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German Pages [220] Year 1995
MEDIEN IN GESCHICHTE UND GEGENWART Herausgegeben von Jürgen Wilke Band 3
Jürgen Wilke / Birgit Schenk Akiba A. Cohen / Tamar Zemach
Holocaust und NS-Prozesse Die Presseberichterstattung in Israel und Deutschland zwischen Aneignung und Abwehr
© 1995
BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit Unterstützung der Dr. Alexander und Rita Besser-Stiftung
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Holocaust und NS-Prozesse: Die Presseberichterstattung in Israel und Deutschland zwischen Aneignung und Abwehr / Jürgen Wilke... - Köln ; Weimar; Wien: Böhlau, 1995 (Medien in Geschichte und Gegenwart; Bd. 3) ISBN 3-412-11694-7 NE: Wilke, Jürgen; GT Umschlaggestaltung: Anja Holtiegel © 1995 Böhlau Verlag, Köln Alle Rechte vorbehalten Druck und Bindung: WS-Druckerei, Bodenheim Printed in Germany ISBN 3-412-11694-7
Inhalt
Vorbemerkung
7
1. Einleitung
9
2. Anlage der Untersuchung
19
3. Die untersuchten Prozesse und die Bedingungen ihrer journalistischen Berichterstattung
25
3.1 Nürnberger Prozeß
26
3.2. Eichmann-Prozeß
31
3.3. Auschwitz-Prozeß
34
3.4. Demjanjuk-Prozeß
37
4. Die untersuchten Zeitungen
41
5. Ergebnisse der Untersuchung
53
5.1. Umfang der Berichterstattung
53
5.2. Herkunft der Berichterstattung
58
5.3. Journalistische Darstellungsformen
62
5.4. „Aufmachung" der Berichterstattung
64
5.5. Verlauf und struktureller Schwerpunkt der Berichterstattung
74
5.6. Themen der Berichterstattung
81
5.7. Aussagen in der Berichterstattung
97
5.8. Begriffsgebrauch, emotionaler Gehalt und Gesamttendenz der Berichterstattung
121
6. Wahrnehmung der NS-Prozesse und Reaktionen auf die Berichterstattung
127
7. Zusammenfassung
135
Literaturverzeichnis
15 3
Anhang
171
Tabellen
171
Schaubilder
191
Kodebuch der Inhaltsanalyse
199
5
Vorbemerkung
Die mit diesem Buch vorgelegte Untersuchung ist ein deutsch-israelisches Gemeinschaftswerk. Die Anregung, die Darstellung des Holocaust und der NaziÄra anhand der Berichterstattung über NS-Prozesse zu untersuchen, ging von Israel aus. So naheliegend dieses Thema wegen der maßgeblichen Bedeutung des Holocaust für das heutige israelische Selbstverständnis erscheint, so war es bisher doch nicht zum Gegenstand einer eigenen Studie gemacht worden, zumal einer solchen, die es auf einen Ländervergleich anlegte. Neben Israel auch Deutschland in die Untersuchung einzubeziehen, mußte besonders naheliegen, da diese beiden Länder von der genannten Thematik am meisten betroffen sind. Für die notwendige materielle Unterstützung konnte die Bundeszentrale für politische Bildung gewonnen werden, die sich seit vielen Jahren für die Verständigung mit Israel einsetzt und die auch in der Weiterbildung von Journalisten aktiv tätig ist. Die Untersuchung erwies sich als aufwendig und besaß zahlreiche Schwierigkeiten, die sich ζ. T. erst mit fortschreitender Arbeit herausstellten. Schon der Umfang des in beiden Ländern heranzuziehenden Materials war beträchtlich. Zudem erforderte das Thema eine systematische Herangehensweise, wie sie nur mit einer breit angelegten Inhaltsanalyse zu erfüllen war. Spezifische Schwierigkeiten ergaben sich aus der Synchronisierung von Planung und Ablauf der Untersuchung in Mainz und Jerusalem. Zweimal konnten sich die Partner zwar für einige Tage zu gemeinsamer Arbeit treffen. Aber häufig mußten Absprachen zwischendurch getroffen werden, wobei sich die heute verfügbaren Wege elektronischer Übermittlung als sehr vorteilhaft, ja unentbehrlich erwiesen. Doch stellte die Verständigung nicht nur technische und sachliche Probleme. Sie hatte angesichts des schwierigen Themas auch ihre persönliche Seite. Die hier vorgelegte Darstellung der Untersuchung ist an der Universität Mainz (und das heißt: auf deutscher Seite) entstanden. Dementsprechend dürfte sie stärker aus der deutschen Perspektive geschrieben sein. Andererseits sind in Auswertung und Interpretation auch Anregungen der israelischen Partner eingegangen. Gleichwohl liegt die Hauptverantwortlichkeit für die vorliegende Fassung beim erstgenannten Verfasser.
7
Die Untersuchung wäre nicht möglich gewesen ohne die Beteiligung weiterer Mitarbeiter(innen). Insbesondere die Verschlüsselung der Zeitungen nach den Kategorien der Inhaltsanalyse war Sache studentischer Hilfskräfte. In Deutschland waren dies Monika Britz, Claudia Deeg, Antje Fritz, Christine Gräf, Angela Hennersdorf, Angela Majewski, Berit Paflik und Markus Schöberl. Für Israel sind zu nennen Einav Bar, Orlie Cohen, Amir Dan, Eran Etan, Naomi Fassa, Arie Feldmann, Aviva Frankel, Ari Geva, Anna Gingichashwilli, Liat Hamburger, Arlie Lipsky, Arye Manos, Josef Markowitz, Yifat Reuveni, Ganela Rubinstein, Inbar Sharav, Almog Sharav und Gal Shay. In Mainz war ferner an der Auswertung eine Zeit lang Ralph Bartel beteiligt. Allen Genannten sei hier für ihre Mitarbeit gedankt, auch jenen, die - wie Andreas Czaplicki in Mainz - darüber hinaus bereitwillig Rat und Unterstützung gewährten. Schließlich sei mit Nachdruck ein Dank an die Bundeszentrale für politische Bildung abgestattet, die nicht nur die Untersuchung selbst, sondern auch ihre Veröffentlichung hilfreich unterstützt hat. Es war auf der ersten, nach dem Golf Krieg im März 1991 veranstalteten Israel-Reise der Bundeszentrale, daß sich im Gespräch mit ihrem früheren Direktor Wolfgang Maurus die Unterstützung für eine Realisierung des Untersuchungsvorhabens abzeichnete. Dr. Dieter Golombek im Bonner Haus der BpB ließ sich dann ebenfalls für den Plan gewinnen. Durch einen Druckkostenzuschuß hat sich zum Schluß auch die Dr. Alexander und Rita Besser-Stiftung beteiligt, wofür ebenfalls gedankt sei. Was die Projektpartner einander zu verdanken haben, entzieht sich der Bemessung.
8
1.
Einleitung
Zu den leidvollsten und erschütterndsten Geschehnissen des 20. Jahrhunderts gehört wie kein anderes die Vernichtung der Juden durch das nationalsozialistische Deutschland. In einer für die Nachwelt schier unbegreiflichen Weise war in den dreißiger Jahren eine Maschinerie in Gang gesetzt worden, deren Ziel die Auslöschung eines ganzen Volkes war. Als der Zweite Weltkrieg, in dem diese Maschinerie ihre letzte Perfektion erhalten hatte, mit der Niederlage und dem Zusammenbruch Deutschlands endete, konnte erst nach und nach vollends offenbar werden, was hier tatsächlich geschehen war. Nicht, daß man davon zuvor nichts gewußt hätte,' was allerdings schon für sich genommen ein heftig diskutiertes Thema darstellte. Aber das ganze Ausmaß der Ungeheuerlichkeiten, die dabei begangen worden waren, wurde erst jetzt für alle erkennbar. Das Gewahrwerden dessen, was da vor sich gegangen war, stellt(e) die Überlebenden wie die nachfolgende(n) Generation(en) vor schwerwiegende Fragen und Aufgaben. Zunächst fehlte es schon an einer adäquaten Begrifflichkeit und Sprache dafür. Wie sollte man das furchtbare Geschehen benennen? International bürgerte sich für den an den Juden begangenen Völkermord nach einiger Zeit 2
der Begriff „Holocaust" ein. Ein anderer Begriff - „Shoah" - ist dagegen eher auf den jüdischen Raum beschränkt geblieben.
1 Vgl. Jörg Wollenberg (Hrsg.): "Niemand war dabei, und keiner hat's gewußt." Die deutsche Öffentlichkeit und die Judenverfolgung 1933-1945. München 1989 - David Bankier: The Germans and the Final Solution. Public Opinion under Nazism. Oxford, Cambridge (USA) 1992. 2 Nach Gerd K0rman bekam das englische Wort Holocaust erst zwischen 1957 und 1959 seine spezifische Bedeutung als Begriff für den Mord an den europäischen Juden. Vgl. Gerd Korman: The Holocaust in American Historical Writing. In: Societas 2 (1972) S. 250-270 - Allerdings sind die (theologischen) Ursprünge der Verwendung dieses Begriffs viel älter. Vgl. James E. Young: Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation. Frankfurt / M. 1992. S. 139ff.- Herbert Strauss hat eine Verwendung des Wortes Holocaust für den nationalsozialistischen Massenmord schon für 1944 belegt. Vgl. Herbert A. Strauss: Der Holocaust. Reflexionen über die Möglichkeiten einer wissenschaftlichen und menschlichen Annäherung. In: Herbert A. Strauss / Norbert Kampe (Hrsg.): Antisemitismus. Von der Judenfeindschaft zum Holocaust. Bonn 1985. S. 215-233. Hier S. 15 - Zum Begriffsgebrauch vgl. femer noch Alice and Roy Eckardt: Studying the Holocaust's Impact Today: Some Dilemmas of Language and Method. In: Judaism 27 (1978) S. 222-232 - Zev G a r b e r / Bruce Zuckerman: Why Do we Call the Holocaust "The Holocaust"? An Inquiry into the Psychology of Labels. In: Remembering for the Future. Working Papers and Addenda. Volume II: The Impact of the Holocaust on the Contemporary World. Oxford u. a. 1988. S. 1879-1882.
9
In der S a c h e
erforderte d i e
„Bewältigung" des
historischen
Geschehens
A n s t r e n g u n g e n in vielerlei Hinsicht. Z u m e i n e n bedurfte e s der s y s t e m a t i s c h e n A u f k l ä r u n g , w a s tatsächlich g e s c h e h e n ist. D i e s e A u f g a b e stellte s i c h vor a l l e m der ( g e s c h i c h t s - ) w i s s e n s c h a f t l i c h e n F o r s c h u n g . I n z w i s c h e n ist d i e hierzu vorlieg e n d e Forschungsliteratur, z u deren Standardwerken e t w a d i e A r b e i t e n v o n Raul 3
4
H i l b e r g und Y e h u d a B a u e r g e h ö r e n , sehr u m f a n g r e i c h und k a u m n o c h z u übers c h a u e n . D e r H o l o c a u s t ist s o g a r s c h o n z u m G e g e n s t a n d e i g e n e r E n z y k l o p ä d i e n g e w o r d e n . 5 D o c h nicht nur d i e u m g e n a u e Ermittlung der Fakten b e m ü h t e histor i s c h e F o r s c h u n g , s o n d e r n auch Literatur und Kunst als F o r m e n der V e r a r b e i tung i n d i v i d u e l l e r w i e k o l l e k t i v e r Erfahrungen n a h m e n s i c h d e s T h e m a s der V e r f o l g u n g und E r m o r d u n g der Juden an. In z a h l r e i c h e n G e d i c h t e n , Theaters t ü c k e n und R o m a n e n ist der H o l o c a u s t i n z w i s c h e n behandelt w o r d e n . 6 D a s g l e i c h e gilt sogar für d i e Kinder- und Jugendliteratur. 7 Z a h l r e i c h e M a l e r u n d B i l d h a u e r h a b e n e b e n f a l l s dadurch inspirierte W e r k e g e s c h a f f e n . 8 G e r a d e d i e Errichtung v o n M a h n m a l e n verlangte v o n i h n e n adäquate k ü n s t l e r i s c h e L ö s u n 9 g e n . Ferner bildete der H o l o c a u s t das Sujet e i n e r g a n z e n R e i h e v o n F i l m e n , sei e s in d o k u m e n t a r i s c h e r G e s t a l t u n g , sei e s in „ f i k t i v e n " G e s c h i c h t e n . ' " D a s j ü n g 3
Vgl. Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden. Berlin 1982. Taschenbuchausgabe (3 Bde.) Frankfurt / M. 1990.- Ders.: Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 19331945. Frankfurt/M. 1992. 4 Vgl. Yehuda Bauer: They chose Life. Jewish Resistance in the Holocaust. New York 1973.Ders.: The Holocaust in Historical Perspective. Seattle 1978.- Ders.: A History of the Holocaust. New York 1982. (With the Assistance of Nili Keren).- Ders. / Nathan Rotenstreich (Hrsg.): The Holocaust as Historical Experience: Essays and a Discussion. New York 1981. 5 Vgl. Israel Gutman (Hrsg.): Encyclopedia of the Holocaust. 4 Bde. New York, London 1990 Eberhard Jäckel / Peter Longerich / Julius H. Schoeps (Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. 3 Bde. Berlin 1993. 6 Vgl. die Nachweise bei James E. Young: Beschreiben des Holocaust a. a. O.- Als Textsammlung vgl. Dieter Lamping (Hrsg.): Dein aschenes Haar Sulamith. Dichtung über den Holocaust. München 1992. 7 Vgl. Antisemitismus und Holocaust. Ihre Darstellung und Verarbeitung in der deutschen Kinder· und Jugendliteratur. Mit Beiträgen von Werner Anders u. a. Oldenburg 1988. 8 Vgl. Ziva Amishai-Maisels: Depiction and Interpretation. The Influence of the Holocaust on the Visual Arts. Oxford u. a 1993. 9 Vgl. James E. Young (Hrsg.): Mahnmale des Holocaust. Motive, Rituale und Stätten des Gedenkens. München 1994. 10 Vgl. Annette Insdorf: Indelible Shadows. Film and the Holocaust. New York 1983.- Ilan Avisar: Screening the Holocaust. Cinema's Images of the Unimaginable. Bloomington, Indianapolis 1987.- Judith E. Doneson: The Holocaust in American Film. Philadelphia, New York, Jerusalem 1987.- Mick Broderick: Nuclear Movies. A Critical Analysis and Filmography of International Feature Length Films Dealing with Experimentation. Aliens, Terrorism, Holocaust and other Disaster Scenarios, 1914-1989. Jefferson, London 1991.- Michael Marek: Verfremdung zur Kenntlichkeit. Das Erinnern des Holocausts - Gestaltungsprinzipien in den Fil-
10
ste B e i s p i e l dafür war 1 9 9 4 S t e v e n S p i e l b e r g s großer K i n o e r f o l g
„Schindlers
Liste". D a ß d a s S c h i c k s a l der Juden in d e n V e r n i c h t u n g s l a g e r n selbst in F o r m e n der Trivialkultur E i n g a n g fand, dafür steht Art S p i e g e l m a n s b e k a n n t g e w o r d e n e r C o m i c s t r i p „Maus".' B o t der H o l o c a u s t auf der e i n e n S e i t e A n l a ß zur w i s s e n s c h a f t l i c h - s y s t e m a t i s c h e n und k ü n s t l e r i s c h e n „Aufarbeitung", s o m u ß t e er andererseits A n l a ß für praktische K o n s e q u e n z e n sein. D a z u gehörte vor a l l e m das B e m ü h e n , der an der V e r n i c h t u n g der Juden B e t e i l i g t e n habhaft zu w e r d e n und sie juristisch - in 12
Strafverfahren - zur V e r a n t w o r t u n g zu z i e h e n .
D i e s stellte z w a r nur e i n e ,
w e n n g l e i c h e i n e b e s o n d e r s w i c h t i g e , aber k e i n e s w e g s d i e e i n z i g e F o r m dar, in der aus d e m historischen G e s c h e h e n praktische F o l g e r u n g e n g e z o g e n w u r d e n . S i c h e r k o n n t e d a m i t nichts mehr r ü c k g ä n g i g g e m a c h t , aber d o c h der für R e c h t s staaten v e r p f l i c h t e n d e A n s p r u c h auf R e c h t s p r e c h u n g e r h o b e n und erfüllt w e r d e n . U n w e i g e r l i c h b e s a ß d i e U m s e t z u n g d i e s e s A n s p r u c h s w i e d e r u m ihre e i g e nen, z.T. nur s c h w e r lösbaren S c h w i e r i g k e i t e n .
men "Der Prozeß" von Eberhard Fechner und "Shoah" von Claude Lanzmann. In: Rundfunk und Fernsehen 36 (1988) S. 25-44 - Hans-Jürgen Müller: SHOAH - Ein Film. Erinnerongsarbeit in der Erwachsenenbildung mit dem Mittel der Kunst. Oldenburg 1991. 11 Vgl. Art Spiegelman: Maus. Die Geschichte eines Überlebenden. Bd. I. Hamburg 1989. Bd. II Hamburg 1992. 12 Vgl. Möglichkeiten und Grenzen für die Bewältigung historischer und politischer Schuld in Strafprozessen. Würzburg 1962 (= Studien und Berichte der Katholischen Akademie in Bayern H. 19). - Peter Steinbach: Nationalsozialistische Gewaltverbrechen. Die Diskussion in der deutschen Öffentlichkeit nach 1945. Berlin 1981.- Bernd Hey: Die NS-Prozesse - Versuch einer juristischen Vergangenheitsbewältigung. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 32 (1981) S. 331-362.- Rudolf Wassermann: Wo Buße not tat, wurde nach Entlastung gesucht. Zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit durch die Justiz. In: Recht und Politik 19 (1983) S. 5-11Ders.: Justiz und politische Kultur. Verfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen als Herausforderung für die Rechtsprechung und Bewußtsein der Öffentlichkeit. In: Bernd Hey / Peter Steinbach (Hrsg.): Zeitgeschichte und politisches Bewußtsein. Köln 1986. S. 209-232Jürgen Weber / Peter Steinbach (Hrsg.): Vergangenheitsbewältigung durch Strafverfahren? NSProzesse in der Bundesrepublik Deutschland. München 1984.- Günther Jakobs: Vergangenheitsbewältigung durch Strafrecht? Zur Leistungsfähigkeit des Strafrechts nach einem politischen Umbruch. In: Ulrich Battis / Günther Jakobs / Eckhard Jesse: Vergangenheitsbewältigung durch Recht. Drei Abhandlungen zu einem deutschen Problem hrsg. von Josef Isensee. Berlin 1992. S. 37-64.- Helge Grabitz / Klaus Bästlein / Johannes Tuchel (Hrsg.): Die Normalität des Verbrechens. Bilanz und Perspektiven der Forschung zu den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen. Festschrift für Wolfgang Scheffler zum 65. Geburtstag. Berlin 1994. S. 299ff.
11
Diese Schwierigkeiten waren insonderheit juristischer Art. 13 Schon daß man von „Kriegsverbrecherprozessen" sprach, war umstritten und zeugte von der unterschiedlichen Einschätzung der Rechtsgrundlagen solcher Strafverfahren. Andere Probleme - z.B. der Zeugenschaft und der Beweisführung - kamen hinzu. Schließlich stellten diese Prozesse auch ein Politikum ersten Ranges dar. In ihrem Kontext spielte sich ein wesentlicher Teil der „Vergangenheitsbewältigung" in den betroffenen Ländern ab. Diese wurden damit zu einem Gegenstand 14
öffentlicher Auseinandersetzung.
Von Bedeutung für die öffentliche Wirkung
dieser Prozesse war vor allem die journalistische Berichterstattung darüber. Erst sie stellte jene allgemeine Zugänglichkeit her und machte solchermaßen bekannt, was sich - allerdings nur vor einem zahlenmäßig begrenzten Publikum - im Gerichtssaal abspielte. In der vorliegenden Studie soll die journalistische Berichterstattung über solche NS-Prozesse im folgenden systematisch untersucht werden. Dies geschieht vor allem mit dem Ziel festzustellen, welche Kenntnis über die Judenverfolgung darin vermittelt und welches Bild des Holocaust dabei entworfen wurde. Dazu wird sowohl die Berichterstattung in der Bundesrepublik Deutschland als auch die in Israel untersucht. Beide Länder waren von den NS-Verbrecher-Prozessen und der in ihnen abgehandelten Thematik in erster Linie tangiert; das öffentliche Bewußtsein mußte durch sie hier wie dort zur Auseinandersetzung mit dem grauenhaften Geschehen aufgerufen, ja gezwungen sein. Indem wir herausfinden wollen, welche Unterschiede oder Gemeinsamkeiten es in der deutschen und israelischen Berichterstattung über solche Prozesse gab, suchen wir dazu beizutragen, die jeweilige soziale Bedeutung des Holocaust für Geschichte und Gesellschaft beider Länder in der Nachkriegszeit zu ergründen. Historisch zurückliegende Vorgänge sind in der Regel zwar keine Themen der aktuellen journalistischen Berichterstattung. Doch können sie bei gegebenen Anlässen rethematisiert werden. Als solche manifesten Anlässe zur Rethematisierung des Holocaust und der nationalsozialistischen Vergangenheit kann man 13 Vgl. Helge Grabitz: NS-Prozesse heute. In: Zeitschrift für Rechtspolitik 15 (1982) S. 14-16 Dies.: Die Verfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen aus der Sicht der damit befaßten Staatsanwältin. In: Jürgen Weber / Peter Steinbach (Hrsg.) a. a. O. S. 84-99.- Dies.: Problems of Nazi Trials in the Federal Republic of Germany. In: Holocaust and Genocide Studies 3 (1988) S. 209-222.- Dies.: Die Verfolgung von NS-Verbrechen in der Bundesrepublik Deutschland, der DDR und Österreich. In: Rolf Steininger (Hrsg.): Der Umgang mit dem Holocaust. Europa - USA - Israel. Wien, Köln, Weimar 1994. S. 198-220. 14 Vgl. Peter Steinbach: Nationalsozialistische Gewaltverbrechen a. a. O.
12
die Prozesse wegen NS-Gewaltverbrechen ansehen. Indem die Massenmedien über sie berichteten, erfüllten sie die Funktion des „agenda-setting", wodurch eine (latent) stets vorhandene, zeitweise gleichsam „schlummernde" Thematik (erneut) auf die Tagesordnung der Gesellschaft in Deutschland und Israel gesetzt wurde. Von „agenda-setting" spricht die Kommunikationswissenschaft, wenn die Massenmedien
durch
intensive Berichterstattung
bestimmten
Themen
5
(vorrangige) öffentliche Aufmerksamkeit verleihen.' Einer klassischen Formulierung Bernard C. Cohens, einer der „Väter" dieses Konzepts zufolge, sagen die Massenmedien den Menschen nicht, was sie denken sollen („what to think"), sondern worüber sie sich Gedanken zu machen haben („what to think about").' 6 Daß Gerichtsverfahren und nicht bloß Gedenktage dafür Anlässe bilden, verspricht eine längere Zeit anhaltende Rethematisierung, mag diese auch dem gesamten Verlauf solcher Verfahren nicht gleichmäßig folgen. Massenmedien dürften im vorliegenden Fall aber nicht nur als „agenda-setter" wirken, sondern sie können die zurückliegenden Ereignisse auch „rahmen". Unter „Framing" werden vergleichsweise dauerhafte Muster der Verarbeitung, Auswahl, Darstellung und Interpretation von Ereignissen in der Medienberichterstattung verstanden. Es geht sozusagen um den „Blickwinkel", unter dem Vorgänge wahrgenommen, präsentiert und rezipiert werden.' 7 Einer Anregung von Shanto Iyengar folgend, ist zwischen „episodischem" und „thematischem Framing" zu unterscheiden. Im ersten Fall handelt es sich um konkrete Ereignisse, die Themen illustrieren, im zweiten Fall um eine kollektive, auf Hinter18
grundmaterial beruhende Evidenz.
Zum „Framing" tragen schon Begrifflich-
keit und Sprachgebrauch, vor allem jedoch die Schwerpunkte der Berichterstattung bei. Aber auch kollektive Gefühle können darin ihren Niederschlag finden.
15 Vgl. u. a. Everett Μ. Rogers / James W. Dearing: Agenda-Setting Research: Where has it been, Where is it going? In: Communication Yearbook 11 (1988) S. 555-594.- David Protess / Malcolm McCombs (Hrsg.): Agenda Setting. Readings on Media, Public Opinion, and Policymaking. Hillsdale (NJ.) 1991.- Hans-Bernd Brosius: Agenda-Setting nach einem Vierteljahrhundert Forschung: Methodischer und theoretischer Stillstand? In: Publizistik 39 (1994) S. 269-288. 16 Vgl. Bernard C. Cohen: The Press and Foreign Policy. Princeton (NJ.) 1963. S. 13. 17 Vgl. Todd Gitlin: The Whole World is Watching. Mass Media in the Making and Unmaking of the New Left. Berkeley 1980 - Zhongdang Pan / Gerald M. Kosicki: Framing Analysis: An Approach of News Discourse. In: Political Communication 10 (1993) S. 55-75. 18 Vgl. Shanto Iyengar: Is Anyone Responsible? How Television Frames Political Issues. Chicago, London 1991. S. 1 Iff.
13
Ferner kann die Berichterstattung durch Massenmedien - über Thematisierung und „Rahmung" hinaus - auch Ausdruck von Instrumentalisierung sein. Dabei ist die Instrumentalisierung möglicherweise schon durch Inszenierung den Ereignis19
sen inhärent, oder sie wird durch die journalistische Darstellung intendiert. Bezüglich unseres Themas fragt sich, inwieweit die NS-Prozesse bzw. die Berichterstattung über sie Teil einer Instrumentalisierung waren. Wurden aus der Vergangenheit explizit Konsequenzen und Lehren gezogen und welche waren dies gegebenenfalls? Durch Thema und Anlage ist die vorliegende Studie gewissermaßen auf einer Meta-Ebene angesiedelt: Nicht der Holocaust selbst, sondern seine Darstellung in der Presse ist der Gegenstand der Analyse. Auf der gleichen Ebene bewegen sich andere Studien, die sich mit der „Verarbeitung" und „Rezeption" des Völkermordes an den Juden beschäftigen. Mehrere Untersuchungen haben sich etwa der Frage gewidmet, wie Erlebnisse aus dem Holocaust literarisch verarbeitet worden sind. Darunter ist insbesondere die Studie von James E. Young hervorzuheben, der scharfsinnig herausgearbeitet hat, wie die Wahrnehmung des Holocaust entscheidend durch die jeweiligen Formen der Darstellung geprägt wird 2() und in welche Paradoxien man dabei gerät. Eine ganze Reihe von Untersuchungen liegen ferner zur Darstellung des 21
Holocaust im Film vor.
Auch in ihnen geht es einerseits darum, wie dieses
Ereignis mit filmischen Mitteln rekonstruiert und gestaltet werden kann. Auf der anderen Seite hat man sich für die Wirkungen solcher Filme auf das Publikum interessiert. In diesem Zusammenhang war die in den Vereinigten Staaten produzierte Fernsehserie „Holocaust" von besonderer Bedeutung. Sie ist im Jahre 1979 auch im deutschen Fernsehen gezeigt (und inzwischen wiederholt) worden. Damit einher ging auch hierzulande eine breite, ζ. T. erregte Diskussion. Nicht nur die Machart der Serie, die viele an eine amerikanische „Soap Opera" erin19 Vgl. Hans Mathias Kepplinger: Theorien der Nachrichtenauswahl als Theorien der Realität. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament Β15/89 S. 3-16.Ders. / Hans-Bernd Brosius / Joachim Friedrich Staab: Instrumental Actualization: Fundamentals of a Theory of Mediated Conflicts. In: European Journal of Communication 6(1991) S. 263-290. 20 Vgl. Sidra DeKoven Ezrahi: By Words alone. Chicago, London 1980 - Susan E. CernyakSpatz: German Holocaust Literature. New York, Frankfurt / M. 1985.- Berel Lang (Hrsg.): Writing and the Holocaust. New York, London 1988 - Birgit Kröhle: Geschichte und Geschichten. Die literarische Verarbeitung von Auschwitz-Erlebnissen. Bad Honnef 1989 - James E. Young: Beschreiben des Holocaust a. a. O. 21 Vgl. Anm. 10.
14
nerte, wurde diskutiert (und kritisiert). Auch die Reaktionen der deutschen Fernsehzuschauer und die (möglichen) Wirkungen auf sie waren Gegenstand öffent~>2
licher Debatten und systematischer Untersuchungen.
Insgesamt blieb der Ein-
druck wohl zwiespältig. Der erkennbaren Erschütterung, welche die Serie bei vielen Zuschauern auslöste, standen Bedenken u.a. wegen einer befürchteten Trivialisierung des grauenhaften Geschehens gegenüber. Mehrere Untersuchungen haben sich ferner mit der Darstellung des Holocaust 23 in Schulbüchern befaßt.
Damit interessierte man sich berechtigterweise für ein
„Medium", dem in doppelter Hinsicht Bedeutung zukommt: Zum einen, weil sich darin die unter sozialer Kontrolle stehende Bildung historischer Tradition niederschlägt, da diese Bücher in der Regel einer amtlichen Zulassung bedürfen,
22 Peter Märthesheimer / Ivo Frenzel: Im Kreuzfeuer: Der Fernsehfilm "Holocaust". Eine Nation ist betroffen. Frankfurt / M. 1979 - Wolfgang Scheffler: Anmerkungen zum Fernsehfilm "Holocaust" und zu Fragen zeithistorischer Forschung. In: Geschichte und Gesellschaft 5 (1979) S. 570-579 - Tilman Emst: "Holocaust" und politische Bildung. In: Media Perspektiven H. 4/1979 S. 230-240.- Uwe Magnus: Die Reaktionen auf "Holocaust". Ergebnisse der Begleitstudien des WDR und der Bundeszentrale für politische Bildung. In: Media Perspektiven H. 4/1979 S. 226-230 - Josef Hackforth: Trivialisierte und privatisierte Endlösung: "Holocaust" - ein Diskussionsbeitrag zur Vermittlung historischer Ereignisse im Fernsehen. In. Studienkreis Rundfunk und Geschichte - Mitteilungen 5 (1979) S. 12-20 - Ders.: Nationalsozialismus und Fernsehen. "Holocaust", die Funktionen der Massenmedien und Erkenntnisse der publizistischen Wirkungsforschung. In: Anneliese Mannzmann (Hrsg.): Historie heute 1. Hitlerwelle und historische Fakten. Königstein / Ts. 1979. S. 95-104 - Dieter Weichert: "Holocaust" in der Bundesrepublik: Design, Methode und zentrale Ergebnisse der Begleituntersuchung. In: Rundfunk und Fernsehen 28 (1980) S. 488-508 - Tilman Ernst: "Holocaust" in der Bundesrepublik: Impulse, Reaktionen und Konsequenzen der Femsehserie aus der Sicht der politischen Bildung. In: Rundfunk und Fernsehen 28 (1980) S. 509-533 - Uwe Magnus: "Holocaust" in der Bundesrepublik: Zentrale Ergebnisse der Begleituntersuchungen aus der Sicht der Rundfunkanstalten. In: Rundfunk und Fernsehen 28 (1980) S. 534-542.-Tilman Emst: "Holocaust". Impulse-Reaktionen-Konsequenzen. Das Fernsehereignis aus der Sicht politischer Bildung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament Β 34 / 1981 S. 3-22 - Yizhak Ähren / Christoph Melchers / Werner Seifert / Werner Wagner: Das Lehrstück "Holocaust". Zur Wirkungspsychologie eines Medienereignisses. Opladen 1982 Joachim Siedler: "Holocaust". Die Femsehserie in der deutschen Presse. Eine Inhalts- und Verlaufsanalyse am Beispiel ausgewählter Printmedien. Münster 1984 - Vgl. für Israel auch Hannah Levinsohn: The Television Series 'Holocaust' in Israel. In: International Journal of Political Education 4 (1981) S. 151-166. 23 Gerd Korman: Silence in American Textbooks. In: Yad Vashem Studies of the European Jewish Catastrophe and Resistance VIII (1970) S. 183-202.- Martin and Eva Kolinsky: The Treatment of the Holocaust in West German Textbooks. In: Yad Vashem Studies of the European Jewish Catastrophe and Resistance X (1974) S. 149-216 - Randolph L. Braham (Hrsg.): The Treatment of the Holocaust in Textbooks. The Federal Republic of Germany, Israel, The United States of America. New York 1987 - Falk Pingel: Nationalsozialismus und Holocaust in westdeutschen Schulbüchern. In: Rolf Steininger (Hrsg.): Umgang mit dem Holocaust. Europa USA - Israel. Wien, Köln, Weimar 1994. S. 221-232.
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zum anderen weil durch sie die Vermittlung solcher Tradition gerade an die nachwachsenden Generationen bestimmt wird. Schulbuch-Untersuchungen weisen häufig Defizite in der Darstellung bestimmter Themen nach. So auch im vorliegenden Fall. Bezüglich deutscher Schulbücher ist etwa kritisiert worden, daß sie, wenngleich faktisch nicht falsch, beispielsweise zu wenig die Ursachen des Holocaust darstellten und das Geschehen zu wenig auf die Beteiligung von 24
Personen auch außerhalb des politischen Machtzirkels zurückgeführt werde. Einen weiteren Anlaß zur Beschäftigung mit der Darstellung des Holocaust bildete die Einrichtung von Gedenkstätten oder Museen zur Erinnerung an dieses 25 Geschehen.
Zuletzt ist eine entsprechende Diskussion vor allem durch die
Eröffnung des United States Holocaust Memorial in Washington D.C. (am 22. April 1993) angestoßen worden. Dieses ist nicht das erste Museum seiner Art, aber doch dasjenige, welches in den letzten Jahren die größte internationale Aufmerksamkeit gefunden hat. Viel ist in den USA, aber auch in Israel und Deutschland über dieses Museum und die Fragen, die es aufwirft, geschrieben worden. 2 6 Daß bei dieser, aber auch bei früheren Gelegenheiten die Presse bzw. die journalistische Berichterstattung zur Beschäftigung mit dem Holocaust beigetragen hat, ist von der einschlägigen Forschung dagegen bisher kaum wahrgenommen, geschweige denn untersucht worden. Dies dürfte mit dem erwähnten Aktualitätsmoment des Tagesjournalismus zusammenhängen. Eine Aktualisierung stellten die Prozesse wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen aber stets dar. Sie mußten wegen ihrer juristischen, politischen, aber auch moralischen Dimensionen die Aufmerksamkeit der Presse (und der anderen Massenmedien) auf sich ziehen. Jedenfalls bietet sich die Berichterstattung über Prozesse wegen NS-Gewaltverbrechen geradezu dazu an, die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu studieren. Dabei müssen die Massenmedien allein schon wegen ihrer Reichweite interessieren, die die anderer Kommunikationsmittel
24 Vgl. Walter F. Renn: Federal Republic of Germany: Germans, Jews and Genocide. In: Randolph L. Braham (Hrsg.) a. a. O. S. 1-131. 25 Vgl. James E. Young: Beschreiben des Holocaust a. a. O. S. 266ff - Ders. (Hrsg.): Mahnmale des Holocaust a. a. O - Sybil Milton / Ira Nowinski: In Fitting Memory: The Art and Politics of Holocaust Memorials. Detroit, Berkeley 1991. 26 Vgl. u. a. Süddeutsche Zeitung v. 22. April 1993, Frankfurter Allgemeine v. 23. April 1993, 3. Mai 1993, Die Zeit v. 23. April 1993, Der Spiegel H. 16/1993.
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zumindest quantitativ weit übertrifft. Sie interessieren uns aber auch, weil daran die Prinzipien journalistischer Selektion und Wirklichkeitsvermittlung eruiert werden können. Bei fehlender Primärerfahrung sind es die Massenmedien, die überhaupt erst den Zugang zur Wirklichkeit schaffen, damit aber auch deren 27
Wahrnehmung durch die Gesellschaft prägen. Es ist erstaunlich, daß in der Fülle der Holocaust-Literatur hierzu bisher kaum Untersuchungen angestellt worden sind. Die Presse hat primär insoweit Aufmerksamkeit gefunden, als sich nach dem Zweiten Weltkrieg die Frage aufdrängte, was die Öffentlichkeit in den dreißiger und vierziger Jahren über die Verfolgung und Vernichtung der Juden durch sie erfahren habe. Deborah Ε. Lipstadt hat z.B. nachgezeichnet, welche Spuren sich davon in der amerikani28 sehen Presse finden lassen.
Daß die jüdische Presse in Palästina davon wußte,
ihr Wissen aber ohne Aufhebens und nur verschämt kundgab, hat neuerdings 29 Tom Segev belegt.
Vergleichbare Untersuchungen über die deutsche Presse
scheiden freilich aus, weil es sich hier um Sachverhalte handelte, über die nicht berichtet werden durfte (was nicht heißt, daß sie verborgen blieben). Daß nach dem Krieg die Mauer des Schweigens aber auch in der Presse durchbrochen wurde, ist scheinbar so selbstverständlich, daß man ihrer Rolle in der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit gar nicht weiter nachgefragt hat. Auffällig ist der Verzicht auf die Heranziehung der Presse als Quelle um so mehr, als es nicht an Beobachtungen zur Resonanz, welche die Prozesse wegen NS-Gewaltverbrechen in der deutschen Öffentlichkeit fanden, fehlt. In zeitgeschichtlichen Arbeiten stößt man zumindest hierzulande immer wieder auf einschlägige Behauptungen, ohne daß diese aber irgendwie substantiiert und empirisch nachgewiesen würden. Peter Steinbach sprach z.B. von dem „geringe(n) Niederschlag, den der Nürnberger Prozeß und die vielfach noch spektakuläreren Nachfolgeprozesse ... in der zeitgenössischen [deutschen] Öffentlichkeit fan-
27 Vgl. u. a. Winfried Schulz: Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien. Analyse der aktuellen Berichterstattung. Freiburg, München 1976. 2. Aufl. 1990. 28 Vgl. Deborah Ε. Lipstadt: Beyond Belief. The American Press and the Coming of the Holocaust 1933-1945. New York, London 1986.- Ferner Robert W. Ross: So It Was True. The American Protestant Press and the Nazi Persecution of the Jews. Minneapolis 1980.- Vgl. dazu auch Norbert Frei: "Wir waren blind, ungläubig und langsam." Buchenwald, Dachau und die amerikanischen Medien im Frühjahr 1945. In: Vierteljahreshefte f. Zeitgeschichte 35 (1987) S. 385-401. 29 Vgl. Tom Segev: The Seventh Million. The Israelis and the Holocaust. New York 1993. S. 67ff.
17
30
den." Eine „deutliche Wende" sah er erst durch den Auschwitz-Prozeß und die ihn begleitende Berichterstattung zustande kommen. Wolfgang Scheffler hat davon gesprochen, die Gerichtsverhandlungen hätten „ - von spektakulären Pro31
zessen abgesehen - im Windschatten der Öffentlichkeit" gestanden, ein Vorwurf, den Helge Grabitz erst jüngst nochmals wiederholt hat, unter ausdrücklichem Hinweis auf die Instrumentalisierung der Prozesse als „Warnung". Erst der Fernsehfilm „Holocaust", so behauptet sie, habe zu einem „Umschwung" 32 geführt. Ob solche Feststellungen gerechtfertigt sind, steht in doppelter Weise in Frage. Nicht nur, ob sie überhaupt faktisch zutreffen oder die tatsächlich stattgehabte Berichterstattung nicht doch unterschätzen. Oder indem sie an den Journalismus Erwartungen stellen, die diesen in seinen Funktionen und Aufmerksamkeitsregeln überfordern.
30 Peter Steinbach: Nationalsozialistische Gewaltverbrechen in der deutschen Öffentlichkeit nach 1945. In: Jürgen Weber/ Peter Steinbach (Hrsg.) a. a. O. S. 13-37. Zitat hier S. 23. 31 Wolfgang Scheffler: Der Beitrag der Zeitgeschichte zur Erforschung der NS-Verbrechen Versäumnisse, Schwierigkeiten, Aufgaben. In: Jürgen Weber / Peter Steinbach (Hrsg.) a. a. O. S. 114-133. 32 Vgl. Helge Grabitz: Die Verfolgung von NS-Verbrechen ... (1994) S. 207.
18
2.
Anlage der Untersuchung
Das Thema, dem die vorliegende Untersuchung gewidmet ist und das wir zuvor umrissen und eingeordnet haben, soll im folgenden mit einer quantitativen Inhaltsanalyse angegangen werden. Damit soll eine Evidenz gewonnen werden, die über - bisher allenfalls anzutreffende - punktuelle Befunde hinausgeht." Denn die Inhaltsanalyse ist „eine empirische Methode zur systematischen und intersubjektiv nachvollziehbaren Beschreibung inhaltlicher und formaler Merk34
male von Mitteilungen".
Zunächst soll die Anlage dieser Inhaltsanalyse erläu-
tert und dargelegt werden, welche Entscheidungen und methodischen Vorkehrungen dafür getroffen wurden. Unsere Untersuchung ist von der Absicht bestimmt, die Darstellung des Holocaust (im Rahmen der Berichterstattung über Prozesse wegen NS-Gewaltverbrechen) in der deutschen und israelischen Presse zu beschreiben. Dies bedeutet, daß die Auswahl des Untersuchungsmaterials und das methodische Vorgehen so weit wie möglich zu synchronisieren waren. Allerdings konnte in beiden Ländern selbstverständlich nicht die gesamte Presse in die Untersuchung einbezogen werden. Dabei stellt die getroffene Auswahl auf deutscher Seite eine noch größere Reduktion dar, weil der Pressemarkt hierzulande den in Israel quantitativ weit übertrifft. Dies dürfte Folgen dafür haben, inwieweit die Ergebnisse der Inhaltsanalyse für die gesamte Presse hier wie dort verallgemeinert werden können. Was Deutschland betrifft, wurden für die verschiedenen Prozesse jeweils vier Tageszeitungen in die Untersuchung einbezogen. Wie schon in anderen Studien, boten sich dazu Die Welt, die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), die Süddeutsche Zeitung (SZ) sowie die Frankfurter Rundschau (FR) an. Für sie sprechen nicht nur die redaktionelle Qualität und die überregionale Verbreitung (auch wenn diese unterschiedlich groß ist). Vielmehr repräsentieren die genannten Blätter „im ganzen ... das politische Spektrum der bundesdeutschen Tages-
33 Vgl. Ulrich Kröger: Die Ahndung von NS-Verbrechen vor westdeutschen Gerichten und ihre Rezeption in der deutschen Öffentlichkeit 1958 bis 1965 unter besonderer Berücksichtigung von "Spiegel", "Stem", "Zeit", "SZ", "FAZ", "Welt", "Bild", "Hamburger Abendblatt", "NZ" und "Neuem Deutschland". Diss. Hamburg 1973. 34 Werner Früh: Inhaltsanalyse. Theorie und Praxis. 3. Aufl. München 1991. S. 24.
19
presse zwischen rechts, gemäßigt rechts, gemäßigt links und links".
35
Jedenfalls
läßt sich anhand der vier Zeitungen recht gut die in der bundesdeutschen Tagespresse anzutreffende Bandbreite politischer Meinungen erfassen. Allerdings muß dahingestellt bleiben, ob dies in dem Maße auch schon für die frühe Nachkriegszeit galt. Auf deutscher Seite mußte aber für die Untersuchung partiell noch auf zwei andere Tageszeitungen zurückgegriffen werden. Denn Die Welt wurde erst lizensiert, als der Nürnberger Prozeß, bei dem unsere Untersuchung einsetzt, bereits weit fortgeschritten war. Und die Frankfurter Allgemeine
begann erst gut drei
Jahre nach Abschluß des Nürnberger Prozesses zu erscheinen. Die beiden Blätter können daher bei der Inhaltsanalyse über diesen (frühen) NS-Prozeß noch nicht zugrunde gelegt werden. An ihrer Stelle (aber nur für diesen Fall) wurden zwei andere deutsche Tageszeitungen analysiert, und zwar die Nürnberger
Nachrich-
ten und der Berliner Tagesspiegel. Die erstgenannte Zeitung wurde gewählt, weil sie am Ort, wo der Prozeß stattfand, herauskommt, die zweite als Zeitung aus der ehemaligen Reichshauptstadt, die seit der Kapitulation 1945 unter einer besonderen Kontrolle der vier Besatzungsmächte stand. Bei der Betrachtung der Ergebnisse der Inhaltsanalyse sollte man sich also später bewußt bleiben, daß es sich hier um zwei „stellvertretende" Blätter handelt. Auf israelischer Seite wurden ebenfalls insgesamt sechs Zeitungen in die Untersuchung einbezogen. Dies sind Hatzofeh, Hamashkif, Herut, Yediot Aharonot, Ha'aretz und Davar. In nur vier von ihnen wird jedoch die Berichterstattung über alle vier Prozesse untersucht. Auf zwei Blätter konnte wiederum nur zum Teil zurückgegriffen werden, auf Hamashkif nur beim Nürnberger Prozeß, auf Herut nur beim Eichmann- und beim Auschwitz-Prozeß. Gleichwohl ist die israelische Presse damit etwas stärker vertreten, weil, abgesehen vom Demjanjuk-Prozeß, jeweils fünf Zeitungen das Untersuchungsmaterial bilden. Dies muß bei quantitativen Vergleichen zwischen beiden Ländern später mit bedacht werden. Im übrigen ist auch hier zu vermerken, daß der Nürnberger Prozeß bereits vor der Gründung des Staates Israel am 14. Mai 1948 stattfand. Doch bestanden
35 Jürgen Wilke: Presse. In: Elisabeth Noelle-Neumann / Winfried Schulz / Jürgen Wilke (Hrsg.): Fischer Lexikon Publizistik / Massenkommunikation. Aktualisierte, vollständig Überarb. Neuausgabe. Frankfurt / M. 1994. S. 382-417. Zitat hier S. 395.
20
schon vor diesem Datum in Palästina zahlreiche jüdische Zeitungen. 36 Die meisten von ihnen vertraten entweder eine religiöse oder eine zionistisch-sozialistische Haltung. Jedes Blatt „bediente" eine bestimmte Strömung in der jüdischen Bevölkerung mit den jeweils auf diese Gruppierung zugeschnittenen Informationen und Stellungnahmen. Nach der Herstellung der Unabhängigkeit schwand der Einfluß von Religion und politischer Ideologie. Damit verlor auch die parteioder standortgebundene Presse an Bedeutung, während gleichzeitig die unabhängige Presse einen Aufschwung erlebte. Bei der Auswahl der israelischen Zeitungen für die vorliegende Untersuchung wurde darauf geachtet, ebenfalls das dort vorhandene Meinungsspektrum zu berücksichtigen. Extrem rechtsorientierte oder nationalreligiöse Blätter (wie Hatzofeh und Herut) wurden ebenso einbezogen wie liberale (Haaretz) und linksorientierte (Yediot Aharonot)
Pres-
seorgane. Durch die bereits weiter oben begründete Entscheidung, aus der Vielzahl von Nazi-Gewaltverbrecher-Prozessen vier herausragende für die vorliegende Untersuchung auszuwählen, waren zugleich die Zeiträume für die vorgesehene Inhaltsanalyse festgelegt. Allerdings sollte die journalistische Berichterstattung nicht nur vom Tag der Eröffnung des jeweiligen Prozesses bis zum Urteilsspruch analysiert werden. Vielmehr wurden die Untersuchungszeiträume darüber hinaus etwas ausgeweitet, und zwar immer um einen Monat vor dem Beginn wie nach dem Ende des Prozesses. Auf diese Weise läßt sich überprüfen, ob und in welchem Umfang eine „Vor-" und „Nach"-Berichterstattung stattfand bzw. in welchem Umfang die Presse außerhalb der eigentlichen Prozeßperiode auf die Verfahren eingegangen ist. Ausgehend von der erwähnten „agenda-setting"-Funktion der Medien kann vermutet werden, daß die Presse die Prozesse zum Anlaß nahm, den Holocaust zu thematisieren, wohingegen vor Beginn und nach Ende der Prozesse eine merklich geringere Bedeutung des Themas anzunehmen ist. Auf der Grundlage solcher Überlegungen ergaben sich für die vier Prozesse folgende Untersuchungszeiträume:
36 Vgl. John Leslie Martin: Press and Radio in Palestine under the British Mandate. In: Journalism Quarterly 26 (1949) S. 186-193.- Ralph L. Lowenstein: The Daily Press in Israel. An Appraisal after Twenty Years. In: Journalism Quarterly 46 (1969) S. 325-331.
21
Nürnberger Prozeß:
20.10.1945
bis
01.11.1946
Eichmann-Prozeß:
11.03.1961
bis
15.01.1962
Auschwitz-Prozeß:
20.11.1963
bis
20.09.1965
Demj anj uk- Prozeß:
16.01.1987
bis
25.05.1988
Innerhalb der genannten Zeiträume wurde mit der Inhaltsanalyse eine Gesamterhebung durchgeführt. Das heißt, alle Artikel mit einem Bezug zu dem jeweils anstehenden NS-Prozeß wurden der Untersuchung zugrunde gelegt. Dabei handelte es sich um Nachrichten, Berichte und Reportagen, um Kommentare und Leserbriefe, ja auch um Fotos und Karikaturen (Cartoons). Im Prinzip wäre es möglich gewesen, sich auf eine Stichprobe des Untersuchungsmaterials zu beschränken. Die Entscheidung gegen eine solche sollte sicherstellen, daß sich die Analyse wirklich auf das Insgesamt der Berichterstattung zu den vier Gerichtsverfahren stützen kann. Daraus ergaben sich notwendigerweise Folgen für den Aufwand bei der Durchführung der Inhaltsanalyse. Um die Berichterstattung über die vier NS-Prozesse systematisch zu erfassen, wurde - wie in Inhaltsanalysen üblich - ein Schema von Kategorien entwickelt. Mit diesen sollen die für unsere Fragestellung relevanten Merkmale (möglichst erschöpfend, in jedem Fall trennscharf) „abgefragt" werden. Unser Erkenntnisinteresse erforderte ein zweigeteiltes Kategorienschema, d. h. eine Kodierung auf zwei Ebenen mit jeweils unterschiedlichen Kodiereinheiten. Zum einen wurden die Beiträge und Artikel als ganze klassifiziert und verschlüsselt. Dabei ging es vor allem um formale Merkmale wie Umfang, Darstellungsform, Plazierung, aber auch um das jeweilige (Haupt-)Thema, den emotionalen Gehalt und die Gesamttendenz. Um jedoch die Berichterstattung detaillierter analysieren zu können, war darüber hinaus eine mehr ins einzelne gehende Verschlüsselung notwendig. Auf der zweiten Ebene bildet daher die einzelne Aussage, das Statement, die Einheit der Analyse. Jede Aussage ist definiert durch einen Urheber und einen Sachgehalt. Wechselt einer der Bestandteile, so handelt es sich um eine neue Aussage (und damit auch um eine neue Kodiereinheit). Innerhalb der Aussagen konnte zudem etwas von der Begrifflichkeit und „Semantik" bei der Behandlung unseres Themas registriert werden. Eine Analyse auf der Ebene der Aussagen war empfehlenswert, um thematische Aspekte und auch Bewertungen in der Berichterstattung über die NS-Pro-
22
zesse genau zu ermitteln. Dazu wurde ein stark untergliedertes Kategorienschema aufgestellt, wobei sich empirisches und theoretisches bzw. induktives und deduktives Vorgehen ergänzten. Zum Teil entstanden die Kategorien im Laufe einer vorweggehenden Lektüre von Ausschnitten der
tatsächlichen
Berichterstattung über die Prozesse, zum Teil wurden sie als denkbare und plausible Aspekte vorgegeben. Neben Kategorien, die mit Sicherheit vorkamen, wurden demnach solche aufgenommen, deren Vorkommen unterstellt wurde und vielleicht erwartbar, aber nicht gewiß war. Denn auch welche Argumente in einem Zusammenhang beispielsweise nicht gebracht wurden, ist von einiger Bedeutung. Angesichts der Menge des Untersuchungsmaterials und des Umfangs des Kategorienschemas war sowohl in Deutschland als auch in Israel die Beteiligung mehrerer Kodierer(innen) notwendig. Diese wurden intensiv in die Handhabung des Kategorienschemas eingewiesen. Um eine möglichst einheitliche Verschlüsselung zu gewährleisten, wurde anfangs auch gemeinsam kodiert. Die Zuverlässigkeit der Kodierung ließ sich mit einem Test prüfen, in dem das Ausmaß der Übereinstimmung gemessen wurde. Bei anfänglich nicht zufriedenstellenden Werten wurde versucht, durch Präzisierung bzw. Schulung eine größere Übereinstimmung zu erreichen. Dies gelang auch in einigen Fällen. 37 Gleichwohl hängt die erzielbare Übereinstimmung immer auch von der Eigenart der Kategorie ab. Je größer - trotz des Bemühens um präzise Definitionen - der subjektive Ermessensspielraum bleibt, desto geringer ist die Einheitlichkeit der Zuordnung. Dies muß man sich im Hinblick auf manche Ergebnisse ebenfalls bewußt halten. Die Ergebnisse der Inhaltsanalyse werden später schrittweise präsentiert, beschrieben und interpretiert. Dabei werden in der Regel die Daten für die untersuchten deutschen und israelischen Zeitungen miteinander konfrontiert. Dies soll jeweils unmittelbar den Vergleich zwischen beiden Ländern ermöglichen, auf den wir es besonders abstellen. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Zeitungen hier wie dort treten dabei zwangsläufig zurück. Andererseits wären Tabellen, in denen Daten nach verschiedenen Kategorien zugleich für die einzelnen Zeitungen und die vier Prozesse ausgewiesen würden, sehr komplex und damit unübersichtlich. Im Einzelfall kann freilich auf bedeutsam erscheinende Unterschiede zwischen den untersuchten Zeitungen hingewiesen werden. 37 Die Werte für die Übereinstimmung der deutschen Kodierer(innen) sind im Kategorienschema im Anhang angegeben.
23
Die Tabellen summieren sich später zumeist auf die Gesamtzahl der Artikel (Artikelebene) oder die Gesamtzahl der Aussagen (Aussagenebene). Während die Summenzahlen für die deutschen Zeitungen hier durchweg identisch sind, gibt es für die israelischen Zeitungen aufgrund von - allerdings insgesamt nicht erheblichen - Kodierfehlern wechselnde Summenzahlen. Dies ließ sich nachträglich nicht mehr korrigieren. Eine Korrektur hätte einen unnötigen Aufwand erfordert und damit in einem Mißverhältnis gestanden zu der dadurch tatsächlich noch zu erhöhenden Präzision. Von den wechselnden Summen braucht man sich daher nicht irritieren zu lassen, da die Auswirkungen der Varianzen auf die Prozentwerte angesichts der Vielzahl der gesamten Fälle nicht ins Gewicht fallen.
24
3.
Die untersuchten Prozesse und die Bedingungen ihrer journalistischen Berichterstattung
Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches hatte man sowohl in den ehemals von Deutschland besetzten Ländern als auch in Deutschland selbst umgehend mit der justitiellen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen begonnen. Von Anfang an waren darin auch deutsche Gerichte eingeschaltet. Doch mußten sie sich darauf beschränken, ausschließlich über Straftaten zu verhandeln, die von Deutschen an Deutschen begangen worden waren. Bis 1950 blieb es in Deutschland den alliierten Besatzungsmächten vorbehalten, über die an Nichtdeutschen verübten Verbrechen zu richten. Ermittlungsverfahren gegen nahezu 104 000 Personen wurden zwischen dem 30. November 1945 und dem 1. Januar 1992 in der Bundesrepublik Deutschland durchgeführt. Dabei sind insgesamt 6487 Personen rechtskräftig verurteilt wor38
den.
Während unmittelbar nach Kriegsende Tausende von Ermittlungs- und
Strafverfahren eingeleitet wurden, ging in den fünfziger Jahren die Zahl der Verfahren deutlich zurück. Erst nachdem 1958 die „Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen" in Ludwigsburg ihre Arbeit aufgenommen hatte, stieg die Zahl der eingeleiteten 39 Ermittlungsverfahren und Verurteilungen wieder sichtbar an.
Der 1992 in
Stuttgart abgeschlossene Prozeß gegen den inzwischen über achtzigjährigen früheren
KZ-Kommandanten
Josef
Schwammberger
dürfte,
Deutschland, eines der letzten großen NS-Verfahren gewesen sein.
nicht 40
nur
in
(Gegen den
bereits zu lebenslanger Gefängnisstrafe Verurteilten wurde 1994 wegen weiterer Delikte erneut Anklage wegen Mordes erhoben.) 38 Vgl. Helge Grabitz: Die Verfolgung von NS-Verbrechen ... (1994). S. 202. 39 Vgl. Falko Kruse: NS-Prozesse und Restauration. Zur justitiellen Verfolgung von NS-Gewaltverbrechen in der Bundesrepublik. In: Kritische Justiz 2 (1978) S. 108-134 - Kruse zeigt, daß im Zeitraum von 1945 bis 1965 31% der Urteile vor 1951 und 22,9 % bis einschließlich 1960 gefällt wurden. Nach Einrichtung der Ludwigsburger Zentralstelle nahm die Zahl der Strafverfahren zu, so daß 45,8 % der Urteile in den Jahren 1961 bis 1965 ergangen sind. Vgl. Kruse ebd. S. 125f. 40 Mitte des Jahres 1993 dauerten in Deutschland noch vier Prozesse wegen NS-Straftaten an. In sechs bis sieben weiteren Fällen ist nach Angabe der Ludwigsburger Zentralstelle Anklage erhoben worden. In weiteren Fällen werde es zu einer Anklageerhebung kommen, doch ist es angesichts des hohen Alters der Angeklagten fraglich, ob in all diesen Fällen auch noch ein Prozeß eröffnet wird.
25
Die vier in die vorliegende Untersuchung einbezogenen Prozesse bilden folglich zwar nur einen Bruchteil der Gesamtzahl einschlägiger Verfahren. Sie gehörten aber fraglos zu denen, die weltweit die meiste Beachtung fanden. Zwei von ihnen fanden auf deutschem Boden statt: der Nürnberger Prozeß gegen die sogenannten „Hauptkriegsverbrecher" sowie der Auschwitz-Prozeß in Frankfurt. Gegen die Angeklagten der zwei anderen Prozesse, Adolf Eichmann und Iwan Demjanjuk, wurde vor israelischen Gerichten verhandelt. Im folgenden sollen die vier Prozesse im einzelnen kurz nachgezeichnet werden. Außerdem werden die Bedingungen und Umstände der journalistischen Berichterstattung über sie umrissen.
3.1. Nürnberger Prozeß Daß mit der Nazi-Führung und den Hauptverantwortlichen für Krieg und Terror vor einem alliierten Gericht abgerechnet werden sollte, hatten Hitlers Kriegsgeg41
ner bereits zu einem relativ frühen Zeitpunkt beschlossen.
In der Moskauer
Erklärung vom 1. November 1943 unterzeichneten Roosevelt, Churchill und Stalin eine Vereinbarung, wonach alle an NS- und Kriegsverbrechen Beteiligten in jenen Staaten abzuurteilen seien, in denen sie die Straftaten begangen hatten. Von dieser Bestimmung ausdrücklich ausgenommen blieben die sogenannten „Hauptkriegsverbrecher", deren Verbrechen nicht auf einem geographisch fest umrissenen Gebiet lokalisierbar waren. Vielmehr war in Artikel I des „Londoner Viermächteabkommens" vom 8. August 1945, das die „Verfolgung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher der europäischen Achse" im einzelnen regelte, verfügt worden, daß die Hauptschuldigen vor ein internationales Militärtribunal gestellt werden sollten. Am 18. Oktober 1945 trat der Internationale Militärgerichtshof erstmals in Berlin zusammen, um die Anklageschrift entgegenzunehmen. Sie umfaßte vier Anklagepunkte: 1. Verschwörung; 2. Verbrechen gegen den Frieden; 3. Kriegsverbrechen und 4. Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Während die ersten beiden Punkte hauptsächlich von den britischen und amerikanischen Anklagebe41 Vgl. Jürgen Weber: Sinn und Problematik der Nürnberger KriegsVerbrecherprozesse. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament Β 48 / 1968. S. 3-31. Hier S. 4f.
26
hörden konzipiert wurden, waren Franzosen und Sowjets bei der Formulierung 42
der beiden anderen Anklagepunkte federführend gewesen.
Die Anklage richtete
sich gegen die namentlich genannten 24 Hauptkriegsverbrecher sowie gegen nationalsozialistische Gruppen und Organisationen wie die SS, SA, SD, Gestapo, Reichsregierung, Korps der politischen Funktionäre, Generalstab und Oberkommando der deutschen Wehrmacht. Der Prozeß begann am 20. November 1945 im Nürnberger Justizpalast.
43
Drei
der 24 Angeklagten standen nicht vor Gericht. Der ehemalige Reichsorganisationsleiter Robert Ley hatte in der Haft Selbstmord verübt, dem Industriellen Gustav Krupp von Bohlen und Halbach war „Verhandlungsunfähigkeit" attestiert worden und der frühere Leiter der Stabskanzlei von Rudolf Heß und Hitlers Sekretär Martin Bormann befand sich auf der Flucht. Das Gericht unter Vorsitz des britischen Richters Lawrence setzte sich aus j e einem Repräsentanten der vier Siegermächte und dessen Stellvertreter zusammen. Jede der vier Mächte stellte einen Hauptankläger sowie eine Reihe weiterer „Hilfsankläger". Das Verfahren endete am 1. Oktober 1946. Zwei Tage lang hatte das Gericht die Urteile verkündet: Zwölf Todesurteile (für Göring, von Ribbentrop, Keitel, Kaltenbrunner, Rosenberg, Streicher, Frank, Frick, Sauckel, Jodl, Seyß-Inquart, Bormann), sieben Freiheitsstrafen (für Heß, Funk, Räder, Dönitz, Neurath, von Schirach, Speer) und drei Freisprüche (für Schacht, von Papen, Fritzsche). Die zum Tode Verurteilten wurden einen Tag später hingerichtet. Göring entzog sich 44 der Hinrichtung durch Selbstmord.
42 Vgl. Telford Taylor: Die Nürnberger Prozesse. Kriegsverbrechen und Völkerrecht. Zürich 1951. S. 31. 43 Zum Nürnberger Prozeß vgl. auch Joe J. Heydecker / Johannes Leeb: Der Nürnberger Prozeß. Köln 1958. Überarbeitete und aktualisierte Ausgabe Köln 1985. 2 Bde.- Robert K. Woetzel: The Nuremberg Trials in International Law with a Postlude on the Eichmann Case. London, New York 1962 - John Η. E. Fried: The Great Nuremberg Trial. In: American Political Science Review 70 (1976) S. 192-197.- Bradley F. Smith: Der Jahrhundert-Prozeß. Die Motive der Richter von Nürnberg - Anatomie einer Urteilsfindung. Frankfurt / M. 1976.- Airey Neave: On Trial at Nuremberg. Boston, Toronto 1978.- Robert E. Conot: Justice at Nuremberg. New York u. a. 1983 - Ann Tusa / John Tusa: The Nuremberg Trial. New York 1984 - Martin Hirsch / Norman Peach / Gerhard Stuby (Hrsg.): Politik als Verbrechen. 40 Jahre „Nürnberger Prozesse". Hamburg 1986.- Werner Maser: Nürnberg. Tribunal der Sieger. Düsseldorf 1988 Hilary Gaskin: Eyewitnesses at Nuremberg. London 1990. 44 Dokumentiert ist der Prozeßverlauf in: Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof. Nürnberg 14. November 1945 - 1. Oktober 1946. 42 Bde. Nürnberg 1947-1949.
27
Die Bilanz des Nürnberger Prozesses und seiner insgesamt zwölf Nachfolgeverfahren
(u. a. der sog. Ärzte-Prozeß, der Juristen-Prozeß und der Wilhelm45
straßen-Prozeß ) blieb unter Historikern und Juristen umstritten. Zwar' hatten die Alliierten mit diesem Prozeß unter anderem das Ziel verfolgt, die Repräsentanten des Nazi-Regimes persönlich zur Verantwortung zu ziehen. Doch war es ihnen primär um eine geistige Auseinandersetzung und Abrechnung mit der nationalsozialistischen Ideologie gegangen. Dies führte „zu einem Übergewicht der Erörterung politischer Vorgänge. Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit traten dagegen zurück und gerieten zeitweilig völlig in den Hintergrund. In der Berichterstattung über den Prozeß wurden politische, militärische und kriminelle Vorgänge in einer Weise miteinander vermengt, daß es dem unbefangenen, um ein klares Bild bemühten Beobachter kaum noch möglich war, den Knäuel zu entwirren". Neben einer Reihe weiterer, juristisch umstrittener Bedenken - etwa gegen die rückwirkend geltend gemachten und daher angeblich Rechtsgrundsätze verletzenden Tatbestände „Verbrechen gegen die Menschlichkeit bzw. gegen den Frieden" - dürfte die fehlende Differenzierung zwischen den einzelnen Anklagepunkten ein wesentlicher Grund dafür gewesen sein, daß das Interesse der deutschen Bevölkerung am Prozeßgeschehen mit zunehmender Verfahrensdauer 47
abnahm.
Das Wort von der „Siegerjustiz" machte fortan die Runde. Die bis
heute nicht selten vorgenommene Gleichsetzung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit rührt ebenfalls aus den Tagen des Nürnberger Prozesses her. Mord und Terror an Unbeteiligten werden auf diese Weise als grausame, gleichwohl nicht zu vermeidende Begleiterscheinungen eines Krieges betrachtet - und gegebenenfalls aufgerechnet. Auch für die spätere Strafverfolgung von NS-Verbrechern in der Bundesrepublik erwuchsen aus der Vermengung politischer und krimineller Aspekte nach Ansicht von Zeithistorikern fatale Konsequenzen:
45 Vgl. Eberhard Jäckel / Peter Longerich / Julius H. Schoeps (Hrsg.) a. a. O.Bd. 2. S. 1019-1047. 46 Adalbert Rückerl: NS-Verbrechen vor Gericht. Versuch einer Vergangenheitsbewältigung. Heidelberg 1984. 2. Aufl. S. 92. 47 Vgl. Anna Merritt / Richard L. Merritt (Hrsg.): Public Opinion in Occupied Germany. The OMGUS-Surveys 1945-1949. Urbana, Chicago, London 1970. S. 161.
28
„Indirekt hatte die Konzentration der Nürnberger Prozesse auf die allgemeine politische Verantwortlichkeit dazu beigetragen, daß die westdeutsche Justiz und Politik ... die Verfolgung der Verbrechen unter dem NS-Regime sträflich verzögerte und bagatellisierte." Als drittes, herausragendes Ziel des Nürnberger Prozesses hatten sich die Alliierten wiederholt die Schaffung neuer, international verbindlicher Rechtsgrundsätze vorgenommen. Dadurch sollte zukünftig vergleichbaren Verbrechen vorgebeugt und etwaige Rechtsverstöße geahndet werden können. Doch liegt die „Bedeutung der Nürnberger Prozesse ... nicht im internationalen Bereich, denn ihre Prinzipien stellen teilweise einen Vorgriff auf eine noch nicht vorhandene Ordnung dar. Ihre Bedeutung bezieht sich auf Deutschland. Gerade dadurch, daß sich die Prozesse auf die ehemalige Führungsschicht beschränkten, konnte von ihnen nicht eine dem zukünftigen deutschen Staat schädliche Wirkung, wie die des Versailler Kriegsschuldparagraphen, ausgehen. Es gab keine Kollektivverur49 teilung des gesamten deutschen Volkes." Der Nürnberger Prozeß war von den Alliierten ganz darauf angelegt, große Resonanz in der internationalen Öffentlichkeit zu finden. Gerade mittels der Publizität, in der er durchgeführt wurde, wollte man eine aufklärende und abschreckende Wirkung, j a eine Katharsis erzielen. Zu diesem Zweck hatte man eine Vielzahl von Journalisten eingeladen, die eine derartige Publizität in Presse und Radio (das Fernsehen fehlte noch, wohl aber gab es die Wochenschau) herstellen konnten. In dem Schloß der als Schreibwarenfabrikanten bekannten Familie Faber-Castell in Stein nahe Nürnberg wurden die ausländischen Journalisten unter amerikanischer Aufsicht untergebracht. Hier kamen Reporter und Kommentatoren aus mehr als 20 Ländern zusammen: Gut 80 aus den U S A , 50 aus Großbritannien, 40 aus Frankreich, 35 aus der Sowjetunion, 20 aus Polen und ein Dutzend aus der Tschechoslowakei. Unter ihnen befanden sich (später) renommierte Namen wie Walter Cronkite, William L. Shirer, Peter de Mendelssohn, Ilja Ehrenburg und andere. Hinzu kamen auch einige Berichterstatter für die deutsche Presse. Im Nürnberger Justizpalast waren 240 Sitze für Reporter
48
Hans Mommsen am 20. Mai 1981 auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Bad Boll. Protokolldienst 13/81 der Evangelischen Akademie Bad Boll S. 23, zitiert nach Adalbert Rückerl a. a. O. S. 95. 49 Jürgen Weber a. a. O. S. 28.
29
reserviert. Der Ablauf des Verfahrens wurde außerdem mit Lautsprechern in einen Presseraum übertragen. 5 " Selbstverständlich mußte den alliierten Veranstaltern des Nürnberger Prozesses vor allem daran liegen, die deutsche Bevölkerung mit dem zu konfrontieren, was dort verhandelt wurde. Erleichtert wurde ihnen dies durch die Tatsache, daß zum Zeitpunkt des Prozesses Zeitungen in Deutschland nur mit alliierten Lizenzen erscheinen konnten. Außerdem gab es noch Formen der direkten alliierten Pressekontrolle. Durch diese konnten nicht nur möglicherweise unliebsame Artikel verhindert, sondern auch eine gewünschte Darstellung und Aufmachung verordnet werden. Welche Sorge die amerikanische Information Control Division (ICD) der Berichterstattung über den Nürnberger Prozeß schenkte, hat Kurt Koszyk folgendermaßen beschrieben: „General McClure ordnete am 13. September 1945 an, die Lizenzzeitungen mit zusätzlichen Papiermengen für zweiseitige Beilagen zu versorgen. Die DANA [Deutsche Allgemeine Nachrichten-Agentur] hatte das Monopol der Prozeßberichterstattung. Am 5. November wurden erneut Richtlinien (Guidance) für die Lizenzpresse erteilt. Danach galt das in den Policy Instructions No. 2 vom 4. September 1945 enthaltene Verbot für Nazi- und militärische Propaganda nicht für Nachrichten über Zeugenaussagen und Verteidigung, wohl aber für deren Verwendung in Kommentaren. In Leitartikeln konnte auf die Entwicklung der Verfahren eingegangen werden, sofern damit nicht die Funktionen des Gerichts berührt und Urteile vorweggenommen würden. Die Angeklagten durften weder als 'Verbrecher' bezeichnet noch lächerlich gemacht werden. Gerade in diesem heiklen Zusammenhang wurde die Lizenzpresse zu 'objektiver' Nachrichtengebung und zurückhaltender Kommentierung verpflichtet." Weitere Anweisungen dieser Art folgten, wobei sich die Briten jedoch am meisten zurückhielten. Anders dagegen die Franzosen. Über deren Generaladministrateur berichtet Koszyk wiederum folgendes: „Die einzige ... vorliegende Spezialinstruktion Laffons betraf den Nürnberger Prozeß. Sie wurde am 5. Dezember 1945 an die Militärbehörden ausgegeben. Zwei deutsche Journalisten sollten Zugang zum Nürnberger Tribunal haben, beide unter der Kontrolle des Vertreters der Informations-Direktion. Die von
50 Vgl. Telford Taylor: The Anatomy of the Nuremberg Trials. A Personal Memoir. New York 1992. S. 219ff. Jetzt auch in dt. Übersetzung: Die Nürnberger Prozesse. Hintergründe, Analysen und Erkenntnisse aus heutiger Sicht. München 1994. 51 Kurt Koszyk: Pressepolitik für Deutsche 1945-1949. (= Geschichte der deutschen Presse Teil IV). Berlin 1986. S. 63f.
30
ihnen verfaßten und gezeichneten Artikel wurden über die Zonenagentur verbreitet und waren von allen Zeitungen abzudrucken. Bestimmte Artikel und Analysen wurden als besonders vorrangig gekennzeichnet. In jeder Ausgabe mußte der Prozeßberichterstattung Platz eingeräumt werden. Dabei war darauf zu achten, daß die Leser nicht ermüdeten und der Eindruck massiver Propaganda vermieden wurde." Laffon empfahl sogar bestimmte Themen, die hervorgehoben werden sollten und sprach von einem „Prozeß der Humanität gegen den Nihilismus"." Zudem wies er die Zensurkommissare an, das notwendige Papier für die Berichterstattung bereitzustellen. Zur Zeit des Nürnberger Prozesses 1945/46 lebte auch die jüdische Presse in Palästina noch unter besonderen Bedingungen. Den Staat Israel gab es noch nicht, und Palästina war noch ein britisches Mandatsgebiet. Eine freie journalistische Betätigung war unter diesen politischen Umständen ebenfalls beeinträchtigt, abgesehen von finanziellen Problemen, welche es den jüdischen Blättern mit Ausnahme von Ha'aretz - unmöglich machten, eigene Korrespondenten nach Deutschland zu senden, was auch aus anderen naheliegenden Gründen (noch) hypothetisch war.
3.2. Eichmann-Prozeß Neben dem Nürnberger Prozeß erregte das Verfahren gegen Adolf Eichmann im Jahre 1961 weltweit das meiste Aufsehen. Eichmann war Leiter des Judenreferats im Reichssicherheitshauptamt der Reichsführung SS gewesen und daher nach allgemeiner Auffassung für die Realisierung der „Endlösung" verantwortlich. „Ich werde freudig in die Grube springen, denn das Bewußtsein, fünf Millionen Juden ... auf dem Gewissen zu haben, verleiht mir ein Gefühl großer 54
Zufriedenheit" , hatte er selbst wiederholt erklärt. Nach Kriegsende war Eichmann in Argentinien untergetaucht. Dort spürte ihn der israelische Geheimdienst Mossad auf und entführte ihn am 11. Mai 1960 von
52
Ebd. S. 287.
53 54
Ebd. S. 288. Zit. nach Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München 1964. Neuausgabe München 1986. S. 75.
31
Buenos Aires nach Haifa. 55 Israel hatte damit selbst die Initiative ergriffen, um einen der Hauptverantwortlichen für die industriemäßig betriebene Ermordung von mehreren Millionen Menschen vor Gericht stellen und aburteilen zu können. Obwohl Eichmanns Aufenthaltsort bekannt gewesen war, hatte bis dahin kein anderes Land seine Auslieferung beantragt. 56 Die
völkerrechtswidrige
Entführung Eichmanns
war
nicht
der
einzige
Umstand, der das Verfahren gegen den früheren SS-Obersturmbannführer juristisch problematisch erscheinen ließ. Auf Kritik stieß insbesondere die Verurteilung Eichmanns auf der Grundlage des 1950 vom israelischen Parlament, der Knesset, beschlossenen und auch rückwirkend geltend gemachten Gesetzes „zur Bestrafung von Nazis und Nazihelfern". 5 7 Trotz der genannten Bedenken bestritt aber niemand ernsthaft den Anspruch Israels, Adolf Eichmann zur Rechenschaft zu ziehen. Vom 11. April bis zum 15. Dezember 1961 währte der Prozeß vor einer Sonderkammer des Bezirksgerichts Jerusalem. Unter dem Vorsitz des Richters Moshe Landau geriet das Verfahren über weite Strecken zu einer Lektion in Zeitgeschichte, in der die Person des Angeklagten
nur
am
Rande
eine
Rolle
zu
spielen
schien.
Denn
die
„Prozeßstrategie des Anklagevertreters [Gideon Hausner] zielte darauf ab, in der Verurteilung Eichmanns das historische Gesamtereignis der 'Endlösung' sichtbar zu machen". 5 8 Zu diesem Zweck traten hundert Zeugen auf, deren Aussagen über die Einzelheiten der Vernichtungsmaschinerie Eichmanns Schuld dokumentieren sollten. Von dem bereits im Nürnberger Prozeß aufgetretenen Anwalt Servatius verteidigt, erklärte sich Eichmann „im Sinne der Anklage nicht schuldig". Er selbst habe keinen Mord befohlen, geschweige denn begangen. Gleichwohl leugnete Eichmann die in der Anklage genannten Verbrechen nicht. Doch lehnte er jegliche persönliche Verantwortung ab, da er als „gehorsamer Beamter" nur die „von oben" an ihn weitergeleiteten Befehle ausgeführt habe. Durch diese Verteidigungsstrategie rückten ganz unterschiedliche Fragen, etwa nach der Verant-
55
Vgl. S. Moshe Pearlman: Die Festnahme des Adolf Eichmann. Hamburg 1961. - Peter Z. Malkin: Ich jagte Eichmann. Der Bericht des israelischen Geheimagenten, der den Organisator der "Endlösung" gefangennahm. München 1990.
56
Vgl. Hans Mommsen: Hannah Arendt und der Prozeß gegen Adolf Eichmann. In: Hannah Arendt a. a. O. S. I-XXXVII. Hier S. II.
57 58
Vgl. Peter Papadatos: The Eichmann Trial. N e w York 1964. Peter Steinbach: Nationalsozialistische Gewaltverbrechen. Die Diskussion in der deutschen Öffentlichkeit nach 1945. Berlin 1981. S. 53.
32
wortlichkeit des einzelnen, oder nach dem Stellenwert von „Tatbeihilfe" und „Verbotsirrtum" in den Mittelpunkt der Diskussion. Kontrovers debattiert wurde im Zusammenhang mit dem Eichmann-Prozeß auch das Verhalten der Opfer. Ausgelöst wurde die stellenweise äußerst polemisch geführte Auseinandersetzung durch eine zunächst als Artikelserie im New Yorker und später unter dem Titel „Eichmann in Jerusalem" als Buch publizierte 59
Darstellung Hannah Arendts.
Angesichts ihres Eindrucks von Eichmann als
einem „tumben Bürokraten" sprach sie von der „Banalität des Bösen" und bezweifelte, daß es den Nationalsozialisten ohne die Passivität der restlichen Welt sowie die Kollaboration jüdischer Funktionäre gelungen wäre, so viele Menschen zu ermorden. Am 11. Dezember 1961 verkündete das Gericht das Todesurteil für Adolf Eichmann, das am 29. Mai 1962 durch die Berufungskammer bestätigt wurde. 60 Am 1. Juni 1962 wurde Eichmann durch den Strang hingerichtet. War es das Ziel des noch jungen Staates Israel, mit dem Eichmann-Prozeß demonstrativ vor der Weltöffentlichkeit mit den an Juden begangenen Verbrechen des Nazi-Regimes abzurechnen, so kam der Berichterstattung darüber wieder entscheidende Bedeutung zu. Daher wurden intensive Vorkehrungen für eine reibungslose Arbeit der Journalisten getroffen. Mehr als 400 Journalisten aus zahlreichen Ländern waren - zumindest bei Beginn des Prozesses - zugegen und in einem ovalen, amphitheatralisch ansteigenden Parkett und auf den Baikonen des Verhandlungsraumes piaziert. Anwesend waren auch Diplomaten und offizielle Beobachter, darunter solche aus der Bundesrepublik, sowie Vertreter internationaler Organisationen. Neu war, daß über den Eichmann-Prozeß jetzt auch vom Fernsehen berichtet und das Bild des Angeklagten, der in einer Glaszelle an der Verhandlung teilnahm, in die Welt hinausgetragen wurde. Über die Bedingungen der journalistischen Arbeit berichtete Albert Wucher, der von der Süddeutschen Zeitung nach Israel entsandt worden war, in der Ausgabe dieser Zeitung vom 12. April 1961: „Im Gerichtsgebäude ... ist mit großem technischem Aufwand gleich neben dem Arbeitsraum der Journalisten ein Sonderpostamt mit Fernschreibern und 22 Telephonzellen eingerichtet worden. Eine Fernsehanlage überträgt die Vorgänge
59 Vgl. Hannah Arendt a. a. O. - Vgl. als zeitgenössischen Bericht auch Harry Mulisch: Strafsache 40/61. Eine Reportage über den Eichmann-Prozeß. Köln 1963. Neuausgabe Berlin 1987. 60 Vgl. Avner Less (Hrsg.): Schuldig. Das Urteil gegen Adolf Eichmann. Frankfurt /M. 1987.
33
im Gerichtssaal in den Arbeitsraum. Die israelische Öffentlichkeit draußen hat davon allerdings nichts, denn Israel hat noch kein Televisionsnetz. Fürs Ausland ist in jeder Weise vorgesorgt. Freilich hängt die Nachrichtenübermittlung buchstäblich in der Luft, nämlich in der Atmosphäre. Kabelstränge gibt es nicht, und die drahtlose Verbindung mit den europäischen Hauptstädten könnten leicht einige Sonnenflecken zunichte machen ... Die Fernschreibverbindungen sind derart umlagert, daß heute nur Fernschreiben mit 500 Worten abgehen kÖn,,61 nen. Dabei war die Situation der deutschen Korrespondenten aus politischen und psychologischen Gründen besonders schwierig. Auf ihnen mußte vor allem die grauenvolle Last des Verhandlungsgegenstandes liegen und ihre Kontakte mit den Juden Israels belasten.
3.3. Auschwitz-Prozeß Zwei Jahre nach dem Eichmann-Prozeß kam es in der Bundesrepublik Deutschland zu einem weiteren Prozeß wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen, der international besondere Aufmerksamkeit fand. Offiziell „Strafsache gegen Mulka und andere" (4 Ks 2/63) genannt, wurde der Frankfurter Auschwitz-Prozeß zu einer der längsten Schwurgerichtsverhandlungen der deutschen Justizgeschichte. In ihm gipfelte die erste Phase einer eigenständigen deutschen gerichtlichen Verfolgung von NS-Verbrechen. Nach mehr als fünf Jahren Ermittlungen und Vorbereitung nahm die Hauptverhandlung zwanzig Monate bzw. 183 Verhandlungstage in Anspruch. Im Jahre 1958 hatte ein ehemaliger Auschwitz-Häftling und nun in Bruchsal einsitzender Strafgefangener Anzeige erstattet gegen Wilhelm Boger, der während des Nazi-Regimes Aufseher im Vernichtungslager Auschwitz gewesen war. Da die deutschen Behörden auf seine Anzeige hin nicht reagierten, wandte er sich an Hermann Langbein, den Generalsekretär des Internationalen AuschwitzKomitees in Wien. Langbein übergab die Angelegenheit der in Ludwigsburg ansässigen „Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen
zur Verfolgung
nationalsozialistischer Gewaltverbrechen", die Ende 1958 ihre Arbeit aufge-
61
34
Süddeutsche Zeitung v. 12. April 1961 S. 3. Vgl. auch Herbert Freeden: Im Jerusalemer Gericht ist alles bereit. In: Frankfurter Rundschau v. 6. April 1961.
nommen hatte. 62 Bei ihren Ermittlungen stießen die Beamten rasch auf eine Reihe weiterer Personen, die wie Boger, in Auschwitz an Verbrechen beteiligt gewesen waren. Als am 20. Dezember 1963 das Verfahren im Stadtverordneten-Sitzungssaal des Frankfurter Römers eröffnet wurde, standen 22 Männer vor Gericht. Während der Verhandlung schieden zwei davon aus gesundheitlichen Gründen aus dem Verfahren aus. Ein weiterer Angeklagter war noch vor Verhandlungsbeginn verstorben. Neunzehn der Angeklagten hatten ehemals der SS angehört, nur einer, Emil Bednarek, war als Häftling nach Auschwitz deportiert worden. Hauptangeklagter war Robert Mulka, der als Obersturmführer der Waffen-SS der Ranghöchste unter den Angeklagten im Auschwitz-Prozeß war. Die Täter stammten aus allen Schichten: Etwa die Hälfte waren Handwerker oder Angestellte, vier von ihnen hatten eine akademische Ausbildung. Die erste Phase des Prozesses umfaßte die Einvernahme der Angeklagten. Sie endete am 6. Februar 1964. Anschließend wurden 248 Zeugen gehört. 63 Als sensationell wurde eine Besichtigung der Tatorte in Polen im Dezember 1964 empfunden, zu dem die Bundesrepublik damals noch keine diplomatischen Beziehungen besaß. Drei Monate, vom 7. Mai bis 6. August 1965, dauerte die Phase der Plädoyers von Staatsanwälten und Verteidigern. Am 19. August 1965 verkündete das Gericht
die
Urteile:
Siebzehn
der
Angeklagten
erhielten
Freiheitsstrafen
(sechsmal lebenslänglich, eine zehnjährige Jugendstrafe und zehn Freiheitsstrafen zwischen dreieinhalb und vierzehn Jahren), drei von ihnen wurden mangels Beweisen freigesprochen. 6 4 Im Unterschied zum Eichmann-Prozeß ging es den Richtern beim AuschwitzProzeß nicht darum, die Öffentlichkeit über das Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen aufzuklären. Vielmehr suchten sie die persönliche Schuld eines jeden Angeklagten zu ermitteln, was in der Urteilsbegründung klar zutage trat. „Der Prozeß und das Urteil waren nicht Ausdruck des Willens, historische Schuld zu begleichen oder eine moralische Lektion zu erteilen ... [Das Gericht] suchte allein nach Schuld im Sinne des Strafgesetzbuches." 6 5 Eine herausragende
62 Vgl. Hermann Langbein: Der Auschwitz-Prozeß. Eine Dokumentation in zwei Bänden. Frankfurt/M. 1965, Bd. 1. S. 2Iff. 63 Ebd. S. 12 64 Vgl. ebd. Bd. 2. S. 867ff. 65 Vgl. Bernd Naumann: Auschwitz. Bericht über die Strafsache gegen Mulka und andere vor dem Schwurgericht Frankfurt. Frankfurt, Bonn 1965. S. 13.
35
Rolle
spielte dabei
der sogenannte
„Befehlsnotstand",
auf den
sich
die
Angeklagten in der Verhandlung häufig berufen hatten. Eine Reihe prominenter Gutachter wurde von dem Gericht zu dieser Frage gehört. Das öffentliche Interesse am Auschwitz-Prozeß war vergleichsweise groß, wenn auch nicht so ausgeprägt wie während des Eichmann-Prozesses. In Frankfurt standen keine führenden Repräsentanten des Nazi-Regimes vor Gericht wie etwa im Nürnberger Prozeß, und auch kein Schreibtischtäter wie Eichmann, der maßgeblich an der Organisation der Vernichtungsmaschinerie beteiligt gewesen war. Vielmehr wurde im Auschwitz-Prozeß über Täter verhandelt, die unter „normalen" Bedingungen schwerlich jene Straftaten begangen hätten, wie sie ihnen jetzt vorgeworfen wurden. Keiner von ihnen war nach Kriegsende nochmals straffällig geworden, die meisten von ihnen hatten inzwischen eine „gutbürgerliche",
unauffällige
„Durchschnitts"-Deutschen
Existenz
aufgebaut.
Das
Verhalten
der
stand mit diesen Angeklagten vor Gericht und
zwang „die Öffentlichkeit dazu, mit dieser Vergangenheit zu leben und sich dessen bewußt zu werden, daß nicht nur 'die Mörder', sondern auch 'die Helfer', die Mitläufer, die Bequemen und die Schwachen mitten unter der Bevölkerung leb66 w ten . Mochte der Auschwitz-Prozeß weniger spektakulär sein als der Nürnberger Prozeß und der Eichmann-Prozeß, so fand er international doch ebenfalls große Aufmerksamkeit. Diesmal wurden bei der Eröffnung des Verfahrens immerhin zwischen 120 und 150 Pressevertreter gezählt, die wiederum aus zahlreichen Ländern kamen. Darunter befanden sich auch eine Reihe polnischer Journalisten. Im Scheinwerferlicht des Fernsehens und unter dem Blitzlicht-Gewitter der Fotoreporter nahm das Verfahren seinen Lauf.67 Angeblich fand der Ortstermin in Auschwitz im Dezember 1964 sogar unter Beteiligung von 200 Journalisten statt.
66 Peter Steinbach: Zur Auseinandersetzung mit nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in der Bundesrepublik Deutschland. Ein Beitrag zur deutschen Kultur nach 1945. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 35 (1984) S. 65-85. Hier S. 76. 67 Vgl. Die Welt v. 20. Dezember 1963 S. 16, v. 21. Dezember 1963 S. 22.
36
3.4. Demjanjuk-Prozeß Besondere Umstände prägten den Prozeß, der in Israel seit 1986 gegen Iwan Demjanjuk geführt wurde. 68 In ihm glaubte man jenes Mannes habhaft geworden zu sein, der wegen seiner Grausamkeiten im Vernichtungslager Treblinka als „Iwan der Schreckliche" berüchtigt war. Mehr als zwanzig Jahre lang hatte John Demjanjuk ein unauffälliges Leben in Cleveland, USA, geführt. 1952 war er, zusammen mit seiner Frau, in die Vereinigten Staaten eingewandert. Kennengelernt hatte sich das Paar 1947 in Deutschland, in einem Lager für sogenannte „Displaced Persons". Nach 1945 warteten in diesen Lagern hunderttausende, durch die Kriegswirren entwurzelte Menschen darauf, irgendwo eine neue Heimat zu finden. Vor der internationalen Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen hatte Demjanjuk behauptet, er sei als Kriegsgefangener nach Deutschland gelangt. Als Nationalität gab er „polnisch" an, obwohl er tatsächlich aus der Ukraine stammte. Wie sich Jahre später herausstellen sollte, entsprach die Auskunft hinsichtlich seiner Nationalität ebensowenig der Wahrheit wie Demjanjuks Antworten auf eine Reihe weiterer Fragen, die die Behörden an ihn gerichtet hatten. Um die erforderlichen Einwanderungspapiere zu vervollständigen, legte Demjanjuk ein Paßbild vor. Mitte der siebziger Jahre glaubten Überlebende des Holocaust, auf dieser Aufnahme „Iwan den Schrecklichen" zu erkennen, der die Gaskammern von Treblinka bedient hatte. Der amerikanische „Immigration and Naturalization Service" hatte sich 1975 auf die Suche nach Demjanjuk gemacht. Der Behörde lag eine Liste mit Namen von ehemaligen Ukrainern vor, die der Kollaboration mit den Nationalsozialisten beschuldigt wurden und möglicherweise in den USA lebten. Unter anderem war auf dieser Liste auch ein Mann namens Iwan Demjanjuk aufgeführt. Im Zuge der in den USA und Israel geführten Ermittlungen erhärtete sich zusehends die Vermutung, der seit 1958 naturalisierte Amerikaner sei unmittelbar an NS-Verbrechen beteiligt gewesen. Nicht nur die Aussagen der Überlebenden belasteten Demjanjuk. In der Sowjetunion war eine Erkennungskarte aufgetaucht, die Demjanjuk als einen in Trawniki ausgebildeten SS-Wachmann auswies. Im polnischen Lager Trawniki hatte die SS Wachpersonal für die Kon68 Vgl. Tom Teicholz: The Trial of Ivan the Terrible. State of Israel vs. John Demjanjuk. New York 1990.
37
zentrationslager rekrutiert, insbesondere unter den dort gefangengehaltenen Ukrainern. Auf dem mit Photo und Unterschrift versehenen Dienstausweis ist als Einsatzort des Karteninhabers Sobibor, nicht aber das
Vernichtungslager
Treblinka angegeben. Die Verdachtsmomente gegen Demjanjuk reichten jedenfalls aus, um 1981 in den Vereinigten Staaten ein Ausbürgerungsverfahren gegen ihn anzustrengen. An dessen Ende wurde dem Beklagten die amerikanische Staatsbürgerschaft aberkannt. 1983 stellte Israel einen Auslieferungsantrag, dem drei Jahre später stattgegeben wurde. Zwei Tage, nachdem die Entscheidung gefallen war, landete Demjanjuk an Bord einer El Al-Maschine in Tel Aviv. Ein Jahr dauerte in Israel die Vorbereitung des Gerichtsverfahrens gegen ihn. Obwohl der Prozeß offiziell am 26. November 1986 eröffnet wurde, begann die eigentliche Verhandlung erst am 17. Februar 1987. Demjanjuks Anwälte verfolgten in dem Verfahren vor allem ein Ziel: zu beweisen, daß ihr Mandant nicht identisch ist mit jenem „Iwan dem Schrecklichen". Doch das Gericht schenkte den Überlebenden von Treblinka, die Demjanjuk als ihren Peiniger identifizierten, mehr Glauben als dem sich immer wieder in Widersprüche verstrickenden Angeklagten. Ein weiteres wichtiges Indiz in der Verhandlung war der von den Sowjets zur Verfügung gestellte SS-Dienstausweis Demjanjuks. Während die Verteidigung darauf beharrte, es handele sich bei der Trawniki-Karte um eine Fälschung des KGB, akzeptierte das Gericht den Ausweis als Beweismittel. Demjanjuk wurde am 18. April 1988 zum Tod durch den Strang verurteilt. Selbst nach der Urteilsverkündung beteuerte der Verurteilte weiter seine Unschuld. Tatsächlich blieb unter den Prozeßbeobachtern die Identität Demjanjuks umstritten. 69 Zeugen in früheren NS-Prozessen hatten übereinstimmend ausgesagt, daß nicht ein Mann namens Demjanjuk, sondern Martschenko den Beinamen „Iwan der Schreckliche" getragen hatte. Bemühungen, den Aufenthaltsort Martschenkos zu ermitteln, blieben aber erfolglos. Bemerkenswert schien für das Gericht in diesem Zusammenhang zu sein, daß der Mädchenname von Demjanjuks Mutter Martschenko lautete. Offen blieb auch die Frage, weshalb auf Demjanjuks Dienstausweis Sobibor als Einsatzort vermerkt ist, obwohl die Zeugen ihn in Treblinka gesehen haben wollen. Das Gericht hatte es in seiner Urteilsbegründung für durchaus möglich 69 Vgl. dazu auch Willem A. Wagenaar: Identifying Ivan. A Case Study in Legal Psychology. Cambridge (Mass.) 1988.
38
erachtet, daß Demjanjuk zwischen beiden Lagern hin- und herwechselte, ohne daß dies in der Karte kenntlich gemacht worden war. Die Anwälte Demjanjuks legten beim Obersten Gericht Israels Berufung gegen das Urteil ein. Mehr als zwei Jahre nach Ende des ersten Prozesses, am 14. Mai 1990, begann die insgesamt sieben Wochen dauernde Berufungsverhandlung. In den anschließenden Untersuchungen des Berufungsgerichts flössen auch neue Dokumente aus inzwischen zugänglichen KGB-Archiven ein. Nach langdauernden Beratungen wurde Demjanjuk schließlich von Israels Oberstem Gerichtshof am 28. Juli 1993 aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Die fünf Richter verwarfen damit einstimmig das im April 1988 verhängte Todesurteil. Anlaß dafür waren die nicht auszuräumenden Zweifel an der Identität des Angeklagten. Zwar sei erwiesen, daß Demjanjuk in Todeslagern, vor allem in Sobibor, Dienst getan habe. Doch das Gericht sah sich nicht in der Lage, hierauf einen Urteilsspruch zu gründen. Der Freispruch in dem längsten Gerichtsverfahren Israels löste dort unterschiedliche Reaktionen aus, Enttäuschung und Erbitterung bei Überlebenden des Holocaust, Genugtuung über die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens bei anderen. Zunächst blieb Demjanjuk noch in israelischer (Schutz-)Haft, zumal neuerliche Verfahrensanträge gegen ihn eingereicht, aber abgelehnt wurden. Zudem war zunächst offen, in welchem Land er aufgenommen würde. Nach anfänglichem Sträuben waren die Vereinigten Staaten bereit, Demjanjuk die Rückkehr zu erlauben. Am 22. September 1993 wurde er dorthin abgeschoben. Nach einem Bericht der Welt vom 21. Februar 1988 war das Interesse der Öffentlichkeit am Demjanjuk-Prozeß anfangs nur sehr schwach, nahm aber schon am zweiten Tag zu: „Menschen stehen Schlange vor dem Eingang des Gerichtssaals und warten, bis ein Zuschauer einen Platz frei macht. Drinnen drängen sich die Menschen in den Seitengängen, die meisten sind junge Leute. Jede Sitzung wird im Rundfunk übertragen, allerdings nicht, wie ursprünglich geplant, im Fernsehen." Der Prozeß fand in einem Saal statt, der gewöhnlich als Kino genutzt wurde. Mehrere Sitzreihen wurden von Zeitungsjournalisten eingenommen. Fotografen und Rundfunkreporter, sonst in Israel vom Gerichtssaal ausgeschlossen, waren diesmal zugelassen. Auch durch die Anwesenheit von Schulklassen, Unterrichts-
70 Die Welt v. 21. Februar 1987.
39
einheiten der Armee und ähnlichen Gruppen suchte man in Israel dem Demjanjuk-Prozeß wiederum breite Resonanz in der Öffentlichkeit zu verschaffen. Ein kritischer Beobachter, der israelische Journalist Tom Segev, hat aus diesen und anderen Gründen von einem - wenn auch fairen - „show trial" gesprochen. 71
71 Vgl. Tom Segev a. a. O. S. 415.- Nicht mehr verwendet werden konnte Yoram Sheftel: The Demjanjuk Affair. The Rise and Fall of Show-Trial. London 1994.
40
4.
Die untersuchten Zeitungen
Nach den Prozessen selbst sollen im folgenden auch die Zeitungen noch etwas näher porträtiert werden, auf deren Prozeßberichterstattung wir unsere Untersuchung stützen. Dabei wenden wir uns zunächst den deutschen Zeitungen zu.
Frankfurter
Rundschau
Die erste Lizenz, die 1945 in der amerikanischen Besatzungszone Deutschlands für eine Zeitungsgründung erteilt wurde, erhielten die Herausgeber der ter Rundschau.
Frankfur-
Die sieben Lizenzträger waren Gegner des Nationalsozialismus
gewesen. Emil Carlebach, Arno Rudert (beide KPD), Hans Etzkorn, Paul Rodemann, Wilhelm Knothe (alle SPD), das ehemalige Zentrumsmitglied Wilhelm 72
Karl Gerst und der parteilose Otto Grossmann.
Am 1. August 1945, keine drei
Monate nach der Kapitulation, erschien die erste Ausgabe der Frankfurter
Rund-
schau. Nach den Aachener
über-
Nachrichten
war die Frankfurter
Rundschau
haupt die zweite Lizenzzeitung in Westdeutschland. Auf vier Seiten belieferte sie ihre Leser zunächst zweimal wöchentlich mit Informationen. Ende Oktober hatte das Blatt bereits eine Auflage von 505 000 Exemplaren erreicht. Bis auf Arno Rudert schieden die übrigen Herausgeber der „ersten Stunde" binnen zweier Jahre wieder aus dem Unternehmen aus. Dafür trat im Sommer 194673 der aus der Emigration zurückgekehrte Karl Gerold in das Unternehmen mit ein. Nach Aufhebung der Lizenzpflicht ging die Zeitung in den Besitz von Rudert und Gerold über. Als Rudert 1954 starb, übernahm Karl Gerold zwei Drittel der 74 Besitzanteile.
Gerold war bis 1973 gleichzeitig Herausgeber, Verleger und
Chefredakteur der Frankfurter
Rundschau.
Nach seinem Tod flössen seine
Besitzanteile in die Karl Gerold-Stiftung ein, der die Zeitung noch heute gehört. 72 Vgl. Barbara Baems: Lenkung und Kontrolle beim Neuaufbau des Pressewesens (1945-1949). In: Heinz-Dietrich Fischer (Hrsg.): Deutsche Kommunikationskontrolle des 15. bis 20. Jahrhunderts. München, New York, London, Paris 1982. S. 280-304. Hier S. 286 - Harold Hurwitz: Die Stunde Null der deutschen Presse. Die amerikanische Pressepolitik in Deutschland 19451949. Köln 1972 - Kurt Koszyk a.a.O. S. 56f - Emil Carlebach: Zensur ohne Schere. Die Griinderjahre der "Frankfurter Rundschau" 1945/47. Frankfurt / M. 1985. 73 Vgl. Harold Hurwitz a . a . O . S. 311. 74 Vgl. Ludwig Maaßen: Die Zeitung. Daten-Deutungen-Porträts. Heidelberg 1986. S. 97.
41
Die Stiftung soll die Unabhängigkeit des Blattes garantieren, ihre Anteile dürfen nicht verkauft werden. Die
Frankfurter
Rundschau
läßt
sich
nur
mit
Einschränkung
als
„überregionale" Tageszeitung bezeichnen. Zwar ist sie bundesweit erhältlich, doch liegt ihr Hauptverbreitungsgebiet in Frankfurt und Umgebung. Verglichen mit anderen Regionalzeitungen ist das Blatt allerdings wesentlich besser ausgestattet. Die politische Richtung der Franltfurter Rundschau
wird üblicherweise
mit links bis links-liberal angegeben. Zum Organ „progressiver" Leserkreise wurde sie vor allem im Zuge der Studentenbewegung der sechziger Jahre. Nach eigenem Bekunden will die Zeitung „Öffentlichkeit herstellen, um Regierungen, 75
Verwaltungen, die Wirtschaft, Rechtsprechung etc. zu kontrollieren".
Nürnberger
Nachrichten
Mit den Nürnberger Nachrichten kam am 11. Oktober 1945 die erste deutsche Zeitung in Nürnberg nach der Kapitulation auf den Markt. Entgegen der üblichen Lizenzierungspraxis in der amerikanischen Zone hatten die Besatzungsbehörden die Erlaubnis zur Gründung einer Zeitung nicht an ein Herausgebergremium erteilt, sondern an eine einzelne Person. Den Zuschlag für die Lizenz Nr. 3 hatte der als „parteilos-liberal" eingestufte Joseph Emst Drexel erhalten, allerdings mit der Auflage, sich umgehend einen Partner zu suchen. Drexel war während des Dritten Reiches als Gegner der Nationalsozialisten mehrfach verhaftet und nach dem 20. Juli 1944 ins Konzentrationslager Mauthausen deportiert worden. Seine Partner für das Zeitungsunternehmen suchte er zunächst in den Reihen früherer Freunde aus der Widerstandsbewegung. In Hans Walter, einem Mitglied des ehemaligen Nürnberger Widerstands, fand er einen „stillen Teilhaber". Doch die Amerikaner drängten Drexel, einen weiteren Lizenzträger in das Unternehmen aufzunehmen. Schließlich beteiligte sich ab Januar 1949 der parteilose Heinrich G. Merkel mit 45 Prozent an den NUrnber-
75 Vgl. ebd. S. 100. 76 Vgl. Harold Hurwitz a. a. O. S. 143.- Kurt Koszyk a. a. O. S. 61f.
42
ger Nachrichten.
Während Merkel vor allem für den kaufmännischen Bereich 77
verantwortlich war, übernahm Drexel primär redaktionelle Aufgaben. Von Anfang an betonte Drexel die Unabhängigkeit seiner Zeitung. Unabhängigkeit demonstrierte er nicht nur gegenüber den amerikanischen Behörden, sondern auch gegenüber der deutschen Regierung. Mit seiner Opposition zu Adenauers Außenpolitik begründete er in den Nachkriegsjahren den Ruf der 78 Nürnberger Nachrichten als eines „links-liberalen" Blattes. Das von den amerikanischen Lizenzgebern zugewiesene Verbreitungsgebiet verschaffte den Nürnberger Nachrichten
eine starke Position in Mittelfranken.
Die Zeitung versorgte die damaligen Stadt- und Landkreise Nürnberg, Fürth, Erlangen, Schwabach, Hersbruck, Lauf (Pegnitz), Hilpoltstein und Teile des Landkreises Neumarkt mit Informationen. Zwar sank die Auflage nach der Aufhebung der Lizenzpflicht durch die Neu- oder Wiedergründung zahlreicher anderer Lokalblätter, doch war die Existenz der Nürnberger
Nachrichten
nie
gefährdet. Vielmehr hat sich ihre Auflage in den darauf folgenden Jahren stets erhöht. Durch eine enge Zusammenarbeit mit den Herausgebern der Heimatzeitungen ist es dem Blatt gelungen, seine Stellung als auflagenstarke Regionalzeitung bis heute zu behaupten.
Der Tagesspiegel (Berlin) Nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland erschien am 27. September 1945 mit dem Tagesspiegel die erste unabhängige deutsche Tageszeitung Berlins. Im Gegensatz zur sonst üblichen Praxis verzichtete die amerikanische Besatzungsmacht auf eine Vorzensur der Zeitung 79
während der ersten sechs Wochen ihres Erscheinens.
Die Lizenz Nr. 16 in der
amerikanischen Zone war von den Behörden an den Schriftsteller Erik Reger, den früheren Weirbü/me-Redakteur Waither Karsch sowie an den Reichskunst-
77 Vgl. Hans Wagner: Optimierung durch Vielfalt: Die "Nürnberger Nachrichten". In: Hans Wagner / Ursula E. Koch / Patricia Schmidt-Fischbach (Hrsg.): Enzyklopädie der Bayerischen Tagespresse. Hrsg. im Auftrag des Verbandes Bayerischer Zeitungsverleger e. V. München 1990. S. 481-507. 78 Ebd. S. 489. 79 Vgl. Peter de Mendelssohn: Zeitungsstadt Berlin. Menschen und Mächte in der Geschichte der deutschen Presse. Berlin 1959. S. 467.
43
wart der Weimarer Republik, Edwin Redslob, und den Papiergroßhändler Heinrich von Schweinichen erteilt worden. „Im Anspruch der altehrwürdigen 'Vossischen Zeitung', in der Form der Londoner Times folgend, erschien der Tagesspiegel zunächst mit drei wöchentlichen Ausgaben ..., im November 1945 dann schon täglich". 8 " Die Startauflage betrug 200 000 Exemplare. Das Interesse der Berliner an der neuen Zeitung war groß: „Zu Beginn des Jahres 1946 galt der 81
Tagesspiegel als die meistgelesene Berliner Zeitung". Doch dem Blatt war keine kontinuierliche Aufwärtsentwicklung beschieden. Dies lag vor allem an seiner schwierigen Rolle als Zeitung ohne „natürliches Hinterland". Nach einer anfänglich vergleichsweise hohen Auflage - im März 82 1946 erreichte der Tagesspiegel eine Auflage von 450 000 Exemplaren
- sank
die Zahl der täglich verbreiteten Exemplare infolge der Berliner Blockade rapide ab. Als Hindernis kam das Verbot der Sowjets hinzu, die Zeitung in Ost-Berlin und den damaligen Zonen-Randgebieten zu vertreiben. Von täglich 315 000 Exemplaren des Tagesspiegels vor Beginn der Blockade reduzierte sich die Zahl 83 der Auflage auf 100 000 Exemplare. Als Garant für die Unabhängigkeit der Zeitung dient heute die gemeinnützige „Pressestiftung Tagesspiegel", die von dem früheren Verleger und Herausgeber Franz Karl Maier eingerichtet worden ist. Das aus Verlags- und Redaktionsmitgliedern bestehende Kuratorium der Stiftung sowie die übrigen Gesellschafter des Tagesspiegels
sind für den Kurs und die wirtschaftliche Sicherung der Zei-
tung verantwortlich. 84
Süddeutsche Zeitung (München) In Bayern erging die erste Lizenz zur Gründung einer Tageszeitung an die beiden Journalisten Franz Joseph Schöningh und Edmund Goldschagg. Dritter im Bunde der Herausgeber war der Publizist und Verleger Alfred Schwingenstein.
80 Verlag Der Tagesspiegel: Die erste freie Presse in Berlin nach 1945: Der Tagesspiegel. In: Günter Bentele / Otfried Janen (Hrsg.): Medienstadt Berlin. Berlin 1988. S. 254-159. Hier S. 155. 81 Vgl. Harold Hurwitz a. a. O. S. 342. 82 Vgl. ebd. S. 345. 83 Vgl. ebd. S. 311. 84 Vgl. Verlag der Tagesspiegel a. a. O. S. 156.
44
Einige Zeit später stiegen der Journalist Werner Friedmann und der Verlagsleiter Hans Dürrmeier in das Unternehmen ein. Heute sind deren Erben Eigentümer des Zeitungsverlags. 8 5 Symbolträchtig war die Tatsache, daß für die ersten Druckplatten der neuen Zeitung der eingeschmolzene Bleisatz von Hitlers „Mein K a m p f ' verwendet wurde. A m 6. Oktober 1945 kam die erste Ausgabe der Süddeutschen
Zeitung
mit einer Startauflage von 357 000 Exemplaren auf den Markt. Sie erschien zunächst zweimal in der Woche mit einem Umfang von vier, später sechs Seiten. 86 Rasch entwickelte sie sich zur meistgelesenen Tageszeitung in der amerikanischen Zone, wo sie im Juni 1949 mit einer Auflage von 255 000 Exempla87
ren an der Spitze der Lizenzzeitungen lag. Zwar war die Süddeutsche
Zeitung
von Anfang an primär eine Lokal- und
Regionalzeitung. Noch in den achtziger Jahren setzte sie zwei Drittel ihrer Auf88 läge in München und Umgebung ab. Frankfurter
Rundschau
Daher läßt sie sich ebensowenig wie die
als „überregionale" Tageszeitung im strengen Sinne
bezeichnen. Gleichwohl ist der Anteil des bundesweit vertriebenen Auflagenanteils vergleichsweise hoch, höher zumindest als bei anderen regionalen Abonnementzeitungen. Auch liegt die Süddeutsche
Zeitung
heute mit an der Spitze
der deutschen Tageszeitungen, was die Höhe der Gesamtauflage betrifft. Im politischen Spektrum ist die Süddeutsche
Zeitung
links von der Mitte angesie-
delt.
Die Welt (Bonn / Hamburg)
Die Welt, obwohl noch in der Lizenzphase entstanden, gehört nicht zu den sogenannten „Lizenzzeitungen". Vielmehr sollte das zunächst unter der Ägide der britischen Besatzungsmacht herausgegebene Blatt nach dem Willen der Behörden eine Art „Vorbildfunktion" für die lizenzierte Presse in der britischen Zone
85 86
Vgl. Ludwig Maaßen a. a. O. S. 94.- Kurt Koszyk a. a. O. S. 56. Vgl. Kersten Bassow / Patricia Schmidt-Fischbach: Erstes Lizenzblatt: Die "Süddeutsche Zeitung". In: Hans Wagner / Ursula E. Koch / Patricia Schmidt-Fischbach (Hrsg.) a. a. O. S. 87105. Hier S. 90.
87 88
Vgl. Harold Hurwitz a. a. O. S. 204. Vgl. Ludwig Maaßen a. a. O. S. 95 - Kersten Bassow / Patricia Schmidt-Fischbach a. a. O. S. 99.
45
übernehmen. Die Welt „sollte nach den Vorstellungen ihrer Gründer so etwas 89
wie eine deutsche 'Times' werden". Zwar setzte sich die Redaktion der Welt weitgehend aus deutschen Journalisten mit Rudolf Küstermeier als Chefredakteur an der Spitze zusammen, doch die Kontrolle oblag den Briten. Erst im90 Mai 1950 wurde aus der Welt eine von den Briten unabhängige Tageszeitung.
Mit einer Auflage von 160 000 Exem-
plaren startete die Zeitung am 2. April 1946 in Hamburg. Aufgrund der Papierknappheit erschien das Blatt anfangs nur zweimal wöchentlich. Ein Jahr danach, ab Juni 1947, kam die Welt bereits dreimal pro Woche mit einer Auflage von 600 000 Exemplaren heraus. Seit Beginn dieses Jahres war die Welt an das Nachrichtennetz der Londoner Times angeschlossen. Ihre höchste Auflagenzahl erreichte die Zeitung zwischen Juli und September 1949, als sie täglich mit einer Auflage von einer Million Exemplaren auf den Markt kam. Doch mit der Aufhebung des Lizenzzwanges am 23. September 1949 und der im Anschluß daran einsetzenden Gründungswelle im Pressewesen ging ein drastischer Rückgang der Auflage einher. Schließlich stand das wirtschaftlich angeschlagene Blatt zum Verkauf an. 1953 ging es in die Hände des Verlegers Axel Springer über, der den einst von den Briten abgelehnten Hans Zehrer zum Chefredakteur ernannte. Zehrer wiederum gelang es, eine Reihe namhafter Journalisten, darunter Paul Sethe, Conrad Ahlers und Sebastian Haffner, für eine Mitarbeit in der Welt zu gewinnen. Doch in den sechziger Jahren, vor allem im Zuge der Studentenbewegung, entzündeten sich an dem Blatt Auseinandersetzungen wegen seiner rechtskonservativen Grundhaltung. Nicht wenige der We/i-Journa91
listen verließen das Blatt.
Heute formuliert Die Welt ihr publizistisches Selbst-
verständnis als „unabhängig von Parteien und Interessenverbänden, staatsloyal, reformoffen bei konservativer Grundhaltung".
89
Günther Sawatzki, zit. nach Heinz-Dietrich Fischer: Die großen Zeitungen. Porträts der Weltpresse. München 1966. S. 195 - Ders.: Reeducations- und Pressepolitik unter britischem Besatzungsstatus. Düsseldorf 1978.
90 91
Vgl. Heinz-Dietrich Fischer: Die großen Zeitungen S. 202. Vgl. Ludwig Maaßen a . a . O . S. 91.
46
Frankfurter Allgemeine
Zeitung
Am 23. September 1949 hatten die alliierten Besatzungsmächte mit dem Gesetz Nr. 5 die Aufhebung des Lizenzzwanges verfügt. Nur wenige Wochen danach, am 1. November 1949, erschien die erste Ausgabe der Frankfurter
Allgemeinen
92
Zeitung.
Treibende journalistische Kraft bei der Gründung der „Zeitung für
Deutschland", wie sie im Untertitel heißt, war Erich Welter, vormals Redakteur 93 bei der von den Nationalsozialisten 1943 verbotenen Frankfurter Zeitung.
An
deren Tradition wollte die FAZ auch anschließen. Neben Welter gehörten Hans Baumgarten, Erich Dombrowski, Karl Korn und Paul Sethe zu den ersten Herausgebern der Frankfurter Allgemeinen
Zeitung.
Einen Chefredakteur gibt es in der Frankfurter Allgemeinen
Zeitung nicht.
Vielmehr entscheiden die fünf Herausgeber gleichberechtigt über alle Fragen, die die einzelnen Ressorts betreffen. Verpflichtet sind sie dabei nur dem Gesellschaftervertrag vom 12. Dezember 1949, der ihnen in Paragraph 2, Satz 1 auferlegt, die Frankfurter Allgemeine rungen,
Parteien
und 94
Grundlage zu führen.
Zeitung in voller Unabhängigkeit von Regie-
Interessengruppen
auf
freiheitlich-staatsbürgerlicher
Heute ist die Frankfurter Allgemeine Zeitung mehrheit-
lich im Besitz der im April 1959 gegründeten FAZIT-Stiftung. Diese Rechtsform soll die Unabhängigkeit des Blattes gewährleisten. Nach einer Startauflage von 9000 Exemplaren schnellte die Auflage in den folgenden Jahren 95 rasch in die Höhe. 1962 wird sie bereits mit 230 018 Exemplaren angegeben.
1992 war die Frankfurter
Allgemeine
Zeitung mit 418 365
Exemplaren die auflagenstärkste national verbreitete Abonnementzeitung in Deutschland. Neben der Deutschlandausgabe produziert die Frankfurter
Allge-
meine eine Regionalausgabe mit Lokalteil. Die Daten der folgenden Tabelle belegen die Auflagen der sechs deutschen Tageszeitungen zu den Zeitpunkten, zu denen wir die Berichterstattung über NSProzesse in ihnen untersuchen.
92
Vgl. Rüdiger Dohrendorf: Zum publizistischen Profil der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Frankfurt / M „ Bern, N e w York, Paris 1990. S. 9.
93
Vgl. Günther Gillessen: Auf verlorenem Posten. Die Frankfurter Zeitung im Dritten Reich. Berlin 1986. Vgl. Heinz-Dietrich Fischer: Die großen Zeitungen S. 241. Vgl. Rüdiger Dohrendorf a. a. O. S. 10.
94 95
47
Tabelle 1:
Auflagenhöhen in den Untersuchungszeiträumen 1945
Frankfurter Allgemeine Zeitung Frankfurter Rundschau
505 000
Nürnberger Nachrichten
145 000
Süddeutsche Zeitung
357 000
Tagesspiegel
200 000
Die Welt
IV/1961
11/1965
1/1988
327 000
253 172
375 887
104 369
110 293
197 956
205 835
218 400
380 127
242 367
252 370
225 829
Quelle: Zitierte Literatur sowie Auflagenlisten der Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgem (IVW)
Im folgenden soll auf die israelischen Zeitungen eingegangen werden, was wegen der Quellenlage etwas kürzer ausfallen muß. Davar (Das Wort) 1925 von Berl Katznelson als Gewerkschaftsorgan gegründet, ist Davar noch heute eng mit der israelischen Arbeiterpartei bzw. der Histadrut verbunden. Ihre Auflage übertraf in den vierziger Jahren die ihrer Konkurrentin Ha'aretz bei weitem. 96 Doch in den Sechzigern, als der Niedergang der Parteipresse in Israel begann, geriet auch Davar in wirtschaftliche Schwierigkeiten: Die Zahl der Anzeigen ging zurück, die Auflage sank stetig. Nach umfassenden Reformen, 97
zählte Davar später wieder zu den auflagenstärksten Morgenzeitungen Israels. Laut einer Leseranalyse sind Davars Rezipienten überwiegend Männer mit höherer Schulbildung. Die meisten von ihnen gehören zu den sogenannten Ashkenazim, deren Vorfahren aus West- und Osteuropa nach Israel kamen. 98
96 97 98
48
Vgl. John Leslie Martin: Press and Radio in Palestine under the British Mandate. In: Journalism Quarterly 26 (1949) S. 186-193. H i e r S . 188. Vgl. Christiane Weishaupt: Massenmedien in Israel. Diplomarbeit Eichstätt 1989. S. 57. Vgl. Dan Caspi / Simon Yehiel: The Mediators. The Mass Media in Israel 1948-1990. 1992. (Engl. Übers, des hebräischen Originals.)
(Infolge einer radikalen Umorganisation der Histadrut-Gewerkschaft 1994 war das Erscheinen der Zeitung über das Jahresende hinaus ungewiß.)
Hatzofeh
(Der Beobachter)
Die von dem Rabbiner Bar-Ilan gegründete Morgenzeitung vertritt die seit 1902 99
existierende religiöse Bewegung der „Mizrachi".
1938 erschien sie zum ersten
Mal mit einer verkauften Auflage von 3000 Exemplaren. Heute ist Hatzofeh
das
offizielle Organ der national-religiösen „Mafdal"-Partei. Seit einiger Zeit hat das Blatt mit einigen Schwierigkeiten zu kämpfen, bedingt durch den sinkenden Einfluß des religiös motivierten Zionismus im allgemeinen und den der „Mafdal"-Partei im besonderen. 10 "
Yediot Aharonot
(Neueste Nachrichten)
Im Jahr seiner Gründung, 1939, erschien das nur zweiseitige Blatt zweimal täglich: mittags und abends. Seit 1940 ist es bei der einmal täglichen Erscheinungsweise geblieben. Zunächst in einer Auflage von 600 Exemplaren verkauft, avancierte Yediot Aharonot
in kurzer Zeit zur führenden Abendzeitung Palästi-
nas: „To the public, which had been used to the very serious and quite tedious, mostly party affiliated press, the little paper with its sensational headlines, unorthodox comments and independent opinions, came like a breeze of fresh air." Neun Jahre nach seiner Gründung, am 13. Februar 1948, erlebte Yediot
Aha-
ronot die bislang schwerste Krise: Ein Großteil der Redaktion und des Managements verließ das Blatt und gründete die neue Abendzeitung Ma'ariv.
Ziel der
„Dissidenten" war es, eine von den Journalisten in allen, auch den wirtschaftlichen Bereichen selbst kontrollierte Publikation aufzubauen. Zwanzig Jahre lang
99
Vgl. Mirjam Michaelis: Die Presse Israels von den Anfängen bis zur Gegenwart. In: Publizistik 26 (1981) S. 545-564. Hier S. 559. 100 Vgl. Dan Caspi / Simon Yehiel a. a. O. 101 Vgl. Elchanan Kramer: The Development of the Evening Press in Israel. In: Gazette 7 (1961) S. 11-16. H i e r S . 12.
49
blieb Ma'ariv die führende Tageszeitung Israels. Dies änderte sich erst Mitte der siebziger Jahre, als der Wiederaufschwung von Yediot Aharonot einsetzte. Mit ihrer Aufmachung und einem in leicht verständlicher Sprache geschriebenen, oft sensationalistisch aufbereiteten Inhalt wandte sich die Zeitung an ein Massen102
publikum, so daß die Auflagenzahl wieder in die Höhe schnellte. Heute ist Yediot Aharonot die auflagenstärkste Zeitung Israels. Sie verkörpert den Zeitungstyp des „popular paper", der sich nach den Wünschen eines Massenpublikums ausrichtet. Laut einer 1990 durchgeführten Umfrage zählen zwei Drittel der israelischen Tageszeitungsleser zum Publikum von Yediot Aharonot. Yediot Aharonot ist keiner bestimmten politischen Richtung zuzuordnen. Die Zeitung wird als „pluralistisches" Organ eingestuft, das sowohl linke als auch rechte Positionen vertritt.103 Hamashkif(Der
Zuschauer)
Als Organ der Revisionistischen Bewegung bestand das Blatt nur in den Jahren 1936 bis 1948.1M Herut (Freiheit) Als Organ der extrem rechtsnationalen Herut-Partei, deren Mitglieder zu einem Großteil der früheren Untergrundbewegung „Irgun Zvai Leumi" angehört hatten,105 wurde das Blatt 1948 gegründet, aber 1965 wieder eingestellt.106 Ha'aretz (Das Land) Die älteste hebräischsprachige Tageszeitung in Palästina genießt unter den israelischen Blättern unbestritten den besten Ruf. Hervorgegangen ist Ha'aretz aus einer ursprünglich dreisprachigen, 1918 von den britischen Militärbehörden gegründeten Publikation. Die Briten übergaben die Lizenz für Ha'aretz zunächst 102 103 104 105
Vgl. Christiane Weishaupt a. a. O. S. 59. Vgl. Dan Caspi / Simon Yehiel a. a. O. Vgl. ebd. Vgl. Ernest Stock: The Press of Israel: Its Growth in Freedom. In: Journalism Quarterly 31 (1954) S. 481-490. Hier S. 485. 106 Vgl. Dan Caspi / Simon Yehiel a. a. O.
50
an ein jüdisches Herausgebergremium, von dem schließlich Salman Schocken, der frühere deutsche Verleger, 1936 die Rechte an der Zeitung erwarb. Zunächst erschien die Zeitung aus technischen Gründen am Abend, später wurde der 107 Erscheinungszeitpunkt in die Morgenstunden verlegt. Ha'aretz war eng verflochten mit der „Allgemeinen Zionistischen Bewegung", die sich später „Fortschritts-Bewegung" nannte. Ha'aretz' politische Linie läßt sich als „liberal", „anti-sozialistisch" und „anti-nationalistisch" klassifizieren. Ihr elitäres Image verdankt die Zeitung den hohen journalistischen Standards sowie dem 108 Profil ihrer Leserschaft, die sich aus den höher Gebildeten zusammensetzt. Ha'aretz' Ruf verschafft dem Blatt weitaus mehr Macht und Einfluß, als es die Höhe der Auflage vermuten ließe.
107 Vgl. Emest Stock a. a. O. S. 484. 108 Vgl. Miijam Michaelis a. a. O. S. 559.
51
5.
Ergebnisse der Untersuchung
5.1. Umfang der Berichterstattung In welchem Umfang über die vier NS-Prozesse berichtet wurde, soll im ersten Schritt der Präsentation der Ergebnisse unserer Inhaltsanalyse dargestellt werden. Dabei verstehen wir den Umfang als einen ersten, grundlegenden Indikator für die Bedeutung, die den vier Prozessen durch die Zeitungsredaktionen zugemessen wurde bzw. für das Ausmaß des „agenda-setting", mit dem die Leser in beiden Ländern konfrontiert waren. Ausgezählt wurde zunächst die Anzahl der Beiträge (Items) zu den Prozessen in den untersuchten Zeitungen (Tabelle 2).
Tabelle 2: Anzahl der Beiträge zu den Prozessen in den untersuchten Zeitungen DEUTSCHE ZEITUNGEN Nürnberger
Tages-
Nachrichten
Spiegel
Welt
Nürnberger Prozeß Eichmann-Prozeß Auschwitz-Prozeß Demjanjuk-Prozeß
722
481
216
317
1736
-
-
242
227
178
140
787
197
-
-
202
317
181
233
933
233
-
-
25
5
53
28
111
28
Summe
722
481
469
549
628
718
3567
-
SZ
FR
Summe
Davar
Summe
_
Hamashkif Herut
_
Summe
_
434
ZEITUNGEN Yediot
Ha'aretz
Aharonot
Nürnberger Prozeß Eichmann-Prozeß Auschwitz-Prozeß Demjanjuk-Prozeß
Arith. Mittel (x)
ISRAELISCHE Hatzofeh
FAZ
Arith. Mittel (x)
179
141
589
-
737
171
-
115
76
109
87
558
112
107
-
-
482
310
302
1201
300
1046
141
852
1179
1438
1017
5673
-
44
252
181
797
159
577
767
447
3117
623
53
In den untersuchten deutschen Zeitungen wurde in 3567 Beiträgen über die vier Prozesse berichtet, in den israelischen in 5673. Dies deutet auf eine insgesamt stärkere Thematisierung in Israel hin. Dabei ist allerdings zu bedenken, daß in Deutschland vier, in Israel fünf Zeitungen untersucht wurden. Gleichwohl, die größere Anzahl von Beiträgen in Israel bleibt auch erhalten, wenn man den Durchschnittswert pro Zeitung berechnet: Dieser beträgt für die deutschen Blätter 892, für die israelischen 1135 Beiträge (was einem Verhältnis von 44% zu 56% entspricht). Allerdings sind dies ziemlich fiktive Werte, da faktisch erhebliche Unterschiede zwischen den Zeitungen bestanden. Erheblich sind auch die Unterschiede zwischen den einzelnen Prozessen. Nimmt man Deutschland und Israel zusammen, so wurde am ausgiebigsten über den Eichmann-Prozeß berichtet, gefolgt vom Nürnberger Prozeß, dem Auschwitz-Prozeß und dem Demjanjuk-Prozeß. Allerdings weicht der Umfang der Berichterstattung in beiden Ländern ζ. T. stark voneinander ab. In den deutschen Zeitungen wurden die meisten Beiträge über den Nürnberger Prozeß publiziert. Am zweithäufigsten waren die Beiträge zum Auschwitz-Prozeß. Hierzu erschienen mehr Artikel als zum Eichmann-Prozeß (787 Beiträge). Nur gering war dagegen die Beachtung des Demjanjuk-Prozesses (111 Beiträge). Offenbar standen für die deutsche Öffentlichkeit (und die sie repräsentierende Presse) die in Deutschland stattfindenden Prozesse im Vordergrund des Interesses. In Israel war es ähnlich (unter umgekehrten Vorzeichen): Hier fanden die dort durchgeführten Prozesse die größte Aufmerksamkeit in der Presse. Dominierend war hier der Anzahl der Beiträge nach insbesondere der Eichmann-Prozeß, auf den mehr als die Hälfte (55 %) aller dort für uns relevanten Beiträge entfielen. Von den untersuchten Prozessen hatte der Demjanjuk-Prozeß in der israelischen Presse den zweitstärksten Umfang. Schon daran ist abzulesen, daß dem Demjanjuk-Prozeß nach einem Vierteljahrhundert eine dem Eichmann-Prozeß zwar nicht vergleichbare, aber doch am nächsten kommende Bedeutung eingeräumt wurde. Dem Nürnberger Prozeß waren dagegen sowohl absolut als auch im Durchchnitt die zweitwenigsten Beiträge gewidmet, mehr allerdings als dem Auschwitz-Prozeß. Die Unterschiede werden gerade am durchschnittlichen Anteil der Beiträge deutlich: Beim Eichmann-Prozeß stehen den 623 Beiträgen pro Zeitung in Israel 197 in Deutschland (rund ein Drittel) gegenüber. Den im Durchschnitt 434 Beiträgen pro deutsche Zeitung zum Nürnberger Prozeß entsprechen 159 pro israelische Zeitung. Das Verhältnis beim Auschwitz-Prozeß ist
54
233 zu 112 Beiträge, beim Demjanjuk-Prozeß 28 zu 300 Beiträge, jeweils auf deutscher bzw. israelischer Seite. In Deutschland brachten Nürnberger Nachrichten und Tagesspiegel die meisten Beiträge zum Nürnberger Prozeß. Bezogen auf die gesamte untersuchte Berichterstattung über ihn waren es bei den Nürnberger Nachrichten zwei Fünftel (42 %), beim Tagesspiegel mehr als ein Viertel (28 %). Die große Beachtung in Nürnberg hat vielleicht damit zu tun, daß der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher am Ort selbst stattfand, was dafür sprechen würde, daß sich auch hier bei der Berichterstattung nicht nur national, sondern auch lokal „Nähe" als Nachrichtenwert Nürnberger Süddeutschen
auswirkte. Geringer
Prozeß
hingegen
in
war die Anzahl der Beiträge
der
Frankfurter
Rundschau
zum
und
der
Zeitung, obwohl beide ebenfalls in der amerikanisch besetzten
Zone erschienen und insofern der gleichen Informationspolitik unterlagen. Die meisten Beiträge über den Eichmann-Prozeß brachte von den Zeitungen Die Welt, gefolgt von der Frankfurter Allgemeinen. Prozeß waren es die Frankfurter Allgemeine
deutschen
Beim Auschwitz -
und die Frankfurter Rundschau -
also wieder Zeitungen vom Ort des Prozesses selbst -, die die größte Zahl von Beiträgen lieferten. Die wenigsten (aber immerhin noch 181) standen in diesem Fall in der Süddeutschen
Zeitung. Während die Frankfurter
Allgemeine,
die
Frankfurter Rundschau und (mit Abstand) Die Welt deutlich mehr Artikel über den Auschwitz-Prozeß als über den Eichmann-Prozeß publizierten, waren es in der Süddeutschen
Zeitung gleich viele. Dafür brachte die Süddeutsche
Zeitung
die meisten Beiträge über den Demjanjuk-Prozeß, fast die Hälfte der hierzu in den vier deutschen Blättern ermittelten Beiträge erschien in ihr. Die geringste Anzahl von Beiträgen zu diesem Prozeß bot die Frankfurter
Allgemeine
(nämlich nur fünf). Faßt man die drei Prozesse (außer dem Nürnberger) zusammen, über die alle vier „überregionalen" Zeitungen berichteten, so standen die meisten Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (549), vor der Welt (469), der Süddeutschen
Zeitung (412) und der Frankfurter Rundschau
(401).
Diese Differenzen dürften mehr auf Unterschiede im Typ der Zeitungen als auf deren politische Ausrichtung zurückzuführen sein. Die Zeitung, die in Israel den vier NS-Prozessen die meisten Beiträge widmete, ist Ha'aretz, gefolgt von Yediot Aharonot und Hatzofeh. Ha'aretz
domi-
nierte beim Nürnberger und beim Eichmann-Prozeß, Hatzofeh beim AuschwitzProzeß und Yediot Aharonot beim Demjanjuk-Prozeß. Auffällig ist, daß Yediot
55
Aharonot beim ersten der vier untersuchten Prozesse am wenigsten berichtete, beim letzten - dem Demjanjuk-Prozeß - aber am meisten. Als populäre Tageszeitung macht sie den Wandel im Umgang mit dem Holocaust in der israelischen Öffentlichkeit vielleicht deutlicher als die anderen. Während über den Eichmann-Prozeß von allen untersuchten israelischen Tageszeitungen zwar nicht gleichrangig, doch durchweg ähnlich häufig berichtet wurde, gab es bei den anderen Prozessen größere Unterschiede. So berichtete Yediot Aharonot ζ. B. in vergleichsweise wenig Beiträgen über den Nürnberger Prozeß und auch den Auschwitz-Prozeß, Hatzofeh vergleichsweise selten über den Demjanjuk-Prozeß. In welchem Umfang über die vier NS-Prozesse berichtet wurde, läßt sich nicht nur an der Anzahl der Beiträge, sondern genauer noch am Platz ablesen, den diese Beiträge in den Zeitungen einnahmen. Dabei sind die (Zeilen-) Länge der Beiträge und die Spaltenbreite der Zeitungen zu berücksichtigen. Aus beiden Maßzahlen wurde für jeden Beitrag der Umfang in Quadratzentimetern berechnet (und summiert). Die Ergebnisse dieser Berechnung zeigt Tabelle 3. Steht die Berichterstattung über die vier NS-Prozesse in Deutschland und Israel nach der Anzahl der Beiträge im Verhältnis von 44 zu 56 Prozent, so nach dem tatsächlichen Umfang im Verhältnis von 40 zu 60 Prozent, und zwar jeweils bezogen auf den Durchschnitt pro Zeitung. Damit fällt das Übergewicht der Berichterstattung in den israelischen Zeitungen noch etwas - wenn auch nicht viel - stärker aus. An der Rangfolge der Prozesse ändert sich aber nichts. Die herausragende Stellung des Eichmann-Prozesses in Israel tritt jetzt noch deutlicher hervor, ablesbar nicht nur am Gesamtumfang, sondern auch am durchschnittlichen Umfang pro Beitrag. Dieser ist hier (mit 273 Quadratzentimetern) der größte bei allen vier untersuchten Prozessen. Allerdings liegt der durchschnittliche Umfang beim Demjanjuk-Prozeß nicht sehr weit darunter. Den größten Raum nahm in den deutschen Zeitungen wiederum die Berichterstattung über den Nürnberger Prozeß ein, gefolgt vom Auschwitz-Prozeß, bei dem die Beiträge im Durchschnitt aber etwas umfangreicher ausfielen. Am räumlichen Umfang gemessen, verschieben sich ζ. T. auch die Relationen zwischen den verschiedenen Zeitungen. Die Dominanz der Nürnberger richten beim Nürnberger Prozeß verringert sich etwas. Die Süddeutsche
NachZeitung
stellte hier zwar nur 12 Prozent der deutschen Artikel, diese machten aber 18 Prozent der Berichterstattung aus. Beim Eichmann-Prozeß enthielt Die Welt in Deutschland zwar die meisten Beiträge, doch erzielte die Frankfurter
56
Allgemeine
Tabelle 3: Umfang der Berichterstattung (in Quadratzentimetern) DEUTSCHE Nürnberger
Tages-
Nachrichten
Spiegel
92145
Eichmann-Prozeß
-
-
31223
Auschwitz-Prozeß
-
-
-
104604
Demjanjuk-Prozeß
Summe
FAZ
FR
Summe
97868
360948
208
42364
32852
21920
128359
163
37438
98791
29158
35561
200948
215
-
1808
2997
4118
2934
11857
107
92145
70469
144152
132459
158283
702112
Hamashkif
ZEITUNGEN
Herut
Yediot
Ha'aretz
Davar
Summe
Aharonot
Nürnberger Prozeß Eichmann-Prozeß
Arith.
66331
ISRAELISCHE Hatzofeh
SZ
Mittel (x)
104604
Nürnberger Prozeß
ZEITUNGEN
Welt
Arith. Mittel (x)
26657
18709
-
7660
25107
21293
99426
125
148475
-
145357
253835
153078
150253
850998
273
10645
26962
Auschwitz-Prozeß
20278
13970
9952
81807
147
Demjanjuk-Prozeß
19439
-
-
107890
80810
80504
288643
240
214849
18709
156002
396347
272965
262002
1320874
-
Summe
mit weniger, dafür längeren Beiträgen einen größeren Umfang. Dies gilt ebenfalls für die Süddeutsche Zeitung. Noch vorrangiger erweist sich die Berichterstattung der Frankfurter Allgemeinen
über den Auschwitz-Prozeß, die fast die
Hälfte des Umfangs der einschlägigen Artikel in den vier untersuchten deutschen Zeitungen ausmachte. Die Frankfurter
Rundschau,
die über den Nürnberger
Prozeß am zweitumfangreichsten von den vier deutschen Blättern berichtete, tat dies beim Eichmann-Prozeß am wenigsten und lag bei den anderen zwei Prozessen auf dem dritten Rang. Entfielen auf den Demjanjuk-Prozeß bei den deutschen Zeitungen insgesamt 3,1 Prozent der ermittelten Beiträge, so waren es beim Umfang nur 1,6 Prozent. Allerdings relativiert sich hier etwas die vorran-
57
gige Rolle der Süddeutschen Zeitung. Sie brachte zwar mehr, aber dafür kürzere Artikel, während die Frankfurter
Allgemeine
Zeitung nur wenige, aber dann
längere Artikel brachte. Dem Umfang nach berichtete in Israel Yediot Aharonot insgesamt am ausführlichsten über die vier NS-Prozesse und nahm, vom Nürnberger Prozeß abgesehen, stets die Spitzenstellung ein. Über den Nürnberger Prozeß berichtete in Israel Hatzofeh Aharonot
am umfangreichsten. Überdurchschnittlich berichtete
Yediot
vor allem beim Eichmann-Prozeß. Nach ihr lieferten Hatzofeh beim
Auschwitz-Prozeß und Ha'aretz
beim Demjanjuk-Prozeß die ausführlichsten
Artikel. Klassifiziert man den Umfang der Berichterstattung in mehreren Abstufungen - wir haben in Tabelle 4 sieben vorgenommen -, so läßt sich die Verteilung zwischen kurzen, mittleren und langen Beiträgen erkennen. Dabei bestätigt sich, daß in der israelischen Presse mehr Beiträge zu den NS-Prozessen mit größerem Umfang anzutreffen sind. 12 Prozent der Beiträge nehmen hier mehr als 500 Quadratzentimeter ein, bei den deutschen Zeitungen sind es nur halb so viel. Am größten waren die Unterschiede zwischen beiden Ländern, was die Beitragsumfänge angeht, beim Demjanjuk-Prozeß. Während bei diesem in Israel weit mehr große Artikel gebracht wurden als in Deutschland, war es hierzulande beim Nürnberger Prozeß und beim Auschwitz-Prozeß tendenziell umgekehrt. Man kann dies leicht etwa am Anteil der Beiträge ablesen, die einen Platz von über 500 Quadratzentimetern einnahmen. Erheblich mehr solch großer Beiträge gab es in Israel im Vergleich zu Deutschland gerade beim Eichmann-Prozeß (16 % zu 3 %).
5.2. Herkunft der Berichterstattung Um welche Art von Berichterstattung handelte es sich bei den Beiträgen der Zeitungen über die vier NS-Prozesse? Diese Frage kann unter mehreren Aspekten interessieren. Bedeutsam ist etwa, wer die Berichte verfaßt hat, ob bzw. inwieweit es Berichte eigener Korrespondenten waren oder in welchem Umfang das (Standard-)Material von Nachrichtenagenturen verwendet wurde. Prüft man dies, so ergibt sich folgendes Bild (Tabelle 5).
58
Tabelle 4: Klassifizierung der Beiträge nach ihrem Umfang
21 51 101 201 501 1001
bis 20 bis 50 bis 100 bis 200 bis 500 bis 1000 und mehr
Summe
21 51 101 201 501 1001
bis 20 bis 50 bis 100 bis 200 bis 500 bis 1000 und mehr
Summe
Nürnberger Prozeß n=1736
DEUTSCHE EichmannProzeß n=787
10 15 16 23 29 6 2
8 20 16 27 27 2 1
100
100
ZEITUNGEN AuschwitzProzeß n=933
DemjanjukProzeß n=111
Insgesamt
1 9 15 35 33 6 1
13 39 23 14 9 2 1
7 15 16 27 29 5 1
100
100
100
n=3567
Nürnberger Prozeß n=734
ISRAELISCHE EichmannProzeß n=3096
ZEITUNGEN AuschwitzProzeß n=555
DemjanjukProzeß n=l185
Insgesamt
13 29 22 17 15 3 1
5 20 18 21 21 10 6
6 25 31 23 9 5 2
1 12 22 27 28 8 2
5 20 21 22 20 8 4
100
100
100
100
100
n=5570
59
Tabelle 5: Herkunft der Beiträge
Zeitung / Eigener Bericht Nachrichtenagentur Gastautor Bezug unklar Sonstiges Summe
Nürnberger Prozeß n=1736 %
DEUTSCHE EichmannProzeß n=787 %
18
38
75 1 6 1 100
Nürnberger Prozeß n=782 %
Zeitung / Eigener Bericht Nachrichtenagentur Gastautor Bezug unklar Sonstiges Summe
ZEITUNGEN AuschwitzProzeß n=933 %
DemjanjukProzeß n=lll %
Insgesamt
76
16
37
51 9 2 1
18 2 3 1
73 1 9 1
55 3 4 1
100
100
100
100
ZEITUNGEN AuschwitzProzeß n=557 %
DemjanjukProzeß n=l193
Insgesamt
ISRAELISCHE EichmannProzeß n=3100
%
%
n=3567 %
n=5632 %
14
35
17
56
34
51 6 27 2
18 5 43 0
69 2 11 1
27 5 11 2
29 5 31 1
100
100
100
100
100
Die Herkunft der Berichterstattung war bei den vier untersuchten Prozessen ganz verschieden und unterschied sich auch jeweils deutlich in den beiden Ländern. Beim Nürnberger Prozeß hatten drei Viertel der deutschen Beiträge eine Nachrichtenagentur als Quelle, nur bei knapp einem Fünftel handelte es sich um eigene Beiträge der Zeitungen. Daran läßt sich erkennen, daß die alliierten Besatzungsmächte die Berichterstattung über den Nürnberger Prozeß primär einer Agentur (DANA) aufgetragen hatten, die sich als zentrale Einrichtung leichter kontrollieren ließ. Damit sollte eine weitgehend konforme Darstellung des Prozeßgeschehens erreicht werden.
60
Beim Eichmann-Prozeß stammte die Hälfte der in den deutschen Zeitungen enthaltenen Berichte von einer Nachrichtenagentur (überwiegend dpa), aber fast zwei Fünftel von eigenen Korrespondenten. Daß die vier Zeitungen, die wir hier untersuchen, solche Korrespondenten nach Israel geschickt hatten - Albert Wucher für die Süddeutsche
Joachim Schwellen für die
Frankfurter
Conrad Ahlers und Herbert Freeden für die
Zeitung,
Frankfurter
Allgemeine
Zeitung,
Rundschau,
Bernd Nellessen für die Welt -, weist auf die Bedeutung hin, die man
dem Eichmann-Prozeß sowohl als Politikum, wie auch als journalistische Aufgabe zumaß. Wegen der langen Dauer des Prozesses hielten sich diese Korrespondenten allerdings nicht die gesamte Zeit in Israel auf. Anders war wiederum die Lage beim Auschwitz-Prozeß. Dieser fand in Deutschland statt und ermöglichte daher den untersuchten vier deutschen Zeitungen großenteils eine eigenständige Berichterstattung. Nicht einmal ein Fünftel der Beiträge beruhte hier auf dem Angebot einer Nachrichtenagentur. Umgekehrt war es abermals beim Demjanjuk-Prozeß. Hierbei verließen sich die deutschen Zeitungen, obwohl sie über eigene ständige Korrespondenten in Israel verfügen, überwiegend auf Agenturmaterial. Auch dies ist - neben dem insgesamt geringen Umfang - ein weiterer Indikator für die begrenzte Aufmerksamkeit, die dieser Prozeß in deutschen Augen fand. Der Vergleich mit den israelischen Zeitungen ist etwas schwierig, weil bei fast einem Drittel der dort erschienenen Beiträge die Herkunft nicht klar zu ermitteln war. Dies gilt in noch stärkerem Maße zumal für den Eichmann-Prozeß. Dennoch erkennt man, daß sich die Zeitungen in Israel bei den im Ausland (Deutschland) stattfindenden Prozessen (Nürnberger Prozeß, Auschwitz-Prozeß) ebenfalls vornehmlich auf das Material von Nachrichtenagenturen stützten, bei den im eigenen Land durchgeführten (Eichmann- und Demjanjuk-Prozeß) dagegen mehr auf eigene Berichterstatter. Da die israelische Nachrichtenagentur ITIM erst 1950 gegründet wurde, mußten die israelischen Zeitungen beim Nürnberger Prozeß noch die britische Agentur Reuter oder die amerikanischen Agenturen A P und UP verwenden. Gastautoren kamen in den Zeitungen beider Länder nur gelegentlich oder selten zu Wort, in Israel allerdings etwas mehr als in Deutschland. In der Bundesrepublik äußerten sich Gastautoren nur beim Eichmann-Prozeß überdurchschnittlich häufig in der Presse. In Israel waren sie nur beim Auschwitz-Prozeß unterdurchschnittlich mit Beiträgen vertreten.
61
5.3. Journalistische Darstellungsformen Die Art der Darstellung von Ereignissen und Themen in der Presse wird auch durch die dazu verwendeten journalistischen Formen bestimmt. Wie es sich hiermit bei den vier untersuchten Prozessen verhielt, zeigt Tabelle 6. Es ist kaum anderes zu erwarten, als daß überwiegend in Form von Nachrichten und Berichten von den vier NS-Prozessen gehandelt wurde. In Israel war diese Art journalistischer Information noch hervorstechender, und zwar bei durchschnittlich vier von fünf Beiträgen. In den deutschen Zeitungen entfielen hierauf knapp drei von vier Beiträgen. Innerhalb dieser Berichterstattung im engeren Sinne gab es, wie wir schon festgestellt haben (Tabelle 3), allenfalls Unterschiede im Umfang (bzw. in der Länge der Beiträge). Reportagen als mehr subjektiv gefärbte Schilderungen kamen in den deutschen Zeitungen etwas häufiger vor als in den israelischen. Dies gilt vor allem für den Auschwitz-Prozeß, bei dem sich nahezu ein Viertel der Artikel als Reportagen einstufen ließ. In einem gewissen Umfang druckten die Zeitungen auch Originalquellen und Dokumente zu den Prozessen ab, ζ. B. Auszüge aus Anklageschriften und Plädoyers oder schriftliches Beweismaterial. In den deutschen Zeitungen war jeder 20., in israelischen jeder 11. Beitrag von dieser Art. Dies spricht für ein unterschiedliches Bemühen um historische Authentizität. Dabei wurden in Deutschland relativ mehr dokumentarische Belege zum Nürnberger Prozeß und zum Eichmann-Prozeß gebracht, in Israel mehr zum Auschwitz- und zum DemjanjukProzeß. Allerdings ist dabei die unterschiedliche Menge von Beiträgen zu berücksichtigen. Beim Eichmann-Prozeß bedeuteten in Israel ζ. B. zwei Prozent der Fälle immerhin eine Gesamtzahl von mehr als 60 Abdrucken aus dem Prozeßprotokoll. Überhaupt wurden in Israel diese Prozeßprotokolle häufiger dokumentiert als in Deutschland. Zu anderen Prozeßteilen (Anklageschrift, Beweismaterial, Plädoyers von Anklage und Verteidigung) gab es nur vereinzelt dokumentarische Belege (Tabelle A 1). Bemerkenswert ist darüber hinaus, daß die vier NS-Prozesse in den deutschen Zeitungen häufiger explizit kommentiert wurden als in den israelischen. Beim Nürnberger Prozeß und beim Eichmann-Prozeß handelte es sich hierzulande bei nahezu jedem zehnten Artikel um einen Kommentar, einen Leitartikel, eine Glosse o. ä.. Solche kommentierende Formen waren in den israelischen Zeitungen dagegen selten; diese verfügten in der Frühzeit nur über wenig Platz
62
Tabelle 6: Journalistische Darstellungsformen
Nürnberger Prozeß n=1736 % Nachricht / Bericht Reportage Kommentar Leserbrief Interview Umfrage Dokumentation Pressestimmen Foto Sonstiges Summe
71 8
72 7
9 1
8 6
Umfrage Dokumentation Pressestimmen Foto Sonstiges Summe
68 23 4 1
DemjanjukProzeß n=l 11 %
Insgesamt
88 8 2 1
71 12 7 2
n=3567 %
-
-
-
-
-
-
-
-
-
6 1 3
5
1
-
1 1
2 1 1 1
5 1 2 1
99
100
100
100
100
DemjanjukProzeß n=l193 %
Insgesamt
64
81 6 2 2 1 1 4 2 2
Nürnberger Prozeß n=791 % Nachricht / Bericht Reportage Kommentar Leserbrief Interview
DEUTSCHE ZEITUNGEN EichmannAuschwitzProzeß Prozeß n=787 n=933 % %
86 9 -
2 1 1 1 99
-
ISRAELISCHE ZEITUNGEN EichmannAuschwitzProzeß Prozeß n=3110 n=554 % % 80 6 2 3 1 1 4 2 1 -
100
73 10 3 1 -
2 7 2 1 99
-
15 6 1 4 1 -
5 -
-
n=5650 %
3
-
99
100
63
(bis vier Seiten), auf denen sie aber soviele Nachrichten wie möglich unterzubringen suchten. Infolgedessen wurden Kommentare eher vernachlässigt. Beim Demjanjuk-Prozeß gab es dann die meisten Kommentare, nachdem die Zeitungen inzwischen stark expandiert hatten. Interviews oder Umfragen kamen, wenn auch im ganzen nur vereinzelt, eher in der israelischen als in der deutschen Presse vor. Beachtung verdient schließlich noch der Anteil der Leserbriefe. Zwar stellten diese in beiden Ländern im Durchschnitt aller Prozesse nur zwei Prozent der untersuchten Beiträge. Aber im einzelnen gab es doch auffällige Unterschiede. Die meisten Leserbriefe erschienen in Deutschland zum Eichmann-Prozeß. Es waren insgesamt 46 solcher Briefe, die hier publiziert wurden. Die israelischen Zeitungen brachten Leserbriefe zum Eichmann- und zum Demjanjuk-Prozeß, aber (so gut wie) keine zu den anderen Prozessen. Da wir nicht wissen, in welchem Umfang die Zeitungsredaktionen tatsächlich auch Leserbriefe erhielten (die sie nicht veröffentlichten), können wir die von uns festgestellte Zahl nur mittelbar als Anzeichen für die öffentliche Diskussion interpretieren, die die jeweiligen Prozesse (und die Berichterstattung über sie) auslösten. Dennoch scheint es nicht ungerechtfertigt, dafür gewisse Höhepunkte in Deutschland beim Eichmann-Prozeß, in Israel beim Eichmann- und beim Demjanjuk-Prozeß anzunehmen. Auf die Fotos wird noch im folgenden eingegangen.
5.4. „Aufmachung" der Berichterstattung Nach den Darstellungsformen soll im folgenden noch etwas eingehender die journalistische „Aufmachung" der Berichterstattung über die vier NS-Prozesse in beiden Ländern untersucht werden. Dazu kann man verschiedene Aspekte und Indikatoren berücksichtigen. Zunächst wurde die Plazierung der Beiträge registriert, die immer Anzeichen ist für die Bedeutung bzw. den Nachrichtenwert, den Journalisten einem Thema beimessen (Tabelle 7). In Deutschland fällt hinsichtlich der Plazierung insonderheit der Nürnberger Prozeß auf: Er stellte am häufigsten - in sieben Prozent der Fälle - den Hauptaufmacher einer Zeitungsausgabe. Knapp ein Drittel der Beiträge über ihn erschien jeweils auf der Seite eins, gut ein weiteres Fünftel stand sogar auf einer Sonderseite. Nur etwa jeder dritte Beitrag fand seinen Platz im Inneren des Blat-
64
Tabelle 7: Plazierung der Beiträge
Nürnberger Prozeß n=1736 %
DEUTSCHE ZEITUNGEN EichmannAuschwitzProzeß Prozeß n=787 n=933 % %
DemjanjukProzeß n=l 11 %
Insgesamt n=3567 %
1
1
-
-
4
Seite eins
31
13
6
14
20
Sonderseite
22
1
1
-
11
6
2
-
-
3
35
84
92
87
62
101
101
99
101
100
DemjanjukProzeß n=1194 %
Insgesamt
Hauptaufmacher
Beilage Sonstiges
Summe
Nürnberger Prozeß n=790 %
ISRAELISCHE ZEITUNGEN EichmannAuschwitzProzeß Prozeß n=3104 n=555 % %
n=5643 %
3
4
-
1
3
63
29
31
5
29
Sonderseite
-
6
1
44
13
Beilage
-
2
2
6
3
34
59
65
43
53
100
100
99
99
101
Hauptaufmacher Seite eins
Sonstiges
Summe
tes, auf einer „normalen" Zeitungsseite. Man wird die hervorgehobene Plazierung der Berichterstattung über den Nürnberger Prozeß sicher noch auf die Anweisungen der alliierten Presseaufsicht im besetzten Deutschland zurückzuführen haben. Damit sollte erreicht werden, daß die deutsche Bevölkerung tatsächlich auch wahr- und zur Kenntnis nahm, was in Nürnberg verhandelt wurde. Zumindest mußte es den Lesern bei solcher „Aufmachung" erschwert werden,
65
diesen Berichten mit selektiver Vermeidung zu begegnen, auch wenn eine psy109
chologische Disposition dazu bestanden haben mag. Der Eichmann-Prozeß, bei dessen .Aufmachung" die deutschen Zeitungen dann selbst entscheiden konnten, war nur noch acht mal (1 %) Gegenstand einer Hauptschlagzeile, doch 102 (13 %) der Beiträge über ihn standen immerhin auf Seite eins. Die Mehrzahl der (fortlaufenden) Berichte erschien auf den nachrangigen redaktionellen Seiten. Betont wurden hier dadurch neben der Eröffnung des Verfahrens und dem Urteilsspruch nur gelegentliche „Höhepunkte". Noch zurückhaltender war man bei der Plazierung der Berichte über den AuschwitzProzeß. Dieser stellte nirgends mehr einen Hauptaufmacher, und nur sechs Prozent der ihm gewidmeten Beiträge erschienen auf Seite eins. Von den 111 Artikeln zum Demjanjuk-Prozeß in deutschen Zeitungen stand zwar etwa jeder sechste auf der ersten, die meisten aber auf den hinteren Zeitungsseiten. Auch in den israelischen Zeitungen erhielt der Nürnberger Prozeß eine vorrangige Plazierung. Zwar stellten nur drei Prozent der Beiträge die Hauptschlagzeile, aber zwei Drittel waren auf Seite eins abgedruckt. Dies traf beim Eichmann-Prozeß - allerdings auf einer viel größeren Basis von Fällen - „nur" auf knapp ein Drittel der Beiträge zu. Dafür wurden diesem Prozeß aber häufiger Sonderseiten und Beilagen gewidmet. Nimmt man die „sonstige", d. h. nachrangige Plazierung als Ausgangspunkt, dann zeigt sich, daß der Auschwitz-Prozeß in Israel (von den hier untersuchten) am wenigsten prominent „aufgemacht" wurde. Gleichwohl erschien auch hierzu noch knapp ein Drittel der Beiträge auf der ersten Zeitungsseite (im Vergleich sechs Prozent in Deutschland). Für die große Aufmerksamkeit, die dem Demjanjuk-Prozeß in Israel entgegengebracht wurde, spricht wiederum, daß dort 44 Prozent der Beiträge über ihn auf einer Sonderseite, weitere sechs Prozent in einer Beilage erschienen. Weitaus die Mehrzahl der untersuchten Beiträge fanden ihren Platz auf einer Zeitungsseite. Dies gilt für Deutschland (94 %) noch etwas mehr als für Israel (90 %). Während die Berichte in Israel am häufigsten beim Eichmann-Prozeß auf eine zweite Seite „umliefen" (13 %), war dies in Deutschland beim Auschwitz-Prozeß der Fall (9 %). Am seltensten wurde hierzulande von einer solchen redaktionellen Möglichkeit beim Demjanjuk-Prozeß Gebrauch gemacht (2 %). 109 Zum Zusammenhang von Plazierung und Selektion vgl. Wolfgang Donsbach: Medienwirkung trotz Selektion. Einflußfaktoren auf die Zuwendung zu Zeitungsinhalten. Köln, Weimar, Wien 1991.
66
Die Plazierung auf mehreren Zeitungsseiten ist jedoch nur begrenzt ein Indikator für journalistische Bedeutung, da hierfür die Anzahl der verfügbaren Seiten und die formale Zeitungsgestaltung (Layout) generell mit entscheidend sind Die Aufmachung und Wahrnehmung der journalistischen Berichterstattung wird nicht zuletzt durch die Schlagzeilen bzw. Überschriften bestimmt. Sie können u. U. den Rezipienten „überrumpeln" und seine Selektion damit ausschalten oder unterlaufen. Der Charakter der Schlagzeilen wurde deshalb in mehrfacher Hinsicht in die Untersuchung einbezogen. Dies geschah zunächst, um die Größe der Schlagzeilen, gemessen in Millimetern, zu ermitteln (Tabelle 8).
Tabelle 8: Größe der Schlagzeile (in Millimetern)
Nürnberger Prozeß n=1736
DEUTSCHE ZEITUNGEN EichmannAuschwitzProzeß Prozeß n=787 n=933
DemjanjukProzeß n=l11
Insgesamt n=3567
bis 4 mm
44
42
32
65
41
5
bis 10 mm
52
58
68
35
57
11 mm und mehr
4
-
-
-
2
100
100
100
100
100
DemjanjukProzeß n=1201 %
Insgesamt
Summe
Nürnberger Prozeß n=797 % bis 4 mm
ISRAELISCHE ZEITUNGEN EichmannAuschwitzProzeß Prozeß n=3117 n=558 % %
n=5673 %
99
93
93
96
95
bis 10 mm
1
6
7
2
5
11 mm und mehr
99
100
98
100
5
Summe
100
67
Generell haben, wie sich zeigt, die israelischen Zeitungen weniger große Schlagzeilen als die deutschen. Bemerkenswert ist der Unterschied insbesondere beim Nürnberger Prozeß, wo die deutschen Zeitungen die größten Schlagzeilen im gesamten Untersuchungsmaterial brachten. Überdurchschnittlich groß waren in Deutschland die Schlagzeilen noch beim Auschwitz-Prozeß, unterdurchschnittlich beim Demjanjuk-Prozeß. Schlagzeilen von fünf und mehr Millimetern sind in Israel selten. Am ehesten wurde von ihnen noch beim Auschwitzund beim Eichmann-Prozeß Gebrauch gemacht." 0 In welchem Umfang nutzten die untersuchten Zeitungen Mittel zur Illustration der Berichterstattung über die NS-Prozesse, also Fotos oder Karikaturen? Auch dies ist ein wesentliches Element der journalistischen „Aufmachung" (Tabelle 9). In Deutschland wurde die Berichterstattung am meisten beim Nürnberger Prozeß, in Israel am meisten beim Demjanjuk-Prozeß illustriert. Jeder zehnte der deutschen Berichte zum Nürnberger Prozeß enthielt eine Illustration, zwei Prozent zwei oder mehrere. Bei den übrigen drei Prozessen brachten die deutschen Blätter jeweils in sechs bis sieben Prozent der Beiträge eine, in ein bis zwei Prozent der Fälle mehr als eine Illustration. In Israel war es dagegen anders: Die Berichterstattung zum Nürnberger Prozeß war noch am wenigsten illustriert, was an den bescheidenen Möglichkeiten der damaligen Presse dieses Landes gelegen haben dürfte. Zum Eichmann-Prozeß brachten die israelischen Zeitungen in jedem zehnten Bericht eine, in drei Prozent der Fälle zwei oder mehrere Illustrationen. Dabei ist jedoch die große Anzahl von Berichten mit zu bedenken. Jedenfalls war der Eichmann-Prozeß mit mehr als 550 Fotos unter allen untersuchten israelischen (und auch deutschen) Zeitungen der am meisten visualisierte (rund achtmal mehr als in den deutschen). Relativ gesehen wurde in Israel am stärksten aber die Berichterstattung über den Demjanjuk-Prozeß illustriert, und zwar im Durchschnitt jeder vierte Beitrag. Dies ist Ausdruck einer - unter dem Einfluß des Fernsehens eingetretenen - Entwicklung zu einem stärkeren Bildjournalismus in den israelischen Zei-
110 Zitate als Elemente der Schlagzeile kamen in Israel knapp zweimal so häufig vor wie in Deutschland. Dies geht vor allem auf eine viel öftere Verwendung solcher Zitate in den Schlagzeilen der Beiträge zum Demjanjuk-Prozeß zurück. Hier wurde in fast jeder zehnten Schlagzeile ein Zeuge zitiert. Vgl. Tabelle A 3.
68
tungen. Auf alle Prozesse bezogen, erschienen in den (fünf) israelischen Zeitungen mehr als doppelt so viele Illustrationen wie in den (vier) deutschen.
Tabelle 9: Illustration der Beiträge
Nürnberger Prozeß n=1736 %
DEUTSCHE ZEITUNGEN EichmannAuschwitzProzeß Prozeß n=787 n=933 % %
DemjanjukProzeß n=lll %
Insgesamt n=3567 %
Keine Illustration
88
92
93
93
90
Eine Illustration
10
7
6
6
8
Zwei oder mehr Illustrationen
2
1
100
100
Summe
Nürnberger Prozeß n=737 % Keine Illustration Eine Illustration
2
1 100
ISRAELISCHE ZEITUNGEN EichmannAuschwitzProzeß Prozeß n=3117 n=558 % %
2
100
100
DemjanjukProzeß n=1199 %
Insgesamt n=5671 %
97
87
93
73
86
3
10
5
24
12
-
3
2
4
3
100
100
100
100
100
Zwei oder mehr Illustrationen Summe
Bei den Illustrationen handelte es sich fast ausschließlich um Fotos. Karikaturen (Cartoons) kamen so gut wie nicht vor. Sie dürften als sachlich unangemessen empfunden worden sein. Wer oder was aber wurde auf den Fotos abgebildet, welches waren die Fotomotive? Auskunft darauf gibt Tabelle 10. Der auffälligste Befund beim Vergleich der Fotomotive ist folgender: Während in den deutschen Zeitungen am häufigsten die Angeklagten gezeigt wurden (am stärksten beim Demjanjuk-Prozeß), waren es in Israel die Zeugen. Aller-
69
Tabelle 10: Inhalt der Fotos
Nürnberger Prozeß n=258
DEUTSCHE ZEITUNGEN EichmannAuschwitzProzeß Prozeß n=67 n=89
DemjanjukProzeß n=9
Insgesamt
38
n=423
Angeklagte
40
39
33
56
Staatsanwalt
5
9
1
-
5
Verteidiger
14
2
-
-
10
Zeugen
7
11
15
11
9
Richter
7
2
5
11
5
13
14
12
11
13
Gebäude und Personen Gebäude
2
8
5
11
4
Andere Personen
5
11
12
-
7
Holocaust
7
3
18
-
9
100
99
101
100
100
ZEITUNGEN AuschwitzProzeß n=74
DemjanjukProzeß n=397
Insgesamt
Sonstiges Summe
Nürnberger Prozeß n=29
ISRAELISCHE EichmannProzeß n=553
Angeklagte
38
13
41
22
19
Staats anwalt
3
6
-
3
4
Verteidiger
7
3
-
9
5
-
24
5
25
22
Zeugen Richter Gebäude und Personen
n=1053
-
4
1
4
4
3
15
4
13
14
Gebäude
-
1
3
1
1
Andere Personen
-
4
7
3
3
Holocaust
41
7
15
3
7
Sonstiges
7
23
24
18
21
99
100
100
101
100
Summe
70
dings wurden in Israel mehr Bilder von Angeklagten als in Deutschland solche von Zeugen geschaltet. Dennoch spricht der genannte Befund dafür, daß die Optik in Deutschland vorrangig auf die Täter, in Israel vorrangig auf die Opfer gerichtet war. Letzteres gilt insbesondere für den Eichmann- und den DemjanjukProzeß, während beim Auschwitz-Prozeß (und beim Nürnberger Prozeß) vergleichsweise häufig in den israelischen Zeitungen auch Bilder der Angeklagten gebracht wurden. Von Prozeß zu Prozeß unterschiedlich waren Fotos von Staatsanwalt und Verteidigung d. h. deren relative Häufigkeit schwankte. Beim Nürnberger Prozeß waren in Deutschland die Verteidiger merkwürdigerweise häufiger abgebildet als die Ankläger, beim Eichmann-Prozeß war es umgekehrt. Wurde in Israel beim Eichmann-Prozeß der Ankläger häufiger abgebildet als der Verteidiger, so kehrte sich das Verhältnis hier beim Demjanjuk-Prozeß um. Keine Abbildungen der Kontrahenten im Gerichtsverfahren gab es in Deutschland beim Demjanjuk-, in Israel beim Auschwitz-Prozeß. Viel wesentlicher erscheint jedoch folgender Unterschied: Szenen aus dem Holocaust selbst (ζ. B. Aufnahmen aus den Todeslagern), die zur Illustration der Berichterstattung dienten, waren in den israelischen Zeitungen (108) dreimal so häufig wie in den deutschen (36). Damit wurde der eigentliche Ereignishintergrund der Prozesse dort auch visuell stärker vorgeführt als hierzulande. Bisher haben wir verschiedene Einzelaspekte und Indikatoren der journalistischen .Aufmachung" der vier NS-Prozesse in Deutschland und Israel gesondert analysiert. In der Wahrnehmung durch die Leser wirken diese naturgemäß zusammen und erzeugen einen „ganzheitlichen" Eindruck. Mit einer statistischen Prozedur haben wir versucht, auch diesen Eindruck zu erfassen. Dazu wurde ein Index für die Aufmerksamkeit (Salience) gebildet, in den fünf Variablen eingingen: 1. Umfang des Beitrags; 2. Größe der Schlagzeile; 3. Anzahl der Spalten des Beitrags (vgl. Tabelle A 2); 4. Plazierung des Beitrags; 5. Illustration. Der Umfang des Beitrags wurde in vier, die übrigen Variablen in je drei Klassen eingeteilt. Der niedrigste Indexwert pro Beitrag kann demnach 5, der höchste 16 betragen. Das heißt auch, daß die einzelnen Variablen gleich gewichtet wurden. Es liegt in der Natur eines solchen Indexes, daß sich die einzelnen Variablen bzw. die Werte für sie kompensieren können.'"
111 Vgl. Claudio Besozzi / Helmut Zehnpfennig: Methodologische Probleme der Index-Bildung. In: Jürgen van Koolwijk / Maria Wieken-Mayser: Techniken der empirischen Sozialforschung. Bd. 5: Testen und Messen. München 1976. S. 9-55.
71
In zweierlei Form wird der Aufmerksamkeitsindex zur Analyse herangezogen. Zum einen berechnen wir den Durchschnittswert (x). Er ist für die verschiedenen Prozesse in Tabelle 11 ausgewiesen.
Tabelle 11: Aufmerksamkeitsindex (Durchschnitt) DEUTSCHE ZEITUNGEN
η
χ
ISRAELISCHE ZEITUNGEN
η
χ
Nürnberger Prozeß Eichmann-Prozeß Auschwitz-Prozeß Demj anjuk-Prozeß
1736 787 933 111
8,75 7,94 8,49 6,79
722 3070 549 1166
8,88 9,14 8,25 9,98
Insgesamt
3567
8,44
5507
9,20
Im Durchschnitt für alle vier NS-Prozesse liegt der Aufmerksamkeitsindex für die israelischen Zeitungen höher als der für die deutschen. Das heißt, die Zeitungen in Israel taten insgesamt mehr, die Aufmerksamkeit ihrer Leser auf die NSGerichtsverfahren und die in ihnen behandelte Thematik zu lenken. Allerdings ergibt sich der durchschnittlich höhere Aufmerksamkeitsindex in Israel vor allem aus der dort viel intensiveren .Aufmachung" des Demjanjuk-Prozesses. Damit bestätigt der Index, was wir schon an einer Reihe von anderen Merkmalen festgestellt haben, nämlich daß die äußeren Unterschiede bei der Berichterstattung des Demjanjuk-Prozesses zwischen Deutschland und Israel am größten waren. Der Demjanjuk-Prozeß erweist sich in Israel nach unseren Kriterien (vermutlich vor allem wegen der Bebilderung) sogar als der aufmerksamkeitsträchtigste der vier Verfahren. In Deutschland trifft dies am meisten auf den Auschwitz-Prozeß zu, der einzige, bei dem der Aufmerksamkeitswert denjenigen in Israel übertrifft. Beim Eichmann-Prozeß wurde mehr Aufmerksamkeit in Israel erzeugt, beim Nürnberger Prozeß war sie in beiden Ländern etwa gleich groß. Man kann den Aufmerksamkeitsindex auch in vier Klassen einteilen. Die Werte 5, 6 und 7 bilden dann die unterste Klasse (1), die Werte 8 und 9 eine zweite Klasse (2), die Werte 10 und 11 eine dritte (3) und die Werte 12 bis 16
72
eine vierte (höchste) Klasse (4). Darauf entfallen die Beiträge anteilsmäßig wie folgt (Tabelle 12).
Tabelle 12: Aufmerksamkeitsindex (Klassen)
Nürnberger Prozeß n=1722
Index: Eins (Niedrig) 33 Index: Zwei 29 Index: Drei 31 Index: Vier (Hoch) 7 Summe
100
DEUTSCHE EichmannProzeß n=784
ZEITUNGEN AuschwitzProzeß n=931
DemjanjukProzeß n=111
Insgesamt n=3548
38 47 12 3
16 70 12 2
70 19 9 2
31 43 21 5
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Nürnberger Prozeß n=722
ISRAELISCHE EichmannProzeß n=3070
ZEITUNGEN AuschwitzProzeß n=549
DemjanjukProzeß n=I166
Insgesamt
%
%
%
%
%
Index: Eins (Niedrig) 25 Index: Zwei 39 Index: Drei 27 Index: Vier (Hoch) 9
29 26 25 20
39 32 22 8
13 30 33 25
26 29 27 18
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101
101
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Summe
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n=5507
Während in den deutschen Zeitungen hinsichtlich der Gewinnung von Aufmerksamkeit mehr Beiträge in die unterste und in die zweite Klasse fallen (zusammen 74 %), sind es in den israelischen Zeitungen weniger (55 %). Dafür lieferten die letzteren mehr Beiträge mit hohen Aufmerksamkeitswerten (Klassen drei und vier zusammen 45 %). Allein knapp ein Fünftel der Beiträge gehört hier in die Klasse mit dem höchsten Aufmerksamkeitsindex. In Deutschland gab es Beiträge mit höheren Aufmerksamkeitswerten vor allem beim Nürnberger Pro-
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zeß, in Israel beim Demjanjuk-Prozeß, der hier sogar den Aufmerksamkeitswert des Eichmann-Prozesses übertraf.
5.5. Verlauf und struktureller Schwerpunkt der Berichterstattung Sowohl die Anzahl der Beiträge wie deren Umfang verteilen sich bei den einzelnen Prozessen auf unterschiedliche Zeiträume. Beim Nürnberger Prozeß waren es 12 Monate, beim Eichmann-Prozeß 10, beim Auschwitz-Prozeß 22 und beim Demjanjuk-Prozeß 16 (das Berufungsverfahren hier nicht mitgerechnet). In allen vier Fällen handelte es sich um eine für Gerichtsverhandlungen ziemlich lange Zeitdauer. Dabei wird die Berichterstattung zum einen vom Prozeßverlauf, zum anderen von der journalistischen Selektion bestimmt. Jeder Gerichtsprozeß besteht aus mehreren, in der Verfahrensordnung festgelegten Teilen. Es ist nicht zu erwarten, daß über alle Teile oder Stadien gleichermaßen intensiv in der Presse berichtet wird. Um sich einen Eindruck vom Verlauf der Berichterstattung zu verschaffen, wurde diese in unserer Untersuchung jeweils in Verlaufskurven (in Monatsintervallen) übersetzt. Diese kann man im Prinzip auf eine je verschiedene Basis gründen: auf die absolute Anzahl der Beiträge, auf den relativen Anteil der Beiträge oder auf den durchschnittlichen Umfang der Berichterstattung aller untersuchten Zeitungen. Da bei der absoluten Anzahl der Beiträge verzerrend wirkend könnte, daß wir in Deutschland vier, in Israel fünf Zeitungen bei jedem Prozeß einbezogen haben, legen wir für die Verlaufskurven (Schaubilder 1-4) die mittlere Anzahl der Beiträge zu Grunde. Anhand dieser Verlaufskurven lassen sich mehrere Beobachtungen machen: Zunächst zeigt sich so etwas wie die Grundstruktur von GerichtsprozeßBerichterstattung. Diese steigt in der Regel in den Tagen oder Wochen vor und zu Beginn des Verfahrens erst einmal an, geht nach einem ersten Scheitelpunkt im Zuge seiner „Alltäglichkeit" zurück, kann bei gegebenen Anlässen aber erneut zunehmen. Ein Anstieg der Berichterstattung findet dann noch einmal gegen Ende des Prozesses, wenn das Urteil gefällt wird, statt. Die Berichterstattung beim Nürnberger Prozeß verlief in beiden Ländern ziemlich gleichförmig, wenn auch auf der Basis unterschiedlicher Artikelmengen (Schaubild 1). Ihre Höhepunkte lagen in Deutschland zunächst im November, in
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Israel im Dezember 1945 sowie jeweils zum Ende des Prozesses im Oktober 1946. Dazwischen war die Berichterstattung weitgehend stetig, wobei es sich in Deutschland im Durchschnitt um monatlich 30 bis 40 Artikel, in Israel um zehn bis 20 handelte. In nicht wenigen Zeitungsausgaben (vor allem bei den Nürnberger Nachrichten
und beim Tagesspiegel)
begegneten die Leser folglich gleich
mehreren journalistischen Beiträgen zu diesem Prozeß. Eine gewisse Ähnlichkeit des Verlaufs zeigt sich auch beim Eichmann-Prozeß (Schaubild 2). Doch die ungleich intensivere Berichterstattung in Israel führte zu einem steileren Anstieg, aber auch zu einem entsprechend steilen Rückgang (seit Juni 1961). Der Höhepunkt lag in Deutschland im April, in Israel im Mai 1961. Während die deutschen Zeitungen bis dahin pro Monat zwischen 40 und 60 Artikel brachten, waren es in Israel zeitweise mehr als doppelt so viele (zwischen 120 und 140). Nachdem am 14. August d. J. das Hauptverfahren abgeschlossen war und das Gericht sich vertagte, wurde von September bis November über den Eichmann-Prozeß nur noch wenig berichtet, bevor im Dezember (mit der Urteilsverkündung) nochmals eine Zunahme erfolgte. Viel ungleichmäßiger (auf der Basis einer allerdings geringeren Artikelmenge) verlief dagegen die Berichterstattung über den
Auschwitz-Prozeß
(Schaubild 3). Nachdem ein erster Höhepunkt im Januar 1964 erreicht wurde, schwankte die Anzahl der Beiträge von Monat zu Monat. Dennoch besaß die Berichterstattung eine dauerhaftere Kontinuität. Dies gilt zumindest für die deutschen Zeitungen, in denen die Berichterstattung während des ganzen Jahres nie unter 10 Beiträge pro Monat absank. Das Interesse der israelischen Zeitungen an dem (von der Dauer her längsten) Auschwitz-Prozeß war dagegen diskontinuierlicher. Über die erste Phase des Prozesses (bis August 1964) wurde noch vergleichsweise viel berichtet, danach ging das Interesse stark zurück und wurde im wesentlichen erst gegen Ende (August 1965) wiederbelebt. Beim Demjanjuk-Prozeß zeigt sich einerseits im Verlauf die im ganzen viel umfänglichere Berichterstattung in den israelischen Zeitungen (Schaubild 4). Zum anderen variierte diese dort nach der Beitragszahl stärker als in Deutschland. Relativ gesehen gab es aber auch gewisse Sprünge. Die Höhepunkte der Berichterstattung lagen in Israel im März, August und November 1987 sowie im April 1988, Tiefpunkte im Juni und Septemberl987 sowie im Januar und März 1988. Die Schwankungen kann man hier im wesentlichen auf das Prozeßgesche-
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Schaubild 1: Verlauf der Berichterstattung über den Nürnberger Prozeß
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Schaubild 2: Verlauf der Berichterstattung über den Eichmann-Prozeß
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Schaubild 3: Verlauf der Berichterstattung über den Auschwitz-Prozeß
N o v D e z Jan 63
63
Feb M i r Apr Mai Jun
Jul
A u g Sep O k t N o v D e z Jan
F e b M i r Apr Mai Jun
6 4 6 4 6 4 6 4 6 4 6 4 6 4 6 4 6 4 6 4 6 4 6 4 6 5 6 5 6 5
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Jul
65
A u f Sep
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65
65
Schaubild 4: Verlauf der Berichterstattung über den Demjanjuk-Prozeß
60 s 50 Deutschland
" " Israel
£ 40 30
Λ