in der Geschichtswissenschaft, so ließe sich bis weit in ihre akademischen Anfänge zurückgehen. Für die Etablierung eines spatial turns in der Neuen Kulturgeschichte lohnt es sich, den Blick auf die historischen Raumforschungen der französischen Annales-Schule zu richten. Hier ergaben sich zwischen Geographie und Geschichtswissenschaft erste intensivere Berührungspunkte. Fernand Braudel als einflussreicher Vertreter einer zweiten Generation der Annales-Schule unternahm in seiner Studie über den Mittelmeerraum zur Zeit Philipps 20 Vgl. Riccardo Bavaj: Was bringt der „spatial turn“ der Regionalgeschichte? Ein Beitrag zur Methodendiskussion, in: Westfälische Forschungen 56 (2006), S. 457–484, S. 474. 21 Henri Lefebvre: The Production of Space, Oxford u.a. 1991, S. 26; Lefebvres Werk gilt als wichtiger Referenzpunkt des spatial turns. Die gesellschaftliche Produktion von Raum sei als dialektisches Zusammenspiel dreier zentraler Faktoren auszumachen: 1. Der erlebte Raum/Räume der Repräsentation/Raum der Symbole und Zeichen (l`espace vécu), 2. Der erfahrene, wahrgenommene und genutzte Raum/Raum der Alltagserfahrungen (l`espace percu) sowie 3. Der gedachte und vorgestellte Raum/Repräsentation des Raums (l`espace concu). Rezipiert in der Geschichtswissenschaft bei Christian Hochmuth/Susanne Rau (Hg.): Machträume der frühneuzeitlichen Stadt, Konstanz 2006; vgl. Veronika Deffner: Henri Lefèbvre, in: Matthias Middell/Ulf Engel (Hg.), Theoretiker der Globalisierung, Leipzig 2010, S. 307–322. 22 Vgl. Löw: Raumsoziologie, S. 218–230.
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II. den Versuch eine Art Universalgeschichte dieses Raumes zu schreiben. Der räumlichen Ausprägung von Geschichte schenkt Braudel besondere Beachtung, versucht er diese an drei verschiedenen Zeitebenen festzumachen. Die unterste dieser Ebene nennt Braudel géohistoire, die langsam fließende Geschichte, in der Veränderungen kaum wahrnehmbar sind. Hier sind es die Geschichten der Gebirge und Täler, der steten Räume, die kaum Veränderungen unterliegen. Darüber liegt Braudel zufolge eine Ebene der longue durée. Dieses sind die langsamen Rhythmen der Geschichte, welche in politischen, sozialen oder kulturellen Strukturen über einen langen Zeitraum auszumachen seien. Letztlich bilden die Ereignisse die Oberfläche der drei Ebenen, die histoire événementielle. Zum Verständnis von Geschichte tragen Braudel zufolge alle drei Ebenen bei.23 Als Versuch dem Räumlichen der Geschichte mehr Aufmerksamkeit zu widmen bildet die Kategorie Raum jedoch eher Braudels Gegenstandsebene, bleibt also somit Beschreibungskategorie. Auch in Deutschland ist Raum in historistischer oder historisch-sozialwissenschaftlicher Ausrichtung von Geschichtswissenschaft mehr Gegenstand denn erklärendes Argument historischer Forschungen gewesen. Mit Reinhart Koselleck, welcher in seinem Vortrag Raum und Geschichte auf dem Historikertag 1984 in Berlin zwischen der „Naturvorgegebenheit jeder menschlicher Geschichte“ und den Räumen, „die sich der Mensch selber schafft“24 unterscheidet, wird der Raumkategorie erstmals große Aufmerksamkeit geschenkt. Koselleck interpretierte das Verhältnis von Raum und Geschichte als ein bipolares. Raum ist für Koselleck metahistorisch. Die Bedingungen möglicher Geschichte entzögen sich dem Zugriff der HistorikerInnen, seien aber zugleich „Bedingungen unseres Handelns zur Herausforderung menschlicher Aktion“.25 Sowohl den HistorikerInnen der Annales-Schule, als auch VertreterInnen der deutschen Geschichtswissenschaft ist gemein, dass ihre untersuchten Quellen hauptsächlich textliche Überlieferungen der Vergangenheit darstellten. Was verändert sich in den späten 1970er Jahren bei der Erforschung von Räumen? Folgt man dem Paradigma des linguistic turn, dass Sprache Wirklichkeit erst schaffe, werden diskursive Konstruktionen des Räumlichen in Texten erforschbar.26 Mittels textwissenschaftlicher Verfahren und Methoden wird Raum – wie auch der Kulturbegriff im interpretive turn27 – als Text aufgrund seiner Zeichenhaftigkeit
23 Vgl. Fernand Braudel, La Méditerranée et le monde méditeranéen à l`epoque de Philippe II, Paris 1949; ders., La longue durée, in: Annales 1958, S. 725–753; ähnlich Lucien Febvre, der in einer beeindruckende Studie einen anderen räumlichen Zugang zur Geschichte entwickelte, indem er den Rhein als nicht naturgegeben, sondern vom Menschen gemacht interpretierte. Siehe: Lucien Febvre: Le Rhin, Histoire, mythes et réalités, Paris 1935. 24 Koselleck, Raum und Geschichte, S. 83. 25 Ebd. S. 84. 26 Vgl. Trevor J. Barnes/James Duncan (Hg.): Writing Worlds – Discourse, Text and Metaphor in the representation of Landscape, London/New York 1992. 27 Vgl. Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur, in: Ders., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/M. 1983, S. 7–43.
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les- und somit interpretierbar gemacht.28 Es sind Texträume, in denen etwas in Zeichen ausgedrückt wird. Im Raum können sich somit Verhältnisse ausdrücken. Folgt man diesem Raum-als-Text Verständnis29, ist Raum jedoch nicht epistemologische Kategorie und somit konstitutiv für die Aufschlüsselung von Wirklichkeit, sondern die Sprache. Mit Raum-als-Text ist somit kein spatial turn gemeint, sondern ein Raumverständnis, welches nicht über den linguistic turn hinausreicht. Erst wenn Raum als zentral verursachender Faktor zum Argument wird, löst dieser einen turn aus und stellt Anschlussfähigkeit zwischen den kulturwissenschaftlich aufgestellten Disziplinen her.30 Die Entwicklung hin zu dieser radikaleren Form eines spatial turns in der Neuen Kulturgeschichte ist keinesfalls eine homogene und fachinterne Entwicklung, sondern ließe sich entlang mehrerer Raumwenden beschreiben. Die „Unterbelichtung der räumlichen Dimension“ bezeichne eine „bemerkenswerte Blindstelle“ deutscher Geschichtswissenschaft.31 In der Zeit des Nationalsozialismus waren Raumkonzepte des radikalen politischen Anthropogeographen Friedrich Ratzels von dem Regime nahe stehenden Wissenschaftlern wie Karl Haushofer instrumentalisiert worden. Die Konzepte waren wichtiger Impuls für die Lebensraumideologie der Nationalsozialisten.32 Nach 1945 mied man verständlicherweise gerade in der deutschen Geschichtswissenschaft die Kategorie Raum. Die späte Rückkehr zu einer „gesteigerten Aufmerksamkeit“ gegenüber der räumlichen Seite von Geschichte in den letzten Jahren speise sich dem Osteuropahistoriker Karl Schlögel zufolge aus der Sehnsucht nach einer Geschichte jenseits vom Diskursiven, vom rein Konstruierten. Es sind Realitäten wie die Ereignisse rund um den 11. September 2001, welche Schlögels Nachdenken über das Räumliche anregen.33 Es
28 Wie innovativ Raumgeschichte sein könnte, zeigt das Beispiel des Spatial History Project von Richard White in Stanford. Mittels Graphiken und Animationen versucht man über das rein Textliche hinaus Erkenntnisse zu vermitteln. Vgl. Richard White: What is Spatial History? In: The Spatial History Project, 01. 02. 2010, URL: http://www.stanford.edu/ group/ spatialhistory/ cgi-bin/ site/ pub.php?id=29 [aufgerufen, 22.07.2013] 29 Bsp. in James Donald: Metropolis. The City as text, in: Robert Bocock (Hg.): Social and cultural forms of modernity. Understanding modern societies. An introduction book, Cambridge 1992, S. 418–461, S. 423; mit ähnlichem Ansatz James S. Duncan: The city as text. The politics of landscape interpretation in the Kandyan Kingdom, Cambridge 1990. 30 Doris Bachmann-Medick definiert einen turn als den kategorialen Wechsel von der Gegenstands- hin zur Analyseebene. Vgl. Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 42010, S. 25–27; daneben sei „die größte Erklärungskraft für die Herausbildung von turns […] jedoch deren Rückbindung an gesellschaftlich-politische Prozesse […] auf Raumumbrüche, globale Ortlosigkeit und die Ungleichheiten geopolitischer Raumbeziehungen.“ Vgl. Doris BachmannMedick: Cultural Turns, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 29.3.2010, URL: http:// docupedia.de/zg/Cultural_Turns?oldid=84593 [aufgerufen 28.5.2013]. 31 Bavaj, „Spatial Turn“, S. 459f. 32 Zur Geopolitik im Nationalsozialismus siehe Frank Ebeling: Geopolitik. Karl Haushofer und seine Raumwissenschaft 1919–1945, Berlin 1945; vgl. Hans-Dietrich Schultz: Raumkonstrukte der klassischen deutschsprachigen Geographie des 19./20. Jahrhunderts im Kontext ihrer Zeit. Ein Überblick, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 343–377. 33 Karl Schlögel: Kartenlesen. Oder: Die Wiederkehr des Raumes, Zürich 2003, S. 17.
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sind „Örter34 [sic!], also nicht bloß Symbole, Zeichen, Repräsentationen [sondern] […] Türme, die zum Einsturz gebracht werden können, Treppen, die, in Rauch gehüllt, zu tödlichen Fallen werden.“35 Schlögels Motto lautet daher „Spacing history“, der Ruf nach einer „Erneuerung der Geschichtsschreibung“.36 Seine Forderungen für eine spatiale „Bereicherung des Sehens, Wahrnehmens, Verarbeitens“ in der Geschichtswissenschaft wirkten wie ein Katalysator für viele weitere Arbeiten, die sich der räumlichen Ausprägung von Geschichte widmen.37 Wie Doris Bachmann-Medick schreibt, liege das Ziel einer kulturgeschichtlich aufgestellten Geschichtswissenschaft, die raumanalytisch historische Wirklichkeiten erforschen will, daher zunächst in der „Genese eines kritischen wissenschaftlichen Raumbegriffs“.38 Anders als das bereits angedeutete Raum-als-Text Verständnis, ist eine radikalere Form eines spatial turns durch die Geographie initiiert worden. Wie bereits anfangs erwähnt war es der Humangeograph Edward Soja, auf den sich Karl Schlögel bezogen hatte. Dieser öffnete mit seinem Grundsatzprogramm „to spatialize the historical narrative“39 der Neuen Kulturgeschichte neue Türen über Raum nachzudenken und diesen als analytische Kategorie fruchtbar zu machen.40 Sojas Konzept 34 Mit der Formulierung Örter entscheidet sich Schlögel bewusst gegen die zeichenfixierte und konstruktivistische Verengung der Wirklichkeitswahrnehmung und betont das materielle der Geschichte. Vgl. Bachmann-Medick, Cultural Turns, Version: 1.0. 35 Karl Schlögel: Kartenlesen, Augenarbeit. Über die Fälligkeit des spatial turns in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, in: Heinz Dieter Kittsteiner (Hg.): Was sind Kulturwissenschaften? 13 Antworten, München 2004, S. 261–283, S. 276. 36 Karl Schlögel: Kartenlesen, Raumdenken. Von einer Erneuerung der Geschichtsschreibung, in: Merkur 56 (2002), Heft 636, S. 308–318, S. 309 37 Schlögel spricht sich ferner dafür aus, sich keineswegs „wieder einen schwerfälligen (geographischen) Determinismus einzuhandeln. […] Wohl aber geht es darum, zu einem Realismus zurückzufinden, der etwas von den Schwerkraftverhältnissen, von den Zug- und Druckverhältnissen der Geschichtsprozesse ahnen lässt.“ Karl Schlögel: Räume und Geschichte, in: Stephan Günzel (Hg.): Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld 2007, S. 33–51, S. 51; in einer kritischen Lesart vgl. Julia Lossau/ Roland Lippuner: In der Raumfalle. Eine Kritik des spatial turn in den Sozialwissenschaften, in: Georg Mein/Markus Rieger-Ladich (Hg.), Soziale Räume und kulturelle Praktiken. Über den strategischen Gebrauch von Medien, Bielefeld 2004, S. 47–63; vgl. Axel Gotthard: Wohin führt uns der „Spatial turn“? Über mögliche Gründe, Chancen und Grenzen einer neuerdings diskutierten historiographischen Wende, in: Wolfgang Wüst/Werner K. Blessing (Hg.), Mikro – Meso – Makro. Regionenforschung im Aufbruch, Erlangen 2005, S. 15–49; für den Bereich empirischer Sozialforschung liegt mit Gabriele Sturms methodologischen Annäherungen ein Versuch vor, der „als Basis für jegliche Forschung, die sich mit Raum beschäftigt, dienen soll“, so der Klappentext des Buches. Vgl. Gabriele Sturm: Wege zum Raum. Methodologische Annäherungen an ein Basiskonzept raumbezogener Wissenschaften, Opladen 2000. 38 Bachmann-Medick: Cultural Turns, S. 289; Nicht selten lautet daher das Credo die „Ortlosigkeit der Geschichtswissenschaft [zu] überwinden“. Christof Dipper/Lutz Raphael: „Raum“ in der Europäischen Geschichte. Einleitung, in: Journal of Modern European History 9 (2011), S. 27–40, S. 40. 39 Soja: Postmodern Geographies, S. 1. 40 Ob der spatial turn auf dem Kieler Historikertag im Jahre 2004 nun endlich in der Geschichtswissenschaft angekommen sei, lässt sich streiten. Dass Räume auch der
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des Thirdspace – welches in erster Linie ein anderes Denken über Raum meint – ermöglicht demnach Gegenstände anders einander zuzuordnen, Evidenzen zu erzeugen und Erklärungsmodelle zu entwickeln als es zeitlich lineare Narrative zuließen.41 Diese dritten Räume und deren hybdride Räumlichkeit werden dabei gleichzeitig real und imaginiert (real-and-imagined), aber auch in einer dritten Weise existent. Soja nennt diesen Prozess Thirding, welcher ein neues „ontologisches Dreieck in Form von Räumlichkeit – Gesellschaftlichkeit – Geschichtlichkeit“ bezeichne.42 Neben Soja sind es weitere Kulturgeographinnen und –geographen wie David Harvey43, Doreen Massey44, Yi-Fu Tuan45 oder Denis Cosgrove46 und deren Betonung auf praxistheoretische Ansätze, durch welche die Neue Kulturgeschichte profitieren kann. Im Kern steht hierbei die Frage nach der Rolle von Materialitäten in sozialen Praktiken. Hierbei sind es dem Sozialgeographen Benno Werlen nach „räumliche[n] Konfigurationen, [die] für alltägliche Praktiken eine besondere Rolle spielen […] Kurz: Statt alle möglichen Aspekte […] verräumlichen zu wollen, ist zu fragen, wofür das Räumliche steht und welche Rolle Räumliches für die soziale Praxis erlangt bzw. erlangen kann.“47 Die Erforschung von Raum und Räumlichkeit scheint kompliziert, welches sich nicht zuletzt an den unterschiedlichen praxis-, diskurs- und zeichentheoretischen Ansätzen festmachen lässt. Gemein ist den VertreterInnen eines radikalen spatial turns die Frage, ob die harte, konkrete Seite der gesellschaftlichen Wirklichkeit bzw. deren physisch-materielle Grundlage wieder stärker berücksichtigt werden sollte. Es scheint fast so, als ob den Vertreterinnen und Vertretern des radikalen Konstruktivismus eine neue Generation von WissenschaftlerInnen folgt, welche die Betonung des Materiell-Gegenständlichen fordern und sich nach dem Realen oder Konkreten sehnen.
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kommunikativen Herstellung bedürfen ist sicherlich eine methodisch reflektierte Neuerung für die historische Raumforschung. Vgl. Jörg Seifert: HT 2004: Grenzen, Räume, Erfahrungen, Konstruktionen (17.–20. Jahrhundert), 16.9.2004, in: H-Soz-u-Kult vom 13.10.2004 http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=451 [aufgerufen am 6.6.2013] Nach Koselleck optierten „die überwältigende Mehrzahl aller Historiker für eine theoretisch nur schwach begründete Dominanz der Zeit“. Koselleck, Raum und Geschichte, S. 81. Edward W. Soja: Thirdspace. Die Erweiterung des geographischen Blicks, in: Hans Gebhardt/Paul Reuber/Günter Wolkersdorfer (Hg.), Kulturgeographie. Aktuelle Ansätze und Entwicklungen, Heidelberg/Berlin 2003, S. 269–288, S. 271. Vgl. David Harvey: Social justice and the city, London 1975; ebd.: The condition of postmodernity. An enquiry into the origins of cultural change, Oxford u.a. 1989; ebd.: The urban experience, Oxford 1989. Vgl. Doreen Massey: Space, place and gender, Cambridge 1994; ebd.: For space, London u.a. 2007. Vgl. Yi-Fu Tuan: Topophilia. A study of environmental perception, attitudes, and values, Prentice-Hall 1974; ebd.: Space and Place. The perspective of experience, Minneapolis Minn. u.a. 1977. Vgl. Denis Cosgrove: The Iconography of Landscape. Essays on the symbolic representation, design and use of past environments, Cambridge 1988; ebd. (Hg.), Mappings, London 1999. Benno Werlen: Körper, Raum und mediale Repräsentation, in: Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, S. 365–392, S. 365.
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Es bleibt zu fragen, wo die Vorteile raumanalytischer Geschichtswissenschaft liegen? Neben der stärkeren Betonung des Räumlichen der Geschichte – wie es Schlögel fordert – verändert sich auch etwas in der Form des Narrativen, der Art wie wir Geschichte(n) schreiben. Eine Raumgeschichte ließe das Simultane, das Gleichzeitige historischer Wirklichkeiten erzählen und entschlüsseln. Doch Vorsicht scheint geboten, will man den KritikerInnen vorbeugen. Die Sehnsucht nach einem Jenseits von Diskursen meint keinesfalls Re-Territorialisierungen oder Re-Essentialisierungen. Das physische des Raumes allein reicht nicht aus, um soziale Prozesse und Gesellschaft zu erklären.48 Vielmehr sei es “an impoverished view of culture [i. e. questions of meaning, identity, representation, ideology] that stresses text; sign, or discourse to the exclusion of context, action, and structure. Meanings must always be related to the material world from which they derive.”49 Die Gegner mit subjektbezogenen, konstruktivistischen Ansätzen wirken mächtig, verneinen sie doch die Existenz einer unabhängig vom erfahrbaren Subjekt existierenden räumlichen Wirklichkeit. Doch gerade alltagsweltlich bedeutet Raum auch die Rückschreibung auf etwas Materielles. „Dieses wird implizit und permanent praktiziert als eine Dauerverschiebung von ontologisch subjektive auf ontologisch objektive Tatsachen. Der gegenständliche Raum ist Medium und Produkt dieses Verschiebungsprozesses.“50 Es geht somit nicht um rein Materielles, sondern um den symbolischen Gebrauch von Materialität. Der dabei bleibende Rest ließe sich nicht in Kategorien der Linguistik, Semiotik und Kommunizierbarkeit auflösen, so Miggelbrink. Immer bliebe ein materieller Rest des Räumlichen diesseits oder jenseits des Textes, „ohne dass man jenen als Referenten des Textes dingfest machen könnte“51. Wie komplex dieser Prozess des wechselseitigen Einflusses von Raum und Praktiken sein kann, wird in oben erwähnten relationalen Ansätzen deutlich.52 Soziale Akteure platzieren Dinge oder andere Akteure (diesen Prozess bezeichnet die Soziologin Martina Löw als spacing), wonach diese wiederum von den Akteuren verknüpft werden müssen (Syntheseleistung). Dieses vollzieht sich in der Wahrnehmung, Erinnerung oder Vorstellung von Wirklichkeit.53 Im Prozess 48 Vgl. Eric Piltz: Unbestimmte Oberfläche. Rezeptionen und Konvergenzen von Geographie und Geschichtswissenschaft im cultural und spatial turn, in: Elisabeth Tiller/Christoph O. Mayer (Hg.), RaumErkundungen, Einblicke und Ausblicke, Heidelberg 2011, S. 213–234, S. 225. 49 Peter A. Jackson: Maps of meaning. An Introduction to cultural geography, London u.a. 1989, S. 185. 50 Judith Miggelbrink: Räume und Regionen der Geographie, in: Iris Baumgärtner/ Paul-Gerhard Klumbies/Franziska Sick (Hg.), Raumkonzepte. Disziplinäre Zugänge, Göttingen 2009, 71–94. S. 90 51 Ebd. S. 88. 52 Für eine vermittelnde Position zwischen physischem und sozialem Raum setzt sich Pierre Bourdieu ein. Mit dem Begriff des Ortseffekts beschreibt er, dass die Position des Akteurs im sozialen Raum auf diesen Einfluss ausüben könne und sich so der physische in den sozialen Raum einschreiben ließe. Vgl. Pierre Bourdieu: Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum, in: Martin Wentz (Hg.), Stadt-Räume, Frankfurt/M./New York 1991, S. 25– 34. 53 Löw: Raumsoziologie, S. 158–161, S. 271: „Raum ist eine relationale (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten“.
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des spacing werden symbolische Zeichen positioniert, sowie soziale Güter oder Menschen. Dieses beschreibt den aktiven Prozess und meint beispielsweise das Bauen von Siedlungen oder das Ziehen von Grenzen zwischen Staaten. Diese Prozesse müssen daraufhin von den Akteuren verstanden werden. Die Nutzung dieser Räume kann jedoch unterschiedlichen Kriterien unterliegen. So können Gruppen einen Ort unterschiedlich nutzen. Im Prozess dieser Praxis produzieren soziale Akteure durch die Attribution von Bedeutungen oder „durch räumliches Umarrangieren“54 Räume. Diese Räume wirken auf die Akteure zurück, indem sie deren Handeln einschränken oder erleichtern können, jedoch nicht müssen. „Die kommunikative Herstellung eines sozialen Raumes“ erzeuge ein „raumphysikalisches Substrat“, einen materiellen Raum, „von dem ganz bestimmte soziale Wirkungen ausgehen“.55 Folgt man den Überlegungen des Soziologen Markus Schroer, so könnte der Vorteil eines raumanalytischen Forschungssettings in der Neuen Kulturgeschichte darin liegen, dass empirisch untersuchbare Wirklichkeitsausschnitte so aus unterschiedlichen Perspektiven analysiert werden könnten, sodass sich mittels dieses Perspektivenpluralismus ein Konzept gegen ältere strukturalistische Ansätze etablieren ließe.56 Der Raum und das Räumliche kann zwar als Konstruktion je spezifischer Diskurse verstanden werden, die diskursive Ebene des Räumlichen sollte jedoch nicht ausschließlich der Wirklichkeitsfindung dienen.57 Würde man der diskursiven Seite des Raumes noch einen wirkmächtigen Rest zugestehen, so existierte dieser diskursiv geschaffene Raum auch relativ zu den Praktiken und nicht ausschließlich als Resultat von Diskurs oder Praktik, sondern in beidem zugleich, welches es methodologisch erschwert ihn zu untersuchen.58 Ein alle diese Prämissen berücksichtigendes Forschungsdesign müsste sich also auch mit konkreten Räumen, „die in ein 54 Julia Lossau: Spatial Turn, in: Frank Eckhardt, Handbuch Stadtsoziologie, Wiesbaden 2012, S. 185–200, S. 190. 55 Markus Schroer: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt/M., S. 177. 56 Dass nicht nur in der Humangeographie und Soziologie entscheidende Impulse für ein neues Raumverständnis zur Etablierung eines spatial turns in der Neuen Kulturgeschichte gesetzt wurden, zeigen theoretische Ansätze und Begriffsschärfungen aus den postcolonial studies. Neben der Frage nach politisch-strategischen oder alltäglichen Raumsemantiken erfährt das Räumliche im Zuge des postcolonial turns stärkere Beachtung, denn der Annahme der Existenz eines homogenen Raumes wird auch hier aufgrund beispielsweise geschlechtlicher oder ethnisch-kultureller Beschaffenheit von Räumen und des Re-mapping der postkolonialen Welt widersprochen. Vgl. Dipesh Chakrabarty: Provincializing Europe. Postcolonial Thought and historical difference, Princeton/NJ u.a. 2008; Vgl. Homi Bhabha: The location of culture, London u.a. 2003; ferner Arjun Appadurai: Fear of small numbers. An essay of the geography of anger, Durham u.a. 2006; vgl. Gayatri Chakravorty Spivak: Can the Subaltern speak? In: Cary Nelson/Larry Grossberg (Hg.), Marxism and the interpretation of Culture, Chicago u.a. 1988, S. 271–313; vgl. Edward Said: Orientalism, New York 22000, S. 180. 57 Für diskurstheoretische Zugriffe vgl. Georg Glasze/Annika Mattissek (Hg.): Handbuch Diskurs und Raum, Bielefeld 22012; besonders lexikometrische oder korpuslinguistische Methoden wirken vielversprechend, würde man diese in die Geschichtswissenschaft übertragen. 58 Falls Raum zur analytischen Kategorie wird, ist es durchaus möglich diese durch weitere Kategorien zu ergänzen, um das Wechselverhältnis zwischen Raumaneignung, -wahrnehmung
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Netz aus materiellen Praktiken und Kulturtechniken, aus Medien und Repräsentationen, aus sozialen und symbolischen Ordnungen eingespannt sind“ auseinandersetzen.59 Die Wirkkraft eines kommunikativen Rests, welcher die Wahrnehmung beeinflusst und sich in „räumlichen Grundqualitäten“60, die sich einem Ort anhaften wiederfände, ist für den Raumbegriff der Neuen Kulturgeschichte nicht uninteressant. Bestimmte Orte „erscheinen im Alltagsdenken und in der Alltagskommunikation als sinnhafte, kognitive oder semantische Einheiten, in denen kulturelle Wertungen, Bedeutungen, soziale Regeln oder Gepflogenheiten und materielle Gegebenheiten miteinander verschmelzen.“61 Wenn in der „symbolische[n] und materielle[n] Platzierung sozialer Güter und Menschen“ als „topologische[r] Dimension“ moderner Kultur, sowie der Inklusion und Exklusion in räumlichen Prozessen Identität geschaffen würde, dann würden Orte in diesem Prozess zu identitätsbildenden Faktoren werden.62 Diese relational gebildeten und wahrgenommenen Ordnungsstrukturen aus Orten und Räumen würden gleichzeitig etwas erlangen und vermitteln, was man „atmosphärische Qualität“ bezeichnen kann.63 Wenn materielle und immaterielle räumliche Strukturen das Handeln der Menschen beeinflussen können, ohne in eine Rematerialisierung von geschichtlichen Abläufen zu verfallen, würde Raum somit zur Vorbedingung jeder Analyse. RAUM-ATMOSPHÄREN Zwischen den mit Bedeutung aufgeladenen Räumen, den symbolisch repräsentierten Räumen und der konkreten physischen Materialität des Raumes scheint eine weitere Dimension von Wirklichkeit für die historischen Akteure denkbar – Räume, die sowohl dinglich sind, aber gleichzeitig affektiv, die subjektiv spürbar sind, jedoch von vielen ähnlich wahrgenommen werden. Diese an bestimmten Orten meist ähnlich empfundenen Atmosphären können bedrohlich sein und Angst auslösen. Sie können aber auch freundlich sein und etwas Positives bewirken. Dieses Empfinden kann zwar als hinreichende Bedingung und somit Resultat gesellschaftlicher Konventionen aufgefasst werden, es muss jedoch nicht zwangsläufig notwendige Bedingung sein. Neueren Architekturtheorien zufolge „verklammern Atmosphären
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und Diskurs besser analysieren zu können. Die Amerikanistin Nadine Klopfer ergänzt in ihrer Dissertation über das kanadische Montreal und die Bedeutung des Berges Mont Royal ihr Analyserepertoire um Kategorien wie Religion, Klasse und Ethnizität in Bezug auf Wahrnehmung und Aneignung. Derartige Studien erlauben es zudem eine Vielzahl unterschiedlicher Quellen nutzen zu können. Vgl. Nadine Klopfer: Die Ordnung der Stadt. Raum und Gesellschaft in Montreal (1880–1930), Köln 2010. Günzel: Raum, S. 107. Georg Simmel: Schriften zur Soziologie. Eine Auswahl, Frankfurt/M. 1983, S. 221–242, S. 222ff. Lossau: Spatial Turn, S. 191. Martina Löw: Die topologischen Dimensionen der Kultur, in: Friedrich Jaeger/Burkhard Liebsch (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Band 1, Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Stuttgart/Weimar 2004, S. 46–59, S. 46 u. 54. Ebd. S. 47.
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räumliche Vitalqualitäten, die über einem Ort liegen“ und diesen dadurch zu einem „besonderen Ort“ machen.64 Beide Interpretationen machen darauf aufmerksam, dass Atmosphären sozial und kulturell geformt sein können und somit Teil der Wirklichkeit sind. Die spürbare, sinnliche Dimension des Raumes bildet diesen Überlegungen zufolge eine weitere Ebene des handlungstheoretisch relational konzeptualisierten Raumes der Akteure. Wenn Atmosphären ohne planvoll intentionales Handeln signifikanter Akteure entstünden, dann würden solche Umgebungsqualitäten die Akteure und deren Handeln beeinflussen können – nicht müssen. Als Schnittstelle zwischen den Ebenen Handlung, Materialität, Medialität, Diskursivität und Wahrnehmung helfen Atmosphären zumindest bei der Beantwortung der Fragen, warum Menschen bestimmte Orte mit spezifischen Atmosphären auf der einen Seite bewusst für bestimmte Handlungen aufsuchen, bzw. meiden und auf der anderen Seite unbewusst in ihrem Handeln beeinflusst werden. Die Materialität der Umgebung scheint an der Entstehung einer Atmosphäre und der Herausbildung einer Situation beteiligt.65 Dabei werden Atmosphären als wahrgenommene Stimmungsräume zu Grenzen zwischen Akteur und materieller Umwelt. Hier ist nicht der in einem klimatologischen Sinne gebräuchliche Begriff der Erdatmosphäre gemeint, sondern der eines „ästhetisch-gefühlsräumlichen Sinnes“, als „spürbare Umgebungsqualität“, in denen Menschen „situativ“ betroffen sein können.66 Atmosphären werden interdisziplinär zwar diskutiert, besonders in der Neuen Phänomenologie der Philosophie, jedoch weniger in die je eigenen „wissenschaftlichen Erklärungs- und Aussagesysteme integriert“67. Nach Hermann Schmitz und der Neuen Phänomenologie sind Gefühle „räumlich ausgedehnte Atmosphären“, in deren Bann man in „leiblichem Spüren“ gerät.68 Ihr räumlicher Charakter sei Schmitz zufolge „prädimensional“, „weniger kognitiv verstanden, als leiblich gespürt“.69 Hierbei wird unterschieden nach subjektivem und objektivem Charakter von Atmosphären, als das Wahrnehmen des Gefühls einer Atmosphäre und das affektive Betroffensein davon. Gernot Böhme, ein weiterer prominenter Vertreter des Atmosphärenbegriffs beschreibt diese als „etwas Unbestimmtes, schwer Sagbares“70. Atmosphären sind demnach nicht lokalisierbar wie Dinge, die
64 Jürgen Hasse: Stadt und Atmosphäre. Editorial, in: Die alte Stadt 2 (2008), S. 99–102, S. 99. Die Wahrnehmung ist dabei immer an einen konkreten Ort gebunden und somit situationsbedingt. Vgl. Jean-Paul Thibaud: Die sinnliche Umwelt von Städten. Zum Verständnis urbaner Atmosphären, in: Michael Hauskeller (Hg.), Die Kunst der Wahrnehmung. Beiträge zu einer Philosophie der sinnlichen Erkenntnis, Zug 2003, S. 280–297, S. 287. 65 Zum Situationsbegriff vgl. Thibaud: Umwelt, S. 282–284. 66 Vgl. Jürgen Hasse: Die Stadt als Raum der Atmosphären. Zur Differenzierung von Atmosphären und Stimmungen, in: Die alte Stadt 2 (2008), S. 103–116, S. 103. 67 Ebd., S. 103. 68 Hermann Schmitz: System der Philosophie, Dritter Band, Der Raum, Zweiter Teil, Der Gefühlsraum, Bonn 21981, S. 185. 69 Vgl. Jürgen Hasse: Die Stadt als Raum der Atmosphären, S. 106. 70 Gernot Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt/M. 1995, S. 21.
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an einer Stelle im relationalen Raum ihren Platz haben. Als ein „Zwischenphänomen“71, sogenannte „Halbdinge“72 oder „immaterielle Sonderdinge“ befänden sich Atmosphären weder ganz auf der Seite eines Subjekts, noch ganz auf der Seite eines Objekts.73 Präobjektive Atmosphären transformieren sich nach Schmitz durch situative Betroffenheit in subjektive Atmosphären, welches dann zu einer Stimmung im Subjekt führen kann. Die Neue Phänomenologie lehnt Atmosphären daher als intentionalistisch ab, bezeichnet diese als neue Theorie der Erfahrung.74 Hierbei werden folgende Typen von Atmosphären entwickelt: Atmosphären jenseits menschlichen Handelns (die beißende Atmosphäre durch schlechte Gerüche, das Leuchten städtischer Illuminationen, das Tönen einer Kirchenglocke oder Naturereignisse wie Gewitter). Atmosphären, die als zwischenmenschliche Produkte sozialer Verläufe entstehen (die aufgeheizte, angespannte, freundliche oder konstruktive Atmosphäre). Soziale Atmosphären können jedoch auch durch konkrete Handlungen konkrete Ziele evozieren. Dann sind Atmosphären Medien diskursiver Praktiken.75 Der Atmosphärenbegriff hat bisher kaum Anschlussfähigkeiten in den Sozialund Kulturwissenschaften gefunden und stellt HistorikerInnen vor methodische Probleme. Wenn man Atmosphären als Medium versteht, dann sind sie nicht Gegenstand der Wahrnehmung, sondern deren Rahmenbedingung. Wie Menschen Atmosphären empfinden und unterscheiden, welche Formen des Erlebens dafür typisch oder förderlich sind, lässt sich empirisch schwer fassen. Wenn Atmosphären zwar allgegenwärtig sind, aber gleichzeitig vorsprachlich und prädimensional, dann stellt sich die Frage, wie man kategorial und begrifflich darauf zugreifen kann? Der Begriff der „Halbdinge“ bei Schmitz scheint als erkenntnistheoretischer Vorteil gesellschaftlicher und politischer, aber auch kultureller Fragen nach Sinn und Bedeutung in der Kulturgeschichte zwar noch nicht umfassend diskutiert, bietet er jedoch im Bereich raumanalytischer Studien eine Schärfung des Begriffs.76 Durch die überlappende Positionierung zwischen Subjekt und Objekt ließen sich sowohl die Bereiche des Raumes, als auch die der Akteure auf ihre wechselseitigen Bezüge hin befragen, um beispielsweise die Bedeutung der Gefühle für das Zustan-
71 Ebd., S. 22. 72 Hermann Schmitz: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, Freiburg/München 2009, S. 79; Gefühle seien unabhängig von Subjekten z. B. in Landschaften oder Räumen vorhanden. Das Gefühl selbst unterscheide sich vom Gefühlten des Subjekts als „affektives Betroffensein oder bloßes Wahrnehmen des Gefühls“; Ebd.: Was ist neue Phänomenologie? Rostock 2003, S. 44; dazu Gernot Böhme: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001, S. 61ff. 73 Vgl. Hasse: Stadt, S. 109; zum Verhältnis von Raum und Emotion siehe Gertrud Lehnert (Hg.): Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung, Bielefeld 2011. 74 Vgl. Hermann Schmitz: Gefühle als Atmosphären und das affektive Betroffensein von ihnen, in: Hinrich Fink-Eitel/Georg Lohmann (Hg.), Zur Philosophie der Gefühle, Frankfurt/M. 1993, S. 33–56. 75 Hasse: Stadt, S. 112; vgl. Michael Hauskeller: Atmosphären erleben. Philosophische Untersuchungen zur Sinneswahrnehmung Berlin 1995, S. 49f. 76 Vgl. Hasse: Stadt, S. 109.
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dekommen symbolischer Konstruktionen in Umrissen erklären zu können, wie umgekehrt auf die Rückwirkung symbolischer Konstruktionen auf das gefühlsmäßige Befinden in Atmosphären schließen zu können. Terminologisch fixierte Signifikanten scheinen jedoch für Atmosphärenbeschreibungen nicht vorhanden. Die Aussage atmosphärischer Eindrücke könnte deshalb narrativ eingebettet sein, sie erfolgte „indirekt, marginal, umschreibend, verschlüsselt und metaphorisch“.77 Die Erweiterung des Raumbegriffs durch den Atmosphärenbegriff könnte so als Analysegrundlage zur Beschreibung und Erklärung affektiver Beziehungen zu räumlichen Umwelten dienen. Auch die immer stärker werdende Frage nach einem Jenseits von Diskursen wird tangiert, sind Materialitäten am Zustandekommen atmosphärischer Eindrücke unentbehrlich beteiligt. Die bauliche Enge wie z.B. Lichtverhältnisse oder aber die mediale Inanspruchnahme des Raumes, wird ebenfalls atmosphärisch wahrgenommen. Atmosphären beziehen sich somit sowohl auf das subjektive Befinden, als auch auf symbolische Kategorien, also kulturelle Interpretationen und könnten somit Teil multiperspektivisch-raumanalytischer Forschungen werden. MEHRDIMENSIONALER RAUMBEGRIFF Dass Räume gleichzeitig materiell und real sein können, aber auch symbolisch und konstruiert, spricht für eine Mehrebenenanalyse bei raumanalytisch argumentierenden Forschungen.78 Zwischen dem wahrgenommenen Raum und seiner Materialität wird eine weitere räumliche Ebene geschaffen, mit der räumlich ausgeprägten Stimmungen, wie sie Atmosphären verkörpern, zusammenhängen. Diese haften zwar nicht direkt der physischen Qualität des Raumes an, jedoch gäbe es ohne die Materialität von Räumen keine Atmosphären. Daraus ergibt sich ein komplexes Verhältnis der Wirksamkeit vom Immateriellen zum Materiellen und der damit einhergehenden Frage, ob es jenseits kultureller Konstrukte eine andere Form von wirkmächtiger Wirklichkeit für die historischen Akteure gibt. Durch die Einflussnahme auf die Gestaltung von Atmosphären kann Handeln vorstrukturiert werden. Atmosphären wirken somit wie ein Katalysator. Sie können „quasi-territoriale räumliche Gebilde“ wie beispielsweise das Milieu eines Wohnviertels oder eine Situation sozialer Unruhen erlebbar und „für jedermann verständlich machen“.79 Die Analyse atmosphärischer Räume ließe somit Rückschlüsse auf kulturelle Praktiken und deren gegenseitigem Wirken auf materielle Strukturen zu. Atmosphärisch wirksam 77 Jürgen Hasse: Die Atmosphären einer Straße. Die Drosselgasse in Rüdesheim am Rhein, in: Ders., Subjektivität in der Stadtforschung, Frankfurt/M. 2002, S. 61–114, S. 82. 78 Nicht alle Seiten des Räumlichen berücksichtigend, jedoch die repräsentative und konstruktivistische Seite städtischer Identität analysierend und durch Simon Gunn und Doreen Massey inspiriert, erweitert Sandra Schürmann ihre Analysekategorie Raum um die Kategorien soziale Ungleichheit, Geschlecht und Ethnizität. Vgl. Sanda Schürmann: Dornröschen und König Bergbau. Kulturelle Urbanisierung und bürgerliche Repräsentationen am Beispiel der Stadt Recklinghausen (1930–1960), Paderborn u.a. 2005. 79 Vgl. Hasse: Stadt, S. 104.
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können daher folgende Felder werden: Dinge, physische Strukturen, Nutzungsformen oder Praktiken.80 Die Räumlichkeit der Atmosphären hängt dagegen am Gefühlscharakter des menschlichen Befindens, weswegen sie nicht überall gleich empfunden werden. Sie beziehen sich auf die Dinge, die im Raum einen spezifischen Ort bilden, lassen sich in ihrer spürbaren Wirkung aber nie kausal auf etwas zurückführen, das in diesen Dingen restlos aufginge. So erweitert der Atmosphärenbegriff die konstruktivistische Perspektive der Sozial- und Kulturwissenschaften und versucht als Vermittelnde einzutreten zwischen Subjekt und sinnlich erfahrbarer Umgebung, die auf der einen Seite die subjektive Befindlichkeit berühren, „während sie auf der anderen Seite eine zunächst einmal nicht weiter definierte Umwelt in eine zusammenhängende und wohl definierte Situation verwandeln“.81 Diesen Überlegungen Jean-Paul Thibauds zufolge helfen Atmosphären bei der Definition einer Situation.82 Dieses erfolgt demnach nicht allein durch intentionale Handlungen. Atmosphären können dazu beitragen, dass eine grundsätzlich offene und unbestimmte Situation „eine Qualität erhält und auf diese Weise vereinheitlicht wird“.83 Eine um die Atmosphärenräume erweiterte, mehrdimensionale raumanalytische Perspektive hilft somit eine rein rational-intentionalistische Handlungsperspektive zu erweitern. Da sowohl Akteure Räume in sozialen Praktiken konstruieren und dekonstruieren, als auch die Diskursivität von Räumen Teil soziokultureller Wirklichkeit ist, bietet ein um den Atmosphärenbegriff erweiterter mehrdimensionaler raumanalytischer Zugang die Möglichkeit Konzepte der Sozial- und Neueren Kulturgeschichte einander anzunähern. Sowohl individuelle Entscheidungen, als auch übergeordnete Strukturen könnten in ihrem gegenseitigen Wirken analysiert werden, bipolare Erklärungsschemata wie Handlung-Struktur, abstrakt-konkret, real-konstruiert, lokalglobal überwunden werden. Die Ordnung der sozialen Wirklichkeit findet auch über das Nebeneinander und die Konkurrenz neuer Raummuster statt. Historizität kann nicht allein durch zeitliche Abläufe beschrieben werden. Zeit zeichne sich durch „Irreversibilität“ aus, während Raum eine „Umkehr“ möglich mache und so die Offenheit und Zufälligkeit historischer Prozesse betont.84 Da historische Wirklichkeit nicht allein diskursiv oder in sozialen Praktiken entschlüsselt werden kann, versucht eine um mehrere räumliche Ebenen bemühte Perspektive der Komplexität vergangener Wirklichkeiten gerechter zu werden. Da HistorikerInnen nicht in der Zeit reisen können und somit eine „Rückkehr ins Feld“85 schwer möglich scheint, müssen andere Wege gefunden werden sich Materialitäten und Atmosphären empirisch zu nähern. Die dichte Beschreibung historischer Phänomene und sozialer
80 Vgl. Ebd. S. 105. 81 Rainer Kazig: Atmosphären – Konzept für einen nicht-repräsentationellen Zugang zum Raum, in: Christian Berndt/ Robert Pütz (Hg.), Kulturelle Geographien. Zur Beschäftigung mit Raum und Ort nach dem Cultural Turn, Bielefeld 2007, S.167–187, S. 179. 82 Vgl. Thibaud: Umwelt, S. 282ff. 83 Kazig: Atmosphären, S. 178. 84 Rau: Räume, S. 67. 85 Kazig: Atmosphären, S. 183.
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Praktiken mit einer erhöhten Aufmerksamkeit für die räumlich-materielle Beschaffenheit von Geschichte kann ein Weg sein, der Atmosphären beschreibbar werden lässt. Eine raumanalytische Geschichtswissenschaft, welche nicht allein eine Perspektive des Räumlichen in den Blick nimmt, erweitert eine diskurs- und handlungstheoretische Konzeption des Raumes um die materielle und abstrakte Dimension. Die Erklärung der Zusammenhänge zwischen der sozial-kulturellen Welt auf der einen, bzw. der natürlichen Umwelt auf der anderen Seite und deren gegenseitiger Beeinflussung bietet nicht notwendigerweise einen wirklicheren Zugang zur Wirklichkeit der Geschichte, sondern stellt den Versuch dar, den Dualismus Handlung/Struktur, absoluter/relationaler Raum, Diskurs/Materialität aufzuweichen und somit das Auseinanderdriften von Sozial- und Neuer Kulturgeschichte zu verhindern. Dass dabei kulturelle Praktiken und deren gegenseitiges Wirken auf materielle Strukturen beobachtbar werden, kann nicht von Nachteil für die weitere Diskussion des Raumbegriffs und der Etablierung eines spatial turns sein.86
86 Vgl. Rau: Räume, S. 11.
„ETERNAL SUNSHINE ON THE CLUELESS MIND …“ Das historische Bewusstsein und die ‚Wirklichkeit‘ Thomas Welskopp Hollywoods Beiträge zur historischen Erkenntnistheorie sind häufiger als man denkt. Dazu gehört auch der deutsch reichlich albern betitelte Film „Vergiss mein nicht!“ von 2004. In diesem durchlebt Jim Carrey in einer seiner seltenen ernsten, dafür aber besten Rollen immer wieder bittersüße Liebesaffären mit Kate Winslett, die eine eher kühle als „coole“ blau gefärbte Frisur ziert. Im kalten New York City der Winterzeit spielen diese Dramen, die regelmäßig in der Katastrophe enden. Für Carrey sind sie derart traumatisch, dass er das Angebot eines ansässigen Traumlabors annimmt, mittels eines maschinellen Verfahrens seine Erinnerung an die einstmals Angebetete und an die anstrengenden bis niederschmetternden Zeiten mit ihr auslöschen zu lassen wie früher eine Tonspur auf einem Tonband. Tabula rasa im Hirn verrennt sich Carrey prompt in die nächste Affäre mit Winslett, die ihm seltsamerweise immer wieder über den Weg läuft, mit vorhersagbarem Finish in neuerlichem Fiasko. Das geht, bis die Hirnstromlöschtruppe dilettantisch und Marihuana benebelt einen Verfahrensfehler begeht und Carreys Erinnerungen nur unvollständig tilgt. Hier greift der Originaltitel des Films: „Eternal Sunshine on the Spotless Mind …“ – „ewige Sonne für das [von Erinnerung] unbefleckte Bewusstsein“, weil Carreys Bewusstsein nicht mehr „spotless“ war, aus der näheren Rückschau nie „unbefleckt“ gewesen war, auch nach früheren Durchgängen durch die Hirnlöschprozedur nicht. Dementsprechend wenig Sonnenschein gab es für ihn über die ganze Story hinweg im winterlichen New York City. Im Film ist es ein simpler technischer Fehler, der hier zwei Formen von Erinnerung auseinandertreten lässt: die bewusste, oberflächliche und daher löschbare und die unterbewusste, tiefe Schicht einer kaum mit Worten zu beschreibenden Referenz an die Vergangenheit. „Vergiss mein nicht!“ wäre nicht auch ein Liebesdrama, zielte die Story – und mit ihr der Titel – nicht auf das Bild ab, dass man das (rationale) Hirn wohl löschen könne, das (irrationale, emotionale) Herz aber nicht. Nun muss man Hollywood nicht in alle Windungen der absurden Geschichte folgen. Denn strenggenommen haben beide Formen von Erinnerung ihren Sitz in Carreys Hirn, und ihre Trennung bedarf keines professionell-technischen Versagens. Sie ist von Anfang an präsent, in der Form von Ahnungen, von Assoziationen, von Déja-vu-Erlebnissen und der Wahrnehmung kleinster Veränderungen im gewohn-
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ten Umfeld des Hauptdarstellers, darunter eine zuvor nicht bemerkte, nie dagewesene, Beule an seinem Auto, links vorn. Die Erinnerung kann man tilgen, wäre die Schlussfolgerung, das Gedächtnis nicht. Es spricht viel dafür, diese zweite, unterbewusste, tief eingegrabene Schicht von Erinnerungen zur besseren Unterscheidung „Gedächtnis“ zu nennen. Denn während man „Erinnerungen“ nicht nur mit bewussten Reflexionsprozessen assoziiert, sondern auch mit offener Kommunikation mit Dritten – zu welchem Zweck auch immer –, steht Gedächtnis für das Unausgesprochene, z.T. Unaussprechliche, für Denk- und Verhaltensänderungen infolge von Vorgängen in der Vergangenheit, für „eingekörperte“ Reaktionen auf vielleicht lange zuvor vorgefallene Dinge, für Reflexe, die selbst scheinbare Wiederholungen von Erlebtem auslösen (die Traumapsychologie spricht von „trigger“). Die tiefe Verankerung im Unterbewussten und die mangelnde Verfügbarkeit von Sprache zu seiner unmittelbaren Auffassung verleihen dem Gedächtnis eine deutlich größere Stabilität als der Erinnerung. Mehr noch zeigt sich das Gedächtnis gegenüber den Zumutungen verschiedenster Erinnerungen weitgehend immun. Das festzuhalten impliziert, dass Erinnerung und Gedächtnis nicht nur auseinandertreten, sondern sich diametral gegenüber stellen können. Das Gedächtnis kann Erinnerung stützen; es kann sie aber auch korrigieren, ihr widersprechen, sich nicht durch schönende Erinnerungen gewissermaßen sedieren lassen. Nur im ersten Fall gibt es einen glücklichen Einklang, oder auch für diejenigen, die die Diskrepanzen nicht wahrnehmen oder – was schwierig ist – erfolgreich verleugnen. Für sie scheint in der Tat die ewige Sonne – auf ihr unbedarftes Bewusstsein („clueless mind“), auf das der Titel dieses Beitrags anspielt. Die anderen treibt das Gedächtnis um, es erzeugt Unbehagen, Verhaltens- und Kommunikationsprobleme, kommt der einfachen Identitätsvergewisserung immer wieder dazwischen, die viel reibungsärmer auf der Basis mobilisierter oder erfundener Erinnerungen funktionierte. Nachdem Jim Carrey im Film entdeckt hatte, dass seine Wahrnehmungsirritationen keine Illusion waren, sondern Gedächtnisspuren, ging er deren Ursprüngen in der Vergangenheit nach, bis er auf das Traumlabor stieß und sich seine Geschichte zusammenreimen konnte. Nicht nur für das individuelle Subjekt, sondern für Kollektive jedweder Art gilt, dass die formative Vergangenheit ihres Gedächtnisses ihre „Geschichte“ ist. Instinktmäßig mit wenig fixen Verhaltensprogrammen ausgestattet und nur ansatzweise in feste biorhythmische Zyklen eingebunden, haben sich menschliche Akteure zwischen einer gelebten Vergangenheit, einer mehr oder minder kontingenten Gegenwart und einer prinzipiell offenen Zukunft zu orientieren. Bewusst gelingt das nur im Rückgriff auf das Vergangene. Man kann dabei Selbstvergewisserung durch das Beschwören von Erinnerungen betreiben, vermeintliche materielle Traditionen heiligen, Zuflucht zu Legenden suchen, ideologischen Vergangenheitsbildern gläubig verfallen – und all das in diversen Formen von „Geschichtsschreibung“ wiederfinden. Es bleiben Palliative gegenüber einer Orientierung an der Vergangenheit, die darauf aus ist, die Herkunft auffälliger oder irritierender Gedächtniselemente zu klären, also ihre „Geschichte“ zu betrachten. Nichtsdestoweniger sind die anderen Formen der Vergangenheitsbetrachtung in der Regel ein Mehr-
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heitsphänomen, nicht nur in der Zeit vor der Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung, sondern auch seitdem. Selbst wenn diese die Suche nach der „Geschichte“ abkürzen oder ersetzen oder als Ersatz befriedigen, zeigt sich die existenziell historische Ausrichtung menschlicher Subjekte doch in einem Bedürfnis nach der Kenntnis ihrer Geschichte. Johann Gustav Droysen hielt im Pathos des 19. Jahrhunderts den Menschen an sich für ein geschichtliches Wesen. Geschichte sei sein „Gattungsbegriff“.1 „Geschichte“ in diesem Sinne kann das Streben menschlicher Akteure nach ihrer Kenntnis nur erfüllen, wenn sie deren Ansprüchen genügt, als „wahr“ zu gelten. Sie kann dabei Erinnerungen durchaus stützen; oft genug aber wird sie herangezogen, um Erinnerungen zu korrigieren oder gar als irrig oder manipulativ eingesetzt zu entlarven. Nietzsche schreibt in seinen „unzeitgemäßen Betrachtungen“ über den „Nutzen und Nachteil der Historie“: „Hier wird deutlich, wie notwendig der Mensch, neben der monumentalischen und antiquarischen Art, die Vergangenheit zu betrachten, oft genug eine dritte Art nötig hat, die kritische: und zwar auch diese wiederum im Dienste des Lebens. Er muss die Kraft haben und von Zeit zu Zeit anwenden, eine Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulösen, um leben zu können: dies erreicht er dadurch, dass er sie vor Gericht zieht, peinlich inquiriert, und endlich verurteilt; jede Vergangenheit aber ist wert, verurteilt zu werden – denn so steht es nun einmal mit den menschlichen Dingen: immer ist in ihnen die menschliche Gewalt und Schwäche mächtig gewesen. Es ist nicht die Gerechtigkeit, die hier zu Gericht sitzt; es ist noch weniger die Gnade, die hier das Urteil verkündet: sondern das Leben allein, jene dunkle, treibende, unersättlich sich selbst begehrende Macht.“2 Die Suche nach einer solchen „wahren“ Geschichte bedeutet nicht, dass man sie als solche einfach finden kann. „Geschichte“ liegt nicht vorportioniert und vorformuliert in den Archiven, gewissermaßen als „history to go“. Man darf Geschichte nicht mit dem aus der Vergangenheit in Überresten überlieferten damaligen Gesamtgeschehen verwechseln, warnte Droysen, in diesem Sinne ganz Konstruktivist: „[N]icht das Geschehene, weder alles Geschehene noch das meiste oder vieles davon ist Geschichte. Denn soweit es äußerlicher Natur war, ist es vergangen, und soweit es nicht vergangen ist, gehört es nicht der Geschichte, sondern der Gegenwart an.“3 Die Vergangenheit ist vorbei, verloren, heißt das. Auch ihre Überreste werden uns nicht helfen, die gläserne Wand der fortschreitenden Zeit zu durchbrechen, die uns von dieser Vergangenheit trennt (Dazu bedürfte es schon der 1
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Johann Gustav Droysen: Historik, Bd. 1: Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen (1857). Grundriss der Historik in der ersten handschriftlichen Fassung (1857/58) und in der letzten gedruckten Fassung (1882). Historisch-kritische Ausgabe von Peter Leyh, Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, S. 15ff.; Thomas Welskopp: Historische Erkenntnis, in: Gunilla Budde/ Dagmar Freist/Hilke Günther-Arndt (Hg.), Geschichte. Studium – Wissenschaft – Beruf, Berlin 2008, S. 122–137, S. 126f. Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen. Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: Friedrich Nietzsche: Werke in vier Bänden, Bd. III, Salzburg 1983, S. 29–74, S. 42. Droysen: Historik, Bd. 1, S. 8.
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„time warps“ und „Raum-Zeit-Löcher“ eines Captain Kirk und Mister Spock). Sie können wenn, dann nur in einer heute neu gewonnenen Bedeutung ein Licht auf ihre damalige Rolle für eine mögliche „Geschichte“ werfen. Max Weber führt ein weiteres Argument an: Es ist an sich gleich, ob man die Vorstellung hegt, die „Geschichte“ sei im ein- für allemal vergangenen Gesamtgeschehen enthalten oder nicht; erkennen könne man sie im unzugänglichen Chaos verblichener „Wirklichkeiten“, im „heterogenen Kontinuum“ der Zeitläufte, ohnehin nicht: „Endlos wälzt sich der Strom des unermesslichen Geschehens der Ewigkeit entgegen.“4 Es ist daher für uns nachgeborene Interessenten an der „Geschichte“ nicht möglich, eine „wirklich“ genetische Perspektive einzunehmen und etwa angenommene kausale Wirkungszusammenhänge in actu, im tatsächlichen damaligen Vollzug zu erfassen. Auch wenn Geschichtsschreibung notwendig genetisch verfährt, um Geschichten von Gegenständen in ihrem Kontext und Wandel zu erzählen, die ein klares Vorher und Nachher und eine Pointe haben, so handelt es sich doch in Wahrheit um eine narrative Simulation historischer Genese. In Wirklichkeit ist die Richtung der Geschichtsbetrachtung retrospektiv, von heute rückwärts in die Vergangenheit peilend: Das „Wesen [geschichtswissenschaftlicher] Forschung ist“, so Droysen, „in dem Punkt der Gegenwart, den sie erfasst, die erloschenen Züge, die latenten Spuren wieder aufleben, einen Lichtkegel in die Nacht der Vergessenheit rückwärts strahlen zu lassen“.5 Man könne nur den begrenzten Ausschnitt erkennen, der einen heute vom unzugänglichen und unübersichtlichen Chaos vergangenen Geschehens interessiert, was also vom aktuellen Gesichtspunkt mit Bedeutung aufgeladen ist. Der selektive Zugriff lässt notwendig vieles aus, ist aber andererseits die einzige Möglichkeit, überhaupt Licht ins Dunkel der Vergangenheit zu bringen. Auch Max Weber bemühte die „Scheinwerfer“-Metapher historischer Erkenntnis gern und bezeichnete als solche Richtungsleuchten scharf definierte theoretische Begriffe. Auch wenn dies die alternativlose, wenn auch eng begrenzte Schneise zur Vergangenheit und zur Gewinnung von „Geschichte“ sei, warnte er davor, dann die Simulation mit dem „Ding an sich“ zu verwechseln und die eigenen Begriffe und Konzepte nachträglich zum „Sinn“ der Geschichte selbst zu erhöhen: „Nichts […] ist […] gefährlicher als die, naturalistischen Vorurteilen entstammende, Vermischung von Theorie und Geschichte, sei es in der Form, dass man glaubt, in jenen theoretischen Begriffsbildern den ‚eigentlichen‘ Gehalt, das ‚Wesen‘ der geschichtlichen Wirklichkeit fixiert zu haben, oder dass man sie als ein Prokrustesbett benutzt, in welches die Geschichte hineingezwängt werden soll, oder dass man gar die ‚Ideen‘ als eine
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Max Weber: Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 71988, S. 146–214, S. 184; Thomas Welskopp: Der Mensch und die Verhältnisse. „Handeln“ und „Struktur“ bei Max Weber und Anthony Giddens, in: Thomas Mergel/Thomas Welskopp (Hg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997, S. 39–70, S. 47f. Droysen: Historik, Bd. 1, S. 10; Welskopp, Historische Erkenntnis, S. 125.
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hinter der Flucht der Erscheinungen stehende ‚eigentliche‘ Wirklichkeit, als reale ‚Kräfte‘ hypostasiert, die sich in der Geschichte auswirkten.“6 Wenn der Zugang zur Vergangenheit versperrt ist, wie können dann „Geschichten“ als „wahr“ gelten wollen? Zumal sie in eine narrative Form gebracht werden müssen, die vielleicht anderen Regeln folgt als die Zusammenhänge in der Vergangenheit selbst, allein um für menschliche Subjekte verständlich zu sein. Historische Orientierung, darauf hat Arthur C. Danto vor geraumer Zeit hingewiesen, spüre quasi-biografischen Mustern des Werdens und Vergehens nach, weil allein das die kognitiven Möglichkeiten des Menschen, sich in der Zeit zurechtzufinden, bedient. Menschliche Subjekte können mehrere Bewusstseinszustände nur dann zugleich als „wahr“ akzeptieren, wenn sie sie auf einem chronologischen Zeitstrahl in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einordnen.7 Sie suchen bei ihrer Orientierung somit nach Mustern vergangener Zusammenhänge, die sie anhand ihrer biografischen Matrix gewissermaßen „wiedererkennen“ können. Selbst eine Geschichtswissenschaft, die nüchtern erklären und argumentieren will, die theoretische Konzepte explizit anspricht und vielleicht mit vielen Zahlen daherkommt, wird in ihren Endprodukten auf narrative Strukturen zurückgreifen müssen, in die alles andere eingebettet sein mag.8 Hayden White hat 1973 daraus ein zunächst eher spielerisches Experiment gemacht und gezeigt, dass die Texte prominenter Historiker des 19. Jahrhunderts klar literarischen Genres zuzuordnen waren. Selber dem Strukturalismus verpflichtet, rückte er „Geschichte“ damit weg von der Wissenschaft und in die Sphäre der Literatur, die ihre Texte nach ästhetischen Gesichtspunkten ordne und nicht nach sachlichen Aspekten. Anstelle der „Wahrheit“ diene das „emplotment“, die literarische Handlungskomposition, als Ordnungsprinzip.9 Radikalere Narrativisten wie Frank Ankersmit haben auf der Basis dieser Position eine „metaphorische Wende“ für die Geschichtsschreibung propagiert, die eben -schreibung und nicht -wissenschaft sei, weil ihr zum einen jeglicher Referenzpunkt in einer „wirklichen“ Geschichte fehle und sie sich zum anderen mit dem Grad der literarischen Bearbeitung immer weiter von einer wie auch immer gearteten „tatsächlichen“ Vergangenheit entferne.10 Keith Jenkins und eine Reihe weiterer „postmoderner“ Historiker haben dies als Signal zu einer möglichen Befreiung der Geschichtsschreibung von methodologischen Fesseln genommen. In ihrer disziplinären Zwangsjacke sei sie doch 6 7
Weber: „Objektivität“, S. 195. Lucian Hölscher: Neue Annalistik. Entwurf zu einer Theorie der Geschichte, in: Stefan Jordan (Hg.), Zukunft der Geschichte. Historisches Denken an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, Berlin 2000, S. 158–174. 8 Arthur C. Danto: Analytische Philosophie der Geschichte, Frankfurt/M. 1980 (zuerst Cambridge 1965). 9 Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt/M. 1991 (zuerst Baltimore 1973); ders. Tropics of Discourse. Essays in Cultural Criticism, Baltimore 1978; ders., The Content of the Form. Narrative Discourse and Historical Representation, Baltimore 1987. 10 Frank Ankersmit: Narrative Logic. A Semantic Analysis of the Historian’s Language, Boston 1983, ders., History and Tropology. The Rise and Fall of Metaphor, Berkeley 1994.
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nur Instrument der Herrschenden; in ihrer die Freiheit von wissenschaftlicher Gängelung bejahenden und kraftvoll literarische Muster einsetzenden Form dagegen könne sie ein Mittel der Rebellion und Emanzipation sein und beispielsweise Subversion von Machtverhältnissen oder Empathie mit Unterdrückten in die „Geschichte“ einschreiben. Nur um den Preis der endgültigen Aufgabe von Referenz und Repräsentation könne „Geschichte“ so für die Menschen „Bedeutung“ erlangen. Auf die Frage, was dann noch das „Geschichtliche“ an Geschichtsschreibung sei, reagierten Jenkins und andere typischerweise mit subversiven Lesarten etablierter Werke der Geschichtswissenschaft, antworteten also: eine Form sei die kritische Beschäftigung mit historiografischen Texten, eine neue Art von „Meta-History“.11 White und Ankersmit sind seit den 1990er Jahren ein ganzes Stück weit von ihren extremen narrativistischen Positionen abgerückt, unter dem Druck der Feuerwalze aus den Rohren einer schweren Artillerie namens Sozialgeschichte, die ihren eher naiven Strukturrealismus in der Frage historischer Erkenntnis, allenfalls in eine politisch motivierte Ideologiekritik gekleidet, durch solchen vermeintlichen „postmodernen Relativismus“ existenziell bedroht sah. Mit dem Waliser General Richard J. Evans an der Spitze hatte man schnell das schwerste Geschütz im Arsenal aufgefahren: Man zieh die Narrativisten wenn nicht der Verleugnung, so doch einer Verharmlosung des „Holocaust“: „Auschwitz war kein Diskurs. Massenmord als Text anzusehen bedeutet, ihn zu verharmlosen. Die Gaskammern waren keine rhetorische Figur. Auschwitz lässt sich weder als Komödie noch als Posse ansehen. Wenn dies für Auschwitz gilt, dann muss es aber auch für andere Aspekte der Vergangenheit gelten, für andere Ereignisse, Institutionen und Menschen, jedenfalls in einem gewissen Grade.“12 Totschlagargumente solchen Kalibers können eine eventuell produktive Debatte auch verschütten. Sicher war die Auffassung der Narrativisten überdreht, die jede Orientierung der Geschichtsschreibung an einer historischen Referenz leugnete und stattdessen die – fiktive? – Komposition des „emplotment“ nach literarischen Regeln absolut setzte. Aber gerade der „Holocaust“ – allein die Bezeichnung stützt sich auf keine sprachliche Referenz aus der Vergangenheit – in aller seiner bestürzenden „tatsächlichen“ Wucht hat sich, was seine historiografische Repräsentation angeht, als alles andere denn als eindeutig erwiesen. Im Gegenteil bietet die Frage einer angemessenen Repräsentation nach wie vor Gegenstände endlosen Streits. Kann es überhaupt eine angemessene Darstellung in der Historiografie geben? Und haben nicht manche literarische – aber nur zum Teil fiktive – Beschreibungen des „Holocaust“ mehr Einsicht gebracht als Teile der wissenschaftlichen
11 Keith Jenkins: Re-thinking History, London 2003 (zuerst 1991); ders., On „What Is History?“. From Carr and Elton to Rorty and White, London 1995; ders., Introduction. On being open about our closures, in: ders. (Hg.), The Postmodern History Reader, London/New York 1997, S. 1–30. 12 Richard J. Evans: Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis, Frankfurt/M./New York 1998, S. 123 (der bellizistische Titel der Originalausgabe: In Defence of History, London 1997).
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Geschichtsschreibung? Zuletzt denke ich an Jonathan Littells Roman „Die Wohlgesinnten“, die eine für den Leser fast unerträgliche Täterperspektive vermittelt, welche mit dem Instrumentarium konventioneller Geschichtswissenschaft gar nicht zugänglich sein kann, für die Erklärung von Täterschaft jedoch von unschätzbarem Wert ist. Je mehr Detailinformationen die Geschichtswissenschaft über die deutsche Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg zu Tage fördert, desto weniger scheinen sie sich zudem zu einem Gesamtbild zusammensetzen zu lassen, dessen Dimensionen eben zu monströs für eine synthetisierende „Geschichte“, gewissermaßen unermesslich erscheinen.13 Diese Gedanken sind einem auftrumpfenden Richard J. Evans fern geblieben. Aber auch White und Ankersmit haben sie nicht aufgegriffen. In „The Content of the Form“ konzediert White die Einzigartigkeit des „Holocaust“, die eben nicht für alle historischen Geschehenszusammenhänge gelte, so als ob historische Ereignisse wohl unabhängig von den literarischen Bemühungen der Historiker gegeben seien, aber einen sehr unterschiedlichen Druck auf diese ausübten, sich als Referenz aufzudrängen und damit Eingang in deren Darstellungen zu suchen. Ankersmit hat schließlich Zuflucht in einer Unterscheidung von „Geschichtsforschung“ und „Geschichtsschreibung“ gesucht, die als nur unwesentlich weniger naiv erstaunt als der empörte „realistische“ Faktizismus der Sozialgeschichte, so wie ihn Evans als weißer Ritter verteidigte. „Geschichtsforschung“ nach Ankersmit – und White, der später eine ähnliche Position vertrat – sei durchaus geeignet, grundlegende „Fakten“ aus der Vergangenheit zu ermitteln und somit ein Grundgerüst des Wissens über die „Geschichte“ zu errichten. Auf der Basis dieser „Fakten“ konstruierten Historiker dann aber relativ frei ihre Darstellungen, deren notwendig narrative Struktur ein ebenso notwendiges fiktives Element einführe. Von diesem Punkt an gehorche Geschichtsschreibung nicht mehr den Grenzen, die die „Fakten“ zögen, sondern den literarischen Anforderungen des „emplotment“. Das klingt wie ein Casting für einen Hollywoodfilm, das nicht Profis, sondern Laienschauspieler rekrutiert, während die Story dann doch eher den Drehbüchern der Regisseure folgt als der vermeintlichen „Authentizität“ der Darsteller.14 Aber anders als „Daten“ – „Gegebene“ – sind „Fakten“ „gemacht“. Wie HansJürgen Goertz über White urteilte: „[D]ie Unterscheidung der Ebenen, an der [White] viel liegt, um möglicherweise auf den Vorwurf preisgegebener Referentialität reagieren zu können, ist aus folgendem Grund problematisch. Das Faktum ist, könnte man sagen, als ‚nackte Tatsache‘ (brutum factum) wie eine Scherbe, die auf einer Schutthalde gefunden wurde. Sie ist zunächst unbrauchbar und nutzlos. Der Historiker kann mit ihr nichts anfangen, sie gehört zum Abfall. Es könnte allerdings auch sein, dass sie, nicht gleich für jedermann sichtbar, Spuren an sich trägt, die auf einen einstigen Bedeutungs- und Verwendungszusammenhang schließen lassen. Dann aber muss über solche Zusammenhänge von anderswo als von der Scherbe 13 Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten. Roman, Berlin 2008 (zuerst unter dem Titel: Les Bienveillantes, Paris 2006). 14 Siehe jetzt die gesammelten Aufsätze von Frank Ankersmit in: Frank Ankersmit: Meaning, Truth, and Reference in Historical Representation, Ithaca, NY 2012.
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etwas bekannt sein. Und genau diese eventuell erkennbaren Spuren machen das Faktum zum Faktum, verleihen ihm Konsistenz und geben ihm ein Profil, so dass es sich als Bauelement überhaupt erst in der Arbeit des Historikers am Plot einer Erzählung anbietet, ja, geradezu die Ordnung einer Erzählung ermöglicht, die sich auf Faktisches und nicht auf Imaginäres bezieht.“15 Ergo ist es der Historiker, der aus einem „Datum“ ein „Faktum“ macht. Im Grunde lässt sich damit an erklärte Konstruktivisten wie White und Ankersmit ein ähnlicher Vorwurf richten wie an die „strukturrealistische“ Sozialgeschichte, nämlich die Geschichte zu „essentialisieren“.16 Das bedeutet zum einen vorauszusetzen, dass es in der Vergangenheit tatsächlich fest vorgegebene Bedeutungseinheiten vorfindlich gibt, denen zum anderen auch noch gern quasi-materielle Eigenschaften („Substanz“ der Geschichte) zugeschrieben werden, um ihre nicht narrativistisch wegzudiskutierende Durchschlagskraft in das historische Bewusstsein unserer Zeitgenossen und letztlich auch in die Darstellungen der Historiker zu begründen. Der Kampf gegen solche „Essentialismen“ hat eine zweite Strömung der heute „postmodern“ genannten Geschichtsschreibung beflügelt. Hier griff man die von den Narrativisten konstatierte „Störung“ der Beziehung zwischen historischer Referenz und Geschichtsschreibung auf, weil die Schwächung oder gar Leugnung der Referentialität bestimmten interpretatorischen Interessen entsprach. So ließ sich eine aus der neomarxistischen Traditionslinie entfernt entstammende Gegengeschichte zur „Moderne“ nur schreiben, indem man das Modernisierungsvokabular vor allem auch der Sozialgeschichte und ihre Fortschrittsrhetorik als substanziell unbegründet und ideologisch entlarvte. Bezeichnend war der Austausch der theoretischen Zitierautoritäten von Antonio Gramsci über Clifford Geertz zu Michel Foucault. Mit Foucault spielte man nun den „Wahrheitsanspruch“ der Geschichtswissenschaft gegen ihre Bindung an die Macht aus. Sie diente damit nur mehr als Beispiel für in eine oberflächlich harmlose Sprache gekleidete Herrschaftsverhältnisse, die hegemoniale Diskurse wie der über die „Moderne“ und die Individualität des „modernen Subjekts“ in der Gestalt von Wissensregimes und Verhaltensdispositiven über die Menschen der Neuzeit errichtet hatten. Diese zementierten bestehende Machtkonstellationen, indem sie den Menschen ihre Akteursqualität als reine Illusion vorspiegelten, während sie ihnen in Wirklichkeit ihren Akteurscharakter nahmen, ja, die Akteure hinter bloßen Knoten im Gewebe der Diskurse regelrecht zum Verschwinden brachten.17 15 Hans-Jürgen Goertz: Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referentialität, Stuttgart 2001, S. 21f. 16 Thomas Welskopp: Grenzüberschreitungen. Deutsche Sozialgeschichte zwischen den dreißiger und den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts, in: Christoph Conrad/Sebastian Conrad (Hg.): Die Nation schreiben. Geschichtswissenschaft im internationalen Vergleich, Göttingen 2002, S. 296–332; Bettina Hitzer/ders., Einleitung der Herausgeber: Die „Bielefelder Schule“ der westdeutschen Sozialgeschichte. Karriere eines geplanten Paradigmas?, in: Bettina Hitzer/ ders. (Hg.), Die Bielefelder Sozialgeschichte. Klassische Texte zu einem geschichtswissenschaftlichen Programm und seinen Kontroversen, Bielefeld 2010, S. 13–31. 17 Für die Foucault-Rezeption in der anglo-amerikanischen Sozialgeschichte siehe Geoff Eley: A Crooked Line. From Cultural History to the History of Society, Ann Arbor 2005, S. 127ff.
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Zum einen inspirierte Foucault „materielle“ Gegengeschichten zu einer als permanenter Fortschritt verklärten „Moderne“, die sich mit ihren „dunklen Unterseiten“ beschäftigte. Asyle, Hospitäler, Heime, Lager, Gefängnisse, psychiatrische Anstalten wurden nun untersucht und ihr normierender Zwangscharakter, der wie selbstverständlich physische und psychische Gewalt beinhaltete, im Kontrast zu den ihn maskierenden therapeutischen und sozialtechnologischen Sprachen herausgearbeitet. Obwohl das eigentlich die Existenz historischer Referenten geradezu voraussetzte – wenn auch anderer als die der konventionellen Geschichtsschreibung, die die „tatsächlichen“ Verhältnisse verschwiegen oder sprachlich affirmiert, also zu Fortschritt und Sozialreform geschönt hatte – bestand man nun auf dem unmittelbaren Zusammenhang zwischen „Wissen“ und „Macht“, dessen Instrument die Sprache sei und die wiederum so dominant auftrete, dass sie die „tatsächliche“ Vergangenheit zudecke, ja regelrecht zum Verschwinden brachte. Zum anderen trat dies die Welle der Diskursanalyse los, die sich auf Foucault berufen konnte, aber nicht musste. So waren gerade auch im deutschen Sprachraum nicht wenige „Diskursgeschichten“ sehr traditionelle und eher unreflektierte Ideengeschichten auf eventuell einer etwas breiteren Textgrundlage. Mit Foucault allerdings veränderte die Diskursanalyse den Blick auf die Vergangenheit, indem man sich jetzt ihren sprachlichen Überresten und überlieferten Sprechweisen widmete und deren Formationsbedingungen und Wirkungen zu ergründen suchte. Zentralbegriff wurde das „Archiv“, verstanden nicht mehr als „Aufbewahrungsbehälter“ für Informationen über eine materiell gewesene Vergangenheit, sondern als machtgestützter Generator dieser Vergangenheit selber, dessen Hervorbringungsregeln „selber eine Form von Materialität“ konstituierten.18 Der einzige noch für voll genommene historische Referent war damit rein sprachlich verfasst. Zu einem typischen Betätigungsfeld für eine solche Diskursanalyse war und ist die Wissenschaftsgeschichte. Vor allem für die Naturwissenschaften mit ihrem oftmals unbedarften positivistischen Wissenschaftsverständnis wurde die Produktion von Wissen anhand seiner sprachlichen Hervorbringung und Fixierung untersucht. Zeigen konnte man dabei durch die Bank die metaphorische Aufladung der vermeintlich terminologisch so präzisen Wissenschaftssprachen. Wissenschaftliche Erkenntnis als Serie kognitiver Akte erwies sich in der Folge als ideologische Illusion. Tatsächlich komme sie durch nicht selten machtförmig durchgesetzte sprachliche Analogien mit zeitgenössischen gesellschaftlichen Erscheinungen und Problemen zustande. Die frühe Bakteriologie etwa stützte sich auf ein in ihrer Entstehungszeit äußerst angesagtes Kriegsvokabular. Der vermeintlich „objektiv“ gesicherte Bestand positiven Wissens, der früher die Disziplingeschichten ausmachte – und ihren historischen Referenten abgab – löste sich somit in Sedimente sprachlicher Schichten auf, die mehr vom Zeitgeist als von wissenschaftlicher Exaktheit geprägt waren.19 18 Ebd., S. 129. 19 Philipp Sarasin: Diskurstheorie und Geschichtswissenschaft, in: Reiner Keller/Werner Schneider/Willy Viehöver (Hg.), Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, Bd. I: Theorien und Methoden, Opladen 2001, S. 53–79; John E. Toews: Linguistic Turn and Discourse
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Für solche Diskursanalysen, in denen es auf die Subtilität sprachlicher Wendungen, auf graduelle Bedeutungsverschiebungen und vor allem auf die Deutungskraft von Metaphern und Analogien stärker ankam als auf die Ausgrabung verdeckter Ordnungs- und Herrschaftssprachen, blieb Foucaults Ausgangspunkt aber nicht theoretische Endstation. Darin erscheint Foucault als unhintergehbarer Begründer einer diskursanalytischen Geschichtsbetrachtung, aber zugleich als jemand, der die Sprache letztlich nicht ernst genug genommen und in seiner Werkentwicklung zugunsten der „Macht- und Körpertechniken“ zunehmend an den Rand der Betrachtung gedrängt hat. Der hochdifferenzierende „Dekonstruktivismus“ Jaques Derridas und anderer, der von der grundsätzlichen Instabilität und Unfixierbarkeit der Zeichensysteme ausgeht, nehme die Vielstimmigkeit und Metaphorik des Diskurses gezielt unter die Lupe, für die sich Foucault in seiner Suche nach Ordnungssprachen und Ordnungsschemata, die die Selbstauslegung der Moderne konterkarieren, schlichtweg nicht interessiert hat.20 Die „poststrukturalistische“ Sprachphilosophie und Linguistik bestritt, dass Texte in irgendeiner Weise auf Dinge und Sachverhalte verwiesen, die außer ihnen selbst und anderen Texten, auf die sie verwiesen, lagen. Das mochte für eine Sprachwissenschaft eine Provokation sein aber kein großes Problem, da man sich ohnehin zuvorderst mit Texten beschäftigte und nicht mit Kontexten. Für die Geschichtsschreibung bedeutete der erhoffte Zugewinn an diskursanalytischer Feinsinnigkeit, diese behauptete prinzipielle Inkongruenz zwischen dem Bezeichnenden und dem Bezeichneten auf den historischen Referenten auszuweiten. Demnach gab es keine außerhalb der in zeitgenössischen Texten kodifizierten Sprache liegende außersprachliche „Realität“. Historische Wirklichkeit sei vielmehr „immer schon“ sprachlich vorgefasst und dadurch maßgeblich konstruiert, was wiederum ihre in Texten repräsentierte Prätention, „Wirklichkeit“ zu sein, als ideologisch, als Texteffekt, entlarvte. Vor allem den an Identitätsbildung und -findung interessierten Richtungen der Geschichtsschreibung seit den 1980er Jahren, vor allem in der Geschlechtergeschichte und seit den 1990er Jahren auch in der postkolonialen Geschichte, kam diese erkenntnistheoretische Position ebenso entgegen wie Foucaults pauschalisierter „Machtverdacht“. Man war schließlich in den Krieg gezogen, um den vermeintlichen „Essentialismus“ in der Geschichte zu bekämpfen. Darunter verstand man alle Lehrmeinungen, die soziale Differenz jedweder Art auf reale Unterschiede zwischen Menschen und Menschengruppen zurückführten und beispielsweise Diskriminierungen auf der Basis etwa von Geschlecht, Ethnie oder Rasse damit rechtfertigten. Soziale Differenzen seien durch die Bank diskursiv konstru-
Analysis in History, in: International Encyclopedia of the Social and Behavioral Sciences, London 2001, Bd. 13, S. 8916–8922; Michael Maset: Diskurs, Macht und Geschichte. Foucaults Analysetechniken und die historische Forschung, Frankfurt/M./New York 2002. 20 Sarasin: Diskurstheorie und Geschichtswissenschaft, S. 70 f.; ders., Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt/M. 2003.
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iert, als Produkt von Auseinandersetzungen um Definitionsmacht im Herrschaftsinteresse an Stabilität, aber dadurch doch mehr oder weniger volatil und vor allem: veränderbar.21 Zum einen verhieß das zwar eine Aufwertung von Geschichtlichkeit, wenn die sozialen Verhältnisse nicht mehr als durch „anthropologische Konstanten“ oder evolutionäre Anlagen materiell dauerhaft vorstrukturiert betrachtet wurden, sondern als Ergebnisse kontingenter Prozesse, denen man nur historisch auf den Grund gehen konnte. Aber zum anderen führte die Abwehr jedweden Anflugs von „Essentialismus“, der letztlich nicht nur für die Behauptung „anthropologischer Konstanten“ und evolutionäre Annahmen, sondern für Ontologie in ihrer Gesamtheit stand, zu einer Reduktion von Geschichte auf historische Texte und ihre wechselseitigen Verweise. Sprache sei allen Geschehenszusammenhängen, gerade auch wenn sie scheinbar subjektive „Erfahrungen“ prägten, immer schon vorgängig. Die Historie wurde gewissermaßen zu einer „Geschichte von Begriffskämpfen“. Jenseits der dabei eingesetzten Texte, allein deren Zeitlichkeit sie in die Vergangenheit verwies, sollte es nichts geben, was „Geschichte“ sonst noch ausmachen konnte. Die Menschen, die früher gelebt hatten, wurden somit zu dem, was man im englischen Sprachraum „a clean slate“ nennt, leere Flächen, in die auch Identitäten durch Texte fast beliebig eingeschrieben werden konnten. Historische Muster und Identitätsformen größerer Stabilität ließen sich nur durch die Errichtung von Gerüsten aus Begriffen erlangen, die sich wechselseitig, also ohne Ausgriff auf außersprachliche „Kontexte“, phasenweise stabilisierten.22 Die Debatte passte in das Klima der politischen Identitätskämpfe vor allem an amerikanischen Universitäten in den 1980er und 1990er Jahren, die zugleich, unter der Schutzglocke des amerikanischen Campus, von lebensweltlichen Zumutungen abgeschirmt wie in einem Treibhaus gedeihen konnte und dennoch mörderisch waren.23 Mit dem Vorwurf, lebensfremd zu sein, trafen aber die Kritiken von ideologischen Parteigenossinnen und Parteigenossen von außerhalb der Akademie, und man sah hier die Bedürfnisse nach Identitätsfindung und Identitätsvergewisserung papiern erstickt und intellektualistisch sublimiert.24 Damit stellte sich die Frage neu,
21 Joan W. Scott: Gender. A Useful Category of Historical Analysis, in: dies., Gender and the Politics of History, New York 1988, S. 28–50. 22 Joan W. Scott: Gender; dies., The Evidence of Experience, in: Critical Inquiry 17 (1991), S. 773–797; Judith Butler u. dies. (Hg.): Feminists Theorize the Political, London 1992; Seyla Benhabib u.a. (Hg.): Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart, Frankfurt/M. 1993; Joan W. Scott: Die Zukunft von Gender. Fantasien zur Jahrtausendwende, in: Claudia Honegger/Caroline Arni (Hg.), Gender. Die Tücken einer Kategorie, Zürich 2001, S. 39–63. 23 Andreas Reckwitz: Der Identitätsdiskurs. Zum Bedeutungswandel einer sozialwissenschaftlichen Semantik, in: Werner Rammert u.a. (Hg.): Kollektive Identitäten und kulturelle Innovationen. Ethnologische, soziologische und historische Studien, Leipzig 2001, S. 21–38. 24 Laura Lee Downs: If „Woman“ is Just an Empty Category, Then Why Am I Afraid to Walk Alone at Night? Identity Politics Meets the Postmodern Subject, in: Comparative Studies in Society and History 35 (1993), S. 414–437; Hanna Schissler: Hält die Geschlechtergeschichte, was sie versprochen hat? Feministische Geschichtswissenschaft und „Meistererzählungen“, in:
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wozu man Geschichtsschreibung denn betreiben solle, wenn sie nichts „Festes“ oder zumindest Wiedererkennbares zutage zu fördern in der Lage sei. Vor allem das verloren gegebene „Subjekt“ vermisste man nun, das für die Suche nach Identität ja vielleicht doch nicht völlig unerheblich war.25 Es ist keine grundlose Überraschung, dass eine auf diese Weise vorgehende, die „Textualität“ der „Wirklichkeit“ verabsolutierende Diskursgeschichte in ihren materiellen Ausprägungen gerade für diejenigen enttäuschend war, die sich davon die Vergewisserung ihrer (bislang diskriminierten) Gruppenidentität versprochen hatten.26 Sie hatten von einer solchen Geschichte etwas anderes erwartet, als dass man bei möglichen Heldinnen der Vergangenheit nur etwas ratlos semantische „Paradoxien“ konstatierte.27 Die „poststrukturalistisch“ auftrumpfende Diskursanalyse – nota bene: nicht die Diskursanalyse per se – hatte an der „plump materialistischen“ Sozialgeschichte angeprangert, dass bei ihr die Akteure in den abstrakten, klirrenden Strukturen gewissermaßen eingefroren seien. Sie produzierte nun stattdessen trockene Staubwolken über lange nicht gelesenen Texten, hinter denen die Subjekte abermals unsichtbar gemacht und ihrem literarischen „Tod“ preisgegeben waren. Um als „Geschichte“ durchgehen zu können, war eine solche radikalisierte Diskursanalyse darauf angewiesen, weitreichende Setzungen vorzunehmen, die ihrerseits durch einen puren „Anti-Essentialismus“ nicht hinreichend begründbar waren. Zum einen sollte man akzeptieren, dass der „Diskurs“ in Ermangelung adressierbarer historischer Subjekte für das vergangene Leben stand. Das war die folgenreiche ontologische Setzung, auf die gleich zurückzukommen sein wird. Zum anderen gingen die Diskursanalytiker, die dieser Strömung anhingen, davon aus, dass der von ihnen aus dem unübersichtlichen Dickicht zeitgenössischer Textäußerungen destillierte „Diskurs“ vollständig war, also alles enthielt, was für den Ausschnitt historischen Lebens, den man untersuchen wollte, wesentlich war. Das war, wie Richard Biernacki herausgearbeitet hat, die Pars-pro-toto-Setzung, die wie die rhetorische Figur einer Synekdoche funktionierte. Dabei kann man in vielen einschlägigen Einleitungen und Quellenverzeichnissen nachlesen, wie überschaubar mancher „Korpus“ von Texten war, der einer Diskursanalyse zugrunde lag. Wenn man berücksichtigt, dass ein solcher Korpus notwendig Ergebnis einer Vorauswahl war (im Sinne der Erhebung einer begrenzten, im besten Fall repräsentativen Grundgesamtheit) und sich die eigentliche Analyse wiederum auf eine sehr subjektive Selektion daraus bezog, muss man sich über das Selbstbewusstsein – oder die Chuzpe? – wundern, mit denen der eine oder andere diskursanalytisch vorgehende Historiker
Konrad H. Jarausch/Martin Sabrow (Hg.): Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945, Göttingen 2002, S. 194–213. 25 Lyndall Roper: Jenseits des linguistic turn, in: Historische Anthropologie 3 (1999), S. 452– 466; Kathleen Canning: Problematische Dichotomien. Erfahrung zwischen Narrativität und Materialität, in: Historische Anthropologie 10 (2002), S. 163–182. 26 Kathleen Canning: Problematische Dichotomien. Erfahrung zwischen Narrativität und Materialität, in: Historische Anthropologie 10 (2002), S. 163–182; hier S. 165. 27 Joan W. Scott: Only Paradoxes to Offer. French Feminists and the Rights of Man, Cambridge/ London 1996.
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seine Produkte als die „ganze Geschichte“ ausgab. Boshafte Kommentatoren witterten Willkür.28 In der Praxis gibt es kaum immanente Kriterien, die es einem Historiker auf der Basis der oben benannten Setzungen erlauben, gewissermaßen „natürliche“ Grenzen des „Diskurses“ auch nur einigermaßen exakt zu bestimmen. Und darüber hinaus fällt es offenbar schwer, historischen Wandel präzise zu beschreiben und, wenn möglich, zu erklären, anstatt nur seine Resultate zu konstatieren, wie sie sich im Textkorpus niedergeschlagen haben. Warum etwa die Texte deutschsprachiger Hygieniker um 1900 deutlich anders waren als zwanzig Jahre zuvor, entzieht sich jeder Deutung, die immanente kausale Zusammenhänge nicht annehmen will und daher zu den „externen Schocks“ durch außenliegende Faktoren Zuflucht suchen muss.29 Damit aber geht ein frappierender Verlust an Historizität einher. Denn in Ermangelung eines alternativen historischen Referenten kann für Geschichtlichkeit nur mehr der Entstehungszeitpunkt der zeitgenössischen Texte garantieren – oder die Historiografie, von der man sich ja gerade abzusetzen trachtet. Das ist sicherlich ein Quell der Irritationen, die die materiellen Ergebnisse der historischen Diskursanalyse bei enttäuschten Leserinnen und Lesern ausgelöst haben. Die Unschärfe des historischen Horizonts, die nicht selten zu Verschmelzungen mit anderen kognitiven Zuständen in der Zeit führt – früher hätte man von Anachronismen gesprochen – verwirrt das Streben nach historischer Orientierung, die, wie Lucian Hölscher gesagt hat, ohne die klare Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht auskommt.30 Schließlich ist eine Setzung haltlos, die den skizzierten „Diskurs“ für das „ganze historische Leben“ nehmen will und dieses Leben denn doch „intellektualistisch verkürzt“, wie Andreas Reckwitz das genannt hat. Hegemoniale Diskurse waren und sind Elitephänomene, wogegen auch großzügige Erweiterungen des herangezogenen Textkorpus nicht nützen. Artikulationen repräsentieren immer durchgesetzte Artikulationsfähigkeit, die nicht nur nicht symmetrisch sozial verteilt ist. Eines ihrer Instrumente ist ja das Mundtot-Machen, und folgt man Foucault, so sind die meisten Äußerungen, die auch Subalterne artikulieren und selber für ihre eigenen halten, in Wirklichkeit Effekte des herrschenden Diskurses.31 In der Abwehr des „Essentialismus“ hat die „poststrukturalistisch“ informierte Diskursanalyse die radikale „De-Ontologisierung“ der Geschichte betrieben. Das menschliche Leben hatte das Subjekt mit seinem literarischen Tod gewissermaßen ausgehaucht. „Essentialismus“ aber hatte man auch den etwas kruden „Materialismus“ der strukturrealistischen Sozialhistoriker genannt und ihn ebenfalls zunächst 28 Richard Biernacki: Language and the Shift from Signs to Practice in Cultural Inquiry, in: History and Theory 30 (2000), S. 289–310, hier S. 292f. 29 Z.B.: Philipp Sarasin: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765–1914, Frankfurt/M. 2001. 30 Hölscher: Neue Annalistik. Für eine solche Horizontverschmelzung siehe: Philipp Sarasin: Darwin und Foucault. Genealogie und Geschichte im Zeitalter der Biologie, Frankfurt/M. 2009. 31 Andreas Reckwitz: Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms, Weilerswist 22006, S. 705–728; ders., Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie 32 (2003), S. 282–301.
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dekonstruiert und dann verworfen – zugunsten eines neuen Begriffs von Materialität, der sich bei Foucault im Archiv und bei den „Poststrukturalisten“ in den Texten manifestierte, welche sich zu einem neuartigen holistischen Gebilde verdichteten: der „Kultur“.32 Das lässt sich aber mit Fug und Recht als ein „Essentialismus“ eigener Art bezeichnen – als ein „Essentialismus der Sprache“, der quasi der Preis für die „De-Ontologisierung“ der Sprache ist. Wenn man sich in der Vergangenheit an nichts Festes halten kann – keine „Realität“ und erst recht nicht an die damaligen Akteure – dann bleibt nur die Sprache, bleiben nur die Texte, die so materiell sind, dass man sie anfassen kann (wenn das der Bibliothekar im Archiv oder im Sonderlesesaal nicht verhindert). Es handelt sich dabei aber um eine ganz und gar gegenwärtige Materialität. Denn genaugenommen hat der Entstehungszeitpunkt des Textes in seiner materiellen Gestalt mit dem Zeitpunkt seiner inhaltlichen Urheberschaft nicht unbedingt viel zu tun. Eine textlich orientierte Literaturwissenschaft kann das fröhlich verschmerzen. Aber auch die radikale Diskursanalyse ist ja mit dem Anspruch angetreten, Geschichtsschreibung zu sein. Auch wenn sie die „historische Realität“ als nicht einmal denkbares Konzept verwirft, will sie im Grunde „wahre“ Geschichten liefern. Sie kann dies tun, weil sie sich in der Regel von einer etablierten konventionellen Historiografie absetzt, deren Wahrheitsanspruch sie erkenntnistheoretisch ad absurdum führt und als ideologisch entlarvt, um eigene „Geschichten“ dagegen zu setzen, denen man genau genommen das Attribut „eigentlich“ voranstellen müsste. „Eigentlich“ hieße dann sogar „wahrer“ als die „Wahrheit“ der konventionellen Geschichte. Und so stellt sich die Frage, ob die erkenntniskritischen Geschichtsströmungen ihres kritisierten Widerparts, der konventionellen Geschichte, auch der älteren Sozialgeschichte, nicht existenziell als Abstoßungsplattform bedürfen, um Zweifel an ihrer eigenen Verortung als Geschichtsschreibung (oder gar Geschichtswissenschaft“) nicht einmal aufkommen zu lassen.33 Wenn man jedweden Begriff von „Realität“ ablehnt, aber nach „wahren“ Geschichten strebt, muss man die Diskursanalyse fragen, in welcher Konzeption von „Wirklichkeit“ diese dann noch verankert sein sollen. „Wirklichkeit“ ist für alle, die an der Geschichte interessiert sind – ob Geschichtsschreiber oder ihre Leser – eine schwierige Sache: „Wirklichkeit begegnet uns im Modus der Gegenwart“, schreibt Hans-Jürgen Goertz, „beglückt, bedrängt und schlägt uns vor den Kopf – und zwar jetzt. Was vergangen ist, ist nicht mehr, ist also auch nicht wirklich. Was bleibt, ist nicht der Schlag, sondern die Beule – und auch sie bleibt nicht immer. ‚Historische Wirklichkeit‘ ist ein Begriff, der, genau bedacht, ohne Inhalt ist. Allenfalls könnte er bezeichnen, was für die Zeitgenossen einst wirklich war. Doch auch das wäre nur eine partielle Wirklichkeit, das, was der eine oder andere für wirklich hielt oder herbeiwünschte, aber nicht die Wirklichkeit selbst.“34 32 Eley: A Crooked Line, S. 194f.; Richard Biernacki: Method and Metaphor after the New Cultural History, in: Victoria E. Bonnell/Lynn Hunt (Hg.): Beyond the Cultural Turn. New Directions in the Study of Society and Culture, Berkeley/Los Angeles 1999, S. 62–92. 33 Welskopp: Historische Erkenntnis, S. 135f. 34 Goertz: Unsichere Geschichte, S. 24.
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Hier zeigt sich, dass die kritischen Geschichtsströmungen in der an sich berechtigten Abwehr behaupteter „anthropologischer Konstanten“ und überzeitlicher evolutionärer Basisprozesse mit der kompletten „De-Ontologisierung“ der Geschichte das Kind mit dem Bade ausgeschüttet haben. Wenn menschliche Akteure zwei Bewusstseinszustände nur dann zugleich als „wirklich“ auffassen können, wenn sie sie entlang dem Zeitstrahl als „vergangen“ oder „gegenwärtig“ verorten, dann ist diese Vorstellung einer „Wirklichkeit“, die gewesen und jetzt nicht mehr ist, zutiefst im „Sein“, im „Leben“, verwurzelt. Historische Orientierung bedarf also einer Vorstellung von „Wirklichkeit“ ebenso fundamental wie sie sich auf menschliches Leben in der Vergangenheit bezieht. Hayden White hat selbst etwas mystifizierend diesen Zusammenhang hergestellt und behauptet, „dass die Welt menschlicher Taten real und geheimnisvoll zugleich, das heißt auf geheimnisvolle Weise wirklich ist“.35 Gewiss lauern in der „Ontologie“, in der Lehre vom „menschlichen Sein“, Abgründe, die jeder Absicht und jedem Interesse gerade der Geschichtswissenschaft widersprechen. Aber Geschichte ist offensichtlich durch ein ontologisches Moment geradezu definiert; leugnet Geschichtsschreibung dies, läuft sie Gefahr aufzuhören, Geschichtsschreibung zu sein und als solche erkannt und aufgenommen zu werden. Anstatt „Ontologie“ zu verteufeln ist dem Historiker angeraten, sie in der Absicht zu akzeptieren sie zu kontrollieren und auf ein Minimum einzugrenzen. Der „ontologische Moment“ beschränkte sich dann auf die Grundannahme, ein vergangenes Geschehen sei „wirklich“ gewesen, da es singulär benennbar ist und konkret in Zeit und Raum situiert war. Diese „minima ontologia“ reicht schon aus, um den „Wirklichkeitsbezug“ der Geschichtsschreibung und die „Wirklichkeitserwartung“ ihrer Rezipienten genau zu bestimmen.36 Es sind dies Erwartungen an Texte, die sich „Geschichte“ nennen und somit signalisieren, dass sie ebenso an einer Erkenntnis „vergangener Wirklichkeit“ interessiert sind wie seine Leser, die sie mit ebendieser „Wirklichkeitserwartung“ aufschlagen. Das zwingt solchen Texten einen bestimmten Modus auf, nicht aber festgelegte Formen der Repräsentation, die nach White und Ankersmit ästhetischen Regeln folgen und sich damit von jedweder Form historischer „Wirklichkeit“ gerade entfernen. Aber die Unterscheidung zwischen „Faktum“ und Narration bei White bzw. zwischen „Beschreibung“ und „Repräsentation“ bei Ankersmit läuft ins Leere und schwächt im Grunde das narrativistische Argument, nur damit dies die Provokation einer losgelösten, „fiktiven“ Geschichte aufrechterhalten kann. Dabei sind schon die Bestimmung eines Sachverhalts als „Faktum“ oder seine Beschreibung gar nicht anders möglich denn als konstruierende bzw. narrative Operationen: „Die tropologische Methode wird nicht erst eingesetzt, wenn es darum geht, Tatsachen und Tatbestände bzw. Ereignisse in eine Erzählstruktur einzufügen, sondern bereits bei der Ermittlung und Feststellung der tatsächlichen Details selbst. Sie werden […] schon immer als in Beziehung stehende Tatsachen vorgefunden, sodass ein Gesamtbild 35 Zit. in: Goertz: Unsichere Geschichte, S. 25. 36 Thomas Welskopp: Erklären, begründen, theoretisch begreifen, in: Hans-Jürgen Goertz (Hg.), Geschichte. Ein Grundkurs, Reinbek 32007, S. 137–177.
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entsteht.“37 Der historische „Wirklichkeitsbezug“ wird – anders als bei White und Ankersmit – durch die narrativen Operationen nicht ausgedünnt oder gar eliminiert, sondern er kommt durch sie erst zustande. Der „Modus des Wirklichkeitsbezugs“ sorgt dafür – das Interesse an konkret in Zeit und Raum situierten Personen und Sachverhalten, die man genau bestimmt, eine Rhetorik des „Dagewesenen“, die auf ein ontologisches „Gewesen-sein“ verweist sowie der Bezug zu den heutigen Problemen und Fragen, die die historische Orientierung überhaupt erst motiviert haben. Er sorgt auch dafür, dass die Leser einen Text als ein Stück Geschichtsschreibung erkennen und anerkennen: „Der Witz eines historiographischen Textes liegt gerade in dem Wie seines Realitätsbezugs –, und genau dieses Wie will das tropologische Lesen erkennen.“38 Aus dem Voranstehenden dürfte klar geworden sein, dass ein solcher „historischer Wirklichkeitsbezug“ – zumal in seiner narrativen Gestalt – eine retrospektive „Konstruktion“ und damit untrennbar der Gegenwart verhaftet ist. Die Vergangenheit ist vorbei. Der Begriff der „Konstruktion“ wirkt auf gestandene Sozialhistoriker, die im Geist eines strukturrealistischen Materialismus aufgewachsen sind, wie ein Gottseibeiuns. Für sie klingt er nach Fiktion, elitärem Ästhetizismus, Sprachverliebtheit und „postmoderner“ Beliebigkeit. Die Sozialgeschichte befürchtet, dass ein solcher „Konstruktivismus“ der Geschichtswissenschaft auch noch den letzten erkenntnistheoretisch „sicheren“ Boden unter den Füßen wegzieht. Wenn es kein festes Widerlager in einer wie auch immer beschaffenen „historischen Realität“ gibt, gehören dann nicht sämtliche historischen Darstellungen und Erklärungen ins Reich der Fiktionen, des freien Fabulierens? Tatsächlich entlarvt der „radikale Konstruktivismus“ jeden Anspruch, man könne eine „historische Realität“ material greifen, abbilden bzw. repräsentieren, als Illusion. Doch ist für die Geschichtswissenschaft damit nichts verloren. „Konstruieren“ bedeutet nämlich nicht, etwas „aus dem Hut zu zaubern“. Das weiß jeder Architekt, jeder Ingenieur. Wenn Historiker Fiktionen des Vergangenen entwerfen müssen, da sich ihnen das Vergangene selbst entzieht, sind dies Fiktionen des Faktischen, denen man eine gewisse Plausibilität einräumt, „als ob“ es sich so abgespielt haben könnte, wie man es darstellt und argumentativ vertritt. Auch wenn das Wissen über die Vergangenheit damit retrospektiv konstruiert ist, besteht für alle, die nach historischer Orientierung streben, ein existenzielles Interesse daran, die als solches gewonnenen und in narrative Form gebrachten Erkenntnisse als „wahr“ zu betrachten. „Wahrheit“ ist etwas anderes als die „historische Realität“. Sie ist die gegenwartsbezogene Grundlage für Handlungsorientierungen, die ihrerseits mit einer nicht direkt greifbaren „Wirklichkeit“ klarkommen müssen, gerade deswegen aber notwendigerweise einen „realistischen Anspruch“ verfolgen. Insofern beschreibt das gesellschaftliche Ringen um „historische Wahrheit“, das diskursiv angelegt ist, den genuinen Gegenstandsbereich einer Geschichtswissenschaft. Sie betreibt die immer nur partiell mögliche, da von selektiven Werten und Interessen geleitete, narrative Freilegung des gesellschaftlichen 37 Goertz: Unsichere Geschichte, S. 26. 38 Zit. in: ebd.
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Gedächtnisses. Das mag nicht ewigen Sonnenschein bescheren, aber Licht in so manches Dunkel bringen.39 Gerade der Streit um die angemessene Deutung der Vergangenheit, der bezeichnenderweise immer auch naive „realistische“ und „positivistische“ Positionen hervorbringt, zeigt, dass die Menschen in der Geschichte etwas anderes sehen, sehen wollen und müssen als frei erfundene Fabeln. Sie bestimmen das Genre eines Wissens, das Geschichtswissenschaft mit den verschiedensten Methoden und Ansätzen bereitstellt, das notwendig konstruktiver Natur ist, aber von dem alle an ihm „wirklich“ Interessierte wollen, dass es nach Kräften „historische Wahrheit“ repräsentiert.40 Der „radikale Konstruktivismus“ ist als gefährlich wahrgenommen worden, weil er das Problem der Realitätsaneignung der Wissenschaft als erkenntnistheoretisches Problem untergeschoben hat. Dabei ist schon seit geraumer Zeit geklärt, dass das Erkenntnisproblem nicht etwas ist, was nur oder auch nur in besonderer Weise dem Historiker zu schaffen macht, sondern dieses Erkenntnisproblem betrifft jeden handelnden menschlichen Akteur in seinem notwendig konstruktivistischen Verhältnis zu seiner Umwelt.41 Wir können auf Umweltreize kaum mit festgelegten Instinkten unmittelbar reagieren, sondern ordnen die Umwelt mit pragmatischen Begriffen und Alltagstheorien, aus denen konzeptionelle Handlungsprogramme abgeleitet werden. Diese bewähren sich dann mehr oder weniger im Zusammenprall mit den tatsächlichen Handlungsbedingungen. Nicht dass der Mensch durch intentionale Handlungsfähigkeit charakterisiert ist – das ist viel zu eng gefasst –, sondern dass er auf der Basis von Wissen – eher von „Know how“ als von „Know why“ – handelt, macht ihn zum Subjekt, das in seiner reflexiven Handlungssteuerung auch Erfahrungen verarbeiten und in seine Handlungsprogramme einbauen kann – auch dies eine konstruktive Operation.42 Damit verschiebt sich das Erkenntnisproblem von der Erkenntnis- auf die Sozialtheorie und entlastet damit die Historie: Diese arbeitet nicht mit „Seinstatbeständen“ der Vergangenheit, aber mit den Resten des „Wissens“ der jeweiligen Zeitgenossen über die durch dieses „Wissen“ konstituierte, in ihren Praktiken wesentlich miterzeugte „Wirklichkeit“. Von den Trägern dieses Wissens, den Akteuren, kann man annehmen, dass sie ihre jeweilige „Wirklichkeit“ mit einem „realistischen Habitus“ oder „realistischen Dispositiv“ konstruiert und sich danach verhalten haben, mit mehr oder weniger schmerzlichen „Feedbacks“, ob sich denn dieses Verhalten in ihren Praktiken bewährte – oder nicht.43 Vor allem eine „praxeologische“ Sozialtheorie kann davon profitieren, dass menschliche Subjekte bei ihrer historischen Orientierung offenbar nach Mustern menschlichen Verhaltens suchen, die sie als Varianten ihrer eigenen konstruktiven
39 Welskopp: Erklären, begründen, theoretisch begreifen. 40 Goertz: Unsichere Geschichte, S. 88ff. 41 Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt/M. 1969. 42 Dies gegen: Doris Gerber: Analytische Metaphysik der Geschichte. Handlungen, Geschichten und ihre Erklärung, Berlin 2012. 43 Welskopp: Erklären, begründen, theoretisch begreifen, S. 172.
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Umweltbewältigung in der Jetztzeit wiedererkennen. Die Praxistheorie geht ebenfalls von der Kontinuität grundlegender menschlicher Sozialformen in den verschiedensten historischen Konstellationen aus. Sie postuliert, mit Anthony Giddens, also „ontologische Identität“ in „phänomenologischer Vielfalt“. Die Praxistheorie legt ihren Wert auf die Einbettung der Akteure in Zeit und Raum, in ein Geflecht von kulturellen Schemata und Deutungsformen, in sprachliche Strukturen, die sich sehr wohl auch verfestigen und sich Akteuren aufzwängen können, dies aber zugleich nicht in jedem Fall tun, sondern als abrufbare „Register“ den Akteuren bei ihrer Bewältigung von Alltagssituationen auch im Sinne eines Instrumentariums zur Verfügung stehen. Das Wissen der Akteure ist bei der Konstruktion ihrer „Wirklichkeit“ und ihrem Umgang mit deren Zumutungen zentral, aber nicht ausschließlich im Sinne eines sprachlich fixierten Kanons, sondern über weite Strecken gerade in der Form eines „praktischen Bewusstseins“, das Wahrnehmungen und angemessene Reaktionsweisen darauf als vor-bewusste Handlungsroutinen speichert, die nur auf Nachfrage oder in Handlungskrisen in das „diskursive Bewusstsein“ der Handelnden „hochgeholt“ und sprachlich artikuliert werden können. Das „praktische Bewusstsein“ der Praxistheorie entspricht dem Begriff des „Gedächtnisses“.44 Obwohl große Teile des Wissens in solchen Routinepraktiken der Akteure implizit bleiben, handelt es sich um kognitive Muster, die der aktiven Steuerung durch die Akteure im Sinne einer „reflexiven Beobachtung und begleitenden Handlungsmodifikation“ unterliegen. Hier berühren sich die „praxeologischen“ Versuche, Sprache als Praktiken und zugleich als deren selbstreflexive „Verdoppelung“ sozialtheoretisch zu verorten, mit dem erkenntnistheoretischen Insistieren des „radikalen Konstruktivismus“ auf der Selbstreferentialität jeder menschlichen Wirklichkeitskonstruktion.45 Schließlich, und das ist der Clou der Praxistheorie, stehen die „Praktiken“, der Ort, an dem sich gesellschaftliche Strukturen und das Handeln der Akteure dialektisch aufeinander beziehen, als die Sphäre im Mittelpunkt des historischen Interesses, in der durch Deutung, Kommunikation und Handlung „Wirklichkeit“ nicht nur konstruiert/repräsentiert, sondern konstituiert wird. Wenn die ewige Sonne der Geschichte schon nicht bequem durchs Fenster scheint, dann lohnt es sich doch, die Scheinwerfer unserer Begriffe und theoretischen Konzepte zu putzen, sodass sich die Vergangenheit ein wenig besser ausleuchten lässt als bisher.
44 Karl H. Hörning/Julia Reuter (Hg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004. 45 Thomas Welskopp: Sprache und Kommunikation in praxistheoretischen Geschichtsansätzen, in: ders., Unternehmen Praxisgeschichte, erscheint Tübingen 2014.
VERLORENE UND GEFUNDENE ZEIT Ethnographie und die Frage nach der Gegenwart afrikanischer Vergangenheiten Thomas G. Kirsch EINLEITUNG In ihrer Bestandsaufnahme der Entwicklung kultur- und sozialanthropologischen Arbeitens mit geschichtlichen Daten stellt Susan Kellogg fest, dass es – im Unterschied zu den vorhergehenden Jahrzehnten – seit den 1980er Jahren kaum möglich ist, „to find a major anthropological study that does not claim to offer a diachronic, processual, historical analysis“.1 Diese explizite Zuwendung zu Fragen gesellschaftlicher Historizität, die auch für die gegenwärtige Ethnologie kennzeichnend ist, führt Kellogg unter anderem auf die zeitgleich einsetzende Krise in der Konzeptualisierung und wissenschaftlichen Repräsentation von ‚Kultur‘ zurück2, in deren Zuge statische, an relativ zeitindifferenten Begriffen wie Kohärenz, Stabilität und sozialräumlicher Begrenztheit ausgerichtete Konzepte von ‚Kultur‘ problematisch geworden waren und eine Neuorientierung auf temporalisierte Fragen nach soziokulturellen Praktiken, Prozesshaftigkeit und Konfliktdynamiken einsetzte. In diesem konzeptionellen Perspektivwechsel deutet sich ein zentraler erkenntnistheoretischer Ausgangspunkt für das vorliegende Kapitel an, nämlich die Beobachtung, dass Historizität in der Ethnologie – im Unterschied zu dominanten Diskursen in den Geschichtswissenschaften – nicht per se zum disziplinären Kernbestand und mithin fraglos Gegebenen gehört, sondern einen kontrovers diskutierten 1
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Susan Kellogg: Histories for Anthropology: Ten Years of Historical Research and Writing by Anthropologists, 1980–1990, in Eirc H. von Monkkonen (Hg.): Engaging the Past. The Uses of History Across the Social Sciences, Durham 1994, S. 9–47, S. 9. André Gingrich und Werner Zips haben darauf hingewiesen, dass sich eine „retrospektive Sicht auf das Verhältnis von Ethnologie und Geschichte […] im deutschsprachigen Kontext etwas anders [darstellt] als im englischsprachigen Raum; davon wiederum unterscheiden sich die wissenschaftlichen Ausrichtungen in der frankophonen Literatur“ (André Gingrich/Werner Zips: Ethnohistorie und Historische Anthropologie, in: Aloys Winterling (Hg.), Historische Anthropologie, München 2006, 245–263, S. 245). Die Ausführungen in diesem Kapitel beziehen sich größtenteils auf die Diskussion in der anglo-amerikanischen Literatur. Die Bezeichnungen ‚cultural and social anthropology‘ und ‚Ethnologie‘ verwende ich dabei synonym. Lila Abu-Lughod: Writing Against Culture, in: Richard Fix (Hg.), Recapturing Anthropology, Santa Fe 1991, S. 137–162; James Clifford/George Marcus (Hg.): Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography. Berkeley 1986; James Clifford: The Predicament of Culture: Twentieth-Century Ethnography, Art and Literature. Cambridge 1988.
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Realitätsstatus hat.3 In diesen Kontroversen geht es nicht nur um die Frage nach der empirischen Bedeutung von Vergangenheitsphänomenen für das ethnologische Verständnis von Gegenwartsphänomenen – eine Frage, auf die in der Entwicklung ethnologischer Theoriebildung einerseits mit programmatischen Plädoyers für die Trennung ethnologischer und historischer Forschungsperspektiven reagiert4 und andererseits geschichtsbejahend bekundet wurde, dass „Anthropology must choose between being history and being nothing“.5 Die ethnologische Kontroverse um den Realitätsstatus von Historizität betrifft auch die Frage nach der ‚Erklärungsrichtung‘ im Verhältnis zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem: Während sich manche Ethnologen dafür aussprechen, die unterschiedlich strukturierte kulturelle Eigenlogik von Historizitäten in den gesellschaftsvergleichenden Blick zu nehmen6, wobei der schlussfolgernde Zeitpfeil aus der Vergangenheit in die Gegenwart geführt wird, gehen andere von der grundsätzlichen Modellierbarkeit und Manipulierbarkeit geschichtlicher (Re)Konstruktionen in der Gegenwart aus, wodurch der schlussfolgernde Zeitpfeil – was die Repräsentation und Erfahrung von Geschichte betrifft – gewissermaßen umgedreht und das kollektive Wissen um Vergangenheitsrealitäten aus spezifischen Gegenwartsrealitäten bestimmt wird.7 Die letztgenannte Position spiegelt eine geschichtsphilosophische Grundhaltung wider, die in den 1930er Jahren von Michael Oakeshott formuliert worden war: „A fixed and finished past, a past divorced from and uninfluenced by the present, is a past divorced from evidence (for evidence is always present) and is consequently nothing and unknowable. If the historical past be knowable, it must belong to the present world of experience: if it be unknowable, history is worse than futile, it is impossible. The fact is, then, that the past in history varies with the present, rests upon the present, is the present.“8
In besonderem Maße betrifft die Kontroverse um den Realitätsstatus von Historizität in der Ethnologie aber auch das repräsentationstheoretische Problem, in welches Verhältnis sich Wissenschaftler zur Zeitlichkeit der von ihnen untersuchten empirischen Phänomene setzten. Johannes Fabian hat schon 1983 darauf hingewiesen, dass die Wahl des Präsens als konventionalisiertes Tempus in der ethnographischen Darstellung außereuropäischer Gesellschaften nicht als Zufall oder als Ausdruck 3 4 5 6
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Siehe auch James Faubion: History in Anthropology, in: Annual Review of Anthropology 22 (1993), S. 35–54, S. 37. A.R. Radcliffe-Brown: The Study of Kinship Systems, in: Journal of the Royal Anthropological Institute of Great Britain and Ireland 17 (1941), S. 1–18; ders.: Structure and Function in Primitive Society, London 1965. Edward E. Evans-Pritchard: Anthropology and History. Manchester 1961, S. 20; ders.: Social Anthropology: Past and Present, in: Man 50 (1950), S. 118–124. Marshall Sahlins: Historical Metaphors and Mythical Realities. Structure in the Early History of the Sandwich Islands Kingdom, Ann Arbor 1981; ders.: Islands of History, Chicago 1985; ders.: Apologies to Thucydides. Understanding History as Culture and Vice Versa, Chicago 2004. Siehe auch Eric Hobsbawm/Terence Ranger: The Invention of Tradition, Cambridge 1986; Martin Chanock: Law, Custom and Social Order. The Colonial Experience in Malawi and Zambia. Cambridge 1985; Vinay Lal: The History of History. New Delhi/Oxford 2003 Michael Oakeshott: Experience and its Modes. Cambridge 1933, S. 107.
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einer genrespezifischen Ästhetisierung gewertet werden sollte, sondern einen systematischen Aspekt der soziokulturellen Konstruktion eines hierarchisierenden Verhältnisses darstellt, anhand dessen sich westliche Beobachtungssubjekte symbolisch von nicht-westlichen Beobachtungsobjekten distanzieren: Indem außereuropäische Gesellschaften in ein auf Dauer gestelltes Präsens gesetzt werden, wird einerseits die Geschichtslosigkeit dieser Gesellschaften suggeriert und andererseits den Beobachtungsobjekten die Gleichzeitigkeit (‚coevalness‘) mit den Beobachtungssubjekten verweigert.9 Eine aktuelle Debatte über das Verhältnis von Ethnologen zur Zeitlichkeit der von ihnen untersuchten Phänomene nahm ihren vielbeachteten Ausgangspunkt in der von Joel Robbins aufgeworfenen Frage, warum sich die „culture of anthropology“10 schwer damit tut, einem Spezifikum des Christentums gerecht zu werden, nämlich der emischen Behauptung eines radikalen biographischen Bruchs durch die Konversion.11 In einer Schlussfolgerung, die weit über das religionsethnologische Feld hinausgeht, argumentiert Robbins, dass es sich beim Fach Ethnologie um eine „science of continuity“ handelt12, denn „anthropologists have for the most part either argued or implied that the things they study – symbols, meanings, logics, structures, power dynamics, etc. – have an enduring quality and are not readily subject to change“.13 Diese Haltung sei jedoch in problematischer Weise inkompatibel mit einem Grundelement des christlichen Zeitverständnisses, das von der Möglichkeit und erweckungstheologischen Erwünschtheit radikalen Wandels ausgeht. Die hier kurz angerissenen Argumente von Johannes Fabian und Joel Robbins betreffen weder die Interpretation konkreter geschichtlicher Daten, sprich den historiographischen Versuch, „gesichertes Wissen über das Handeln von Menschen aus der Vergangenheit“14 zu gewinnen, noch die Frage nach der Erklärungsrichtung im Verhältnis von Gegenwärtigem und Vergangenem. Vielmehr setzen sie mit der erkenntniskritischen Beobachtung ein, dass Historizität von Ethnologen nicht einfach in der Empirie vorgefunden und dann neutral in eine korrespondierende Geschichtsrepräsentation übersetzt wird.15 Vielmehr ruhen diese Übersetzungsleistungen auf bestimmten Mustern der Beobachtung, Zuordnung und Interpretation auf, 9
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Diese als „denial of coevalness“ bezeichnete Vorgehensweise charakterisiert Fabian als die „persistent and systematic tendency to place the referent(s) of anthropology in a Time other than the present of the producer of anthropological discourse“. Johannes Fabian: Time and the Other. How Anthropology Makes its Object, New York 1983, S. 31. Siehe auch Eric Wolf: Europe and the People without History, Berkeley 1982. Joel Robbins: Continuity Thinking and the Problem of Christian Culture. Belief, Time, and the Anthropology of Christianity, in: Current Anthropology 48 (2007), S. 5–38, S. 6 Siehe auch Birgit Meyer: ,Make a Complete Break with the Past‘: Memory and Post-Colonial Modernity in Ghanaian Pentecostalist Discourse, in: Journal of Religion in Africa 28 (1998), S. 316–349. Robbins: Continuity Thinking and the Problem of Christian Culture, S. 6. Ebd., S. 9; siehe auch ders.: On the Paradoxes of Global Pentecostalism and the Perils of Continuity Thinking, in: Religion 33 (2003), S. 221–231. Jörg Baberowski: Der Sinn der Geschichte, München 2005, S. 17. Vgl. Hayden White: Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe. Baltimore 1973.
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anhand deren sich Ethnologen in ein oft implizit und unreflektiert bleibendes, wissenschaftskulturell geprägtes Verhältnis zur Historizität der untersuchten Wirklichkeitsausschnitte setzen. Diese Betrachtungsweise möchte ich im hier vorliegenden Kapitel aufgreifen und explorativ in einer methodologischen Wendung weiterführen. Im Unterschied zu Fabian, dessen Diskussion zum „denial of coevalness“16 mit einer nicht ausdifferenzierten Unterscheidung von (westlicher) Identität und (nicht-westlicher) Alterität arbeitet, und zu Robbins, dessen Entwurf einer „Anthropology of Christianity“ von der Idee transversaler kultureller Gemeinsamkeiten des pfingstlerischen Christentums geprägt ist, wird es mir im Folgenden allerdings um eine kultur- und gesellschaftsvergleichende Perspektive gehen. Dabei wird nicht nur zwischen westlichem Beobachtungssubjekt und nicht-westlichem Beobachtungsobjekt unterschieden, sondern im Vergleich von zwei Forschungsfeldern – Sambia und Südafrika – die Frage in den Vordergrund gerückt, wie der bei sozialen Akteuren in diesen Forschungsfeldern empirisch zu beobachtende Umgang mit der eigenen Geschichte in die ethnologische Analyse eingehen kann bzw. soll.17 Dieser thematische Fokus greift einerseits eine mit Johann Gustav Droysen assoziierte Idee der Geschichtswissenschaften auf, in der ‚Geschichte‘ als ein Produkt wiederholter Akte der Retrospektion verstanden wird: „Die sittliche Welt ist je in ihrer rastlos bewegten Gegenwart ein endloses Durcheinander von Geschäften, Zuständen, Interessen, Konflikten, Leidenschaften usw. Sie kann nach vielerlei Gesichtspunkten, technischen, rechtlichen, religiösen, politischen usw., betrachtet und wissenschaftlich behandelt werden. Was in ihr täglich geschieht, wird von keinem Verständigen als Geschichte getan oder gewollt. Erst eine gewisse Art, das Geschehene nochmals zu betrachten, macht aus Geschäften Geschichte.“18
Andererseits gehe ich im Anschluss an den amerikanischen Ethnologen James Faubion von der wichtigen Feststellung aus, dass sich der „Great Divide between peoples ‚without‘ and peoples with history“ in der gegenwärtigen Welt im Prinzip aufgelöst hat, denn „peoples of every continent and archipelago have come to embrace history with a passion of astonishing ferocity“.19 Es soll hier also dezidiert von der wissenschaftsgeschichtlich überkommenen Idee Abstand genommen werden, dass sich die nachfolgend dargestellten Fallbeispiele aus Sambia und Südafrika anhand der Leitdifferenz ‚geschichtlich/geschichtslos‘ vergleichen lassen.20
16 Fabian: Time and the Other, S. 31. 17 Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass es mir im vorliegenden Beitrag um grundsätzliche Fragen der Methodologie und nicht um die konkret eingesetzten Methoden der ethnologischen Erforschung geschichtlicher Prozessen geht. 18 Johann Gustav Droysen: Historik, Stuttgart 1977, S. 435 [Hervorhebung hinzugefügt]. 19 Faubion: History in Anthropology, S. 36. 20 Aus Platzgründen kann in diesem Aufsatz nicht auf die Frage eingegangen werden, ob bzw. in welcher Weise die unten beschriebenen Unterschiede in Bezug auf die eigene Geschichtlichkeit mit kulturell differenten Konzepten von 'Zeit' und 'Zeitlichkeit' zu tun haben. Siehe z.B. E. E. Evans-Pritchard: Nuer Time-Reckoning, in: Africa 12 (1939), S. 189–216; Alfred Gell: The Anthropology of Time, Oxford 1992.
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Im Unterschied zu Faubion, dessen Interesse insbesondere der zeitdiagnostischen Frage gilt, wie es zur transversalen Verallgemeinerung des Interesses an Historizität gekommen ist, geht es mir im Folgenden um die bedeutsamen Unterschiede darin, ob in bestimmten soziokulturellen Feldern überhaupt explizit auf Geschichte Bezug genommen wird – das heißt, ob sich Gesellschaften dafür entschieden haben, „to explain themselves by history“.21 Mit Michel-Rolph Troulliot betont meine Analyse demnach die Relationalität und Positionalität soziokultureller Bezugnahmen auf Geschichte: „Indeed, the past is only past because there is a present, just as I can point to something over there only because I am here. But nothing is inherently over there or here. In that sense, the past has no content. The past – or, more accurately, pastness – is a position“.22 PRÄZISIERUNG DER FRAGESTELLUNG Es kommt einer narzisstischen Kränkung gleich, wenn man sich als Vertreter einer wissenschaftlichen Disziplin eingestehen muss, dass eine axiomatische Grundlage des eigenen Faches von einem Vertreter einer anderen Disziplin gelegt worden war. Im Fach Ethnologie gilt dies für das 1928 formulierte und in den Kultur- und Sozialwissenschaften weithin bekannte Theorem der Sozialpsychologen William I. Thomas und Dorothy Thomas, dass die Konsequenzen einer sozialen Situation von den Wahrnehmungen der daran teilnehmenden Menschen abhängen: „If men define situations as real, they are real in their consequences“.23 Für viele Vertreter des Fachs Ethnologie stellt dieses Theorem die Grundlage einer sozialkonstruktivistischen und kulturrelativistischen Heuristik bereit, der zufolge nur die induktive Rekonstruktion der jeweiligen kulturellen Perspektiven auf soziale Interaktionszusammenhänge die darin verhandelten Wirklichkeiten gegenstandsangemessen verstehen lässt. Doch trotz dieser weithin axiomatischen Rolle erweist sich das Thomas-Theorem in der praktischen ethnologischen Forschung als spiritus rector einer intellektuellen Sisyphusarbeit, die das Verhältnis von Subjektivismus und Objektivismus betrifft und methodologisch in Unterscheidungen wie ‚emisch‘ versus ‚etisch‘, ‚Realtypus‘ versus ‚Idealtypus‘ und ‚empirische Begriffe‘ versus ‚analytische Begriffe‘ zum Ausdruck kommt. Im Zusammenhang meines Arguments in diesem Kapitel ist dabei vor allem zu bedenken, dass kulturrelativistisch orientierte Ethnologen die Grundidee des Thomas-Theorems generalisiert haben und es neben ‚sozialen Situationen‘ auch auf eine Vielzahl anderer soziokultureller Phänomenbereiche anwenden. In meiner Forschungsarbeit zum Christentum im subsaharischen Afrika war ich beispielsweise bemüht, der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Mitglieder pfingstlerischer Kirchen von der Existenz und lebensweltlichen Wirkmächtigkeit des Heiligen Geistes ausgehen und ihre religiösen Praktiken also nur dann einer 21 Claude Lévi-Strauss: The Savage Mind, Chicago 1966, S. 232. 22 Michel-Rolph Trouillot: Silencing the Past. Power and the Production of History, Boston 1995. 23 William I. Thomas/Dorothy Thomas: The Child in America, New York 1928, S. 572.
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angemessenen Analyse zugänglich sind, wenn diese spezifische Sicht auf die Wirklichkeit – das heißt auch: die angenommene Wirklichkeit des Heiligen Geistes (in Chitonga: muya usalala) – als ein bedeutungsvoller handlungsorientierender Aspekt für diese sozialen Akteure anerkannt wird.24 Solche Anwendungen des Thomas-Theorems können Irritation erzeugen, auch wenn es sich nicht um den Heiligen Geist handelt. Es ist eben solch eine intellektuelle Irritation, die ich ins Zentrum des vorliegenden Kapitels stellen möchte. Diese Irritation nimmt ihren forschungsbiographischen Ausgangspunkt in einer Feststellung, die ich beim Wechsel von meinem ersten zu meinem zweiten größeren Forschungsfeld machen musste: Während Geschichte und Geschichtlichkeit im gegenwärtigen südafrikanischen Kontext, wo ich in den Jahren zwischen 2003 und 2008 über Kriminalitätsprävention geforscht habe, die allergrößte Bedeutung zugemessen wird, spielte Geschichte und Geschichtlichkeit für meine Gesprächspartner im gegenwärtigen Sambia, wo ich mich im Zeitraum von 1993 bis 2001 mit religiösen Bewegungen beschäftigte, nicht nur eine nebensächliche Rolle – Historizität war für meine Gesprächspartner in der Regel irrelevant und nachgerade bedeutungslos.25 Im Unterschied zu meinen geschichtswissenschaftlichen Kollegen kann ich mir als ein Ethnologe, dessen empirische Forschungsarbeit den Schwerpunkt auf Gegenwartsphänomene legt, den Luxus leisten, die letztgenannte Haltung nicht als Provokation und grundsätzliche Infragestellung zu verstehen. Dennoch sehe ich mich durch diese geschichtsabgewandte Haltung mit einer Reihe von Fragen konfrontiert, die das Thema des vorliegenden Sammelbandes aufrufen und gewissermaßen auf den Kopf stellen. Im Folgenden geht es nämlich nicht um die ‚Wirklichkeit der Geschichte‘, sondern um die ‚Wirklichkeit von Geschichte‘. Konkret werde ich das Verhältnis von empirischen und analytischen Geschichtsbezügen problematisieren – also das Verhältnis zwischen einerseits dem, wie soziale Akteure in ethnologischen Forschungsfeldern auf ihre eigene Historizität rekurrieren, und andererseits dem, wie Ethnologen auf die Historizität eben dieser Akteure rekurrieren. Die Einblicke meiner Feldforschungen in Südafrika lassen dabei folgende Paraphrasierung des Thomas-Theorems zu: „If men treat history as real, history is real in its consequences“. Aber, so lässt sich fragen, wäre es auch möglich und sinnvoll, die Einblicke meiner Forschung in Sambia, die ich in der nächsten Sektion vorstellen werde, in einer provokant zugespitzten, gegenteiligen Behauptung zusammenzufassen: „If men treat history as if it were unreal, history is unreal in its consequences“?26 24 Thomas G. Kirsch: Pneumatologie und die Konstituierung soziospiritueller Gemeinschaften, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 65 (2013), S. 311–331. 25 Um die oben erwähnten repräsentationstheoretischen Probleme des ethnographischen Präsens zu vermeiden, werde ich in den folgenden ethnographischen Ausführungen die Vergangenheitsform verwenden. Dadurch soll allerdings nicht suggerieren werden, dass meine Beobachtungen durchgängig nur für die Vergangenheit Gültigkeit haben. 26 Für eine thematisch verwandte Diskussion zum epistemologischen Status von ‚Sprecherschaft‘ siehe Thomas G. Kirsch: From the Spirit’s Point of View. Ethnography, Total Truth and Speakership, in: Karsten Kumoll/Olaf Zenker (Hg.), Beyond Writing Culture. Current Intersections of Epistemologies and Practices of Representation, Oxford 2010, S. 89–112.
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Der nachfolgende Vergleich des Geschichtsbezugs in beiden Forschungsfeldern dient zum einen dazu, unterschiedliche Selbstpositionierungen in Bezug auf ‚pastness‘ herauszuarbeiten. Zum anderen sollen mit Blick auf das Verhältnis von empirischem und analytischem Geschichtsbezug, der unter anderem von postkolonialen Debatten zur hierarchisierten Relationalität von Geschichtsschreibung inspiriert ist27, drei wissenschaftliche Haltungen unterschieden werden, die dieses Verhältnis in jeweils differenter Weise ausgestalten: Affirmation, Subversion und Falsifikation. VERLORENE ZEIT Mein Nachdenken über die provokant zugespitzte Frage „If men treat history as if it were unreal, is history unreal in its consequences?“ setzte während meines ersten Forschungsaufenthaltes im sambischen Gwembe-Tal im Jahr 1993 ein. Das im Südwesten Sambias gelegene Gwembe-Tal ist geologisch durch einen Steilabbruch von den nördlichen Landesteilen abgesondert und grenzt im Süden an Simbabwe. Der Sambesi, der seinen Lauf über eine Länge von mehr als zweihundert Kilometern durch das Tal nimmt, markiert die Grenze zwischen diesen beiden, ehemals unter britischer Kolonialherrschaft stehenden Territorien. Mit der Aufstauung des Sambesis und der Konstruktion eines Stausees in den 1950er Jahren wurde das Gwembe-Tal jedoch weitflächig überflutet, was eine Zwangsumsiedlung von 57.000 Menschen und eine Vielzahl soziokultureller Veränderungen mit sich brachte. Durch neue Verkehrsinfrastruktur, die Gründung von Fischereibetrieben und die aufwändige Erschließung eines Kohletagebaus wurde die vormalige Abgeschiedenheit des Gwembe-Tals durch allmähliche Modernisierungs- und Urbanisierungsprozesse und einen verstärkten marktwirtschaftlichen Anschluss der dort lebenden Bevölkerung, die in der ethnographischen Literatur als Gwembe-Tonga bezeichnet wird, abgelöst.28 Im forschungsbiographischen Rückblick würde ich sagen, dass die anfängliche Konzeption meines ersten Forschungsaufenthaltes im Gwembe-Tal unter dem Eindruck meiner Studienzeit an der Freien Universität Berlin in den Jahren kurz nach dem Fall der Mauer stand. Während dieser Jahre war massenmedial und wissenschaftlich regelmäßig die Rede davon, wie soziale Beziehungen über die trennende Mauer hinweg aufrechterhalten worden waren – und sei es nur durch eine ausgeprägte Erinnerungskultur. Diese geschichtliche Konstellation implizit mitführend, bezog sich die Fragestellung, mit der ich mich im Frühjahr 1993 erstmals in die Südprovinz Sambias aufmachte, auch auf die sozialen Folgen der Aufstauung des
27 Z.B. Dipesh Chakrabarty: Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton 2000. 28 Elizabeth Colson: The Social Organization of the Gwembe Tonga, Manchester 1960; dies.: The Social Consequences of Resettlement, Manchester 1971; Thayer Scudder: The Ecology of the Gwembe Tonga, Manchester 1962.
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Karibasees, durch den die sambischen Gwembe-Tonga von ihren Familienangehörigen in Simbabwe getrennt worden waren.29 Doch schon nach den ersten Forschungstagen war klar, dass es sich bei den meisten meiner Gesprächspartner im Gwembe-Tal nicht lohnen würde, ein Gespräch über dieses Thema zu suchen: Sie waren im Wesentlichen desinteressiert sowohl an der Geschichte des Karibasees als auch daran, wie es den Menschen an dessen südlichem Ufer seit den Zwangsumsiedlungen ergangen war. Letztlich hatte fast niemand die Beziehung zu Verwandten in Simbabwe aufrecht erhalten (können), und auch von den in der Historizität Deutschlands so gepflegten erinnerungskulturellen Praktiken war nichts vergleichbares zu entdecken. Einem solchen Desinteresse an geschichtlichen Fragen begegnete ich während meiner Forschungsaufenthalte im Gwembe-Tal immer wieder und in Bezug auf die verschiedensten Themen. Es ist in Grundzügen zwar vergleichsweise gut dokumentiert, wann das Gwembe-Tal erstmals besiedelt worden war, wie die GwembeTonga in vorkolonialer Zeit unter den kriegerischen Überfällen benachbarter Bevölkerungsgruppen zu leiden hatten, zu welchen Interaktionen es zwischen den dortigen indigenen Führungspersonen und dem Pionierreisenden David Livingstone kam, und wie das Gwembe-Tal vor dem Bau der Eisenbahnlinie zu einer beliebten Durchgangsroute für die koloniale Arbeitsmigration nach Südafrika wurde. Es ist wissenschaftlich also vergleichsweise gut belegt, dass die Lebenswelten der im Gwembe-Tal lebenden Bevölkerung, in der auch immer wieder zuwandernde Personen der unterschiedlichsten Herkunft integriert wurden, von Geschichtlichkeit geprägt sind. So bringt auch das Vorwort der einzigen größeren geschichtswissenschaftlichen Untersuchung zum Gwembe-Tal, die von Timothy Matthews im Jahre 1976 als Promotionsschrift an der SOAS in London eingereicht wurde, die Hoffnung zum Ausdruck, dem Bild der Gwembe-Tonga als einem ‚Volk ohne Geschichte‘ entgegenzuwirken: Hopefully [the study] will demonstrate that, despite the absence of political centralisation, Gwembe society was far from being the inert, unchanging, and especially ,primitive‘ society of its popular stereotype and has had, on the contrary, a rich, diverse, and varied history which, above all, reveals the Gwembe people’s adaptability in the face of change and their own initiative in shaping the pattern of their lives through time in a difficult environment.30
Dennoch war die sich aus dieser Geschichtlichkeit sedimentierende Geschichte für die meisten meiner Gesprächspartner im gegenwärtigen Gwembe-Tal eher bedeutungslos. Ihre Initiativen, ihr Leben auszugestalten, kamen in der Regel ohne explizierten Rekurs auf die entsprechenden Initiativen vorhergehender Generationen aus. Diese Beobachtung wird auch durch Aussagen der Ethnologin Elizabeth Colson gestützt, die über einen Zeitraum von mehr als fünfzig Jahren ethnographische Studien im südlichen Sambia betrieben hat und die in Bezug auf die Gwembe29 Matthias Schoormann: Sozialer und religiöser Wandel in Afrika. Die Tonga in Zimbabwe, Münster 2004; A.K.H. Weinrich: The Tonga People on the Southern Shore of Lake Kariba, Gwelo 1977. 30 Timothy Matthews: The Historical Tradition of the Peoples of the Gwembe Valley, Middle River, London 1976, S. 8–9.
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Tonga anmerkt, dass „people show little interest in repeating any details about their forebears. No attempt is made to synchronize the histories of adjacent neighbourhoods when they deal with events beyond the immediate past which lies within the memory of the older people“.31 Im Alltag drückte sich dieses Desinteresse an Geschichtlichkeit beispielsweise darin aus, dass im Gwembe-Tal – im Unterschied zu vielen anderen Regionen des subsaharischen Afrikas32 – normalerweise keine zeitlich weit ausholende Herleitung der eigenen verwandtschaftlichen Identität vorgenommen wird, obwohl es sich bei den Gwembe-Tonga um eine vormals akephale und in Matrilineages und Klans organisierte Gesellschaft handelt. Der Geist eines Verstorbenen (in der vernakulären Sprache Chitonga als muzimu bezeichnet) wird nach der Beerdigung des Toten an einen Nachkommen ‚angebunden‘ (kwanga muzimu) und verbleibt in dessen räumlicher Nähe, ohne körperlich in ihn einzudringen. Die mizimu (Plural von muzimu) sind durch eine hohe moralische Gesinnung gekennzeichnet und für das Wohlergehen ihrer Matrilineage verantwortlich. Dennoch beschränkt sich die Vererbung der mizimu auf eine relativ kurze genealogische Folge. Schon nach wenigen Generationen geraten die meisten Ahnengeister in Vergessenheit und werden nicht mehr weitergegeben.33 Es kann daher passieren, dass sie sich fortan gegen die Menschen richten, um im Zuge einer Geistbesessenheit von ihnen Besitz zu ergreifen und sie schließlich zu töten. Diese in Vergessenheit geratenen Geister der Toten werden zyeelo genannt. Sie sind dadurch charakterisiert, dass sie weder ein Anliegen noch eine Botschaft vorzubringen haben. Da sie überdies von Hexern instrumentalisiert werden können und sie folglich Repräsentanten einer „pervertierten menschlichen Ordnung“ sind, müssen diese Geister exorziert werden.34 In Form einer metaphorischen Deutung des für die Nachfahren der Toten problematischen Übergangs von mizimu zu zyeelo lässt sich sagen, dass sich durch die Aktivitäten der zyeelo vergessene Geschichte in der Gegenwart bemerkbar macht, dass diese Geschichte von den Gwembe-Tonga jedoch nicht in die eigene Lebenswelt integriert, sondern ausgetrieben und somit von den betroffenen Menschen fern gehalten wird. Aber auch andere Geistwesen im Pantheon der Gwembe-Tonga können als Vergegenwärtigungen vergangener Ereignisse gedeutet werden. Als masabe werden die Geister der ‚Wildnis‘ und der Fremde bezeichnet. Sie sind die Geister benachbarter Völker und der Europäer, aber auch theriomorphe Geister (z.B. Löwen) 31 Colson: The Social Organisation of the Gwembe Tonga, S. 27. 32 Z.B. Igor Kopytoff: Ancestors as Elders in Africa, in: Africa 41 (1971), S. 129–142; Meyer Fortes: Some Reflections on Ancestor Worship in Africa, in: ders./G. Dieterlen (Hg.), African Systems of Thought, London 1965, S. 122–142. 33 Diese Dynamik ist typisch für Prozesse mündlicher Geschichtserinnerung, wie sie beispielsweise von dem belgischen Ethnologen Jan Vansina in seinem Buch „Oral Tradition as History“ (Madison 1985) beschrieben worden ist. 34 Ute Luig: Gesellschaftliche Entwicklung und ihre individuelle Verarbeitung in den affliktiven Besessenheitskulten der Tonga, in: Tribus 42 (1993), S. 100–120, S. 112; siehe auch Elizabeth Colson: Spirit Possession Among the Tonga of Zambia, in: John Beattie/John Middleton (Hg.), Spirit Mediumship and Society, London 1969, S. 69–103, S. 72.
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und Geistwesen, die bestimmte kulturelle und technische Innovationen repräsentieren (z.B. europäischer Tanz und Planierraupen). Wie den zyeelo, wird ihnen jegliche moralische Verantwortung abgesprochen. Bei den masabe-Geistern wird jedoch versucht, „eine langfristige Integration der Geister in den Lebenszusammenhang der von ihnen Auserwählten“ zu erreichen.35 Die Ethnologin Ute Luig hat darauf hingewiesen, dass in Besessenheitskulten in Afrika historische Transformationsprozesse zum Ausdruck kommen, so dass beispielsweise in den symbolischen Charakterisierungen der masabe-Geister und den mit ihnen assoziierten Liedern und Liedertexten das historische Bewusstsein der (größtenteils weiblichen) Kultmitglieder eingelagert ist. In diesem Sinne versteht Luig die Besessenheit durch masabe-Geister als „interpretierte Geschichte, die aus der spezifischen Sicht von Frauen getanzt und besungen wird“.36 Zugleich muss an dieser Stelle betont werden, dass diese „interpretierte Geschichte“ eine implizite Geschichte darstellt – sprich eine Geschichtlichkeit, die nicht als zeitlich rückbezügliche und explizierte Historizität, sondern als präsentistische Besessenheit durch einen geschichtlichen Fremdgeist zum Tragen kommt. Ferner ist festzustellen, dass die meisten masabe-Geister im Laufe weniger Generationen vergessen wurden, so dass sich heute keine religiöse Praxis auf sie bezieht; von manchen masabe ist heutzutage nur noch der Name bekannt, und wiederum andere werden gegenwärtig zum ersten Mal in einem Medium aktiv. Ähnlich den Ahnengeistern befindet sich das Pantheon der masabe-Geister somit in andauernder geschichtlicher Bewegung. Die methodologische und theoretische Perspektive meiner Feldforschung in Sambia, die sich – wie sich eben andeutete – schließlich auf religionsethnologische Fragestellungen fokussierte37, war zum einen von wichtigen Einsichten historisch arbeitender Ethnologen, wie Eric R. Wolf, inspiriert: What attention to history allows you to do is to look at processes unfolding, intertwining, spreading out, and dissipating over time. This means rethinking the units of our inquiries […] seeing them not as fixed entities, but as problematic: shaped, reshaped, and changing over time. Attention to processes unfolding over time foregrounds organization – the structuring arrangements of social life – but requires us to see these in process and change.38
Zum anderen war ich um Gegenstandsangemessenheit bemüht, so dass nicht die Begriffswelten der Analyse zeitlich weit ausgreifender Ereignisgeschichten oder historischer longues durées zu den konzeptionellen Kernbegriffen meiner Untersuchung wurden, sondern kurzzeitlich aufgestellte Begrifflichkeiten wie ‚Praxis‘,
35 Ute Luig: Besessenheit als historische Charta, in Paideuma 39 (1993), S. 343–355, S. 344; siehe auch Colson: Spirit Possession Among the Tonga of Zambia, S. 72. 36 Luig: Besessenheit als historische Charta, S. 353. 37 Z.B. Thomas G. Kirsch: Lieder der Macht. Religiöse Autorität und Performance in einer afrikanisch-christlichen Kirche Zambias, Münster 1998; ders.: Spirits and Letters. Reading, Writing and Charisma in African Christianity, Oxford 2008. 38 Eric Wolf: Facing Power. Old Insights, New Questions, in: American Anthropologist 92 (1990), S. 586–596, S. 590.
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‚Prozesshaftigkeit‘, ‚Situativität‘, ‚Emergenz‘, ‚Performativität‘ und ‚Aushandlung‘.39 Im Prozess meiner Forschung erachtete ich diese Perspektivierung unter anderem deshalb als gegenstandsangemessen, da meine Versuche, die Herkunft und geschichtliche Entwicklung der untersuchten Kirchen zu ergründen, bei den afrikanisch-christlichen Akteuren im Gwembe-Tal auf beharrliches Desinteresse stießen, und da die weiter zurückliegende Vergangenheit auch in den innerkirchlichen Interaktionen nur selten thematisiert wurde. Meine vorwiegend an Synchronizität orientierte Methodologie und Theoretisierung wurde folglich in Entsprechung zur relativen Indifferenz meiner Gesprächspartner im südlichen Sambia hinsichtlich Fragen der Diachronizität gewählt. Die Entscheidung für eine Orientierung an Synchronizität hat aber auch mit der Feststellung zu tun, dass der geschichtliche Gehalt der schriftlichen Dokumente der Kirchenverwaltung, zu denen ich Zugang erhielt, nicht abschließend beurteilt werden kann. Meine Hoffnung, anhand historischer Zeugnisse etwas über die längerfristigen Entwicklungen dieser Kirchen herauszufinden, erfüllte sich also nicht, was im Wesentlichen darauf zurückzuführen ist, dass ich nicht nur die schriftlichen Quellen vorliegen hatte, sondern auch teilnehmend beobachten konnte, wie die schriftliche Administration pfingstlerisch-charismatischer Kirchen praktisch funktioniert.40 Wenn ich am Gottesdienst einer pfingstlerisch-charismatischen Kirche teilnahm, so waren in der Regel nämlich zwei Personen anwesend, die sich mit Hilfe von Kugelschreibern und Kladden bemühten, ihre Beobachtungen zu Papier zu bringen: der Kirchensekretär und ich. Oft saßen wir nebeneinander, so dass ich nicht nur das anderweitige Geschehen im Gottesdienst, sondern auch die Tätigkeit meines kirchlichen Schreibkollegen im Blick hatte. Dabei wurde ich gewahr, dass sich nicht nur die Ergebnisse unserer Protokollierungen grundsätzlich voneinander unterschieden, sondern auch die Art und Weise, wie wir zu diesen kamen. In einem Fall, den ich hier etwas ausführlicher schildern möchte, geriet das Gottesdienstprotokoll eines Kirchensekretärs zum Anlass für eine meines Erachtens weitreichende Kritik an Weberianischen Ansätzen in der Religionsethnologie. Es begann, wie so häufig in einer ethnographischen Feldforschung, mit einer scheinbaren Nebensächlichkeit. Der sonntägliche Gottesdienst der Spirit Apostolic Church war in vollem Gange, als sich ein paar Kirchbesucher spontan von den Bänken erhoben und sich daran machten, vor dem Altar zu tanzen. Ihren energetischen Tanzbewegungen zufolge handelte sich dabei um ein Genre des Tanzes, den ich als gondingo kennengelernt hatte und bei dem die Tänzer in besonderem Maße als vom Heiligen Geist inspiriert gelten. Und so erstaunte es mich nicht, dass der neben mir sitzende Kirchensekretär in seiner Kladde die Uhrzeit und das Wort ‚gondingo‘ vermerkte. Doch schon kurze Zeit später verebbte der Tanz und die Kirchbesucher
39 Vgl. Jean Comaroff/John L. Comaroff: The Long and the Short of It, in: dies. (Hg.), Ethnography and the Historical Imagination, Oxford 1992, 95–125. 40 Kirsch: Lieder der Macht, S. 183–242.
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kehrten auf ihre Plätze zurück. Überrascht beobachtete ich, dass der Kirchensekretär in einer beiläufigen Geste das Wort ‚gondingo‘ durchstrich, um gleich darauf mit seiner normalen Arbeitsroutine fortzufahren. Als ich den Kirchensekretär später fragte, warum er ‚gondingo‘ durchgestrichen hatte, erklärte er mir, dass nur ein spirituell befähigter Kirchensekretär in der Lage ist, einen richtigen gondingo von einem Tanz zu unterscheiden, dem die dafür nötige Inspiration fehlt. Im Fall des heutigen Gottesdienstes hätte es zwar zunächst wie ein gondingo ausgesehen, doch habe sich der Heilige Geist nicht hinreichend in den Tanzenden manifestiert, was er – der Kirchensekretär – beurteilen könne, da er selbst in einem intensiven Kontakt mit dem Heiligen Geist stehe. Letztlich sei es doch unzweifelhaft, dass auch das Amt des Kirchensekretärs nur durch göttliche Hilfe adäquat ausgefüllt werden könne – eine Bemerkung, die ich später zum Anlass nahm, die strikte Weberianische Trennung von ‚Charisma‘ und ‚Bürokratie‘ zu problematisieren.41 Hinsichtlich der übergeordneten Fragestellung dieses Kapitels lässt sich also festhalten, dass Geschichte und Geschichtlichkeit für die Mitglieder pfingstlerischcharismatischer Kirchen im Gwembe-Tal nicht nur in ihren innerkirchlichen Interaktionen und im Gespräch mit mir von auffallend geringer Relevanz war. Angesichts der Ergebnisse meiner ethnographischen Forschung zu Verwaltungspraktiken in pfingstlerisch-charismatischen Kirchen stellt auch die historisierende Interpretation der schriftlichen Dokumentation in diesen Kirchen ein schwieriges Unterfangen dar. Vor dem Hintergrund der eben erläuterten Idee einer göttlich inspirierten Kirchenverwaltung waren die Kirchensekretäre nämlich bemüht, ihre eigene weltliche Person und Autorenschaft sowie den konkreten historischen Kontext des Entstehens der von ihnen verfassten kirchlichen Dokumente, zum Beispiel Gottesdienstprotokolle, so weit wie möglich aus der Repräsentation herauszuhalten. Als Produkte eines inspirierten Schreibens sollten sie sich vielmehr durch eine gewisse göttliche Zeitlosigkeit auszeichnen. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass es zwar möglich war, mit den im Gwembe-Tal lebenden Menschen aufschlussreiche Gespräche über die geschichtlichen Entwicklungen in dieser Gegend zu führen. Im praktischen Alltagsvollzug wurde ‚pastness‘ im Sinne von Michel-Rolph Troulliot allerdings nur selten zum expliziten Referenzpunkt identitärer Positionen gemacht oder für zeitlich argumentierende Herleitungen des Gegenwärtigen verwendet.42 GEFUNDENE ZEIT Einige Jahre später brachte mich die Ausrichtung auf Begriffe wie ‚Praxis‘, ‚Performativität‘ und ‚Emergenz‘, die durch Kurzzeitlichkeit charakterisiert sind, in eine eher verzwickte Lage, denn beim Wechsel in mein neues Forschungsfeld im
41 Kirsch: Spirits and Letters. 42 Trouillot: Silencing the Past.
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urbanen Südafrika stellte ich fest, dass man sich hier in ein ausdrücklich geschichtszugewandtes Verhältnis zur eigenen Geschichte und Geschichtlichkeit setzt. Problematisch erschien nun die Frage, ob mit diesem Wechsel eine gegenstandsrelative Umorientierung meines theoretischen Ansatzes einher gehen sollte – das heißt, ob aus der empirischen Betonung von Diachronizität in meinem neuen Forschungsfeld eine analytische Perspektivierung folgen sollte, in der Geschichte eine prominentere Rolle spielt als bei meinen Untersuchungen in Sambia. In der Beschäftigung mit dieser Frage steht man zunächst vor der Herausforderung, die Verschränkung von zwei gegenläufigen Erklärungsrichtungen im Verhältnis von Vergangenem und Gegenwärtigem beschreibbar zu machen. Fährt man beispielsweise auf der Autobahn vom Flughafen in die Innenstadt Kapstadts, so passiert man das township Khayelitsha43, in dem etwa eineinhalb Millionen Menschen – davon mehr als neunzig Prozent ‚Schwarze‘ – unter ärmlichsten Bedingungen leben, für die sie sich zweifelsohne nicht freiwillig entschieden haben. Viele Bewohner Khayelitshas waren im Rahmen von Zwangsumsiedlungen während der Apartheidzeit in townships deportiert worden, so dass ihr gegenwärtiges Leben zumindest zum Teil als eine Folge bestimmter geschichtlicher Entwicklungen zu interpretieren ist. Doch schließt sich der Reisende einer der township-Touren an, die von lokalen Fremdenführern für Touristen angeboten werden, wird er feststellen, dass die Repräsentationen der Geschichte Khayelitshas nicht von identitätspolitischen Motiven zu trennen sind, bei denen nicht nur die Chronologie historischer Geschehnisse, sondern vor allem die geschichtsinterpretierende und identitätspolitische Frage von Bedeutung ist, ob die Bewohner Khayelitshas als ‚passive Opfer‘ des Apartheidsystems verstanden werden sollten oder ob sie Handlungsmacht und -freiheiten hatten.44 In diesen beiden Sichtweisen spiegelt sich eine Spannung wider, die allgemein für die kultur- und sozialwissenschaftliche Interpretation von Historizität kennzeichnend ist: In welchem Verhältnis stehen strukturgebende Momente der geschichtlichen Entwicklung zu den Möglichkeiten zeitlich nachfolgender Akteure, diese Momente zu reinterpretieren, um neue Spielräume auszugestalten? Im Falle des gegenwärtigen Südafrikas haben die strukturgebenden Momente mit den Folgen des Apartheidsystems zu tun, dessen Ideologie ja darauf fußte, den als ‚rassisch‘ ungleich klassifizierten Bevölkerungsgruppen unterschiedliche Entwicklungspfade und verschiedene Zeitlichkeiten zuzuordnen.45 Die realpolitische Umsetzung dieses „denial of coevalness“46 führte dabei zu einer hierarchisierten 43 Siehe auch Gillian P. Cook: Khayelitsha. New Settlement Forms in the Cape Peninsula, in: David M. Smith (Hg.), The Apartheid City and Beyond, London 1992, S. 125–135. 44 Z.B. Charmaine McEachern: From Surveillance to the Tourist Gaze? Township Tours in the New South Africa, in: P. Ahluwalia und Paul Nursey-Bra (Hg.), Post-colonialism. Culture and Identity in Africa, Commack 1997, S. 135–151; Leslie Witz, Ciraj Rassool und Gary Minkley: Repackaging the Past for South African Tourism, in: Daedalus 130 (2001), S. 277–296; Shelley Ruth Butler: Should I Stay or Should I Go? Negotiating Township Tours in Post-Apartheid South Africa, in: Journal of Tourism and Cultural Change 8 (2010), S. 15–29. 45 Siehe zum Beispiel Saul Dubow: Racial Segregation and the Origins of Apartheid in South Africa, 1919–36, Basingstoke 1989. 46 Fabian: Time and the Other, S. 31.
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Regularisierung von Lebensverläufen und -chancen, die wiederum durch eine Sozialraumpolitik erwirkt wurde, bei der die ‚schwarze‘ Mehrheitsbevölkerung durch Zwangsmaßnahmen von der herrschenden ‚weißen‘ Bevölkerung separiert gehalten wurde.47 Für viele Jahrzehnte zeigten sich die prekären Folgen dieser Verknüpfung von ‚Rasse‘ und ‚Sozialraum‘ zum Beispiel darin, dass der Großteil der ‚schwarzen‘ Bevölkerung keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu Basisdienstleistungen im Bereich des Gesundheitswesens, der Müllentsorgung und der Versorgung mit Wasser und Elektrizität hatte. Elektrizität war in Südafrika gegen Ende des 19. Jahrhunderts eingeführt worden und wurde bis Mitte des 20. Jahrhunderts vornehmlich in den Minen und der Industrie, im Transportwesen und für die Versorgung der Privathaushalte der ‚weißen‘ Stadtbevölkerung eingesetzt.48 Wie sich in dieser selektiven Zugänglichkeit zeigt, folgte die Stromversorgung in Südafrika während der Apartheidszeit also keiner Logik soziopolitischer Gleichberechtigung, sondern politstrategischem Kalkül. Der Frage, welche Bevölkerungsgruppen mit Strom versorgt wurden und welche nicht, kam dabei eine maßgebliche Funktion in der Steuerung der wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten der entsprechenden Gruppen zu. Aufgrund der systematischen Ausgrenzung der ‚schwarzen‘ Bevölkerung während der Apartheidszeit verwundert es nicht, dass vielen Bewohnern der sogenannten homelands und townships der Anschluss an das Stromnetz bis Ende des 20. Jahrhunderts verwehrt blieb. Die Anstrengungen des südafrikanischen Staates nach dem Ende der Apartheid, die zuvor marginalisierten Sozialräume durch gezielte Infrastrukturmaßnahmen in Bereich der Grundversorgung zu fördern, sind als Versuch zu verstehen, die materiellen Folgen des ‚denial of coevalness‘ während der Apartheidszeit aufzuheben. Dabei bleiben sowohl die spezifischen empirischen Ausprägungen dieser nachholenden Modernisierung als auch die Reaktionen der Bevölkerung auf die Infrastrukturmaßnahmen unverständlich, wenn die strukturgebenden Momente des Vergangenen auf das Gegenwärtige nicht berücksichtigt werden.49 Doch das Südafrika der Gegenwart ist auch von einer hyperinflationären Identitätspolitik gekennzeichnet, bei der jegliches Klassifikationsschema der Selbstund Fremdidentifikation wie ‚Rasse‘, ‚Klasse‘, ‚ethnische Zugehörigkeit‘, ‚Gender‘ und ‚sexuelle Orientierung‘ genutzt wird, um politisch wirkmächtige soziale Gruppierungen zu konstruieren bzw. zu dekonstruieren. In dieser Identitätspolitik dient die gegenwartsbasierte (Re)Interpretation von Vergangenheit als Ausgangspunkt für die Zuweisung historischer Verantwortlichkeiten und die Formulierung der unterschiedlichsten politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Ansprüche. Den Identitätsmarkierungen wird dabei oft eine historische Tiefe verliehen, um ihnen 47 Pierre L. van der Berghe: Racial Segregation in South Africa: Degrees and Kinds, in: I. Robertson und Ph. Whitten (Hg.), Race and Politics in South Africa, New Brunswick 1978, S. 1–11; Alan Baldwin: Mass Removals and Separate Development, in: Journal of Southern African Studies 1 (1975), S. 215–227. 48 Renfrew Christie: Electricity, Industry and Class in South Africa, London 1984. 49 Siehe auch Thomas G. Kirsch: Illegal Connections‘. Conflicts over Electricity in Soweto, South Africa, in: Soziale Welt, Sonderband 16 (2005), S. 193–208.
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Gewicht und die Aura der Nachhaltigkeit zu geben, und insbesondere ihre Nichtverhandelbarkeit zu signalisieren. Die Frage nach dem Verhältnis strukturgebender Momente des Vergangenen zu den Möglichkeiten in der Gegenwart, diese Momente zu reinterpretieren, stellt sich aber nicht nur für Kultur- und Sozialwissenschaftler. Auch den sozialen Akteuren, die in der südafrikanischen Arena der hyperinflationären Identitätspolitik involviert sind, bleibt letztlich nichts anderes übrig, als darüber zu debattieren, was die Gegenwart mit dem Vergangenen zu tun hat und – vor allem – wie politisch verbindlich bestimmt werden kann, um was es sich bei Vergangenem überhaupt handelt. Ein faszinierendes Beispiel für diesen Prozess legt der südafrikanische Ethnologe Steven Robins in seiner Untersuchung der paradoxen Effekte von Landrestitutionsverfahren nach dem Ende der Apartheid vor.50 Mitte der 1990er Jahre engagierten sich internationale Nichtregierungsorganisationen, den am Rande der Kalahari lebenden ≠ khomani San denjenigen Landbesitz zurückzugeben, der ihnen während der Apartheidszeit enteignet worden war. Ein Problem, mit dem sich die Nichtregierungsorganisationen dabei konfrontiert sahen, war jedoch die historisch gut dokumentierte Tatsache, dass die ≠ khomani San schon seit vielen Jahrzehnten keine ethnisch klar definierte und vereint in einem bestimmten Territorium lebende soziokulturelle Gruppierung darstellen. In den 1990er Jahren gab es nur noch vereinzelte Individuen, die die vernakuläre Sprache beherrschten und deren Lebensweise ungefähr dem entsprach, was Historiker als die ‚traditionelle Lebensweise‘ der ≠ khomani San identifiziert hatten. So kam es zu einer paradoxe Konstellation: Das Landrestitutionsverfahren sah vor, das Land an die ≠ khomani San zurückzugeben, weil man davon ausging, dass diese Bevölkerungsgruppe einen seit Jahrtausenden unveränderten Lebensstil pflegt, der mit speziellen Nutzungsformen des von ihnen besiedelten Landes zusammenhängt. Zugleich sollte die Landrestitution der nachholenden Modernisierung dieser Bevölkerungsgruppe dienen. Und schließlich zeigte sich, dass die Personen, die aufgrund ihrer Lebensweise am ehesten dem entsprachen, was man sich gemeinhin unter den ‚traditionellen ≠ khomani San‘ vorstellte, aufgrund ihrer relativen Bildungsferne nicht in der Lage waren, ihre rechtlichen Ansprüche in einer Form zu artikulieren, die von Rechtsanwälten, Politikern und Mitarbeitern der Nichtregierungsorganisation für akzeptabel befunden worden wäre. Letztlich profitierten von dem Landrestitutionsverfahren in dieser Gegend also nur Personen, denen es gelang, in einer ‚modernen‘ Rhetorik plausible Ansprüche auf eine ‚traditionelle Identität‘ zu erheben. Aber auch in meinen eigenen Feldforschungen zum Thema der Kriminalitätsprävention in Südafrika wurde deutlich, dass Geschichte und Geschichtlichkeit eine zentrale Rolle in den lebensweltlichen Sinngebungsprozessen meiner Gesprächspartner spielte. Meine ethnographische Studie geht zum einen von der Beobachtung aus, dass die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen mit Phänomenen der Gewalt und Kriminalität im gegenwärtigen Südafrika sozialnormative Diskurse sowie 50 Steven Robins: NGOs, ,Bushmen‘ and Double Vision: The '# khomani San Land Claim and the Cultural Politics of ,Community‘ and ,Development‘ in the Kalahari, in: Journal of Southern African Studies 27 (2001), S. 833–853.
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Praktiken der sozialen Exklusion hervorbringen, in denen unterschiedliche, miteinander konkurrierende Ideen von sozialer Ordnung zum Ausdruck kommen. Zum anderen gehen diese Auseinandersetzungen mit vielfältigen kriminalitätspräventiven Maßnahmen einher, anhand deren von Seiten unterschiedlicher staatlicher und nicht-staatlicher Akteure versucht wird, Kriminalität zu antizipieren, um zielgerichtet Gegenstrategien zu entwickeln. Auf konzeptioneller Ebene wird ‚Kriminalitätsprävention‘ in meiner Forschung also als eine proaktive Form des sozialen Handelns verstanden, welches von der Potentialität krimineller Aktivitäten ausgeht und diese Potentialität zugleich in den soziokulturellen und materiellen Raum Südafrikas einschreibt. Wie in der Verwendung der Begriffe ‚antizipieren‘, ‚proaktiv‘ und ‚Potentialität‘ zum Ausdruck kommt, gilt das Interesse meiner Untersuchungen in Südafrika insbesondere den mannigfaltigen Erscheinungsformen eines auf die Zukunft ausgerichteten Handelns, das sich in der Gegenwart manifestiert. Zugleich verstehe ich meine südafrikanischen Gesprächspartner als ‚Laienkriminologen‘, deren Antizipationshandeln auf unterschiedlichen Kausalitätsbegründungen aufruht – das heißt, auf bestimmten Spezifizierungen der Ursachen für kriminelle Handlungen und der daraus jeweils systematisch abgeleiteten Notwendigkeit bestimmter (ursachenangemessener) kriminalitätspräventiver Maßnahmen. Diese konzeptionelle Perspektive erlaubt, diejenigen soziokulturellen Register herauszuarbeiten, die in solchen Kausalitätsbegründungen mit Regelmäßigkeit aufgegriffen werden. Auffällig ist dabei, dass die Ätiologie kriminellen Handelns in nur wenigen dieser Register – nämlich denjenigen, die auf opportunistische oder affektgetriebene Kriminalität abheben – einer rein synchronen Logik folgt. In den meisten anderen laienkriminologischen Kausalitätsbegründungen spielt Diachronizität eine zentrale Rolle, wenn beispielsweise auf historisch begründete Armutsverhältnisse oder die Existenz einer ‚Kultur der Gewalt‘ verwiesen wird. AFFIRMATION, SUBVERSION, FALSIFIKATION Die Frage, die sich mir im Vergleich der beiden Forschungsfelder mit einiger Dringlichkeit stellt, ist, wie methodologisch mit dem empirisch zu beobachtenden Unterschied der jeweiligen Zugänge zu Geschichte und Geschichtlichkeit umgegangen werden kann. Die Prägnanz dieses Unterschieds lässt sich an einem konkreten Punkt veranschaulichen: In beiden Forschungsfeldern hatten viele meiner Gesprächspartner die Erfahrung von Zwangsumsiedlung gemacht – im Zuge der Konstruktion des Kariba-Stausees in Sambia und im Rahmen der Segregationsmaßnahmen im Apartheidsystem in Südafrika. Im praktischen Alltagsvollzug wurde die Zwangsumsiedlung allerdings nur in Südafrika regelmäßig thematisiert, um argumentativ die Existenz oder die konkrete Ausprägung bestimmter gegenwärtiger Wirklichkeitsausschnitte zu begründen. Doch hätte ich bei meinen Gesprächspartnern in Sambia nicht explizit nachgefragt, wären mir ihre diesbezüglichen Geschichtsnarrative vermutlich verborgen geblieben.
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Es wäre zweifelsohne eine interessante Aufgabe, eine empirische Deutung für diese unterschiedliche Geschichtsbezüglichkeit zu entwickeln. Hier kann nur kurz auf eine solche Deutung hingewiesen werden. Wie oben erwähnt, stellen Geschichtsbehauptungen im Kontext der hyperinflationären Identitätspolitik des gegenwärtigen Südafrikas ein vermeintlich nicht verhandelbares, ursprüngliches Identitätsfundament und somit eine identitätspolitisch nutzbare Ressource bereit. Der kompetitive Charakter dieser Identitätspolitik führt dabei zu einer Pluralisierung und Ausdifferenzierung identitärer Geschichtskonstruktionen. Im Unterschied dazu herrschte im empirischen Kontext meiner Forschungen in Sambia eine sozialtheoretisch interessant interpretierbare Prämisse vor, die für meine Gesprächspartner aus verschiedenen religiösen Gemeinschaften handlungsleitend war und – so möchte ich behaupten – einen Einfluss darauf hatte, wie mit der eigenen Geschichte umgegangen wurde. Diese Prämisse lautete: ‚Konsens ist gottgefällig‘.51 Abstrakt gesprochen führt Konsensstreben in diesem religiösen Feld zu einer Konfiguration, in der Konsensus mikrostrukturell pluralisiert wird und dadurch in makrostruktureller Hinsicht als Dissensualität in Erscheinung tritt. Wird in Interaktionen zwischen Mitgliedern einer oder verschiedener Religionsgemeinschaft(en) nämlich immer wieder ein neuer Konsens darüber entwickelt, was als religiöse Wahrheit zu gelten hat, und geschieht dies in relativ hoher Frequenz und mit widersprüchlichen Ergebnissen, so stellt der Wunsch nach Konsensfindung zwar ein verbindendes Moment dar, bringt die entsprechenden Wahrheitssetzungen jedoch zugleich in Spannung zueinander, so dass auf makrostruktureller Ebene im Detail keine inhaltliche Konsistenz zwischen ihnen besteht. Für den konkreten Umgang meiner Gesprächspartner untereinander bedeutete ihr Konsensualitätswunsch, dass (mögliche) Differenzen in Begegnungen heruntergespielt oder erst gar nicht zum Thema gemacht wurden. Die Herkunft und Vergangenheit von Personen oder Institutionen sollte keine (identitätspolitische) Rolle spielen, da sie zum Anlass für Konflikte und Differenzierungsprozesse genommen werden können. In einem gewissem Sinne kann also behauptet werden, dass ‚gottgefälliger Konsens‘ in meinem sambischen Forschungsfeld mitunter durch Schweigen über die eigene Geschichte und Geschichtlichkeit hergestellt wurde. Zusammengenommen lässt sich anhand meines ethnographischen Materials also zu Begründungen kommen, warum es in den beiden Forschungsfeldern zu einer jeweils unterschiedlichen Geschichtsbezüglichkeit kommt. Die Problemstellung des vorliegenden Kapitels ist jedoch weit grundsätzlicherer Natur und betrifft die Frage, wie das Verhältnis zwischen ‚empirischem Geschichtsbezug‘ und ‚analytischem Geschichtsbezug‘ bestimmt werden kann. Im Vergleich meiner Forschungsfelder hat sich ja gezeigt, dass Geschichtsreferenzen für meine Gesprächspartner in Südafrika – im Gegensatz zu denen in Sambia – von größter Bedeutung war. Sollte ich dieser Bedeutungszuschreibung nachgeben und Historizität in diesem Kontext also mehr analytisch-interpretatives Gewicht zukommen lassen als ich dies in meiner sambischen Forschung getan hatte? Oder sollte ich auf der Differenz
51 Vgl. Thomas G. Kirsch: Konsensualität und religiöse Wahrheitspraxis, in: Anna Daniel u.a. (Hg.), Doing Modernity – Doing Religion, Wiesbaden 2012, S. 233–256.
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meiner Perspektive zu derjenigen meiner Gesprächspartner beharren und ihren Geschichtsbegriff als kulturelles Artefakt entlarven? Und in Sambia? Sollte ich meine dortigen Gesprächspartnern gegen ihren Willen ‚vergeschichtlichen‘? Es muss nicht betont werden, dass diese Fragen keine unschuldigen Fragen sind. Es ist wissenschaftshistorisch ja nicht allzu lange her, dass den afrikanischen ‚Völkern ohne Geschichte‘ eine eigene Historizität zugestanden wurden. Es braucht auch nicht hervorgehoben zu werden, dass das Absprechen bzw. Zuschreiben von Geschichte repräsentationspolitische Implikationen von erheblicher Tragweite haben kann. Und schließlich ist heute weithin akzeptiert, dass in der Geschichtsschreibung außereuropäischer Gesellschaften eine hierarchisierte Relationalität eingelagert ist, denn „insofar as the academic discourse of history that is, ,history‘ as a discourse produced at the institutional site of the university is concerned, „Europe“ remains the sovereign, theoretical subject of all histories, including the ones we call ,Indian‘, ,Chinese‘, ,Kenyan‘, and so on“.52 Diese hierarchisierte Relationalität spielt jedoch nicht nur in der geschichtswissenschaftlichen Repräsentation geschichtlicher Ereignisse eine Rolle, sondern auch – wie ich in diesem Kapitel darlegte – in der Frage des Verhältnisses zwischen empirischem und analytischem Geschichtsbezug. Idealtypisch lassen sich dabei drei wissenschaftliche Haltungen beschreiben, die das Verhältnis von empirischem und analytischem Geschichtsbezug in jeweils differenter Weise ausgestalten und die realiter durch Mischformen und fließende Übergänge gekennzeichnet sind.53 Bei der ,Affirmation‘ wird durch den Kultur- und Sozialwissenschaftler eine gewisse Deckungsgleichheit zwischen empirischem und analytischem Geschichtsbezug hergestellt, indem die Analyse einen nacherzählenden und positivistisch den empirischen Geschichtsbezug nachvollziehenden Charakter hat. Bei der ,Subversion‘ nimmt der Wissenschaftler eine kritische Haltung gegenüber bestimmten dominanten Geschichtsbezügen des empirischen Feldes ein, um – beispielsweise anhand der Methodik der ,oral history‘ – alternative empirische Geschichtsbezüge aufzugreifen und der Dominanzstruktur entgegen zu stellen. Und schließlich beruht die Haltung der ,Falsifikation‘ auf der analytischen Dekonstruktion von Aussagen des empirischen Geschichtsbezugs, beispielsweise wenn bestimmte Historiographien als ,erfundene Traditionen‘ entlarvt werden. Ein interessanter und wichtiger Aspekt bei der Unterscheidung dieser drei Haltungen ist der am Anfang des vorliegenden Kapitels erwähnte Umstand, dass Geschichte als ein Produkt der Retrospektion zu verstehen ist, so dass sich Geschichte als ein Sinn der Gegenwart darstellt, der „im Verweis auf die Vergangenheit gewonnen wird. Sie ist nicht ,da‘, sondern entsteht, wenn wir uns und anderen etwas zu verstehen geben wollen und uns dabei auf Ereignisse der Vergangenheit berufen“.54 Die Grundlagen für die Entscheidung, in welcher Weise und aus welcher spezifischen Haltung heraus der ‚empirische Geschichtsbezug‘ zum ‚analytischen Geschichtsbezug‘ ins Verhältnis gesetzt werden sollen, sind dabei allerdings nicht 52 Chakrabarty: Provincializing Europe, S. 27 [Hervorhebung hinzugefügt]. 53 Zum Begriff der Haltung (‚attitude‘) in Bezug auf die eigene Geschichte und Geschichtlichkeit, siehe auch Lévi-Strauss: The Savage Mind, S. 236. 54 Baberowski: Sinn der Geschichte, S. 11.
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im empirischen Material selbst zu finden. Vielmehr stellen sie in unvermeidlicher Weise aprioristische Entscheidungen dar, in denen das Postulat der methodologischen und theoretischen Gegenstandangemessenheit besonders dann mit forschungsethischen Fragen konfrontiert wird, wenn – wie das in der Ethnologie normalerweise der Fall ist – die vermeintlich ‚geschichtslosen‘ oder ‚geschichtlichen‘ Forschungsobjekte (noch) unter den Lebenden weilen und daher Widerspruch äußern (können). SCHLUSSBEMERKUNG In diesem Kapitel habe ich eine forschungsbiographische Bewegung nachvollzogen, in der ich mich anfänglich genötigt sah, von einem thematischen Fokus auf Geschichte und Geschichtlichkeit Abstand zu nehmen, um mich anschließend in einem anderen Forschungsfeld mit der Frage konfrontiert zu sehen, wie ich es analytisch mit den strukturgebenden Momenten von Geschichte halte. In Überwindung der wissenschaftstheoretisch überkommenen Leitdifferenz zwischen ‚geschichtslosen‘ und ‚geschichtlichen‘ Gesellschaften ging ich dabei dem methodologischen Problem nach, wie empirischer und analytischer Geschichtsbezug zueinander zu stellen sind. Dieses Problem stellt sich vor allem in der Begegnung mit empirischen Konstellationen, in denen Historizität als ein soziokulturelles Register der Referenz auf ein gegenwartserklärendes Vergangenes zwar vorhanden ist, aber de facto nicht genutzt wird. Maurice Godeliers berühmte Feststellung, dass Geschichte nichts erklärt, sondern selbst das zu Erklärende ist, greift hier nicht weit genug, da sie keine kulturvergleichenden Einblicke in der Frage verspricht, ob Geschichtsbezüge überhaupt empirisch von Interesse und analytisch erklärungsbedürftig sind.55 Diese Frage, so habe ich argumentiert, lässt sich nämlich nicht im Rekurs auf das jeweilige empirische Material beantworten, sondern nur in Form einer Setzung einklammern. In anderen Worten: Egal, ob man sich für eine affirmative, subversive oder falsifizierende Haltung entscheidet, die im analytischen Geschichtsbezug hergestellte Wirklichkeit von Geschichte – im Sinne Droysens als ‚eine gewisse Art, das Geschehene nochmals zu betrachten‘ – rahmt den jeweiligen empirischen Geschichtsbezug in einer Weise, die nur als aprioristisch bezeichnet werden kann und durch die hierarchisierte Verhältnisse der Geschichtsschreibung in Zwangsläufigkeit weitergeschrieben werden.
55 Maurice Godelier: Ökonomische Anthropologie. Untersuchungen zum Begriff der sozialen Struktur primitiver Gesellschaften, Reinbek 1973.
DIE HISTORISCHE „WIRKLICHKEIT“ ZWISCHEN SCHICKSALHAFTIGKEIT UND EIGENSINN Clemens Wischermann DIE TRADITIONELLE WIRKLICHKEIT DES GESCHICHTSSCHREIBERS: AUFDECKUNG EINES IN WIRKUNGSZUSAMMENHÄNGEN SICH ENTFALTENDEN SINNGESCHEHENS Die Selbstbestätigungstheorie der Historiker lautet, dass die Geschichtswissenschaft für die Gegenwart einer Zeit unverzichtbar wichtig ist, d.h. dass sie an der jeweiligen Wirklichkeit der Zeitgenossen mit baut. Man könne zwar aus der Geschichte, richtiger der geschichtswissenschaftlichen Erfassung von Vergangenheiten, nicht direkt lernen. Aber man lerne Hintergründe und Alternativen für menschliches Handeln kennen, das wiederum in unaufhebbaren Kontinuitäten oder wirkungsgeschichtlichen Zusammenhängen stehe. In dieser Kontinuität des Geschichtlichen sieht die Geschichtswissenschaft seit Johann Gustav Droysen das Allgemeine und Notwendige, das die Einzelheiten der Geschichte verbindet, und das ebenso jedem Individuum seinen Ort zuweist. Kontinuität ist (bei Droysen) ein Charakteristikum des Geschichtsprozesses selbst und dient zur Rekonstruktion der geschichtlichen Wirklichkeit als eines in Wirkungszusammenhängen sich entwickelnden Sinngeschehens.1 Das ist die allgemeine Fassung der fundamentalen Begründungsthese des Historismus. Ohne diese Begründung wäre die Geschichtswissenschaft anscheinend bedeutungslos und belanglos. Wie nähert sich der ‚klassische‘ Historiker der geschichtlichen Wirklichkeit? Als ‚Meister‘, der das den Zeitgenossen Zersplitterte und Verborgene zusammenfügt. Ein hervorragendes Beispiel ist Thomas Nipperdeys ‘Deutsche Geschichte‘ des 19. Jahrhunderts.2 Nipperdey stellt sich selbst dort in die Tradition der deutschen Geschichtstheorie des 19. Jahrhunderts. Er definiert als Aufgabe des Historikers, die ganze Wirklichkeit einer objektiv gegebenen Vergangenheit zumindest annäherungsweise zu erkennen. Dazu aber braucht Nipperdey eine einheitsstiftende Klammer. Im Einklang mit einer Geschichtstheorie Droysen’scher Prägung findet 1 2
Vgl. Johann Gustav Droysen: Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, hg. v. Rudolf Hübner, München 61971. Vgl. Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 41987; ders.: Deutsche Geschichte 1866–1918. Erster Band: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990; ders.: Deutsche Geschichte 1866–1918. Zweiter Band: Machtstaat vor der Demokratie, München 1992. Nipperdey gibt über die Konzeption seiner Bände nirgends systematisch Auskunft; noch am ehesten ist sie zu rekonstruieren aus den Schlussüberlegungen zum Band von 1992, bes. S. 877–905.
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er sie in den Prinzipien der Bedeutsamkeit und der Kontinuität. Für die Rekonstruktion der historischen Welt gibt es zwar nichts Sinnloses, höchstens in seinem Sinn nicht Erkanntes, aber nicht alles ist gleich ‚bedeutsam‘: Es stellt geradezu die eigentliche Leistung des Historikers dar, an die anzustrebende vollständige Kenntnis der Vergangenheit die Frage nach der ‚Bedeutsamkeit‘ ihrer Teile zu stellen. Die Entscheidung darüber liegt nicht in der Willkür des Historikers, sondern es gibt hierfür ein klares Kriterium: Die Bedeutsamkeit eines Teils des historischen Geschehens ergibt sich aus dem Verhältnis zu einem zeitlichen Ganzen, hier etwa zu einer Epoche. Die Bedeutsamkeit wird also regiert durch eine vom Historiker aufzudeckende innere Kontinuität als eine Art Charakteristikum des Geschichtsprozesses selbst. Seit mehr als einem Jahrhundert gibt es in dieser Position der wissenschaftlichen Geschichtsschreiber mehr Beständigkeit als Wandel. Natürlich hat der eine oder andere ‚turn‘ diese Position modifiziert: Historiker gehen z.B. in Teilen nun diskurstheoretisch vor, manche glauben an die Macht der Sprache statt der der Personen. Ein anderer Zungenschlag kam auch mit einer feministischen Geschichtswissenschaft hinein, denn hier ist der Zugang über die eigene Person bzw. deren Geschlechtlichkeit oft konstitutiv (wofür ‚frau‘ sich dann von Jörn Rüsen die Altherrenvokabel von der „schönen Parteilichkeit“ einhandelte3). Was sich jedoch in der Praxis der Geschichtswissenschaft kaum verändert hat, was sich allen Theorieentwürfen zum Trotz hartnäckig hält, ist, dass der (männliche) Historiker den Bezug seiner Arbeit und ihrer leitenden Fragestellungen zu seiner eigenen Gegenwart als einbettender Wirklichkeit ebenso ablehnt wie den Bezug zu seiner eigenen (Lebens-)Geschichte. Zusammenhänge zwischen dem eigenen Leben und der wissenschaftlichen Arbeit werden von Historikern ungern thematisiert. Schon in den von Sigfrid Steinberg herausgegebenen „Autoergographien“ 1925/264 oder ein halbes Jahrhundert später der sogenannten Ego-Histoire in Frankreich in den 1980er Jahren5 wurden lediglich Lebensstationen mit Stationen des wissenschaftlichen Arbeitens zusammengebracht, ohne dass man mehr als oberflächlich an die Persönlichkeit des Historikers herantrat. Zu dieser „selbstverständlichen Selbstverleugnung“6 können sie sich bis heute legitimiert fühlen, denn die Wissenschaftshistorikerin Lorrain Daston meint, die Historiker wüssten sowieso nicht, was sie warum tun, das müsse erst ihre, Dastons Disziplin beantworten: „Die Wissenschaftler werden im allegretto der 3
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Vgl. Jörn Rüsen: >Schöne< Parteilichkeit, Feminismus und Objektivität in der Geschichtswissenschaft, in: Ursula A. J. Becher/Jörn Rüsen (Hg.), Weiblichkeit in geschichtlicher Perspektive. Fallstudien und Reflexionen zu Grundproblemen der historischen Frauenforschung, Frankfurt/M. 1988, S. 517–540. Vgl. Sigfrid Steinberg (Hg.): Die Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, 2 Bde., Leipzig 1925 und 1926. Vgl. Pierre Chaunu/Georges Duby/Jacques LeGoff/Michelle Perrot: Leben mit der Geschichte. Vier Selbstbeschreibungen, hg. v. Pierre Nora, Frankfurt/M. 1989; im Original u.d.T.: Essais d’ego-histoire, Paris 1987. Barbara Stambolis: Leben mit und in der Geschichte. Deutsche Historiker Jahrgang 1943, Essen 2010, S. 27.
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Wissenschaft vorangetrieben, aber sie wissen nicht, warum sie die Fragestellungen haben, die sie haben. Das ist eine Frage, die nur die Wissenschaftsgeschichte beantworten kann“.7 Im Ergebnis findet über mehr als ein Jahrhundert eine Aufweichung, aber keine Erschütterung der Figur des ‚meisterlichen‘ Geschichtsschreibers statt. Die Persistenz und die Macht dieser Position finden ihre Erklärung in der dahinter wirkenden Konzeption des Pfades der historischen Entwicklung, dem dahinter wirkenden Glauben an die unaufhebbare Kontinuität. Der Historiker glaubt, dass seine Arbeit zu diesem Fortschreiten der geschichtlichen Entwicklung beitragen wird; er glaubt an die Bedeutsamkeit seiner Bücher in den Bibliotheken dieser Welt über seinen Tod hinaus. Dieses essentialistische Fortschreiten der Geschichte ist für ihn die Wirklichkeit. Die Hauptstrategie dieser Perspektive auf eine vergangene Wirklichkeit ist die des Bewahrens und des Erinnerns. Paradigmatisch hierfür steht die anhaltende Konjunktur von Konzepten eines sozialen, kulturellen oder kommunikativen Gedächtnisses. In den letzten Jahren hat sich die Beschäftigung mit Gedächtnis- und Erinnerungswelten, mit der Gedächtnis- und Erinnerungskultur von Gesellschaften als eines der Kernstücke einer „Historischen Kulturwissenschaft“ weithin etablieren können. Tonangebende Konzeptionen sind das kulturelle bzw. kommunikative Gedächtnis, das Jan und Aleida Assmann in Anknüpfung an Maurice Halbwachs entfaltet haben8 und der Lieux de Mémoire-Ansatz von Pierre Nora9, also Konzepte zumeist auf ein Volk bezogener oder national verfasster Großgedächtnisse. Geschichte / Geschichtsschreibung dient in der Perspektive der Gedächtnistheorien vor allem zur Legitimation der Sinngebung einer Gegenwart. Die Gedächtnistheorien argumentieren nun im Gegensatz zur traditionellen Auffassung von historischer Wirklichkeit, dass Geschichte und ihre Kontinuität nicht in der Vergangenheit selbst zu finden sind. Geschichte ist Konstruktion in praktischer Absicht.10 Geschichtliches Denken steht in dieser Perspektive unter dem Primat des Prinzips der Konstruktivität, ist ständige Wiederanordnung nach Sinngesichtspunkten. Kollektive gewinnen ihren Sinn- und Handlungshorizont aus der Konstruktion eines behaupteten geschichtlichen Werdens. Doch auch in der Wirklichkeit einer solchen Gedächtniswelt bleibt der Einzelne, vielleicht mehr denn zuvor, ein Glied einer Kette, das sich in seinem Leben an wenngleich konstruierten historischen Vorbildern orientiert. 7
Alexander Kraus/Birte Kohtz (Hg.): Geschichte als Passion. Über das Entdecken und Erzählen der Vergangenheit. Zehn Gespräche, Frankfurt u. a. 2011, hier S. 261. 8 Vgl. u.a. Jan Assmann: Das Kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 62007; Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des Kulturellen Gedächtnisses, München 52010. 9 Vgl. Les Lieux de Mémoire, sous la direction de Pierre Nora, I. La République, Paris 1984; II. La Nation, Paris 1986 (3 Bde.); III. Les France, Paris 1992 (3 Bde.). Vgl. auch Pierre Nora: Entre Mémoire et Histoire, in: Les Lieux de Mémoire, Bd. I, La République, Paris 1984, S. XVII–XLII; deutsche Übersetzung u.d.T.: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Die Gedächtnisorte, in: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990, S. 11–33. 10 So vor der Welle der Gedächtnistheorien schon Hans Michael Baumgartner: Kontinuität und Geschichte. Zur Kritik und Metakritik der historischen Vernunft, Frankfurt/M. 1972.
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In der geschichtswissenschaftlichen Praxis ist die Forderung nach der Erkenntnis der ‚Historischen Wirklichkeit‘ offensichtliches Ziel als Kernkompetenz der Historiker geblieben, darauf hat Hans-Jürgen Goertz in seinen Überlegungen zum „Abschied von der historischen Wirklichkeit“ hingewiesen.11 In dieser Tradition eines erkenntnistheoretischen Realismus stehe die Geschichtswissenschaft vom Historismus bis hin zu Hans-Ulrich Wehler. Historische Wirklichkeit aber sei ein Nonsens-Begriff. Die Historiker hätten den Bruch mit einem traditionellen, mimetischen Realismus nicht mitvollzogen: „An der Faktizität des vergangenen Geschehens wird nicht gezweifelt. Aber die Feststellung der Faktizität ist noch keine historische Aussage. Zu einer historischen Aussage kommt es erst, wenn von den Fakten mit Sinn und Verstand berichtet, wenn ihnen Bedeutung beigelegt wird. Das geschieht in der Erzählung, im Diskurs und in einer Analyse, die ganz entschieden darauf abhebt, dass derjenige, der das historische Geschehen beobachtet, sich bei dieser Tätigkeit selber beobachtet.“12 Fazit: Der innere Sinn (die ‚historische Wirklichkeit‘) war im Historismus essentialistisch gedacht und wird in den modernen Gedächtnistheorien konstruktivistisch. Aber zwei Elemente bleiben auf diesem Weg wenig verändert: Der geschichtliche Mensch ist primär durch den Primat seiner Eingebundenheit in eine Vergangenheit gekennzeichnet, was ich im Folgenden als Haftungsparadigma bezeichne. Der Historiker als Beobachter dagegen stellt sich als Wissenschaftler weitgehend außerhalb seiner Zeit. ARGUMENTE GEGEN DAS HAFTUNGSPARADIGMA – ODER: DIE GESCHICHTSSCHREIBUNG BLEIBT FÜR DIE HEUTIGE WIRKLICHKEIT (FAST) OHNE KONSEQUENZEN. Aus dem Haftungsparadigma, d.h. der Annahme eines wirklichen, wenn auch schwer durchschaubaren kollektiven Sinnzusammenhangs mit Zwangsmitgliedschaft, bezieht die Geschichtswissenschaft bis heute ihre hohe gesellschaftliche Wertschätzung. Doch diese angenommene Erklärungskraft der Wirksamkeit der ‚Geschichte‘ in einer Gegenwart ist abgeblättert. Knapp und ein wenig polemisch formuliert: Fast niemand liest die Bücher der Fachhistoriker. Die akademischen Kollegen anderer Disziplinen betrachten die Historiker als historische Faktensammler. Geschichte in den Medien ist Unterhaltung bis hin zu Reenactment. Existiert die Vergangenheit als Kraft der Gegenwart noch? Der Schriftsteller Robert Menasse entfaltete in seiner Rede zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse 1995 ein Menetekel der modernen Geschichtswissenschaft vor seinen Zuhörern: „Vielleicht war ‚Geschichte‘ der größte historische Irrtum der Menschheit. Erst der Glaube, daß es eine Geschichte gebe, die ein sinnvoller Prozeß 11 Hans-Jürgen Goertz: Abschied von „historischer Wirklichkeit“. Das Realismusproblem in der Geschichtswissenschaft, in: Jens Schröter/Antje Eddelbüttel (Hg.): Konstruktion von Wirklichkeit. Beiträge aus geschichtstheoretischer, philosophischer und theologischer Perspektive, Berlin/New York 2004, S. 1–18. 12 Ebd., S. 12f.
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sei, der ein Ziel habe, das man erkennen und auf das man schließlich bewußt hinarbeiten könne, hat aus dem Kreislauf simplen biologischen und sozialen Lebens von Menschen auf diesem Planeten jene Abfolge von Greuel in immer neuer Qualität gemacht, die wir als ‚Geschichte‘ studieren und gleichzeitig verdrängen.“13 Auch wenn man diese Zuspitzung für weit überzogen hält, kann man für eine negative Sicht zwei Belege heranziehen: die offizielle Gedächtnispolitik und die Individualisierung der Erinnerung. „Die Erinnerung darf nicht enden; sie muß auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen“ – so heißt es in der Proklamation, durch die Bundespräsident Herzog zu Anfang des Jahres 1996 den 27. Januar zum „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ erklärt hat.14 „Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren“, hatte Richard von Weizsäcker in seiner Rede zum 8. Mai 1985 gesagt.15 Zwei Zitate aus einer unendlich langen Reihe: Ohne Erinnerung an die beispiellosen Untaten des Nationalsozialistischen Deutschland, so die weit verbreitete Überzeugung unserer Tage, besteht die Gefahr der Wiederholung. Solches Gedenken an Vergangenes in Öffentlichkeit und Politik ist oft nur noch ein Ritual. Die Begründung für dieses Gedenken entstammt noch dem Zeitalter des Haftungsparadigmas: ‚Wir = die Täter‘ ist eine an der deutschen Geschichte ganz besonders haftende Chiffre. Verlässt man aber den Ansatz der kollektiven verbindlichen Vergangenheiten / Gedächtnisse zugunsten einer miteinander rivalisierenden Vielzahl von Gegenwartslegitimationen, so mehren sich die Beobachtungen, dass die Kraft generationenübergreifender Erinnerungsgemeinschaften auf die Gegenwart hin nachlässt und dass Erinnerung an der Schnittstelle von Wissenschaft und Lebenswelt an der Wende zum 21. Jahrhundert zunehmend in den Sog des Individualisierungsprozesses gerät.16 Ich habe bei meinen eigenen Besuchen von Mahn- und Gedenkstätten der NS-Verbrechen mit Zwanzig- bis Dreißigjährigen wiederkehrend folgende Erfahrungen gemacht: Durch diese Gedächtnisorte führten in der Regel Personen, die tief im Paradigma der moralischen Haftungsdebatte sozialisiert waren. Das prägte ihren Ton, ihre Argumentation und ihre Beispiele. Die jüngere Generation reagierte darauf in der Situation höflich, allenfalls mit selten wahrgenommenen Versuchen, den Vereinnahmungsgestus infrage zu stellen. In den Nachbesprechungen der Exkursionen war die Reaktion dann resigniert bis ablehnend: Die Besuche
13 Robert Menasse: „Geschichte“ – der größte historische Irrtum. Über die von Menschen betriebene Befreiung der Welt vom Menschen – Rede zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse, in: Die Zeit Nr. 42 vom 13. 10. 1995, S. 80. 14 Proklamation des Bundespräsidenten vom 3. Januar 1996, Bundesgesetzblatt 1996 Teil I, Seite 17 (http://archiv.jura.uni-saarland.de/BGB1/TEIL1/1996/19960017.1.HTML). 15 Ansprache des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zum 40. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkrieges. (http://webarchiv.bundestag.de/archive/2006/0202/parlament/geschichte/parlhist/dokumente/ dok08.html). 16 Ausführlicher Clemens Wischermann: Kollektive, Generationen oder das Individuum als Grundlage von Sinnkonstruktionen durch Geschichte, in: ders. (Hg.): Vom kollektiven Gedächtnis zur Individualisierung der Erinnerung, Stuttgart 2002, S. 9–24.
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erlebten sie als anknüpfungslos zur eigenen Geschichte. Wo Betroffenheit und Mitverantwortung eingeklagt wurden, da sahen sie eine Vergangenheit, die nicht mehr die ihre war und auf die sie sich nicht verpflichten lassen wollten. Doch Kritik an dem praktizierten Aufklärungs- und Erziehungsprogramm zu äußern, ist weiterhin politisch nicht korrekt, auch wenn seine ‚guten‘ Absichten nicht (mehr) erreicht werden oder gar ins Gegenteil umzuschlagen drohen. Wenn der einzelne seine Vergangenheitsidentität nicht mehr über eine Gedächtnisgemeinschaft, sondern über seine eigene Erinnerungskompetenz herstellt, dann muss auch die Geschichtswissenschaft sich neu orientieren. Konkret heißt das: Niemand legitimiert mehr (vor sich selbst) sein Handeln mit geschichtlichen Vorbildern. Das verweist auf die Frage, inwieweit der einzelne Mensch immer ‚der Geschichte‘ verpflichtet bleibt oder ob nicht vielmehr seine Geschichte dem einzelnen Menschen gehöre und er selbst über ihre Aneignung oder Abweisung primär bestimme. ALTERNATIVEN Vergessen als soziale Strategie Eine grundsätzliche Alternative zum Primat des historischen Erinnerns ist das Vergessen. So argumentieren etwa die Soziologen Dimbath und Wehling unter Verweis auf „Schweigepakte“ in nachautoritären Gesellschaften (Beispiel Spanien). Erinnern als einzig mögliche Form des „Gedächtnisregimes“ beruhe in Europa auf den Verbrechen des Nationalsozialismus und „erscheint nicht mehr als einzig mögliche Form des öffentlichen Umgangs“ mit schwer belasteter Vergangenheit, sondern es gebe auch so etwas wie ein „friedenstiftendes Vergessen vergangener Untaten“17. Unter den Historikern hat der Althistoriker Christian Meier 2010 ein flammendes Plädoyer für das Vergessen gehalten. Doch sein Vergessen ist kein Verschweigen oder gesteuertes Unterdrücken, sondern eine bewusst getroffene, schmerzhafte Option des Handelns. Meier erinnert an den „ersten Artikel eines Vertrages aus dem Jahr 851. Dort bekunden die Parteien ihre Absicht, „daß aller vergangenen Übel“ – und nun folgt eine Aufzählung verschiedener Arten von Schädigungen und Betrügereien – „eine Tilgung (abolitio) geschehe, zwischen uns und bei uns, und daß all dies aus unseren Herzen gründlich herausgerissen werde mitsamt aller Bosheit und allem Groll – derart, daß künftig nicht mehr davon ins Gedächtnis, nämlich daß es nicht zur Vergeltung des Übels“, der Widerwärtigkeiten etc. komme.“18 Für Christian Meier ist es keineswegs entschieden, dass öffentliches Gedenken und privates Erinnern (was er nicht säuberlich trennt) das heilsamere Rezept zur Versöhnung mit leidvoller Vergangenheit darstellten. Seine Argumente sind nicht erinnerungstheoretisch, philosophisch, therapeutisch oder neurowissenschaftlich. Er findet schlicht 17 Oliver Dimbath/Peter Wehling (Hg.): Soziologie des Vergessens. Theoretische Zugänge und empirische Forschungsfelder, Konstanz 2011, hier S. 8–9. 18 Christian Meier: Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit, München 2010, S. 9.
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in der Geschichte unendlich mehr Fälle eines blessed act of oblivission als Erinnerungsgebote.19 Nur die „unabweisbaren deutschen Erinnerung(en) an Auschwitz“ hätten möglicherweise die „uralte Erfahrung“ an die Seite geschoben, „wonach man nach solchen Ereignissen besser vergißt und verdrängt als tätige Erinnerung walten zu lassen […]. Und es ist mitnichten ausgemacht, daß tätige Erinnerung Wiederholung ausschließt.“20 Hier liegt natürlich aus der jüngsten europäischen Geschichte der Verweis auf die Greul in den Kriegen in den Nachfolgeterritorien Jugoslawiens nahe, deren oft lange zurückreichenden ethnischen oder religiösen Hintergründe sich der deutschen Öffentlichkeit und Politik nur mühsam erschlossen. Aber dem Vergessensansatz fällt es weiterhin schwer, Vergessen zu legitimieren: Muss das Vergangene erst durchgearbeitet werden (einzeln oder kollektiv), um es dann vergessen zu dürfen? Oder soll man von vornherein politische oder wissenschaftliche Vergessens-Akte schaffen, die Ausgewähltes aus der Vergangenheit in die Vergessenheit befördert? Der Missbrauch einer solchen Vergessenspolitik liegt nur zu nahe. Das Ende der „Geschichte“ Das Ende der Geschichte ist eine typische Szenerie des französischen Posthistoire und hat dort eine lange philosophische Tradition. „Die Problemstellung der Posthistoire-Diagnose ist nicht das Ende der Welt, sondern das Ende von Sinn“21, hat Lutz Niethammer manche Irritationen über den Begriff richtig gestellt. Noch genauer handelt es sich um das Ende eines spezifischen, nicht eines allgemeinen Sinns. Gemeint ist also, dass der Sinn der Welt zu bestimmten Zeiten von Menschen anders gedeutet und gesehen wurde. Am bekanntesten für die Postulierung des Endes einer bestimmten menschlichen Welt- und Sinndeutung ist wahrscheinlich Michel Foucaults berühmter letzter Satz seines Buches „Les mots et les choses“ von 1966, wo es heißt, dass „der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“.22 Giorgio Agamben gibt in seinem Buch „Das Offene“ eine neue Begründung für das Ende eines Zeitalters des ‚Menschen‘: In der Neuzeit sei die Mensch-Tier-Grenze geschlossen gewesen, d.h. der Mensch habe sich über die 19 „Sieht man sich sonst in der Geschichte um, so findet man […] zumindest in aller Regel Zeugnisse für das letztere: Immer wieder wird beschlossen, vereinbart, eingeschärft, daß Vergessen sein soll, Vergessen von vielerlei Unrecht, Grausamkeit, Schlimmem aller Art […]. Nahezu 2000 Jahre später sollte Churchill in seiner berühmten Zürcher Rede am 19. September 1946 zu einem blessed act of oblivission zwischen den Feinden von gestern aufrufen, einem segensreichen Akt des Vergessens. Zuvor freilich müßten die crimes and massacres, für die es seit den Mongoleneinfällen des 14. Jahrhunderts keine Parallele gegeben habe, geahndet werden.“ Meier, Gebot, S. 10. 20 Ebd., S. 97. 21 Lutz Niethammer unter Mitarbeit von Dirk van Laak: Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende? Reinbek 1989, S. 9. 22 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/M. 81989, S. 462.
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Grenze zwischen Menschen und Tieren und deren fortwährende Neubestimmung letztlich bestimmt und legitimiert: „Die“ Geschichte und ihre spezifische Wirklichkeit seien zu Ende. Die „anthropologische Maschine“ habe immer aufs Neue den Menschen in Abgrenzung zum Tier produziert. Die Anthropogenese resultiere aus der Zäsur zwischen Humanem und Animalischem.23 Diese Maschine sei der „Motor für die Historisierung des Menschen“ gewesen. In meinen Worten ausgedrückt, schuf sie ein bestimmtes Menschenbild und ein Selbstbild, das sich eine Aufgabe und dazu passend eine Geschichte machte: Geschichte als Schicksal, als Entwicklung, als Werden des ‚Menschen‘. Doch dieses Zeitalter der menschlichen Geschichte ist nach Agamben vorüber: „[…] ist heute für jeden klar, daß es wider besseres Wissen für den Menschen keine historischen Aufgaben mehr gibt, die er übernehmen oder die man ihm auch nur auftragen könnte.“24 Deshalb werde in den westlichen Staaten alles zu Biopolitik: „Die traditionellen geschichtlichen Mächte – Dichtung, Religion, Philosophie – […] sind seit einiger Zeit in kulturelle Schauspiele und in private Erfahrungen verwandelt worden und haben jegliche historische Wirksamkeit verloren. In Anbetracht dieser Verdunkelung bleibt als einzige einigermaßen seriöse Aufgabe die Sorge und ‚integrale Verwaltung‘ des biologischen Lebens, d.h. der Animalität des Menschen selbst übrig. Genom, globale Ökonomie und humanitäre Ideologie sind die drei solidarischen Gesichter dieses Prozesses, in welchem die Menschheit ihre eigene Physiologie als letztes und unpolitisches Mandat nach dem Ende der Geschichte zu übernehmen scheint.“25 Diese Grenze habe sich im 20. Jahrhundert seit dem Ersten Weltkrieg geöffnet und sei heute offen. Das Ergebnis sei das Ende des ‚Menschen‘ und der ‚Geschichte‘. Was bleibe, sei die pure Sorge um das (leibliche) Leben. Bei Agamben landet man im Posthistoire in einer Art dauernder quasi animalischer Gegenwart. Doch verkennt er, oder benennt er nicht, dass auch die Natur eine Geschichte hat und der Mensch deshalb eine Lebensgeschichte. Subjektivierung des Vergangenen oder ‚Geschichte‘ als Lebensgeschichte Was bei Agamben fehlt, das ist die Suche des Einzelnen nach einem Sinn seines Lebens. Es bleibt, als Thema des Vergangenen die lebensgeschichtliche Dimension zu integrieren. Man kann das vielleicht als eine Dimension sehen, die nur in der Moderne dominant werden konnte. Denn vollzogen sich Vorgänge sozialen Wandels früher in Zeitvorstellungen von mehr als einem Menschenleben, so werden in der Moderne Umschwünge sozialen Wandels mehrfach in einem Menschenleben erlebt. In der vorindustriellen Welt repräsentierte die Lebenswelt ein hohes Maß an Konstanz, zu der der Mensch selbst in vergänglicher Relation stand. Früher war das
23 Giorgio Agamben: Das Offene. Der Mensch und das Tier, Frankfurt/M. 2003 (im italienischen Original 2002), bes. S. 87. 24 Ebd., S. 85. 25 Ebd., S. 86.
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durchschnittliche Lebensalter der Dinge in der Regel länger als dasjenige der Menschen, die sie benutzten. In der modernen Gesellschaft hingegen hat die Lebenswelt die Rolle der schnellen Vergänglichkeit übernommen, der gegenüber der Mensch erst ein gewisses Maß an Kontinuität herstellt.26 In der Folge stellen sich „Bedeutsamkeit“ und „fortwährende Wirksamkeit“ (Droysen) nicht mehr als Erkenntnisfortschritt in einer historischen Kette, sondern nur noch in lebensgeschichtlicher Eingebundenheit her. Wo die Geschichte und die Erinnerung noch kraftvolle Impulse in die Wirklichkeit entfalten können, da beziehen sie diese aus der Individualisierung der Erinnerung. Diese Zeitdiagnose wird seit dem späten 19. Jahrhundert diskutiert,27 aber das Potential solcher zeitgenössischer ‚Lebensgefühle‘ hat sich in der jüngsten Gegenwart dramatisch erhöht. An die Stelle kollektiver Zuordnungen tritt eine lebensgeschichtliche Orientierung der Erinnerung, die Katja Patzel-Mattern als zentrales Geschichtsphänomen moderner biographisierter Gesellschaften begreift, in denen der Zusammenhalt von Deutungsmustern auch der Vergangenheit durch den Einzelnen geleistet werden muss: „Wandel […] ist das vorherrschende Prinzip gegenwärtiger Lebenswelten, deren Ordnung allein durch einen subjektiven Konstruktionsakt geschaffen werden kann.“28 Auch Sandra Markus meint, „Nicht die Gedächtnisgemeinschaft ist somit entscheidend für die Erinnerungs- und damit Lebensorganisation, sondern die Person mit ihrer spezifischen Lebensgeschichte wird zur Quelle ihrer Sinngebung.“29 Seit den 1980er Jahren hat es neue Tendenzen wie die Alltagsgeschichte, die Oral History, die Frauen- und Geschlechtergeschichte, die Geschichtswerkstätten usw. gegeben, denen gemeinsam war, dass hier eine eigene Geschichte erforscht und erzählt werden sollte. In der Körpergeschichte wurde der eigene Körper wegen seiner Lebensgeschichte, nicht wegen seiner Biologie sinngenerierend; nur in diesem Sinne spricht man hier von einer Materialität, die Wirklichkeit herstelle.30 Die akademische Geschichtswissenschaft hat all dies lange als Spielwiese ignoriert bis abgelehnt, hat ihr „Syntheseunfähigkeit“ (Hans-Ulrich Wehler) vorgeworfen und dabei das innere Bindeglied der neuen Strömungen nicht erkannt, die Sorge um die ‚eigene Geschichte‘. Dies hat vermutlich unmittelbar mit dem Selbstbild der Historiker zu tun: „Deutsche Historiker haben sich mit der Selbsthistorisierung allerdings
26 Vgl. Alessandro Cavalli: Soziale Gedächtnisbildung in der Moderne, in: Aleida Assmann/ Dietrich Harth (Hg.): Kultur als Lebenswelt und Monument, Frankfurt/M. 1991, S. 200–210. 27 Vgl. Katja Patzel-Mattern: Geschichte im Zeichen der Erinnerung. Subjektivität und kulturwissenschaftliche Theoriebildung, Stuttgart 2002; dies.: Jenseits des Wissens – Geschichtswissenschaft zwischen Erinnerung und Erleben, in: Wischermann (Hg.), Vom kollektiven Gedächtnis, S. 119–158. 28 Vgl. dies: „Erinnerung verbindet uns, Erinnerung trennt uns“. Zur Bedeutung lebensgeschichtlicher Erinnerung für die historische Forschung, in: Westfälische Forschungen 51 (2001), S. 29–37, S. 30–31. 29 Vgl. Sandra Markus: „Schreiben heißt sich selber lesen“. Geschichtsschreibung als erinnernde Sinnkonstruktion, in: Wischermann (Hg.), Vom kollektiven Gedächtnis, S. 159–183, S. 160. 30 Vgl. Clemens Wischermann/Stefan Haas (Hg.): Körper mit Geschichte. Der menschliche Körper als Ort der Selbst- und Weltdeutung, Stuttgart 2000.
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lange ausgesprochen schwer getan“, sagt Barbara Stambolis, die viele lange Interviews mit Historikern des Jahrgangs 1943 geführt hat. Denn es habe als fragwürdig gegolten, „die Person des Forschenden in irgendeiner Weise hinter ihren Forschungen sichtbar werden zu lassen“; man könne von einer „Tradition selbstverständlicher Selbstverleugnung“ in Deutschland sprechen.31 Ein selten explizites Beispiel entnehme ich einem kürzlichen Interview mit dem Schweizer Historiker Philipp Sarasin: „Ich könnte Ihnen jetzt erklären, dass meine Dissertation von meinem Vater handelt und meine Habilitationsschrift von meiner Mutter, also motiviert sind von Problematisierungen meines eigenen Lebens, die über mehrere Etappen und Schritte zu bestimmten wissenschaftlichen Fragen führten, die ich sehr klar zurückbinden kann an diese persönlichen Prägungen.“32 Er sagt immerhin, er könnte es; aber er tut es dann in diesem Interview doch lieber nicht. Rettungsversuche „Die Wirklichkeit der Geschichte“ – hinter dieser Begriffswahl steht in meinem Kontext die Grundidee, dass die Strömungen im Feld der ‚neuen‘ Kulturgeschichte seit den 1990er Jahren sich teils weit von dem Interesse an einer ‚Wirklichkeit‘ entfernt haben. Hier gibt es keine direkte Wahrnehmung außerhalb der Diskurse mehr, keine Materialität mit Wirkungsmacht. Wenn beispielsweise Studien über die Greul eines Krieges sich nur noch für die sprachlichen Muster u.ä. interessieren, dann bleiben alle Fragen nach dem körperlichen oder sozialen Realitätsgehalt außen vor. Die Jüngeren sind das so gewohnt, dass es scheinbar unerheblich geworden ist, nach der gesellschaftlichen Wirklichkeit jenseits der Sprache zu fragen. Aber die Arbeit an der Herstellung der Sinnhorizonte menschlichen Handelns vollzieht sich nicht nur in der Sprache, sondern in ständiger Interaktion mit der Materialität oder Körperlichkeit der Umwelt und innerhalb der lebensgeschichtlichen Dimension jeglicher Zeiterfahrung und -verarbeitung. Wenn man sich sowohl von der ‚historischen Wirklichkeit‘ meisterlicher Großerzählungen wie von einem dekonstruktivistischen Zerfall der Welt in Zeichen und Erzählungen verabschiedet, so hat das mehrere Konsequenzen. Zu Beginn gilt es den Einzelnen aus der Schicksalhaftigkeit jeglicher Geschichtsentwürfe zu befreien. Die Reihe der Meister und Schöpfer solcher ‚Wirklichkeiten‘, die den Menschen in ein schicksalhaftes Haftungsparadigma bannen und einsperren, ist endlos und hat die Tradition einer Historiographie der Machtausübung zur Folge gehabt. Der Mythos des vermeintlichen Einblicks in diese ‚geheime‘ historische Wirklichkeit erklärt bis heute den unterschwelligen gesellschaftlichen Respekt vor der Geschichtswissenschaft. In der hier vorgelegten Argumentation erlangen im Gegenzug Subjektivität und Lebensgeschichte einen dominanten Stellenwert bei der Erzeugung von Sinn. Dagegen hat Jörg Baberowski behauptet, die Welt sei ein Chaos und das Leben eines 31 Stambolis, Leben mit und in der Geschichte, S. 26f. 32 Kraus/Kohtz, Geschichte als Passion, S. 332.
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Menschen sei ohne Zusammenhang: „Jeder weiß, dass die Vergangenheit ebenso wie die Gegenwart unstrukturiert ist, dass die Wirklichkeit ein unbegriffenes Chaos ist. Das gelebte Leben ist zusammenhanglos, und erst die Erzählung hebt Gedanken und Handlungen hervor, die man braucht, damit eine Geschichte als Sinn erzählbar wird.“33 Man mag in allgemeiner Weltsicht diese pessimistische Position teilen. Aber bezogen auf den sozialen Gehalt eines menschlichen Lebens gibt Baberowski jeden Versuch verloren, im Laufe der Lebensgeschichte zu so etwas wie einem kohärenten, zugleich wandelbaren Selbst zu kommen. Die eigene Vergangenheit als wichtiges Element der Selbstdefinition und des Weges in einen eigenen Sinn zu erkennen, das ist aber der zentrale Fluchtpunkt einer reflexiven Wirklichkeit. Was als Wirklichkeit, auch vergangene Wirklichkeit wahrgenommen werden kann, ist definiert durch ein lebensgeschichtliches, zeitlichen Wandel in konkreten UmWeltsituationen umsetzendes Bewusstsein. In ähnlicher Absicht hat Donna Haraway gegen die Vorstellung einer „starken Objektivität“ ihr Konzept eines „situierten Wissens“34 gestellt. Unter „starker Objektivität“ versteht sie ein Weltverständnis, das die Vielfalt möglicher Perspektiven und Standpunkte bestmöglich in einer Art Zentralperspektive erschließen und zusammenfassen will, nur dass der Zentralpunkt, der Produzent oder Autor der Perspektive unsichtbar bleibt. Dem stellt Haraway in den „Positionen einer verkörperten Objektivität“35 ein situiertes Wissen gegenüber, das meint: Wir sind immer schon in Wissenssituationen eingebunden, mit dem Körper, dem Geschlecht, den anderen Lebewesen, dem Raum etc., insgesamt also mit der eigenen Lebensgeschichte. Dies gilt nicht zuletzt für das Selbst des Historikers. Dies gilt nicht zuletzt für das Selbst des Historikers: „Die Welt spricht weder selbst, noch verschwindet sie zugunsten eines Meister-Dekodierers.“36 Gefordert ist das Gegenteil der „Tradition selbstverständlicher Selbstverleugnung“. Noch immer gilt der Ich-Stil vielen Historikern als subjektivistisch verdächtig und damit unwissenschaftlich. Die explizite und reflektierte Einbringung des Selbst über einen bloßen politischen Standpunkt hinaus, dieser Aufgabe hat sich die Geschichtswissenschaft bislang nicht gestellt. Aus der Einbeziehung seiner Selbst und damit auch seiner Emotionen gegenüber dem historischen Objekt oder Thema einen methodisch reflektierten Vorgang zu machen, wie dies Georges Devereux bereits vor Jahrzehnten unter dem Begriff „Angst und Methode“ forderte,37 davon ist die Geschichtswissenschaft so weit wie
33 Jörg Baberowski: Wie erzählt man eine Geschichte und braucht man dafür eine Theorie? In: Bernd Herrmann (Hg.): Beiträge zum Göttinger Umwelthistorischen Kolloquium 2010–2011, Göttingen 2011, S. 235–252, hier S. 239. 34 Donna Haraway: Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive, in: Dies., Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, hg. v. Carmen Hammer/Immanuel Stieß, Frankfurt/M. u.a. 1995, S. 73–97. 35 Ebd., S. 88. 36 Haraway, Situiertes Wissen, S. 93f. 37 Vgl. Georges Devereux: Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften, Frankfurt/M. 3 1992 (zuerst 1967).
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eh und je entfernt. 38 Auch die die moderne Ethnologie permanent begleitende Debatte um die methodische Einbringung und Bewältigung der Beobachterposition hat keine nachhaltige Beachtung gefunden.39 Um es auf die Pointe zu bringen: Sich selbst beim Denken zuzusehen, gehört leider noch nicht zu den vermittelten Kernkompetenzen eines Geschichtsstudiums.
38 Vgl. zu Devereux die Auseinandersetzung bei Franz Breuer: Wissenschaftliche Erfahrungen und der Körper/Leib des Wissenschaftlers. Sozialwissenschaftliche Überlegungen, in: Wischermann/Haas (Hg.), Körper mit Geschichte, S. 33–50. 39 Vgl. Michael H. Agar: The Professional Stranger. An informal introduction to Ethnography, San Diego u.a. 21996; Amanda Coffey: The Ethnographic Self. Fieldwork and the Representation of Identity, London u.a. 1999.
HISTORISCHES BEWUSSTSEIN IN DER POSTMODERNEN LEBENSWELT Ferdinand Fellmann Ein Blick auf die geistige Situation der Gegenwart zeigt signifikante Veränderungen im Geschichtsbewusstsein. Das Interesse an Geschichte ist so stark wie lange nicht, aber die Blickrichtung hat sich deutlich verschoben. Der gewohnte Blick von außen ist der Perspektive der Betroffenen gewichen, das Interesse am Menschen als Individuum bestimmt die Interpretation des Geschehens. So erlangt auch die Geschichte längst vergangener Epochen formal den Status von Zeitgeschichte. Falls diese Charakteristik zutrifft, stellt sich die Bilanzfrage. Was ist durch die Subjektivierung der Geschichte verloren gegangen, worin liegt der Gewinn an Einsicht? Ich ziehe folgende Bilanz: Verloren gegangen ist die Kenntnis übergreifender Zusammenhänge, wie sie von den weltgeschichtlichen Großerzählungen dargestellt wurden. Mit der Auflösung des epochalen Denkens bis hinunter zur Generation als kleinster Einheit ist auch das Bewusstsein der Übereinstimmung zwischen Mensch und Welt geschwunden, die den Menschen die Sicherheit vermittelte, nicht aus der Welt zu fallen. Wo jeder darauf besteht, dass seine Geschichte ihm gehört, ist die Gefahr eines emotivistischen Relativismus unübersehbar. Diesem Soll steht folgendes Haben gegenüber: Durch die subjektive Perspektive wird der Schein der Schicksalhaftigkeit historischer Prozesse aufgehoben. Die Einsicht wächst, dass überall situationsbedingte Entscheidungen den Gang der Dinge geleitet haben. Darin liegt ein Gewinn an geistiger Freiheit, die uns in die Lage versetzt, gegenwärtige Machtstrukturen von innen zu durchschauen. Um es mit einem Kernsatz von Johann Gustav Droysen zu sagen: „Mit dem Zweifel, mit der Beobachtung, dass dies mit jenem nicht stimmt, dass da Widersprüche und Unmöglichkeiten aller Art bona fide miteinander stehen, mit der Reflexion, es als ein in uns unbewusst Gewordenes und so oder so Überkommenes prüfen zu müssen, beginnen wir, mit dem, was uns bis dahin hatte und beherrschte, frei zu schalten und es zu beherrschen“1. Diese Bilanzierung hat Folgen für die Geschichtsphilosophie. Sie verliert ihren Anspruch, durch den Blick von Nirgendwo dem Verlauf der Geschichte Gesetze vorzuschreiben. Stattdessen muss sie sich mit der Erfahrung auseinandersetzen, dass der Mensch als Subjekt der Geschichte einer Dialektik von Freiheit und Notwendigkeit, von Täter und Opfer unterliegt. Wir produzieren Strukturen, die uns beherrschen: die Mittel verwandeln sich in Zwecke, welche die intendierten Ziele unterlaufen. Diese Dialektik verleiht der Geschichte sicherlich einen anderen onto-
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Johann G. Droysen: Historik, hg. v. R. Hübner, Darmstadt 1974, S. 32.
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logischen Status als den substantieller Gesetzmäßigkeit, sie erweitert den Handlungsspielraum, aber sie setzt der Machbarkeit auch Grenzen. Mit dieser Einsicht grenzt Geschichtsphilosophie an die philosophische Anthropologie, die den Menschen als geschichtliches Wesen begreift, dessen Sein vom Bewusstsein abhängt, das seinerseits dem historischen Wandel unterworfen ist. Meine These vom Strukturwandel des historischen Bewusstseins als Entzauberung der Geschichte „von oben“ und zugleich als Rehabilitierung der Geschichte „von unten“ stelle ich in drei Schritten vor. Zunächst beschreibe ich das individualistische Selbstverständnis des postmodernen Menschen und zeige die historische Reaktionsbasis dieses Prozesses auf (I). Sodann rekonstruiere ich den Wandel der historischen Darstellungsformen, der sich in zunehmender Medialisierung von Geschichte niederschlägt (II). Schließlich ziehe ich Folgerungen für die Funktion und Aufgabe einer zukünftigen Geschichtsphilosophie (III). Selbstverständlich habe ich mich bei der Erfüllung dieses Programms um ein Höchstmaß an Objektivität bemüht, ich will aber nicht verschweigen, dass meine Analysen auf starken normativen anthropologischen Annahmen beruhen. Ich betrachte den Menschen als System von Bedürfnissen, das konfliktgeladen ist, so dass Geschichte immer ein heterogenes Kontinuum bilden wird. Noch etwas: Ich spreche als Vertreter einer älteren Generation, der das Lebensgefühl jüngerer Historiker fremd ist und die deren Wertungen als Ausdruck des Zeitgeistes empfindet. Aber vielleicht ist gerade die Distanz eine gute Voraussetzung dafür, die Geschichte besser zu verstehen und sie so zu nehmen, wie sie ist, war und immer sein wird: ein großes Laboratorium der Menschwerdung. DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES FLEXIBLEN MENSCHEN Die politische und ökonomische Entwicklung nach den beiden Weltkriegen hat ein neues Menschenbild hervorgebracht, dessen philosophische Wurzeln in der Aufklärung liegen. Die Autonomie des Subjekts hat im 19. Jahrhundert einen individualistischen Zuschnitt bekommen, der bei Max Stirner einen Allmachtsrausch des Ich ausgelöst hat. Sören Kierkegaard macht daraus ein sich permanent verfehlendes Ich, dessen Grundstimmung die Angst ist. Seit Martin Heidegger hat der Begriff der Angst das Lebensgefühl der Existenzphilosophen und Existenzialisten geprägt2. Diese Andeutungen mögen genügen, um den geistesgeschichtlichen Hintergrund aufzuzeigen, vor dem sich das Selbstverständnis des postmodernen Menschen im Zuge der Demokratisierung und des globalen Kapitalismus entwickelt hat. Der einzelne versteht sich heute primär als Ich oder Selbst, das sein Leben ohne Vorbilder entwerfen möchte. Die Analyse der Individualisierungsdynamik, die den Menschen aus der stabilen Sozialordnung gelöst hat, ist das Werk der Soziologie strukturell-funktionalen Zuschnitts. Sie ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Leitwissenschaft
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Wolfram Hogrebe: Deutsche Philosophie im XIX. Jahrhundert, München 1987.
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geworden und hat die Stelle der Geschichtswissenschaft eingenommen. Als einflussreichster Vertreter in Deutschland ist Ulrich Beck mit seinem 1986 erschienenen Werk Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne3 zu nennen. Der von Beck beschriebene Prozess der Individualisierung besteht in einem bisher nie dagewesenen Anspruch der einzelnen Menschen auf ein Leben nach eigenen Vorstellungen und Wünschen. Die Selbstdarstellung des zufälligen Soseins durchzieht alle sozialen Schichten und macht auch vor den gewachsenen Bindungen der Familie nicht halt. Interessant an Becks Darstellung ist, dass sie eine bestehende Situation beschreibt, zugleich aber die darin zum Ausdruck kommenden Wertungen teilt und sie damit befördert hat. Als kritische Ergänzung ist der amerikanische Soziologe Richard Sennett zu nennen, der in seinem Bestseller mit dem deutschen Titel Der flexible Mensch4 den Typus des rein gegenwartsorientierten Menschen vorstellt, den der neue Kapitalismus erzeugt und der nach Sennetts Meinung eine Form postmoderner Entfremdung darstellt. In seinem Buch Die Kultur des Neuen Kapitalismus5 aus dem Jahre 2005 nennt Sennett drei Charakteristika des neuen Individualismus: 1. die zeitliche Verkürzung von Bindungen an andere Menschen oder Institutionen; 2. die Verlagerung personaler Wertschätzung von vergangenen Leistungen auf potentielle Fähigkeiten und 3. die Bereitschaft, Gewohnheiten und Erfahrungen aufzugeben und sich ganz auf die Augenblickssituation zu konzentrieren. Hier wird deutlich, dass der MyWay-Individualismus mit einem Wandel des Zeitbewusstseins verbunden ist. Die Gegenwart wird als einzige Realität erlebt. Die Verschiebung des Lebensgefühls auf „Lust Jetzt“ hat der Kultursoziologe Gerhard Schulze in seinem Werk Die Erlebnisgesellschaft6 herausgearbeitet, in dem die Individualisierungsthese Becks im Hinblick auf das marktorientierte Konsumverhalten präzisiert wird. Den sich hier vollziehenden Wandel im Zeitbewusstsein hat schon 1955 der Soziologe Hans Freyer in seiner Theorie des gegenwärtigen Zeitalters7 aus konservativer Sicht als Verlust von Geschichtlichkeit angeprangert. Voraussetzung sind Industrialisierung und Bürokratisierung, die zu einer Art Mechanisierung der Gesellschaft geführt haben. Die neue Organisationsform nennt Freyer „sekundäres System“, dessen Logik die Machbarkeit der Sachen ist. Sekundäre Systeme, zu denen Freyer auch den sozial-demokratischen Kapitalismus der westlichen Welt zählt, reduzieren den Menschen auf die Funktionslogik des Systems. Das besagt: die Reduktion der Person auf Bedürfnisse und Fähigkeiten, mit denen das System sich erhält, stellt eine moderne Form der Entfremdung dar, die von den Betroffenen positiv als „Selbstverwirklichung“ erlebt wird. Dagegen setzt Freyer den Widerstand der Person, deren Autonomie auf Werthaltungen beruht, die historisch gewachsen sind. 3 4 5 6 7
Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/M. 1986. Richard Sennett: Der flexible Mensch, München 2000. Ders.: Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 2005. Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt/M. 1996. Hans Freyer: Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart 1955.
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Zwanzig Jahre später hat Helmut Schelsky in seiner Streitschrift Die Arbeit tun die anderen8 die Intellektuellen als neue Leisure Class ausgemacht, die das Individuum nur noch als Kommunikationssubjekt denken kann. Wie immer man zu Schelskys zeitbedingter Polemik gegen linksliberale Denker stehen mag, er hat richtig gesehen, dass emotionale Betroffenheit und individuelle Selbstdarstellung zwar institutionelle Zwänge überwunden haben, zugleich aber gefühlsgesättigten Selbsttäuschungen über das mögliche Maß an Autonomie Vorschub leisten. Das werde durch den soziologischen Handlungsbegriff verstärkt, der den sich autonom dünkenden Subjekten den Blick dafür verstellt, wie sehr sie von der Partizipation an ideologisch motivierten Trendgruppen abhängen. Der Aufstand, der 1968 noch politisch motiviert war, ist heute hedonistischen Verhaltens- und Verstehensmustern gewichen. Die Märkte bedienen sich virtuos der Macht der Medien, die das Private öffentlich machen und zur Profitmaximierung instrumentalisieren. Dabei handelt es sich nicht um eine rückgängig zu machende Verirrung, sondern um die geschichtliche Dialektik der Freizeitgesellschaft, die den Konsum als Sozialstatus erlebbar macht und damit die traditionellen Werte auflöst. Der Bruch mit der Kontinuität der Geschichte ist in Deutschland durch die Last der Verbrechen des Nationalsozialismus besonders radikal. Die Deutschen haben in den Nachkriegsjahren die Vergangenheit zunächst verdrängt, aber es ist doch der Grundstein zur Demokratisierung gelegt worden, der einen Neuanfang bedeutet. Als Kategorie der Abgrenzung dient die schnelle Folge der Generationen, die derzeit das Selbstwertgefühl der Enkel prägt, die nicht so sein wollen wie ihre Großeltern. Mit einem entlarvenden Blick für Verdrängungen brechen sie die verhängnisvolle Kontinuität auf und schaffen Freiraum für globale Wertbildungen. Das ist die gute Nachricht. Allerdings lauert auch hier eine Gefahr. Sie liegt darin, dass die Gegenwartsorientierung zur moralisierenden Selbstüberschätzung verleitet. Wo Geschichte nur noch als Gegenwart zugelassen wird, geht die Einsicht in epochale Strukturen verloren und wird emotionaler Instrumentalisierung Tür und Tor geöffnet. Ein bedenkliches Symptom ist die Erinnerungskultur mit ihren Verwerfungen. Hier werden Erinnerung und Gedächtnis miteinander verwechselt. Inszenierte Erinnerung Spätgeborener an Dinge, die sie gar nicht erlebt haben, dient nicht wirklich der Aufarbeitung der Vergangenheit, sondern fungiert eher als Alibi zur Verschleierung von Selbstgerechtigkeit. Historisches Gedächtnis dagegen produziert Bedeutungen, die den Erfahrungshorizont von Generationen übersteigen und damit vor Selbsttäuschungen bewahren. So vielschichtig die „andere Moderne“ auch ist, fest steht: Sekundäre Systeme, insbesondere solche der sanften und friedlichen Versklavung durch den Konsum, schneiden die Menschen vom Kontinuum der Geschichte ab. Das Erbe der Geschichte hat in der zweckrational durchkonstruierten Welt keinen Platz. Für das Alltagsbewusstsein bedeutet das nicht nur Aufkündigung der Herkunftsorientierung, sondern auch der Zukunftsorientierung. Die grassierenden Ängste vor der Belastung unserer Kinder und zukünftiger Generationen richten sich nicht wirklich auf 8
Helmut Schelsky: Die Arbeit tun die Anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen, München 1977.
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bessere Zukunft, sondern sind gefühlsgesättigte Projektionen der Angst, das dem Augenblick ergebene schöne Leben könnte zu Ende gehen: „Denn der Lebensstandard ist der Gott dieses Zeitalters, und die Produktion ist sein Prophet“9. Diese frühe Mahnung eines konservativen Denkers hat nichts an Aktualität eingebüßt10. So radikal die Moderne mit dem traditionalistischen Geschichtsverständnis auch gebrochen hat, das geschichtliche Erbe lässt sich nicht vollständig auslöschen11. Auch und gerade der durch dauernde Präsenz gestresste Mensch, der den Augenblick der Dauer vorzieht, braucht für seine personale Identität institutionell gefestigte Konstanten. Hier zeigt sich die Paradoxie der Individualisierung: Die Verabschiedung der großen Geschichte und ihrer leitenden Ideen von Autorität, Kontinuität und Verlässlichkeit hat eine neue Seite der Geschichtlichkeit aufgeschlagen, die näher am Menschen ist. Bedeutsam wird die Region, aus der man stammt, die Familie, in der man aufgewachsen ist und die einem die ontologische Sicherheit vermittelt, ohne die niemand ein gutes Leben führen kann. Die gefühlte Geschichte, die den einzelnen vor der Verrechnung durch das System bewahrt, stellt die Historiker vor neue Aufgaben, die ich im nächsten Abschnitt ansprechen möchte. FORMEN HISTORISCHER REPRÄSENTATION Ich werde nun der Frage nachgehen, wie sich in Folge der Individualisierung die Repräsentation von Geschichte gewandelt hat. Sicherlich bleiben meine Äußerungen pauschal, ich hoffe aber, sie liefern im Großen und Ganzen ein zutreffendes Bild der Entwicklung. An die Stelle der traditionellen Großerzählungen, die sich von überzeitlichen Ideen leiten lassen, ist die lebensweltliche Perspektive getreten, die das komplexe Geflecht von Strukturen und Handlungen durchleuchtet. Damit ist eine formale Änderung verbunden, die ich als Aufgabe der epischen Distanz kennzeichnen möchte. Die epische Distanz als normative Einstellung des Historikers ist dem Prinzip des Aktualismus gewichen, das Gegenwart und Vergangenheit auf die gleiche Ebene bringt. Natürlich ist die Vergangenheit nicht mehr Gegenwart, und der Historiker muss die Erlebniswirklichkeit objektivieren, aber es kommt auf den Standpunkt an. Die Geschichte „von oben“ ist der Repräsentation „von unten“, der Repräsentation vom Erlebnis aus gewichen, und damit ist der Weg für neue Leitbilder geebnet. Der lebensweltliche Aktualismus lässt sich an populärwissenschaftlichen Formen der Geschichtsdarstellung deutlich ablesen. Neben der Fülle von Memoiren und Biografien noch lebender Personen, vornehmlich von Politikern, Schauspielern und Sportlern, ist die mediale Aufbereitung der Geschichte im Fernsehen und im Internet zu nennen. Die Bilder, beziehungsweise die Mischung von dokumentari-
9 Freyer, Theorie, S. 91. 10 Meinhard Miegel: Epochenwende. Gewinnt der Westen die Zukunft? Berlin 2005. 11 Willi Oelmüller (Hg.): Wozu noch Geschichte? München 1977.
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schen Aufnahmen und nachgestellten Szenen unterstützen die emotionale Rezeption, die Friedrich Schiller im Hinblick auf das Drama als „pathologisches Interesse“ bezeichnet hat (Schiller an Goethe, 26. Dez. 1797). Heute sprechen wir von „Betroffenheit“, was dasselbe bedeutet. Die damit verbundenen Gefahren habe ich bereits angesprochen, aber Pathologien haben auch einen positiven Effekt. Sie machen deutlich, wie fließend die Grenze zwischen den Zeiten im menschlichen Dasein ist. Der Mensch lebt in der Gegenwart, aber der Unmittelbarkeit sind Grenzen gesetzt durch die Geschichten, in die wir verstrickt sind. Die historische Bildgestaltung zwischen Fiktion und Wirklichkeit entspricht dem modernen Prinzip der Individuation durch Selbstbilder oder Selbstkonzepte12. „Bild“ wird hier im metaphorischen Sinne verstanden. Es handelt sich um intuitive Gesamteindrücke, die in der Regel nur einen sehr geringen Anteil gesicherten Wissens enthalten. Das ist natürlich nichts Neues, da Geschichte, selbst wenn sie mit Ranke nur wiedergeben wollte, „wie es wirklich gewesen“, niemals ein getreues Abbild des Geschehens ist, sondern immer eine Interpretation, bei der Erinnerung, Erfahrung und Erwartung sich wechselseitig erhellen. Zweifellos hat sich der Bildcharakter der historischen Darstellung verstärkt, da das bewegte Leben des flexiblen Menschen schnelle Orientierungsmuster braucht, um situationsangemessen zu reagieren. So wie in der Lebenswelt niemand auf die diskursive Erschließung langfristiger Zusammenhänge warten kann, reagiert die historische Bildgestaltung auf Änderungen des Lebensgefühls, das als unreflektierter Hintergrund alle Entscheidungen und Handlungen der Menschen trägt. Die neue Form, Geschichte aus der Gegenwart heraus zu verstehen, klingt nach den Programmen von Robin George Collingwood13 und Benedetto Croce. Croces Diktum, dass Geschichte immer Zeitgeschichte sei, bezieht sich auf bestimmte geistige und humanitäre Werte, deren überzeitliche Geltung Croce aus der historischen Vernunft ableiten wollte14. Sicherlich gibt es keine wertfreie historische Bildgestaltung, aber das derzeitige Interesse richtet sich eher auf die Inkommensurabilität von Leitwerten und erlebter Wirklichkeit. Eine Bestätigung finde ich in Siegfried Kracauers posthum erschienenen Werk Geschichte – Vor den letzten Dingen15. In Analogie zu seiner Theorie des Films, die den Untertitel Die Errettung der äußeren Wirklichkeit trägt, entwickelt Kracauer Geschichte im Medium der Phänomenalität, wobei er sich auf Edmund Husserls späte Phänomenologie der Lebenswelt bezieht. Geschichtliche Wirklichkeit ist immer durch das Lebensgefühl des Betrachters imprägniert, aber darum nicht weniger wirklich: „Als Produkte von Bedürfnis wie von Zufall und Freiheit definieren und erfüllen diese Phänomene – immens konkrete und virtuell unerschöpfliche Phänomene – ein Universum, das viele Züge mit der
12 Ferdinand Fellmann: Selbstbild als Fiktion. Zur medialen Theorie der Subjektivität, in: Christian Bermes u.a. (Hg.), Die Stellung des Menschen in der Kultur. Festschrift für Ernst Wolfgang Orth, Würzburg 2002, S. 21–40. 13 Collingwood, Idea of History. 14 Benedetto Croce: Die Geschichte auf den allgemeinen Begriff der Kunst gebracht. Aus dem Italienischen übersetzt und eingeleitet von Ferdinand Fellmann, Hamburg 1984. 15 Siegfried Kracauer: Geschichte – Vor den letzten Dingen, Frankfurt/M. 1971.
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Lebenswelt gemein hat. Einer Sphinx gleich heben sie sich von ihr ab wie ihre Gegenpole in der Welt, in der wir leben“16. Wie das gemeint ist, erläutert Kracauers Kommentar zu einem Interview mit einem amerikanischen Historiker, der die Geschichte der Weimarer Republik erforschen wollte: „Ich hatte am Leben der Gemeinschaft, deren Geschichte er berichten wollte, teilgenommen. Lebhaft fiel mir in unserer Diskussion auf, dass alles, was er bisher ausgegraben hatte, tatsächlich stimmte, nichts hingegen sich so zutrug, wie er es berichtete“17. Die Bewältigung dieser ontologischen Differenz macht Kracauer den Historikern zur Aufgabe, und vieles spricht dafür, dass die heutige Historik dieser Aufgabe im Großen und Ganzen gerecht wird. Der Gewinn liegt meines Erachtens nicht primär in einem Mehr an Objektivität, sondern in der Erschließung eines lebensweltlichen Wirklichkeitsbegriffs, der denen Gerechtigkeit widerfahren lässt, die im Schatten der großen Haupt- und Staatsaktionen gelebt haben. Auch in der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung ist der Perspektivenwechsel unübersehbar. Er bedeutet aber keine Rückkehr zu den unüberschaubaren partikularen Geschichten, aus denen sich „die Geschichte“ als Kollektivsingular emanzipiert hat. Es bleibt bei Darstellungen von Epochen und überpersönlichen Verläufen, aber diese treten nicht mehr als überzeitliche Mächte auf, denen die Handelnden bedingungslos unterworfen sind. Demgegenüber hat sich eine Dezentrierung der Geschichte durchgesetzt, die Entscheidungen in Situationen immer als Gemenge von Sachzwängen, Überzeugungen und psychologischen Charakteren begreift. Der Kollektivsingular „Geschichte“ wird damit mehrdeutig, Geschichte bekommt einen anderen Aggregatzustand. Das Kontinuum der Motive weist Löcher auf, die aussagekräftiger sind als die Logik der Entwicklung, die der Subjektivität keinen Raum gibt. Ich möchte das durch einen kurzen Blick auf ein neueres Werk der politischen Geschichte illustrieren, auf Hans August Winklers Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie18. Ich will nicht die fachliche Qualität des Buches beurteilen, sondern lediglich auf formale Eigenarten hinweisen, die für meine These von der Dezentrierung der Geschichte sprechen. Es handelt sich erklärtermaßen um eine Problemgeschichte mit Schwerpunkt Politik. Es geht dabei nicht primär um die Idee des Staates, sondern um die aus den Quellen erarbeitete Komplexität der Verhältnisse, auf denen der Staat gleichsam aufsitzt. Statt von einem historischen Universum kann man geradezu von einem Multiversum sprechen. Spielräume der Entscheidungsfreiheit und Grenzen der Offenheit von Situationen, Strukturen und Ereignisse durchdringen sich gegenseitig und schaffen unlösbare Situationen, in denen die Akteure zu tragischen Existenzen werden. Auf der kategorialen Ebene spielen soziologische und psychologische Begriffe ineinander, Analyse und Erzählung bilden keinen Gegensatz. So verwundert es nicht, dass für
16 Ebd., S. 95. 17 Ebd., S. 87. 18 Hans A. Winkler: Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 1993.
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Winkler Geschichtsschreibung auch immer „Trauerarbeit“ ist. Das erinnert an Hegel, ist aber kein Bekenntnis zum „Weltgeist“ in der Geschichte. Objektivität und Subjektivität sind für die heutige Geschichtsschreibung zwei Seiten derselben Medaille und stehen im Verhältnis der Komplementarität zueinander. Auch hier wieder die Lebenswelt mit ihren Paradoxien, die Geschichtlichkeit als in Geschichten-verstrickt-sein erscheinen lassen. Ein noch deutlicheres Beispiel für die gegenwärtige Tendenz, Geschichte vom Erlebnis aus darzustellen, liefert das Buch Die Stalingrad Protokolle von Jochen Hellbeck19. Die Schlacht um Stalingrad wird nicht mehr allein als kriegsentscheidender Wendepunkt im Russlandfeldzug dargestellt, sondern auch und primär als Zusammenbruch der beide Kriegsparteien beherrschenden Wertvorstellungen. Absoluter Gehorsam und Unterordnung unter die Logik der Vernichtung zeigen ihr unmenschliches Gesicht und weisen die Grenzen des offiziell gefeierten soldatischen Heldentums auf. Ich sehe in diesem Ansatz einen Fortschritt in der Erschließung des heterogenen Kontinuums der geschichtlichen Wirklichkeit, die der Wirklichkeit des individuellen Erlebens näher kommt, ohne mit ihr zusammenzufallen. Allerdings dürfen die auch hier lauernden Gefahren der Repräsentation durch Augenzeugen nicht unterschlagen werden. Die „Trauerarbeit“, von der Winkler spricht, darf nicht zu einem Emotivismus verkommen, der die Geschichte zur Projektionsfläche ungeklärter gegenwärtiger Lebensgefühle macht. Es ist die Kunst historischer Vergegenwärtigung, die Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart in einem Bild aufzuheben, das beiden Seiten gerecht wird. PERSPEKTIVEN DER GESCHICHTSPHILOSOPHIE Im ersten Abschnitt meines Vortrags habe ich die postmoderne Lebenswelt im Lichte der Individualisierungsthese von Ulrich Beck beschrieben. Das Lebensgefühl des „expressiven Individualismus“ (Robert Bellah) ist gegenwartsorientiert und wird vom einzelnen positiv als Eröffnung von Beteiligungsmöglichkeiten an politischen und sozialen Gestaltungen empfunden. Die neuartigen Milieus selbstverwirklichungsorientierter Individualisten bedienen sich kommunikativer Infrastrukturen, die sich zunehmend in elektronischen Medien herausbilden und die virtuelle Partizipation am politischen Leben erzeugen. Der Gewinn an Freiheit birgt allerdings die Gefahr einer Fiktionalisierung des Subjekts, das zum Spielball wechselnder Signale und unstabiler Stimmungen wird. „My Way“ hat nichts mehr mit Selbstgesetzgebung zu tun, sondern hängt am Tropf von „Lust Jetzt“. Welche Veränderungen die Individualisierungsdynamik im historischen Bewusstsein erzeugt, habe ich im zweiten Abschnitt darzustellen versucht. Eine weitgehende Auflösung der „Geschichte an sich“ in „Geschichte für uns“ ist unübersehbar. So wird beispielsweise die neuere deutsche Geschichte zum Beleg dafür, dass bildungsbürgerliche Werte ein ganzes Volk nicht vor kollektivem Wahn und verbrecherischem Handeln bewahren konnten. Damit wird der idealistische Glaube 19 Jochen Hellbeck: Die Stalingrad Protokolle, Frankfurt/M. 2012.
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an die Vernunft in der Geschichte Lügen gestraft. Diese erschütternde Erfahrung spiegelt sich auch in neueren wissenschaftlichen Werken. Der Zusammenbruch des Idealismus muss jedoch nicht in einem historischen Skeptizismus enden, der die Vergeblichkeit aller Bemühungen, in der Geschichte etwas anderes als ein unbeherrschbares Chaos zu sehen, an die Wand malt. Das neue Geschichtsbewusstsein wird vielmehr von einer produktiven Skepsis getragen, die davon überzeugt ist, dass historisches Bewusstsein näher am Menschen zu mehr Gerechtigkeit und Frieden in der Welt beitragen kann. Abschließend möchte ich nun zeigen, wie die Geschichtsphilosophie auf die postmoderne Dezentrierung der Geschichte reagiert. Der erste Eindruck geht dahin, dass die schon in den 1970er Jahren registrierten Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie20 von Odo Marquard zu ihrer völligen Auflösung geführt haben. Niemand will mehr von Geschichtsphilosophie etwas wissen, auch und schon gar nicht die Historiker. Sie werfen der Geschichtsphilosophie als Theorie der „Geschichte an sich“ vor, dass sie Geschichte wie die Natur als überpersönliche Macht anerkennt, deren epochale Verlaufsmuster der Entscheidungsfreiheit des Menschen keinen Raum lassen. Unter diesem Verdacht ist es nicht verwunderlich, dass alle Versuche einer Rehabilitierung der Geschichtsphilosophie seitens akademischer Philosophen im Sande verlaufen und zu allgemeinen Reflexionen über den Gang der Welt verdampfen21. Ist damit das Ende der Geschichtsphilosophie wirklich definitiv besiegelt? Eine Antwort auf diese Frage erfordert einige begriffliche Vorklärungen im Blick auf die Geschichte der Geschichtsphilosophie22. Traditionell wird Geschichtsphilosophie in materiale und formale eingeteilt. Für die materiale Geschichtsphilosophie mag die Neue Wissenschaft23 von Giambatista Vico, für die formale Georg Simmels Probleme der Geschichtsphilosophie24 stehen. Freilich wird die scharfe Trennung beider Formen der Geschichtsphilosophie nie streng durchgehalten. In Vicos Neuer Wissenschaft25 finden sich Überlegungen zu den geistigen Voraussetzungen, unter denen Geschichte erkannt werden kann, und umgekehrt enthält Simmels erkenntnistheoretische Studie implizit ein Bild von der Gesamtentwicklung der menschlichen Kultur. Gustav Droysens Historik26 ist das klassische Beispiel für das Zusammenwirken von materialer und formaler Geschichtsphilosophie, das bis in die heutigen Reflexionen über Geschichte hineinwirkt. Dahinter steht Hegels Geschichtsphilosophie mit ihrem Glauben an die Vernunft in der Geschichte. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts ist Hegels objektiver Idealismus 20 Odo Marquard: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt/M. 1973. 21 Jürgen Große: Geschichtsphilosophie heute, in: Philosophische Rundschau 55 (2008), S. 123– 155; S. 209–236. 22 Emil Angehrn: Geschichtsphilosophie zur Einführung, Basel 2012. 23 Giambatista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, übers. V. Vittorio Hösle und Chr. Jermann, Hamburg 1990. 24 Georg Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine erkenntnistheoretische Studie, München/Leipzig 1923. 25 Vgl. Vico, Prinzipien. 26 Vgl. Droysen, Historik.
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durch Karl Marx zwar materialistisch umgekehrt worden, aber auch in der Umkehrung ist der Glaube an die Vollendung der Geschichte erhalten geblieben27. Das gilt selbst für die westeuropäische Parallelaktion zu Hegels Geschichtsphilosophie, nämlich für August Comtes Rekonstruktion des Zivilisationsprozesses im Geiste der Soziologie. Comte lässt die Geschichte in einem „positiven Zustand“ auslaufen, in dem die Gesellschaft eine endgültige Funktionsordnung im Zeichen des Nützlichkeitsprinzips unter der Herrschaft von Wissenschaft und Technik erreicht habe. Auch im Lichte zunehmender Zweifel an der Vollendung der Geschichte bleibt Hegels Idee der Geschichte als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit als Perspektive der Geschichtswissenschaft unhintergehbar. Unter Freiheit ist hier freilich nicht ein absoluter Willensakt gemeint, sondern die Fähigkeit des Menschen, die Vorstellung seiner Herkunft auf die Entstehung seines vorstellenden Bewusstseins selbst auszudehnen. Eine frühe Bestätigung hat Arthur Schopenhauer geliefert, der den wissenschaftlichen Charakter der Geschichte leugnet und Hegels Philosophie der Geschichte als Versöhnung von Vernunft und Wirklichkeit als Trugbild denunziert. Trotz seiner anthropologisch fundierten Skepsis erkennt Schopenhauer der Geschichte dann doch einen eigenen Wert zu. Dieser liege darin, dass sie „das vernünftige Selbstbewusstsein des menschlichen Geschlechts repräsentiert“. Die Geschichte vertrete das erinnernde Selbstbewusstsein des einzelnen Menschen; erst durch sie werde das menschliche Geschlecht „wirklich zu einem Ganzen einer Menschheit“28. Der Standpunkt des kollektiven Bewusstseins fasst die verschiedenen Fragen der klassischen Geschichtsphilosophie zusammen, so die Frage nach dem Subjekt der Geschichte, nach ihrem Verlaufsmuster, nach Ursprung und Ziel – alles Fragen, die auch in der nie verstummenden Frage nach dem Sinn der Geschichte gebündelt sind. Vor diesem Hintergrund wird sichtbar, was Geschichtsphilosophie heute noch leistet. Ihre stärkste Transformation hat die klassische Geschichtsphilosophie darin erfahren, dass die tiefen Schichten der lebensweltlichen Erfahrung freigelegt worden sind. Es gehört zu den epochalen Einsichten der Phänomenologie der Lebenswelt, dass menschliches Handeln immer vor einem impliziten Hintergrund von Selbstverständlichkeiten abläuft. Dieser Hintergrund ist die kollektive Subjektivität, in der sich elementare Werthaltungen ausbilden. Ich möchte dafür den Begriff „Lebensgefühl“ terminologisch stark machen, der emotionale und kognitive, individuelle und kollektive Momente verbindet. Heinrich Mann hat in seinem Buch Ein Zeitalter wird besichtigt29 das Lebensgefühl zum Reflexionsbegriff gemacht, der die Geschichte gleichsam von innen beleuchtet. Hier einige Schlüsselsätze: „Nicht mißzuverstehn, notgedrungen ehrlich ist das Lebensgefühl. Wäre es schmerzlich bis nahe der Selbstvernichtung, das Leben stark fühlen ist alles. Es ergibt die Werke und die Taten. Es bannt das menschliche Gefolge […]. Unzählig sind die Werke des Lebensgefühls, die nichts als das sind […]. Ein Weltgeschehen, kaum begriffen, 27 Johannes Rohbeck: Geschichtsphilosophie zur Einführung, Hamburg 2008. 28 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, 2 Bde., Frankfurt/M. 1986 (WWV), hier Bd. II, S. 571 f. 29 Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt, Reinbek 1976.
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die Gesinnung teilt man nicht, unwiderstehlich ist allein das entfesselte Lebensgefühl, – es begleitet jedes Verhängnis“30. Die Geschichte im Lichte des Lebensgefühls unterscheidet sich von reiner Geistesgeschichte, von Mentalitätsgeschichte dadurch, dass sie die Realfaktoren berücksichtigt, die für die Entstehung von Lebensgefühlen verantwortlich sind. Es handelt sich um Voraussetzungen des sozialen Lebens, die elementare Bedürfnisse befriedigen: Wirtschaft, Technologien und Künste. Sie alle haben den Status symbolischer Funktionen. Ihre Symbolik hängt nicht in der Luft, sondern folgt Anpassungen an sich verändernde Lebensbedingungen. Hier greift das Muster von Robin G. Collingwood: challenge and response31, Herausforderung und Antwort. Neben den Herausforderungen der Natur sind es die der Geschichte, so dass Geschichte nur gegen Geschichte gemacht und begriffen werden kann. Das gilt selbst für Entwicklungen, die kontinuierlich verlaufen. Ob Bruch oder Kontinuität, Geschichte fungiert immer als Reflexionsmedium, dessen Ambivalenz Heinrich Mann eindrucksvoll herausgearbeitet hat. Was bei Heinrich Mann bereits anklingt, hat die Geschichtsreflexion im ausgehenden 20. Jahrhundert voll ausgearbeitet. Im Jahre 1989 hat Francis Fukuyama in einem Aufsatz mit dem provozierenden Titel Das Ende der Geschichte (The End of History)32 Furore gemacht. Er will damit natürlich nicht sagen, dass sich nichts mehr ereigne. Das Ende bezieht sich vielmehr auf die Ideen und Werte, von denen sich die Menschen in ihrem Handeln leiten lassen. Der Sieg der liberal-kapitalistischen Gesellschaftsordnung habe den kommunistischen Kollektivismus für immer desavouiert und das Individuum als Element der Welt etabliert. Damit gehen postmoderner Individualismus und Posthistoire Hand in Hand. Die Einheit von Individuum und Geschichte „von unten“ verhält sich spiegelbildlich zur Zweckharmonie „von oben“ bei Hegel und Comte33. Dagegen vertrete ich die These, dass es sich in beiden Fällen um eine perspektivische Täuschung handelt. Die Einheit von großer und kleiner Geschichte kann nie definitiv sein, weil der Mensch den Zustand, den er erreicht hat, immer durch die Phantasie überschreitet. Es bleibt eine Diskrepanz von Erwartung und Erfüllung, die neue und unvorhersehbare Konstellationen und Werte erzeugt. Das Fazit meiner Überlegungen lautet: Geschichte nimmt kein Ende. Der Geschichtsphilosophie heute, so meine These, bleibt die Aufgabe, die Faktoren zu klären, die Geschichte als offenes System lesbar machen. Die Reflexion auf die Geschichte, die jenseits von materialer und formaler Geschichtsphilosophie zum Menschsein gehört, geht damit in Anthropologie über. Ein großes Thema der historischen Anthropologie ist das Verhältnis von Natur und Kultur, das seit Darwins Evolutionstheorie die Menschen beschäftigt. Durch die Gentechnologie haben sich die Grenzen der Machbarkeit verschoben, der Mensch macht nicht nur die Geschichte, sondern zunehmend auch sich selbst. Aber auch hier greift die Dialektik der Geschichtlichkeit des Menschen: Die Erwartungen des sich selbst erfindenden 30 31 32 33
Ebd., S. 5 f. Robin G. Collingwood: The Idea of History, Oxford 1946. Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? München 1992. Auguste Comte: Die Soziologie. Die positive Philosophie im Auszug, Stuttgart 1974.
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Menschen werden enttäuscht, es bleibt ein Rest, der sich nicht restlos organisieren lässt. So verhält es sich auf allen Ebenen des menschlichen Daseins und Mitseins: Nähe und Distanz, das Eigene und das Fremde kommen niemals zur Deckung und halten die Welt am Laufen. Die Dynamik liegt in der Spannung von Geschichte „an sich“ und Geschichte „für uns“. Beide sind unverzichtbar. Die große Geschichte, die mehr ist als die Summe der kleinen Geschichten, brauchen wir, um nicht aus der Welt zu fallen. Nur muss man sich darüber klar sein, dass es sich dabei nicht um eine Bestimmung handelt, die dem Menschen von einer außerweltlichen Macht auferlegt ist. Es handelt sich vielmehr um die Rückseite der Entscheidungen und Handlungen, die das Geflecht der geschichtlichen Wirklichkeit ausmachen, des Weltlaufs, gegen den keine Planung auf Dauer ankommt. Die Realität der alle Menschen verbindenden einen Geschichte ist eine notwendige Annahme, zu der wir aufgrund der Kontingenz und Endlichkeit unserer Existenz gezwungen werden. In der Rückschau bedeutet Geschichte, dass sich nichts mehr ändern lässt. Als solche ist sie gleichgültig und stumm wie das Weltall. Aber im Lichte unseres Willens zum Leben wird die Geschichte zum Sinnversprechen, zur Aufforderung, sie zu bewerten und zu gestalten. Die Geschichtswissenschaft liefert solche wertenden Deutungen, die zwar kulturell bedingte Konstruktionen sind, die aber nicht beliebig ausgedacht werden, sondern Antworten auf die Faktizität der Ereignisse bieten. Sie ist der Fels, an dem sich der Spaten unserer Deutungen zurückbiegt. Durch die neuen Wissenschaften vom Menschen hat sich die Menge der Faktoren, welche in der geschichtlichen Wirklichkeit zusammenwirken, unüberschaubar vermehrt. Um hier die Übersicht zu behalten, ist ein strukturell-funktionaler Zugang erforderlich, der die klassische Opposition von Idealismus und Naturalismus aufhebt. Dem entspricht die gegenwärtige Tendenz, Geschichtsphilosophie in den Kulturwissenschaften aufgehen zu lassen. Kultur wird nicht mehr als von der Natur abgekoppelter Überbau betrachtet, sondern als integrales Medium, in dem sich Gene und Meme, Notwendigkeit und Freiheit in Situationen berühren. Daher möchte ich abschließend vorschlagen, die traditionelle Frage der Geschichtsphilosophie nach Ursprung und Ziel der Geschichte zu transformieren in die Frage: Wie sollen wir mit der Geschichte umgehen? Meine Antwort lautet: respektvoll distanziert. Das Pathos der Distanz macht Geschichte lesbar. „Lesbarkeit der Geschichte“ ist weniger als „Sinn der Geschichte“, aber mehr als bloßes Registrieren von Tatsachen34. Geschichte ist in einer Sprache geschrieben, die wir nur verstehen, wenn wir uns selbst verstehen. Und wir verstehen uns selbst durch Wertvorstellungen, die sich im Laufe der Geschichte gebildet haben. Darin unterscheiden wir uns von den Tieren, die zwar auch Produkt der Evolution sind, aber in der Gegenwart gefangen bleiben, da ihnen das Bewusstsein der verfließenden Zeit offenbar fehlt. Tiere kön-
34 Ferdinand Fellmann: Geschichte als Text. Ein Plädoyer für die Geschichtsphilosophie, in: Information Philosophie 4 (1991), S. 5–14. Vgl. auch ders.: Das Vico-Axiom. Der Mensch macht die Geschichte, Freiburg/München 1976.
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nen über die Zeit hinweg keinen Bezug zur Vergangenheit herstellen. Mit Schopenhauer zu sprechen: „Daher ist jede Lücke in der Geschichte wie eine Lücke im erinnernden Selbstbewusstsein eines Menschen; und vor einem Denkmal des Uraltertums, welches seine eigene Kunde überlebt hat, wie z. B. die Pyramiden, Tempel und Paläste in Yukatan, stehn wir so besinnungslos […] wie ein Mensch vor seiner eigenen alten Zifferschrift, deren Schlüssel er vergessen hat“.35 Geschichte trägt zur Objektivierung unseres gegenwärtigen Lebensgefühls bei, ohne den lebensweltlichen Standpunkt zu verlassen. Dazu gehört für mich die Einsicht, dass wir Menschen, die wir als Handelnde und als Forschende unsere Geschichte „machen“, alle im Strom der einen großen Geschichte treiben und getrieben werden, ohne jemals genau zu wissen, wohin.
35 Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung, Bd. II, S. 571.
DIE WIRKLICHKEIT DES KRANKEN Medizinhistorische Wirklichkeitsrepräsentationen am Beispiel der Psychiatrie und ihrer Historiker /-innen Thomas Müller Was macht die Wirklichkeit eines kranken Menschen aus, wie gelangt man zu ihrem Verständnis und wie finden sich Konstruktionen und Deutungsangebote dieser Wirklichkeit in den einschlägigen Wissenschaften repräsentiert? In welchem Zusammenhang stehen Repräsentationen des Kranken zur jeweiligen Lebenswelt historisch Forschender, und in welcher Form interferieren diese miteinander? Ein in doppelter Hinsicht interessanter Gegenstand ist in diesem Sinne die medizinische Subdisziplin der Psychiatrie in historischer Perspektive: denn zum einen war der Krankheitsbegriff der Psychiatrie, auch seine Definitionen und Implikationen, über die Zeit immer wieder ein Gegenstand besonders kontroverser Auseinandersetzungen – und wird dies womöglich auch bleiben. Zum Zweiten weisen Krankheiten und Krankheitsbilder in diesem Bereich der Medizin häufig auf ein mehrfach gebrochenes Bild der Wirklichkeit hin. Denn in Bezug auf den psychisch Kranken und seinem Gegenüber tritt neben der auch in anderen Zusammenhängen bekannten, interindividuellen Varianz der Perspektiven, und neben der möglichen Divergenz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung, hier mitunter auch eine Diskrepanz der Normen und Definitionen von Wirklichkeit hinzu. Das Verhältnis zwischen wissenschaftlicher Aussage und Realität des Subjekts scheint hier gewissermaßen um eine Analyseebene komplexer. Im vorliegenden Beitrag wird einleitend der Repräsentanz der Wirklichkeit des Kranken in historisch-wissenschaftlichen Publikationen nachgegangen. Beginnend mit älteren, als klassisch-medizinhistorisch und ‚arzt-zentriert‘ zu bezeichnenden Methoden,1 wie der Institutionsgeschichte2 oder der ärztlichen Hagio-Biographik, die sich den Anspruch, die Wirklichkeit des Kranken beziehungsweise der zu Behandelnden inhaltlich wie perspektivisch erfassen zu wollen, gar nicht zu eigen gemacht hatten, wird übergeleitet zu jüngeren Ansätzen, die sich im Sinne des Versuchs der Inklusion des Subjekts des Patienten von den Erstgenannten unterscheiden. Diese historiographischen Ansätze erheben den Anspruch, nicht mehr allein die Lebenswelt und Wirklichkeit der im Auftrag der Medizin Handelnden, sondern 1 2
Eberhard Wolff: Perspektiven der Patientengeschichtsschreibung, in: Norbert Paul/Thomas Schlich (Hg.): Medizingeschichte: Aufgaben, Probleme, Perspektiven. Frankfurt/M. u.a. 1998, S. 311–334, S. 313. Vgl. u.a. Dieter Jetter: Grundzüge der Geschichte des Irrenhauses, Darmstadt 1981.
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auch die Wirklichkeit der Behandelten, der (Welt der) Patienten zu offenbaren, indem patientengebundene Quellen einbezogen, und im postmodernen Selbstverständnis um die Person des Kranken erweiterte Narrative angeboten werden. Diese Wirklichkeits-Repräsentationen werden kritisch diskutiert. Die sich hieran anschließende Reflektion lebensweltlicher Aspekte medizinhistorisch Forschender trägt der Einbeziehung des Forschenden selbst, im Sinne einer aktuellen Standortbestimmung, Rechnung. Überlegungen zur Beziehung zwischen akademischer Forschung einerseits und sogenannter Public History andererseits, runden diesen Beitrag ab. THEORIEBILDUNG UND WIRKLICHKEITSREPRÄSENTATION: DAS BEISPIEL PSYCHIATRIEGESCHICHTE Die im Sinne der Genese des Fachs Medizingeschichte zunächst im deutschen Sprachraum ursprünglichen Methoden und Ansätze historischen Arbeitens umfassen unter anderem die Institutionsgeschichte, die positivistische ‚Fortschritts-‘ Geschichte medizinischer Entdeckungen, ärztliche Behandlungsberichte (Kasuistiken), sowie die biographische, hagiographische Geschichte des medizinischen Personals („Berühmte Ärzte“).3 Manchen dieser Erzählweisen von Geschichte darf man sicher zu Recht die in Fachdebatten vielzitierte Bezeichnung „Whig history“ beistellen.4 Die handwerkliche Ausrichtung – vor allem – der deutschsprachigen Medizingeschichte entlang der genannten Traditionen der Geschichtsschreibung wiederum ist mit der Entstehung der sich institutionalisierenden Medizingeschichte aus der Klinik heraus zu erklären: wesentliche Anregungen zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Geschichte der eigenen Tätigkeit kamen auch aus der Klinik selbst, frühe Akteure waren zum Teil klinisch Tätige. Positionelle Vorentscheidungen im deutsch-sprachigen Raum – wie die anteilig beträchtliche Anwerbung von Promovenden aus der Medizin, oder die bis heute währende Zugehörigkeit der Medizingeschichte zu den medizinischen Fakultäten, stehen ebenfalls in diesem Zusammenhang. Die charakteristische Entwicklung des Faches Medizingeschichte im genannten Raum ist nur derart vollständig nachvollziehbar. Auch, dass sich zuweilen eine inhaltliche Bezugnahme auf ‚current trends‘ der Medizin und Psychiatrie finden lässt, steht mit der Genese der Disziplin in Zusammenhang, ebenso wie die Gründung einschlägiger, wissenschaftlicher Vereine, wie 1901 in Hamburg, oder Instituten, wie 1906 in Leipzig.5 Eine deutliche Erweiterung des jeweiligen metho-
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Hier ist auch das Genre der Pathographie zu erwähnen, dessen retrospektive Diagnostik zu i.d.R. längst verstorbenen, ‚berühmten‘, männlichen Patienten aus mehreren methodologischen Gründen in der heutigen Medizinhistoriographie kaum mehr Akzeptanz findet. Siehe Wilhelm Lange–Eichbaum und Wolfram Kurth: Genie, Irrsinn und Ruhm. Siebente, völlig überarbeitete Auflage von Wolfgang Ritter. 11 Bde, Basel 1986–1996. Herbert Butterfield: The Whig Interpretation of History, New York City 1931. Andreas Frewer und Volker Roelcke (Hg.): Die Institutionalisierung der Medizinhistoriographie. Entwicklungslinien vom 19. ins 20. Jahrhundert, Stuttgart 2001, S. 9–25, sowie der
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dologischen Spektrums der Medizingeschichte erfolgte im Verlauf des 20. Jahrhunderts häufig durch in der Allgemeingeschichte entwickelte Ansätze und Konzepte, sowie durch internationale Rezeption. Beispielsweise die Initiierung und Etablierung der Studien zur Medizin im deutschen Nationalsozialismus wurden, neben der Initiative einiger weniger deutscher Akteure im Fach, wesentlich auch von ausländischen, zumal angelsächsischen Publikationen, sowie durch Beiträge von außerhalb der ‚Academia‘ angeregt und erweitert. Mit der Integration der Patientenperspektive in die psychiatriehistorische Forschung verhält es sich kaum anders: allgemeinhistorische, häufig aus der Gesellschaftsgeschichte des In- und Auslands rezipierte Ansätze und Methoden erweiterten das Spektrum psychiatriehistorischer Forschung. Nur wenige Autoren, wie beispielsweise Kaplan 1962 oder Peterson 1982, bezogen die Perspektive des Kranken – seine Wirklichkeit – vor den 1980er Jahren in ihre historiographische Arbeit ein. Bahnbrechend waren die Arbeiten des britischen Sozial- und Medizinhistorikers Roy Porter, deren Titel bereits programmatisch etwa lauteten: „The Patient’s View: Doing Medical History from Below“.6 Breit rezipiert wurden im deutschsprachigen Raum auch die Arbeiten des amerikanischen Soziologen Andrew Scull.7 Weniger bekannt ist, dass Buckley und Sander bereits 1974 in „The History of Psychiatry from the Patient’s Viewpoint“ für die Integration autobiographischer Patientenberichte in die Geschichtsschreibung der Psychiatrie plädierten.8 Die Autoren erachteten diese Perspektiverweiterung für besonders geeignet, um zu vermeiden, dass Lernende „neuen“ Trends und Heilsversprechen der psychiatrischen Therapie jeweils mit einem unbegründeten Maß an Optimismus begegneten. Ihre Zielgruppe waren somit die mit der klinischen Ausbildung Betrauten. MICHEL FOUCAULTS BEITRÄGE: NEUES UND ALTES Erst in den 1970er Jahren beginnt im Deutschsprachigen auch eine nennenswerte Rezeption der psychiatriehistorisch orientierten Beiträge von Michel Foucault. Es ist Foucault und dem immensen Einfluss seiner Schriften zu verdanken, dass die Geschichte der Psychiatrie, sowie deren scheinbar so schmutzig-anrüchige und immer am Rande der Legalität zu situierenden Inhalte seit den 1960er Jahren eine
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Beitrag von Marcel Bickel, dortselbst, S. 213–234, v.a. S. 218–225; ebenso Frank Huisman and John Harley Warner (eds.): Locating Medical History. The Stories and Their Meanings, Baltimore and London 2004, hier u.a. S. 335–2 und S. 74–94. Bert Kaplan: The Inner World of Mental Illness, New York 1962. Dale Petersen: A Mad People’s History of Madness, Pittsburgh 1982. Roy Porter: The Patient’s View. Doing Medical History from Below. Theory and Society 14:2 (1985), S. 175–198. Roy Porter: A Social History of Madness. Stories of the Insane, London 1987. Vgl. Andrew T. Scull: Museums of Madness, New York 1979, sowie Andrew Scull (Hg.): Madhouses, Mad-Doctors and Madmen. The Social History of Psychiatry in the Victorian Era, Philadelphia 1981. Peter Buckley/Fred Sander: The history of psychiatry from the patient’s view-point. American Journal for Psychiatry 131 (1974), S. 1147–1150.
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solch hohe Bedeutung und Attraktivität zukam, dass sie, wie Scull formulierte,9 vor der eindimensionalen Arbeitsweise allein quantitativ vorgehender Forscher und Forscherinnen gerettet wurde. Meiner Ansicht nach ist bei der Klärung der Gründe für eine derart große Attraktivität, insbesondere Foucaults medizinisch-psychiatrisch relevanter Schriften für Frankreichs Academia, wie auch für die Kaffeehauskultur des Landes, in Rechnung zu stellen, dass das Misstrauen der französischen Nachkriegs-Gesellschaft gegenüber der (französischen) Psychiatrie und ihren Vertretern ähnlich groß war, wie schon einmal im späten 19. Jahrhundert.10 Gut erklären lässt sich dies nur retrospektiv: die intensive historiographische Aufarbeitung der französischen Psychiatriegeschichte des 20. Jahrhunderts, insbesondere der Jahre des Zweiten Weltkriegs, der Frage der Kollaboration französischer Einrichtungen und Akteure mit NS-Instanzen, auch die Frage des Hungersterbens in der französischen Psychiatrie, fand kaum vor den 1990er Jahren statt.11 Das Aufbegehrende in Foucaults Werk folgt also nachvollziehbaren emotionalen Impulsen sowie angestrebtem Wissenszugewinn und intellektueller Entwicklung gleichermaßen. Derart zum seriösen Gegenstand der historischen Forschung geworden, kam der Psychiatrie und ihrer Geschichte durch die zum Teil mutigen, zum Teil einfach gewagten Thesen Foucaults in der Folge noch mehr Aufmerksamkeit zu. Dass seine Kategorien, wie in „Die Ordnung der Dinge“ gelistet, zum Teil bizarr waren, sein Vokabular labyrinthisch, auch dass seine Studien der klassisch-historischen Methodologie zuweilen gänzlich entbehrten und sein Frankozentrismus mit sich brachte, dass manche seiner Thesen auf andere europäische geo-kulturelle Räume, beispielsweise in weiten Teilen auf die englische Psychiatrie, nicht (oder nur zu anderen Zeiten und Epochen) anzuwenden waren, ist ebenfalls korrekt.12 Schwerer wiegt für viele historisch-wissenschaftlich zur Geschichte der Psychiatrie Arbeitende jedoch, dass Foucault ausgerechnet aus dem Thesenkonglomerat des im Deutschen als „Wahnsinn und Gesellschaft“ titulierten Werks,13 das aus einer Überarbeitung seiner akademischen Qualifikationsarbeit aus 1961 entstand, zentrale Punkte später relativierte. Doch behält andererseits Gültigkeit, dass Foucault hier die engen, sich spiralisierend entwickelnden Beziehungen zwischen Wissen und Macht auf eine 9 10 11 12
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Andrew T. Scull: Social Order/Mental Disorder: Anglo-American Psychiatry in Historical Perspective, Berkeley 1989, S. 13. Ebenso Andrew Wear: Medicine in society, Cambridge 1992, S. 9–10. Aude Fauvel: ‚Témoins aliénés‘ et ‚Bastilles modernes‘. Une histoire politique, sociale et culturelle des asiles en France (1800–1914), Paris 2005. Aude Fauvel (Hg.): „Asiles et fous“ (Sonderheft der Zeitschrift:) Romantisme, Revue du XIXe siècle 141 (2008), Introduction. Von Isabelle Bueltzingsloewen (Hg.): Morts d’inanition. Famine et exclusions en France sous l’Occupation, Rennes 2005, S. 45–124. Von Isabelle Bueltzingsloewen: L’hécatombe des fous. La famine dans les hôpitaux psychiatriques français sous l’Occupation, Paris 2007. Scull, Museums of madness; Roy Porter: Mind-Forg’d Manacles. Madness and Psychiatry in England from Restoration to Regency, London 1978; Anne Digby: Madness, Morality and Medicine. A Study of the York Retreat 1796–1914, London/New York 1985. Zu Foucaults Frankozentrismus zuletzt Roy Porter: Wahnsinn. Eine kleine Kulturgeschichte, Zürich 2005, S. 93–95. Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt/M. (ab) 1969, Originaltitel: Histoire de la folie à l’âge classique, Paris 1961.
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neue und bestechende Art transparent machte.14 Er beleuchtete mit Leidenschaft und Verve die Bedeutung der Irrenanstalten als Erziehungsanstalten gegen die Unvernunft, entdeckte mit Feingefühl und Scharfsinn, was als Kontingenz in den Wortschatz der Wissenschaft überging,15 übersah dabei aber beispielsweise den sehr hohen Wert, den Arbeit und Arbeitsproduktivität in der historischen Bewertung und Behandlung von Hilfsbedürftigen und anderen Minderheiten häufig haben, und der diese, zusammen mit dem Aspekt ‚Wohnen‘, zu zentralen Topoi der Psychiatriegeschichte macht.16 Es mag mit der Grenzenlosigkeit der Wirkmacht zu tun haben, die Foucault „totalen Einrichtungen“ wie der Anstalt zuschrieb, dass ihre Insassen und Opfer, deren Perspektive hier Beachtung geschenkt wird, nicht als Handelnde auftraten, keine Stimme verliehen bekamen. Die geringe Wertigkeit, die er bis auf wenige Ausnahmen den mit Patienten verbundenen Quellen und Dokumenten für seine Forschung beimaß, stellt eine Kontinuität zu seinen Vorgängern im Feld der Historiographie der Psychiatrie dar – und ist in diesem Sinne: ‚alt‘.17 Der Kranke, der „Patient“ blieb also für lange Zeit nicht allein etymologisch ein gänzlich passives Wesen, leidend und behandelt, nie jedoch aktiv und handelnd.18 Ego-Dokumente19 wurden bei Foucault systematisch ausgesondert, da sie keine veritable Quelle darstellten, in einem System, dessen Prinzip der Gouvernementalität jegliche Systemkritik und Revolte als Teil der theatralen Aufführung entwertete, die eine Herrschaftsstruktur nie wirklich außer Kraft setzen könne, sondern vielmehr ihren Fortbestand sicherstelle.20 NACH DEN 1960ERN: NEUE METHODEN, ERWEITERTE PERSPEKTIVEN Dennoch stellen die 1960er Jahre, der Erscheinungszeitraum von Foucaults Studie in der Originalsprache, sowie die 1970er Jahre aus einer Reihe von Gründen eine 14 Wenngleich er dabei in Bezug auf die Psychiatrie nahezu Orwell’sche Utopien der psychiatrischen Repression ausmalte und das vor-wissenschaftliche Irresein idealisierte. So interpretierte er bsp. die Funktion mittelalterlicher Narrenschiffe fehl, Vgl. Scull, Social order, S. 17. 15 Colin Koopman: Foucault across the disciplines: introductory notes on contingency in critical inquiry. History of the Human Sciences 24 (4), S. 1–12, 2011 (DOI). 16 Diese Arbeitsproduktivität als nicht hinterfragtem „Wert“ steigerten die Vertreter der nationalsozialistischen Medizin, insbesondere in Rassenhygiene und Psychiatrie, in das bis dato Unvorstellbare hinein. Für eine junge und umfassende Publikation zum Thema siehe Wolfgang Uwe Eckart: Medizin in der NS-Diktatur. Ideologie, Praxis, Folgen, Wien u.a. 2012, u.a. S. 13– 20. 17 Wenn auch zugegebener Maßen ein Manko der Bezugnahme auf die Lebenswirklichkeit des Patienten aus sehr unterschiedlicher Motivation der jeweiligen historiographischen Akteure heraus entstand. 18 Vgl. Philipp Osten (Hg.): Patientendokumente. Krankheit in Selbstzeugnissen (Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beiheft 35), Stuttgart 2010, S. 7. 19 Winfried Schulze (Hg.): Ego-Dokumente. Annäherungen an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996. 20 Eine ausführlichere Kritik aus französischer Perspektive findet sich in der bereits erwähnten Sonderausgabe der Zeitschrift Romantisme, die Aude Fauvel 2008 herausgegeben hat.
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Umbruchsituation dar. Dies insofern, als dass sich die akademische Medizinhistoriographie von der alleinigen Darstellung aus der ärztlichen Perspektive zu emanzipieren begann, und historiographische Methoden und solche Ansätze zur Erforschung der Medizingeschichte integrierte, die auch den Kranken selbst, sein Leben und seine Zeugnisse ins Spiel brachten. Diese Ansätze wurden, wie bei Dörner,21 häufig aus dem Feld der Sozialgeschichte rezipiert. Nicht allein „Psychiatriegeschichte“, auch „Patientengeschichte“, findet sich nun definitorisch ausgeweitet: zugehörige Arbeiten in zunehmender Zahl schließen das Verhalten von Patienten, auch Stellungnahmen und Wahrnehmungen ihrer Angehörigen ein, beziehen sich auf einen weiteren Personenkreis, als den der zu ‚Behandelnden‘ allein. Sie umfassen, wie die Arbeiten ihrer Vorläufer, zwar auch Beschreibungen der jeweiligen Therapie, schließen jedoch auch Beschreibungen des Missbrauchs in therapeutischen Einrichtungen nicht aus. Vorstellungen und Sichtweisen von Krankheit finden weiterhin Beachtung, nun jedoch auch zunehmend solche der Gesundheit oder der Gesunderhaltung.22 Nach ihrer ‚Entdeckung‘ und Integration in den Kanon historisch forschungswürdiger Gegenstände in den 1970er und 1980er Jahren wurde die am Patienten und seiner Individualität interessierte Psychiatriegeschichte nun in den nachfolgenden beiden Dekaden von immer mehr Autorinnen und Autoren untersucht,23 die die Psychiatriegeschichte zu einem in den Geschichts- und Kulturwissenschaften mehr als je zuvor untersuchten Gegenstand machten. Drittmittelgeförderte Forschungsprojekte, Sonderforschungsbereiche und Forschungsarchive machten die Patientengeschichte, auch auf Basis von Selbstzeugnissen, vermehrt zu ihrem Untersuchungsgegenstand. Existierten Selbstzeugnisse von als psychisch krank zu bezeichnenden Menschen zwar bereits seit Jahrtausenden, so erhielten diese trotz ihrer vormaligen Zugänglichkeit also erst beginnend mit dem späten 20. Jahrhundert ihren 21 Klaus Dörner: Bürger und Irre, Erstausgabe Frankfurt/M. 1969, hier verwendete Auflage von 1984. 22 Vgl. wiederum Wolff, Perspektiven, S. 313f. 23 Siehe unter anderem Blasius seit 1980 in mehreren Arbeiten (Dirk Blasius: Der verwaltete Wahnsinn. Eine Sozialgeschichte des Irrenhauses, Frankfurt/M. 1980; ders.: „Einfache Seelenstörung“. Geschichte der Psychiatrie 1800–1945, Frankfurt/M. 1994), Hedwig Röckelein: Otloh, Gottschalk, Tnugdal: Individuelle und kollektive Visionsmuster des Hochmittelalters, Frankfurt/M. 1987; Doris Kaufmann: Aufklärung, bürgerliche Selbsterfahrung und die ‚Erfindung‘ der Psychiatrie in Deutschland 1770–1850, Göttingen 1995; sowie Kaufmann: Science as cultural practice: psychiatry in the First World War and Weimar Germany, Max Planck Institute for the History of Science – Preprint 90 (1998); Heinz-Peter Schmiedebach: Eine „antipsychiatrische Bewegung“ um die Jahrhundertwende, in: Martin Dinges (Hg.): Medizinkritische Bewegungen im Deutschen Reich (ca. 1870–1933) ( Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beiheft 9), Stuttgart 1996, S. 127–159, sowie ders.: Von Menschen und psychischen Apparaten – Subjektivität und Objektivität in der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts, in: Martin Heinze/Stefan Priebe (Hg.): Störenfried „Subjektivität“, Subjektivität und Objektivität als Begriffe psychiatrischen Denkens, Würzburg 1996, S. 43–66; Thomas Beddies/Andrea Dörries (Hg.): Die Patienten der Wittenauer Heilstätten in Berlin 1919–1960, Husum 1999, oder zuletzt Bernhard Brückner: Delirium und Wahn. Geschichte, Selbstzeugnisse und Theorien von der Antike bis 1900, 2 Bde, Hürtgenwald 2007.
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Platz in der Medizinhistoriographie.24 Analysiert und interpretiert wurden verbale Aussagen, autobiographische25 und autopathographische Berichte26 von Patienten, ihre Briefe an Dritte,27 hiervon gesondert zu behandelnde öffentliche Pamphlete und Protestbrief-Sammlungen und andere, artverwandte Konvolute.28 Auch von Patienten und Patientinnen hergestellte Kunstwerke, Kleidungsstücke und Alltagsgegenstände, wie sie die berühmte Prinzhorn-Sammlung in Heidelberg in der Zahl von mehreren Tausend umfasst und inzwischen selbst auch wissenschaftlich untersucht,29 ziehen seither das Interesse von psychiatriehistorisch Forschenden auf
24 Eines von vielen weiteren, lesenswerten Beispielen ist Joseph Melling/Bill Forsythe: The patient experience of the pauper and private asylum, in: diess.: The Politics of Madness. The state, insanity and society in England 1845–1914 (Routledge Studies in the social history of medicine 20), Abingdon/New York 2006, S. 176–203. 25 Siehe u.a. bei Jens Lachmund/Gunnar Stolberg (Hg.): Patientenwelten. Krankheit und Medizin vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert im Spiegel von Autobiographien, Opladen 1995. Für ein junges Beispiel siehe Gregor Spuhler: Gerettet – zerbrochen. Das Leben des jüdischen Flüchtlings Rolf Merzbacher zwischen Verfolgung, Psychiatrie und Wiedergutmachung, Zürich 2011. 26 Ein Beispiel für dieses Genre ist: Maike Rotzoll: „Ich muss zeichnen bis zur Raserei, nur zeichnen“. Genie und Wahnsinn in autopathographischen Ego-Dokumenten von Künstlern aus dem frühen 20. Jahrhundert, in: Osten, Patientendokumente, S. 177–193. 27 Martin Dinges/Vincent Barras (Hg.): Krankheit in Briefen im deutschen und französischen Sprachraum, 17.–21. Jahrhundert, Stuttgart 2007. 28 Bsp. Ann Goldberg: The Mellage Trial and the Politics of Insane Asylums in Wilhelmine Germany, in: Journal of Modern History 74:1 (2002), S. 1–32, sowie dies.: A Reinvented Public: „Lunatics’ Rights“ and Bourgois Populism in the Kaiserreich, in: Eric J. Engstrom/Volker Roelcke (Hg.): Psychiatrie im 19. Jahrhundert. Forschungen zur Geschichte von psychiatrischen Institutionen, Debatten und Praktiken im deutschen Sprachraum. Basel 2003, S. 189–217; Rebecca Schwoch/Heinz-Peter Schmiedebach: „Querulantenwahnsinn“, Psychiatriekritik und Öffentlichkeit um 1900, in: Medizinhistorisches Journal 42 (2007), S. 30– 60; Thomas Müller: „Vier Jahre unschuldig in württembergischen Irrenanstalten“. Zur antipsychiatrischen Literatur des Fin-de-siècle, in: Schriftenreihe der Dt. Gesellschaft für die Geschichte der Nervenheilkunde 15 (2009), S. 579–588; Cornelia Brink: Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860–1980, Göttingen 2010, S. 165–192; Thomas Mueller/Frank Kuhn: The Wuerttemberg Asylum of Schussenried. A Psychiatric Space and its Encounter with the Literature and Culture ‚outside, in: Gemma Blackshaw/Sabine Wieber (eds.): Journeys into Madness: Mapping Mental Illness in ‚Vienna 1900‘, New York/Oxford 2012, S. 182–199. 29 Thomas Fuchs u.a. (Hg.): Wahn Welt Bild. Die Sammlung Prinzhorn, Beiträge zur Museumseröffnung (Heidelberger Jahrbücher 46), Berlin u.a. 2002. Vgl. exemplarisch auch Thomas Röske/Doris Noell-Rumpeltes: Durch die Luft gehen – Josef Forster, die Anstalt & die Kunst, Heidelberg 2011. Am Forschungsbereich des Verfassers wertet Martin Höhn in einem Projekt zurzeit Kunstwerke von Patientinnen und Patienten der Heilanstalt Zwiefalten – in Alter und Zusammensetzung ähnlich denen der Prinzhorn-Sammlung – aus.
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sich.30 Sonstiges, in Krankenakten beinhaltetes Material wurde ebenfalls herangezogen:31 so zum Beispiel die Anamnesen von ausländischen Patienten, die durch mehrsprachige Mitpatienten exploriert und anamnestisch untersucht worden waren.32 Auch die Herausarbeitung geschlechtsspezifischer Aspekte dieser Quellen erweist sich weiterhin als sehr bereichernd für die Forschung in diesem Teil der Medizingeschichte.33 DIE KULTURELLEN WENDEN: ZWISCHEN HISTORIOGRAPHISCHEM ZUGEWINN UND BELIEBIGKEIT In der Historiographie der Psychiatrie werden, in den beiden letzten Dekaden und mit dem Ziel immer feinerer Annäherungen an Geschichte – nicht mehr jedoch an vermeintliche Realitäten – eine ganze Reihe weiterer Ansätze und Methoden angewandt, die als sogenannte cultural turns Eintritt in die Gesellschaftswissenschaften erlangt haben. Diese nicht allein im Angelsächsischen und damit in der ‚nördlichen‘, oder ‚westlichen‘ Welt, sondern auch und gerade in der – allein aus westlicher Sicht – peripheren Welt aufkommenden Wenden nach dem Aufschwung von Kulturwissenschaften und Kultursoziologie, signalisieren die Abkehr von einem überkommenen Kulturverständnis. Sie fokussieren auf kulturelle und symbolische 30 Kunstwerke verschiedenster Materialität, wie die in der letztgenannten Sammlung enthaltenen, deren interpretatorische Ergiebigkeit – quasi als „Ausweitung“ der das Objekt herstellenden Person – der Medientheoretiker Marshall McLuhan bereits demonstriert hatte, erweisen sich hierbei als besonders beachtete Forschungsgegenstände: Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media, Dresden 1994; ders.: Das Medium ist die Botschaft, Dresden 2001. Hinsichtlich der Psychiatriegeschichte vgl. Monika Ankele: The Medium is a message – Materialität als Text. Überlegungen zu zwei Selbstzeugnissen aus der Sammlung Prinzhorn (1890–1920), In Osten, Patientendokumente, S. 21–40, hier S. 30. Auch dieses Feld verselbständigt und transformiert sich durch kreative Weiterentwicklung zu den Material Culture Studies, wie beispielsweise die Projekte des SFB 933 „Materiale Textkulturen“ der Universität Heidelberg/Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg andeuten. 31 Zur Krankenakte als Quelle vgl. insbesondere Sophie Ledebur: Schreiben und beschreiben. Zur epistemischen Funktion von psychiatrischen Krankenakten, ihrer Archivierung und deren Übersetzung in Fallgeschichten, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 34 (2011), S. 102– 124, sowie Volker Hess: Formalisierte Beobachtung. Die Genese der modernen Krankenakte am Beispiel der Berliner und Pariser Medizin (1725–1830), in: Medizinhistorisches Journal 45 (2010), 293–340. Hiervon gesondert zu Lehrbüchern bei Yvonne Wübben: Die kranke Stimme: Erzählinstanz und Figurenrede im Psychiatrie-Lehrbuch des 19. Jahrhunderts, in: Rudolf Behrens/Carsten Zelle (Hg.): Der ärztliche Fallbericht. Epistemische Grundlagen und textuelle Strukturen dargestellter Beobachtung, Wiesbaden 2012, S. 151–170. 32 Stefan Wulf/Heinz-Peter Schmiedebach: Ver/rückte Anamnesen à la Friedrichsberg. Die Explorationen ausländischer Patienten durch mehrsprachige Mitpatienten in einer deutschen Irrenanstalt um 1900, in: Medizinhistorisches Journal 3/4 (2010), S. 341–367. 33 Vgl. Karen Nolte: Gelebte Hysterie. Erfahrung, Eigensinn und psychiatrische Diskurse im Anstaltsalltag um 1900, Frankfurt/M./New York 2003, sowie Ankele, The Medium is a message, S. 22–25; dies.: Alltag und Aneignung in Psychiatrien um 1900. Selbstzeugnisse von Frauen aus der Sammlung Prinzhorn, Wien 2009.
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Interpretationskonstrukte. Wirklichkeit scheint nicht mehr tatsächlich vorhanden, sondern wird nun als eine Art kulturell geformtes und symbolisch repräsentiertes menschliches Konstrukt betrachtet.34 Hohe Relevanz hinsichtlich der Historiographie der Psychiatrie hatten und haben hier beispielsweise diejenigen Wenden, die als spatial turn und iconic turn in die Entwicklung der Geschichts- und Kulturwissenschaften eingeflochten wurden. Neue Möglichkeiten lassen dabei auch Herausforderungen entstehen: Denn die Psychiatriegeschichte wurde derart, wie der Wissenschaftshistoriker Eric Engstrom beobachtete, zu einer „Schaubühne [benutzt], um die [historiographischen] Konzepte und Praktiken von heute entweder zu kritisieren oder zu legitimieren“.35 Die Direktheit und Unvermitteltheit des seitens der Patientin oder des Patienten bunt und vielfältig Produzierten – der Quellen – scheint als Garant für die Authentizität des historiografisch Reproduzierten herangezogen zu werden. Auch die Wirklichkeit des Patienten wirkt für den Betrachter hierdurch vermeintlich greifbar, lässt jedoch gerade deswegen überwunden geglaubte, eindimensionale Vorstellungen von Wirklichkeit wieder auferstehen, in dem diese ‚Nähe‘ in bisher nicht bekanntem Maße eine Illusion des unverstellten Blickes auf Wirklichkeit zu versprechen scheint. Die Dimension der Zeit als historiographisches Problem droht vernachlässigt zu werden. Diese vermeintliche Nähe birgt dabei auch die Gefahr, dass Fragestellungen und Erzählstrukturen nicht ausreichend kontextualisiert werden, oder, wie Engstrom schreibt, sich „eher an einem psychiatrischen Gegenwartsdiskurs als an den historischen Spezifika des Faches Psychiatrie“ orientieren.36 Neue Erzählweisen der Wirklichkeit des Kranken werden derart zyklisch generiert, dominieren mitunter jedoch eher hegemonial die historiographische Anwendungspraxis, als dass methodologische Ko-Existenz geschaffen würde. Die Hegemonialität erfolgreich etablierter Ansätze und Wenden generiert jedoch nicht eo ipso neue Qualitäten der Annäherung an und des Verständnisses von Wirklichkeit, ebenso wenig, wie alltagspraktische akademische Idiosynkrasien geeignet sind, den Blick zu weiten. Konzepte und Praktiken fokussieren darüber hinaus in der Psychiatriegeschichte in einem auch politisch und emotional stark aufgeladenen Diskurs mitunter vorschnell auf augenfällige Phänomene und Befunde, jedoch nur diskontinuierlich auf Annäherungen an die Wirklichkeit des Kranken. Diese Annäherung als selbstgestellte Aufgabe fügt sich nicht notgedrungen in die jeweilige Perspektive wissenschaftlicher Wenden ein, die in der Regel den Anspruch erheben, überindividuell gültige Prinzipien zu generieren. Zumal Wenden in den Kulturwissenschaften insbesondere dann als erkenntnistheoretisch gewinnbringend empfunden werden, wenn ihr Mehrwert sich in verschiedenen Themenfeldern und
34 Eine vergleichsweise frühe Erwähnung dieser Terminologie findet sich bei Christian Scharfetter (Hg.): Abnormität, Krankheit, Therapie in der Psychiatrie – Die Differenzierung der Devianz und das Konstrukt Krankheit, Zürich 1982. 35 Für dieses und das folgende Zitat siehe Eric Engstrom: Heterotopischer Wahnsinn: Aktuelle Forschungsansätze in der Psychiatriegeschichte, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 12 (2009), S. 271–275. 36 Ebd.
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Disziplinen ergibt oder sich in verschiedenen Analysekategorien als anwendbar erweist.37 Diese, die Kommunikation wissenschaftlich Forschender betreffende Dynamik steht meines Erachtens notwendiger Weise in Spannung zu einer Annäherung an Wirklichkeit, insbesondere an individuell abgrenzbare Formen der Wirklichkeit, die im Fokus des Interesses dieses Beitrags stehen. Dennoch evozierte jeder „turn“ der Historiographie auch für das Studium und Verständnis der Lebenswelt und Wirklichkeit des Kranken, auch des psychisch Kranken, Anregung und Erkenntnis: Seit die etablierte Psychiatriegeschichte der westlichen Hemisphäre den Irrweg der Fokussierung auf die Anstalt verlassen hat, Patienten und ihre Familien,38 sowie andere zivilgesellschaftliche Agenten zu Akteuren, Handelnden in psychiatrischen Diskursen wurden, erfuhren wir auch mehr über deren Wirklichkeit. Es ist zuallererst dem sogenannten spatial turn geschuldet, dass man Psychiatriegeschichte nicht mehr auf das Studium sogenannter totaler Institutionen beschränkte, sondern den Zusammenhängen, Vernetzungen und Aushandlungen der Behandlung von Kranken, der Definition von Krankheit, sowie den Integrations- und Exklusionsmechanismen in einem geographischen oder sozialen Raum die Aufmerksamkeit zu schenken begann, die sie verdienen.39 Bartlett und Wright wagten bereits 1999 mit dem programmatischen Titel „Outside the walls of the asylum“ eine Geschichte der Versorgung des psychisch Kranken in der Gemeinde.40 Auch für Topp, Moran und Andrews einige Jahre später galt es, eine ReFokussierung in der Psychiatriegeschichte umzusetzen, indem die Untersuchung der Beziehungen zwischen Anstalt und Umgebung in architektonischer, struktureller und sozialer Beziehung untersucht wurden.41 Die Anstalt hatte, ähnlich wie bereits vor Existenzbeginn des Krankenhauses die Tollhäuser und Leprosorien, emblematisch die Geschichtsschreibung der Psychiatrie dominiert. Sie konnte erst jetzt auch in ihrer Funktion als „Bindeglied zwischen der gesellschaftlichen Ordnung
37 Vgl. den Beitrag von Armin Heinen im vorliegenden Band, der meinem Verständnis nach Anwendbarkeit und Handlungsmächtigkeit einer Theorie priorisiert, in Distanzierung von einer „Suche nach Wahrheit“ ihrer Anwender. 38 Ein Beispiel dieses Autors, der zur Geschichte der englischen Psychiatrie mit einer ganzen Reihe von Arbeiten beitrug: Suzuki: Madness at home. The psychiatrist, the patient, and the family in England, 1820–1860, Berkeley/Los Angeles/London 2006. Für ein Beispiel zur Anwendung von Erkenntnissen, die der spatial turn in der deutschen Psychiatriegeschichtsschreibung mit sich brachte, siehe Kai Sammet: Controlling space, transforming visibility: Psychiatrists, nursing staff, violence, and the case of haematoma auris in German psychiatry c. 1830 to 1870, in: Leslie Topp/James E. Moran/Jonathan Andrews (eds.): Madness, Architecture and the Built Environment. Psychiatric Spaces in Historical Context, London 2007, S. 287–304. 39 Ein Beitrag des Verfassers hierzu ist: Thomas Mueller: Community Spaces and Psychiatric Family Care in Belgium, France and Germany, A Comparative Study, in: Topp u.a., Madness, S. 171–189. 40 Peter Bartlett and David Wright (Hg.): Outside the Walls of the Asylum: The History of Care in the Community, 1750–2000, London 1999. 41 Siehe wiederum bei Topp u.a. Madness.
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und der (gestörten) Ordnung des Selbst“ gesehen und verstanden werden.42 Ihre Mauern waren ohnehin häufig sehr viel durchlässiger, als die bisherige Historiographie hatte vermuten lassen.43 Dass diese Erweiterungen nicht zu einer Verwerfung der Institutionsgeschichte führen dürfen, sondern auch diese Forschung erweitern konnten, wird häufig übersehen.44 Räumliche Konstrukte, auch in Bezug auf Interaktionen zwischen als – nachweislich oder vermeintlich als solche wahrgenommenen – Zentren und Peripherien, wurden auf kreative Art und Weise analysiert, deren Fragestellungen unter anderem den Postcolonial Studies oder den Subaltern Studies entliehen wurden. Auch diese Einflüsse auf die zeitgenössische Psychiatriegeschichte sind substantiell und erweitern unsere Vorstellungen von Wirklichkeit.45 Vielfältigste Anwendungen bietet die Psychiatriegeschichte, und insbesondere die Patientengeschichte auch für den sogenannten iconic turn: Von der Zurschaustellung des Geisteskranken in urbanen Einrichtungen des 18. Jahrhunderts über Ölgemälde auf Leinwand oder Stichen, beispielsweise des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, bis hin zur Porträtfotographie sogenannter Krimineller, Kranker oder einfach: ‚normaler Irrer‘ im 19. und frühen 20. Jahrhundert, wissen wir von vielen historischen Versuchen der medizinischen Akteure, Erkenntnis und Absonderliches, Warnung und Wissensgewinn, auch ein Verständnis von Ursache, Funktion und Folgen psychischer Erkrankung jeweils neu zu illustrieren und zu generieren, zu ‚zeigen‘.46 Regener spricht von einer „Bildwerdung des Patienten“.47 Aus historiografischer Sicht überwiegt – entgegen der Annahme einer nüchternen Dokumentation – in vielen Anwendungsbeispielen solcher bildgebenden Verfahren jedoch der stereotype Blick der Ärzte, der sonstigen Behandler und Therapeuten, sowie der mit diesen kooperierenden Fotografen auf die abgebildeten Kranken. Die psychiatrischen Bewertungen auf Basis von Bildern und Fotografien korrelieren 42 Siehe auch Marietta Meier u.a.: Zwang zur Ordnung: Psychiatrie im Kanton Zürich 1870–1970, Zürich 2007. Vgl. wiederum auch bei Engstrom, Heterotopischer Wahnsinn, S. 272, dem das Zitat entnommen ist. 43 Suzuki, Madness at home; Engstrom, Heterotopischer Wahnsinn, S. 272; Mueller/Kuhn, The Wuerttemberg Asylum of Schussenried. 44 Engstrom: History of psychiatry and its institutions. Current Opinion Psychiatry 2012 (DOI: 10.1097/YCO.0b013e3283590474). 45 Für psychiatriehistorische Arbeiten siehe zum Beispiel Sloan Mahone/Megan Vaughan (Hg.): Psychiatry and Empire, Cambridge 2007. Wesentliche Anknüpfungspunkte der Subaltern Studies beschreibt Dipesh Chakrabarty: Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung, Frankfurt/M. 2010 (englisches Original 2000). 46 Wissenschaftliche Hintergründe waren unter anderem die medizinischen Theorien des anatomischen und physiognomischen Denkens, mittels derer man versuchte, Erkenntnisse zu Intellektualität, Verhalten oder Charakter des Kranken unter anderem aus seinem Äußeren, oder der Form seines Kopfes, auch der Form seines präparierten Gehirnes oder der Schädelknochen zu gewinnen. 47 Susanne Regener: Visuelle Gewalt. Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2010, S. 7–12, für das Zitat S. 7. Regener konnte zeigen, wie jenseits von Kontextgebundenheit und Historizität und in Vorbereitung der medizinischen Bildentstehung abgebildete Situationen gar artifiziell verändert und „gestellt“, die Patienten hierdurch geradezu entstellt wurden, um die erhobene Abweichung von jeweiligen – wissenschaftlichen oder gesellschaftlichen – Normen zu plausibilisieren, zu ‚belegen‘.
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eng mit den jeweils zeitgenössisch vorherrschenden Schönheits- und Anstandsnormen sowie anderen bildungsbürgerlichen Konzepten,48 wie auch mit kontextgebundenen Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit. Abweichungen hiervon indizierten jeweils das Kranke, Pathogene, Gefährliche.49 Damit trugen diese visuellen Medien im gesamten Bereich der Medizin jeweils eindrücklich zur Konstruktion bestimmter Krankheiten bei. Der iconic turn und die sich entwickelnden Visual Culture Studies schufen ein geschärftes Sensorium für diese Problematik. Der Wert und die Bedeutung, die Bildern für die Erforschung und Darstellung von Krankheit zugeordnet werden können, und die sie für ein historisch informiertes Verständnis von der Welt des Patienten haben, konnte mittels einschlägiger Arbeiten dieser Wende besser reflektiert, die Perspektive des Betrachters auf implizite Botschaften der Bildquellen hin kritischer beurteilt werden. Allerdings ist trotz herausragender, auch medizinhistorischer Einzelstudien eine ausgearbeitete Vorstellung des methodologischen Zugangs zu Bildquellen bis heute nicht erreicht.50 LEBENSWELTLICHE ASPEKTE MEDIZIN- UND PSYCHIATRIEHISTORISCHEN ARBEITENS Die Implikationen des im vorliegenden Band als „Lebenswelt“ bezeichneten, gewählten oder zum Teil auch unbewussten Eingebunden-Seins der wissenschaftlich Tätigen in ihre professionelle Umgebung und persönliche Lebenswelt stellen keine geringere Einflussgröße auf die Ergebnisse und Entwicklung historisch-wissenschaftlichen Arbeitens dar, als die zuvor beschriebene methodologisch-theoretische Entwicklung in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Auch der akademische Ort der Entstehung historischer Forschung, sowie die disziplinäre Anbindung derselben sind eine Betrachtung wert. Dies ließe sich unter anderem an der Arbeit mit Zeitzeugen exemplifizieren. So legte Birgit Schwelling in ihrem Beitrag zu der diesem Band vorausgehenden Tagung dar, dass Forschungsprojekte, wie das von ihr dargestellte zur Geschichte deutscher Kriegsgefangener des Zweiten Weltkriegs
48 Vgl. Staatsarchiv Ludwigsburg (Hg.): „Das schöne Bild vom Wahn“. Weinsberger Patientenfotografien aus dem frühen 20. Jahrhundert, Stuttgart 2008, hierin: Helen Bömelburg, S. 23– 46. Siehe zuvor auch dies.: Der Arzt und sein Modell. Porträtfotografien aus deutschen Psychiatrien 1880–1933, Stuttgart 2007. 49 Wie dies die Aufnahmen einer im Staatsarchiv Ludwigsburg aufgearbeiteten Bildserie eines württembergischen Psychiaters belegen, die allerdings neben charakteristischer Fotographierkunst der Zeit auch eine ethisch fragwürdige Konstellation zwischen Arzt und Patient offenbaren, siehe Staatsarchiv Ludwigsburg 2008. 50 Für ein weiteres Beispiel der gewinnbringenden historiographischen Analyse von medizinischem Bildmaterial siehe Eva Brinkschulte/Muniz Lemke/Yara de Faria: Patienten im Atelier. Die Fotografien des Orthopäden Heiman Wolff Berend 1858–1865, in: Fotogeschichte 2001, S. 17–27.
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(1957–1975), in ihrer Fragestellung nicht nur von der Arbeit mit Zeitzeugen beeinflusst werden, sondern die Begegnung zwischen Forschenden und Zeitzeugen derart konzipierte Projekte, wie das von ihr dargestellte, erst ermöglicht habe.51 Im hier skizzierten Projekt interagieren Öffentlichkeit, Zeitzeugen und Angehörige historisch in die Folgen des Nationalsozialismus involvierter Gruppen ebenfalls mit der Tätigkeit der Forschenden – wenn auch mit Unterschieden zu dem von Schwelling beschriebenen Projekt. Die Forschungsfragen dieses Projekts zielen inhaltlich auf eine Analyse der Verflechtungen zwischen den Themenfeldern Psychiatrie, Nationalsozialismus und Holocaust. Das Projekt hat dabei seinen geographischen Schwerpunkt im südwestdeutschen Raum. Die Fragestellungen betreffen die Zusammenhänge zwischen der nationalsozialistischen Gesundheitsgesetzgebung und Bevölkerungspolitik, sowie diejenigen zwischen den Patientenmorden in der Psychiatrie dieser Zeit und der Vorbereitung des Holocaust, die noch weit weniger als ‚vollständig bearbeitet‘ gelten dürfen.52 Der Historiker Peter Steinbach führte vor einiger Zeit als Argument für seine Beurteilung unter anderem die bisher nicht erfolgte Auswertung umfangreicher und äußerst relevanter nationaler Aktenbestände an. Anlass für Vorstudien zum hier skizzierten Projekt waren bisher nur auszugsweise beachtete regionale Aktenbestände, deren bisherige, kaum erschöpfende Nutzung unter anderem geographisch und infrastrukturell zu erklären ist: die räumliche Situation der Universitäten im Bundesland Baden-Württemberg, ihre wissenschaftlichen Beziehungen zu Staatsund anderen Archiven, die Ausstattung einschlägiger Fakultäten an diesen Universitäten, sowie die inhaltliche Orientierung der jeweiligen akademischen Disziplinen und mit derlei Forschungsfragen befassten universitären oder außeruniversitären Institute stellen hier wesentliche Faktoren dar. Unabhängig davon, ob man die Kriterien der Wissenschaftshistorikerin Ludmila Jordanova,53 oder die Argumente Steinbachs zur Anwendung bringt, sind die Themenfelder Nationalsozialismus und Holocaust, die Zusammenhänge zwischen den Patientenmorden der „Euthanasie“ einerseits, und den Genoziden, die mit dem Begriff Holocaust verbunden sind andererseits, in dieser Region Deutschlands nicht umfassend untersucht. Dies gilt für sehr verschiedene Aspekte dieser Thematik, wie die Schicksale der Opfer der „Euthanasie“, für biographische Studien zum Personal in den Tötungseinrichtungen, oder für die psychiatrischen Einrichtungen selbst, die
51 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Birgit Schwelling im vorliegenden Band. 52 In Übertragung dessen, was der Historiker Peter Steinbach zum Forschungsstand der Themen Nationalsozialismus und Holocaust, auch deren Vorbedingung und Vorbereitung, feststellte. Vgl. Steinbach: Die Andeutung des Vorstellbaren. Zur Vorbereitung des Sonderrechts für die Juden durch den NS-Staat als Vorstufe der „Endlösung“, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 57 (2009), S. 337–351. 53 Ludmila Jordanova: Has the social history of medicine come of age? In: The Historical Journal 36, 2 (1993), S. 437–449.
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vor dem Hintergrund bereits veröffentlichter, auch überregionaler bzw. internationaler Forschungsarbeiten zu den genannten Themen,54 historiographisch aufgearbeitet werden, um Erkenntnisse zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden im Sinne des interregionalen Vergleichs, auch bezüglich regionaler Besonderheiten der Strukturen und Handlungsspielräumen der Akteure zu gewinnen: Die Untersuchung der für die Region maßgeblichen „Euthanasie“-Anstalt Grafeneck fokussiert insbesondere auf ihre inneren Strukturen und Handlungsabläufe, sowie auf die Migration ihres Personals in andere Einrichtungen, sowohl solche des Patientenmords, als auch in Konzentrations- und Vernichtungslager im Inland und den vom nationalsozialistischen Deutschland besetzten Gebieten. Auch die Dokumente der bundesrepublikanischen Rechtsprechung zur Verantwortung der Täter aus dem Kreis des medizinischen Personals („Grafeneck-Prozess“) werden einer Revision unterzogen.55 In Ergänzung hierzu werden biographische Fallstudien bedeutender regionaler Verantwortlicher der sogenannten Euthanasie aus verschiedenen Berufsgruppen,56 quasi als mikrohistorische Tiefenbohrungen, dem aktuellen Forschungsstand beigestellt. Hier interessieren zum einen Untersuchungen zur Moral nationalsozialistischer Ärzte, in Übertragung der Fragestellung von Gross zur nationalsozialistischen Moral im Allgemeinen.57 Zum anderen zielen diese biographischen Studien auf die Ausmessung sogenannter Handlungsspielräume von Akteuren,58 insbesondere von bisher identifizierten Tätern in regionalen medizinischen 54 Vergleichsweise gut untersucht sind Einrichtungen im geographischen Raum Badens. Die hier untersuchten Einrichtungen sind vor allem im Württembergischen zu verorten. 55 In dieser Forschung kooperieren Medizingeschichte, Dokumentationszentrum und Gedenkstätte Grafeneck sowie Rechtsgeschichte. Vgl. u.a. Thomas Müller/Jörg Kinzig/Thomas Stöckle: Die deutsche Psychiatrie, der Patientenmord im Nationalsozialismus, die juristischen Folgen und die Erinnerungspolitik, in: Türkisches Jahrbuch für Studien zu Ethik und Recht in der Medizin 2/3 (2010) S. 29–60, sowie Jörg Kinzig/Thomas Stöckle (Hg.): 60 Jahre Tübinger Grafeneck Prozess. Betrachtungen aus historischer, juristischer, medizinethischer und publizistischer Perspektive, Zwiefalten 2011. Nur ein Bruchteil der von C.F. Rüter und D.W. De Mildt allein im Sinne der Beurteilung der „Euthanasie“ 1998 gelisteten Strafverfahren ist historiographisch aufgearbeitet. Vgl. C. F. Rüter/D. W. De Mildt: Die Westdeutschen Strafverfahren wegen Nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945–1997. Eine systematische Verfahrensbeschreibung mit Karten und Registern. Bearbeitet im Seminarium voor Strafrecht en Strafrechtspleging ‚Van Hamel‘, Universiteit Amsterdam. Amsterdam/Maarssen/München 1998. 56 Von Interesse sind, neben der Gruppe der Ärztinnen und Ärzte, hier nicht allein die nicht-ärztlichen (zum Beispiel Pflegende), sondern auch die nicht-medizinischen Berufsgruppen (wie u.a. Ökonomen und Verwalter) der damaligen psychiatrischen Einrichtungen im Untersuchungsgebiet vor allem des südlichen Württemberg. 57 Dieses Interesse unsererseits wurde bereichert durch die Forschungen, Publikationen und Diskussionsbeiträge von Raphael Gross, auch zusammen mit Werner Konitzer. Siehe u.a. die jüngere Publikation von Raphael Gross: Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral, Frankfurt/M. 2010/2012. 58 Verwendung findet dieser Begriff auch in der Forschung von Gerrit Hohendorf zur „Euthanasie“, vgl. Hohendorf: Euthanasie im Nationalsozialismus – Historischer Kontext und Handlungsspielräume der Akteure, in: Benigna Sirl: Die Assoziationsanstalt Schönbrunn und das nationalsozialistische Euthanasie-Programm, Regensburg 2011, S. 53–82.
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Strukturen.59 Auch die Handlungsspielräume der Verantwortlichen in regionalen psychiatrischen Institutionen, sowie diejenigen der Familien der Opfer selbst harren noch einer genaueren Erkundung. Eine auch in anderen Bereichen der historischen Forschung zur deutschen Gesellschaft im Nationalsozialismus inzwischen hinterfragte Auffassung, die von Unvermeidlichkeit und Linearität in Bezug auf nationalsozialistische Befehls- und Ordnungsstrukturen geprägt ist, erschien im Verlauf unserer zunehmenden Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Ärzteschaft, immer mehr in Zweifel gezogen werden zu müssen. Nicht zuletzt sind die Schicksale einer bedeutenden Zahl an Patienten bis heute ungeklärt: Sehr deutlich zeigt dies das bisher nur ansatzweise erklärbare Schicksal bereits zur Deportation in die Vernichtung der „Euthanasie“ verlegten Patientinnen und Patienten, die von der für diese Region zentralen Tötungsanstalt zurück „verlegt“ worden waren,60 also die sogenannte zentrale Euthanasie überlebten. KEINE „SPLENDID ISOLATION“ – FORSCHUNGSKONZEPTION UND LEBENSWELTLICHE WIRKLICHKEIT Die in unserem Forschungsbereich für die Geschichte der Medizin Tätigen beeindruckt das Ausmaß, in dem Angehörige von Opfern des Nationalsozialismus, insbesondere wiederum der sogenannten Euthanasie, auch jedoch der sogenannten Zwangssterilisation, sowie anderer Maßnahmen der rassenhygienischen und Bevölkerungs-Politik, korrespondierend oder persönlich an uns herantreten. In lebensweltlicher Hinsicht war dies für mich als ehemaligen Mitarbeiter eines klassischuniversitären medizinhistorischen Instituts der bundesdeutschen Hauptstadt eine gänzlich neue Erfahrung: die Anfragenden wenden sich mit mehr oder weniger präzisen Vorinformationen zu einschlägigen Archivierungsregelungen und -gesetzen, jedoch folgerichtig, direkt an die rechtlichen Nachfolgeeinrichtungen der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalten, meinen heutigen Arbeits- und Forschungsort: eine Großklinik, deren Standort die Funktionen und den Auftrag einer psychiatrischen 59 Diese Art von „Täter“-Studien verstehen wir im Sinne Schultes als Versuche differenzierter Täteranalysen zur Erweiterung des Verständnisses der Rolle der Mehrheitsgesellschaft im Nationalsozialismus (siehe Jan Erik Schulte: „Namen sind Nachrichten“. Journalismus und NSTäterforschung in der frühen Bundesrepublik Deutschland, in: Frank Bösch/Constantin Goschler (Hg.): Public History. Öffentliche Darstellungen des Nationalsozialismus jenseits der Geschichtswissenschaft, Frankfurt/M. 2009, S. 24–51, für das Zitat s. S. 49), oder der „‚Volksgemeinschaft‘ vor Ort“, wie dieses Interesse an sozialer Praxis im Rahmen der einschlägigen Forschung eines Niedersächsischen Forschungskollegs an der Universität Oldenburg bezeichnet wurde. 60 In der Einrichtung des Verfassers hat sich Rüdenburg (Bodo Rüdenburg: Die „Rückkehrer“ aus Grafeneck in der Heil- und Pflegeanstalt Zwiefalten, in: Maike Rotzoll, u.a. (Hg.), Die nationalsozialistische „Euthanasie“-Aktion „T4“ und ihre Opfer, Paderborn u.a. 2010, S. 152–155) mit dieser Thematik beschäftigt. Aus veränderter Perspektive im gleichen Jahr: Philipp Rauh: Von Verdun nach Grafeneck. Die psychisch kranken Veteranen des Ersten Weltkriegs als Opfer der nationalsozialistischen Krankenmordaktion T4, in: Babette Quinkert/Philipp Rauh/Ulrike Winkler (Hg.): Krieg und Psychiatrie 1914-1950, Göttingen 2010, S. 54–74.
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Universitätsklinik mit denjenigen eines psychiatrischen Landeskrankenhauses verbindet. Ihre Informationen, auch ihre Erinnerungen, sind jedoch deutlich getragen von einem als Familiengedächtnis bezeichenbaren Konstrukt, und stehen nicht zwangsläufig im Einklang mit den Setzungen einer – ohnehin sich dynamisch verändernden – kollektiven Erinnerung(-spolitik).61 Die Haltung der sich an uns Wendenden ist intergenerational verschieden. Wesentliche Veränderungen dieser lebensweltlichen Situation der Forschenden ergaben sich darüber hinaus mit der Übergabe eines an dieser Klinik entstandenen Mahnmals zum Gedenken an die Opfer der „Euthanasie“, die aus der dieser Klinik vorausgehenden Heilanstalt deportiert worden waren: hatten Anfragen, Anschreiben, oder telefonisch vorgetragene Gesuche auch bereits seit den 1980er Jahren zur Auseinandersetzung überwiegend der zweiten Generation der Angehörigen von Opfern der „Euthanasie“ gehört, und waren von Mitarbeitern der Klinik bearbeitet worden, so führte in den 2000er Jahren ein deutlich erhöhtes Aufkommen der Recherchetätigkeit der nachfolgenden dritten Generation, zusammen mit einer öffentlichkeitswirksamen Veränderung der Haltung der psychiatrischen Einrichtung und ihrer Vertreter selbst, dazu,62 dass sich dieser Art Anfragen um ein Vielfaches erhöhten. Unsere Forschungsfragen haben hierdurch – neben den oben beschriebenen Fragestellungen und zunächst fast unmerklich – eine deutlichere Positionierung zugunsten von Fragestellungen erfahren, die der Patientengeschichte zugeordnet werden können. Die von außen an uns herangetragenen personengebundenen Recherchen zum Schicksal ehemaliger Patientinnen und Patienten betreffen in quantitativer Hinsicht überdurchschnittlich stark die Jahre des Nationalsozialismus, reichen jedoch ins 19. Jahrhundert zurück oder berühren die jüngste Geschichte.63 Hier sei nur an zwei Beispielen verdeutlicht, dass sich aus der Bearbeitung solcher Anfragen noch weitere Konsequenzen für unsere Forschung ergaben: Diese Anfragen zur Klärung des Schicksals ehemaliger Patientinnen und Patienten, von denen die den Nationalsozialismus betreffenden hier im Vordergrund
61 Vgl. die Problematisierung dieses Themenkomplexes bei Clemens Wischermann: Kollektive, Generationen oder das Individuum als Grundlage von Sinnkonstruktionen durch Geschichte: Einleitende Vorüberlegungen, in: ders. (Hg.): Vom kollektiven Gedächtnis zur Individualisierung der Erinnerung, Stuttgart 2002, S. 9–23, hier v.a. S. 13–15 und S. 22–23. 62 Die Klinikleitung rief eine Arbeitsgruppe ins Leben, als deren Ziel, zusammen mit den Vertretern der Stadt (Ravensburg), die Auslobung eines künstlerischen Wettbewerbs formuliert wurde, dessen Auswertung die Umsetzung eines von Juroren ausgewählten „Mahnmals“ ergeben sollte. Die Ursachen für ein erhöhtes Aufkommen von Anfragen nach dem Schicksal der Opfer der „Euthanasie“ am Standort werden im subjektiven Eindruck wesentlich mit den beiden im Text beschriebenen Faktoren in Zusammenhang gesehen, können in quantitativer wie qualitativer Hinsicht jedoch kaum differenziert werden. Das Mahnmal wurde 2007 der Öffentlichkeit übergeben. Der Beginn der Aufarbeitung der NS-Psychiatrie innerhalb der eigenen Einrichtung reicht jedoch bis in die 1980er Jahre zurück; Näheres in: Ulrich Jockusch/Lothar Scholz (Hg.): Verwaltetes Morden im Nationalsozialismus. Verstrickung-Verdrängung-Verantwortung von Psychiatrie und Justiz, Regensburg 1992. 63 Sie haben unsererseits Aktenziehungen im eigenen Archiv des Hauses, in regionalen Teilen des Landesarchivs oder einschlägigen Registern des Bundesarchivs zur Folge.
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stehen, betreffen einesteils die erwähnte Gruppe von Opfern der sogenannten zentralen „Euthanasie“. Zweitens betreffen Sie jedoch den Verbleib derjenigen Menschen, die im Rahmen des sogenannten Optionsvertrags zwischen dem Deutschen Reich und Italien zwischen 1940 und 1942 aus dem Gebiet des historischen Tirol nach Württemberg gelangten. Diese, nicht anders denn als biopolitische Maßnahme zu beschreibende Bevölkerungsbewegung deutsch optierender Menschen („Heim ins Reich“) im politischen Ausland diente der deutschen Seite ebenso, wie der Italianisierungspolitik in der benannten Region seitens der Regierung Mussolini. Allerdings wurden durch drohende Nichterfüllung vertraglich vereinbarter „Quoten“ der zunächst selbst gewählten Abwanderung aus italienischem Gebiet nach wenigen Monaten bereits alte Menschen psychiatrisiert. Bereits in Psychiatrien untergebrachte Patientinnen und Patienten, unter anderem aus Tirol bzw. dem Trentino, wurden damals zum Teil auch gegen ihren Willen und jedenfalls unter Umgehung einer formalen oder auch nur informellen „Option“, in württembergische psychiatrische Einrichtungen transportiert.64 Die näheren Umstände der Tatsache, dass diese Menschen, von denen offenbar niemand Opfer der zentralen „Euthanasie“-Verbrechen wurde, in großer Zahl vor Ende des Weltkriegs verstorben waren, ist gegenwärtig noch Gegenstand der Forschung. Die Anfragen zu diesen beiden Gruppen von ehemaligen Insassen württembergischer, psychiatrischer Einrichtungen erreichen uns einerseits aus privaten Kreisen, zum Teil unter Einbeziehung von Übersetzern, zum anderen auch aus Forschungseinrichtungen und -gruppen im In- und Ausland. Ihre Beantwortung lenkte unsere Aufmerksamkeit auf Aktenbestände, die in anderem Fall später, oder nicht in absehbarer Zukunft einer Auswertung unterzogen worden wären. Sie lässt Anteil haben an Forschungen Dritter, oder gar Kooperationen entstehen mit anderen Forschenden, und liefert uns qua Personenbeschreibung und vermittels sogenannter Finddaten, insbesondere privater Anfragender, Informationen zu Patienten, die häufig nicht Inhalt zugehöriger Akten unserer Einrichtung sind. Die Zusammenführung dieser von externer Seite an uns übermittelten Informationen, mit den in den für unsere Einrichtung zuständigen Staats- und Landesarchiven vorgehaltenen Aktenbeständen zu diesen Personen ermöglicht häufig erst eine Beantwortung der an uns adressierten Fragestellungen. Im Fall anfragender Institutionen und Forschungsgruppen kann die in der Kooperation vorangetriebene Recherche in gemeinsame Publikationen oder die Entleihung von in der Öffentlichkeit umfassender wirksam werdenden Präsentationen der Ergebnisse münden, wie dies beispielsweise historische Ausstellungen tun: Eine gemeinsame Wanderausstellung zur Bedeutung der ehemaligen Anstalt Zwiefalten als Vorschalteinrichtung der Verbrechen der „Euthanasie“ in Grafeneck, die seitens des 64 Die detailgenaue Beschreibung dieser Vorgänge hier wiederzugeben ist nicht der Ort. Zu einem späteren Zeitpunkt wurden offenbar auch Prostituierte in diese „Verlegungen“ einbezogen. Für den aktuellen Forschungsstand siehe Maria Fiebrandt/Bodo Rüdenburg/Thomas Müller: Nationalsozialistische Erbgesundheitspolitik und Psychiatrie. Die „Umsiedlung“ Südtiroler Psychiatriepatienten nach Württemberg im Rahmen des deutsch-italienischen Optionsvertrages ab 1939, in: Thomas Müller/Bernd Reichelt/Uta Kanis-Seyfried (Hg.): Nach dem Tollhaus. Zur Geschichte der ersten Königlich-Württembergischen Staatsirrenanstalt Zwiefalten (Psychiatrie, Kultur und Gesellschaft in historischer Perspektive 1), Zwiefalten 2012, S. 154–190.
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dortigen Dokumentationszentrums und unserer Forschungseinrichtung 2012 gemeinsam erarbeitet wurde, stellt hier ein erstes Beispiel dar.65 Ein zweites Beispiel ist die circa sechsmonatige Präsentation einer Wanderausstellung als Teilergebnis eines österreichisch-italienischen EU-Projekts zur Geschichte der Psychiatrie des historischen Tirol in dem zu unserer eigenen Einrichtung gehörenden Psychiatriemuseum.66 Diese Ausstellung wird in den nächsten Jahren, neben einigen Stationen in Österreich, vor allem im nördlichen Italien zu sehen sein. Beide Initiativen der Kooperation unserer Einrichtung mit Dritten stellen derart Aspekte der musealen Arbeit dar, die zum Spektrum der Aktivitäten der Klinik um die Aufarbeitung der eigenen institutionellen, wie der regionalen Geschichte zu rechnen sind. Diese Wanderausstellungen, wie auch ein Museum, erhöhen wiederum die Bedeutung der Strukturen der psychiatrischen Einrichtung selbst – im Sinne eines Ausbildungsorts für medizinische Berufe einerseits, sowie eines außerschulischen Lernorts andererseits, der von einer breiteren Öffentlichkeit, zu der Besuchergruppen und Schulklassen gehören, angenommen wird. Die Akzeptanz durch sowie die Zuweisung solcher Aufgaben an akademische Einrichtungen, auch der hiermit verbundene Bildungsauftrag, haben im medizinhistorischen Forschungsfeld im deutschsprachigen Raum noch keine Selbstverständlichkeit erreicht. Bereits umgesetzt wird ein solcher Bildungsauftrag insbesondere dort, wo medizinhistorische Sammlungen und Museen bereits Teil des Profils einer Forschungseinrichtung, einer Universität oder einer anderweitigen Hochschuleinrichtung sind. Diese Akzeptanz ist in anderen nationalen Kontexten, auch aufgrund verschiedener Kulturen und Strukturen, möglicherweise höher.67 Die beschriebenen Aktivitäten unserer Forschungseinrichtung stellen zunächst den Versuch dar, gewonnene Forschungsergebnisse zeitnah auch museal zu präsen-
65 Die Ausstellung trägt den Titel: „Zur Geschichte der südwestdeutschen „Euthanasie“ mit besonderer Berücksichtigung der Rolle Grafenecks und Zwiefaltens“. Ausstellungsbearbeitung: Thomas Stöckle, Franka Rößner (Gedenkstätte und Dokumentationszentrum Grafeneck), Thomas Müller, Uta Kanis-Seyfried (Einrichtung des Verfassers). 66 Die hier beschriebene Ausstellung „Ich lasse mich nicht länger für einen Narren halten“ ist Teilergebnis dieses EU-Projekts. Das Institut für Geschichtswissenschaften & Europäische Ethnologie sowie das Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck erarbeiteten die vom Südtiroler Landesarchiv getragene Ausstellung im Rahmen des Interreg IV-Projekts (Italien/Österreich) „Psychiatrische Landschaften. Die Psychiatrie und ihre Patientinnen und Patienten im historischen Raum Tirol-Südtirol von 1830 bis heute“ (Weitere Informationen sowie Publikationen unter: www.psychiatrische-landschaften.net). 67 Ein Vergleich, beispielsweise mit der angelsächsischen Kultur, ergäbe eventuell, dass die Teilnahme an einschlägigen Debatten in der breiteren Öffentlichkeit unter britischen Forschern üblicher ist, als hierzulande, wo jedoch Veränderungen ebenfalls spürbar sind. Britische Einrichtungen positionieren sich m.E. jedoch noch immer deutlicher, was zum Teil auch seitens drittmittelgesteuerter Evaluation gefordert sein mag und sich in Begrifflichkeiten wie public outreach manifestiert. Die kompetitive und universitätspolitische Motivation dieser Bewertungen wiederum kann im Rahmen dieses Beitrags nicht diskutiert werden, ebenso wenig wie der Aspekt der „Aufmerksamkeitsökonomie“, der sich Forschende, wie mit der Forschung verbundene Einrichtungen nicht entziehen können. Siehe hierzu: Bösch/Goschler, Public History, S. 7–23, hier S. 22.
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tieren, und über die Nutzung akademischer Printmedien hinaus breiteren gesellschaftlichen Feldern zugänglich zu machen. Die Kommunikation dieser Forschungsergebnisse berührt damit die Themenfelder „Public History“,68 „Popular History“69 und „Geschichtsjournalismus“.70 Diese Felder, deren Entwicklung in den letzten Jahren als rasant beschrieben werden kann,71 sind nicht mehr trennbar voneinander. Vielmehr können sie sich, nicht allein in didaktischer, sondern auch in inhaltlicher Art unserer persönlichen Erfahrung nach gegenseitig befördern.72 Eine egalitär geführte und auf inhaltliche Aspekte der Forschung fokussierte Beziehung zwischen Geschichtswissenschaft und Public History kann darüber hinaus die Diskussion um die Konstruktion von Geschichte, wie sie die oben beschriebenen kulturellen Wenden angestoßen haben, ihrerseits wiederum bereichern. WESSEN ‚WIRKLICHKEIT‘? HISTORISCHE ‚SUBJEKTE‘, ZEITZEUGEN UND FORSCHENDE Eine eigene Anforderung hinsichtlich der Forschungen zur Psychiatrie im Nationalsozialismus stellen nicht allein die Dokumente dar, die die Eigenperspektive psychiatrischer Patientinnen und Patienten umfassen,73 die transparent zu machen jedoch, wie verschiedene Autoren gezeigt haben, mit Einschränkungen möglich ist. Auch die Kommunikation mit Zeitzeugen verlangt methodologische Reflektion.
68 Vgl. ebd. 69 Zu den Fallstricken der popular history, die ihrerseits wiederum nicht ‚frei‘, oder gar demokratisierend allein wirken kann, sondern in gewisser Weise auch inhärent nationalistisch gestaltet ist, siehe Jerome De Groot: Afterword: Past, Present, Future, in: Barbara Korte/Sylvia Paletschek (Hg.): Popular History. Now and Then. International Perspectives. (Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen 6). Bielefeld 2012, S. 281–295, hier v.a. S. 292–293. 70 Anforderungen und Fragestellungen, die wiederum aus in diesen Feldern generierten Debatten resultieren, haben mit der Herstellung nicht immer sinnvoller und plausibler Bezüge der präsentierten Geschichte mit der Gegenwart der Konsumenten einschlägiger Formate zu tun. Auch stellen geschichtsjournalistische Produkte sehr machtvolle Strategien der Wissensvermittlung dar, deren Anforderung sich nicht in einem Popularisieren bzw. didaktischer Anpassung des von ‚Experten‘ Gefundenen erschöpft (vgl. Frank Bösch: Getrennte Sphären? Zum Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Geschichte in den Medien seit 1945, in: Klaus Arnold/Walter Hömberg/Susanne Kinnebrock (Hg.): Geschichtsjournalismus. Zwischen Information und Inszenierung, Berlin 2010, S. 46–47). 71 Korte/Paletschek, Popular History, hier S. 7–11. 72 Hierin sehen wir eine Bestätigung der bereits von Bösch und Goschler formulierten Auffassung, siehe Bösch/Goschler, Public History, S. 6–23, hier v.a. S. 9ff. u. S. 22–23, die in Bezug auf das Verhältnis von wissenschaftlicher Forschung und Public History von einer „interaktionistischen“ Beziehung sprechen. In dieses Bild passt folgerichtig die Gründung einer Arbeitsgruppe für Angewandte Geschichte/Public History des Verbands der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD) auf dem 49. Deutschen Historikertag 2012. 73 Vgl. hierzu bei Petra Fuchs/Gerrit Hohendorf: Den Opfern ein Gesicht geben. Zum Schreiben von Lebensgeschichten auf Basis der „Euthanasie“-Patientenakten, in: Osten, Patientendokumente, S. 237–249.
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Noch lebende Angehörige der oben beschriebenen Opfergruppen, selten auch noch lebende Betroffene, die sich an uns wenden, zum Teil auch Nachfahren der den Tätern der „Euthanasie“ zuzurechnenden Gruppe, sind dem Kreis solcher Zeitzeugen zuzurechnen. Die Berichte von Zeitzeugen stellen im Falle unserer eigenen Forschung wie in jedem anderen Fall, so faszinierende Dokumente zum Verständnis von Geschichte dar, wie ihre Anwendung als verführerischer Irrweg manipulativer Geschichtsdeutung missbraucht werden kann. Der begeisterten Zur-Anwendung-Bringung und Präsentation von Zeitzeugen und den medial auf unterschiedlichste Art und Weise verarbeiteten Berichten dieser Menschen steht dabei häufig eine recht leidenschaftslose und arglos-unkritische Beschäftigung mit der Konzeption der Darstellung dieser Art historischen Materials gegenüber. Dies hat in jüngerer Zeit berechtigte und harsche Kritik nach sich gezogen.74 Zeitzeugen werden historiografisch also zum Einen in Narrative integriert und eingeflochten: und ist die Vermengung mit ideologischen und politischen Botschaften zwar prinzipiell auch bei der Darstellung historisch weit zurückliegender Themen möglich – so scheint doch die Zeitgeschichte ein besonders beliebtes Vehikel des Transports impliziter Botschaften zu sein. Zum Zweiten sind Zeitzeugen und die mit ihnen verbundenen Quellen und Dokumente jedoch nicht allein Gegenstand historiografischer Betrachtungen, musealer Darstellungen oder Formaten des Edutainment,75 sie sind zugleich Gestalter und Nutzer von Medien zur Geschichte. Das gegenwärtige Verschwinden der Zeitzeugen vermittels natürlicher biologischer Vorgänge verschärft fast die Frage nach der Natur ihrer Berichte noch, die in ihrer vermeintlichen Nicht-Korrigierbarkeit nun umso mehr zu historischen Zeugnissen zu werden scheinen. Neben didaktischen Funktionen und solchen der Ästhetisierung dienen Zeitzeugenberichte drittens mitunter auch der Authentifizierung und Emotionalisierung von Narrativen wie Objekten. Diese drei Aspekte stellen Möglichkeiten der interpretatorische Überbeanspruchung zugehöriger Dokumente dar, die mit sich bringen, dass Zeitzeugenberichte, wie andere Quellengattungen auch, notwendiger Weise und ohne Ausnahme im Rahmen ihrer Interpretation und Verwendung mit anderen, komplementären Quellen verschränkt werden müssen, wo immer dies irgend möglich erscheint – in Abhängigkeit von Fragestellung, vorhandenen Quellenbeständen und Projektrahmen. Hier hat sich ein Zugang unter Anwendung verschiedener Ansätze und Methoden bewährt.76 Diese Möglichkeit ist 74 Beispielhaft hierfür Martin Sabrow/Ralph Jessen/Klaus Große Kracht (Hg.): Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen nach 1945, München 2003, sowie Klaus Große Kracht: Die zankende Zunft. Historische Kontroversen in Deutschland nach 1945, Göttingen 2005. 75 Zur Thematik des „Edutainment“ siehe Kay Hoffmann/Richard Kilborn/Werner C. Barg (Hg.): Spiel mit der Wirklichkeit. Zur Entwicklung doku-fiktionaler Formate in Film und Fernsehen, Konstanz 2012. Zur Integration der Thematik des Zweiten Weltkriegs in Computerspielen: Steffen Bender: Virtuelles Erinnern. Kriege des 20. Jahrhunderts in Computerspielen, Bielefeld 2012. 76 Vgl. hierzu: Waltraud Ernst/Thomas Mueller (eds.): Transnational Psychiatries. Social and Cultural Histories of Psychiatry in Comparative Perspective, c. 1800–2000. Newcastle 2010, S. 9–23, sowie S. XII: „[…] Therefore, no single [methodological] approach is [here] being mooted as the „royal road to truth”, as it is recognised that each of them has particular strengths
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erfahrungsgemäß am Ehesten bei der Arbeit in multiprofessionellen Forschungsgruppen herstellbar, wie dies beispielsweise eine Beschreibung des Instruments der sogenannten Histoire croisée, eine Verflechtungsgeschichte in der Lesart von Michael Werner und Bénédicte Zimmermann, vorschlägt.77 Im Rahmen eines wissenschaftlichen Teams wechselnde Perspektiven einzunehmen, um auch den Blick des oder der jeweils anderen zu integrieren, bereichert zweifellos jedes Forschungsprojekt. Die Anforderungen des beeindruckenden Konzepts, das Werner und Zimmermann beschrieben haben, sind allerdings in gegenwärtigen Forschungsstrukturen nicht leicht umsetzbar. Die Beschreibung sogenannter Königswege erscheint daher unangemessen. Die im vorliegenden Band aufgeworfenen Fragen, nicht allein diejenigen zu Fragen der „Wirklichkeit“ und den Grenzen zur Aneignung derselben, sind brennend und aktuell. Sie dürfen meistenteils als noch kaum beantwortet gelten. Ob Wirklichkeit pluralisierbar sein darf oder muss, auch wie die Vielfalt je verschieden konstruierter Geschichte – oder Erzählformen – in den Publikationen und Ergebnispräsentationen von Forschenden, die noch deutlich linearer Struktur folgen, abgebildet werden können, ist offen. Möglicherweise nur generationsgebundene Faszinationen, wie beispielsweise diejenige für einen postmodernen Pluralismus, mögen bei nachfolgenden Generationen an Attraktivität einbüßen, oder durch erweiterte Konzeptionen, die befriedigendere Ergebnisse befördern, ersetzt werden. Der in diesem Beitrag präsentierte Abriss eines Forschungsfelds – dasjenige der am Patienten, am Subjekt interessierten Psychiatriegeschichte, insbesondere jedoch der empirische Teil der Beschreibung eines Arbeitsorts historisch Forschender, will für weitere Entwicklungen, möglicherweise auch in benachbarten Disziplinen, allein eine Anregung sein. Lernfähige Konzeptionierungen, die wissensproduzierend und nicht allein repräsentierend wären, und die jeweiligen Grenzen der Sprache und Kultur, der Argumentationslogik, der Generation (Lernender und Lehrender), oder auch der Anwendbarkeit individuell generierter Theorien und Denksysteme zu überwinden geeignet sind, scheinen aus aktueller Sicht vor allem in (multidisziplinären) Forschungsgruppen vorstellbar („den Anderen kennenlernen, anstatt ihn zu kopieren“), denen digitale Medien momentan bestenfalls Hilfsmittel, mehr denn Leitsystem („Digital Humanities“) sein können. Eine Entwicklung in diese Richtung würde eine Neuentwicklung der Ausbildung, auch der Beurteilung der akademischen Leistungen von Lernenden,78 sowie veränderte Tätigkeitsbeschreibungen für das Ar-
and weaknesses in relation to a chosen topic […] resisting the temptation of imposing or pushing one single approach to fit all […]. [Research] work is methodologically and conceptually grounded, but at the same time subject-focused, evidence- and source-driven […]“. 77 Michael Werner/Bénédicte Zimmermann: Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 607–636. 78 Gewisse Synergien lassen sich m.E. zwischen den hier behandelten geschichtswissenschaftlichen Theorien und kulturellen Wenden einerseits, sowie innovativen Unterrichtsformen andererseits herstellen: das sogenannte problemorientierte Lernen als Unterrichtsmodell bsp.
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beitsfeld historisch Forschender zur Voraussetzung haben. Eine solche Entwicklung würde möglicherweise auch die Strukturen von Forschungseinrichtungen selbst dramatisch verändern.
scheint den inhaltlichen wie theoretischen Implikationen einer postmodernen Auffassung von Geschichte ein angemesseneres Lehr- und Lernmodell zu sein, als der traditionelle Unterricht der Anhörung von Expertinnen und Experten.
MULTIPLE WIRKLICHKEITEN DER GESCHICHTE Das Interaktionsverhältnis zwischen Zeitgeschichte und Zeitzeugen in historischer Perspektive Birgit Schwelling Im Vergleich zur Geschichtsschreibung älterer Epochen unterliegt Zeitgeschichte, verstanden als „Epoche der Mitlebenden und ihrer wissenschaftlichen Behandlung“1, bekanntlich besonderen Bedingungen. Als „Geschichte, die noch qualmt“ (Barbara Tuchman), operiert sie in besonderem Maße in einem Spannungsfeld, das von den Erfahrungen und Erinnerungen der Zeitzeugen, öffentlichen und medialen Formen der Vergegenwärtigung des Vergangenen sowie politischen Legitimationsbedürfnissen markiert wird. Daraus resultieren spezifische Bedingungen, die einerseits besondere Möglichkeiten für die Zeitgeschichtsforschung bereit halten, andererseits jedoch auch Probleme und Konflikte mit sich bringen, mit denen Zeithistoriker konfrontiert sind und denen sie sich zu stellen haben. Ich möchte mich im Folgenden auf einen Teilaspekt dieses Spannungsfeldes konzentrieren und über Berührungspunkte und Konfliktfelder nachdenken, die aus der Begegnung von Zeithistorikern und Zeitzeugen resultieren. Dass die Zeitgeschichtsforschung mit solchen Begegnungen zu rechnen hat, markiert das wichtigste Unterscheidungsmerkmal zur Geschichtsschreibung älterer Epochen. Während Versuche der politischen Indienstnahme sowie die populäre Aufbereitung von vergangenem Geschehen auch, wenn auch sicherlich weniger häufig, im Zusammenhang mit der Vergegenwärtigung von länger zurückreichenden Phasen der Geschichte zu beobachten sind, ist die Begegnung und Konfrontation mit Personen, die die erforschten Ereignisse, Strukturen und Prozesse selbst erlebt und erfahren haben, ein Alleinstellungsmerkmal der Zeitgeschichte als Wissenschaft. Die Wirklichkeit der Zeitgeschichte unterscheidet sich dadurch ganz wesentlich von der Wirklichkeit der Geschichte länger zurückreichender Epochen. Von daher ist die Zeitgeschichtsforschung in besonderem Maße aufgefordert, die erkenntnistheoretischen und methodologischen Konsequenzen dieses spezifischen Interaktions- und Ambivalenzverhältnisses zwischen Zeitzeugen und Zeithistorikern zu reflektieren. Mein Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass dieses Verhältnis zwischen Zeitzeugen und Zeithistorikern bisher überwiegend unter ahistorischen Vorzeichen und in dichotomen Denkmustern reflektiert wurde. Dafür lassen sich zahlreiche
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Hans Rothfels: Zeitgeschichte als Aufgabe, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 (1953), S. 3–8, S. 2.
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Beispiele anführen, die von betont überspitzten Diagnosen wie der von der „natürlichen Feindschaft“2 zwischen Zeithistorikern und Zeitzeugen über die Konstatierung einer „prinzipiellen Trennlinie“ zwischen dem „Erlebnishorizont des Zeitzeugen“ und dem „Erklärungshorizont des Zeithistorikers“3 bis hin zu Theorien aus dem Feld der Erinnerungsforschung reichen, in deren Rahmen Geschichtsschreibung und Erinnerungen schroff voneinander abgegrenzt werden. Zu den letztgenannten Ansätzen zählen etwa Pierre Noras Überlegungen zum Verhältnis von Geschichte und Gedächtnis, in deren Rahmen Nähe, Wärme und Milieubezogenheit auf der Seite des Gedächtnisses, hingegen Kälte, Rationalität, Entzauberung auf der Seite der Geschichte als wissenschaftliche Disziplin verortet werden.4 Folgt man den Einschätzungen von Zeitzeugen und Zeithistorikern hinsichtlich ihrer persönlichen Begegnungen und ihres Aufeinandertreffens aus verschiedenen Anlässen, so ist an solchen Konzeptualisierungen sicherlich vieles richtig. Zeitzeugen beharren häufig auf der Authentizität ihrer Erfahrungen und zeichnen ein Bild des vergangenen Geschehens, das sich mit der analytischen Distanz von Zeithistorikern nicht deckt. Sie erleben die Produktion und Darstellung historischer Erkenntnis als „Verfremdungsoperation“5 und reagieren auf solcherlei „Kontaminierungen“6 ihrer Erinnerungen mit Misstrauen und Abwehr. Geschichtsschreibung erscheint ihnen als kalt, reserviert, distanziert und unbetroffen. Aus der Perspektive der Zeitgeschichtsforschung erscheinen Zeitzeugen als nostalgische Zeitgenossen, die ihren selektiven Erinnerungen nachhängen und diese, mit der Aura des Dabeigewesenen versehen, nicht selten als Argument gegen wissenschaftliche Darstellungen vorbringen. Aber dennoch ist diese Vorstellung einer prinzipiell unüberwindbaren Distanz zwischen den beiden Modi der Bezugnahme auf Vergangenheit einseitig, nicht nur, weil es die gelungenen Kooperationen zwischen Zeithistorikern und Zeitzeugen und die damit verbundenen Erkenntnismöglichkeiten ausblendet, sondern auch, weil mit der Modellierung dieser Interaktionsverhältnisse entlang anthropologischer Konstanten übersehen wird, dass diese Beziehungen nicht nur um Fragen der Deutung vergangenen Geschehens kreisen, sondern selbst eine Geschichte haben. Mit anderen Worten ist die Begegnung zwischen Zeitzeugen und Zeithistorikern sicherlich häufig von unterschiedlichen Bedürfnissen und daraus resultierenden Spannungen geprägt, aber die daraus resultierenden Konflikte und Potentiale sind nicht nur auf unterschiedliche Ursachen zurückzuführen, sondern unterliegen 2 3 4 5 6
So der Zeithistoriker Axel Schildt auf einer Tagung in Kopenhagen, zit. nach Wolfgang Kraushaar: Der Zeitzeuge als Feind des Historikers? Neuerscheinungen zur 68er–Bewegung, in: Mittelweg 36, 8, 6, (1999), S. 49–72, hier S. 70. Hervorhebung BS. Hans Jürgen Hockerts: Zugänge zur Zeitgeschichte. Primärerfahrung, Erinnerungskultur, Geschichtswissenschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B28 (2001), S. 15–30, hier S. 20. Hervorhebung BS. Vgl. u.a. Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990, S. 11–33. Hockerts, Zugänge zur Zeitgeschichte, S. 20. Konrad J. Jarausch: Zeitgeschichte und Erinnerung. Deutungskonkurrenz oder Interdependenz? In: Ders./Martin Sabrow (Hg.): Verletztes Gedächtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt, Frankfurt/M./New York 2002, S. 9–37, hier S. 31.
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Wandlungsprozessen, die durch die Anthropologisierung des Interaktionsverhältnisses eher verdeckt als erhellt werden. Die Geschichte der vielfältigen Beziehungen zwischen Zeitzeugen und Zeithistorikern wurde, soweit ich sehe, bisher nicht erzählt.7 Geht man davon aus, dass Begegnungen, Kontakte, Kooperationen und Konflikte zwischen Zeitzeugen und Zeithistorikern zu den unumgänglichen Rahmenbedingungen der Produktion zeithistorischer Erkenntnis zählen, ist diese Leerstelle bemerkenswert. Zwar existieren inzwischen einige Studien, die sich die (Selbst-)historisierung der Disziplin zur Aufgabe gemacht haben. Das Verhältnis zwischen Zeitzeugen und Zeithistorikern wird darin jedoch, wenn überhaupt, nur unter einem spezifischen Blickwinkel thematisiert. Aus verschiedenen Perspektiven wird der Zeithistoriker darin selbst als Zeitzeuge in den Blick genommen, also danach gefragt, inwiefern Geschichtsschreibung beeinflusst wird, wenn Zeitzeugenschaft und Zeitgeschichtsforschung personell zusammenfallen.8 Andere Aspekte des komplizierten und vielfältigen Beziehungsgeflechts zwischen Zeithistorikern und Zeitzeugen fanden bisher wenig Beachtung.9 Dabei berührt die Frage, ob und gegebenenfalls auf welche Weise sich eigenes Erleben in den wissenschaftlichen oder autobiografischen Texten von Zeithistorikern manifestiert, nur einen der vielen Aspekte, die das Verhältnis zwischen Zeithistorikern und Zeitzeugen ausmachen. Legt man Rothfels eingangs erwähnte Definition von Zeitgeschichtsforschung zugrunde, ist offensichtlich, dass Zeithistoriker zumeist zwar Mitlebende, aber eben keine Zeitzeugen sein dürften. Schließlich erforschen sie (auch) Ereignisse, an denen sie nicht partizipiert haben, Erfahrungen, die sie nicht teilen, oder Kontinente und Regionen, die ihnen nicht oder nur aus Forschungsaufenthalten bekannt sind. Ich möchte im Folgenden einige Aspekte des Interaktionsverhältnisses zwischen Zeitzeugen und Zeithistorikern diskutieren und damit die These verbinden, dass sich das Verhältnis zwischen Zeithistorikern und Zeitzeugen seit der Institutionalisierung der Zeitgeschichte als historischer Subdisziplin nach dem Zweiten Weltkrieg grundlegend gewandelt hat. Mein damit verbundenes Plädoyer für eine Historisierung dieses vielfältigen Beziehungsgeflechts gründet auf der Annahme,
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Eine sehr viel größere Aufmerksamkeit hat der mediale Einsatz von Zeitzeugen-Berichten erfahren. Vgl. u.a. die Beiträge von Rainer Gries, Judith Keilbach, Christoph Classen sowie Wulf Kansteiner in: Martin Sabrow / Norbert Frei (Hg.): Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945, Göttingen 2012, dort auch Hinweise auf die thematisch einschlägige Forschungsliteratur. Vgl. u.a. Nicolas Berg: Zwischen individuellem und historiographischem Gedächtnis. Der Nationalsozialismus in Autobiographien deutscher Historiker, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalyse 13 (2000), S. 181–207; Ders.: Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003; Martin Sabrow: Der Historiker als Zeitzeuge. Autobiographische Umbruchreflexionen deutscher Fachgelehrter nach 1945 und 1989, in: Konrad. H. Jarausch/Martin Sabrow (Hg.): Verletztes Gedächtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt, Frankfurt/M./New York 2002, S. 125–152. Diese Diagnose jetzt auch bei Sybille Steinbacher: Zeitzeugenschaft und die Etablierung der Zeitgeschichte in der Bundesrepublik Deutschland, in: Norbert Frei/Martin Sabrow (Hg.): Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945, Göttingen 2012, S. 145–156, hier S. 145.
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dass die Produktionsbedingungen von Zeitgeschichtsforschung sowie deren Erkenntnisse besser zu verstehen sind, wenn in den Blick genommen wird, wie und wann Zeithistoriker und Zeitzeugen mit welcher Absicht in Kontakt getreten sind und welche Ergebnisse daraus resultierten. Wie sich zeigen wird, ist die Geschichte dieses Beziehungsgeflecht auch deshalb von Interesse, weil Zeitzeugen und Zeithistoriker in Situationen der Begegnung, Kommunikation und Interaktion stets auch ihr jeweiliges Selbstverständnis und ihre Perspektiven auf die Wirklichkeit des historischen Geschehens verhandeln. Auf diese Weise gerät daher eine Arena in den Blick, in der zentrale erkenntnistheoretische, methodologische und theoretische Grundlagen der Aneignung des Vergangenen im Allgemeinen sowie der Zeitgeschichtsforschung im Besonderen verhandelt werden. Ich werde mich dabei auf die Anfänge der Zeitgeschichtsforschung in der frühen Bundesrepublik konzentrieren und das Verhältnis zwischen Zeitzeugen und Zeithistorikern anhand ausgewählter Beispiele beleuchten. An diesen Beispielen lässt sich nicht nur zeigen, dass Interaktionsverhältnisse zwischen Zeitzeugen und Zeithistorikern bereits gut zwei Jahrzehnte vor der Popularisierung von Zeitzeugnissen seit den 1980er Jahren insbesondere im Zusammenhang mit der Aufzeichnung und medialen Verwendung von Holocaust survivors testimonies bestanden. Darüber hinaus lassen sich auf diese Weise Thesen für die weitere Erforschung der Geschichte des Interaktionsverhältnisses zwischen Zeitzeugen und Zeithistorikern entwickeln, auf dessen Potential in einem abschließenden Ausblick hingewiesen werden soll. ZEITHISTORIKER UND ZEITZEUGEN IN DER FRÜHEN BUNDESREPUBLIK Das erste Schlaglicht, das ich auf die Beziehungen zwischen Zeithistorikern und Zeitzeugen werfen möchte, entstammt meinen Forschungen zum Verband der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Vermisstenangehörigen (VdH), dem im Jahr 1950 gegründeten und 2006 aufgelösten Interessenverband ehemaliger Kriegsgefangener in der Bundesrepublik, der sich für eine Vielzahl von Belangen rund um die Problematik der Kriegsgefangenschaft und Heimkehr einsetzte.10 Von besonderem Interesse sind an dieser Stelle die Kooperationsversuche zwischen dem VdH, seinen Mitgliedern und der Wissenschaftlichen Kommission für deutsche Kriegsgefangenengeschichte (WK), die von der Regierung Adenauer mit der Erforschung der Kriegsgefangenschaft deutscher Militär- und Zivilinternierter im und in Folge des Zweiten Weltkriegs beauftragt worden war. Dieser Auftrag erging im Jahr 1957, also zu einem Zeitpunkt, als sich die Zeitgeschichtsforschung als Subdisziplin der Geschichtswissenschaft gerade erst zu etablieren begonnen hatte. Die in
10 Vgl. Birgit Schwelling: Heimkehr – Erinnerung – Integration. Der Verband der Heimkehrer, die ehemaligen Kriegsgefangenen und die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft, Paderborn 2010.
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Auftrag gegebene Studie war Teil einer Reihe von historiografischen Großprojekten, die die Bundesregierung in Auftrag gegeben hatte und die in der Tradition der politischen Farbbücher standen.11 Sinn und Zweck war es, belastbares, wissenschaftlich abgesichertes Material für etwaige Friedensverhandlungen zu erarbeiten.12 Als erster Leiter der WK, die im Frühjahr 1958 ihre Arbeit aufnahm, wurde Hans Koch berufen, der zu diesem Zeitpunkt einen Lehrstuhl für osteuropäische Geschichte inne hatte, seit 1952 das Osteuropa-Institut in München leitete und zudem insofern mit der Geschichte der deutschen Kriegsgefangenen verbunden war, als er in Adenauers Delegation im September 1955 nach Moskau gereist war.13 Nach Kochs plötzlichem Tod im Frühjahr 1959 wurde Erich Maschke die Leitung der WK übertragen.14 11 Es handelt sich bei diesen Projekten zum einen um die von Theodor Schieder verantwortete, zwischen 1953 und 1962 erschienene neunbändige „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“, zum anderen um die zwischen 1958 und 1964 in fünf Bänden erschienenen „Dokumente deutscher Kriegsschäden. Evakuierte, Kriegsgeschädigte, Währungsgeschädigte“. Zur erstgenannten Dokumentation vgl. Mathias Beer: Im Spannungsfeld von Politik und Zeitgeschichte. Das Großforschungsprojekt „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 46 (1998), S. 345–389; ders.: Die Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 50 (1999), S. 99–117; ders.: „Ein der wissenschaftlichen Forschung sich aufdrängender historischer Zusammenhang.“ Von den Schwierigkeiten, „Flucht und Vertreibung“ zu kontextualisieren, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51 (2003), S. 59–64; Robert G. Moeller: War Stories. In Search for a Usable Past in the Federal Republic of Germany, Berkeley 2001, S. 51–87. 12 Zu den politischen Implikationen und den daraus resultierenden Konflikten zwischen der WK und der Bundesregierung vgl. Birgit Schwelling: Zeitgeschichte zwischen Gedächtnis und Politik. Die Wissenschaftliche Kommission für deutsche Kriegsgefangenengeschichte, der Verband der Heimkehrer und die Bundesregierung, 1957–1975, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 56 (2008), S. 227–263. 13 Vgl. Werner Maibaum: Ostkolleg der Bundeszentrale für Heimatdienst. Gründungsgeschichte und Aufbauphase, Bonn 2004, S. 30. 14 Maschke hatte zu diesem Zeitpunkt den Lehrstuhl für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Heidelberg inne, auf den er 1956 berufen worden war. Geboren am 2. März 1900 in Berlin, studierte er zunächst von 1919 bis 1923 Medizin, später in Berlin und ab 1925 in Königsberg Geschichte und Geografie. Seit 1929 war er als Dozent in Königsberg tätig, wo er in das Netzwerk um Hans Rothfels, Theodor Schieder, Werner Conze und Theodor Oberländer eingebunden war. 1935 wurde er auf den Lehrstuhl für mittlere und neuere Geschichte nach Jena berufen, im Jahr 1942 wechselte er nach Leipzig. Maschke war Mitglied der NSDAP und der SA. Wie auch andere Personen aus dem Umfeld des Königsberger Kreises stellte er sich mit seinen Schriften und Vorträgen bereitwillig in den Dienst der nationalsozialistischen Ostpolitik. Darüber hinaus war er unmittelbar in nationalsozialistische Propagandaaktivitäten eingebunden. 1945 von der Roten Armee gefangen genommen, blieb Maschke bis 1953 als Zivilinternierter in sowjetischer Gefangenschaft. Zur Vita vgl. Eckart Schremmer: Erich Maschke (2. März 1900–11. Februar 1982), in: Historische Zeitschrift 235 (1982), S. 251–255. Kritischer, vor allem auf Maschkes Aktivitäten zwischen 1933 und 1945 eingehend: Michael Burleigh: Germany turns eastwards. A study of Ostforschung in the Third Reich, Cambridge 1988; Karen Schönwalder: Historiker und Politik. Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 1992; Ingo Haar: Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten, Göttingen 2000.
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Die Kooperation zwischen WK und VdH war nicht ausschließlich, aber doch wesentlich auf die Tatsache zurückzuführen, dass die WK ein Quellenproblem hatte. Die zugänglichen und zur Verfügung stehenden Quellen bezogen sich im Wesentlichen auf die Gefangenschaft in den Kriegsgefangenenlagern der westlichen Alliierten. Die Archive in der Sowjetunion und den Ostblockstaaten blieben jedoch verschlossen, so dass für einen wichtigen Aspekt der Studie keine Akten zur Verfügung standen. Von daher wurde rasch deutlich, dass die WK weitere Quellen selbst erschließen musste. Vor diesem Hintergrund suchte sie unter anderem über den VdH Zugang zu ehemaligen Kriegsgefangenen. Die beiden Institutionen starteten seit 1959 verschiedene gemeinsame Initiativen mit dem Ziel, ehemalige Kriegsgefangene für eine Zusammenarbeit zu gewinnen. Auf diese Weise sollten mündliche und schriftliche Berichte über die Kriegsgefangenschaft aufgezeichnet und gesammelt werden. Dies sollte sich jedoch rasch als schwierig erweisen. Obwohl vielfältige Anstrengungen unternommen wurden, waren nur wenige der ehemaligen Kriegsgefangenen bereit, Berichte zu verfassen oder sich befragen zu lassen. Hier nun beginnt die Geschichte des sich sukzessive verschärfenden Konflikts zwischen beiden Institutionen, der sich bereits im Zusammenhang mit der Frage nach den Ursachen für die Verweigerung der ehemaligen Kriegsgefangenen andeutete, und der schließlich im offenen Streit und dem Abbruch der Kooperation münden sollte. Während die WK die Ursache für die mangelnde Auskunftsbereitschaft auf Seiten des VdH vermutete, deutete der VdH die Zurückhaltung seiner Mitglieder als Folge einer „Müdigkeit“ und „Unlust“, „in der Vergangenheit zu wühlen“,15 sowie als Folge traumatischer Erlebnisse, mit denen es sensibel umzugehen gelte: „Es bereitet Unbehagen, eine vergangene Zeit, die man komplex im Inneren besitzt, in Details betrachten zu sollen. [...] Wissenschaft und Totalität des Erlebnisses vertragen sich offenbar nicht immer. Solange Menschen aber aus der Totalität ihres Erlebnisses kraftvoll und verantwortungsbewußt leben wollen und deshalb diese Totalität auch nicht zerstören lassen wollen, solange ist nach meiner Ansicht der wissenschaftliche Zugriff nur mit großer Behutsamkeit möglich. Er könnte auch störend bzw. zerstörend wirken.“16
Während der VdH hier eine Art Selbstschutzmechanismus vermutete, der aufgrund der als traumatisch gedeuteten Erfahrungen in den Kriegsgefangenenlagern notwendig sei, hatten sich die Mitarbeiter der WK eine instrumentelle Perspektive zu eigen gemacht. So wurde auf Seiten der WK die Ansicht vertreten, dass es sich bei der Dokumentation um „eine staatspolitische Notwendigkeit“ handele und dass daher möglicherweise vorhandene Sensibilitäten zurückzustehen hätten. Habe ein Heimkehrer „erst einmal die Bedeutung der Kriegsgefangenengeschichte als Teil der Zeitgeschichte erkannt, macht er in der Mehrzahl der Fälle doch den Mund auf.“ Notwendig sei, „dass man einer anfänglichen Zurückhaltung dieser Menschen mit der nötigen Hartnäckigkeit zu Leibe rückt.“17 Hier bereits zeigten sich deutliche Unterschiede in den jeweiligen Perspektiven auf Zeitzeugenschaft. Während der 15 Schwarz (VdH) an Böhme (WK), 12. April 1962, Bundesarchiv-Militärarchiv (BA-MA), B 205/1756. 16 Ebd. 17 Böhme (WK) an Schwarz (VdH), 16. April 1962, BA-MA, B 205/1756.
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VdH eine Behutsamkeit im Umgang mit zum Teil traumatisierten Personen anmahnte, betrachtete die WK die ehemaligen Kriegsgefangenen als „Wissensträger“, so der von den Mitarbeitern der WK häufig gebrauchte Terminus, die ihr persönliches Schicksal und ihre Befindlichkeiten einer übergeordneten Aufgabe unterzuordnen hatten. Eine weitere Ursache für die Zurückhaltung der ehemaligen Kriegsgefangenen gegenüber der WK war auf das methodische Vorgehen der WK zurückzuführen. Dies lässt sich beispielsweise aus einer Anfrage an die Geschäftsstelle des VdH entnehmen, in der ein ehemaliger Kriegsgefangener über das ihn irritierende Vorgehen der WK berichtete.18 Er hatte sich auf einen Aufruf der WK gemeldet, in dem um Auskunft über die Arbeitsnormen und deren Erfüllung in den Kriegsgefangenenlagern gebeten wurde.19 Mit der daraufhin von der WK ausgesprochenen Einladung zu einem „ausführlichen Tonbandgespräch“ ging dem Zeitzeugen ein Fragebogen mit 64 detaillierten Fragen zu, die vor dem Gespräch schriftlich beantwortet werden sollten.20 Aus der Anfrage, die der ehemalige Kriegsgefangene daraufhin an den VdH richtete, wird deutlich, dass er sich von der „Unmenge an Fragen, die sich bis ins Unendliche erstrecken“, nicht nur völlig überfordert fühlte, sondern dass er diese Vorgehensweise, wie aus einem zweiten Schreiben an den VdH hervorgeht, grundsätzlich in Frage stellte.21 Die methodische Vorgehensweise der WK überforderte die ehemaligen Kriegsgefangenen einerseits, und andererseits ignorierte und verfehlte sie die Erinnerungs- und Erzählbedürfnisse derjenigen, die sich zu einer Auskunft über ihre Erfahrung der Kriegsgefangenschaft bereitfanden. Weitere Differenzen wurden im Zusammenhang mit der Einschätzung des Stellenwertes von Erinnerungsberichten deutlich. Maschke hatte im Rahmen eines Vortrags auf dem Verbandtag des VdH in Berlin im September 1960 deutlich gemacht, dass die Aussagen der „Wissensträger“ vor allem als Ergänzung zu den schriftlichen Quellen und als deren mögliches Korrektiv betrachtet wurden. Die Berichte würden im Anschluss an die Auswertung der primären Quellen „in einem weiteren Arbeitsgang“ dann herangezogen, wenn „das vorhandene Material nicht ausreicht, um bestimmte Erscheinungen oder Tatbestände erklären zu können.“ Maschke fuhr fort:
18 St. an Hauptgeschäftsstelle des VdH, 3. November 1962, BA-MA, B 205/1758. 19 Dieser Aufruf erging über den „Heimkehrer“, die Mitgliederzeitung des VdH. Vgl. Der Heimkehrer 13, 18 (1962), S. 10. 20 Einen Eindruck von den Fragen vermittelt das folgende Zitat aus einem von Kurt Böhme (WK) für den „Heimkehrer“ erstellten Artikel, in dem er erläutert, welche Art von Informationen die WK von den ehemaligen Kriegsgefangenen zu erhalten hoffte: „Bei Ausschachtungsarbeiten z.B. muss gesagt werden, wie viel Kubikmeter Erdreich in welcher Zeit, auf welche Weise, wie weit und womit (z.B. Schubkarren) zu bewegen waren.“ Vgl. Der Heimkehrer 12, 13/14 (1961), S. 5. 21 St. an Hauptgeschäftsstelle des VdH, 25. November 1962, BA-MA, B 205/1758.
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Birgit Schwelling „In der gezielten Befragung werden an eine größere Zahl ehemaliger Kriegsgefangener Fragebogen mit bestimmten Fragen gesandt, um deren Antwort gebeten wird. Diese Antworten sollen das sonstige Material ergänzen, wo es unzulängliche Antworten ergibt.“22
Die Bedeutung, die den ehemaligen Kriegsgefangenen in diesem Projekt zukommen sollte, so Maschke weiter, „ergibt sich vor allem aus den Lücken unseres Materials.“23 Während die WK die Erfahrungsberichte ehemaliger Kriegsgefangener als Quellen zweiter Ordnung betrachtete, die nur dann relevant wurden, wenn keine anderen Überlieferungen zur Verfügung standen, enthielten diese Berichte aus Sicht des VdH wichtige Informationen, die aus anderen Quellen nicht zu entnehmen waren und die in eine Geschichte der Kriegsgefangenschaft unbedingt zu integrieren waren. Diesbezüglich ist ein Briefwechsel zwischen den Geschäftsführern der beiden Institutionen, Kurt Böhme (WK) und Werner Kießling (VdH), aufschlussreich. Böhme, der sich in seinem Brief auf eine vom VdH zusammengestellte Sammlung von Berichten ehemaliger Kriegsgefangener bezieht, war darum bemüht, das Wissenschaftsverständnis der WK zu erläutern und von der Konzeption des VdH abzugrenzen: „Während bei Ihren Autoren die philosophischen und gefühlsbedingten Betrachtungsweisen vorherrschen, schreiben wir ja Geschichte auf einer durchaus sachlichen und mit konkreten Tatsachen belegten Basis. Gerade das Konkrete aber tritt in den Beiträgen Ihrer Autoren sehr stark hinter die Reflexion zurück. Vieles davon ist reine Meditation und sagt nichts aus über die in der Kriegsgefangenschaft in Erscheinung getretenen Lebensformen.“24
Aus Kießlings Perspektive jedoch waren, wie aus seinem Antwortschreiben zu entnehmen ist, diese „Meditationen“ ebenso als „Tatsache“ zu werten, insofern sie Aufschluss geben konnten über die „besondere Mentalität des Heimkehrers“ und „den besonderen Geist, der in und aus der Kriegsgefangenschaft wuchs“: „Dieser Geist ist also eine genauso konkrete Tatsache wie beispielsweise das Versagen eines Offiziers in einem Gefangenenlager Sowjetrußlands oder die Verhaltensweise eines sowjetischen Offiziers den deutschen Gefangenen gegenüber. Die Konkreta, die zusammen eine Kriegsgefangenengeschichte ausmachen, sind Konkreta aus vielen Schichten.“25
Und er stellte im Weiteren klar, dass es seinem Verständnis nach einer „umfassenden Konzeption“ bedürfe, um eine Kriegsgefangenengeschichte „als Ganzes“ zu schreiben. Kießling nahm jedoch nicht nur Anstoß an der von der WK vertretenen Differenzierung zwischen objektiver Geschichtsschreibung und subjektiver Reflexion, sondern rieb sich auch an der Frage, wer autorisiert sei, die Form der Veröffentlichung festzulegen. Er äußerte in diesem Zusammenhang die Vermutung, dass die
22 VdH (Hg.): Sinn und Aufgabe der Kriegsgefangenendokumentation. Ein Vortrag von Prof. Dr. Erich Maschke, Bad Godesberg 1960, S. 11. 23 Ebd. S. 13. 24 Böhme (WK) an Kießling (VdH), 21. Mai 1962, BA-MA, B 205/1758. 25 Kießling (VdH) an Böhme (WK), 8. Juni 1962, BA-MA, B 205/1758.
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WK die Absicht habe, „die legitime Form für ein Buch der Kriegsgefangenengeschichte allein zu bestimmen.“ Der VdH gebe sich jedoch nicht mit der „Herbeischaffung von Material“ zufrieden, sondern wolle „mitarbeiten“, was nach Kießlings Ansicht „auch das Recht der Kontrolle“ beinhalte, „wenn wir schon unser eigenes Erlebnis der Wissenschaftlichen Kommission [...] zur Verfügung stellen.“26 Hier wird deutlich, dass der VdH regelrecht eine Enteignung der Erfahrung durch die Wissenschaftler der WK fürchtete, einer Erfahrung, die in den Reihen des VdH stets auch sakralisiert und überhöht wurde, etwa, indem argumentiert wurde, dass die Lager-Erfahrung, einem reinigenden Konversionserlebnis gleich, bei den ehemaligen Kriegsgefangenen zur Ausbildung von besonders wertvollen Kompetenzen und einer privilegierten Sicht auf gesellschaftspolitische Probleme geführt habe.27 Die Forderung, die Produktion des wissenschaftlichen Wissens kontrollieren zu können, resultierte daher auch aus der Furcht der „Kontaminierung“ und Zerpflückung dieser als wertvolle Ressource gedeuteten Erfahrung durch die Wissenschaftler der WK. Es liegt auf der Hand, dass die WK diese Forderung auf das „Recht der Kontrolle“ nicht unbeantwortet lassen konnte. Der Konflikt zwischen WK und VdH hatte zu diesem Zeitpunkt eine Dimension erreicht, die ein Einschreiten des Leiters der WK, Erich Maschke, notwendig erscheinen ließ. In einem neunseitigen Schreiben an Kießling war er darum bemüht, den wissenschaftlichen und methodischen Standpunkt der WK zu verdeutlichen. Maschke wehrte sich zuallererst gegen das, was er als Infragestellung der „wissenschaftlichen Integrität“ der Wissenschaftler in der WK interpretierte. Er machte deutlich, dass Wissenschaft „frei“ zu sein habe, also „keinen vorgefassten Meinungen, keinem politischen Auftrag und keinen Verbandinteressen unterworfen“ werden dürfe und außerdem „jeder möglichen Legendenbildung“ entgegenzuwirken habe.28 Angesichts von Maschkes Engagement während des Nationalsozialismus und angesichts des politischen Auftrags der WK war dies eine Aussage, die der Selbstverleugnung nahe kam, zumindest aber von einem mangelnden Reflexionsvermögen und einer naiven Sicht auf die Produktionsbedingungen der Studie geprägt war. Auch das Bild des Historikers, das er im Folgenden entwarf, war davon nicht frei. Dieser sei ein neutraler, vorurteilsfreier Beobachter, der gerade aufgrund seiner Nicht-Betroffenheit im Stande sei, Geschichte von einem objektiven Standpunkt aus zu schreiben. Die Vorstellung einer von Zeitzeugen besorgten Geschichtsschreibung, die, so jedenfalls Kießling, aufgrund ihrer Erfahrungen über eine privilegierte Erkenntnisvoraussetzung verfügten, lehnte er hingegen strikt ab, indem er die Nähe zum Gegenstand als kaum zu überwindendes Hindernis seriöser historischer Forschung darstellte: „Es ist ungewöhnlich, ja, unmöglich, dass die Betroffenen ein objektives Bild erarbeiten sollen. Ihre Berichte sind subjektiv und können nur subjektiv sein. Die Wahrheit zu finden,
26 Ebd. 27 Vgl. dazu ausführlich Schwelling: Heimkehr, Kap. 3. 28 Maschke (WK) an Kießling (VdH), 22. Juni 1962, BA-MA, B 205/1758.
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Birgit Schwelling ist Aufgabe derer, die aus der Vielzahl subjektiver Berichte ein objektives Mosaik zusammensetzen.“29
Und er ließ es sich nicht nehmen darauf hinzuweisen, dass „Mommsen bekanntlich eine Geschichte der Römer geschrieben habe, ohne selbst ein alter Römer gewesen zu sein.“ Abgesehen davon, dass Maschke hier die Besonderheit der Zeitgeschichtsforschung gegenüber der Erforschung älterer Epochen völlig außer Acht ließ, verstrickte er sich im Weiteren mit seinem Bekenntnis, selbst erst im Jahr 1953 aus sowjetischer Gefangenschaft zurückgekehrt zu sein, in gewisse Widersprüche. Im Spannungsverhältnis zu seiner Auffassung vom Prozess der Erkenntnisgewinnung, der zufolge Betroffenheit Objektivität verhindere, stand die Aussage, dass seine Gefangenschaft „wohl eine gewisse Garantie für die richtige Auswertung der Quellen“ gewähre.30 Zwei unterschiedliche Perspektiven auf die Wirklichkeit der Geschichte waren es, die die Kooperation zwischen den Wissenschaftlern in der WK und den Zeitzeugen im VdH schließlich scheitern ließen. Diese Perspektiven standen in starker Opposition zueinander und gerieten hinsichtlich grundlegender erkenntnistheoretischer und methodischer Perspektiven miteinander in Konflikt. In den Vorstellungen der WK waren die Zeitzeugen „Wissensträger“, denen die Aufgabe zukommen sollte, Informationen dann zu liefern, wenn die primären Quellen keine Auskunft gaben oder nicht verfügbar waren. Die Lager-Erfahrungen der ehemaligen Kriegsgefangenen wurden dabei als Steinbruch wahrgenommen, aus dem sich auf Abruf und ohne Probleme beliebig Bruchstücke herauslösen und abrufen ließen. Jenseits dieses auf die Faktizität des Lebens in den Lagern abzielenden Erkenntnisinteresses war die WK an den Erfahrungen der ehemaligen Kriegsgefangenen nicht interessiert. „Wissen“, nicht „Erfahrung“ und „Erinnerung“, standen hier im Zentrum. Für den VdH hingegen stellte die Lager-Erfahrung eine Einheit, eine „Totalität“ dar, die sich nicht beliebig in Einzelteile zerpflücken ließ. Damit war einerseits eher intuitiv und tastend die Problematik der Kommunikation von möglicherweise traumatischen Erfahrungen angesprochen, auf die auch die Wissenschaft Rücksicht zu nehmen habe. Andererseits war damit eine regelrechte Überhöhung und Sakralisierung verbunden, in der die Lager-Erfahrung zur wichtigen Ressource in der Nachkriegszeit und die ehemaligen Gefangenen zu besonderen, durch diese Erfahrung geläuterten Personen ausgerufen wurden. Das war es, was die Erfahrung der Kriegsgefangenenlager aus der Sicht des VdH ausmachte und was daher zum Drehund Angelpunkt der Geschichte der Kriegsgefangenschaft werden sollte: Die „besondere Mentalität des Heimkehrers“ und „der besondere Geist, der in der Kriegsgefangenschaft wuchs“.31 Aus der Sicht des VdH waren das (auch) „Tatsachen“, die bei der WK jedoch lediglich als „Meditation“ und „Reflexion“ qualifizierten und eben nicht den Kern und „das Konkrete“ ausmachten. Und schließlich lassen sich auch hinsichtlich der erkenntnistheoretischen Voraussetzungen des Forschungsprozesses diametral entgegen gesetzte Positionen ausmachen. Während das 29 Ebd. 30 Ebd. 31 Kießling (VdH) an Böhme (WK), 8. Juni 1962, BA-MA, B 205/1758.
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eigene Erleben auf Seiten der WK als Hemmnis im Erkenntnisprozess wahrgenommen wurde, waren es nach Einschätzung des VdH gerade solche Erfahrungen, die einen privilegierten Zugang zum Forschungsgegenstand konstituierten. Diese Position war bei Maschke allerdings nur unter Ausblendung der Tatsache, selbst bis 1953 in sowjetischen Lagern interniert gewesen zu sein, aufrechtzuerhalten. Entgegen gängiger Annahmen, dass der Zeitzeuge als juridische und mediale Figur mit dem Jerusalemer Eichmann-Prozess entstand und der zeithistorischen Forschung erst durch die Erfindung der Oral History in den 1980er Jahren in den Blick geriet, deutet die oben geschilderte, gescheiterte Kooperation zwischen Zeithistorikern und Zeitzeugen darauf hin, dass die Zeitgeschichtsforschung in der Bundesrepublik bereits seit ihren Anfängen mit Zeitzeugen konfrontiert war, mit ihnen zu kooperieren versuchte, jedenfalls in Kontakt stand. Aber lässt sich dieser Befund tatsächlich auf die Formationsphase der Zeitgeschichtsforschung übertragen oder handelt es sich hier um eine einzigartige Konstellation, die aufgrund spezifischer Bedingungen zu Stande gekommen war? Aufgrund fehlender, thematisch einschlägiger Studien lässt sich diese Frage nicht mit Sicherheit beantworten. Die wenigen, zur Verfügung stehenden Untersuchungen deuten jedoch darauf hin, dass es sich bei dieser Konfrontation zwischen Zeitzeugen in Gestalt der ehemaligen Kriegsgefangenen und den Historikern in der WK nicht um einen Einzelfall handelte, sondern dass im Gegenteil davon auszugehen ist, dass den Berichten von Zeitzeugen gerade in der Formationsphase der Zeitgeschichtsforschung in der Bundesrepublik ein großer Stellenwert zukam. Das, was der WK zum Problem wurde und sie überhaupt erst dazu veranlasste, zu den Zeitzeugen Kontakt zu suchen, lässt sich für die Zeitgeschichtsforschung in ihren Anfangsjahren insgesamt konstatieren. Wie der WK standen auch anderen Forschern Dokumente noch kaum zur Verfügung, unter anderem deshalb, weil Akten von NS-Organisationen bei Kriegsende systematisch zerstört worden waren, Dokumente der deutschen Besatzungsverwaltungen in den eroberten Ländern nicht zugänglich waren und die Archive im östlichen Europa verschlossen blieben. Von daher stand die in ihrer thematischen Ausrichtung eng auf die nationalsozialistische Gewaltherrschaft bezogene Zeitgeschichtsforschung insgesamt vor der Aufgabe, Quellen selbst zu produzieren. Sybille Steinbacher hat aufgezeigt, dass dies auch auf das 1949 zunächst unter dem Namen Deutsches Institut für Zeitgeschichte der nationalsozialistischen Zeit gegründete Institut für Zeitgeschichte (IfZ) in München zutraf.32 Das IfZ begann bereits 1951, eine umfassende Sammlung von Zeitzeugenberichten – genannt „Zeugenschrifttum“ – anzulegen. Der im Wesentlichen in den 1950er und 60er Jahren erstellte Bestand umfasst Berichte von rund 3.000 Personen. Der zeitliche Fokus liegt auf der NS-Zeit, wobei Berichte von Personen überwiegen, die in dieser Phase politische, administrative und militärische Funktionen besessen hatten. Zeitzeugen waren in diesem Kontext demnach Personen, die den NS-Staat mitgestaltet hatten und die aus der Innenperspektive Näheres darüber berichten konnten. Hier zeigen sich Parallelen zu der Motivation der Historiker in der
32 Steinbacher: Zeitzeugenschaft, daraus auch die folgenden Informationen.
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WK, überhaupt den Kontakt zu den Zeitzeugen zu suchen. Auch bei dieser Sammlung ging es offenbar um die Erfassung von Informationen, die auf anderem Wege nicht zu beschaffen waren. Dies scheint auch für die wenigen Berichte von Opfern und Überlebenden der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu gelten, die sich im Bestand Zeugenschrifttum finden. Sie wurden nach detaillierten Informationen unter anderem zu SS-Brigaden befragt, nicht aber wurden ihnen „Fragen nach individuellem Leid, nach lebensgeschichtlichen Brüchen und deren Verarbeitung“ gestellt.33 Einiges deutet also darauf hin, dass Zeitzeugen – in diesem Kontext sowohl die ehemaligen Funktionsträger des NS-Apparates als auch die Opfer und Überlebenden – auch hier als „Wissensträger“ wahrgenommen wurden, mit deren Aussagen die Lücken der zur Verfügung stehenden Quellen geschlossen oder zumindest aufgefüllt werden sollten. Dies trifft auch auf ein weiteres Projekt aus der Frühphase der bundesdeutschen Zeitgeschichte zu. Es handelt sich um das bereits erwähnte Forschungsprojekt über die Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa.34 Auch hier wurde mangels nicht vorhandener oder nicht zugänglicher staatlicher Akten auf Berichte von Zeitzeugen zurückgegriffen, aber im Unterschied zur WK wurde diesen Berichten in den Publikationen der Schieder-Kommission, wie sie nach ihrem Leiter Theodor Schieder auch genannt wurde, ein prominenter Stellenwert eingeräumt. Einiges deutet jedoch darauf hin, dass auch in diesem Projekt die Zeitzeugenberichte als Ergänzung zu den als eigentlich wichtig angesehenen Quellen eingestuft wurden. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die methodischen Überlegungen von Martin Broszat, der als Historiker der jüngeren Generation am Projekt beteiligt war.35 Folgt man seinen Ausführungen, zielte das Projekt darauf ab, „eine echte Repräsentation der Wirklichkeit des Geschehens“ der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa zu erarbeiten, wobei die „Wirklichkeit“ sich auch hier nicht auf den Bereich der Erfahrung der Vertreibung, sondern auf die Faktizität des Geschehens bezog.36 „Ort- und Zeitangaben“ sowie „Zahlenangaben“ waren in diesem Zusammenhang von äußerster Wichtigkeit.37 In der Beschreibung der Anforderungen, die die Schieder-Kommission an die Berichte der Vertriebenen stellte, finden die Begriffe „sachlich“, „nüchtern“, „objektiv“, „genau“, „verlässlich“, „einwandfrei“, „korrekt“ und „richtig“ die häufigste Verwendung. Die Gegenbegriffe lauten „emotional“, „gefühlsbestimmt“, „pathetisch“, „subjektiv“ und „unverlässlich“, wobei Broszat vor dem Hintergrund der Vermutung, dass insbesondere Berichte 33 Ebd. S. 152. 34 Vgl. die Literaturhinweise in Fußnote 11. Beer leuchtet das Verhältnis zwischen Zeitzeugen und Zeithistorikern im Rahmen dieses Projektes leider nicht aus, aber deutet an, dass es auch in diesem Projekt zu Konflikten zwischen Zeitzeugen und ihren Verbänden und Zeithistorikern kam. Vgl. Beer: Im Spannungsfeld von Politik und Zeitgeschichte, S. 376; ders.: „Ein der wissenschaftlichen Forschung sich aufdrängender wissenschaftlicher Zusammenhang“, S. 60; ders., Die Dokumentation, S. 114. 35 Martin Broszat: Massendokumentation als Methode zeitgeschichtlicher Forschung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 2 (1954), S. 202–213. 36 Ebd. S. 204. 37 Ebd. S. 209f.
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von Frauen subjektiv gefärbt seien, erstaunt feststellte, dass sich die Befürchtung der höheren Unzuverlässigkeit ihrer Berichte nicht bestätigt habe und diese in die Vorauswahl der „einwandfreien Berichte“ immerhin in einer Größenordnung von 38 Prozent (befragte Männer 46 Prozent) aufgenommen wurden.38 Solcherlei Maßstäbe verlangten nach einer Quellenkritik, die „in manchmal fast kriminalistischer Untersuchung“ in erster Linie auf die „inhaltliche Prüfung“ der Erzählungen abzielte.39 Fragen etwa nach der Korrektheit von Ort- und Zeitangaben, von Opferzahlen und involvierten Akteuren standen dabei im Zentrum. Broszat ging in seinen methodischen Überlegungen jedoch noch einen Schritt weiter, indem er von den Befragten verlangte, ihre Berichte in selbstkritischer Manier vorab und im Verlauf der Verfertigung selbst zu prüfen. Er verdeutlichte diese Forderung anhand einer Passage aus einem Bericht, den er für gänzlich misslungen hielt: „ ... Von den anderen Deutschen wurden 238 noch am Vormittag Richtung H. abgeführt. Von ihnen fehlt jede Spur. Ein Arbeitsverpflichteter, der nach H. kam, sah an einem der nächsten Tage Wagen mit Kleidungsstücken durch den Ort fahren ...“
Broszat fährt fort: „Wäre hier der echte Wille zur Aufklärung und wirkliche Sachlichkeit vorhanden gewesen, dann hätten Angaben von solchem Gewicht nicht in einem Atemzuge genannt und kommentarlos nebeneinandergestellt werden dürfen, der Berichterstatter hätte wenigstens zur Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit der indirekt ausgesprochenen Vermutung Stellung nehmen müssen.“40
Die Zeitzeugen waren demnach nicht nur aufgefordert möglichst sachlich, nüchtern und emotionslos zu berichten, sondern sie sollten darüber hinaus darum bemüht sein, ihre Erzählungen auf Kohärenz und Zusammenhang zu prüfen. Dass sich in Aussagen wie der oben zitierten möglicherweise eine Wirklichkeit jenseits faktischer Ereignisse und kausaler Zusammenhänge manifestierte, beispielsweise Ängste kommuniziert wurden, geriet nicht in den Blick des Historikers oder wurde als Störfall klassifiziert und von der weiteren Verwendung durch die Mitarbeiter der Kommission ausgeschlossen. Daher waren besonders geeignete Zeitzeugen gerade auch diejenigen, die bereits „Distanz“ zum Geschehen aufgebaut hatten und „seelisch und materiell“ nicht mehr übermäßig „an den Folgen der Vertreibung litten.“41 Korrespondierend sollte die Strategie der Befragung durch die Historiker so gestaltet sein, „daß sie von emotionalen Äußerungen ablenkt und zur sachlichen Berichterstattung hinführt.“42 Anhand der drei angeführten Beispiele lässt sich plausibel vermuten, dass Zeitzeugen und ihren Berichten in der bis etwa Mitte der 1960er Jahre anhaltenden Formationsphase der Zeitgeschichtsforschung in der Bundesrepublik eine bedeutende Rolle zukam. Allerdings scheinen die Kontakte zwischen Zeitzeugen und Zeithistorikern eher aus der Not geboren worden zu sein. Auf Zeitzeugenberichte wurde 38 39 40 41 42
Ebd. S. 209. Ebd. S. 210, 209. Ebd. S. 211. Ebd. S. 206. Ebd. S. 207.
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zurückgegriffen, weil die als wesentlich angesehenen Quellen, vor allem die staatlichen Akten, nicht oder nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung standen. Zeitzeugenberichte wurden gewissermaßen als Ersatzteillager wahrgenommen, mit dem sich vorläufig zu begnügen hatte, wem keine anderen Quellen zugänglich waren. Plausibel lässt sich auch die These formulieren, dass das Verhältnis zwischen Zeithistorikern und Zeitzeugen von großer Distanz geprägt war und dass deren Interaktionen größtenteils konfliktbehaftet waren. Diese Konstellation hat zwar teilweise dazu geführt, dass über Möglichkeiten und Grenzen der wissenschaftlichen Nutzung dieser spezifischen Quellen reflektiert wurde. Es finden sich jedoch wenig Anzeichen, die dafür sprechen, dass daraus methodologische Innovationen hervorgegangen wären. Vielmehr wurden an die Berichte der Zeitzeugen dieselben Kriterien angelegt, die im Zusammenhang mit staatlichen Akten und anderen, traditionelleren Quellen etabliert waren. Berichte von Zeitzeugen wurden wie andere Quellen behandelt und ihre Spezifität wurde nicht erkannt bzw. ausschließlich als Störfaktor wahrgenommen. Soweit ich sehe, scheint diesbezüglich tatsächlich erst mit dem Aufkommen der Oral History in den 1980er Jahren ein Wandlungsprozess stattgefunden zu haben. Jahrzehnte später sollte gerade das, was im Rahmen von zeithistorischen Projekten in der frühen Bundesrepublik als Störfaktor und Ausschlusskriterium definiert wurde, selbst zum Forschungsgegenstand und Erkenntnisinteresse werden, nämlich: die Wahrnehmungen und Deutungen von Subjekten, die Mechanismen der Verarbeitung von Erfahrungen sowie die Funktionslogiken des Erinnerns. Dazwischen jedoch – zwischen diesen formativen Jahren in den 1950er und frühen 1960er Jahren und den ersten Anzeichen für eine kulturalistische Wende in den 1980er Jahren – scheint die Zeitgeschichtsforschung die Zeitzeugen aus dem Blick verloren zu haben. Martin Broszat, Karl Buchheim, Helmut Heiber, Hans Mommsen und andere, damals jüngere Vertreter des Fachs distanzierten sich bekanntlich rasch von der wissenschaftlichen Vorgängergeneration, zu denen unter anderen Hans Rothfels, Theodor Eschenburg oder Helmut Krausnick zählten,43 und sie verlagerten den Blick auf die Strukturgeschichte, auf Funktionsmechanismen sowie auf Organisations- und Befehlsstrukturen des NS-Staates. Diese Perspektive auf die Geschichte kam ohne Zeitzeugen aus, und es wäre genauer zu prüfen, ob die Hinwendung zu entpersonalisierten Strukturen durch diese zweite Historikergeneration auch auf die Erfahrungen mit den Zeitzeugen in den frühen zeithistorischen Projekten zurückzuführen waren. Jedenfalls lässt sich plausibel annehmen, dass der Zeitzeuge nach seiner gewissermaßen unfreiwilligen, dem Mangel an Quellen geschuldeten Entdeckung zunächst wieder aus dem Blick geriet, bis er von der Oral History in den 1980er Jahren neu entdeckt und die Erzählungen von Zeitzeugen nunmehr als Quelle eigenen Rechts konzeptualisiert wurden.
43 Vgl. zu den Generationen der deutschen Zeitgeschichtsforschung Ralf Jessen: Zeithistoriker im Konfliktfeld der Vergangenheitspolitik, in: Konrad H. Jarausch/Martin Sabrow (Hg.): Verletztes Gedächtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt, Frankfurt/M./New York 2002, S. 153–175, dort auch Hinweise auf thematisch einschlägige Literatur.
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AUSBLICK Selbst ein nur oberflächlicher Blick auf die Oral History und ihre Akteure lässt deutlich werden, dass mit ihrer Etablierung in den 1980er Jahren eine neue Phase im Verhältnis zwischen Zeitzeugen und Zeithistorikern begann, die sich zuallererst dadurch auszeichnete, dass Kontakte überhaupt wieder aufgenommen wurden.44 Es begann jedoch nicht nur eine neue, sondern auch eine im Vergleich zu den 1950er und 60er Jahren neuartige Hinwendung zu den Zeitzeugen, die insbesondere in den Anfängen der Oral History von großer Empathie getragen war. Das, was das Interaktionsverhältnis zwischen Zeithistorikern und Zeitzeugen in der formativen Phase der Zeitgeschichtsforschung prägte, nämlich ein hohes Maß an Distanz, verkehrte sich nun in ihr genaues Gegenteil, nämlich in eine Nähe, die zumindest in der Frühphase der Oral History teilweise zu einer Überidentifikation der Oral Historians mit den Zeitzeugen führte. Dies war sicherlich auch darauf zurückzuführen, dass nun ein anderer Personenkreis in den Blick geriet. Nicht mehr die Funktionsträger des NS-Regimes oder die deutschen Soldaten und Vertriebenen qualifizierten nun als Zeitzeugen, sondern diejenigen, die bisher außerhalb der Wahrnehmung der Historiografie geblieben waren: Arbeiter und ihre Bewegungen, die sogenannten kleinen Leute und deren Lebensweisen, die Opfer von politischer Unterdrückung und Formen des politischen Protests und Widerstands, später auch „das Volk“, verstanden als die in wechselnden politischen Systemen schweigende Mehrheit. Eine genauere Analyse würde weitere gewichtige Unterschiede deutlich werden lassen. Um ihnen im aufgezeigten Kontext wie auch insgesamt im Rahmen einer Geschichte der Interaktionsverhältnisse zwischen Zeitzeugen und Zeithistorikern weiter nachzuspüren, wäre genauer zu analysieren, wer in unterschiedlichen Kontexten und Phasen überhaupt als Zeitzeuge qualifizierte, welche Definitionen sich jeweils damit verbanden, wessen Erfahrungen als geschichtsmächtig und -würdig eingestuft wurden, welcher Status den Zeitzeugen von Seiten der Zeitgeschichtsforschung jeweils zugeschrieben wurde und welche Transformationen das Konzept der Zeitzeugenschaft erfahren hat. Sich wandelnde Verständnisse der Bedeutung von Zeitzeugnissen, Berichten und Erzählungen wären ebenso in den Blick zu nehmen wie die Frage nach der Rolle, die Zeitzeugen im Forschungsprozess einerseits beanspruchen und die ihnen andererseits von Zeithistorikern zugewiesen wird. Zu fragen wäre außerdem nach den gesellschaftspolitischen und lebensweltlichen Einflussfaktoren, die die Interaktionsverhältnisse zwischen Zeithistorikern und Zeitzeugen sowie die damit jeweils verbundenen Konzeptionen von Geschichte jeweils prägen und beeinflussen. So hat Ralf Jessen darauf hingewiesen, dass die Etablierung der Oral History in der Bundesrepublik von Zeithistorikern vorangetrieben wurde, die über keine Primärerfahrung der Zeit vor 1945 verfügten.45 Möglicherweise war es ihnen gerade aufgrund dieser lebensweltlichen Distanz möglich, 44 Einen guten Überblick über die Entwicklung der Oral History bietet Dorothee Wierling: Oral History, in: Michael Maurer (Hg.): Aufriß der Historischen Wissenschaften, Bd. 7: Neue Themen und Methoden der Geschichtswissenschaft, Stuttgart 2003, S. 81–151. 45 Jessen: Zeithistoriker im Konfliktfeld der Vergangenheitspolitik.
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den Zeitzeugen wieder auf die Agenda zu setzen und Zeitzeugenberichte als Quellen zu mobilisieren. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass die hier thematisierten frühen Projekte und die in diesen Rahmen entstandenen Bestände an mündlichen Quellen in den Debatten um die Oral History keine Rolle spielen. Wenn auf Traditionslinien verwiesen wird, dann liegen diese außerhalb der Bundesrepublik und der deutschen Geschichte.46 Hier wäre genauer zu prüfen, ob mit dieser auffälligen Ausblendung eine bewusste Strategie der Abgrenzung gegenüber früheren Generationen von Zeithistorikern verbunden ist. Somit ließe eine genauere Betrachtung dieser generationellen Differenzen auch Rückschlüsse erhoffen über den Zusammenhang von lebensweltlichen Prägungen und methodisch-theoretischen Präferenzen von Zeithistorikern. Im Kontext der Frage nach der „Wirklichkeit der Geschichte“ bieten die vielfältigen und sich wandelnden Interaktionsbeziehungen zwischen Zeitzeugen und Zeithistorikern gerade deshalb ein ertragsreiches empirisches Feld, weil die Akteure in diesen Begegnungen und durch diese Kooperationen mit Perspektiven auf Geschichte konfrontiert werden, die von ihren eigenen (alltags-)theoretischen Konzepten abweichen. Von daher sind diese Interaktionen dazu prädestiniert, bei den Beteiligten Reflexionen über grundlegende methodisch-theoretische Fragen der Vergegenwärtigung des Vergangenen auszulösen. Insofern besteht das Potential einer Historisierung der Kontakte, Begegnungen und Kooperationen zwischen Zeithistorikern und Zeitzeugen gerade darin, wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Akteure bei der Verhandlung der Frage nach der Wirklichkeit von Geschichte beobachten zu können.
46 Verwiesen wird unter anderem auf die Entstehung der Oral History in den USA der 1940er Jahre und in Polen in den 1920er Jahren. Vgl. Dorothee Wierling: Oral History, S. 83f.; Alexander von Plato: Oral History als Erfahrungswissenschaft. Zum Stand der „mündlichen Geschichte“ in Deutschland, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufanalyse 4 (1991), S. 97–119, hier S. 100f.
DIE WIRKLICHKEITEN DER WISSENSCHAFT IM DIGITALEN ZEITALTER André Donk EINLEITUNG Die Digitalisierung von Wissenschaft in den Bereichen der Erkenntnisgenese (digital science) wie der Kommunikation (digitised science) schreitet voran. In einer wissenssoziologischen Perspektive, die Wissen als soziales Phänomen versteht1, verändert sich mit diesem Medienwandel sowohl die Wirklichkeit der Forschenden als auch deren Zugriff auf Wirklichkeit. Einige wähnen sich schon „[a]uf dem Weg zur Cyberwissenschaft 2.0“2, also einer Wissenschaft, deren Grundprinzipien von Erkenntnisgenese und -kommunikation sich nicht nur an den Mechanismen der Computerisierung sondern auch an denen des Social Web orientieren. Neue Kommunikations- und Medientechnologien verändern dann die Konstruktion von Wirklichkeit in der Wissenschaft in einer sachlichen (Was kann ich wissen? Wie kann ich Wissen kommunizieren?) und sozialen (Wen kann ich erreichen? Welche wissenschaftlichen Gemeinschaften bilden sich qua reflexiv geteilten Wissens?) Dimension. Der Beitrag will diese Veränderungen auf der Basis aktueller empirischer Ergebnisse unter Zugriff auf eine medientheoretische Perspektive diskutieren. Daher wird zunächst ein Vorschlag unterbreitet, mediumtheoretische Überlegungen mit aktuellen Konzepten der Medialisierung als Grundlage für die Untersuchung der Digitalisierung von Wissenschaft zu verbinden (Abschnitt 2). Im Folgenden soll der aktuelle Forschungsstand ausgewertet werden, der dann am Beispiel der Digital Humanities die Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes digitaler Kommunikations- und Medientechnologien in den Kultur- und Geisteswissenschaften diskutiert wird (Abschnitt 3). Abschließend werden aus den gewonnenen Einsichten Folgen für die Wirklichkeitskonstruktion der Wissenschaft abgeleitet (Abschnitt 4).
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Fran Osrecki: Diagnosing the Present. Towards a Sociology in Medialized Social Science, in: Simone Rödder/Martina Franzen/Peter Weingart: The Sciences' Media Connection – Public Communication and its Repercussions. Sociology of the Sciences Yearbook. Dordrecht 2012, S. 307–331; S. 308; Hubert Knoblauch: Wissenssoziologie. Konstanz 2005, S. 246; Peter Weingart: Wissenschaftssoziologie, in: Sabine Maasen/ Mario Reinhart/ Martin Kaiser/ Barbara Sutter (Hg.): Handbuch Wissenschaftssoziologie. Dordrecht 2012, S. 118–129; S. 124. René König/ Michael Nentwich: Auf dem Weg zur Cyberwissenschaft 2.0, in: Soziale Technik 26 (2012), S. 11–14.
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DIGITALISIERUNG ALS MEDIALISIERUNG DER WISSENSCHAFT Die Bedeutung von Medien bei der Wirklichkeitsgenerierung ist verstärkt seit den 1990er Jahren in Deutschland mit der Durchsetzung konstruktivistischer Vorstellungen in der Kommunikations- und Medienwissenschaft3 sowie der breiten Rezeption sogenannter mediumtheoretischer Ansätze4 speziell in den Geistes- und Kulturwissenschaften in den Blick geraten. Bei aller Unterschiedlichkeit ist beiden Ansätzen gemein, dass sie Medien als Mittel der Weltwahrnehmung oder als zentrale Instrumente unserer alltäglichen Wirklichkeitskonstruktion konzeptualisieren. Mediumtheoretische Ansätze fokussieren dabei insbesondere die Materialität der Medien (Medialität) selbst, gehen also davon aus, dass der Einsatz eines Mediums auch eine bestimmte Wirklichkeitskonstruktion präfiguriere. Paradigmatisch für eine solche Perspektive steht Marshall McLuhans mittlerweile zum intellektuellen Allgemeinplatz gewordene Aussage, dass Medium selbst und nicht der Inhalt sei die Botschaft. Dass zum Beispiel der Rundfunk existiere, sei bedeutungsvoller für eine Gesellschaft, als alle in diesem Medium gesendeten Inhalte. Gesellschaftliche Entwicklung wird damit zu einem (medien-)technisch induzierten Prozess. Insbesondere in Perioden des Medienumbruchs, der Ablösung gesellschaftlicher Leitmedien, werde diese Medialität, diese mediale Präfigurierung der sozialen Organisation und Wirklichkeitskonstruktion sichtbar5. Innerhalb eines solchen mediumtheoretischen Paradigmas wurde in zahlreichen Studien der in diesem Beitrag behandelten Gegenstand der Medialität und Medialisierung von Wissenschaft insbesondere unter Aspekten der sich etablierenden Gutenberg-Galaxis und der damit einhergehenden Ermöglichung des modernen Wissenschaftssystems am Ende des 15. Jahrhunderts untersucht. Mit dem ausgehenden Mittelalter stagniert der wissenschaftliche Fortschritt: Die Zirkulation von Wissen war politisch wie medientechnisch starken Restriktionen unterworfen. Mit der Druckerpresse ändert sich dies grundlegend. Wissensbestände können nun öffentlich verbreitet und diskutiert werden, auf Wissen kann qua Zitation aufgebaut, der Autor wird als schöpferische Autorität etabliert, das Fachzeitschriften-, Peer-Review- und Rezensionswesen entwickelt sich.6
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Bsp. Siegfried J. Schmidt/ Guido Zurstiege: Orientierung Kommunikationswissenschaft, Reinbek 2009; Siegfried J. Schmidt: Kalte Faszination, Weilerswist 2000. Rainer Leschke: Einführung in die Medientheorie, München 2007. Herbert M. McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media. München 1995; Friedrich Krotz: Marshall McLuhan Revisited. Der Theoretiker des Fernsehens und die Mediengesellschaft, in: Medien- & Kommunikationswissenschaft 49 (2001), S. 62–81. Elisabeth Eisenstein: Die Druckerpresse. Kulturrevolutionen im frühen modernen Europa, Wien/ New York 1979; Werner Frühwald: Das Ende der Gutenberg-Galaxis. Über den Einfluss des Mediums auf den Inhalt wissenschaftlicher Publikation, in: Leviathan 26 (1998), S. 305– 318; Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Frankfurt/M. 1991; Max Kaase: Political Science and the Internet, in: International Political Science Review 21 (2000), S. 265– 282; Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1992.
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Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene wird seit einigen Jahren für das Massenmediensystem diskutiert, „inwieweit sich die Modi gesamtgesellschaftlicher Realitätskonstruktion durch das Web tatsächlich grundlegend verändern“7. Folgen solcherart werden auch für das Wissenschaftssystem und dessen Veränderung durch die Digitalisierung angenommen. So werden auf der Ebene der digitised science zum Beispiel mit der Einführung neuer Publikationsformate eine Demokratisierung von Wissenschaft und neue, de-hierarchische Interaktionen mit der Gesellschaft erwartet: „Hopes for open debates and more public participation are specifically voiced with regard to new media formats“8. Ähnlich tiefgreifende Veränderungen werden auch auf der Ebene der digital science, hier am Beispiel der Geschichtswissenschaft exemplifiziert, antizipiert. Es geht dann um nicht weniger als eine „[…] grundsätzliche Neuausrichtung der geschichtswissenschaftlichen Arbeitsweise, die bisher geprägt war von der intellektuellen Quelleninterpretation und nicht von der Arbeit mit Maschinen“9. Eine empirische Konfrontation der teils weitreichenden Annahmen des Medieneinflusses ist dagegen weitestgehend ausgeblieben, obwohl unbestritten ist, dass „research is increasingly being mediated“10. Betrachtet man typische Aktivitätsfelder von Forschenden in ihrer organisationalen Umwelt (Abb. 1), wird auch schnell ersichtlich, dass Digitalisierungsprozesse in den Feldern der Produktion, Kommunikation, Distribution und Organisation von Wissenschaft beobachtet werden können. Weitgehend unklar ist bis dato, in welchem Ausmaß und mit welchen Folgen die Wirklichkeitskonstruktion von Forschenden durch die Digitalisierung sich verändert – und wie diese Veränderungen medientheoretisch bewerten werden. Die eingangs geschilderte Perspektive der Mediumtheorie auf die Digitalisierung von Wissenschaft birgt die Gefahr einer technikdeterministisch verkürzten Sichtweise, in der der Wandel in gesellschaftlichen Funktionssystemen ursächlich der Erfindung und Durchsetzung neuer Medien – unabhängig von ihrer Nutzung sowie ihren Inhalten – zugeschrieben wird. Dennoch verweist eine solche theoretische Perspektive auf die Wichtigkeit des Einbezugs der Medialität in die Erforschung von Medienfolgen. Das Konzept der Medialisierung bzw. Mediatisierung kann als theoretische Brücke so adaptiert werden, dass es einen nicht-technikdeterministischen Zugriff auf die Folgen der Durchsetzung neuer Medien in gesellschaftlichen Funktionsbereichen ermöglicht. Denn innerhalb des Medialisierungsdiskurses wird der Einfluss von Medientechnologien explizit thematisiert: „[The changing of technology; AD] – the advent of new media and the remediation of old media and, indeed,
7
Jan-Felix Schrape: Social Media, Massenmedien und gesellschaftliche Wirklichkeitskonstruktion, in: Berliner Journal für Soziologie 3 (2011), S. 407–429; S. 409. 8 Peter Weingart/ Simone Rödder/ Martina Franzen: Dimensions of Medialization. Concluding Remarks, in: Sociology of the Sciences Yearbook 28 (2012), S. 363–373, S. 367. 9 Peter Haber: Geschichtswissenschaften im digitalen Zeitalter. Eine Zwischenbilanz, in: Schweizer Zeitschrift für Geschichte 56 (2006), S. 168–183, S. 169. 10 David M. Berry: The Computational Turn: Thinking about Digital Humanities, in: Culture Machine 12 (2011), S. 1–22, S. 1.
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of face-to-face communication“11.Im Folgenden soll daher ein Vorschlag gemacht werden, wie mediumtheoretische Annahmen innerhalb des Medialisierungskonzeptes verortet werden können.
Abbildung 1: Aktivitäten und Rahmenbedingungen im Wissenschaftssystem. Quelle: Michael Nentwich: Cyberscience: Die Zukunft der Wissenschaft im Zeitalter der Informations- und Kommunikationstechnologie. Working Paper 1999. Online-Dokument: http://www.mpi-fgkoeln.mpg.de/pu/workpap/wp99-6/wp99-6.html.
In der deutschsprachigen Kommunikations- und Medienwissenschaft werden Medialisierung und Mediatisierung als divergente Konzepte verstanden, die jeweils auf ein anderes Verständnis von Medien rekurrieren12. Medialisierung meint die Adaption der Massenmedienlogik in anderen gesellschaftlichen Feldern wie Politik, Profisport oder eben auch Wissenschaft13. Mediatisierung dagegen fokussiert Phäno-
11 Sonia Livingstone: On the Mediation of Everything. ICA Presidential Adress 2008, in: Communications 59 (2009), S. 1–18, S. 3. 12 Michael Meyen: Medialisierung, in: Medien & Kommunikationswissenschaft 57 (2009), S. 23– 38. 13 Bsp. Patrick Donges: Medialisierung der Politik. Vorschlag einer Differenzierung, in: Patrick Rössler/Friedrich Krotz (Hg.), Mythen der Mediengesellschaft, Konstanz 2005, S. 321–339; Frank Marcinkowski/ Adrian Steiner: Was heißt „Medialisierung“? Autonomiebeschränkung oder Ermöglichung von Politik durch Massenmedien? in: Klaus Arnold u.a. (Hg.), Von der Politisierung der Medien zur Medialisierung des Politischen. Zum Verhältnis von Medien, Öffentlichkeiten und Politik im 20. Jahrhundert, Leipzig 2010, S. 51–76; Gerhard Vowe: Mediatisierung der Politik? Ein theoretischer Ansatz auf dem Prüfstand. In: Publizistik 51 (2006), S. 437–455.
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mene sozialen Wandels, die mit der Einführung und Durchsetzung neuer Kommunikationsmedien einhergehen14. Während es zahlreiche Studien zur Medialisierung von Wissenschaft gibt, die z.B. die Inszenierung wissenschaftlicher Erkenntnisse in den Medien15 oder die Medienorientierung von Forschenden und Hochschulleitungen untersuchen16, stellt die Konzeptualisierung wie Erforschung der Mediatisierung von Wissenschaft bis dato weitgehend ein Desiderat dar, auch wenn dieses Themenfeld bereits als Desiderat erkannt worden ist: „Auch gibt es vermutlich spezielle Mediatisierungsprozesse, die nur einzelne Bevölkerungsgruppen betreffen, beispielsweise Wissenschaftler, die traditionell von Buch und Zeitschriften abhängen“17. Am Mediatisierungsansatz ist kritisiert worden, dass er ähnlich wie mediumtheoretische Ansätze Medienwirkungen verabsolutiere und von medieninduzierten Prozessen gesellschaftlichen Wandels ausgehe, ohne plausibel darzulegen, was die Wirkmächtigkeit eines Mediums über seine pure Verfügbarkeit hinaus darstellt, wie Medien im Detail eine so umfassende Wirkung entfalten können und warum die mediatisierten Individuen, Organisationen oder Systeme dem nichts entgegensetzen können. Ähnlich verkürzte Vorstellungen von Medienwirkungen finden sich jedoch auch im Medialisierungsdiskurs, so dass Marcinkowski und Steiner18 ein theoretisches Argument eingeführt haben, das auch zur Weiterung des Mediatisierungsansatzes verwendet werden kann: Medialisierung sei ein zweiseitiger Prozess, der einerseits als aktiver Zugriff auf die Leistungen der Medien (hier: als Massenmedien oder Medientechniken) verstanden werden kann, andererseits aber auch den damit verbundenen Import nicht-intendierter Nebenfolgen bedeutet.19 Eine solche Konzeptualisierung ist dann anschlussfähig an die Mediumtheorie der Toronto School of Communication. Diese wird, wie eingangs dargelegt, oftmals mit einem technikdeterministischen Axiom assoziiert. Marshall McLuhan wird dabei mit seinem Mentor Harold A. Innis gleichgesetzt, indes der Ansatz von Innis durchaus differenzierter ist als McLuhans oft plakative und pointierte Statements zur Wirkmächtigkeit des Mediums. Für Innis sind Medien Infrastrukturen zur kommunikativen Organisation oder man könnte sogar sagen: Integration von Gesellschaften. Den Ausgangspunkt der Überlegungen von Innis bildete die Lösung von
14 Stig Hjarvard: The Mediatization of Society, in: Nordicom Review 29 (2008), S. 105–134; Friedrich Krotz: Zivilisationsprozess und Mediatisierung. Zum Zusammenhang von Medienund Gesellschaftswandel. In: Markus Behmer u.a. (Hg.), Medienentwicklung und gesellschaftlicher Wandel. Beiträge zu einer theoretischen und empirischen Herausforderung, Wiesbaden 2003, S. 15–37; Friedrich Krotz: Mediatisierung. Fallstudien zum Wandel von Kommunikation, Wiesbaden 2007. 15 Mike S. Schäfer: Wissenschaft in den Medien, Wiesbaden 2007. 16 Andres Friedrichsmeier u.a.: Organisation und Öffentlichkeit von Hochschulen. Forschungsreport 1/2013 des Arbeitsbereichs Medien – Kultur – Gesellschaft, Münster 2013. 17 Krotz: Zivilisationsprozess und Mediatisierung, S. 39. 18 Marcinkowski/ Steiner: Medialisierung. 19 Um Begriffsverwirrungen im Weiteren zu vermeiden, wird einheitlich von Medialisierung gesprochen, wobei damit im dargelegten Verständnis auch explizit der Zugriff auf die Eigenschaften von Medientechnologien sowie dessen nicht-intendierte Nebenfolgen gemeint sind.
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Problemen der Staats- bzw. Herrschaftsorganisation durch den Einsatz neuer Medien20. Dabei haben Medien unterschiedliche Eigenschaften, die sie für bestimmte Ziele besser oder schlechter einsetzbar machen: Medien sind entweder eher dafür geeignet, Wissen über große Distanzen schnell zu übermitteln (Überwindung von Raum) oder über lange Zeiträume stabil zu halten (Überwindung von Zeit) – in Innis Theorie wird dies als bias of communication bezeichnet21. In diesem theoretischen Arrangement sind die o.g. Elemente einer reflexiven Medialisierung angelegt: „A key element of his thinking that is still relevant is that technology does not so much determine, as bias human arrangements and practices by consistently favouring certain goals and solutions over others”22. So greifen Individuen wie Sozialsysteme aus antizipierten Handlungsnotwendigkeiten auf die Leistungen von Medien, abgeleitet von deren spezifischen Eigenschaften, aktiv zu. Allerdings zeitigen diese Eigenschaften auch Folgen, die vom zugreifenden Individuum oder Sozialsystem nicht beabsichtigt waren. FORSCHUNGSÜBERBLICK: DIGITALISIERUNGSTENDENZEN IN DER WISSENSCHAFT Wie in Abschnitt 2 dargelegt, ist eine Differenzierung des recht pauschalen Begriffs der Digitalisierung von Wissenschaft in die Dimensionen der Digitalisierung von Kommunikation und der Digitalisierung von Erkenntnisgenese sinnvoll. Bei beiden dahinterliegenden Prozessen ist zudem kritisch zu hinterfragen, ob sich tatsächlich die Funktionslogiken und Mechanismen der Wirklichkeitsproduktion von Wissenschaft ändern oder ob es lediglich um eine Transmission von Kommunikationen und Forschungsaktivitäten in neue mediale Formate handelt. Oder wie Ciula23 pointiert fragt: „Are these changes ‚facelifts‘ or are they changing the humanities?“ Digitised Science In der Dimension der digitised science soll die aktuelle Verbreitung und Nutzung von neuen Kommunikations- und Publikationsformaten thematisiert werden. Dabei wird insbesondere jene empirische Forschung ausgewertet, die sich mit Onlinepublikationen (Fachzeitschriften, Open Access etc.), Kommunikationsdiensten (E-
20 Harold A. Innis: Empire and Communication, Toronto 1950, S. 170. 21 Charles Ackland: Harold Innis, Cultural Policy, and Residual Media, in: International Journal of Cultural Policy 12 (2006), S. 171–185; Harold A. Innis: Tendenzen der Kommunikation, in: Karl-Heinz Barck (Hg.), Harold A. Innis – Kreuzwege der Kommunikation. Ausgewählte Texte, Wien/ New York 1997, S. 95–119. 22 Denis McQuail: Communication and Technology: Beyond Determinism? In: Nico Carpentier (Hg.): Media Technologies and Democracy in an Enlarged Europe, Tartu 2007, S. 27–40. 23 Arianna Ciula: What are the Prospects for the Next Generation? Unveröffentlichter Vortrag im Deutschen Historischen Institut am 11.06.2013.
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Mail, Skype etc.) und Social Media (Science Blogs, Soziale Netzwerkdienste etc.) beschäftigt. Die grundlegende Annahme mit Bezug auf die Wirklichkeitskonstruktion lautet deshalb: Für die Gesellschaft wie für ihre Funktionssysteme gilt, was nicht kommuniziert wird, existiert nicht. Oder noch einmal wissenssoziologisch gewendet: "Von daher muss der Systemtheorie zufolge die Wissenssoziologie kommunikationstheoretisch fundiert werden, denn wie realisiert sich in sozialer Hinsicht 'Wissen', wenn nicht in Kommunikation, und wieso sollte man miteinander kommunizieren, wenn es nicht darum geht, Wissen zu erwerben?"24 Theoretisch ist evident, dass neue Publikationsformate die etablierten Grenzen von Wissenschaft und Öffentlichkeit transzendieren und damit neue kommunikative Räume konstruieren. Gerade sozialen Medien wird das Potenzial zugeschrieben, „neue Fenster im Elfenbeinturm Wissenschaft“25 zu öffnen. Doch wie stark sind Wissenschaftler(innen) bereit, sich in diesen virtuellen Welten von OnlineFachzeitschriften bis zu Blogs, Foren etc. zu engagieren? Damit einher geht die Frage, was verändert sich, wenn auch das Publikum diffuser wird und über den Kreis der Scientfic Community hinausgeht, so dass auch Bewertungen, Relevanzeinschätzungen und Reputationszuweisungen nicht mehr nur von den Peers kommen? Denn bisher war der Kreis der Adressaten wissenschaftlicher Kommunikationen – eigentlich – sehr eng begrenzt, es bestanden klare Publikumsvorstellungen26. Die Zuwendung zur Online-Publikation ist – das zeigen verschiedene Studien27 – hochgradig abhängig vom Format. Wissenschaftliche Blogs werden zur Publikation von Forschungsergebnissen de facto nicht genutzt. Lediglich 2 bis 3 Prozent der deutschen Wissenschaftler(innen) veröffentlichen in diesem neuen Format28. Auch bei der Informationsbeschaffung über die eigene Disziplin oder aktuelle Entwicklungen innerhalb der Wissenschaften spielen Blogs für Forschende keine große
24 Rainer Schützeichel: Systemtheoretische Wissenssoziologie, in: ders. (Hrsg.), Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung, Konstanz 2007, S. 258–267, S. 262. 25 König/ Nentwich: Cyberwissenschaft, S. 12. 26 Niels C. Taubert/ Peter Weingart: ‚Open Access’ – Wandel des wissenschaftlichen Publikationssystems, in: Tilmann Sutter/Alexander Mehler (Hg.), Medienwandel als Wandel von Interaktionsformen. Wiesbaden 2010, S.159–181, S. 165. 27 Im Folgenden wird immer wieder auf zwei große Befragungen für den deutschen Wissenschaftsraum verwiesen, die als aktueller Forschungsstand angesehen werden können. Anita Baader/Gerd Fritz/Thomas Gloning: Digitale Wissenschaftskommunikation 2010–2011. Eine Online-Befragung, Gießen 2012; sowie dies.: Digitale Wissenschaftskommunikation 20102011, Anhang, Gießen 2012 haben 2010/ 2011 1053 deutsche Wissenschaftler(innen) von 19 Universitäten hinsichtlich Nutzung von und Einstellungen zu digitalen Medien befragt. Die Befragung von André Donk: Ambivalenzen der Digitalisierung, Münster 2012 stützt sich 463 befragte Wissenschaftler(innen) der Universität Münster und hat neben Nutzung und Einstellungen auch negative Folgen für das Wissenschaftssystem untersucht. Die Studien unterscheiden sich zudem in ihrer Herangehensweise. Während Baader/Fritz/Gloning online befragt haben, handelt es bei der Befragung von Donk um eine postalische, was den Vorteil bietet, dass auch jene erreicht wurden, die gegenüber neuen Medien generell skeptisch eingestellt sind. 28 Baader/Fritz/Gloning, Anhang, S. 26–27; Donk, Ambivalenzen, S. 125.
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Rolle – jedoch weisen dieselben Befragten Blogs ein hohes Potential zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung und der Meinung politischer Entscheidungsträger(innen) über Wissenschaft zu (Allgaier et al. 2013: 285). Eine ähnliche Überschätzung der Wirkung sozialer Medien innerhalb der Wissenschaft bei gleichzeitiger marginaler eigener Nutzung zeigt ein Vergleich von eigener und eingeschätzter Publikation und Recherche in Blog, Foren/Mailinglists sowie auf Servern (Abb. 2).
Abbildung 2: Eigene vs. vermutete Nutzung von digitalen Medien (N=342-459; Mittelwerte; fünfstufige Skala von „0 = nie“ bis „4 = sehr häufig“). Basierend auf Donk, Ambivalenzen, S. 124.
Zum einen wird hier ein bekanntes Phänomen aus der Medienwirkungsforschung sichtbar, Menschen überschätzen die Wirkung von Medien auf andere, während sie die Wirkung auf sich selbst geringer einschätzen bzw. weniger stark reflektieren (Stichwort: Third-Person-Perception). Zum anderen lässt sich vermuten, dass eine solche Einschätzung unter Wissenschaftler(innen) auch Einfluss auf die Theoriebildung hat, insofern neuen Medien starke, das gesamte Wissenschaftssystem verändernde Kräfte zugeschrieben werden. Eine solche Annahme starker Medienwirkungen herrscht in zahlreichen Theoretisierungen vor. Daher ist es nicht überraschend, dass empirische Studien zur tatsächlichen Nutzung und eingetretenen Folgen digitaler Kommunikations- und Medientechnologien in der Wissenschaft stark
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von den antizipierten Hoffnungen aber auch Befürchtungen, die mit der Durchsetzung digitaler Medien verbunden waren, abweichen. Das, was Wissenschaftler(innen) als zu erforschende Realität antizipieren, die Annahmen, die sie in den Forschungsprozess einbringen, ist somit auch abhängig von vor-wissenschaftlichen Vorstellungen über die Wirkmächtigkeit von (digitalen oder sozialen) Medien. Das favorisierte Medium wissenschaftlicher Publikation ist nach wie vor die Monografie bzw. die Fachzeitschrift; bei letzterer ist es für die befragten Wissenschaftler(innen) unerheblich, ob es sich um eine gedruckte oder online verfügbare Fachzeitschrift handelt29. Entscheidend ist das vielmehr, dass es sich um ein etabliertes Kommunikationsmedium der Fachgemeinschaft handelt, dem reflexiv hohe Reputation und Qualitätskontrollen unterstellt werden können. „Die Gründung neuer Publikationsmedien stellt unter diesen Gesichtspunkten nichts anderes dar, als die Schaffung neuer Zurechnungsadressen für Reputation, denen allerdings zum Zeitpunkt ihrer Gründung innerhalb der Disziplin (noch) keine Reputation zugerechnet wird“30. Diese Gründe – mangelnde Reputation und Anerkennung in der relevanten Scientific Community – lassen sich auch feststellen, wenn Wissenschaftler(innen) befragt werden, warum sie Blogs nicht als Medium der wissenschaftlichen Kommunikation nutzen31. Die Anerkennung und reputationssteigernde Wirkung neuer Medien wissenschaftlicher Kommunikation ist in den Augen der Forschenden nur zu erreichen, wenn diese sich den traditionellen Verfahren der Qualitätssicherung unterwerfen (Abb. 3). Neue Formen der Bewertung von Onlinepublikationen wie Open Review-Verfahren oder die Begutachtung in der Postpublikationsphase durch die Leser(innen) werden nicht als gleichrangig eingeschätzt. So gibt ein Wissenschaftler zu Protokoll: „Gutachten sind grundsätzlich keine Rezensionen. Sie haben eine andere Funktion“32. Dies zeigt sehr deutlich, in welchem Maße Scientific Communities an den bis dato gültigen Maßstäben der Begutachtung festhalten: Es soll vorab selegiert werden, welches Wissen methodisch und theoretisch gehärtet ist und wissenschaftlichen Fortschritt verspricht – und dies soll innerhalb des Wissenschaftssystem selbst geschehen. Ideen einer Demokratisierung wissenschaftlichen Wissens durch die Publikation in öffentlich zugänglichen Kanälen und verständlicheren Formaten wie Blogs sind insofern für Wissenschaftler(innen) nicht handlungsleitend.
29 Ebd.; Baader/Fritz/Gloning, Anhang, S. 25. 30 Taubert/Weingart, Open Access, S. 178. 31 Baader/Fritz/Gloning, Digitale Wissenschaftskommunikation, S. 71–72; Donk, Ambivalenzen, S. 129–132. 32 Baader/Fritz/Gloning. Digitale Wissenschaftskommunikation, S. 29.
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Abbildung 3: Zustimmung zu Formen der Qualitätssicherung bei wissenschaftlichen Online-Publikationen (Raute basierend auf Donk, Ambivalenzen, S. 132; N = 463.; Dreieck basierend auf Alistar Mulligan: Quality, Certification and Peer Review. In: Information Sciences & Use, 28 (2008), S. 197-214.; N = 32.445.
Die ursprüngliche Idee von Tim Berners-Lee war es, mit dem World Wide Web ein Instrument zur Verbesserung der Kollaboration unter Forschenden zu entwickeln (Haber 2006: 172). Denn die Nutzung digitaler Kommunikationstechnologien führt zur Virtualisierung von Kollaboration – wissenschaftliche Zusammenarbeit erfordert immer weniger persönliche Bekanntheit oder räumliche Nähe. Wissenschaft ist mit digitalen Kommunikationstechnologien transnational zu organisieren. Kommunikation findet dann mehr und mehr mittels E-Mail statt, Konferenzen werden virtualisiert (Nentwich 2011: 36), Arbeiten an Dokumenten und Daten werden über Clouds, Server und Webanwendungen durchgeführt. Doch in welchem Maße findet transnationale Kollaboration statt? Verringert sich auch die Spaltung von Wissensgesellschaften und Entwicklungsländern, die bisher kaum Zugang zu den wissenschaftlichen Diskursen des Westens hatten? Und verliert nicht die Interaktion mit Forschenden an der eigenen Universität an Bedeutung. Betrachtet man die Nutzung von E-Mailing als Voraussetzung für eine Virtualisierung von wissenschaftlicher Interaktion, geraten die massive Durchsetzung dieses Mediums und die starke Zunahme an E-Mail-Kommunikation in den Blick. Während vor etwa 20 Jahren die wöchentlich eingesetzte Zeit für alle Formen computervermittelter Kommunikation bei nur 1,8 Stunden lag33, verbringen heute sechs von zehn Wissenschaftler(innen) mindestens 1 Stunde pro Tag mit dem Schreiben und Beantworten von E-Mails34. Die wichtigsten medialen Formen der Interaktion 33 Wolfgang Scholl/Jan Pelz/Jörg Rade: Computervermittelte Kommunikation in der Wissenschaft, Münster 1996, S. 205–206. 34 Donk, Ambivalenzen, S. 145.
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stellen für Wissenschaftler(innen) E-Mails und persönliche Gespräche dar: 94% bzw. 96% nutzen diese Medien regelmäßig zum fachlichen Austausch mit Kolleg(innen)35. Die Etablierung webbasierter Kommunikationsdienste wie Skype, denen ein großes Potenzial bei der Transnationalisierung von Forschung zugeschrieben wird36, scheint bislang wenig Effekt auf das Ausmaß transnationaler Forschungskollaboration gehabt zu haben. Zwar nutzen zwei von zehn Wissenschaftler(innen) entsprechende Dienste regelmäßig zum wissenschaftlichen Austausch37 und bekunden sehr deutlich, dass sich Zusammenarbeit über Grenzen mittels dieser Medien erheblich vereinfacht habe und daher auch zunehmen werde38. Dennoch bleibt der wichtigste Referenzraum für Wissenschaftler(innen) die eigene Universität bzw. das eigene Institut/ Department, gefolgt von der nationalen Scientific Community. Kollaborationen mit Forschenden aus peripheren Wissenschaftsregionen wie Afrika, Asien oder Südamerika, die mittels internetbasierter Kommunikationsdienste leicht zu realisieren wären, finden höchst selten statt39. Größere nationale Öffentlichkeit oder auch transnationale Öffentlichkeiten lassen sich mittels Veröffentlichungen in Open Access (OA), also frei zugänglich, von Fachverlagen i.d.R. unabhängigen Online-Zeitschriften, adressieren. Ein Feld, das sich recht dynamisch entwickelt: Mitte 2013 listet das Directory of Open Access Journals knapp 10.000 Zeitschriften, deren Redaktionen in 120 Ländern beheimatet sind und in denen über 1 Million Artikel veröffentlicht wurden. Große deutsche Forschungsorganisationen wie die Helmholtz-Gesellschaft oder die Leibniz-Gemeinschaft haben in den letzten Jahren ihre Forschungsergebnisse über eigene OAPlattformen zugänglich gemacht und der Bundestag hat im Juli 2013 das Urheberrecht so novelliert, dass Fachzeitschriftenveröffentlichungen, die aus öffentlicher Forschungsförderung entstanden sind, nach einem Jahr durch die Autor(innen) über OA zugänglich gemacht werden dürfen. Generell kann jedoch kein Trend zu einer verstärkten Veröffentlichung in Open Access beobachtet (Abb. 4), wenn auch Studien eine hohe Akzeptanz des Grundgedankens der OA-Bewegung zeigen: „[...] the idea of Open Access to scientific publications has evolved during the last 15 years. The basic concept is access to scientific literature for readers at no charge and without any technical barriers”40. Die in der Grafik sichtbaren höheren Werte in den Befragungen von Koch/ Mey/ Mruck sowie Mann et al. sind höchstwahrscheinlich methodische Artefakte, wurden in beiden Fällen Leser(innen) von OA-Zeitschriften befragt, die einerseits die entsprechenden Zeitschriften überhaupt kannten, andererseits diese als relevanten
35 Baader/Fritz/Gloning, Anhang, S. 8–9. 36 Bsp. Leah A Lievrouw./Kathleen Carley: Changing Patterns of Communication Among Scientists in an Era of “Telescience”, in: Technology in Society 12 (1991), S. 447–477. 37 Baader/Fritz Gloning, Anhang, S. 9. 38 Donk, Ambivalenzen, S. 161. 39 André Donk: The Global Science Village. Wissenschaftler in der digitalen Welt, in: merz wissenschaft 56 (2012), S. 103–113, S. 107. 40 Florian Mann u.a.: Open Access Publishing in Science, in: Communications of the ACM 52 (2009), S. 135–139, S. 135.
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Fachmedien nutzten und somit auch als potenzielle Publikationsmöglichkeiten ansahen. Dennoch gilt hier, was bereits für wissenschaftliche Blogs festgestellt wurde, OA-Zeitschriften stellen vielfach (noch) keine hinreichende Adresse für wissenschaftliche Reputation dar. Dabei könnte gerade die Veröffentlichung von Forschungsergebnissen in OA für Wissenschaftler(innen) peripherer Weltregionen einen wichtigen Zugang zur Teilhabe an internationalen Scientific Communities sein.
Abbildung 4: Veröffentlichung in Open Access.
Eine weitere Möglichkeit für Kommunikation und Kollaboration stellen spezielle Online-Netzwerke für Wissenschaftler(innen) im Internet dar. Solche wissenschaftlichen Social Networsites (SNS, z.B. ReserachGate) sind nur für sehr wenige Wissenschaftler(innen) ein Medium des fachlichen Austausches41, dies gilt gleichermaßen für allgemeine (z.B. Facebook) wie für spezielle wissenschaftliche Netzwerkseiten. Gleichwohl verweisen diese Dienste ein beeindruckendes Mitgliederwachstum auf (Abb. 5). Insofern ist unklar, ob SNS tatsächlich eine neue Qualität wissenschaftlicher Vernetzung darstellen, oder ob sie letztlich nicht eine Spiegelung oder Zurschaustellung bestehender Kontakte bedeuten. Die massive Zunahme der Mitglieder von SNS kann eher als gesamtgesellschaftlicher Trend und/ oder Kohorteneffekt (junge Wissenschaftler(innen)kohorten, die mit digitalen Medien sozialisiert sind, lösen altere Kohorten ab) interpretiert werden.
41 Baader/Fritz/Gloning, Anhang, S. 11–12.
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Abbildung 5: Mitgliedszahlen ausgewählter Sozialer Netzwerkseiten für Wissenschaftler(innen). Quelle: Michael Nentwich/René König: Wissenschaft und Social Network Sites. ITA-Projektbericht Nr. A-52-5 2011. Onlinedokument: http://epub.oeaw.ac.at/ita-projektb.
Digital Science In der Dimension der digital science geraten vor allem die durch digitale Kommunikations- und Medientechniken ermöglichte Archievierung und Verarbeitung enormer Datenmengen (Stichwort: big data science) und die daraus sich ergebenden neuen Forschungspotenziale in den Blick. Aber auch Fragen nach neuen Visualisierungen und den damit verbundenen neuen Heuristiken sind Teil dieses auf die Veränderung der Erkenntnisproduktion bezogenen Feldes. Die Produktion wissenschaftlicher Erkenntnisse stützt sich heute maßgeblich auf digitale Technologien – von der Recherche über die Erhebung, über die Verarbeitung bis zur Präsentation42. Dabei lassen sich immer größere Datenmengen immer leichter verarbeiten und auch kollaborativ nutzen. Doch wie werden vermeintliche „Datenschätze“ de facto geteilt und verwertet? Und verursachen die Nutzung und damit der Import der Eigenlogik von technischen Materialitäten nicht auch Folgeprobleme? Suchmaschinen – ob speziell wissenschaftliche oder allgemeine – nutzen „komplexe Algorithmen“, die „hochgradig intransparent sind und sich oft nicht mit wissenschaftlichen Relevanzen decken“43. Dennoch sind Suchmaschinen wie Google 42 Bsp. Pieter J. D. Drenth: Die digitale Revolution in den Wissenschaften. Ein "mixed blessing", Festvortrag an der Universität Heidelberg, gehalten am 8.12.2001. Online-Dokument: http:// www.uni-heidelberg.de/presse/news/2112drent.html; Karin Knorr-Cetina: Die Wissensgesellschaft, in: Armin Pongs (Hg.), In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich? Gesellschaftskonzepte im Vergleich, Band 2, München 2000, S. 150–169, S. 169. 43 König/Nentwich, Cyberwissenschaft, S. 13.
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aus dem Alltag von Wissenschaftler(innen) nicht mehr wegzudenken, sie werden noch häufiger genutzt als Online-Bibliothekskataloge. Diese beiden Recherchemittel werden als überaus positiv eingeschätzt, da sie wissenschaftliches Arbeiten effizienter machen, d.h. mehr Literatur kann schneller recherchiert und ggf. sogar direkt ohne Gang in die Bibliothek direkt genutzt werden, Bestände aus anderen Disziplinen können leichter erschlossen werden, wodurch Interdisziplinarität an Bedeutung gewinnt. Gleichzeitig muss sp mehr Literatur als bekannt vorausgesetzt und damit bearbeitet werden. Die Anforderungen an Wissenschaftler(innen) steigen44. Die Nutzung von Daten aus öffentlich zugänglichen Datenbanken erfolgt dagegen bei der Mehrheit der Wissenschaftler(innen) noch eher verhalten – und auch die Aufbereitung von eigenen Forschungsdaten indiziert, dass Daten nicht in starkem Maße geteilt werden, da sie i.d.R. in der eigenen Institution archiviert werden (Abb. 6). Bei den Gründen zur Nutzung (Abb. 7) von Daten Dritter überwiegen Motive der Information und des Belegs, die eigene Auswertung von Daten Dritter erfolgt durch etwa die Hälfte der Wissenschaftler(innen). Tendenziell zeigt sich ein durchaus vorhandenes Interesse an sekundäranalytischer Forschung, das die eigene Bereitschaft zum Teilen von Daten übersteigt.
Abbildung 6: Abb. 6. Links: Zugriff auf Daten Dritter / Archivierung eigener Daten (N = 1700). Basierend auf Science Staff: Challenges and Opportunities, in: Science 331 (2011), S. 692-693.
Welche paradoxalen Kehrseiten45 sind mit dem Einsatz digitaler Kommunikationsund Medientechnologien bei der Erkenntnisgenese und Erkenntnissicherung verbunden? Inwiefern zeitigt der Einsatz von Hard- und Software oder des Internets und seiner Dienste nicht-intendierte Nebenfolgen? Insgesamt lässt sich feststellen, dass Probleme –z.B. Datenverlust, gelöschte Internetseiten, gestörte Verbindungen, 44 Donk, Ambivalenzen, S. 172–175. 45 Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt/M. 2005.
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Probleme mit Software, hoher Aufwand für Aktualisierung und Wartung –durchaus zahlreich auftreten, diese jedoch nicht als starke Beeinträchtigung des wissenschaftlichen Arbeitens oder gar als Gefahr für den Erkenntnisfortschritt eingeschätzt werden46.
Abbildung 7: Gründe für Nutzung von öffentlich zugänglichen Datenbanken (N = 463). Basierend auf Donk, Ambivalenzen, S. 162-163.
Beispiel: Digital Humanities In den Kultur- und Geisteswissenschaften hat sich in den letzten Jahren mit den Digital Humanities (DH) ein Feld entwickelt, das Merkmale sowohl einer digitised wie einer digital science aufweist und das hier als Beispiel für einen partiell stärkeren medialen Wandel als ihn die obigen Studien andeuten kurz vorgestellt werden soll. Der Begriff der Digital Humanities umschreibt zunächst einmal ein recht lose gekoppeltes Feld von Personen und Aktivitäten, die an den Schnittstellen von Kultur- und Geisteswissenschaften und Informatik angesiedelt sind bzw. die sich der Anwendung digitaler Kommunikations- und Medientechnologien in den Kulturund Geisteswissenschaften widmen47. Innerhalb dieses Feldes können verschiedene Muster wissenschaftlicher Produktion und Interaktion identifiziert werden, digitale Kommunikations- und Medientechnologien fungieren dann z.B. als “tool, study object, expressive medium, explanatory laboratory and activist venue”48. Daher erscheint es zunächst schwer vorstellbar, dass hier tatsächlich ein wissenschaftliches Feld in Entstehung begriffen ist, so unterschiedlich sind Zugänge und Aktivitäten zum jetzigen Zeitpunkt. Dennoch können dominante Aktivitätsformen innerhalb des Feldes identifiziert werden: 46 Donk, Ambivalenzen, S. 179–183. 47 Patrik Svensson: The Landscape of Digital Humanities, in: Digital Humanties Quarterly 2010: S. 12; 48. Onlinedokument: http://digitalhumanities.org/dhq/vol4/1/000080/000080.hmtl 48 Ebd., S. 174.
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Auf der einen Seite gibt es etablierte Foren des wissenschaftlichen Austausches im Netz, z.B. das Portal H-Soz-Kult, das sowohl Informationen zu Tagungen etc. zirkuliert als auch Rezensionen und Tagungsberichte veröffentlicht. Zur Akzeptanz von H-Soz-Kult unter Wissenschaftler(innen) trägt bei, dass es zur Sicherung der fachlichen Qualität ein Redaktionsteam gibt. Ähnlich wird auch auf dem Wissenschaftsblogportal hypothese.org verfahren, das in den letzten Jahren zunächst in Frankreich nun auch in Deutschland Verbreitung gefunden hat und auf dem zahlreiche bloggende Kultur- und Geisteswissenschaftler(innen) regelmäßig veröffentlichen. Sie verstehen dies als neue Form wissenschaftlicher Kommunikation: “It is thus work in progress, presenting thoughts in flux […]”49. Auf der anderen Seite setzen Forschende digitale Medien ein, um auf diesem Weg neue Erkenntnisse zu generieren, so z.B. die Sichtbarmachung von historischen Netzwerken mit spezieller Software. Hierbei geht es um neue Heuristiken zur Entdeckung und Erklärung von Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen, Aktionen und Reaktionen, der Stellung von Personen oder Organisationen in historischen Prozessen (zentral vs. peripher) – die Software erlaubt dabei einerseits die Verarbeitung großer Datenmengen, andererseits visualisierte Auswertungen. Ein aktuelles Beispiel ist die Anwendung der Sofware VennMaker bei Forschungen zur Familienstruktur in der Antike und Ego-Netzwerken von Personen, die Juden zur Zeit des Nationalsozialismus verstecken halfen: „We argue that a visual representation of social relations helps to reveal unseen patterns and characteristics of networks therefore offering scholars new perspectives on their research subjects”50. Zum jetzigen Zeitpunkt ist offen, inwiefern sich das Feld als Hilfswissenschaft oder neue Interdisziplin zu konstituieren und dabei einen gewissen “digitally inflected academic activism”51 hinter sich zu lassen vermag. Oder ob gerade die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher wissenschaftsnaher Aktivitäten auf der Grundlage eines medialen Codes den spezifischen Kern dieses Feldes ausmacht und damit auch Ausdruck einer fragmentalen Differenzierung der Wissensproduktion52 ist. In jedem Fall stellen sich Fragen nach Veränderungen bei den wissenschaftinternen Mechansimen von Qualitätssicherung und Reputationszuweisung, wenn neue wissenschaftliche Aktivitäten zum Standardrepetoire eines Feldes gehören: „Some of the key elements of a reseracher’s career in the Digital humanities rely on novel, underlying prerequisites, that question the functioning of research as a whole and that are
49 Claudine Moulin: Je t’aime, moi non plus. Career, Financing and Academic Recognition in the Digital Humanities. Onlinedokument: http://annotatio.hypotheses.org/303. 50 Marten Düring u.a.: Vennmaker for Historians. Sources, Social Networks and Software, in: Redes. Revista Hispana para el Analsis de Redes Sociales 21 (2011), S. 1–32, S. 1. 51 Svensson, Landscape, S. 44. 52 Werner Rammert: Zwei Paradoxien einer innovationsorientierten Wissenschaftspolitik. Die Verknüpfung heterogenen und die Verwertung impliziten Wissens, in: Soziale Welt 54 (2003), S. 483–508. D.h. wissenschaftliches Wissen wird nicht länger exklusiv in einem spezialisierten Funktionsbereich produziert, sondern entsteht quer dazu durch die Arbeit verschiedenster Forschungsakteure wie Firmen, private Forschungsinstitute, in Hochschulen oder auch netzwerkartig in Projekte wie Wikis.
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closely related to the nature of research in this emerging field […, like; AD] hybridity, multimodality, interconnectedness, inter- and transdisciplinarity, collaborativity, multilingualism“ (Moulin 2013). BLURRING OF BOUNDARIES ODER AUF DEM WEG IN EINE POSTMODERNE WISSENSCHAFTSKULTUR? Zunächst sollte als theoretisches Argument herausgearbeitet werden, dass die Ansätze der Toronto School of Communications für eine differenzierte (vs. Technikoder Sozialdeterminismus) empirische Forschung zu Fragen der Folgen von Medialität und Medienumbrüchen nutzbar gemacht werden können, wenn sie mit einem synthetischen Mediatisierungs-/Medialisierungskonzept verbunden werden. Medialisierung wurde dabei als aktive Nutzung spezifischer Eigenschaften von Kommunikations- und Medientechnologien auf Grund wahrgenommener Handlungsnotwendigkeiten konzeptualisiert, die nicht-intendierte Nebenfolgen zeitigen kann, da die Eigenschaften von Medien keine spezifischen Wirkungen determinieren, diese aber auch nicht von den Nutzer(inne)n gesteuert werden können. Welche Folgen der Digitalisierung des Wissenschaftssystems können dann aus den beschriebenen empirischen Tendenzen unter Bezug auf den Medialisierungsansatz thesenartig verdichtet abgeleitet werden? Im Bereich des wissenschaftlichen Publizierens gibt es nur sehr wenige Veränderungen, Fachzeitschriften sind nach wie vor das meist genutzte Medium. Neue Formate, die andere, auch nicht wissenschaftliche Öffentlichkeiten adressieren und damit andere Darstellungs- und Redaktionsroutinen besitzen und i.d.R. keine wissenschaftliche Reputation verleihen, werden dagegen weitestgehend ignoriert. Hier zeigt sich, dass eben nicht die Verfügbarkeit des Mediums einen Unterschied in der Wirklichkeitskonstruktion von Wissenschaft und Öffentlichkeit macht, sondern die Nutzung. Das heißt aber auch, Wissenschaftler(innen) verlassen sich bei der Konstruktion ihrer fachlichen Wirklichkeiten weitgehend auf dieselben Medienangebote wie vor der Digitalisierung. Luhmann mutmaßte zu Beginn der Entwicklung in den 1990er Jahren, dass die Digitalisierung zur Komplexitätssteigerung des Wissenschaftssystems beitragen könne, indem durch neue Publikationsmedien die interne Differenzierung zunehme: „Wie immer sich der Wissenschaftler nun in der Lehre oder im Laboratorium verhalten mag, auf der Ebene der gedruckten Kommunikation sind der Ausdifferenzierung von Wissenschaft und in der Wissenschaft kaum noch Schranken gezogen. Es wird für den Druck geforscht. Was nicht gedruckt wird, hat kaum Chancen, die Entwicklung des Faches zu beeinflussen. Die erreichbare Komplexität und Veraltensgeschwindigkeit werden durch die Druckerpresse geregelt, jedenfalls bis heute. Ob der Computer in dieser Hinsicht einen entscheidenden Wandel auslösen wird, bleibt abzuwarten“53. Heute zeigt sich, dass die Gesetze der Gutenberg-Galaxis nach wie vor Gültigkeit behalten haben: Was nicht
53 Luhmann, Wissenschaft der Gesellschaft, S. 606–607.
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in den etablierten Fachmedien, sondern in wissenschaftlichen Blogs oder neuen Online-Journalen erscheint, wird nicht wahrgenommen. Ähnlich konservative Tendenzen zeigen sich im Bereich der digitalen Kommunikationsdienste wie E-Mail oder Skype oder sozialen Netzwerkdiensten, die von Wissenschaftler(innen) zwar regelmäßig genutzt werden, aber eher in Form einer Re-Medialisierung, d.h. bekannte Aktivitäten und Netzwerke werden in neue Medien transferiert. Neue Formen der Gemeinschaftsbildung, also Veränderungen in der sozialen Dimension wissenschaftlicher Wirklichkeitskonstruktion, finden kaum statt, wie sich im Bereich der transnationalen Zusammenarbeit zeigt. Dabei könnte sich die Wirklichkeit der Forschenden westlicher und nicht-westlicher Wissenschaftssysteme durch solcherlei Kontingenzerfahrungen signifikant verändern. Jedoch bleibt der Bezug zu den Kolleg(inn)en vor Ort zentral wichtig. Eine Transnationalisierung oder gar Virtualisierung von Forschung kann nicht festgestellt werden. Anders dagegen stellt sich die Situation in dem Bereich der digital science dar. Hier gibt es stärkere Nutzungen: Suchmaschinen verändern, was Wissenschaftler(innen) als Forschungsstand und relevante Bezugspunkte mitunter als referenzierbare Wirklichkeit identifizieren – ohne dass die Forschenden hier hinter die Logik der Maschinen schauen oder gar diese verändern könnten. Hier wird also ein Medium zur Steigerung der wissenschaftlichen Qualität oder zur Effektivierung der Recherche genutzt, damit werden gleichsam als nicht-intendierte Nebenfolge nichtvalidierbare Suchergebnisse importiert. Gleichzeitig muss mehr recherchierte Literatur auch verarbeitet, d.h. geprüft und ggf. integriert werden, was in Konsequenz mehr forscherische Arbeit bedeutet. Und auch der Datenaustausch und die damit Bearbeitung neuer oder umfassenderer Forschungsfragen gewinnen an Bedeutung. In einer sachlichen Dimension verändert sich also die Wirklichkeitskonstruktion von Wissenschaftler(innen) insofern, als dass durch digitale Recherchewerkzeuge neue Wissensbestände erschlossen werden und in die Forschung einfließen. Gleichzeitig spielt der Computer eine zentrale Rolle bei der Erkenntnisgenese, er ist alltägliches Arbeitsmittel in der Wissenschaft, und ein Trend zu data sharing und big data science ist erkennbar. Letztere Entwicklungen bedeuten einen Empirisierungsschub (genauer: Quantifizierungsschub) in den Kultur-, Geistes- und Sozialwissenschaften, stehen doch immer mehr Datensätze zur statistischen, sekundäranalytischen Auswertung zur Verfügung – sei es durch Bereitstellung in Datenbanken, Forschungsdatenzentren etc. oder allein durch die Tatsache, dass mittlerweile zahlreiche Daten digital vorliegen (der Sozialversicherungen, in Blogs und sozialen Netzwerken etc.). Da sich bislang aber jedoch kaum neue Formen der wissenschaftsinternen wie wissenschaftsexternen Kommunikation etablieren konnten, verbleiben Darstellung und Reichweite wissenschaftlichen Wissens weitestgehend in bekannten Dimensionen. Das oftmals antizipierte Innovationspotenzial sozialer Medien kann auf Grund der Programme des Wissenschaftssystems nicht realisiert werden. Auch andere Beispiele aus der Kommunikationspraxis der Wissenschaft zeigen, dass letztlich die Grundunterscheidungen, basalen Codes des Systems ausgesprochen stabil
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sind: „Im wissenschaftlichen Betrieb spielen persönliche Netzwerke im Arrangement von Sammelbänden sicherlich eine zentrale Rolle. Sie können das Wissenschaftssystem aber nicht in seinen grundsätzlichen Referenzen korrumpieren“54. Damit einher geht auch, dass eine Demokratisierung von Wissenschaft – im Sinne einer Ausweitung von Öffentlichkeit und Popularisierung von Wissen – nicht zu erkennen ist: Eine breite Diffusion und Adaption wissenschaftlichen Wissens in die Gesellschaft und auf dieser Grundlage veränderte Wirklichkeitskonstruktionen sind daher bei aller Rede von der Wissenschaftsgesellschaft nicht zu erwarten. In einer sozialen Dimension findet also keine Ausweitung des Publikums statt, dies gilt mit gewissen Einschränkungen auch für wissenschaftsinterne Publika. Scientific Communities bleiben national bzw. auf den angelsächsischen Raum fixiert. Und auch neue transnationale Gemeinschaften qua reflexiv geteiltem, frei verfügbaren Wissen emergieren aktuell nicht, wie die anhaltende hohe Neigung zur Publikation in Formaten der Fachverlage und die vergleichsweise geringe Tendenz zur Veröffentlichung in freien, öffentlich zugänglichen Formaten zeigt. Die hier vorgestellten empirischen Befunde zur Digitalisierung von Wissenschaft und ihren Folgen zeigen eine pragmatische, an Effizienzgedanken orientierte Nutzung digitaler Kommunikations- und Medientechnologien in der Wissenschaft, die oftmals die Wirklichkeitskonstruktion von Wissenschaftler(innen) nur sehr partiell zu beeinflussen scheint. Dies ist sicherlich eine richtige Beobachtung auf einem hohem Generalisierungs- und Abstraktionsniveau, wie es in den ausgewerteten Studien angelegt war, und das soziale Innovatoren in einzelnen Disziplinen auf Grund geringer Fallzahlen nur schwer abbilden kann. Ein Blick auf emerging fields wie die Digital Humanities zeigt, dass die Möglichkeiten digitaler Kommunikationsund Medientechnologien sowohl in der Wissenschaftskommunikation als auch in Prozessen der Wissensproduktion avancierter eingesetzt werden können und dann stärkere Rückwirkungen auf die Wirklichkeitskonstruktion von Wissenschaftler(innen) zeitigen. So umfasst das Feld der DH z.B. nicht nur an Hochschulen und außeruniversitären Einrichtungen Forschende sondern auch digitale Praktiker(innen) und Aktivist(innen), konstruiert also qua entsprechend gerichteter und in Netzmedien verbreiteter Kommunikationen neuartige Communities. Damit wird Wissen stärker in verschiedenste gesellschaftliche Bereiche rückgekoppelt, Kommunikationen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft verlaufen eher reziprok als unidirektional. Auch in der Forschung verschwimmen durch den avancierten Einsatz digitaler Kommunikations- und Medientechnologien bei der Erkenntnisproduktion tradierte Rollenbeschreibungen zwischen Techniker(in), Programmierer(in) auf der einen und Forscher(in) auf der anderen Seite. Ob sich ein solches blurring of boundaries nur in wenigen, stark medialisierten Bereichen (mit allen Folgeproblemen in Qualitätssicherung, Karrierewegen, Stellenprofilen, Anerkennung von Leistungen) entwickelt oder wir aktuell die Vorreiter eines tiefgreifenden Veränderungsprozesses sehen, muss weitere Forschung zeigen. Die Grenzen zwischen dem Publikationssystem und den Massenmedien beginnen ebenfalls zu verschwimmen:
54 Schrape, Social Media, S. 412.
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Während die Fachöffentlichkeit für Wissenschaftler(innen) eigentlich kein anonymer Adressatenkreis ist, man Beiträger, Rezensenten, Redakteure und Publikum kennt, verändert sich dies mit der Veröffentlichung in Sozialen Medien und transnationalen, öffentlich zugänglichen Publikationsformaten. Damit ändert sich aber auch die Erwartungserwartung der publizierenden Wissenschaftler(innen) in Hinblick auf Komplexität, Stil, Aufbau von Veröffentlichungen. Und damit wiederum ist eine zentrale Frage berührt, die im Zuge der Digitalisierung von Wissenschaft, noch wenig diskutiert wurde: Was ist der wissenschaftliche Wesenskern wissenschaftlicher Veröffentlichungen – und wie kann er transferiert oder transformiert werden in neue digitale Publikationsformate? Mit den Potenzialen digitaler Kommunikations- und Medientechnologien kann leicht eine postmoderne Wissenschaftskultur assoziiert werden, ermöglichen sie doch prinzipiell die Auflösung von Linearität, kollektive Autorschaft, komplexe Verweissysteme, Offenheit und Veränderbarkeit der Texte55 – also das Ende der modernen Gutenberg-Galaxis. Empirische Evidenzen für einen solch weitreichenden Wandel konnten in der vorliegenden Studie allerdings (noch) nicht gezeigt werden. Denn Medienhandeln erfolgt sowohl habituell wie instrumentell, Wissenschaftler(innen) sind einerseits an „ihre“ Medien gewohnt, andererseits steuert ein bis dato dominantes modernes Wissenschaftsparadigma56 und damit verbundene etablierte Mechanismen der Zuweisung von Reputation als zentraler Währung der Wissenschaft auch ihren (Nicht-)Zugriff auf digitale Kommunikations- und Medientechnologien.
55 Bei Moulin, Digital Humanities scheinen diese Eigenschaften als konstitutive Arbeitsbedingungen der Digital Humanities bereits auf, werden jedoch nicht in Bezug zur Postmoderne gesetzt. 56 Zur Frage der verzögerten oder ausbleibenden Rezeption von radikalem Konstruktivismus und Postmoderne s. auch den Beitrag von Armin Heinen in diesem Band.
TECHNOPHYSIKALISCHE UND SYMBOLISCHE MEDIENOPERATIONEN ALS HERAUSFORDERUNG DER HISTORISCHEN ZEIT Wolfgang Ernst EINLEITUNG Die freundliche Einladung, mit einem medientheoretischen Beitrag zur Tagung mit dem brisanten Titel Wirklichkeit der Geschichte beizutragen, erweckte sogleich meine vormalige Passion für Geschichtstheorie, die inzwischen in Medienarchäologie transformierte – eine Rückkehr eher denn ein turn. Vor diesem akademischen Hintergrund geht es mir einerseits um eine „Rematerialisierung“ des Begriffs historischer Wirklichkeit. „Sigfried Giedion has had to invent the concept of an ,anonymous history‘ in order to write an account of the new technological culture.“1 Am Ende aber steht die kritische Frage, inwiefern vergangene technologische Wirklichkeiten überhaupt erschöpfend als „historische“ fassbar sind. Unsere Tagung widmet sich unter anderem „dem Verhältnis von Medien und Wirklichkeit in der Praxis der historischen Forschung“ (Exposé). Gemeinhin wird unter „Medien“ das verstanden, was die selbsternannten publizistischen Organe namens „Die Medien“ von der Presse über Radio und Fernsehen bis hin zu Internetdiensten darstellen; diesen Medienbegriff wollen wir den Kommunikationswissenschaften überlassen. Medien in einem erkenntniswissenschaftlichen und nachrichtentechnischen Sinne aber sind grundsätzlicher alle Vollzugsorgane und -technologien, die an der Signal- und Zeichenübertragung beteiligt sind. Dass Medien, sowohl als Kulturtechniken (wie etwa die Schrift und die Mathematik) wie als Massenmedien an den Wirklichkeiten einer gegebenen Epoche mitschreiben („Die mediale Bedeutung von Wirklichkeitsgenerierung“, so unser Exposé), ist mit Bertolt Brechts „Radio-Theorie“ (um 1932), Walter Benjamins Kunstwerk-Aufsatz (1935/36), mit Harold Innis Werk Empire and Communications (1950), spätestens aber seit Marshall McLuhans Doppelschlag The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic Man (1962) und Understanding Media. Extensions of Men (1964) auch bis zur geschichtserforschenden Zunft vorgedrungen. Medien wurden längst als mitwirkende Agenten der Historie erkannt und werden seither ihrerseits als historische Gegenstände beschrieben. Diese offene Tür einzurennen ist nicht Ziel meines Beitrags. Ich habe mich vielmehr für eine riskantere Variante entschieden. Denn wir verbleiben auf der harmlosen Seite, wenn mit Medientechnologien schlicht eine
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Marshall McLuhan: Counterblast, Reprint der 1954er Edition, veröffentlicht aus Anlass des Medienkulturfestivals transmediale.11, Berlin 2011.
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weitere kultur- und geschichtsprägende Kraft entdeckt und in Form von Mediengeschichtsschreibung mit klassischen Methoden der Historie eingeholt wird. Demgegenüber lautet meine verschärfte These, dass sich die temporale Realität technomathematischer Prozesse der Modellierung namens Historie nicht schlicht fügt, sondern durch eine ganz besondere Eigenzeitlichkeit zugleich entzieht. AUTOBIOGRAPHISCHE NOTE: VOM HISTORIKER ZUM ZEITKRITIKER In einer Rezension meiner Habilitationsschrift hieß es: Der Autor wolle keine Geschichten erzählen, er „hasst Geschichte“.2 Soweit möchte ich selbst nicht gehen, betone aber durchaus meine Blickverschiebung, dass aus medienarchäologischer Sicht Geschichte nicht im Zentrum der Deutung von Vergangenheit steht. Technische Dinge bilden ein selbstreferentielles Subsystem aus, das sich als Nano-, Mikrooder Meso-Zeitebene von der großen „historischen“ Zeit abnabelt und gezielte Aufmerksamkeit verdient. In welchem Verhältnis stehen Medienzeit und Geschichte? Eine Geschichte der Zeit und ihrer Messmedien ist (konventionell historiographisch gefasst) das Eine; der historische Diskurs vermag alle und alles zum Gegenstand seiner Untersuchungen zu machen. Relativisch verschränkt damit geht aber ebenso eine Öffnung des Zeithorizonts einher, die sich der symbolischen (etwa kalendarischen, annalistischen, chronikhaften und schließlich narrativ-historiographischen) Zeitordnung namens Historie zunehmend entzieht. Medienzeit erstreckt sich, angefangen von konkreten mikrozeitkritischen Prozessen als Bedingung des Gelingens etwa von elektronischen Bildern und Tönen, bis hin zu Fragen der Invarianz technologischer Verhältnisse gegenüber dem historistischen Begriff des Vergehens kultureller Zeit. Anders als die „Geschichte“, deren Begriff und Philosophie im Sinne Vicos anthropozentrisch verfasst sind, meint Medienarchäologie (auch) die Perspektive der Technik und der Logik, die nach eigenem, kurzschlüssigen Zeitgesetz verfasst sind – gestauchte Zeit. Hier löst sich Geschichte nicht trivial in die geologische oder archäologische Stratigraphie von sich überlagernden Schichten auf (dies wäre eine prähistoristische Zeitfolge bzw. die Verzeitlichung räumlich koexistenter Lagen), sondern erscheint als Überlagerung von Zeitreihen, die sich gemäß der Fourieranalyse in ihre einzelnen Schwingungsfrequenzen spektral auflösen lassen – also nicht Schichten in situ, sondern eine Entsprechung dessen, was Günther Stern die musikalische Situation nennt3. Reinhart Kosellecks Begriff von „mehrschichtigen Zeitabfolgen“ wird somit
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André Brodocz (Rezensent) über: Wolfgang Ernst: Im Namen von Geschichte. Sammeln – Speichern – Er/zählen, München 2003, in: Medienwissenschaft 1 (2005), S. 47–48, S. 47. Günther Stern [alias Anders], unveröffentlichte Habilitationsschrift: Philosophische Untersuchungen zu musikalischen Situationen, um 1930, Typoskript (Nachlass Günther Anders, Österreichisches Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek Wien, ÖLA 237/04).
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ebenso anschlussfähig wie Friedrich von Gottl-Ottlilienfelds Ausdifferenzierung zwischen Geschichte als Geschehen und metahistorischer „Schichtung“4. „Unlike contextualism, media archaeology’s aim is to dispel what are seen as similarities among media objects and to also set these objects as potentially transhistorical – that is, not necessarily context dependent“5. Der Klang am Monochord, also dem einsaiten Klangmessinstrument des Pythagoras, ist prinzipiell dergleiche wie zur Zeit Mersennes im 16. Jahrhundert und der Gegenwart, nur dass er mit anderen Ohren (sonisch) gehört und mit anderer Form von Neugierde be- und gewusst wird. Dem entspricht eine der Weisen, Musik aus der Vergangenheit zu erschließen: „Entweder existiert eine Tonaufnahme, die sich direkt über Lautsprecher wieder anhören lässt; oder wir habe eine Partitur überliefert, die wir auf einem Instrument wieder zum Leben erwecken; oder die Originalinstrumente haben überlebt, so dass sich zwar nicht die Tonfolge aber mindestens das Klangspektrum rekturieren lässt.“6
Durch den aktuellen Nachvollzug von Pythagoras Experimentalanordnung Modell werden wir vom Messmedium selbst in ein gleichursprüngliches Wissensverhältnis mit Pythagoras gesetzt – ein Kurzschluss der Zeiten, eine Untertunnelung der historischen Distanz von zweieinhalbtausend Jahren. Dass die Erinnerung an die Pythagoras zugeschriebenen Experimente am Monochord über zweieinhalbtausend Jahre fortdauernd erhalten blieb, ist nicht allein eine kulturell „mnemische“ Energie im Sinne Aby Warburgs (wenngleich hier nicht auf visuelle Pathosformen, sondern sonische Evidenz bezogen) oder der sogenannten Memetik; diese Erhaltung „können seinen Grund auch darin haben, dass es allein diese Experimente sind, in denen das, was es zu beweisen gilt, tatsächlich auch eintritt.“7 Medien vollziehen und versetzen uns in ein anderes, durchaus nicht-historische Zeitverhältnis. Didi-Huberman bezeichnet eine solche „archäologische Operation“ als „anachronistisch“; in Anlehnung an Carl Einstein identifiziert er hier „Blöcke der Aktualität“8. Die arché von welthaftigen Verhältnissen meint nicht (nur) zeitliche Anfänge, sondern ebenso auch invariante strukturelle Setzungen. Gleich physikalischen und mathematischen
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Friedrich von Gottl-Ottlilienfeld: Die Grenzen der Geschichte [1904], in: ders., Wirtschaft als Leben. Eine Sammlung erkenntniskritischer Arbeiten, Jena 1925, S. 337–379 (und „Anhang“ S. 380–442), bes. S. 356 (freundlicher Hinweis Ferdinand Fellmann). Vivian Sobchack: Afterword. Media Archaeology and Representing the Past, in: Erkki Huhtamo/Jussi Parikka (Hg.), Media Archaeology. Approaches, Applications, and Implications, Berkeley u.a. 2011, S. 323–333, S. 329. Dem entspricht die Audifikation als direkte Übertragung von Schallwellensignalen über Lautsprecher, das Parameter Mapping als Verbindung von Zahl und Klang, und die Model Based Sonification als Parametrisierung des Klangerzeugers, etwa der einzelnen Saiten. Florian Dambois, Sonifikation, in: Petra Maria Meyer (Hg.), Acoustic Turn, München 2008, S. 91– 102, S. 93. Jakob Ullmann: Lógos agraphos. Die Entdeckung des Tones in der Musik, Berlin 2006, S. 75. Georges Didi-Huberman: Ähnlichkeit und Berührung. Archäologie, Anachronismus und Modernität des Abdrucks, Köln 1999, S. 191, 193.
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Gesetzen, denen Günther Stern (alias Günther Anders) den Status des „Ungeschichtlichen“ zuschreibt9, beinhalten technologische Medien langzeitig eine Stabilität, die als durée weitgehend indifferent den historischen Wandlungen gegenüber ist. Gegenüber anderen Formen kultureller Artikulation, dem radikal dem Zeitwandel anheimgegeben sind, ist und bleibt es erstaunlich, dass ein Radio („Volksempfänger“) aus der Zeit des Dritten Reiches, sofern es nun unter Strom gesetzt und an entsprechende Antennen angeschlossen wird, auch heute deutschlandweite Mittelund Langwellenprogramme empfängt. Der Zeitraum eines technologischen Mediums (seine epoché) ist breitbandig, nicht historisch-linear. Was sich ändert, ist die Modulation durch das niederfrequente Signal (der semantische „Inhalt“, also Sprache und Musik), aber nicht die Botschaft des Mediums: die Parameter seiner Trägerfrequenz. Die technologische Eigenzeit der Medien steht den akkulturierten Naturgesetzen näher als den Geschichts- und Geisteswissenschaften. „Die technische Organisation der Weltöffentlichkeit durch den Rundfunk (...) ist die eigentliche Herrschaftsform des Historismus.“10 Damit wird eine Ökonomie der Zeit kultiviert, die nicht mehr historisch ist, weil sie nicht den Zeitpfeil der Historie spiegelt, sondern die für den historischen Diskurs konstitutive Beobachtungsdistanz staucht. Meine wissenschaftliche Neugierde gilt den Schnittstellen konkreter Medienverhältnisse zur emphatischen Zeit namens Geschichte und Kurzschlüssen dazwischen. Zum Medienarchäologen geworden, vergesse ich meine akademische Ausbildung zum Historiker und Geschichtstheoretiker nicht. Denn genau dieser Hintergrund hat mich für die Infragestellung operativer Zeitweisen sensibilisiert. Ich übertrage also das historiographische Sensorium für Zeitfragen auf das chronopoetische Reich der Medien. HISTORIOGRAMME Auf der analytischen Forschungsebene ist die sogenannte „historisch-kritische“ Methode ein wissensarchäologisches Instrument; erst auf der Darstellungsebene kommt es als literarische Kunstform zum synthetischen Begriff der Geschichte.11 Die Alternative zur narrativen Historiographie mit ihrer Privilegierung linearer Trajekte bilden non-lineare Historiogramme als analytische Diagrammatik der diachronischen Dimension. Historiogramme sind Philologen wie Informatikern12 9
Demzufolge „steht (...) der Mathematiker insofern nicht im Medium eigenen Lebens, als die mathematische Welt als etwas schlechthin zeitneutrales darstellt“: Günther Stern [alias Anders] (um 1930). Für den Hinweis danke ich Veit Erlmann; dazu ders. Reason and Resonance, Reason and Resonance. A History of Modern Aurality, New York 2010, S. 325f. 10 Martin Heidegger: Der Spruch des Anaximander, in: ders., Holzwege, Frankfurt/M. 41963, S. 301. 11 „La Storia narra“ heißt es in Benedetto Croce: Die Geschichte auf den allgemeinen Begriff der Kunst gebracht, übers. u. eingel. v. Ferdinand Fellmann, Hamburg 1984. 12 Etwa das von Daniel H. Huson entwickelte Programm Splits Tree (zur Analyse und Visualisierung evolutionärer Daten).
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wohlvertraut, wenn es darum geht, in der Textüberlieferung ein Stemma mit Archetypen herzustellen, ein Vorstellungsmodell für Relationen. Auf diesem Abstraktionsniveau ist der Aufweis von Beziehungen zwischen Varianten möglich, „ohne dass daraus schon zwingend genealogische Abhängigkeiten erschlossen werden.“13 Möglich ist hier selbst ein wurzelloser Stammbaum („unrooted structure“ ohne Aufhängungspunkt). In solchen Pfaden wird makrohistorische Zeit topologisch gestaucht, verknappt, abgekürzt zur flachen Zeitlichkeit. Auch die Urszene der Evolutionsbiologie ist genuin diagrammatischer Natur. Charles Darwin beginnt 1837, zurückgeehrt von seiner Forschungsweltreise, sein Notebook B mit dem Satz „I think“. Diesen Gedankenansatz zur Frage des Artenwandels aber setzt er nicht verbalsprachlich, sondern in Form eines Diagramms fort: Linien, die sich fortlaufend gabeln, verenden oder weiterführen, kommentiert in Form von Anmerkungen, die sich der Skizze anlagern.14 Hier wird keine Naturgeschichte erzählt, sondern als Graph geschrieben. An die Stelle einer umfassenden Reduktion auf die Semantik der Historie rückt das Spiel diverser Zeit-Schriften. IN EINER ANDEREN ZEIT: TECHNISCHE MEDIEN Technische Medien sind nicht nur anders in der Historie als sonst vertraute Kulturtechniken (wie die Technikgeschichte es erzählt), sondern zugleich auch in einer ganz anderen Zeit. Demzufolge sucht Medienarchäologie nicht nach verborgenen historischen Strukturen, sondern ent-deckt „deep duration“ (Jussi Parikka), die sublime Tempor(e)alität von Hardware selbst – ihren entropischen Verfall, eine nichtmenschliche Zeitlichkeit (wenn nicht gar „Historizität“). Durch ihre ganz eigenen Formen von Schriften, die signalverarbeitende Medien seit Photographie und Phonograph ausgebildet haben, unterlaufen sie – obgleich ihrerseits entropischen Abnutzungserscheinungen, also dem Zeitpfeil im thermodynamischen Sinne unterworfen – der symbolischen Zeitordnung der Historiographie. Eine aufgezeichnete Telephonstimme vom Anrufbeantworter vermag zu einem beliebigen Zeitpunkt des Abrufs den Hörenden in ein ahistorisches Zeitverhältnis zu stellen; Menschen finden sich durch Signalmedien in einem anderen Zeitgestell. Geschichte als historiographische Modellierung ist symbolisch organisierte, also un-eigentliche Zeit; sie ist aber nicht ihrerseits als Zeitobjekt verkörpert und bedarf der Erzählung, um ihre Linearität zu entfalten. Demgegenüber sind signalspeichernde und -reproduzierende Medien tatsächlich zeitbegabt.
13 Michael Stolz/Wolfram von Eschenbach: „Parzifal“, in: Klaus van Eickels/Ruth Weichselbaumer/Ingrid Bennewitz (Hg.): Mediävistik und Neue Medien, Ostfildern 2004, S. 95. 14 Reproduziert in Julia Voss: Die Entdeckung der Unordnung. Charles Darwin und naturkundliches Sammeln im 19. Jahrhundert, in: Thomas Bäumler/Benjamin Bühler/Stefan Rieger (Hg.), Nicht Fisch – nicht Fleisch. Ordnungssysteme und ihre Störfälle, Zürich 2011, S. 69–86, S. 70, Abb. 1.
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Dass Medien möglicherweise in einer anderen Zeit existieren und andere Tempor(e)alitäten zeitigen als jene Formen von Kultur, die als historisch begriffen werden, ist das Eine. Dass Andere sind die Anregungen, die aus solcher Beschäftigung für das historische Denken und das Denken der Geschichte resultieren. De-humanizing history: Technische Medien erinnern daran, dass es andere Zeitverhältnisse gibt als die historischen, die – seit Giambattista Vicos Definition – sich immer nur auf die menschengemachte Kultur (also – mit Ernst Cassirer – das Reich des Symbolischen, und mit Lacan: der symbolischen Ordnung) bezieht.15 Im Unterschied zu Symbolen aber basieren analoge Medientechniken auf Signalen, oder sie haben – im Sinne von Charles S. Peirce – einen indexikalischen Bezug zur (physikalischen) Wirklichkeit. Eine signalbasierte Untersuchung von Zuständen aus der Vergangenheit ist mit einer höchst verschiedenen Form von Präsenz konfrontiert. „Ça a été“: Im Sinne von Roland Barthes Deutung der Photographie gilt hier, dass das Signal als Ereignis tatsächlich stattgefunden hat; auch jede phonograpische Aufzeichnung bewahrt diese Spur. Signalprozessierung im technischen Selbstverständnis des Begriffs verlangt, dass die zu Symbolen zu verarbeitenden Signale als Objekt der Analyse und Verarbeitung aus der realen physikalischen Welt entstammen. Und noch mehr: Der Name Photographie verdankt sich ihrem Einsatz in der Lichtmessung (Herschel); Henry Fox Talbot höchstselbst verweist auf Strahlen als Frequenzen „whose existence is only revealed to us by this action which they exert“16. Als Archäologen eines „optische Unbewussten“ (Walter Benjamin) erspüren technische Medien eine andere Zeit. Methodisch kann diese Wahrnehmungsweise von Menschen als analytisches Werkzeug übernommen werden, im Sinne einer „prä-historischen (das heißt, prä-humanistischen (...) Auffassung des Bildes“17. So ermuntert Didi-Huberman dazu, „die theoretischen Modelle – und insbesondere den Zeitbegriff der Kunstgeschichte – zu überdenken“18. In medias res: Der Übergang zum synekdochischen, den Effekt eines Einblicks in reale Räume der Vergangenheit vermittelnden (kultur-)historischen Museum in der europäischen Romantik fiel zusammen mit der Entwicklung photographischer Techniken. Gleichzeitig formulierte der Historiker Leopold von Ranke sein Diktum, die Vergangenheit so beschreiben zu wollen, wie sie „eigentlich“ geschah.19 15 Unterscheiden wir zwischen 1. der Temporalität des Technischen (seine Eigenzeit, seine genuinen Zeitfiguren); 2. der Temporealität des Technischen als jene Zeitaffekte und Zeiteffekte, die sie auf den menschlichen Zeitsinn, sein „inneres“ Zeitbewusstsein ausüben, und schließlich 3. der Realität des Technischen innerhalb der historischen Zeit. 16 Henry Fox Talbot: The Pencil of Nature, London 1844; Reprint Budapest 1998, 8. „The instrument chronicles whatever it sees“, und das heißt: mit kaltem medienarchäologischen Blick Menschliches wie Unmenschliches im gleichen Rang; Photographie „certainly would delineate a chimney-pot or a chimney-sweeper with the same impartiality as it would the Apollo of Belvedere“: ebd., S. 29. Dazu Ute Holl: Strahlung, Störung, Nachrichten vom Licht der Welt, in: Thomas Bäumler/Benjamin Bühler/Stefan Rieger (Hg.), Nicht Fisch – nicht Fleisch. Ordnungssysteme und ihre Störfälle, Zürich 2011, S. 209–220. 17 Didi-Huberman, Ähnlichkeit, S. 191. 18 Ebd., S. 193. 19 Dazu Stephen Bann: The Clothing of Clio. A Study in the Representation of History in Nineteenth-Century Britain and France, Cambridge 1984, bes. S. 8ff.
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Der Ereignisbegriff und die optischen Techniken der Augenzeugenschaft fallen ineins, als Korrelat einer Ästhetik (präziser: einer Optik) der Unmittelbarkeit. Rankes Unmittelbarkeitsideal entpuppt sich als in hohem Maße televisionär: mikro- und teleskopisch, nur dass solche Medien diskursstrategisch dazu tendieren, ihre eigene Technizität weitgehend zum Verschwinden zu bringen. Geschichte wird nicht länger als Erzählung, sondern als emphatischer Referent wahrgenommen; Vergangenheit als Ereignisbild macht ihre Fundierung in der Photographie vergessen. Dissimulatio artis ist das Geheimnis der Wirkungsmächtigkeit technischer Medien und die Ermöglichung von Zeitgeschichte. Solch medientechnische Möglichkeitsbedingungen hat Hayden Whites Metahistory als Analyse der historischen Vorstellungskraft im 19. Jahrhundert Technologien zwar ausgeblendet20; wird sein Begriff rhetorischer und dramatischer Kunstfertigkeit jedoch von der literarischen auf die technische Seite hin ausgedehnt (die umfassendere altgriechische Tradition der techné), ist Metahistory auch medienarchäologisch anschlussfähig. Während die Diagnostik des Historikers im Wesentlichen eine makroskopische ist, fokussiert der medienarchäologische Blick gerade jene Zeitmomente, die sich der unmittelbaren menschlichen Wahrnehmbarkeit entziehen. Mit dem photographischen Moment (und Momentum) einher geht eine zeitkritische Zuspitzung der Tempor(e)alität, wie sie sich erstmals an der Photographie manifestierte. Die Hundertstel oder Tausendstel Sekunde, die zur Belichtung vonnöten ist, erlaubt, was für alle Historiographie unausdenkbar ist: den Zufall zu fixieren.21 So wird ein Reales am Zeitgeschehen fassbar, das der symbolischen Notation (alphabetische Geschichtsschreibung) und ihrer kognitiven Modellierung (das Modell von Geschichte als Erzählung) nicht zugänglich ist. Die Möglichkeiten einer Historiographie und das Gegenstandsfeld von Historie werden damit nicht nur erweitert, sondern ebenso aufgesprengt, so dass „das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt“22. Walter Benjamin definierte damit ein neues Geschichtsbild: die „Dialektik im Stillstand“. Während die historische Beziehung der Gegenwart zur Vergangenheit eine rein zeitliche ist, ist die des Gewesenen als Signal zum Jetzt von kurzschlüssiger Natur. DIE MEDIENWIRKLICHKEIT DER GESCHICHTE GELESEN MIT MCLUHAN UND DELEUZE Obgleich Marshall McLuhan zuweilen haarsträubende medienhistorische Fehler begeht, hatte er dennoch einen untrüglichen Sinn für die Infragestellung klassischer
20 Hayden White: Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Baltimore/London 1973. 21 Siehe Dolf Sternberger: Über die Kunst der Fotografie, in: Wolfgang Kemp (Hg.), Theorie der Fotografie, Bd. II. 1912–1945, München 1979, S. 228–240. 22 Walter Benjamin: Konvolut „N“ des Passagenwerks, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. V.1, S. 570–611, S. 578.
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Historie durch Medien in der Zeit. McLuhan unternimmt eine Gratwanderung zwischen alternativen Medienhistoriographien (gegenüber schlichter Technik- oder Kulturgeschichte) einerseits und Alternativen zur Mediengeschichte als solcher. Solche medienarchäologisch radikalen Alternativen resultieren nicht aus geschichtstheoretischer Reflexion, sondern entspringen der Medientätigkeit selbst. In seinem Pamphlet Counterblast schreibt McLuhan apodiktisch: „Just as linear history begins with writing, it ends with TV.“23 Und an anderer Stelle: „All the new media (...) are art forms which have the power of imposing, like poetry, their own assumptions. The new media are not ways of relating us to the old ,real‘ world; they are the real world and they reshape what remains of the old world at will.“24
Was hier umgeformt wird, ist ein linear-evolutionäres, „historisches“ Denken zeitlicher Prozessualität in einen Begriff fortwährender Gleichzeitigkeit. McLuhan nennt auch gleich die Agenturen dieser Transformation des vormals historischen Sinns: „Simultaneity is related to telegraph, as the telegraph to math and physics.“25 Die Konsequenz daraus ist eine Herausforderung an den historischen Diskurs als solchen: „Just as there was no history when there was no linear time sense, so there is post-history now when everything that ever was in the world becomes simultaneously present to our consciousness.“26
Auch in den beiden Kino-Bänden von Gilles Deleuze manifestiert sich ein historisch-ahistorisches double-bind, denn die chronopoietische Wendung vom Bewegungs- zum Zeitbild hat selbst einen historischen Index: den Zusammenbruch abendländischer Systeme (idealistisch wie materiell) im Zweiten Weltkrieg. Im Kino führte dies etwa zum italienischen Neorealismus, in Frankreich zur Nouvelle Vague. Das „Zeitbild“ leitet Zeit nicht mehr von der Bewegung ab, sondern tendiert zur unmittelbaren Zeitdarstellung: „Wir haben es nicht mehr mit einer chronologischen Zeit zu tun, (...) sondern mit einer chronischen achronologischen Zeit (...).“27 In Alain Resnais Film Letztes Jahr in Marienbad kommt Zeit selbst zum Stillstand und wird damit zur reinen Erscheinung.
23 Marshall McLuhan: Counterblast, New York 1969, S. 122, hier zitiert nach: Peter Bexte, Cadillac und Gebetmatte. McLuhans TV-Gemälde, in: Derrick de Kerckhove/Martina Leeker/Kerstin Schmidt (Hg.), McLuhan neu lesen. Kritische Analysen zu Medien und Kultur im 21. Jahrhundert, Bielefeld 2008, S. 323–337, S. 332. 24 McLuhan: Counterblast (1954), o. S. 25 Ebd. 26 McLuhan: Counterblast (1969), S. 122. 27 Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt/M. 1991, S. 172f. Siehe Kerstin Volland: Zeitspieler. Inszenierungen des Temporalen bei Bergson, Deleuze und Lynch, Wiesbaden 2009.
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DINGPRÄSENZ VERSUS KONTEXTUELLER HISTORISMUS Vivian Sobchack identifiziert das archetypische emplotment der Medienarchäologie als das der Romantik: die Vorliebe für antike Artefakte und deren Wiederbelebung. Klassische Präsenzerzeugung hängt am Artefakt. „At one extreme, presence is defined as the literal transhistorical (yet not ahistorical) transference or relay of metonymic and material fragments or traces of the past through time to the ,here and now‘– where and when these can be activated and thus realized once again in our practical, oparative, and sensual engagement with them.“28
Aktuelle Präsenserzeugung liegt im Wesen operativer Medien – selbst dann, wenn sie selbst aus der Vergangenheit stammen. Im Moment ihres Vollzugs erzeugen sie in der menschlichen Wahrnehmung – also auf der phänomenologischen Zeitebene – einen Signalfluss, der nolens volens als Gegenwart empfunden wird (und damit asymmetrisch zum kognitiven Wissen um die Historizität des Mediums und seiner Inhalte). Auf phänomenologischer Ebene unterscheidet sich Medienarchäologie vom historischen Diskurs. INVARIANZEN: DIE UNZEIT VON TECHNO/LOGIE Kulturtechniken sind im Rahmen einer Kulturgeschichte fassbar. Technologien aber sagen schon im Begriff, dass sie einerseits der Welt der Physik (Technik) angehören, die nur in Grenzen diskursiv, ansonsten in ihren Gesetzen aber weitgehend invariant gegenüber historischer Zeit ist; andererseits gehören sie einer Welt der Logik an (der mathematische Raum), der nicht schlicht historisch relativ ist.29 Zwar ist Mathematik wissenschaftsgeschichtlich beschreibbar, sowohl in ihrer Zeichengebung wie in ihren Kernbereichen (Arithmetik, Geometrie, Algebra, Analytische Geometrie und Analysis), doch wird hier etwas verhandelt, das einem prinzipiell invarianten Zeitraum angehört. Der Rahmen, in dem Medien das Symbolische im Realen implementieren, setzt nicht verhandelbare Bedingungen zum Mediengelingen. Nun mag man mich hier eines gewissem Platonismus bezichtigen, insofern im Dialog Meno am Beispiel eines gezeichneten Diagramms nachgewiesen wird, dass alles Wissen bereits vorliegt, also schlicht der geradezu medienarchäologischen Anamnesis bedarf (operative Diagrammatik, „diagrammatic reasoning“ nach
28 Sobchack, Afterword, S. 324, unter Bezug auf Eelco Runia, Presence, in: History and Theory 45 (2006), S. 1–29; und Hans Ulrich Gumbrecht, Production of Presence. What Meaning Cannot Convey, Stanford 2004. 29 Manifest wird diese doppelte Einbindung in zugleich historische und ahistorische Zeitverhältnisse im Moment, wenn ein Computer „crasht“, d.h. auf physikalischer Ebene (etwa als Festplattenschaden oder durch Versagen stromführender Elektronik) zu versagen beginnt. Kaum aber ist seine materiale Infrastruktur wieder stabilisiert und zeitkritisch intakt, gehören seine schaltungslogisch begründeten Operationen einer zugleich alltäglichen und metahistorischen Wirklichkeit an.
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Peirce). Gewiss, arbiträre Zeichen unterliegen kulturellen Konventionen; das Gelingen eines Radioempfangs aber ist nicht nur kulturelle Vereinbarung, sondern auch ein Gestell des Elektromagnetismus, dem sich menschliche Technikerkenntnis zu fügen hat. In einem mittelalterlichen Dialog wird erklärt, warum die Saite des Monochords ein besserer Lehrer ist als der Mensch: „Ein Mensch singt nur nach bestem Willen und Wissen, die Saite aber ist nach den (...) Buchstaben von höchst weisen Männern mit solcher Kunst eingeteilt, dass sie nicht lügen kann, wenn man sie nämlich sorgfältig beobachtet und behandelt.“30
Im vibrierenden Monochord klingt implizites Wissen an, welches immerfort – und durch Epochen von der Antike (Pythagoras) über die Frühneuzeit (Mersenne) – an das Wissenwollen im Menschen appelliert, um darin als Entdeckung explizit gemacht zu werden. Medienvorgänge wollen gewusst werden; der Schauplatz der Prozessierung dieses Wissens übernimmt (im Modell der triadischen Semiotik) gegenüber Zeichen und Gegenstand die Rolle des Interpretanten.31 Diese Wissensvermittlung aber gelingt nur, sofern das Vernehmen darauf abgestimmt ist, also mit dem Medium resoniert und raisoniert (Schwingung und Zahl).32 Auf diese Abstimmung rekurriert auch Aby Warburgs Konzept sub-kultureller Meme33, das an die Stelle diachronischer Tradition den eher funktechnischen Begriff der Transmission zwischen Sender und Empfänger (abgestimmt durch den Schwingkreis) setzt. „Das Monochord ist ein bewundernswerter, halbstummer Lehrer. Obwohl er selbst nichts weiß, lehrt es doch alles.“34 Die Evidenz des sogenannten pythagoräischen Kommas aber beweist, dass das Messmedium zuweilen das bessere Wissen im Vollzug inkorporiert als seine ersten Deuter. Solche Instrumente sind selbst aktive (Medien-)Archäologen impliziten Wissens, das menschenseitig der disursiven Explikation harrt; sie stehen in einem privilegierten Nahverhältnis zu jener Physik, nach deren Gesetzen sie selbst – wie auch immer kulturell moduliert – als Artefakte 30 Der Dialogus Oddonis aus der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts, zitiert hier nach: Sigfrid Wantzloeben: Das Monochord als Instrument und als System, entwicklungsgeschichtlich dargestellt, Halle 1911, S. 74. 31 Die Kybernetik von Georg Klaus definiert dies im Rahmen einer „Sigmatik“: ders.: Kybernetik in philosophischer Sicht, Berlin 21962. Dass Natur- und Medienverhältnisse wie die Radioaktivität und das elektromagnetische Feld jenseits der Dichotomie von Geist und Materie der Repräsentation bedarf, um gewusst und bewusst instrumentalisiert zu werden, ist auch eine der Thesen von Bruno Latour: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt/M. 2002. Sein Begriff des faitiche (ebd., „Glossar“, S. 374) als Bezeichnung für die Verbindung zwischen dem Symbolischen und dem materiellen Objekt steht hier der Medienphänomenologie nahe. 32 Siehe Veit Erlmann: Reason and Resonance. A History of Modern Aurality, New York 2010. 33 „Im harten Steinmetzwerk, das die (...) sterbende Heidenwelt hinterliess, jubelt und klagt ein lebender Totentanz (...) so ungestört unsterblich weiter dass jeder Nachfahrende insofern nur Auge und Herz an der richtigen Stelle sitzen in diesem Stile nachsprechen muss, sobald ihn unsterblicher Ausdruckszwang schüttelt.“ Aby Warburg: Mnemonsyne I. Aufzeichnungen (1917–29), in: ders., Werke in einem Band, hg. v. Martin Treml/Sigrid Weigel/Perdita Ladwig, Frankfurt/M. 2010, S. 640. 34 Johann Turmair gen. Aventinus: Liber de Musica, hier zitiert nach: Wantzloeben, Monochord, S. 75.
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verfasst sind.35 Wider besseres empirisches Wissen aber beharrte die altgriechische Epistemologie zumeist auf der Suprematie einer ideologischen Ästhetik. Die pythagoräische Lehre der kosmischen Harmonie findet dann ihr temporales Gegenstück im perpetuum mobile, wogegen es ein „Vetorecht der Quellen“ (Reinhart Koselleck) der eigenen Art gibt: den Einspruch der Thermodynamik höchstselbst. Eine verwandte Sachlage ist der von Thomas Alva Edison im Rahmen seiner Entwicklungsexperimente der elektrischen Glühbirne bemerkte und patentierte Edison-Effekt – eine prinzipielle Entdeckung der Elektronenröhre. Der Patentschrift des Electrical Indicator36 „gelingt nicht die Übersetzung eines impliziten in ein explizites Wissen. (...) Strom fließt durch ein Vakuum unter der nicht genannten Voraussetzung, dass die Elemente richtig gepolt sind. Trotzdem verwendet Edison seinen Apparat so, wie es richtig ist, nämlich als Diode oder elektronischen Schalter.“37 [s. o., Suchwort „Radioaktiv“ bzw. „elektromagnet“: „Weil die Menschen kein Organ für die Wahrnehmung elektrischer Wellen haben, hatten sie von ihrem Vorhandensein keine Ahnung und doch hat es wohl schon von Anfang der Dinge an elektrische Wellen gegeben, weil eben jeder Blitz solche elektrischen Wellen erzeugt. Die elektrischen Wellen waren vorhanden, aber sie mussten zuerst entdeckt werden. Diese Entdeckung gelang im Jahre 1887 dem damaligen Professor Heinrich Hertz in Karlsruhe, dessen Name dadurch unsterblich wurde.“38]
Der Parameter der Richtigkeit ist hier ganz offensichtlich die Tatsächlichkeit des medientechnischen Vollzugs, nicht die historisch relative Deutung. Anders als das Vetorecht historischer Quellen liegt hier das Korrektiv im nicht-menschlichen Bereich. Zuweilen also hat der Apparat das bessere Wissen als seine technische Beschreibung im Patent. „Es gibt eine technische Praxis, innerhalb derer sich die Thermionic Tube wie eine Diode verwenden lässt“39, auch wenn im Text davon keine Rede ist. Technologische Praxis macht etwas nicht auf der symbolischen Ebene lesbar, sondern artikuliert Aussagen nach eigenem Recht. Symbolische Darstellung 35 Solche Instrumente können sowohl technischer wie auch mathematischer Natur sein. Für Naturphänomene, welche der menschlichen (Zeit-)Sinneserfahrung als zu langsam oder zu schnell entgehen, bringt Jean Babtiste Joseph Fourier die später nach ihm benannte mathematische Analyse in Anschlag – als eine Art teleskopischer Medientheorie: „So vermag die Analyse trotzdem die Gesetze dieser Erscheinungen aufzudecken. Sie bringt uns diese Erscheinungen nahe, macht sie uns messbar und scheint eine besondere Begabung des menschlichen Geistes zu sein, um das, was ihm durch den Mangel seiner Sinne und die Kürze seines Lebens verloren geht, zu ersetzen“: Jean Baptiste/Joseph Fourier: Analytische Theorie der Wärme [Paris 1822], dt. Ausgabe von B. Weinstein, Berlin 1884, „Vorwort des Verfassers“, XIV – mithin eine Erweiterung der Prothesentheorie Ernst Kapps und Marshall McLuhans in das Reich symbolischer Maschinen. 36 US Patent Nr. 307031 vom 15. November 1883. 37 Christian Kassung: Die Zukunft des Wissens und eine Geschichte der Patente, in: Thomas Bäumler/Benjamin Bühler/Stefan Rieger (Hg.), Nicht Fisch – nicht Fleisch. Ordnungssysteme und ihre Störfälle, Zürich 2011, S. 151–164, S. 163. 38 Wilhelm Fröhlich: Radiomann. 80 Versuche von der elektrischen Batterie bis zum selbstgebauten Fern-Empfänger, Stuttgart 1940, S. 18. 39 Kassung, Zukunft des Wissens, S. 163.
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und gegenständlicher Vollzug fallen auseinander. Lässt sich jene „höchst eigenwillige Temporalität des Wissens“40 am plausibelsten in der diskursiven Form der sogenannten Wissensgeschichte fassen, die im Anschluss an Bruno Latour inzwischen Konjunktur hat?41 Im Unterschied zur Wissensarchäologie betont sie – wie schon die Technikgeschichte bislang – den im Rahmen von Geschichtsforschung vertrauten historischen Kontext, die „kulturelle Praxis eben auch das Apparativen und Technischen“42. Tatsächlich wird jede erfinderische Idee „in ein weites Möglichkeitsfeld technisch-ökonomischer Realisierung hineingeboren“43; epistemogen aber ist ein anderes, ahistorisches Gestell mit am Werk, nämlich die Fügung aller Realisierung in ein technisch-mathematisches Apriori. Nur in den Grenzen, welche Materie und mathematische Logik den Techniken unvordenklich setzen, sind dieselben diskursiv konstruierbar. Der historische Index erklärt den spezifischen Zeitpunkt einer Erfindung respektive deren Diskurswerden44; der medienarchäologische Index aber benennt die unabdingbaren und invarianten Vorrausetzungen dessen, was als Denkbares dann kulturwirksam werden kann. Diese historisch-ahistorische Doppelbindung lässt sich als temporales Gefüge formulieren: Einmal sind die Dinge in die historische Zeit gestellt, zum anderen aber gehören sie Zeitweisen an, die – in Anlehnung an einen Begriff Latours-non-human tempoagencies darstellen. IN FALTUNGEN STATT IN HISTORIE DENKEN Im Denken der Historie sind ihre Alternativen implizit. Die Grenzen der Geschichte zu öffnen heißt, sie in die umfassendere Frage nach Zeitlichkeiten zu stellen und das historisierende Denken von Zeitverhältnissen gegenüber ihren anderen Denkweisen zu positionieren. Indem handelnde Medien einerseits in der Zeit stehen, andererseits aber ihrerseits temporale Figuren zeitigen, verlangen sie nach einer Entfaltung dieser Verschränkung. Ganz so, wie François Jullien den methodischen Umweg über China als bewusste Entscheidung für einen externen Blick auf die „Frage der Zeit“ wählt und damit „diese Frage aus ihren Faltungen herauslösen
40 Ebd., S. 164. 41 Latour, Hoffnung der Pandora, bes. Kap. 5 („Die Geschichtlichkeit der Dinge“), S. 175–210, sowie Kap. 6 („Ein Kollektiv von menschlichen und nicht-menschlichen Wesen“), S. 211–264. 42 Kassung, Zukunft des Wissens, S. 164. 43 Klaus Mauersberger: Technische Neuerungen am Schnittpunkt von Physik und praktischer Mechanik – ein Beitrag zu vergessenen Erfindungen, in: Dresdener Beiträge zur Geschichte der Technikwissenschaften, Heft 20 (1992), S. 29–39. In medienarchäologischer Perspektivverschiebung liegt dieser Schnittpunkt vielmehr zwischen physikalischer Mechanik und kulturhistorischem Kontext. 44 Mauersberger fragt nach zu früh gekommenen Erfindungen und Mehrfacherfindungen für die etwa Leonardos Skizze des Fahrrads ebenso steht wie der antike Mechanismus von Antikythera: „Wie und auf welche Weise konnte dies oder jene Idee nur so frühzeitig in die Welt treten?“ Mauersberger, Technische Neuerungen, S. 29.
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muss, wenn ich hoffen will, ihr auf den Grund zu gehen“45, wählt der vorliegende Text für diese Distanzierung die in elektrotechnischen und technomathematischen Medien verkörperten Zeitweisen. Dafür eignen sich solche Medien in ausgezeichneter Weise, weil sie zugleich direkte Hervorbringungen der abendländischen Kultur wie deren Transzendenz, nämlich Unabdingbarkeit in physikalisch-formalen Verhältnissen darstellen. Notwendig ist dabei die Unterscheidung zwischen neuen Formen, Medienzeit in ihren mikro- und makroprozessualen Erscheinungen zu (be-)schreiben, und medieninduzierten Anregungen, Zeit und Geschichte ihrerseits anders zu denken. Beispielhaft dafür steht die Zeitfigur der „Rekursion“ als alternative Form von Geschichtsschreibung, inspiriert von der Informatik, angewandt auf Wissensgeschichte.46 Rekursion als Denkfigur innerhalb einer Mediengeschichte bleibt im historischen Diskurs verfangen. Tatsächlich ist sie als Zeitform dessen radikale Alternative. Eine entsprechende Publikation handelt deshalb von der (ursprünglich in der Kunstgeschichte Wilhelm Pinders entwickelten) „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“ (Beitrag Horst Bredekamp) ebenso wie „Von der Unmöglichkeit, Mediengeschichte zu schreiben“ (Beitrag Bernhard Siegert).47 Gefordert ist damit nichts weniger, als aus dem historischen Diskurs tatsächlich auszusteigen und vom ersten Satz an sich nicht schon wieder im Diskurs der Historie zu verfangen. „Jede materiale Eigenschaft eines Mediums erzeugt eine Raum-Zeit-Struktur, mit welcher unauflöslich Wissensmonopole verbunden sind“, lautet die Einsicht einer aus der Untersuchung von Handelswegen geborenen Medientheorie.48 Radikale Medienarchäologie aber geht über diese Einsicht in das Mitwirken von Mediensystemen am jeweiligen Begriff der Geschichte hinaus. Die genannte „Raum-Zeit-Struktur“ liest sich seit der von Michael Faraday entdeckten Elektrodynamik, ihres mathematischen Begriffs durch James Clerk Maxwell und ihrer relativitätstheoretischen Eskalation durch Albert Einstein im Sinne eines Felds, in dessen Dynamik sich ein anderer Zeitbegriff verfängt. Lorraine Deston und Peter Galison benennen in ihrer Genealogie des Begriffs wissenschaftlicher Objektivität die Epoche der „Naturwahrheit“, gefolgt von der „mechanischen Objektivität“ und schließlich einer Gegenwart, in der erneut die Subjektivität des „geschulten Urteils“ zur Bewertung hochaufgelöster Messdaten vonnöten ist. Diese Folge aber ist nicht ausschließlich
45 François Jullien: Über die „Zeit“. Elemente einer Philosophie des Lebens, Zürich/Berlin 2004, S. 18. 46 Zur Sprache kommt die Rekursion als Figur abendländischer Wissensgeschichte auch in Friedrich Kittler, Eros (Musik & Mathematik I: Hellas, Teilband 2), München 2009. 47 Ana Ofak/Philipp von Hilgers (Hg.): Rekursionen. Von Faltungen des Wissens, München 2010. 48 Bernhard Siegert: Von der Unmöglichkeit, Mediengeschichte zu schreiben, in: Ofak/Hilgers, Rekursionen, S. 157–177, hier S. 174, unter Bezug auf Harold A. Innis: Das Problem des Raumes, in: ders., Kreuzwege der Kommunikation. Ausgewählte Texte, hg. v. Karlheinz Barck, Wien/New York 1997, S. 147–181.
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wissens- oder wissenschaftsgeschichtlicher Art49, sondern vielmehr eine Archäologie „dynamischer Felder, in der neu hinzugekommene Körper die schon vorhandenen neu anordnen und umformen – und ihrerseits umgestaltet werden“50. Die Rekursion ist eine ungeschichtliche Zeitfigur zur Beschreibung vergangenen Geschehens. Im Sinne einer mathematischen Operation (und für den Computer begründend) meint die Rekursion den Wiederaufruf einer Funktion durch sich selbst. Epistemologisch verallgemeinert führt dies zu einem „Ansatz, der es erlaubt, ganz unterschiedliche Zeiten und Entwicklungsstränge aufeinander zu beziehen, ohne einen Weltgeist von hegelianischen Ausmaßen voraussetzen zu müssen“51.
Zeitfalten als Möbiusband – eine Erinnerung an G. W. Leibniz wissensästhetischen Fokus auf der Falte als Ausdruck infinitesimaler Berechenbarkeit von Welt.52 „MEDIALE HISTORIOGRAPHIEN“? Zitieren wir aus unserem Tagungsexposé zur Sektion IV: „Die mediale Bedeutung von Wirklichkeitsgenerierung ist seit den Arbeiten der Toronto School of Communciation, von McLuhan, Ong, Havelock etc. (...) Allgemeinplatz geworden. Dennoch ist die Geschichtswissenschaft tendenziell immer noch eine Textwissenschaft, die größtenteils wissenschaftliche Texte über historische Texte verfasst.“53
Darstellungsformen von Historie jenseits der klassischen Textualität verändern den Begriff der historischen Wirklichkeit? Hier stellt sich die Gretchenfrage: Steht und fällt die kognitive Schematisierung emphatischer Zeitverläufe namens Geschichte mit ihrer narrativen Fassung als Text (Historie)? Mediale Repräsentation von Historie ist das Eine; mediale Fassung von Wirklichkeiten, die gar nicht historische sind, sind das Andere. Steht und fällt Historie als Modellierung vergangener Zeit mit der Schrift- und Erzählform der Historiographie, und inwieweit führt eine Medienarchäologie andersartiger Zeit-Schriften zu neuen Formen historischer Forschung, die am Ende eine Alternative zum Diskurs der Historie selbst darstellen respektive zu einem radikalen Neuansatz oder einer Neuerfindung dessen führen, was bislang das Werkzeug des Historikers ausmachte? Für den Medienphilosophen Vilém Flusser war es gar keine Frage: Historie als spezifisches Format in der Mo-
49 Der Neologismus „Wissensgeschichte“ floriert im Anschluss an die Schriften Bruno Latours; siehe etwa ders., Hoffnung der Pandora. 50 Lorraine Daston/Peter Galison: Objektivität, Frankfurt/M. 2007, S. 19. 51 Dazu die Einleitung der Herausgeber in Ofak/v. Hilgers (Hg.) 2010, S. 7–25, hier S. 11. 52 Reinhart Koselleck: Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt/M. 2000; Gilles Deleuze: Die Falte. Leibniz und der Barock, Frankfurt/M. 1995. 53 Tagung: Die Wirklichkeit der Geschichte, Universität Göttingen (Lichtenberg Kolleg), S. 17– 19. November 2011, Beschreibung (Exposé) zu Sektion 4 („Mediale Repräsentation und historische Wirklichkeit“).
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dellierung (Linearisierung) vergangener Zeit hängt an der Schrift – als Historiographie.54 Fragt sich, was sich in einer zunehmend medialisierten, sonifizierten und visualisierten Umwelt an diesem Verhältnis ändert. Schrifteffekte: Zweifellos hängt die Historiographie an der alphabetischen Schrift. Es gibt jedoch andere Geschichtsschriften. Das Graduiertenkolleg „mediale Historiographien“ widmet sich seit 2005 an der Bauhaus-Universität Weimar alternativen Schreibweisen von Geschichte. Dabei geht es – laut der ursprünglichen Selbstbeschreibung – um die Frage, „wie unterschiedliche Medien die Darstellung, die Wahrnehmung und Erfahrung von Geschichte bestimmen. Text und Bild, Kommunikations- und Speichermedien, Archive und Bibliotheken, aber auch analoge und digitale Technologien werden dabei als je spezifische ‚Medien der Geschichte‘ begriffen.“ Die Funktion unterschiedlicher Medien bei der Entstehung historischen Wissens wird damit ebenso erforscht wie die konkreten Darstellungsweisen historischer Prozesse in verschiedenen Medien. Das Ziel, neue Modelle von Mediengeschichtsschreibung zu erproben, lässt jedoch die Integrität des historischen Diskurses unangetastet. Die epistemologisch radikalere Alternative dazu sind graphische Techniken, die Zeitverhältnisse gar nicht in Form von Geschichte „schreiben“, sondern besser: Zeitreihen und -felder durch Signal- und Impulsketten definieren. Wo der narrative Zusammenhang entfällt, kommt eine Welt der „Signale“55. Der spontane, zeitkritische Impuls tritt an die Stelle der narrativen Geschichte – die ästhetische Sensibilität der Moderne. Während Martin Heidegger dies in Sein und Zeit 1927 zugunsten von Geschichtlichkeit abzuwehren sucht, stellt sich Walter Benjamin dieser rhythmischen Verschiebung offensiv, indem er den Geschichtsbegriff von seiner nur scheinbar notwendigen Kopplung an die Erzählung erlöst: „In einer materialistischen Untersuchung wird die epische Kontinuität (...) in die Brüche gehen.“56 AUFZEICHNUNG (RECORD), REGISTRIERUNG (RECORDING), NACHRICHTENLAGEN Messmedien registrieren welthaftige Zeitereignisse auch ohne mit-wissende Interpretanten.57 So rückt an die Stelle auktorialer Wissenserzählungen ein Verbund aus apparativen Registriersystemen und Beobachtern. Messmedien wie das Oszilloskop leisten längst eine Art mediale Chronographie, d. h. sie vermögen kleinste (und größte) Zeitereignisse aufzuspüren, die unterhalb (oder überhalb) der menschlichen
54 Siehe Vilém Flusser: Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft? Frankfurt/M. 1992; ferner ders.: Krise der Linearität. Vortrag im Kunstmuseum Bern, 20. März 1988, hg. v. G. J. Lischka, Bern 1992, Frankfurt/M. 1995. 55 So die kritische Bewertung des Films in: Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung [1944], Frankfurt/M. 1993, S. 145. 56 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Frankfurt/M. 1972–1989, Bd. I, S. 1252. 57 Siehe Werner Schreibmayr: Niklas Luhmanns Systemtheorie und Charles S. Peirces Zeichentheorie. Zur Konstruktion eines Zeichensystems, Tübingen 2004, S. 213.
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Wahrnehmugsschwelle liegen58 – eine Welt zeitkritischer Ereignisse. Unprocessed data (Hayden White) stellen das archäologische Material der Historie dar. Dymond fasst sie unter dem Begriff records zusammen; „as historical evidence, records are largely unconscious, and not slanted for the consumption of posterity. In this they are therefore akin to the vast majority of archaeological artifacts“.59 Bereits die aus Antike und Mittelalter vertraute Annalistik als Form von Ereignisaufzeichnung schrieb bekanntlich keine Geschichte im emphatischen Sinn, sondern Nachrichtenlagen. Annalen verdichten die Deutung diverser Ereignisse nicht zu einem hermeneutisch unterstellten Sinngebungsmuster namens Geschichte, denn diese Deutungshoheit lag im damaligen Begriff nicht bei Menschen, sondern bei Gott; was auf Erden kontingent erschien, machte erst aus seiner (angenommenen) Sicht Sinn, jenseits der terrestrischen Historie. Von daher ermangelt es der Annalistik auch der erzählerischen Form. Im Sinne des hiesigen Tagungsthemas Die Wirklichkeit der Geschichte und besonders der Sektion 4 („Mediale Repräsentation und historische Wirklichkeit“) hat Hayden White die mediale Bedeutung (in diesem Fall: die diskrete buchstäbliche Notation) von Wirklichkeitsgenerierung unter der Überschrift „The Value of Narrativity in the Representation of Reality“ diskutiert.60 Eine verwandte Variante dieser Form von Zeit-Schrift ist die Chronik. Indem Chronisten einen göttlichen Heilsplan zugrunde legen, der als ein unerforschlicher quasi ein Algorithmus ist (mit Gott als Compiler), „haben sie die Last beweisbarer Erklärung von vornherein von sich abgewälzt. An ihre Stelle tritt die Auslegung, die es nicht mit einer genauen Verkettung von bestimmten Ereignissen, sondern mit der Art ihrer Einbettung in den großen unerforschlichen Weltlauf zu tun hat“61
Walter Benjamin verfällt in seiner Analyse allerdings selbst einer historiographischen Figur, wenn er die Chronisten des Mittelalters, „die Vorläufer der neueren Geschichtsschreiber“ nennt – und nicht deren Alternative. In welchem Verhältnis zurzeit steht Aufzeichnung als recording – ob nun annalistisch, historiographisch, oder andere graphische Methoden? „What does history look like? How do you draw time?“, heißt es in der Verlagswerbung zu Daniel Rosenbergs und Anthony Graftons Cartographies of Time (New York 2010). Hier werden wie selbstverständlich emphatische Zeitreihen und Geschichte in eins gesetzt. Aufgabe einer archäologischen Analyse von Zeitdiagrammen ist es, diese beiden Modi zu entzerren. Registrierung erster Ordnung ist ein Akt der Inskription: etwa die Niederschrift eines Rechtsverhältnisses durch eine Urkunde im Mittelalter. Registrierung zweiter Ordnung ist die Überführung dieser Urkunde in Historiographie. Bei der Kodierung, also Informatisierung geht das physikalisch-entropische 58 Siehe Axel Volmar (Hg.): Zeitkritische Medien, Berlin 2009. 59 D. P. Dymond: Archaeology and History. A plea for reconciliation, London 1974, S. 67. 60 Hayden White: The Value of Narrativity in the Representation of Reality, in: W.J.T. Mitchell (Hg.), On Narrative, Chicago 1981, S. 1–24. 61 Walter Benjamin: Der Erzähler, in: ders., Illuminationen, hg. v. Siegfried Unseld, Frankfurt/M. 1961, S. 423.
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Moment des Referenten weitgehend verloren – wenngleich das materielle Zeichen selbst dem physischen Verfall anheimgegeben ist (etwa die records auf einer Compact Disk, wo die Wellenlänge des abtastenden Lichts zu den materiellen Kodierungen der Pits und der Lands dazwischen per Interferenzen operiert62). Die Brandspuren am „Akademie-Fragment“ von Theodor Mommsens Entwurf zu Bd. IV der Römischen Geschichte sind das einzig Geschichtliche daran. Einmal symbolisch kodiert ist ein Ereignis als Geschehen Historie; es wird damit in einen anderen Datenverarbeitungszustand übersetzt und dementsprechend gelesen – die Differenz zwischen der Realpräsenz des verkohlten Fragments und seiner Transkription.63 Die Zeitaufzeichnung als record steht eher auf Seiten der Annalistik denn der Historiographie. Welche Zeitmitschrift praktiziert etwa der Kymograph, also Wellenschreiber Mareys (1868), dessen Kurvendiagramme ausdrücklich mit einer korrelierten Zeitleiste versehen sind? Marey studierte Medizin; als Natur- und Lebenswissenschaftler zielt er auf Bewegungsdarstellung aus dem Inneren des Körpers. Die in der Zeit schreibende Feder generiert keine narrative Zeit auf der Basis von Buchstaben, sondern wird als Schreib-Zeit selbst zeitkritisch. Sie erzeugt eine Form der Verstetigung: „Record kann eine Versteinerung sein, eine Spur eines Elementarteilchens in einem Nachweisgerät, (...) eine Aufzeichnung von Ergebnissen auf einer Festplatte, eine Fotografie, eine Notiz in einem Laborbuch oder irgendeine andere Verfestigung.“64
Doch schreibt sich in solchen Apparaturen nicht nur der Signalstrom einer Außenwelt ein. Record ist auch das eigene Maschinengedächtnis, das sich in Wachswalzenaufnahmen früher Phonogrammarchive einschreibt; das jeweilige Hintergrundgeräusch ist auch die Signatur des individuellen Archiv-Phonographen. Das Messmedium schreibt sich selbst als record.65 STRATIGRAPHIEN STATT EVOLUTION Die symbolische Liste einerseits und die maschinelle Selbstaufzeichnung stellen einen aufzeichnungstechnischen Kontrast dar. Die geologische oder archäologische Stratigraphie, also die Abfolge von Sedimenten im Boden, gibt sich zunächst als räumliche Leiste oder aufgezeichnete Liste; die Transformation in den Index erdgeschichtlicher Epochen oder kultureller Ablagerungen ist ansatzweise eine Art Fourier-Synthese (Frequenz-Zeit-Wandlung) als eine Technik zur Integration eines 62 Siehe Jack H. van Lint: Die Mathematik der Compact Disc, in: Martin Aigner/Erhard Behrends (Hg.): Alles Mathematik. Von Pythagoras zum CD-Player, München 2002, S. 11–20, S. 18. 63 Siehe Wolfgang Ernst (Hg.): Die Unschreibbarkeit von Imperien. Theodor Mommsens Römische Kaisergeschichte und Heiner Müllers Echo, Weimar 1995. 64 Henning Genz: Wie die Zeit in die Welt kam. Die Entstehung einer Illusion aus Ordnung und Chaos, Reinbek 2002, S. 234f. 65 Dazu Franz Lechneitner: Die Technik der wissenschaftlichen Schallaufnahme im Vergleich zu ihrem kommerziellen Umfeld, in: Harro Segeberg/Frank Schätzlein (Hg.), Sound. Zur Technologie und Ästhetik des Akustischen in den Medien, Marburg 2005, S. 241–248, S. 247.
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räumlichen Musters in ein Modell zeitlicher Sequenz.66 Aus optischer Synchronie wird hier eine unterstellte Diachronie, unter der Annahme, dass die überlieferten Listen (als Annalen oder als Sedimente) ihrerseits ein räumliches Sampling von Zeitabfolgen darstellt(e) – Technologien des Zeitmanagements, wie sie im England jener Epoche sowohl Charles Lyell wie Charles Darwin praktizierten.67 Halluzination von Historie aus diskreten Folgen von Fossilien: „Stellen wir uns (...) vor, wir hätten eine gut erhaltene und klar stratifizierte Fossillagerstätte entdeckt, die ein Protokoll der Evolution über Tausende von Generationen für den spezifischen Organismus enthält, den wir studieren. Die Größe und den Umriss der erhaltenen Organismen könnten wir messen und so vielleicht die Veränderungsrate dieser Merkmale einschätzen. Doch selbst von einem nahezu perfekten Protokoll aus ließe sich immer noch nicht ohne weiteres auf den evolutionären Prozess schließen, der diese morphologischen Merkmale beeinflusst hat.“68
Besteht ein Analogieverhältnis zwischen mikroskopischen Zeitreihen zu meso- oder makrokosmischen Zeitreihen namens Geschichte? Zeitreihen bilden sich eben nicht nur auf der symbolischen Ebene der Notation, sondern ebenso im geologischen (Cuvier) wie im archäologischen Raum. Zwischen Mathematik und Zeit erstreckt sich das Diagramm.69 GESTAUCHTE ZEIT Die abendländische Naturwissenschaft ist einerseits aufgehoben in ihren messtechnischen Geräten, aber ebenso in Form der Nachlässe von Ingenieuren. Wissensarchäologisch ist Vergangenheit aufgehoben in der fortwährenden Aktualität von vormals erhobenen Daten (als Funktion jener Messmedien). Ihre Wiederverwendung ist eine Alternative zur historischen, mithin: distanzierenden Interpretation.70 Einem Psychologen ist es vertraut, mit der Stoppuhr Reaktionszeiten von Patienten auf optische und akustische Reize kurzfristig zu messen und zu notieren. „Gibt es Reaktionszeitexperimente, bei denen die Vorbereitung des schließlich dargebotenen Reizes mehr als hundert Jahre zurückliegt? Gibt es Reaktionszeiten, deren Länge 66 Siehe Marianne Sommer: Die Höhle als Zeitkorridor. Das goldene Zeitalter der Geologie und die romantische Dichtung in England, in: Henning Schmidgen (Hg.), Lebendige Zeit. Wissenskulturen im Werden, Berlin 2005, S. 17–39. 67 James Griesemer /Grant Yamashita: Zeitmanagement bei Modellsystemen. Drei Beispiele aus der Evolutionsbiologie, in: Schmidgen (Hg.), Lebendige Zeit, S. 213–241, S. 220. 68 Richard E. Lenski/Michael Travisano: Dynamics of Adaptation and Diversification: A 10.000Generation Experiment with Bacterial Populations, in: Proceedings of the National Academy of Sciences USA, Bd. 9, 1994, S. 6808–6814, hier S. 6808f. 69 Siehe etwa Charles Darwins Entwurf eines Evolutionsdiagramms (ca. 1858), reproduziert in: Schmidgen (Hg.), Lebendige Zeit, Tafel I. 70 Eine Anspielung auf das Akronym des European Centre for the History of Physics („ECHOPhysics“) im österreichischen Schloss Pöllau (Steiermark); siehe www.eps.org. Die Ethnologie kennt den Begriff des teilnehmenden Beobachters oder gar des „charismatischen Sekretärs“ (Thomas G. Kirsch), der nur das aufzeichnen kann, woran er selbst Anteil hat, wovon er selbst besessen ist – ein Zustand in der spiritistischen Deutung von „Medium“.
Technophysikalische und symbolische Medienoperationen
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sich nicht an Zehntel- und Hundertstelsekunden, sondern an Wochen und Monaten bemisst?“71
Inwiefern unterscheidet sich die Aussageform des historischen Diskurses von der Artikulation kurzfristiger Zeiterfahrung? So verschiebt sich der vertraute makrotemporale Fokus der Historiographie auf die Analyse der Mikromechanismen von „Tradition“ als Transition, zeitbasiert und zeitbasierend. Kleinste Verschiebungen auf Signifikantenebene vermögen an Zeitverhältnissen zu rütteln. Mit Symbolmanipulation kommt das Prinzip der schwachen Kausalität ins Spiel. Dies ist die Operationsebene von Wissen. Inwiefern unterscheidet sich die Aussageform des historischen Diskurses von der Artikulation kurzfristiger Zeiterfahrung? Ein Ausdruck wie „vor 4000 Jahren“ gehört dem Schriftregime, der Historiographie an; ein Ausdruck wie „vor wenigen Minuten“ ist umgangssprachlich und bleibt unaufgeschrieben. Beide Sätze aber teilen die gleiche Weise ihrer schieren propositionalen Existenz; es liegen nicht etwa 4000 Jahre dazwischen. So gelesen ist auch die emphatische Zeitaussage flach geschrieben, und die suggerierte historische Zeitspanne eine Ausstülpung, eine Ellipse davon. Das Phänomen ist aus der relativitätsphysikalischen Raumzeitkrümmung vertraut, ebenso wie im Alltag, wo (auf den Punkt gebracht schon mit Heinrich Heines Bemerkung über die neue Eisenbahn, die den Raum durch Zeit „tötet“) Entfernung nicht mehr erfahren wird, sondern nur noch durchquert, bedingt durch ultrarapide Verkehrsmittel und elektronische Übertragungsmedien.72 „Wenn (...) unserer modernen Zeit die Beschleunigung (...) strukturell eingraviert ist, und dies eine fortwährende Gegenwartsschrumpfung bedeutet, (...) rückt auch die Vergangenheit immer näher an uns heran.“73
Historie beginnt erst mit der Überführung von Ereignismitschriften aus dem graphisch stetigen in den archivischen, mithin: symbolischen, diskret-alphabetischen Raum. Einmal symbolisch kodiert, können alphanumerische Texte auch komprimiert werden, wie es nachrichtentechnisch etwa MP3-Player mit ihren Audiodateien vollziehen; festgehalten wird nicht mehr das gesamte Signalereignis, sondern nur noch die jeweilige Änderung als diskrete Differenz (Delta-Kodierung). Damit schnellt die Evolution („historische Entwicklung“) auf Stufenfolgen zusammen, die im Falle binärer Informationsprozessierung nur noch zwei Zustände annimmt. Festgehalten („record“) und kodiert werden nur noch die Änderungen in der binären Signalamplitude und die Dauer des Zustands bis zur nächsten Änderung. Die symbolische Aufzeichnung (die alphabetbasierte Historiographie) und ihr organisiertes Gedächtnis (das Archiv als symbolische Aufzeichnung zweiter Ordnung) verhalten sich gegenüber dem stetigen Ereignis und der kontinuierlichen
71 Henning Schmidgen: Die Helmholtz-Kurven. Auf der Spur der verlorenen Zeit, Berlin 2009, S. 269. 72 Dazu Paul Virilio: Geschwindigkeit und Politik, Berlin 1980; ferner die Schriften des Zeitforschers Karlheinz Geißler. 73 P. M. Schuster: Text zum Faltblatt Echophysics (European Centre for the History of Physics), Pöllau (Österreich/Steiermark).
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(Bergsonschen/Braudelschen) durée immer schon wie das Sampling (und Quantisieren) gegenüber dem ursprünglichen Signal, vergleichbar der filmischen Montage einer äußeren Wirklichkeit, die schon auf elementarer Ebene (24 Kader/Sek.) ein Akt der Diskretisierung ist. Im elektromagnetischen Feld aber rückt an die Stelle des emphatischen Zeitbegriffs eine Multiplizität von temporalen Vektoren und Phasenverschiebungen im Unterschied zur getakteten chronologischen (Uhr-)Zeit.
TECHNOMORPHIE, MEDIALITÄT UND GESCHICHTLICHKEIT Die „Wirklichkeiten“ der HistorikerInnen – oder – ANT als neuer Zugang zur Historiographiegeschichte? Armin Heinen EINLEITUNG Was denn die „Wirklichkeit“ der „Historiker“ sei, beschäftigt die Geschichtstheorie seit dem 18. Jahrhundert. Die Frage wurde sogar bereits gestellt, als es noch keine professionelle Geschichtswissenschaft gab, so etwa von Johann Martin Chladenius1 oder von Immanuel Kant. Dabei gingen die aufgeklärten Theoretiker der Geschichte immer von der unhintergehbaren Realität der Wirklichkeit aus, von deren nicht zu bezweifelnden Existenz, denn jede andere Annahme hätte eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Geschichte zur puren Analyse fiktionaler Texte gemacht, zur reinen Literaturkritik also. Freilich wiesen bereits die Theoretiker der Aufklärung darauf hin, dass Aussagen über die „Wirklichkeit“ immer dem formenden Zugriff menschlicher Wahrnehmung und Darstellung unterliegen und insofern kein Widerspruch besteht zwischen der Annahme der einen Wirklichkeit und den vielen Erzählungen der Historiker darüber. Und auch Johann Gustav Droysen hat trotz oder gerade wegen seiner Verankerung im Historismus darauf hingewiesen, dass unterschiedliche Darstellungs- und Erzählkonzepte möglich und notwendig sind.2 Forschungshistorisch richtete sich der Blick später, genauer seit den 1960er Jahren, stärker auf die „gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“,3 ein Konzept, das insofern über Chladenius Ausgangsüberlegungen hinausging, als die sozialen Regeln der Wirklichkeitskonstruktion ausführlich beschrieben wurden. Wiederum anders näherte sich zeitgleich die Geschichtstheorie im engeren Sinne dem Sachverhalt, indem sie Geschichte als verwobenes Netz von Erinnerungen an Ereignisse definierte4 und gleichzeitig darüber nachdachte, wie aus den Geschichten
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Johann Martin Chladenius: Allgemeine Geschichtswissenschaft, Leipzig 1752. Rasch zugreifbar in: Johann Gustav Droysen, Grundriss der Historik, Leipzig 31882 (http://www.archive.org/details/grundrissderhist00droyuoft). S.u. Abschnitt 1. Lucian Hölscher: Neue Annalistik. Umrisse einer Theorie der Geschichte, Göttingen 2003.
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durch Kommunikation und Aufgreifen unterschiedlicher Perspektiven immer bessere Geschichten entstehen könnten.5 Der radikale Konstruktivismus der Poststrukturalisten entsprach jedenfalls nie dem Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft.6 Was unter diesen Umständen allerdings bis heute fehlt, ist ein Nachdenken darüber, wie Technik, wie Medien die „Wirklichkeit“ der Geschichtswissenschaft verändert haben. Noch richtet sich der Fokus auf die anthropogenen, kulturellen und sozialen Voraussetzungen der „Wirklichkeitskonstitution“, weniger auf die Medialität der Wirklichkeitsaneignung und -präsentation. Und während die AkteurNetzwerk-Theorie längst ihre Erklärungskraft zur Analyse der Technikwissenschaften bewiesen hat,7 ist sie meines Wissens bisher noch kaum auf die professionelle Geschichtsschreibung angewendet worden. Nun, schon der Begriff der „Wirklichkeit“ birgt Tücken in sich. In einem ersten Zugriff soll daher die „atomare“ Struktur der „Wirklichkeit“ beschrieben werden. Denn sie besteht, so die Überlegung, aus unterschiedlichen Teilen, die wiederum durch die Medialität der Wirklichkeitserfahrung und Wirklichkeitsbeschreibung zusammengehalten werden. Mit Hilfe einer zweiten Beobachtungsperspektive wird zu klären sein, dass Annahmen über die Wirklichkeit maßgeblich darüber entscheiden, wie über die Zeitdimension von Sachverhalten berichtet wird. Dabei werde ich nur grob zwischen der Zeitwahrnehmung der Vormoderne, den Deutungsmodi der Moderne und den gebrochenen Perzeptionen der Postmoderne unterscheiden. In einem dritten Zugriff untersuche ich die „wirklichkeitserzeugende“ Struktur der Geschichtswissenschaft und stelle die These auf, dass nicht die Erfassung der Wirklichkeit im Fokus der Wissenschaft liegt, sondern deren handlungsermöglichende Repräsentation. Erst im vierten Schritt geht es dann tatsächlich um Technik und Medien. Im Mittelpunkt stehen dabei Vermutungen darüber, wie sich durch neue technische Gegebenheiten die Geschichtslandschaft und damit die „Wirklichkeit“ der Geschichte verändert hat. In einem Exkurs wird zu klären sein, welche Arten von Geschichtsschreibung es gibt und warum nur die Adressierung der wissenschaftlichen Öffentlichkeit tatsächlich auch „Wirklichkeit“ im Sinne einer geschichtswissenschaftlichen „Gewissheit“ erzeugt. Punkt sechs handelt von den veränderten „Darstellungsformen“ im Zeitverlauf und damit von der unterschiedlichen Generierung nachvollziehbarer Aussagen über die Wirklichkeit. Sie sind gebunden, so die These, an unterschiedliche technische Ausgangsbedingungen. Erst an siebter Stelle wird schließlich – und dies auch nur knapp und eher andeutungsweise – herausgearbeitet, warum Bruno Latours Akteurs-Netzwerk-Theorie helfen kann, an
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Jörn Rüsen: Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1983, S. 119–132. So etwa entschieden: Richard J. Evans: Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis, Frankfurt/M. 1998. Eine erste Einsicht in die Akteur-Netzwerktheorie verdanken ich zwei Doktorandinnen, deren Dissertation ich mit betreuen durfte: Dana Mustata: The power of television. Including the historicizing of the Live Romanian Revolution, Dissertation Utrecht 2011; Catarina Caetano da Rosa: Riskante Allianzen. Der Innovationsprozess von zwei Operationsrobotern um die Jahrtausendwende, Dissertation Aachen 2012.
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der Idee der Wirklichkeit festzuhalten und zugleich deren unterschiedliche Aneignung mittels technischer Hilfsmittel und in Reflex auf differierende soziale und kulturelle Rahmenbedingungen zu thematisieren. Im letzten, achten Punkt wird ein Fazit gezogen und die Aufgabe der Geschichtsschreibung beschrieben. Welche Aussagen über die „Wirklichkeit der HistorikerInnen“ möglich sind, wie Technik die Geschichtswahrnehmung und Geschichtsschreibung verändert hat, habe ich mir zeichnend mit Hilfe einer Mindmapping-Software (ConceptDrawMindmap) und eines spezialisierten Graphikprogramms (Visio) verständlich gemacht. Zumindest die Wirklichkeit geschichtstheoretischen Arbeitens hat sich mir demnach durch den technischen Standard der Gegenwart aufgeprägt. An die Stelle der sprachstarken Darlegung formaler Logiken und kultureller Praxen tritt die abstrahierende softwareunterstützte Zeichnung als Versuch, komplexe Zusammenhänge verständlich zu machen und Thesen pointiert herauszuarbeiten. Diagramme zeigen dann auch zu Beginn jeden Abschnittes den Gedankengang auf, der nur vergleichsweise kurz erläutert wird. VON DER „ATOMAREN“ STRUKTUR DER „WIRKLICHKEIT“
Wahrscheinlich beginnt das Dilemma, das die „Wirklichkeit“ den HistorikerInnen bereitet, mit dem Begriff selbst. Denn die „Wirklichkeit“ wird durchgängig im Singular gedacht, als das Faktische, das außerhalb unserer selbst vorhanden ist und sich nicht ändert. Ähnlich hat man sich lange Zeit die kleinste Einheit der Materie vor-
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gestellt. Hier stand das „Atom“ für das unzertrennliche Minimum. Doch heute „wissen“ wir, dass das Atom wiederum aus vielen Teilelementen besteht und durch unterschiedliche Kräfte zusammengehalten wird (Elektronen, Atomkern (Protonen, Neutronen, diese werden wiederum als Zusammenballung von Quarks interpretiert), elektromagnetische Kraft, starke Wechselwirkung). Vielleicht lohnt es daher, den naturwissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt nachzuvollziehen und von der „atomaren Struktur“ der Wirklichkeit zu sprechen. Demnach gäbe es einen „Wirklichkeitskern“ (Wirklichkeit I), der wiederum in verschiedene Teilwirklichkeiten zerfiele (physische Welt, soziale Welt, religiöse Welt). Auf der Wirklichkeitsebene II wäre der menschliche Zugriff auf die Wirklichkeit zu denken, denn die menschliche Wirklichkeit der Realität setzt die Perzeption des „Faktischen“ voraus. Zusammengehalten würden die Wirklichkeitsebenen I und II durch mediale Operationen, die die Wahrnehmung der Wirklichkeit und die Aussagen über die Realität beeinflussen (Wirklichkeit III). Das also ist das – im Vergleich zur Atomphysik – sehr einfache Modell. Betrachten wir zunächst die Wirklichkeitsebene I ein wenig genauer. Bei der physischen Welt (1), so die Überlegung, lassen sich Messverfahren angeben, Handlungsanleitungen definieren, um die Existenz von Sachverhalten aufzudecken, auf die man sich kulturübergreifend einigen kann. So führt der Schlag eines Hammers auf den Zeigefinger bei fast allen Menschen zum schmerzlichen Aufschrei. Die Wirklichkeit des Hammers und des Schlagens wird demnach kaum in Frage gestellt werden, von der Antike bis in die Gegenwart, von Grönland bis nach Neuseeland. Ganz anders sieht es im sozialen Feld (2) aus. „Nation“, „Klasse“, „Modernisierung“ sind Sachverhalte, die durch menschliche Interaktion hergestellt werden und damit zeit- und kulturabhängig variieren. Mit Koselleck könnte man von strukturierenden „Grundbegriffen“ menschlicher Existenz sprechen, die Wirklichkeit herstellen und zugleich spiegeln. Dennoch lassen sich Kriterien angeben, die es auch einem Fremden ermöglichen, die Existenz von „Nationen“ und „Klassen“ zu beobachten. Das gilt für die religiöse Welt (3) nicht mehr. Und dennoch erscheint auch sie insofern real, als Menschen sich religiös verhalten. Dass die „Wirklichkeit“ dem Menschen nur vermittelt entgegentrete, abhängig von der Erkenntnisleistung der Subjekte, war eine der zentralen Aussagen der Aufklärungsphilosophie. In Hinblick auf die anthropogene Grundausstattung des Menschen argumentierte Kant, dass die Dinge nicht unvermittelt erkennbar seien, sondern nur entsprechend der Sinnesvermögen der Menschen und den apriorischen Anschauungsformen (Raum und Zeit) sowie Grundbegriffen seines Verstandes.8 Schon zuvor hatte Johann Martin Chladenius für die Geschichtsschreibung vom „Sehepunkt“ gesprochen und darauf verwiesen, dass der Blick auf die Geschichte abhinge vom sozialen Stand, der Position innerhalb der sozialen Hierarchie und der
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Eine knappe Einführung in die Erkenntnistheorie Kants bietet Hermann Noack: Die Philosophie Westeuropas, Darmstadt 41976, S. 9–12. Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht hat Johannes Fried die anthropogenen Aspekte von Erinnerung thematisiert in: Johannes Fried: Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik, München 2005.
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jeweiligen psychischen Verfassung des Geschichtsschreibers.9 „Allein bei der Erkenntnis der Begebenheiten und denen daraus fließenden Erzählungen“ so die Grundüberlegung von Chladenius, „ist es ebenso nötig auf den Zuschauer und dessen Beschaffenheit Achtung zu geben als auf die Sache selbst.“10 Rom bleibt Rom, so könnte man Chladenius Überlegungen vereinfacht zusammenfassen, unabhängig davon, auf welchem Hügel der Betrachter steht, aus welcher sozialen Konstellation heraus er Rom erforscht und mit welcher psychischen Einstellung er der Stadt begegnet. Freilich, was er da von Rom sieht und wie er darüber berichtet, das ändert sich, je nach „Sehepunkt“. Aus soziologischer Sicht interessieren weniger die anthropogenen oder psychischen Komponenten der Wirklichkeitswahrnehmung, -kategorisierung und -darstellung als die sozialen Mechanismen der Bestimmung von Wirklichkeit. Wie im Alltag Wirklichkeit konstruiert wird, haben Peter L. Berger und Thomas Luckmann in den 1960er Jahren analysiert und konnten dabei auf eine durchaus ältere Forschungstradition zurückgreifen.11 Niklas Luhmann hat die spezifischen Konstitutionsbedingungen „massenmedialer Realität“ beschrieben (Selektion, Anonymität des Adressatenkreises, Konzentration auf Brüche, Konflikte, etc.),12 während in einer dritten Forschungstradition der Wissenschaftsbetrieb selbst und die hier wirkenden sozialen Mechanismen eindringlich analysiert wurden, so etwa von Steven Shapin (Herstellung von Vertrauen als Grundlage wissenschaftlichen Arbeitens),13 Ludwik Fleck (Denkstile, Denkkollektive),14 und Thomas Kuhn (Paradigmen, Paradigmenwechsel).15 Für unseren Sachverhalt bleibt festzuhalten, dass „Wirklichkeit“ allein dadurch soziale Relevanz gewinnt, dass sie von Menschen wahrgenommen, interpretiert und kommuniziert wird. Das allerdings ist keine besonders aufregende Erkenntnis, keine neue Einsicht. Das atomare Modell der „Wirklichkeit“ führt allein dann weiter, wenn neben der Wirklichkeitsebene I und der Wirklichkeitsebene II auch die „dritte Schicht der Wirklichkeit“ in den Blick gerät, die Medien. Unter Medien sollen alle Hilfsmittel und Techniken verstanden werden, die helfen, „Wirklichkeit“ wahrzunehmen und Aussagen über sie zu speichern und weiterzugeben. Medien vermitteln zwischen den Wirklichkeitsebenen I und II, und da sie widerständig sind, ihre eigene Logik der „Wirklichkeitserzeugung“ aufprägen, ist ihnen eine gesonderte, formende Kraft zuzubilligen.
9 Chladenius, Allgemeine Geschichtswissenschaft, S. 91–101. 10 Ebd., S. 92. 11 Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt/M. 1967. 12 Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien, Opladen 32004. 13 Steven Shapin: A social history of truth. Civility and science in seventeenth-century England, Chicago 1994. 14 Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, Frankfurt/M. 1980. 15 Thomas Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/M. 1976.
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Bevor allerdings die Medien genauer in den Blick geraten, soll die Geschichtswissenschaft selbst beobachtet werden. Ich frage erstens: Wie hat sich die Vorstellung von der Wirklichkeit in der Geschichtswissenschaft im Verlaufe der Zeit geändert? Damit knüpfe ich an Überlegungen von Jörn Rüsen an, der wiederum auf Kuhn rekurriert. Darauf aufbauend soll zweitens gefragt werden: Welche Mechanismen sind dafür verantwortlich, dass Geschichtswissenschaft immer Kind ihrer Zeit ist und doch eine erhöhte Glaubwürdigkeit in der Aufdeckung der vergangenen Wirklichkeit beansprucht? WANDEL DER WIRKLICHKEITSVORSTELLUNGEN IM ZEITVERLAUF
Das obige Schema skizziert die temporalen Logiken der Geschichtsschreibung, von der frühen Neuzeit bis in die Gegenwart. „Geschichte“ im Singular, so hat es Reinhart Koselleck beschrieben, ist eine „Erfindung der Moderne“. Zuvor konnte Geschichte nur im Plural gedacht werden, als „Geschichten“ und Ereignisse, die sich in einer Welt der aufhaltsamen Veränderung und der Endzeiterwartung wiederholten und deren Erzählung der moralischen und praktischen Belehrung dienten. Dementsprechend gab es auch keinen Begriff für die Zukunft, nur für die „res futurae“, also die zukünftigen Ereignisse, die nicht vorhersehbar waren, Schicksal darstellten.16 Die Moderne veränderte die Zeitwahrnehmung. Jetzt wurde – in Reaktion auf die „Beschleunigung der Zeit“ – die Geschichte als Zusammenhang gedeutet, als
16 Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M. 1989.
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Resultat verbundener Strukturen, Ereignisketten und Willensentscheidungen. Entsprechend änderte sich die Zukunftsvorstellung.17 Und auch wenn die Geschichtswissenschaft – vor allem im Historismus – den freien Willen des Einzelnen heraushob und auf die Kontingenz des Geschehens hinwies, so galt sie doch durch ihre Orientierung auf die Vergangenheit zugleich als Zukunftswissenschaft. Dieses Urvertrauen in die Historie ging bereits vor der Urkatastrophe Europas, also vor 1914, verloren. Und dennoch brachte erst die Postmoderne die vollkommene Abkehr von der Zukunftsgewissheit der Historik. Gesellschaftsgeschichtlich lässt sich dieser Umbruch als Folge fundamentaler Veränderungen deuten, der weiteren Beschleunigung der Zeit, der Schwächung des Nationalstaates und der Ausbildung zahlreicher Lebensstilmilieus, so dass Geschichtsschreibung ihren Adressaten, die nationale, deliberative bürgerliche Öffentlichkeit, verloren hat. Wie aber kann, wenn die Geschichte im Singular verloren gegangen ist, die Wissenschaft von der Geschichte einen „besonders verlässlichen Zugriff“ auf die vergangene Wirklichkeit für sich reklamieren und dadurch Kritikfähigkeit und Gehör gegenüber der Öffentlichkeit einfordern? Den Sachverhalt machen die folgenden zwei Graphiken verständlich. DAS GEFÜGE DER WIRKLICHKEITSERZEUGUNG DURCH DIE GESCHICHTSWISSENSCHAFT
17 Vgl. hierzu in Anschluss an Koselleck Lucian Hölscher: Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt/M. 1999.
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Geschichtswissenschaft stellt Fragen, die sich aus der Gegenwart ergeben, benutzt die Methoden, die in der Gegenwart zur Verfügung stehen und verwendet die disziplinären Zugriffe (Philosophie, Philologien, Sozialwissenschaften, Kulturwissenschaften), die in der Gegenwart als deutungsstark gelten. Allein dies erklärt bereits, warum im Zeitverlauf immer andere Geschichten geschrieben werden, immer neue Erzählungen vorliegen. Gibt es demnach keinen Fortschritt in der Geschichtswissenschaft, keine besseren Erklärungen im Zeitverlauf? Die Antwort findet sich in der mittleren Hälfte der ersten Graphik. Ein Werk kann nur dann als genuin geschichtswissenschaftlich gelten, wenn es sich der Kritik der Gemeinschaft professioneller HistorikerInnen im weltweiten Maßstab stellt. Das Kennzeichnen geschichtswissenschaftlichen Arbeitens ist es, diese Kritik so leicht wie möglich zu machen, etwa: durch explizite Argumentation, durch Offenlegung des methodischen Zugriffs und durch das nachvollziehbare „Vetorecht der Quellen“ (Koselleck).18 Freilich bleibt Geschichtswissenschaft damit an die Gegenwart und den Wandel gebunden, was die Historiographiegeschichte mit Blick auf die jeweiligen Paradigmen,19 die Institutionen,20 die sozialen Netzwerke21 und politischen Generationen22 ja durchaus auch herausgearbeitet hat. Mehr noch: Als vergleichsweise „verfahrensarme“ Wissenschaft, als eine Wissenschaft, die ihren Gegenstand durch Fragen erst bestimmt, als eine suchende Tätigkeit, deren „Wirklichkeit“ nicht 18 Stefan Jordan: Vetorecht der Quellen, 11.2.2010, http://docupedia.de/zg/Vetorecht_ der_ Quellen (1.1.2012). 19 Friedrich Jäger/Jörn Rüsen: Geschichte des Historismus. Eine Einführung, München 1992. 20 Lutz Raphael: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart, München 22010. 21 Wolfgang Weber: Priester der Klio. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien zur Herkunft und Karriere deutscher Historiker und zur Geschichte der Geschichtswissenschaft, 1899–1970, Frankfurt/M. 1984. 22 Barbara Stambolis: Leben mit und in der Geschichte. Deutsche Historiker Jahrgang 1943, Essen 2010.
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„vorgegeben ist“, sondern diskursiv ermittelt wird („soziale Wirklichkeit“), unterliegt ihre „Realitätsannäherung“ zahlreichen sozialen Einflüssen, so dass, wie Wolfgang Weber es herausgearbeitet hat, alternative Forschungsrichtungen zumindest zeitweise ausgegrenzt werden können.23 Zur „wirklichkeitserzeugenden“ Struktur der Geschichtswissenschaft gehören aber nicht nur die sozialen Gegebenheiten einer Zeit und des wissenschaftlichen Subsystems, sondern auch die verfügbaren Medien, präferierten Erzählformen und – wie in Hinblick auf die Zeitvorstellungen bereits herausgearbeitet – die Theorien. Auf die Medien werde ich gleich zurückkommen. Für die Erzählformen liegen nur wenige Studien vor, dann aber höchst einflussreiche Arbeiten, so von Daniel Fulda24 und Hayden White.25 Allerdings fehlen vergleichbare Untersuchungen, die sich den zeitgenössischen Darstellungsformen zuwendeten.26 Doch auch so ist deutlich, dass nicht beliebig über Vergangenes berichtet werden kann, sondern die Wirklichkeit in „literarische“ Formen gekleidet wird, die wiederum mit Droysen „Doppelmaterial aus dem Erforschten“ repräsentieren und gerade nicht pure Literatur sind,27 sondern selbstkritisch „Aufklärung“ geben „über die Vergangenheiten durch Erschließung und Entfaltung dessen, was davon [...] noch in der Gegenwart vorhanden ist.“28 Betrachten wir an dieser Stelle den Aspekt der Theorie ein wenig näher. Manche Aufgeregtheiten geschichtswissenschaftlicher Kontroversen resultierten in der Vergangenheit aus der unklaren Bestimmung der Funktion von Theorien.29 Hier mag ein Blick auf die Physik helfen. Sie analysiert Licht als Strahl, nutzt das Wellenmodell und arbeitet quantenphysikalisch. Immer geht es um die gleiche „Wirklichkeit“. Welcher Ansatz verwendet wird, bestimmt allein die Problemstellung und die Fähigkeit der Theorie, den Sachverhalt einfach und angemessen zu beschreiben. Ähnlich sollte auch die Geschichtswissenschaft ihren Anspruch reduzieren. Es geht
23 Wolfgang Weber: Die deutschen Ordinarien für Geschichte und ihre Wissenschaft. Ein historisch-wissenschaftssoziologischer Beitrag zur Erforschung des Historismus, in: Wilhelm Heinz Schröder (Hg.), Lebenslauf und Gesellschaft. Zum Einsatz von kollektiven Biographien in der historischen Sozialforschung. Stuttgart 1985, S. 114–146. 24 Daniel Fulda: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760 – 1860, Berlin 1996. 25 Hayden White: Auch Klio dichtet - oder – Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Stuttgart 1986; Ders., Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt/M. 1994. 26 Ansatzweise Daniel Fulda: Formen des Erzählens in der Zeitgeschichte. Gegenläufige Trends und ihr Zusammenhang, in: Zeithistorische Forschungen 6 (2009), S. 435–440; Paul Nolte: Darstellungsweisen deutscher Geschichte. Erzählstrukturen und »master narratives« bei Nipperdey und Wehler, in: Christoph Conrad/Sebastian Conrad (Hg.), Die Nation schreiben. Geschichtswissenschaft im internationalen Vergleich, Göttingen 2002, S. 236–268. 27 Dies gegen Hayden White. 28 Droysen, Grundriss, §88, S. 38. 29 Dazu ausführlich am Beispiel der Geschichtswissenschaft Stefan Haas: Theoriemodelle der Zeitgeschichte, in: Frank Bösch (Hg.): Zeitgeschichte. Konzepte und Methoden. Göttingen 2012, S. 67–83.
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nicht um das Erfassen der Realität, sondern lediglich um deren „handlungsermöglichende“ Repräsentation. Nach so viel Vorlauf, der notwendig war, um die Vielzahl der Einflüsse herauszuarbeiten, die die Erzählung über die Wirklichkeit beeinflussen, wende ich mich den Medien und deren Einfluss auf die geschichtswissenschaftliche Produktion zu. GESCHICHTSWISSENSCHAFTLICHES ARBEITEN ALS PROVOZIERTER MEDIENBRUCH
Die obige Graphik ist gewiss überladen und doch thematisiert sie nur einzelne Aspekte des historischen Wandels. Das sollte genügen, um aufzuzeigen, wie Medien
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die Aussagen über Geschichte beeinflussen.30 Ich unterscheide zwischen vier Grundoperationen geschichtswissenschaftlichen Arbeitens: der Kenntnisnahme der Überlieferung, den Exzerptverfahren, der Herstellung der Ordnung des ausgewerteten Materials und den Darstellungsmodi. Dass das Medium gegenüber der „Wirklichkeit“ nicht neutral ist, ist Thema jeder Quellenkunde und jeder ausführlichen Einführung in die Historiographie.31 Insofern hat professionelle Geschichtswissenschaft bereits früh die medialen Grundlagen ihrer Wirklichkeitsannäherung reflektiert. Für die „Quellen“ sei deshalb nur auf drei Sachverhalte hingewiesen, die für die Gegenwart bedeutungsvoll sind. Da ist zum einen die Tendenz zur Entörtlichung der Quellen. Sie begann mit den Quelleneditionen, ging weiter über Mikrofilm und Fotokopie und ist heute eindringlich erfahrbar bei der Nutzung des Internets, etwa bei den Webangeboten des Bundesarchivs in Koblenz, das von überall her einen Zugriff auf Einzelbestände ermöglicht. Zweitens fällt die Pluralisierung der Quellen auf. Längst hat die Geschichtswissenschaft ihren ausschließlichen Fokus auf die Texte verlassen und dem Medienwandel folgend – Zahlen, Bilder, Musik, Filme, aber auch mündliche Berichte in ihr Repertoire aufgenommen. Auf eine dritte Tendenz sei ebenfalls verwiesen. Man kann geschichtswissenschaftliches Arbeiten als permanentes Umschreiben verstehen, als bewusst herbeigeführten Medienbruch. Mit den neuen Möglichkeiten des Scannens besteht allerdings die Gefahr, dass nur vermehrt Abbilder erzeugt werden, einfache Reproduktionen. An die Stelle der kritischen Edition träte dann das unkommentierte Nebeneinander unterschiedlicher Bilder. Das führt zum zweiten Tätigkeitsfeld des Historikers. Nach dem Lesen, Hören, Sehen, Auszählen der Quellen kommt das Festhalten des Wahrgenommenen. Hier macht sich der oben beschriebene Trend merklich erkennbar. Beruhte die Quellenauswertung bei Ranke auf der intellektuellen Leistung der Schreiber und der Mechanik des Federkiels, so etablierten sich bald Techniken, die eine immer raschere Erfassung der Vorlagen ermöglichten: der Füllhalter, die Schreibmaschine, die Fotokopie, der Computer, der Scanner. Damit gingen freilich ganze Techniken der
30 Siehe hierzu ausführlicher Armin Heinen: Mediaspektion der Historiographie. Zur Geschichte der Geschichtswissenschaft aus medien- und technikgeschichtlicher Perspektive, in: zeitenblicke 10, Nr. 1, [09.08.2011], URL: http://www.zeitenblicke.de/2011/1/Heinen/index.html, URN: urn:nbn:de:0009-9-30184. 31 Eine Durchsicht der einführenden Lehrbücher gibt darüber eindringlich Auskunft, beginnend mit Ernst Bernheim: Lehrbuch der Historischen Methode und der Geschichtsphilosophie. Mit Nachweis der wichtigsten Quellen und Hilfsmittel zum Studium der Geschichte, Leipzig 41903 und Charles Victor Langlois/Charles Seignobos: Introduction aux études historiques, Paris 1898 bis Martin Lengwiler: Praxisbuch Geschichte. Einführung in die historischen Methoden, Zürich 2011. Während kaum noch allgemeine Quellenkunden verfasst werden, da sie die Komplexität der Sachverhalte kaum mehr abzudecken vermögen, gibt es zahlreiche spezialisierte Heranführungen an einzelne Quellengattungen. Eine allgemeine Einführung haben zuletzt versucht: Bernd A. Rusinek/Volker Ackermann/Jörg Engelbrecht (Hg.), Einführung in die Interpretation historischer Quellen. Schwerpunkt Neuzeit, Paderborn 1992. Als Beispiele spezialisierter Quellenkunden seien genannt Marc Ferro: Cinéma et histoire, Paris 1993 oder Lynn Abrams: Oral history theory, London 2010.
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Auswertung von Quellen verloren, ohne dass notwendigerweise adäquate neue Verfahrensweisen den kulturellen Haushalt von Studierenden und Forschenden bereichert hätten. Bei Fotokopien ist das Unterstreichen ja nur ein schwaches Surrogat des zusammenfassenden Exzerpts. Weil nun immer mehr Platz für Aufzeichnungen und Bilder zur Verfügung stand und steht, wurde der Zwang zur frühen Entscheidung, was wichtig und behaltenswert ist, immer geringer, An die Stelle des begrenzten Folienheftes trat der beliebig erweiterbare Zettelkasten, und dieser wurde wiederum durch die Festplatte ersetzt, die nun alles bereitstellt, die Odt-Datei, das PDFFile, das JPG-Bild, die MP3-Aufzeichnung, den MOV-Film. Als „Entalphabetisierung“ könnte man den Sachverhalt charakterisieren oder als Wandel vom interpretierenden Schreiben zur Mechanik der „Abschrift“. Die Ordnung des Materials als die dem Exzerpieren folgende Tätigkeit des Historikers dient der Rekontextualisierung der Quellenfunde durch Entmaterialisierung, Herausnehmen aus dem ursprünglichen Kontext, Entlinearisierung und Einfügen des Notierten in eine neue, dem historischen Sachverhalt und der angestrebten Erzählform angemessene Struktur. Die entsprechenden Verfahrensweisen und Techniken lassen sich beschreiben als Herstellen und Auswerten von Chroniken, Tabellen, Anfertigen von Annotationen in Exzerptheften, Herstellen von Konkordanzen, Zettelkästen, Datenbanken. Jedes der Hilfsmittel hat seine Vor- und Nachteile, kommt dem Arbeitsstil des einen Wissenschaftlers mehr entgegen als der Herangehensweise des anderen. Allerdings sollte die Gefahr der Entmaterialisierung der Information durch deren elektronische Repräsentation nicht unterschätzt werden. Auch das Verfahren des Gliederns hat sich gewandelt.32 In der Aufklärung stützte sie die systematische Argumentation in genau aufeinander abgestimmten Paragraphen, im Historismus diente sie als schlagwortartiger Ideengeber für die folgende Erzählung. Heute arbeiten wir mit Gliederungssoftware oder Mind-Mapping-Programmen wie in diesem Essay und verstehen Gliedern als permanenten Erkenntnisprozess, der durch Wissensmanagementsysteme wie Citavi unterstützt wird. Auffällig ist, dass sich auch die Darstellungsweisen geändert haben. Zumindest teilweise lässt sich der Wandel auf Veränderungen im Mediensystem zurückführen. Auf die Rhetorik als Darlegungsform der Aufklärung folgte die Textästhetik des Historismus, die später wiederum von der stark gliedernden, mit zahlreichen Tabellen und Graphiken unterstützten Argumentationsweise der Gesellschaftsgeschichte abgelöst wurde. Heute lässt sich von einer umfassenden Medienästhetik sprechen, der sich jede geschichtswissenschaftliche Veröffentlichung stellen muss. An die Stelle linearer Texte sind zunehmend hypertextartige und hypermediale Publikationen getreten.33 Die „elegante Formulierung“ reicht nicht mehr aus. Die Veröffentlichungen der HistorikerInnen sind zunehmend „digitale Gesamtkunstwerke“. 32 Meines Wissens gibt es bis heute keine Untersuchung zur Geschichte der Gliederungsverfahren in der Historiographie. 33 Entsprechende Gliederungsprinzipien finden sich heute in zahlreichen Überblicksdarstellungen der Geschichtswissenschaft. Vgl. etwa die Reihe ‚Seminarbuch Geschichte‘ des SchöninghVerlages.
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ÜBER GESCHICHTSSCHREIBER, PRODUKTIONSBEDINGUNGEN UND ÖFFENTLICHKEITSSTRUKTUREN
Im Hintergrund dieser Entwicklung stehen neue, postmoderne Öffentlichkeitsstrukturen und Medienformate, die die obige und die darauf folgende Graphik widerspiegeln. Tatsächlich agieren Geschichtswissenschaftler in ganz unterschiedlichen öffentlichen Arenen, mit ihren je eigenen medialen Logiken. Im Feld der Fachöffentlichkeit dient die Veröffentlichung dem Gewinn wissenschaftlicher Reputation. Der Wechsel in die bürgerlich-räsonierende Öffentlichkeit zielt auf den Erwerb öffentlicher Machtstellung und die Durchsetzung von Deutungsmonopolen. Hier kommt es auf die Zuspitzung der eigenen Positionen und auf die polemische Zurückweisung alternativer Deutungsangebote an. Aktualitätsbezug, kommunikative Anschlussfähigkeit und Moralisierungsfähigkeit bestimmen über den Erfolg der Intervention34 Bei der Beratungstätigkeit für Unterhaltungsformate tritt der Geschichtswissenschaftler als „Autor“ schon deutlich zurück und hat nur noch dienende Funktion, während sein Mitwirken in der Wikipedia gar nicht mehr zu erkennen ist.
34 Klaus Große Kracht: Die zankende Zunft. Historische Kontroversen in Deutschland nach 1945, Göttingen 2005.
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HISTORIZITÄT DER ERZÄHLFORMEN UND DIE NARRATIVEN STRUKTUREN DER GEGENWART
Die vorliegende Graphik fasst vieles zusammen, was bereits erarbeitet wurde: Der Historiker als „empirisch arbeitender Philosoph“ während der Zeit der Aufklärung, dessen Darlegung der Sachverhalte mit Hilfe eines fein gegliederten, in Paragraphen unterteilten Textes; zeitlich folgend die Historiker des Historismus, die eher „narrative“ Texte“ erzeugten und auf Sprachästhetik setzten. Was in obiger Graphik neu hinzukommt, ist der Verweis auf mediale Aspekte, also das Wissen der Setzer, das Können der Drucker usw. Für die Gegenwart lassen sich mindestens drei verschiedene Textsorten unterscheiden: (1) die „großen Erzählungen“ der „Meister“, weitgehend vom Text selbst getragen, vergleichsweise schwach hypertextuell konzipiert, angelegt als chronologisch-systematische Erkundungen unter einem Leitgedanken. Ihre Monographien zielen auf die Orientierung in der Zeit, und für sie gelten jene Erzählprinzipien, die Jörn Rüsen als kennzeichnend herausgearbeitet hat: Das traditionale Erzählen, das exemplarische Erzählen, das kritische Erzählen und das genetische Erzählen. (2) Die Lehrbücher für Studierende sind dagegen sehr viel stärker hypertextuell angelegt, ja teilweise hypermedial ausgestaltet, mit Bildern, Glossaren, Marginalien usw. Für diese Textsorte gilt, was noch mehr für die Wikipedia und ähnliche Publikationsformen zutrifft, sie erfordern ein ganzheitliches Medienkonzept, das freilich in der Form von Software als inkorporiertes Medienwissen von Spezialisten vorgeprägt ist.
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Aber nicht nur die mediale Ausgestaltung hat sich geändert, sondern es ist damit auch eine neue Erzählform entstanden, die Jacob Krameritsch als „situatives Erzählen“ beschrieben hat.35 Identität wird hier nicht mehr als dauerhafte Zuschreibung verstanden, sondern als zeitweilige, revozierbare Selbstverortung. Die eigene Erfahrung wird - „postmodern“ - immer wieder in Frage gestellt und damit jede teleologische Geschichtsschreibung. Geschichte ist in der situativen Erzählung als rekonstruktive Erkundung angelegt, als Entdeckung variabler hypertextueller Verknüpfungen und Nebeneinander unterschiedlicher Narrative. Freilich, anders als Christian Gerlach vermutet, ist damit Erfahrung nicht suspendiert,36 sondern lediglich zugestanden, dass die vergangene und zukünftige Wirklichkeit gesellschaftlicher Systeme sich der eineindeutigen Interpretation widersetzt. DIE AKTEUR-NETZWERK-THEORIE ALS INTEGRALE PERSPEKTIVE AUF DIE HISTORIOGRAPHIEGESCHICHTE
Trotz des Versuchs, größere Klarheit durch Graphiken herzustellen, ist das Ergebnis unserer Erkundung der „Wirklichkeit der Geschichte“ höchst verwirrend. Zu viele Faktoren spielen offensichtlich bei der „Wirklichkeitsgenerierung“ des Histo-
35 Jakob Krameritsch: Die fünf Typen des historischen Erzählens – im Zeitalter digitaler Medien, in: Zeithistorische Forschungen 6 (2009), S. 413–432, http://www.zeithistorische-forschungen. de/ 16126041-Krameritsch-3-2009 (31.05.2010). 36 Christian Geulen: Plädoyer für eine Geschichte der Grundbegriffe des 20. Jahrhunderts, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 7 (2010), H. 1, URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Geulen-1-2010, 4 (3.1.2012).
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rikers hinein. Die psychische Ausstattung des Menschen präfiguriert die Wahrnehmung und begriffliche Erfassung, kulturelle Faktoren, soziale Beziehungsgefüge, Institutionen, mediale Logiken, Öffentlichkeitsstrukturen haben zur Folge, dass ganz unterschiedliche Aussagen über Vergangenes möglich sind. Zwar beschränken die auf Reflexion und Kritik abhebenden Regeln der Geschichtswissenschaft den Kern legitimer Aussagen, aber das ändert nichts daran, dass Geschichte immer wieder anders und neu geschrieben werden muss. Wie lässt sich nun aber die Vielzahl der Einflussfaktoren zusammenführen? Wie kann Historiographiegeschichte geschrieben werden, die der Komplexität von Individuum, Gesellschaft und technischem Wandel gerecht wird? Ein Weg könnte darin bestehen, die Akteur-Netzwerk-Theorie, die Bruno Latour und andere für die Natur- und Technikwissenschaften entwickelt haben, auf die Geschichtswissenschaft zu übertragen.37 Der Vorteil besteht darin, dass ANT eher eine Perspektive als eine abgeschlossene Theorie anbietet, dass sie höchst komplexe Sachverhalte erschließt und dass sie die „Eigenmächtigkeit“ von technischen Innovationen berücksichtigt, ohne in einem technischen Determinismus zu verfallen. Die Vorstellung eines Dualismus von „objektiver“ Natur und Gesellschaft ersetzt sie durch die Idee des strukturierenden Beziehungsgefüges, in das sich die Natur einschreibt und Technik den Menschen verändert. Wird der Begriff „Natur“ durch den Terminus der „Realität“ ersetzt, so ist die Relevanz des Ansatzes für die Fragestellung nach der „Wirklichkeit der Geschichte“ offensichtlich. „Technik“, „Natur“ oder, noch abstrakter, „Wirklichkeit“ bilden Elemente soziotechnischer Netzwerke, deren Eigenlogiken die Struktur der Netzwerke und deren Dynamik mitbestimmen. Permanent wird in den Netzwerken um Führung und Bedeutungszuweisung gerungen und werden hierzu durchaus verschiedene Mittel eingesetzt. Ist der Mitteleinsatz erfolgreich, konvergieren die Netzwerke; dann sind sie relativ stabil; oder sie divergieren, beispielsweise durch neue Akteure, dann wird der Anpassungsdruck erhöht oder es kommt zu Abspaltungen. Eine solchermaßen, die Akteur-Netzwerk-Perspektive aufgreifende Geschichte der Geschichtswissenschaft wäre in der Lage, unterschiedliche Ansätze der Geschichtsschreibung (Paradigmen, Institutionen, Ausdifferenzierung, Generationen, Medien) zu integrieren und Historiographiegeschichte als eine umfassende Medien- Gesellschafts-, Politik- und Kulturgeschichte zu entwerfen. Was für die Physik gilt, dass, wie Latour hervorhebt, Newton seine Theorien nicht alleine geschaffen hat, sondern dank der Hilfe der Royal Society, der Geometrie, der Astronomie, der Mechanik, der Arbeitsräume, der Labore, der Assistenten, dem Essen usw., das ist durchaus vergleichbar mit der Geschichtswissenschaft. Vieles bleibt sicherlich dem Blick des
37 Eine Einführung mit Texten der führenden Vertreter der ANT bietet Andréa Belliger (Hg.), Anthology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006. Siehe auch Christian Fuchs: Die Actor-Network-Theory, http://cartoon.iguw.tuwien.ac.at/christian/ technsoz/actornetwork.html (3.1.2012), und ausführlich Matthias Wieser: Das Netzwerk von Bruno Latour. Die Akteur-Netzwerk-Theorie zwischen Science&Technology Studies und poststrukturalistischer Soziologie, Bielefeld 2012.
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Historikers verschlossen, weil die zu Untersuchenden nur selten über ihr Tun berichtet haben und ein Einblick in das Labor der GeschichtswissenschaftlerInnen selbst für die Gegenwart schwierig ist.38 Und doch, in Briefen, überlieferten Exzerptheften und Zettelkästen, Vorworten, Einführungen in die Geschichtswissenschaften, in den umfangreichen Darlegungen späterer Biographen werden zahlreiche Aspekte deutlich, die Latour als Elemente einer Darstellung aus Akteur-Netzwerk-Perspektive kennzeichnet. UMSCHREIBUNGEN GESCHICHTSWISSENSCHAFTLICHER WIRKLICHKEITEN Wirklichkeit => Unterschiedliche Wirklichkeiten + Verfahren der Wirklichkeitsermittlung und -repräsentation Wirklichkeit = f( Wirklichkeitsebene I, Wirklichkeitsebene II, Wirklichkeitsebene III (Medien)) * f( Methoden und Theorien, Erzählmuster, Öffentlichkeitsstrukturen) Wirklichkeit = im Laufe der Wirklichkeitsgenerierung sich ändernde Netzwerke (relativ stabil (Wirklichkeitsebene I), sich wandelnd (Wirklichkeitsebene II, Wirklichkeitsebene III (Medien = Quellen, Aufschreibsysteme, Ordnungsmedien, Darstellungsmedien)) Helmut König: Historiographie beobachtet nicht nur die Vergangenheit, sondern auch sich selbst beim Beobachten jener Vergangenheit. Sie setzt sich der methodischen Kritik aus, um selbst Kritik am überlieferten Wissen leisten zu können. Die Funktion der Geschichtswissenschaft ist die Stärkung der Vergangenheit gegenüber den Zurichtungen des kommunikativen und kulturellen Gedächtnisses.
Die abschließende „Graphik“ besteht vornehmlich aus Text, wenigen Klammern und einigen Pfeilen. Damit versuche ich, in einer Art mathematischen Kurzschrift den Gedankengang zusammenzufassen. Demnach gibt es nicht „die“ Wirklichkeit, sondern ist Wirklichkeit als medial vermittelter Zusammenhang von „Realität“ und anthropogen und sozial gebrochener „Perzeption“ zu verstehen. Der Sachverhalt wird anschließend im zweiten Schema reformuliert. Wirklichkeit ist demnach das Resultat unterschiedlicher, sich permanent ändernder Netzwerke, die aus Elementen verschiedener Wirklichkeitsebenen zusammengesetzt sind. Für die Funktion und Realität geschichtswissenschaftlichen Arbeitens hat das nun mehrere Implikationen. 1. Historiographie beobachtet nicht nur die Vergangenheit, sondern auch sich selbst beim Beobachten jener Vergangenheit. Sie setzt sich der methodischen Kritik aus, um wiederum Kritik am überlieferten Wissen leisten zu können. Die Funktion der
38 Alexander Kraus und Birte Kotz versuchen, sich dem Problem über Interviews zu nähern, ohne freilich, wie ich meine, die geschichtswissenschaftliche Praxis damit wirklich erfassen zu können. Alexander Kraus/Birte Kohtz (Hg.): Geschichte als Passion. Über das Entdecken und Erzählen der Vergangenheit, Zehn Gespräche, Frankfurt/M. 2011.
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Geschichtswissenschaft ist die Stärkung der Vergangenheit gegenüber den Zurichtungen des kommunikativen und kulturellen Gedächtnisses. Dieser Aspekt ist von mir vor allem unter Punkt 3 herausgearbeitet worden.39 2. Geschichtswissenschaft agiert nicht im leeren Raum – das ist die dialektische Gegenposition zur ersten These. Wie sie Wirklichkeit „ermittelt“ und „herstellt“, ist Ergebnis konkreter Akteur-Netzwerkkonstellationen und damit sozial und historisch kontingent. Darüber habe ich in den Abschnitten zwei bis sechs nachgedacht. Dabei ist „Wirklichkeit“ als „Widerständigkeit“ und „Eigenmächtigkeit“ zu verstehen, keinesfalls als nicht existent. 3. Die Wirklichkeit der Historiker spiegelt auch die Wirklichkeit der von ihnen verwendeten Medien wider. Die von ihnen verfassten Schilderungen sind gegenüber Exzerptheft, Federkiel, Füllfederhalter, Zettelkasten, Schreibmaschine oder Computer nicht neutral. Nur, dieser Teil der Historiographiegeschichte ist bislang noch zu wenig in den Blick genommen worden. Mithilfe der Akteur-Netzwerk-Theorie könnte es gelingen, die Komplexität der Wirklichkeitskonstruktion durch die Historiker zu erfassen.
39 Die Formulierung greift Gedanken meines Aachener Kollegen Helmut König auf: Helmut König: Politik und Gedächtnis, Weilerswist 2008, S. 141.
Gesine Krüger / Aline Steinbrecher / Clemens Wischermann (Hg.)
Tiere und Geschichte Konturen einer Animate History
Gesine Krüger / Aline Steinbrecher / Clemens Wischermann (Hg.) Tiere und Geschichte 2014. 307 Seiten mit 26 Abbildungen. Kartoniert. & 978-3-515-10935-2 @ 978-3-515-10940-6
Die Wissenschaftslandschaft rings um die Human-AnimalStudies ist in den letzten Jahren in rasantem Tempo gewachsen. Auch in der Geschichtswissenschaft stehen die Tiere mehr denn je auf den Forschungsagenden, allerdings gibt es noch keine verbindende Konzeption. Einen Vorschlag dazu bietet dieser Band. Die Beiträge führen vor, welche neuen Positionen sich aus dem Zusammenführen von tierhistorischen Fragestellungen mit „klassischen“ Kategorien der Geschichtswissenschaft ergeben und worin die Anschlussfähigkeit einer Animate History an die Fragen der Geschichtswissenschaft liegt. Die Fallbeispiele reichen von der Vormoderne bis in die Gegenwart und zeigen, dass das Fehlen der Tiere in den Geschichtsbüchern nicht im mangelnden Quellenmaterial begründet liegt. Es lassen sich vielmehr in allen Archiven ausreichend Spuren und Fährten von Tieren finden, die Geschichte gemacht haben, auch wenn sie diese nicht schreiben. .............................................................................
Aus dem Inhalt m. hengerer: Tiere und Bilder. Probleme und Perspektiven für die historische Forschung aus dem Blickwinkel der Frühen Neuzeit | p. eitler: Tiere und Gefühle. Eine genealogische Perspektive auf das 19. und 20. Jahrhundert | c. sachse: Tiere und Geschlecht. Geschlecht als Kategorie in der Geschichte der Beziehungen von Menschen und anderen Tieren | c. wischermann: Tiere und Gesellschaft. Menschen und Tiere in sozialen Nahbeziehungen | g. krüger: Tiere und Imperium. Animate History postkolonial | s. zahlmann: Tiere und Medien | m. roscher: Tiere und Politik. Die neue Politikgeschichte der Tiere zwischen Zóon Alogon und Zóon Politikon | b. barth: Tiere und Rasse. Menschenzucht und Eugenik | a. steinbrecher: Tiere und Raum. Verortung von Hunden im städtischen Raum der Vormoderne | h. lang: Tiere und Wirtschaft. Nichtmenschliche Lebewesen im ökonomischen Transfer im Europa der Frühen Neuzeit | m. g. ash: Tiere und Wissenschaft. Versachlichung und Vermenschlichung im Widerstreit
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Miriam Gebhardt / Katja Patzel-Mattern / Stefan Zahlmann (Hg.) Das integrative Potential von Elitenkulturen 264 Seiten mit 3 Abbildungen. Gebunden. & 978-3-515-10070-0 @ 978-3-515-10537-8
Den Ausgangspunkt des Bandes bildet die Diskussion um die Aussöhnung der deutschen Öffentlichkeit mit dem Begriff der Elite: Angesichts einer durch die Herausforderungen nahezu permanenter Finanzkrisen zunehmend überfordert wirkenden politischen Elite, prominenter PlagiatorInnen und rücktrittscheuer Politiker stellt sich die Frage nach der Legitimation, sozialen Zusammensetzung, Rekrutierung und vor allem nach einer ethischen Rückbindung von Eliten gegenwärtig mit neuer Dringlichkeit. Die traditionellen bürgerlichen Anforderungen an ihre Leistungsund Verantwortungsbereitschaft halten dem Realitätsabgleich nur selten stand. Gefragt ist eine neue Art demokratisch legitimierter Elite, die responsiv, selbstreflektiert und wertorientiert auftreten soll. Dieser Band erweitert die schwerpunktmäßig von der Soziologie sowie der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vertretene Elitenforschung um kulturalistische und transnationale Perspektiven. In drei Kapiteln beleuchten die Autoren die Sozialisation und Rekrutierung, die Orientierung und Abgrenzung sowie die Internationalisierung von Eliten. .............................................................................
Aus dem Inhalt c. wischermann: Staatsdiener oder Spekulanten: Welche Eliten braucht eine Marktgesellschaft? | f. breuer: Die Ambivalenz von Stabilität und Innovation – am Beispiel von Familienunternehmern | k. patzel-mattern: Grundlegungen einer weltlichen, katholischen Elite im Denken Georg von Hertlings | m. lutz: Wirtschaftseliten und Sozialkapital im Sowjetgeschäft von Siemens | b. wegner: Militärische Eliten im Nationalsozialismus | a. müller: Die Regierung im letzten Jahr der DDR 1989/90 zwischen neuen und alten Eliten | a. kauders: Die jüdische Führungsschicht in der alten Bundesrepublik | m. gebhardt: „Selfmademan“ und „Busenwunder“ – soziale Rekonstruktion, Delegation und Bindung im Verhältnis zwischen Prominenz und Öffentlichkeit | u.a.
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Mit den Cultural Turns hat sich der Fokus der Geschichtswissenschaft nachhaltig verschoben. Nicht mehr die vermeintlichen Realitäten, sondern die kulturellen und symbolischen Interpretationskonstrukte standen im Zentrum des Interesses. Wirklichkeit wurde nicht mehr als tatsächlich vorhanden vorgestellt, sondern als kulturell geformtes und symbolisch repräsentiertes menschliches Konstrukt. Nicht mehr von einer Wirklichkeit, sondern von mehreren handeln nun die Wissenschaften, die mit Geschichte befasst sind. Seit den 1990er Jahren macht sich eine Scheidelinie in der Scientific Community bemerkbar, die sich entlang der Frage auftut, ob es jenseits der kulturellen Konstrukte eine wirkmächtige Wirklichkeit gibt, die auch ohne symbolische Repräsentanz geschichtsbildend wird oder nicht. Der Band präsentiert Beiträge, die vor diesem Hintergrund drei Fragekomplexen nachgehen: Wie kann eine Logik des Wirklichkeitsbegriffes im Plural funktionieren? Welche Rolle spielt die Lebenswelt der Geschichtswissenschaftbetreibenden für das Bild einer historischen Wirklichkeit? Welchen Einfluss haben Medien und ihre jeweils spezifische Weise, Wirklichkeit zu repräsentieren, in diesem Kontext?
ISBN 978-3-515-10962-8
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